Jens Tenscher (Hrsg.) Superwahljahr 2009
Jens Tenscher (Hrsg.)
Superwahljahr 2009 Vergleichende Analysen aus Anlass ...
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Jens Tenscher (Hrsg.) Superwahljahr 2009
Jens Tenscher (Hrsg.)
Superwahljahr 2009 Vergleichende Analysen aus Anlass der Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Europäischen Parlament
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagbild: Verena Metzger Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17139-5
Inhalt Jens Tenscher (K)eine wie die andere? Zur vergleichenden Analyse der Europa- und Bundestagswahlen 2009 .............. 7
Parteien, Kandidaten und Kampagnen Sandra Brunsbach, Stefanie John, Andrea Volkens & Annika Werner Wahlprogramme im Vergleich ........................................................................... 41 Jens Tenscher Defizitär – und trotzdem professionell? Die Parteienkampagnen im Vergleich ................................................................ 65 Uta Rußmann Webkampagnen im Vergleich ............................................................................ 97 Heiko Giebler & Andreas M. Wüst Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009: Länderübergreifende und ebenenspezifische Befunde ..................................... 121
Medienangebote und Medieninhalte Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker Mit kleinen Schritten aus dem Schatten: Haupt- und Nebenwahlkämpfe in Tageszeitungen am Beispiel der Bundestags- und Europawahlen 1979-2009 ............................................... 155 Hajo G. Boomgarden, Claes H. de Vreese & Holli A. Semetko „Hast‘ es nicht gesehen?!“ Haupt- und Nebenwahlkämpfe in deutschen Fernsehnachrichten ................... 181
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Inhalt
Andreas Dörner & Ludgera Vogt Wahlkampf auf dem Boulevard: Personality-Talkshows, Personalisierung und Prominenzkapital zwischen Haupt- und Nebenwahl ..................................................................... 199 Christoph Bieber & Christian Schwöbel Politische Online-Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Europa- und Bundestagswahl ........................................................... 223
Resonanzen und Wirkungen der Kampagnen Marko Bachl & Frank Brettschneider Wahlkämpfe in Krisenzeiten: Ein Vergleich der Medien- und der Bevölkerungsagenda vor den Europa- und Bundestagswahlen 2009 ................................................. 247 Bertram Scheufele Effekte von Medien-Framing und Medien-Priming bei Haupt-und Nebenwahlen: Theoretische Ansätze, empirische Befunde und konzeptionelle Überlegungen .................................................................... 269 Harald Schoen & Rebecca Teusch Verschiedene Ebenen, verschiedene Wirkungen? Eine vergleichende Analyse von Wirkungen der Europaund Bundestagswahlkampagnen 2009 ............................................................. 289
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................. 313
(K)eine wie die andere? Zur vergleichenden Analyse der Europaund Bundestagswahlen 2009 Jens Tenscher
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Einleitung: das Superwahljahr 2009
Der Wahlkalender des Jahres 2009 ähnelte in frappierender Weise dem des „Superwahljahres“ 1994 (vgl. Bürklin/Roth 1994: 330): Zum zweiten Mal in der Geschichte Deutschlands fanden innerhalb eines Jahres die Bundespräsidentenwahl (23. Mai 2009), die Wahlen zum Europäischen Parlament (7. Juni 2009) und die Bundestagswahlen statt (27. September 2009). Hinzu kamen sechs Landtagswahlen: In Thüringen, Sachsen und im Saarland wurde vier Wochen vor, in Brandenburg und Schleswig-Holstein zusammen mit der Bundestagswahl über die neue Zusammensetzung der Landesparlamente abgestimmt.1 Der Wahlmarathon wurde schließlich durch acht Kommunalwahlen ergänzt, von denen sieben am Tag der Europawahl2 und eine am Tag der Bundestagswahl (Nordrhein-Westfalen) abgehalten wurden. Innerhalb von nur knapp vier Monaten, von Juni bis September 2009, mussten sich also die Abgeordneten und Kandidaten3 der nationalen und supranationalen Volksvertretung, von rund einem Drittel der deutschen Landtage, sowie in den Kommunen der Hälfte aller Bundesländer ihrer (Wieder-)Wahl stellen. Diese in ihrer zeitlichen Dichtheit 1
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Die hessische Landtagswahl fand am 18. Januar 2009 statt. Sie war nötig geworden, nachdem im Anschluss an die Wahl ein Jahr zuvor die von der hessischen Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten Andrea Ypsilanti forcierten Versuche einer von der Linkspartei tolerierten Minderheitsregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gescheitert waren. Schon zu Beginn des Wahljahres 2009 stand so die innerparteiliche Geschlossenheit der Sozialdemokraten, die Führungsstärke der Parteioberen und deren Ankündigung, im Bund nicht mit der Linkspartei koalieren zu wollen, im Fokus parteipolitischer Auseinandersetzungen. Diese intensivierten sich im Verlauf des Bundestagswahlkampfs, in dem diese und andere Koalitionsspekulationen eine so hohe Bedeutung wie selten zuvor zukam (vgl. Korte 2010: 13). Gewählt wurde in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Allein aus Gründen des Leseflusses wird im Folgenden auf die Verwendung geschlechtsneutraler Begrifflichkeiten bei Bezügen auf Personengruppen verzichtet. Entsprechende Aussagen beziehen sich grundsätzlich auf weibliche und männliche Akteure.
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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äußerst seltene Häufung von Wahlen auf unterschiedlichen politischen Ebenen stellte die Parteien vor besondere Herausforderungen. Immerhin mussten in einzelnen Regionen bis zu vier Wahlkämpfe entweder zeitgleich oder in dichter Abfolge geplant, koordiniert, ausgeführt und möglichst zu einem in sich stimmigen Gesamtbild zusammengefügt werden (vgl. u.a. Steg 2010). Darüber hinaus galt es, die Parteimitglieder an der Basis für die Unterstützung eines langwierigen Etappen-Wahlkampfes zu mobilisieren, der teilweise in die Sommerferien fallen würde und dessen Finale mit der Bundestagswahl gleichzeitig den Höhepunkt darstellte. Die Europawahl war für die meisten Parteien auf dieser Langstrecke nicht mehr als eine „Zwischenstation“ (Niedermayer 2009a: 716), von dem eine Signalwirkung für die politischen Protagonisten selbst, für Journalisten, Bürger und Wähler erwartet wurde (vgl. auch Holtz-Bacha/Leidenberger 2010: 38). Wie die Parteien standen die Medien(vertreter) 2009 vor der großen Herausforderung, in zeitlich dichter Abfolge für unterschiedliche Wahlkämpfe und Wahlen Aufmerksamkeit generieren und über Wahlspezifika informieren zu müssen. Zugleich ging es darum, einen monatelangen Spannungsbogen aufrecht zu erhalten, der sich bis zur Bundestagswahl tragen würde. Im Nachhinein betrachtet, gelang ihnen das nur selten (vgl. Bruns 2010). Schlussendlich sahen sich aber auch die Bürger und Wähler im Jahr 2009 mit einer ganzen Reihe an unterschiedlichen und – aus ihrer Sicht – unterschiedlich wichtigen Wahlen konfrontiert (vgl. grundlegend Reif/Schmitt 1980). Dabei waren der nationalen „Hauptwahl“, der Bundestagswahl, die Europawahl und eine Reihe von kommunalen und regionalen „Nebenwahlen“ als Stimmungstests für die im Bund Regierenden und Opponierenden vorangestellt. Entsprechend konnte schon zu Beginn des Jahres erwartet werden, dass sich die Bürger und Wähler nicht dauerhaft aktivieren lassen würden. Ihre Aufmerksamkeit würde vorwiegend dem Bundestagswahlkampf gelten. Für Parteien und Medien bedeutete das aber auch, ihre zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen primär auf die letzten Wochen des Wahlmarathons zu konzentrieren. Schließlich hatten sich die letzten Wochen und Tage in den beiden vorangegangen Bundestagswahlkämpfen als wahlentscheidend herauskristallisiert, was zusätzlich für eine Bündelung aller Kräfte auf den Wahlendspurt sprach (vgl. Tenscher 2005a; Schmitt-Beck 2009; Krewel et al. 2011). Im Endeffekt erstreckte sich die „heiße Phase“ des Bundestagswahlkampfes auf gerade einmal vier Wochen vor der Bundestagswahl. Sie begann mit den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und im Saarland am 31. August; dem letzten Tag der Sommerferien in fast allen Bundesländern.
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Angesichts der schieren Zahl an Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen musste ebenfalls zu Jahresbeginn befürchtet werden, dass nicht nur das Involvement der Bürger und Wähler – zumindest bei den „Vorwahlkämpfen“ zur Bundestagswahl – vergleichsweise gering ausfallen würde, sondern auch die Beteiligung an den Wahlen selbst. Diese drohte gerade bei jenen Nebenwahlen stark zu sinken, denen von Seiten der politischen Kontrahenten, der medialen Beobachter und der Bürger die geringste Relevanz zugeschrieben wurde. Dabei zeichnete sich ab, dass die Mobilisierung der Wähler vor allem in jenen Gegenden schwer fallen würde, in denen darauf verzichtet wurde, mehrere Wahlen auf einen Wahltag zu legen. Durch die Bündelung mehrerer Wahlen zu einem Termin hätten quasi „künstlich“ höhere Mobilisierungseffekte und Wahlbeteiligungen erzielt werden können (vgl. van der Eijk et al. 1996; Schneider/Rössler 2005: 218ff.; Vetter 2009).4 Hierdurch hätte sich jedoch zugleich die Gefahr erhöht, dass die Wähler bei ihrer Stimmabgabe in geringerem Maße zwischen den verschiedenen Wahlebenen differenziert hätten. Tatsächlich sank – mit Ausnahme jener Landtagswahlen, die mit der Bundestagswahl am 27. September abgehalten wurden5 – die Wahlbeteiligung im Jahr 2009 bei allen regionalen und überregionalen Wahlen: Historische Tiefstände gab es bei der Bundestagswahl (70,8 Prozent) sowie den Landtagswahlen in Sachsen (52,2 Prozent) und Hessen (61,0 Prozent); jeweils die zweitschlechteste Wahlbeteiligung und damit eine nur geringe Steigerung gegenüber den vorherigen Wahlen des Jahres 2004 wurden im Saarland (67,6 Prozent), in Thüringen (56,2 Prozent) und bei der Europawahl (43,3 Prozent) erzielt. Der seit Jahren anhaltende Trend, wonach immer weniger Deutsche von ihrem Stimmrecht bei Europawahlen Gebrauch machen, konnte 2009 etwas gebremst werden. Dadurch hat sich das sogenannte „Euro-Gap“ (Weßels 2005: 94), also die Kluft der Wahlbeteiligung zwischen nationaler Hauptwahl und supranationaler Nebenwahl, gegenüber den vorangegangenen Bundestags- und Europawahlen in Deutschland etwas verringert (vgl. Tenscher 2005b: 33). Zurückzuführen ist dies jedoch nur auf den Umstand, dass bei noch keiner Bundestagswahl zuvor so viele Wähler zu Hause geblieben waren wie 2009 (vgl. Hilmer 2010a: 147f. sowie Abbildung 1). Rund 30 Prozent oder 18 Millionen Men-
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Diese Erwartung bestätigte sich: In sechs der sieben Bundesländer, in denen im Jahr 2009 zusammen mit der Europawahl die Kommunalwahl abgehalten wurde, lag die Wahlbeteiligung über dem Bundesschnitt. In Brandenburg konnte sogar eine Rekordbeteiligung für dortige Landtagswahlen erzielt werden (67,5 Prozent). In Schleswig-Holstein gaben am selben Tag 73,5 Prozent der Wähler ihre Stimme ab, was einen leichten Anstieg gegenüber der Wahl des Jahres 2005 darstellte.
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schen beteiligten sich nicht an der Bundestagswahl: eine „Zäsur der Wahlgeschichte“ (Korte 2010: 11). Abbildung 1:
Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den Bundestags- und Europawahlen im Vergleich (in Prozent)
Die im Jahr 2009 ausgeprägte Wahlmüdigkeit dürfte nicht allein der ungewöhnlich hohen Anzahl an Wahlterminen geschuldet gewesen sein. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die Art und Weise, die Intensität und Tonalität, mit der die Parteien in den Wahlkämpfen aufeinandertrafen, in den Massenmedien wie bei den Wählern nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erzeugten. Dies trifft mehr oder weniger auf alle Nebenwahlen des Jahres 2009 zu (vgl. die Beiträge in Heft 2/2010 der Zeitschrift für Parlamentsfragen). Die aus demokratietheoretischer Sicht Wahlkämpfen zugeschriebene Funktion, durch Quantität und Qualität der Parteienkampagnen und der Medienberichterstattung das Interesse an der Wahl zu steigern, Wähler zu aktivieren und zur Stimmabgabe zu mobilisieren (vgl. u.a. Steinbrecher/Huber 2006; Weßels 2007; Wlezien 2010), blieb folglich relativ schwach (vgl. Neu 2009a: 13; Schoen 2010).6 Insbesondere im Vorfeld der Europawahl, aber auch im Bundestagswahlkampf wurden manche Wähler kaum oder gar nicht von der Wahlkampfberichterstattung oder den Parteienkampagnen erreicht (vgl. den Beitrag von Ha6
Dieser Effekt konnte, auch für Europawahlen, vielfach empirisch belegt werden (s.u.).
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rald Schoen und Rebecca Teusch in diesem Band). Dies deutet im Vergleich zu den beiden vorigen Bundestagswahlkämpfen auf einen sinkenden Bedarf der Wähler an Informationen hin (vgl. Geese et al. 637ff.). Es reflektiert aber auch Wahlkampagnen, die von den Parteien hinsichtlich ihrer Intensität, „Lautstärke“ und Tonlage nur „mit angezogener Handbremse“ (Krewel et al. 2011) bestritten wurden. Diese Art der reduzierten Kampagnenführung vonseiten der Parteien und der vergleichsweise „flüchtigen“ Wahlkampfberichterstattung war aus früheren Europawahlkämpfen – nicht nur in Deutschland – wohl bekannt (vgl. Tenscher 2005c, 2007; de Vreese et al. 2007; Maier/Maier 2008). Für nationale Hauptwahlen, zumal im multimedialen Zeitalter und unter „Viel-Kanal-Bedingungen“ (Jarren/Krotz 1998), stellte der Bundestagswahlkampf jedoch ein unerwartetes Novum dar. Gerade vor dem Hintergrund der viel umjubelten Wahlkampagne des U.S.-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama im Jahr zuvor (vgl. u.a. Smith 2009) waren die Erwartungen groß, dass auch in Deutschland im Jahr 2009 eine neue Ära hoch professionell geführter, multimedialer und Marketingorientierter Kampagnen eingeläutet würde (vgl. Holtz-Bacha 2010a: 17). Tatsächlich entwickelte sich aber ein „Valium-Wahlkampf“ (van Rinsum/Grill 2009), der zu keinem Zeitpunkt richtig Fahrt aufnahm, der sich geräuschlos, weithin inhaltsleer und für die Mehrzahl der Beobachter einfach nur „langweilig“ (Bruns 2009: 3) dahinschleppte. Auch das im Vorhinein medial hochgespielte „Fernsehduell“ zwischen der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier konnte zwei Wochen vor dem Wahltag nicht den erhofften Schwung in die Endphase des Wahlkampfes bringen. Nicht nur, dass sich weniger Zuschauer für die Live-Sendung selbst und die anschließenden Fernsehdiskussionsrunden als noch bei den beiden vorangegangen Bundestagswahlen interessierten, auch kam das TV-Duell bei den Zuschauern weniger gut an (vgl. Dehm 2009: 651ff.).7 In seltener Einigkeit wurde die Sendung von den journalistischen Beobachtern kommentiert: „Wenig Duell, viel Duett“ (Welt online), „Freundschaftsspiel“ (Financial Times Deutschland) und „Yes, wie gähn!“ (Bild) lauteten nur einige der Pressestimmen (vgl. auch Bieber 2010: 244f.). Insofern passte sich das Aufeinandertreffen der Kanzlerin und ihres Herausforderers nahtlos in den insbesondere von der CDU forcierten „Watte- und Einlullwahlkampf“ (Schimmeck 2009) ein. Signifikante Wirkungen auf die Wahlabsicht und die 7
Das TV-Duell wurde zeitgleich und live in den Programmen Das Erste, ZDF, RTL, Sat.1 und Phoenix übertragen. Es wurde von 14,26 Millionen Zuschauern verfolgt. Mit einem Marktanteil von 42,5 Prozent war es das mit Abstand reichweitenstärkste Einzelereignis des Bundestagswahlkampfs 2009 (vgl. Geese et al. 2009: 643).
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Wahlbereitschaft, wie sie noch anlässlich der „Kanzlerduelle“ der Wahljahre 2002 und 2005 festgestellt werden konnten (vgl. Maier/Faas 2005; Maurer/Reinemann 2007), scheinen von der TV-Debatte 2009 in geringem Maße ausgegangen zu sein. Zurückzuführen ist dies wohl darauf, dass die beiden Kandidaten in der Debatte sowohl in ihrem Auftreten als auch in ihren inhaltlichen Positionen wenig überraschten, sich ähnelten und zudem äußerst konziliant miteinander umgingen.8 Entsprechend spielte die für den Wahlentscheid besonders relevante Frage nach einem „Sieger“ in der Debattennachberichterstattung eine vergleichsweise geringe Rolle (vgl. Bruns 2010: 9f.).9 Im Kanzlerduell kulminierte schließlich das, was als das Charakteristikum nicht nur für den Bundestagswahlkampf 2009, sondern auch für die meisten anderen Wahlkämpfe der 16. Legislaturperiode galt (vgl. Tenscher 2008; Hilmer 2010a: 155): antagonistische Konfrontationen zwischen den Großparteien blieben weithin aus. Stattdessen herrschte im „TV-Duell“ über weite Strecken Einigkeit im gemeinsamen Auftreten gegen die Moderatoren (vgl. Bieber 2010: 245f.; Bruns 2010) und im Versuch, sich die Erfolge der durch das Wahlergebnis 2005 „erzwungenen“ Großen Koalition auf die eigenen Fahnen zu schreiben. Dies war ein Grundmuster des gesamten Bundestagswahlkampfs 2009. Teilweise surrealistische Züge bekam dieses gemeinsame Werben für die Erfolge der Großen Koalition aber vor dem Hintergrund der beidseitigen Ankündigung, diese nicht fortsetzen zu wollen (vgl. Korte 2010: 22).10 Immerhin wirkte dabei das Eintreten der Kanzlerin für eine „bürgerliche“ Koalition aus CDU, CSU und FDP angesichts deren z.T. deutlichen Vorsprungs in den Meinungsumfragen gegenüber etwaigen Bündnissen ohne Unionsbeteiligung (vgl. Neu 2009a: 26f.) noch glaubwürdiger als das Herumlavieren der SPD-Parteioberen inklusive des Spitzenkandidaten. Dieser machte zwar im Verlauf des Wahlkampfes und auch in der TV-Debatte deutlich, gegen welche Koalitionen er sei (Schwarz-Gelb, Rot-Rot-Grün), aber nicht für welches Regierungsbündnis die Sozialdemokraten realistischerweise einträten: Die „Wunschkoalition“ mit den Grünen erschien 8 9
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Die Ähnlichkeit der beiden Kandidaten verführte manch journalistischen Beobachter zu Namensbildungen wie „Frank-Angela Merkelmeier“ (Krumrey 2009). Während der Ausgang der Debatte bei den meisten Journalisten unmittelbar nach der Sendung als Patt wahrgenommen wurde, verstärkte sich bei Medien und Wählern im Laufe der folgenden Woche der Eindruck, dass Frank-Walter Steinmeier überrascht hätte und als „Sieger“ noch am ehesten von dem TV-Duell profitieren konnte (vgl. Dehm 2009: 644f.). Während sich Union und Sozialdemokraten darin einig waren, die Große Koalition als „Ausnahmemodell“ nicht über den Wahltag hinaus fortsetzen zu wollen, wiesen die Meinungsumfragen bis in den September 2009 hinein darauf hin, dass eben diese Konstellation das von den Wählern favorisierte Bündnis vor einer schwarz-gelben Koalition gewesen wäre. Auch wünschte sich die Mehrheit der Befragten in allen Vorwahlumfragen des Jahres 2009, dass Angela Merkel ihre Kanzlerschaft fortsetzen würde (vgl. Neu 2009a: 21ff.; Hilmer 2010a).
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für die Wahlkampfbeobachter eingedenk der konstant schlechten Umfragewerte der Sozialdemokraten genauso utopisch wie die Hinweise auf eine mögliche Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, für die weder die Liberalen noch die Grünen zur Verfügung standen (vgl. Raschke/Tils 2010: 12f.; Machnig 2010: 42). Faktisch mangelte es den Sozialdemokraten also an einer eindeutigen Machtperspektive, mit der sie vermutlich mehr Wahlberechtigte hätten motivieren können, sich an der Wahl zu beteiligen und der SPD ihre Stimme zu geben (vgl. Hilmer 2010b: 31ff.; Blumenberg/Kulick 2010). Darüber hinaus blieb den gesamten Bundestagswahlkampf über die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen „Schwarzen“ und „Roten“ gedämpft. Auf Konfrontation, Polarisierung und Eskalation zwischen den Großparteien und den von ihnen angeführten „Lagern“ wurde weithin verzichtet. Solch öffentlich ausgetragene Antagonismen, denen Kanzlerin und CDU ganz bewusst auswichen (vgl. Murswieck 2009: 30), hatten jedoch bislang den meisten Wahlkämpfen in Deutschland die nötige Würze gegeben. Sie hatten eine Dramaturgie und „Stories“ geliefert, über die berichtet werden konnte. Zugleich wurden Unterschiede in den politischen Positionierungen der Parteien aufgezeigt, auf die sich die Wähler bei ihrem Wahlentscheid stützen konnten (vgl. Evans 2004: 92ff.; Schoen/Weins 2005: 230f.). Angesichts der Großen Koalition im Bund konnten CDU/CSU und SPD aber 2009 nicht die ihnen normalerweise in Wahlkämpfen zugedachten Rollen der beiden Hauptkonkurrenten – des Angreifers aus der Opposition und des Verteidigers bzw. Verkäufers aus der Regierung – glaubhaft einnehmen (vgl. Krewel et al. 2011). Doch nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, auch in personeller Hinsicht fehlte es dem Bundestagswahlkampf 2009 an Spannung: Die Kanzlerin und ihr Stellvertreter, der „nebenbei“ Kanzlerkandidat der SPD war und im Wahlkampf niemals an die Popularität Merkels heranreichte,11 gingen äußerst moderat miteinander um (vgl. Murswieck 2009: 26ff.). Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise waren die Koalitionäre auch zu Wahlkampfzeiten in besonderem Maße zur konstruktiven Zusammenarbeit gezwungen. Taktische und persönliche Angriffe „unter der Gürtellinie“ des politischen Hauptkontrahenten, wie sie noch vom Bundestagswahlkampf 2005 in Erinnerung waren (vgl. Tenscher 2009), wären vom Wähler nicht nur nicht verstanden, sondern in Zeiten der Krise auch kaum goutiert worden. Sie blieben ebenso weithin aus wie grundsätzliche Debatten über politische Streitfragen in einem insgesamt nur auf weni11
In keiner Vorwahlumfrage konnte Steinmeier die „Kanzlerfrage“ für sich entscheiden. Dennoch hielt die SPD an der „Kanzler-Illusion“ (Machnig 2010: 41) fest, was – zusammen mit der äußerst geringen Aussicht, eine Koalition ohne die Unionsparteien bilden zu können, – letztlich auf die eigene Anhängerschaft desillusionierend und demobilisierend wirken musste.
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ge Themen (wirtschaftliche Lage, Arbeitsmarktpolitik, Steuern, Finanzen und Haushalt) und stärker auf Koalitionsoptionen zugespitzten Wahlkampf (vgl. Bachl/Brettschneider 2009: 48; Hilmer 2010a: 172f.). Die Inszenierung von Konflikten, die Kritik an der Leistungsbilanz der Regierungsparteien, emotionalisierte und personalisierte Angriffe, welche die mediale Resonanz und das öffentliche Interesse hätten stimulieren können, blieben somit im Wahljahr 2009 in erster Linie den „kleinen“ im Bundestag vertretenen Parteien vorbehalten. Allerdings erzielten diese bei Weitem nicht die massenmediale Aufmerksamkeit wie die von SPD oder CDU angeführten Oppositionskampagnen früherer Bundestagswahlkämpfe (vgl. den Beitrag von Marko Bachl und Frank Brettschneider in diesem Band). Gleichwohl konnten die im Bund zur Opposition vereinten Parteien bei den meisten Wahlen des Jahres Zuwächse für sich verbuchen. Insgesamt betrachtet, erscheint das „Superwahljahr“ 2009 im Rückblick als eines der unauffälligsten und geräuschlosesten in der Geschichte Deutschlands. Von der dreifachen Sondersituation – einer extremen Dichte an Wahlen in den Sommermonaten, der Großen Koalition im Bund sowie der Finanz- und Wirtschaftskrise – ging offensichtlich eine sedative Wirkung aus, die Parteien, Medien und Wähler gleichermaßen ergriff und an der sich auch im Laufe des Jahres nur wenig änderte (vgl. Neu 2009a: 13). Die Folgen dieser „Lähmung“ hatten historische Ausmaße: x
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Noch nie machten bei einer Bundestagswahl so wenige Wähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch wie im Jahr 2009. Auch bei den Europawahlen wurde der historische Tiefstwert der vorangegangenen Wahl nur geringfügig übertroffen (vgl. Abbildung 1). Bei keiner Bundestagswahl zuvor gab es gegenüber der vorangegangenen Wahl so viele Veränderungen in den Stimmenanteilen: Rund ein Drittel bzw. 13 Millionen Wähler, die sich 2005 an der Bundestagswahl beteiligt hatten, entschieden sich 2009, eine andere Partei zu wählen oder der Wahl fern zu bleiben (vgl. Weßels 2009: 33; Hilmer 2010a: 149). Die drei „kleinen“ Oppositionsparteien im Bundestag erzielten sowohl bei der europäischen als auch bei der nationalen Parlamentswahl das beste Resultat ihrer jeweiligen Wahlgeschichte (vgl. Abbildung 2). Noch nie gaben bei einer Europawahl oder einer Bundestagswahl so wenige Menschen der SPD ihre Stimme. Allein bei der Bundestagswahl verlor sie gegenüber der Wahl im Jahr 2005 6,2 Millionen Zweitstimmen – ein in diesem Ausmaß noch nie dagewesener Verlust einer deutschen Partei, genauso wie das Minus von 11,2 Prozentpunkten (vgl. Neu 2009a:
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2ff.). Mit nur noch 23 Prozent der Wählerstimmen sank die SPD erstmalig bei einer nationalen Hauptwahl in die Nähe der historischen Tiefstwerte, die sie bei den beiden vorangegangenen „Wahldebakeln“ (Niedermayer 2009a; Raschke/Tils 2010), den Europawahlen 2004 (21,5 Prozent) und 2009 (20,8 Prozent), einfuhr (vgl. Abbildung 2). Auch die beiden anderen Parteien der Großen Koalition, CDU und CSU, verloren sowohl im Vergleich der beiden letzten Europa- als auch der beiden letzten Bundestagswahlen in ungewöhnlichem Maße Wähler. Im Vergleich der Hauptwahlen 2005 und 2009 distanzierten sich mehr als 1,3 Millionen Wähler von der CDU und 660.000 von der CSU. Mit 37,9 Prozent erzielten die Unionsparteien ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis bei Europawahlen.12 Gleiches wiederholte sich dreieinhalb Monate später bei der Bundestagswahl mit nur 33,8 Prozent der Stimmen. Dennoch vergrößerte die Union ihren Vorsprung gegenüber der SPD auf über zehn Prozentpunkte; so viel wie seit 1957 nicht mehr. CDU und SPD, die in den 1970er Jahren bei Bundestagswahlen zusammen immer über 90 Prozent der Wähler an sich banden, konnten im Jahr 2009 nur noch 56,8 Prozent der Wähler für sich gewinnen. Dass die beiden Antipoden an Stimmengewicht verlieren, zumal wenn sie in der Regierung sind, und die „kleinen“ zu mittelgroßen Parteien wachsen, ist kein neues Phänomen in Deutschland. Tatsächlich sind gerade diese (temporären) Veränderungen in den Größenverhältnissen der Parteien ein immer wiederkehrendes Kennzeichen von Europawahlen. Dabei gewinnen kleine Parteien, zumal jene in der Opposition, vor allem dann an Stimmen, wenn die Europawahl in der zweiten Hälfte der nationalen Legislaturperiode stattfindet (vgl. Reif/Schmitt 1980: 9; Wüst/Roth 2005: 77f.). Darüber hinaus hatte auch die erste Große Koalition von 1966 bis 1969 zu einem kurzfristigen Erstarken einer kleinen Partei, der NPD, geführt (vgl. Neu 2009a: 14).
Parteienwettbewerb, Koalitionsmöglichkeiten und -prozesse haben sich spätestens mit der Bundestagswahl 2009 fundamental verändert (vgl. Decker 2009). Auch wenn die außergewöhnlich hohen Stimmenverluste von CDU und SPD in Teilen der Großen Koalition geschuldet waren, so ist doch festzuhalten, dass 12
1989 verbuchten CDU (29,5 Prozent) und CSU (8,2 Prozent) zwar 0,2 Prozentpunkte weniger Stimmenanteil, aber rund 690.000 mehr Stimmen als 2009. Bei der Europawahl 2009 konnte die CSU in Bayern 48,1 Prozent der Stimmen gewinnen. Nach der verheerenden Landtagswahlniederlage des Vorjahres wurde dies als Zeichen der Konsolidierung gewertet (vgl. Niedermayer 2009a: 719).
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beide Parteien bei allen national ausgetragenen Wahlen des Millenniums regelmäßig unter der 40-Prozent-Marke geblieben sind. Mindestens ein Fünftel der Wählerschaft hat sich demzufolge dauerhaft von den Großparteien verabschiedet. Dies deutet auf grundlegende und langfristige Strukturverschiebungen in der Wählerschaft hin (vgl. Jesse 2009). Hinzu kommen schließlich noch ein wachsender Anteil von Wechselwählern, unentschlossenen Wählern und Spätentscheidern, die sich erst auf der Zielgerade des Wahlkampfes, in den letzten Wochen oder am Wahltag, für die Wahl einer bestimmten Partei oder die Nichtwahl entscheiden (vgl. Neu 2009a: 61ff.).13 Abbildung 2:
Entwicklung der Stimmenanteile bei den Bundestags- und Europawahlen, 1999-2009 (in Prozent)
50 40 30 20 10 0
EUͲWahl1999
BTW2002
EUͲWahl2004
BTW2005
EUͲWahl2009
SPD
30,7
38,5
21,5
34,2
20,8
BTW2009 23
CDU
39,3
29,5
36,5
27,8
30,7
27,3
CSU
9,4
9
8
7,4
7,2
6,5
Grüne
6,4
8,6
11,9
8,1
12,1
10,7
FDP
3
7,4
6,1
9,8
11
14,6
Linke
5,8
4
6,1
8,7
7,5
11,9
Sonstige
5,4
2,8
9,8
4
10,7
6
Eine Folge dieser Veränderungen ist, dass sich Wähler, Medien und Parteien zukünftig bereits in Wahlkämpfen auf eine neue Unübersichtlichkeit und koalitionäre Offenheit einstellen müssen. Vieles ist denkbar – und nur wenige Bündnisse können vonseiten der nach Macht strebenden Parteien grundsätzlich aus13
Bei der Bundestagswahl 2009 entschied sich ein Viertel der Wählerschaft erst in den letzten Tagen des Wahlkampfes für eine bestimmte Partei (vgl. Krewel et al. 2011). Für die politischen Kontrahenten heißt das, den Wahlkampf bis zur letzten Minute auszunutzen.
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geschlossen werden. Das könnte sich schließlich auch auf die Tonlage kommender Wahlkämpfe auswirken: Ideologische Lagerkämpfe, rigide Abgrenzungen, eine offensive Rhetorik und Polarisierungen könnten ja die Wahl- und Koalitionschancen von vorneherein mindern (vgl. Korte 2010: 12ff.). Zugleich scheinen sich aber immer mehr politiker- und parteienverdrossene Wähler „klare Ansagen“ und weniger Ambiguität von den politischen Protagonisten zu wünschen. Davon könnten Klientelparteien wie FDP, Grüne und Linke aufgrund ihrer vergleichsweise homogenen Adressatengruppen, ihrer Ausrichtung auf i.d.R. wenige Politikfelder und eindeutigeren Parteiprofilen in besonderem Maße profitieren. Zwar werden – gerade im Bund – auch auf absehbare Zeit „Traditionskoalitionen“ entlang tradierter Lagergrenzen, also Bündnisse aus CDU, CSU und FDP sowie aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, angestrebt. Auch können Große Koalitionen nicht ausgeschlossen werden. Daneben ist die Wahrscheinlichkeit aber für neue Regierungsvarianten gerade vor dem Hintergrund der nachlassenden Tabuisierung der Linkspartei in den westlichen Bundesländern seit den 1990er Jahren kontinuierlich gestiegen. Möglich geworden und teilweise schon erprobt sind mittlerweile Bündnisse, die z.T. bis vor Kurzem noch undenkbar waren. Dazu zählen: 1. lagerübergreifende Zusammenschlüsse aus 1.) SPD und FDP, ein Bündnis, das auf Länderebene nur in Rheinland-Pfalz bis ins neue Jahrtausend fortgeführt wurde (1991-2006), aber auch 2.) aus CDU und Grünen, ein Koalitionsversuch, der bislang nur in Hamburg gewagt (2008-2010) und nach eineinhalb Jahren von den Grünen für beendet erklärt wurde; 2. verschiedene Arten von Dreierkoalitionen: 1.) à la Jamaika oder „schwarzer Ampel“ (CDU, Grüne, FDP), wie sie sich im Saarland kurz vor der Bundestagswahl bereits abzeichnete und seit 2009 Bestand hat, 2.) Ampelbündnisse aus SPD, FDP und Grünen, wie sie bereits in Brandenburg und Bremen regierten, oder 3.) „Libanonkoalitionen“14 aus SPD, Linke und Grünen; 3. und schließlich auch „Linksbündnisse“ zwischen SPD und Linken, wie sie in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin regieren, und Minderheitsregierungen, wie jene aus SPD und Grünen, die sich im Anschluss an die nordrhein-westfälische Landtagswahl 2010 zusammentaten.15
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Wie bei der Jamaikakoalition wird hier an die Farbgebung einer Landesflagge, in diesem Fall der libanesischen, erinnert. Der in Hessen zwei Jahre zuvor noch gescheiterte Versuch, in einem westdeutschen Bundesland eine von den Linken tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden, konnte hier re-
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Solche neuen Regierungsvarianten, die in anderen westeuropäischen Ländern schon länger bekannt sind, müssen sich zwar zunächst auf der Länderebene bewähren, bevor sie als strategische Option im Bund in Frage kommen (vgl. Probst 2010: 178f.; Raschke/Tils 2010: 16). Aber auf all diese koalitionären Möglichkeiten werden sich Wähler, Parteien und Medien zukünftig einstellen müssen. Das erfordert ein Umdenken sowohl auf der Seite der Wahlkampfverantwortlichen und der Journalisten als auch auf Seiten der Bürger. Angesichts der wachsenden Zahl von Koalitionsoptionen droht schließlich insbesondere das strategische Wählen16 immer mehr zum Lotteriespiel zu werden (vgl. Korte 2009: 3). Wachsende Frustrationen gegenüber wahltaktischen Offenheiten der Parteien und gegenüber „ungewollten“ Regierungsbündnissen sind hier vorprogrammiert. 2
Haupt- und Nebenwahlen im Vergleich
Im Vergleich zu den gravierenden Veränderungen, die sich aus dem Bundestagswahlergebnis für die parlamentarischen Kräfteverhältnisse im Bund, den Parteienwettbewerb und zukünftige Koalitionsoptionen ergeben haben, sorgte das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit für keinen anhaltenden politischen oder publizistischen Nachklang. Die Tatsache, dass zum dritten Mal hintereinander weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgab und sich damit der Trend einer seit der ersten Direktwahl 1979 kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung fortsetzte (vgl. Abbildung 3), konnte die Wahlbeobachter kaum überraschen (vgl. u.a. Haller 2009; Niedermayer 2009b: 4). Auch der (Wieder-)Einzug einer Reihe populistischer, rechtsgerichteter und antieuropäisch eingestellter Abgeordneter in das Europäische Parlament war vor dem Hintergrund des Ergebnisses der vorangegangenen Europawahl erwartet worden (vgl. die Beiträge in Tenscher 2005; Maier/Tenscher 2006; van der Brug/van der Eijk 2007). Ebenso wiederholte sich die Stärkung konservativer, bürgerlicher und Mitte-Rechts-Parteien einerseits und die Schwächung sozialdemokratischer, sozialistischer und MitteLinks-Parteien andererseits (vgl. Trechsel 2010: 9f.).
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lativ geräuschlos und zügig umgesetzt werden. Das so genannte „Magdeburger Modell“ ist somit auch in den alten Bundesländern angekommen. Gemeint ist damit das Splitten von Erst- und Zweitstimme zur Ermöglichung bzw. Verhinderung von Koalitionen bzw. des (Nicht-)Überspringens der 5-Prozent-Hürde durch bestimmte Parteien.
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Abbildung 3:
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Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen im Vergleich (in Prozent)
Aus einem europäischen Blickwinkel passte das verheerende Wahlergebnis der deutschen Sozialdemokraten also ins Bild. Für diese hatten nur noch rund ein Fünftel der Wähler und damit so wenige wie noch bei keiner bundesweit abgehaltenen Wahl gestimmt (s.o.). Allerdings wurde das Abschneiden der SPD, wie das der anderen Parteien, in der deutschen Nachwahlberichterstattung (wie auch in anderen EU-Mitgliedsländern) weniger aus einer europäischen, sondern in erster Linie aus einer nationalstaatlichen Perspektive betrachtet. So galt die Europawahl für die einen in erster Linie als Zwischenetappe und für die anderen als Stimmungstest dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl (vgl. HoltzBacha/Leidenberger 2010: 36ff.). Berichte und Kommentare über die originär europapolitischen Konsequenzen der ersten Direktwahl nach der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon, der u.a. die Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlaments deutlich ausweitete,17 waren eine Ausnahme. Die nicht nur in Deutschland auch aus früheren Europawahlkämpfen bekannte Umdeutung einer supranationalen Wahl zu einer nationalen Angelegen17
Ungeachtet der Ausweitung der Haushaltsbefugnisse sowie der Gesetzgebungskompetenzen auf die Mehrzahl der Politikbereiche bleibt dem Europäischen Parlament (ebenso wie dem Europäischen Rat) weiterhin das Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess versagt. Hier erfuhr der Primat der EU-Kommission durch den Lissabon-Vertrag eine Stärkung.
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heit von nachrangiger Bedeutung (vgl. Tenscher 2005b: 10ff.; de Vreese et al. 2006) wurde jedoch nicht nur von den journalistischen Beobachtern betrieben (vgl. Holtz-Bacha/Leidenberger 2010), sondern ebenso von den politischen Protagonisten selbst. „Für alle Parteien war die EP-Wahl strategisch eine Zwischenstation auf dem Weg zur wenige Monate danach stattfindenden Bundestagswahl“ (Niedermayer 2009a: 716; vgl. auch Brunsbach et al. 2010: 91).
So hatte sich z.B. die SPD auf einen „Etappen- oder Treppenwahlkampf“ (Steeg 2010: 47) eingestellt, der sie, ausgehend vom erhofften „Wendepunkt“ der Europawahl, Stufe für Stufe, über die Landtagswahlen Ende August bis hin zur Bundestagswahl, in der Wählergunst höher tragen sollte. Im Nachhinein betrachtet, entpuppte sich die erhoffte Treppe jedoch eher als eine „Rutschbahn“ (ebenda), auf der die Sozialdemokraten bis zum 27. September hinab schlitterten. Auch die anderen Parteien planten den Europawahlkampf ressourcentechnisch und strategisch in den Wahlkampfmarathon 2009 mit ein. Exemplarisch hierfür steht die Linkspartei, die, nach einem internen Papier, bereits zweieinhalb Jahre zuvor die Europawahl als drittletzte Etappe eines Wahlzyklus festlegte, der mit der Bremer Bürgerschaftswahl im Mai 2007 begann und mit der Bundestagswahl im September 2009 enden sollte. Viel originär „Europäisches“ war also im Europawahlkampf 2009 von Vorneherein nicht zu erwarten – und wurde letztlich auch kaum geboten (vgl. Niedermayer 2009a 716; Holtz-Bacha/Leidenberger 2010). Damit unterschied sich Deutschland kaum von den anderen EU-Mitgliedsstaaten (vgl. Gagatek 2010). Angesichts des außerordentlich kurzen Schattens, den die Bundestagswahl auf die Europawahl in Deutschland vorauswarf,18 konnte hier aber in besonderem Maße a priori davon ausgegangen werden, dass sich das Engagement der Parteien und Massenmedien, die „Lautstärke“ und Visibilität der Kampagnen, das Ausmaß der Berichterstattung und deren „Europeanness“ sogar noch unter dem bereits niedrigen Level des Europawahlkampfs 2004 bewegen würde
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Diese Annahme knüpft an so genannte Wahlzykluseffekte an: Demnach ist das Wahlverhalten umso mehr von nationalen Aspekten geprägt, je näher die Europawahl zeitlich an einer nationalen Hauptwahl liegt (vgl. Neu 2009b: 4). Dies bedeutet erstens auch, dass die Wahrscheinlichkeit für eine hohe Wahlbeteiligung steigt, je näher die Europawahl vor der nächsten Hauptwahl stattfindet. Zweitens ähneln Europawahlergebnisse den Hauptwahlergebnissen, je näher die beiden Wahltermine beieinander liegen. Drittens fallen die Verluste der Regierungsparteien und die Gewinne „kleiner“ Parteien bei so genannten „mid-term-elections“ am stärksten aus (vgl. Reif/Schmitt 1980: 10; Marsh 2005; Wüst/Roth 2005: 72ff.).
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(vgl. grundlegend Reif/Schmitt 1980: 13f.). Dass dies nicht ohne Folgen für das Interesse an der Wahl und die Wahlbeteiligung bleiben würde, war zu erwarten. In welchem Maße sich diese Erwartungen gegenüber Parteien, Medien und Wählern im Superwahljahr 2009 schließlich realisierten, will der vorliegende Band auf empirischer Grundlage klären. Hierzu wird in allen Beiträgen systematisch eine vergleichende Perspektive eingenommen. Zentraler Gegenstand des Vergleichs sind die Bundestags- und Europawahlen 2009, mithin also jene beiden Wahlen, die vor rund vierzig Jahren, im Nachklang zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments, als nationale Hauptwahl und supranationale Nebenwahl klassifiziert wurden (vgl. ebenda).19 Die damals aufgeworfene „Nebenwahlthese“, an die auch mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes anknüpfen, hat mittlerweile vielfache empirische Bestätigung gefunden. Dabei war der Fokus lange Zeit primär auf die Wahlbeteiligung und das Wahlverhalten gerichtet (vgl. u.a. Reif 1987; Marsh 1998; van der Brug/van der Eijk 2007). Im Zuge der vermehrten Zuwendung zu politischen Kommunikationsfragen seit den 1990er Jahren ist aber gerade in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit zusehends auch auf die Entscheidungsprozesse im Vorfeld des Wahlaktes und auf den Wahlkampf gerichtet worden. Allerdings stellt die empirische Auseinandersetzung mit Wahlkämpfen in sub- und supranationalen Kontexten im Vergleich zur Beschäftigung mit nationalen Hauptwahlkämpfen immer noch eine Seltenheit dar (vgl. Tenscher 2005b, 2008: 109ff.; de Vreese 2009: 8). Mittlerweile liegt zwar eine Vielzahl an Studien vor, die sich im Rahmen von Fallanalysen oder Langzeitstudien den Hauptakteuren der Kampagnen, sprich den Parteien und Kandidaten, oder deren Resonanzen in der Wahlkampfberichterstattung in einem Land zuwenden (vgl. für Deutschland die Beiträge in Holtz-Bacha 2005, 2010b; Tenscher 2005c). Rar sind jedoch Untersuchungen, die sich aus einer ländervergleichenden, zumal EU-weiten Perspektive den Hauptakteuren des Wahlkampfes zuwenden: Nach einem anfänglichem Interesse anlässlich der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments (vgl. Schulz 1983; Brants et al. 1983) haben die Parteien- und Kandidatenkampagnen (vgl. Gerstlé et al. 2002; Bicchi et al. 2003; de Vreese 2009) ebenso wie die Wahlkampfberichterstattung (vgl. u.a. Kevin 2001; 19
Angesichts der unterschiedlichen Involvierung von Parteien, Massenmedien und Wählern kann auch zwischen Nebenwahlen erster Ordnung (Landtagswahlen) und zweiter Ordnung (Europawahl) unterschieden werden (vgl. Tenscher 2008: 113f.). Andernorts wird vorgeschlagen, die Europawahlen als „Third-Order Elections“ (Reif 1997: 121) oder als „Fourth-Order Elections“ (Wagner 2003: 303) hinter Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen zu klassifizieren. Unterstützt wird diese Reihung durch die Wichtigkeit, die die Bürger den unterschiedlichen Parlamentsebenen zuordnen (vgl. Wüst/Roth 2005: 69).
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Lauf/Peter 2004; de Vreese et al. 2006, 2007) erst mit den Europawahlen 1999 wieder deutlich an komparativer Beachtung im EU-weiten Maßstab gewonnen.20 All diese Studien untermauern zwei grundlegende Annahmen der „Nebenwahlthese“ im – zumeist indirekten – Vergleich zu Hauptwahlkämpfen: 1. Für Parteien, Massenmedien und Wähler geht es bei Europawahlen schlichtweg um nicht so viel wie bei nationalen Hauptwahlen; für sie steht unisono „weniger auf dem Spiel“ (Reif/Schmitt 1980: 9). Dies hat Folgen für das Commitment bzw. Involvement der Hauptakteure, das Ausmaß der Wahlbeteiligung und das Wahlverhalten. 2. Für die Art und Weise, wie Europawahlkämpfe ausgetragen werden, wie über sie berichtet wird und wie sie wahrgenommen werden, spielen genauso wie für die Frage, an welchen Faktoren sich die Wähler bei ihrer Stimmabgabe orientieren, nationale Aspekte eine wesentliche Rolle. So populär diese Annahmen sind, beruhen sie doch, zumindest was die Parteienkampagnen und Medienberichterstattung angeht, zumeist auf mittelbaren Vergleichen bzw. Analogschlüssen. Befunde zum Europawahlkampf werden hierbei in Bezug zu Studien gesetzt, die zur Bundestagswahl durchgeführt wurden.21 Demgegenüber sind direkte Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Wahlen bzw. Wahlkämpfen nicht zuletzt aufgrund z.T. abweichender Erkenntnisinteressen und Untersuchungsdesigns Mangelware. Sie bleiben bislang vor allem der auf Umfragen fokussierten Wahlforschung überlassen. Hier möchte der vorliegende Band einen neuen Impuls setzen, in dem er die unterschiedlichen Facetten der Europa- und Bundestagswahlkämpfe 2009 unter jeweils ein und demselben Mikroskop betrachtet.
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Die unterschiedlich starke Zuwendung zu den Wahlkampagnen und der Wahlkampfberichterstattung kann kaum mit der stetig steigenden Zahl an EU-Mitgliedsstaaten und damit forschungspragmatischen Gründen erklärt werden. Schließlich haben sich gerade in jüngster Zeit unterschiedliche Forschergruppen um EU-weit-vergleichende Inhaltsanalysen (z.B. der Medienberichterstattung, der Parteienprogramme und der Parteienwerbung) und Kandidatenbefragungen anlässlich der Europawahlen bemüht. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Forschergruppen an der Amsterdam School of Communication und die länderübergreifenden Gemeinschaftsprojekte European Election Study 2004 und PIREDEU (vgl. auch Kaid et al. 2010; Maier et al. 2011). Die isolierte Beschäftigung mit Europa- oder Bundestagswahlkämpfen mag sicherlich auch forschungspragmatischen Zeitpunkten geschuldet sein. Gleichwohl stellen Beiträge, die den direkten Vergleich zwischen den beiden Wahlen innerhalb eines Landes anstellen, in der Wahlkampfforschung, im Unterschied zur Wahlforschung, noch eine Ausnahme dar (vgl. z.B. Wilke/Reinemann 2005; Tenscher 2007).
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Ungeachtet dieses methodischen Einwands verdeutlichen die vorliegenden Studien zu den Europawahlkämpfen, dass sich Parteien, Massenmedien und Wählerschaft in einem „unseligen Teufelskreis wechselseitiger Einstellungen und Erwartungen“ (Niedermayer 2009a: 712) befinden. Dieser ist durch rationales Handeln auf Basis eigener Prioritäten und unter Berücksichtigung der wahrgenommenen Möglichkeiten und Notwendigkeiten gekennzeichnet. So prägen einerseits die seitens der Parteien und Massenmedien wahrgenommenen Publikumserwartungen, neben ihren eigenen Handlungsmotiven, in hohem Maße das Ausmaß und die Art ihrer jeweiligen Kampagnenbemühungen. Andererseits wirken die Art und Weise der Kampagnenführung und -berichterstattung auf die Wähler zurück und verstärken deren Prädispositionen in Bezug auf eine „zweitrangige“ Wahl und einen eben solchen Wahlkampf. Ursache und Wirkung sind hier nur schwer auseinander zu halten. Die empirisch belegten Manifestationen dieses Zusammenspiels von Parteien, Massenmedien und Wählern lassen sich jedoch auf zwei Wesensmerkmale verdichten: Erstens schenken Parteien wie Massenmedien den Europawahlen im Vergleich zu nationalen Wahlen eine geringere Aufmerksamkeit und engagieren sich in reduziertem Maße. Ihr geringeres Commitment bringen die Parteien in Form von „low key campaigns“ (Bicchi et al. 2003: 38) bzw. Kampagnen zweiter Ordnung zum Ausdruck. Gemeint sind damit Parteienkampagnen, die mit relativ geringen personellen, finanziellen, sachlichen und zeitlichen Ressourcen geplant und ausgeführt werden (vgl. Gerstlé et al. 2002: 61ff.; Bicchi et al. 2003: 31ff.). Diese Herangehensweise führt dazu, dass der Professionalitätsgrad der Kampagnen hinter dem von nationalen Wahlkämpfen zurückbleibt, dass kostenintensive Narrowcasting-Aktivitäten ebenso selten sind wie ein aufwändiges Ereignis- und Newsmanagement oder das Spielen auf der multimedialen Klaviatur (vgl. u.a. Tenscher 2007; de Vreese 2009; Holtz-Bacha 2010: 15ff.). Damit sind die Parteien und Kandidaten auch „mitverantwortlich“ für das defizitäre Ausmaß der Berichterstattung. EU-weit muss diesbezüglich eine in quantitativer Hinsicht eher beiläufige, marginalisierte Zuwendung des Journalismus zum Thema „Europawahl“ konstatiert werden (vgl. de Vreese et al. 2006, 2007). Überdies schaffen das gebremste Engagement der Parteien und Kandidaten sowie eine kaum wahrnehmbare Berichterstattung ein Wahlkampfumfeld, das den Eindruck des Publikums, bei Europawahlen gehe es um weniger als bei Bundestagswahlen, erhärtet. Das in der „Nebenwahlthese“ identifizierte geringere Interesse der Wähler an der Europawahl und deren reduzierte Bereitschaft, sich an dieser zu beteiligen (vgl. Reif/Schmitt 1980: 10), sind somit nicht zuletzt auf ein zentrales Vermittlungsproblem der politischen Protagonisten und medialen Berichterstatter zurückzuführen. Hier weitet sich das immer wieder
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beklagte und empirisch belegte Defizit an europäischer Öffentlichkeit (vgl. zusammenfassend Langenbucher/Latzer 2006) auf das für den europäischen Integrationsprozess zentrale Ereignis aus. Andersherum gilt: Würden die Kampagnen intensiver und professioneller geführt werden, würde wohl auch umfassender und prominenter über sie berichtet werden. Umso schwerer würde es den Bürgern und Wählern dann fallen, sich nicht mit dem Thema „Europawahl“ zu beschäftigen, und umso mehr Wähler wären schließlich bereit, sich – auf Basis eines gestiegenen EU-bezogenen Interesses und eines höheren Grads an Informiertheit – an der Wahl zu beteiligen (vgl. Gerstlé et al. 2002; Banducci/Semetko 2003; Tenscher 2005c; Niedermayer 2009a: 712). Allein, es ist zu bezweifeln, dass sich die Parteien oder die Massenmedien zukünftig stärker in Europawahlkämpfen engagieren würden. Dem entgegen steht ihre nationale Verankerung und Abhängigkeit von Stimmen bei nationalen Wahlen bzw. von größtmöglichen nationalen Publika. Das zweite Grundmerkmal bisheriger Europawahlkämpfe steht nur im mittelbaren Zusammenhang mit den konstatierten Engagement- und Aufmerksamkeitsdefiziten: Neben der Lautstärke bleibt auch die Tonlage, die Parteien und Kandidaten in Europawahlkämpfen anschlagen und in der die Medien über diese berichten, nicht ohne Folgen für die Wahlkampfperzeption, die Wahlbeteiligung und das Wahlverhalten. Gemeint ist damit die Art und Weise des wahlkampfspezifischen Umgangs der politischen Protagonisten untereinander sowie dessen Rahmung in Form von Bildern, Köpfen (bzw. Personen und Kandidaten) und Stimmen (bzw. Themen und Positionen). Wird die Auseinandersetzung der Parteien in Europawahlkämpfen unter dieser Perspektive beleuchtet, fällt auf, dass diese im Vergleich zu nationalen Wahlkämpfen i.d.R. weniger konfrontativ und polarisierend ist (vgl. u.a. die Beiträge in Maier/Tenscher 2006). Den Nachrichtenmedien fehlt mitunter der Faktor „Konfrontation und Konflikt“, der die Berichterstattung stimulieren könnte.22 Hinzu kommt, dass die Parteien nur allzu oft darauf verzichten, Kandidaten mit ausreichendem Prominenzkapital bzw. entsprechendem -potenzial in die Europawahlkämpfe einzubinden. Dieses fehlt den meisten Europaabgeordneten sowieso. Ohne Köpfe und Gesichter fällt es aber nicht nur den Medien schwer, über die anstehende Wahl zu berichten, sondern den Wählern fehlt ein wesentlicher Anknüpfungspunkt zur Orientierung und Entscheidungsfindung im Wahlkampf (vgl. bereits Schulz 1983: 362f.). Letztlich führen auch die Stimmen, d.h. die öffent22
Dies muss jedoch nicht zwangsläufig zu einer Steigerung des Interesses der Rezipienten an der Europawahl oder gar zu Mobilisierungseffekten führen (vgl. Banducci/Semetko 2003: 11f.; Schoen 2010).
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liche Rhetorik des politischen Personals und der Medientenor, nahezu zwangsläufig dazu, dass die Wähler das Wahlspezifische – die europäische Dimension – kaum wahrnehmen (können). Beide, Parteien und Massenmedien, betonen in Europawahlkämpfen in hohem Maße nationale Themen und beleuchten europäische Themen und Ereignisse vorwiegend aus einem nationalstaatlichen Blickwinkel. Zu einer entsprechenden Nationalisierung und Domestizierung des Wahlkampfgeschehens trägt schließlich die Dominanz nationaler Akteure in den Kampagnen und der Berichterstattung bei (vgl. Tenscher 2005d; de Vreese et al. 2006). Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum bei einer Vielzahl der Wähler die Wahrnehmung nationaler Themen, Probleme und Akteure die spezifisch europäische Dimension der Wahl überlagern. Europawahlen spielen eben nicht nur eine nachrangige Rolle für Parteien, Massenmedien und Wähler, sondern sie sind immer auch Stimmungstests für die Unterstützung der politisch Handelnden, für Themenprioritäten und Meinungen im nationalen Kontext. Eine besondere Bedeutung kam diesem Stimmungstest im Superwahljahr 2009 zu: Die Europawahl diente den Parteien und Wahlkampfverantwortlichen, den Journalisten und Wählern, ob sie es wollten oder nicht, als Lackmustest für die anstehende Bundestagswahl. Welche Konsequenzen dieser Test für den nachfolgenden Bundestagswahlkampf hatte, möchte der vorliegende Band aufzeigen. Hierzu werden die Parteienkampagnen, die Medienberichterstattung und die Entscheidungsprozesse der Wähler im Vorfeld der Europawahl in einen direkten Vergleich mit jenen des Bundestagswahlkampfes 2009 gesetzt. Durch das stringent komparative Design aller Beiträge ist es erstmalig möglich, valide Aussagen über Gemeinsamkeiten, Divergenzen und Besonderheiten von Europa- und Bundestagswahlkämpfen zu treffen. Die vielfach untersuchte Nebenwahlthese (Fokus: Wähler) wird hierdurch am Beispiel Deutschlands systematisch zu einer Nebenwahlkampfthese (Fokus: Parteien und Massenmedien) ausgeweitet und auf den Prüfstand gestellt.23 Bei der Lektüre der Beiträge muss jedoch die seltene zeitliche Nähe der beiden Wahlen im Jahr 2009 berücksichtigt werden. Angesichts der skizzierten wahlzyklischen Effekte dürften manche Facetten der Parteienkampagnen, der Medienberichterstattung und des Wählerverhaltens im Vorfeld der Europawahl 2009 in besonderem Maße „nebensächlich“ ausgefallen und damit untypisch sein. Zugleich sind aber auch Rückwirkungen des Europawahlkampfs und -ergebnisses auf den nachfolgenden Bundestagswahlkampf wahrscheinlich. 23
Für einen ebenfalls vergleichenden, auf die Parteienwerbung zur Europa- und Bundestagswahl 2009 fokussierten Blick vgl. Holtz-Bacha 2010c; Lessinger/Holtz-Bacha 2010.
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Entsprechend bedürfen einige der in diesem Band präsentierten Befunde einer zusätzlichen Validierung in Form eines Vergleiches, der unterschiedlichen Wahlzyklen Rechnung trägt. Dies ist umso mehr der Fall, als die politische Konstellation einer Großen Koalition im Bund, die beschriebene Häufung von Wahlterminen und letztlich die Einflüsse der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Wahlen des Jahres 2009 nachhaltig berührten (vgl. Korte 2010; Krewel et al. 2011). So drängt sich der Eindruck auf, dass nicht nur die Europawahl im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahl in besonderem Maße „nebensächlich“ ausfiel, sondern auch der Bundestagswahlkampf 2009 in vielerlei Hinsicht eher „second-order“ war. Inwiefern es sich hierbei um ein einmaliges Ereignis handelte oder das Jahr 2009 den Beginn insgesamt ruhiger, unaufgeregter, ja langweiliger Wahlkampagnen in Deutschland markierte, welche die Wähler kaum zur Wahl motivieren können, gilt es angesichts zukünftiger politischer Konstellationen und situativer Einflüsse zu überprüfen. Dazu bedarf es weiterer longitudinaler, aber auch ländervergleichender Untersuchungen von Haupt- und Nebenwahlkämpfen und -wahlen auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen. Für diese soll der vorliegende Band einen Anstoß geben. 3
Zum Inhalt des Bandes24
Die an dieser Stelle versammelten Beiträge stellen die beiden national ausgetragenen Wahlen des deutschen Superwahljahres 2009 auf den empirischen Prüfstand. Dabei steht die Frage nach der „Haupt- und Nebensächlichkeit“ bzw. nach der „Vor- und Nachrangigkeit“ des Bundestags- und Europawahlkampfes im Fokus des Interesses. Die Beiträge liefern hierzu verschiedene Indikatoren und Antworten, indem sie sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Besonderheiten der beiden Wahlkämpfe unter einer konsequent vergleichenden Perspektive begeben. Dies geschieht mit jeweils spezifischem Blick auf das wahlkampftypische Beziehungsdreieck von Parteien, Medien und Wählern (vgl. u.a. Tenscher 2005d: 15). Von zentraler Bedeutung sind dabei die kommunikativen Austauschprozesse, die im Vorfeld der jeweiligen Wahl stattfinden und die sich in Form von Handlungen, Inhalten, Strategien und Perzeptionen manifestieren. Diese bündelt der Band in drei Abschnitten: 1.) Parteien, Kandidaten und deren Kampagnen, 2.) Angebote und Inhalte der Massenmedien
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Ich danke Juliane Nagiller für ihre Unterstützung bei der Formatierung der Beiträge dieses Bandes.
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und Neuen Medien sowie 3.) Resonanzen und Wirkungen der Kampagnen auf Medien und Rezipienten. Den Auftakt des ersten Abschnitts bildet der Beitrag von Sandra Brunsbach, Stefanie John, Andrea Volkens und Annika Werner. Sie wenden sich der Angebotsseite der beiden Wahlkämpfe zu, indem sie die Wahlprogramme der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien empirisch durchleuchten. Ungeachtet einer beachtlichen Tradition der Analyse von Europawahlprogrammen sind diese bislang nicht in direktem Bezug zu den programmatischen Angeboten der Parteien im Vorfeld von Bundestagswahlen gesetzt worden. Mit der Überprüfung der Nebenwahlthese auf Basis des unmittelbaren Vergleichs betritt diese Studie also Neuland. Dabei wird deutlich, dass die Parteien 2009 – wie auch bei früheren Europawahlen (vgl. u.a. Wüst 2005) – in ihren schriftlichen Manifestationen durchaus auf europäische Themen, Ansichten und Ideale setzten. Die Nebensächlichkeit, mit der die politischen Protagonisten der Europawahl im Vergleich zur Bundestagswahl begegneten, kommt somit nicht inhaltlich zum Ausdruck, sondern eher im geringeren Ressourceneinsatz und in der stärkeren Polarisierung der Europawahlprogramme. Der anschließende Beitrag von Jens Tenscher beschäftigt sich weniger mit dem Ausgangspunkt, den programmatischen Grundlagen, sondern mit dem Verlauf der Parteienkampagnen 2009. Hierzu werden die strukturellen Voraussetzungen und strategischen Ausrichtungen der Parteien unter dem Blickwinkel der Professionalität untersucht. Die Analyse weitet den Vergleich der 2009er Kampagnen um die jene der Jahre 2004 bzw. 2005 aus. Das longitudinale Design zeigt, dass alle Parteien ihre Organisationsstrukturen im Superwahljahr 2009 für beide Wahlkämpfe stärkten, jedoch unter strategischen Gesichtspunkten vergleichsweise wenig Neues lieferten. Die Gegenüberstellung der jeweiligen Europa- und Bundestagswahlkämpfe untermauert zudem die Annahme einer Art Professionalisierung in zwei Schritten bzw. auf zwei Ebenen (vgl. Tenscher 2007): Ungeachtet parteispezifischer Charakteristika und eines entsprechenden „Kampagnensoges“, der vom Bundestags- auf den Europawahlkampf ausstrahlte, agierten nahezu alle deutsche Parteien im Vorfeld der Europawahl weniger professionell als beim nachfolgenden „Hauptwahlkampf“. Für beide Wahlkämpfe können allerdings keine auffälligen Defizite im Kampagnenmanagement gefunden werden, die deren geringen Widerhall in der publizistischen und allgemeinen Öffentlichkeit in Gänze erklären würden. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Blick auf den anschließenden Beitrag von Uta Rußmann. Vor dem Hintergrund der „Internet-Euphorie“, die die 2008er Kampagne Barack Obamas in den USA und bei europäischen Beobachtern auslöste, werden die Webangebote der Parteien erstmalig einer unmittelbar
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vergleichenden Strukturanalyse unterworfen. Diese bestätigt den aus früheren, wahlspezifischen Studien bekannten Eindruck (vgl. Schweitzer 2009, 2010), dass sich deutsche Parteien, was die Vielfalt ihres Internetangebots und insbesondere dessen interaktiven Potenziale angeht, z.T. noch stark zurückhalten. Unabhängig von den Parteien und dem Wahltyp dienen Websites in Deutschland demnach zuvorderst einer top-down information strategy. Mobilisierungsund Partizipationselemente stellen die Ausnahme dar. Überdies signalisiert die wahlvergleichende Analyse, dass, obwohl Europa- und Bundestagswahl im Jahr 2009 dicht aufeinanderfolgten, die Parteien doch zwischen den Wahlen differenzierten und ihr Internetangebot im Vorfeld der nationalen Hauptwahl im September ausweiteten. Während sich die Unterschiedlichkeit zwischen Haupt- und Nebenwahlkämpfen also beim Blick auf die Parteien- und Webkampagnen „von oben“ bestätigt, führt die Analyse „von unten“ zu einem weniger eindeutigen Bild. Diese Perspektive nehmen Heiko Giebler und Andreas M. Wüst ein, die sich den Kandidatenkampagnen in einer wahlebenen- und ländervergleichenden Analyse widmen. Der Ländervergleich zur Europawahl 2009 verweist darauf, dass Unterschiede im individuellen Kampagneneinsatz vor allem auf die Wahlchance, die Existenz von Präferenzstimmen, die inhaltliche Position und Größe einer Partei zurückzuführen sind. Im innerdeutschen Vergleich der beiden Wahlkämpfe bestätigt sich überdies die Annahme eines in finanzieller Hinsicht bei Europawahlkämpfen reduzierten Engagements der Kandidaten. Weniger klar fällt allerdings der Blick auf die investierte Zeit und die eingesetzten Mittel aus. Hier unterscheiden sich vor allem aussichtslose von chancenreicheren Kandidaten: Letztere waren in beiden Wahlkämpfen des Jahres 2009 deutlich stärker involviert und nutzten mehr Kampagnenkanäle. Vor dem Hintergrund des Engagements der Parteien und deren Versuche, Einfluss auf die Medienberichterstattung zu nehmen, widmen sich die vier Beiträge des zweiten Abschnitts des Bandes der medialen Darstellung, den Angeboten und Inhalten der Europa- und Bundestagswahlkämpfe 2009. Den Auftakt hierzu liefert die wahl- und zeitvergleichende Inhaltsanalyse der Berichterstattung überregionaler Printmedien von Jürgen Wilke, Christian Schäfer und Melanie Leidecker. Der Beitrag knüpft an frühere Vergleichsstudien an (vgl. insbes. Wilke/Reinemann 2005) und dehnt den Untersuchungszeitraum auf dreißig Jahre (1979-2009) aus. Dadurch erhärtet sich der wohlbekannte Eindruck, dass über Europawahlen in Deutschland nicht nur weniger als zu nationalen Hauptwahlzeiten berichtet wird, sondern dass hier vor allem nationale Perspektiven auf Themen und Akteure dominieren. Das Wahljahr 2009 stellt allerdings eine gewisse Zäsur dar: Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen
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Wahlkämpfen wurde noch nie so wenig über eine Bundestags- und noch nie so viel über eine Europawahl berichtet. Dadurch konnte sich der Eindruck einer nebensächlichen Bundestagswahl 2009 (s.o.) verstärken. Ähnlich ist schließlich die Entwicklung der Berichterstattung über die vergangenen dreißig Jahre hinweg: Kommentierung, Personalisierung und Visualisierung haben in dieser Zeit sowohl bei Europa- als auch bei Bundestagswahlkämpfen in der deutschen Presse an Gewicht gewonnen. Dass das Ausmaß der Marginalisierung der Berichterstattung über Europawahlkämpfe kein Spezifikum der Presse ist, untermauert der Beitrag von Hajo G. Boomgarden, Claes H. de Vreese und Holli A. Semetko. Dieser nimmt die Berichterstattung der reichweitenstärksten Fernsehnachrichtensendungen unter die Lupe. Die Inhaltsanalyse verweist auf eine deutlich geringere Präsenz des Themas „Europawahl“ gegenüber dem Thema „Bundestagswahl“ in den letzten drei Wochen vor dem jeweiligen Wahltag. Interessanterweise wurden jedoch in der Berichterstattung über die Europawahl 2009 die nationalen Akteure von den EU-Akteuren übertroffen – ein Novum in der Fernsehberichterstattung über Europawahlen in Deutschland (vgl. de Vreese et al. 2006) und zugleich eine Annäherung an die Presseberichterstattung im Jahr 2009 (s.o.). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, würde die EU zusehends ein europäisches Gesicht erhalten. Das Bild, das von Europa in den TV-Nachrichten zu Wahlkampfzeiten präsentiert wird, scheint zudem deutlich weniger konfrontativ auszufallen, als dies für nationale Hauptwahlen der Fall ist. Ob dieses Zusammenspiel von geringerer Präsenz, Dominanz von EU-Akteuren und vergleichsweise geringer Konflikthaltigkeit mit ursächlich für die geringe Wahlbeteiligung ist, gilt es weiter zu überprüfen. Wie gering tatsächlich die Präsenz des Themas „Europawahl“ im Superwahljahr 2009 ausfiel, unterstreicht ein Blick weg von den tagesaktuellen und hin zu den diskursiven Formaten, die das Fernsehen den Politikern zur Selbstdarstellung bietet. Diesen widmet sich der Beitrag von Andreas Dörner und Ludgera Vogt. Ihre Untersuchung von rund hundert Politikerauftritten in den PersonalityTalkshows des Fernsehens verdeutlicht, dass einer umfänglichen Personalisierung im Zuge des Bundestagswahlkampfes eine De-Personalisierung und DeThematisierung im Vorfeld der Europawahl gegenübersteht. Lediglich der FDPAbgeordneten und -Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin gelang es, ihr seit der Europawahl 2005 (vgl. Tenscher 2005b: 45f.) gestiegenes Prominenzkapital zu nutzen, um als einzige Europapolitikerin Eintritt in die Talkrunden zu bekommen. Demgegenüber wurde der Bundestagswahlkampf 2009 zu großen Teilen auf dem Boulevard der Talk-Formate ausgetragen. Hierin spiegelt sich nicht nur eine Asymmetrie in der Prominenz der Kandidaten wider, sondern
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auch die unterschiedliche Relevanz, die die Fernsehsender Europa- und Bundestagswahlkämpfen offensichtlich zuweisen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament scheinen diesbezüglich schlichtweg nicht als geeigneter Gegenstand von Gesprächsrunden angesehen zu werden, wodurch der Nebenwahl in diesen Formaten die demokratietheoretisch notwendige Aufmerksamkeit versagt bleibt. Abseits von der massenmedialen Berichterstattung wurde im Superwahljahr 2009 so viel wie nie zuvor über die Europa- und Bundestagswahlen im Internet berichtet und diskutiert. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich der Beitrag von Christoph Bieber und Christian Schwöbel vor allem mit den sogenannten Web-2.0-Angeboten in den beiden Wahlkämpfen. Diesen kam besonders im Bundestagswahlkampf eine herausgehobene Bedeutung zu, halfen sie doch den Parteien dabei, Offline-Angebote (z.B. Werbespots) wiederzuverwerten und Echtzeit-Kommunikation via Twitter zu stimulieren. Beide Kommunikationskanäle wurden im Vorfeld der Bundestagswahl in stärkerem Maße genutzt als vor der Europawahl, weswegen die Autoren eine technologisch phasenverschobene Ausprägung digitaler Wahlkampfführung konstatieren. Als wesentliche Internetinnovation des Wahljahres 2009 bleiben speziell jene Angebote in Erinnerung, die die Social-Media-Aktivitäten der politischen Protagonisten beobachten und analysieren halfen. Entsprechende Monitoring-Websites und AggregatorenDienste wurden von einigen Multimediafirmen und Beratungsagenturen betrieben. Sie mögen zukünftig zur Re-Vitalisierung politischer Teilöffentlichkeiten beitragen. Diesbezüglich lässt die Entwicklung im nationalstaatlichen Rahmen jedoch mehr Hoffnung aufkommen als die bisherigen Erfahrungen mit europaweiten Angeboten. Im dritten Abschnitt des Bandes werden schließlich die Resonanzen und Wirkungen der Wahlkampfkommunikation untersucht. Dabei geht es Marko Bachl und Frank Brettschneider sowohl um die Frage, inwiefern die Parteien mit ihren Themen auf die Medienagenda durchdrangen und wie sie bewertet wurden, als auch um die Frage, wie sich Medienagenda und Bevölkerungsagenda im Vorfeld der Europa- und Bundestagswahl 2009 entwickelten. Die inhaltsanalytischen Befunde unterstreichen zunächst die Dominanz des Themas „Wirtschaftspolitik“ im Superwahljahr 2009, ein Thema, bei dem weder die CDU und noch weniger die SPD punkten konnten: Sowohl in der Medienberichterstattung als auch in der Bevölkerungsmeinung überwogen diesbezüglich die kritischen Einschätzungen. Dabei zeigen sich kaum Unterschiede in der Berichterstattung und der Entwicklung der vonseiten der Bevölkerung zugeschriebenen Problemlösungskompetenzen zwischen den beiden Wahlkämpfen. Da den beiden Volksparteien auch hinsichtlich des zweitwichtigsten Themas beider Wahlkämpfe, der „Arbeitsmarktpolitik“, von großen Teilen der Bevölkerung keine Lösungskom-
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petenz zugesprochen wurde, sank die Bereitschaft derer Sympathisanten, sich an den Wahlen zu beteiligen. Angesichts der Wahrnehmung, dass die großen Parteien die großen Themen und Probleme im Zuge der Wirtschaftskrise nicht in den Griff bekämen, stiegen letztlich die Chancen für die kleinen Parteien, auch mit „kleinen“ Themen durchzudringen, für die sie konkrete Lösungsvorschläge anboten. Erinnert sei hier sowohl an die FDP (Thema: „Steuern“) als auch Bündnis 90/Die Grünen (Thema „Umwelt“). Um die Rahmung und Interpretation solcher thematischer Schwerpunktsetzungen geht es in dem nachfolgenden Beitrag von Bertram Scheufele. Dieser wendet sich, vor dem Hintergrund fehlender empirischer Befunde, grundlegend dem Thema „Medien-Framing und Medien-Priming bei Haupt- und Nebenwahlen“ zu. Seine konzeptionellen Überlegungen münden in sechs Annahmen, die es bei zukünftigen, komparativ ausgerichteten Wirkungsstudien zu berücksichtigen gilt. Zentral ist hierbei die Feststellung, dass der Stimulus, der von den Medien zur Wahrnehmung von Themen und Kandidaten gesetzt wird, von (Haupt-)Wahlkampf zu (Neben-)Wahlkampf variiert. Hierdurch dürften auch die Framing- und Primingeffekte divergieren. Überdies verweist der Autor auf die wahlzyklisch bedingten Wechselwirkungen von Haupt- und Nebenwahlkämpfen, welche wiederum Einfluss auf die Art und Weise des Framings und Primings nähmen. Seinem vor diesem Hintergrund aufgespannten Arbeitsprogramm für die weitere empirische Beschäftigung mit Medienwirkungen im Rahmen von Haupt- und Nebenwahlkämpfen und deren differenzierten Berücksichtigung in der Wahlforschung kann nur beigepflichtet werden. Die Perspektive der Wahlforschung nimmt schließlich der abschließende Beitrag ein. In diesem gehen Harald Schoen und Rebecca Teusch der Frage nach, welcher Einfluss von den Parteienkampagnen auf das Wahlverhalten bei der Europa- und Bundestagswahl 2009 ausging. Die umfängliche empirische Analyse stützt sich auf Daten der German Longitudinal Election Study, die zugleich einem Methodenvergleich unterzogen werden. Die Befunde verdeutlichen zunächst die auch aus früheren Wahlkämpfen (vgl. Wüst/Roth 2005: 65) bekannte unterschiedliche Reichweite der Parteienkampagnen: Während vier von fünf Wählern im Vorfeld der Bundestagswahl mit mindestens einer Maßnahme der Parteien direkt in Kontakt kam, war dies bei der Europawahl nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten. In beiden Wahlkämpfen wurden die Kampagnen von CDU und SPD deutlich stärker als die der kleinen Parteien rezipiert. Hierin spiegeln sich zweifelsohne auch die von Tenscher (s.o.) konstatierten unterschiedlichen Ressourcen wider, die in die Kampagnen gesteckt wurden. Hinsichtlich der Wirkungen der Parteienkommunikation sollten die Befunde vor allen Dingen die Wahlkampfverantwortlichen nachdenklich stimmen: Weder bei
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der Europa- noch bei der Bundestagswahl 2009 konnten für Union, SPD und FDP direkte Effekte auf die Wahlbereitschaft festgestellt werden. Die Befunde für Grüne und Linkspartei sind widersprüchlich. Im Superwahljahr 2009 traten also die Unterschiede in der Wirksamkeit von Kampagnenkontakten zwischen Parteien mindestens so deutlich hervor wie zwischen Europa- und Bundestagswahl. Inwieweit dies auch für zukünftige Wahlen zutrifft, die unter veränderten parteipolitischen und wahlzyklischen Vorzeichen stehen, gilt es zu überprüfen. Dabei sollten neben den hier gemessenen direkten Effekten der Parteienkampagnen auch indirekte Effekte, sprich die Wahrnehmung der Medienberichterstattung, aber auch konfligierende Einflüsse unterschiedlicher Parteienkampagnen untersucht werden. 4
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PARTEIEN, KANDIDATEN UND KAMPAGNEN
Wahlprogramme im Vergleich Sandra Brunsbach, Stefanie John, Andrea Volkens & Annika Werner
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Ausweitung der europäischen Rechtsetzung zeigen Europawahlen zumindest in Westeuropa weiterhin den Charakter von Nebenwahlen (vgl. Schmitt 2005; van der Brug et al. 2007) und entfalten in der Wahrnehmung der Wähler auch im Vergleich zu Regional- oder Kommunalwahlen eine geringere Relevanz (vgl. Heath et al. 1999; Schneider/Rössler 2005). Eine systematische Betrachtung des Nebenwahlcharakters von Europawahlen auf der Angebotsseite liegt hingegen nur in Ansätzen vor. Am ehesten wird die Angebotsseite mit Blick auf die Wahlkampagnen der Parteien untersucht (vgl. Tenscher 2007). Darüber hinaus bietet sich eine Analyse von Wahlprogrammen an. Diese werden i.d.R. von der gesamten Partei verabschiedet, womit ihnen eine besondere Autorität zugesprochen werden kann und sie als Indikator für die Angebotsseite im politischen Wettbewerb geeignet sind. Zahlreiche Studien untersuchen die programmatischen Angebote von Parteien bei Europawahlen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, wobei sie sich allenfalls indirekt auf den Nebenwahlcharakter beziehen. So werden beispielsweise verschiedene Modelle des europäischen Parteienwettbewerbs getestet (vgl. Gabel/Hix 2002) oder die Positionsveränderungen von Parteien zur EU im Zeitverlauf betrachtet (vgl. Kritzinger et al. 2004). Studien im Kontext des „Euromanifesto Projects“ (vgl. Braun et al. 2007) erfassen mit einer erweiterten Version des Kodierschemas der Manifesto Research Group (vgl. Budge et al. 2001) das sogenannte Framing von Parteien, indem sie die von der Partei angesprochenen Kompetenzebenen berücksichtigen (vgl. Wüst/Volkens 2003: 6). Das Framing beinhaltet dabei die Information, welcher Ebene im Mehrebenensystem (z.B. Nationalstaat, Europäische Union) die Partei ihre inhaltlichen Aussagen zuordnet. Diese Untersuchungen stellen demnach die (normativen) Zuordnungen der Parteien heraus, überprüfen jedoch nicht deren Übereinstimmung mit der tatsächlichen Kompetenzordnung (vgl. Wüst/Schmitt 2007: 92). Ebenso lässt dieses Framing-Konzept unberücksichtigt, wie die Parteien die angesprochene Ebene bewerten. Für die deutschen Parteien belegen die Ergebnisse zwischen 1979 und 1999 eine Zunahme des europäischen Framings von ca. 70% auf ein Niveau von ungefähr 90% und verdeutlichen damit den zunehmenden europäischen Kontext der thematischen Diskussion (vgl. Binder/Wüst 2004; Wüst/Schmitt 2007).1 Diese Zunahme geht nicht zulasten der nationalen Zuordnung, die relativ stabil zwischen 4% und 8% liegt, sondern korrespondiert mit einer starken Abnahme der unspezifischen Aussagen. Klar erkennbar ist also, dass die deutschen Parteien ihre Programme europäisch „verpacken“ 1
Für 1979 wird ein europäisches Framing von 71% ermittelt (vgl. Binder/Wüst 2004: 40), während für das Jahr 1999 unterschiedliche Ergebnisse vorliegen: 85% (vgl. Binder/Wüst 2004: 40) bzw. 91,8% (vgl. Wüst/Schmitt 2007: 80).
Wahlprogramme im Vergleich
43
(Wüst/Roth 2005: 61f.) und dass „sich die deutschen Parteien mit ihren Manifestos darum [bemühen], dass Europawahlen nicht nur der Charakter von nationalen Nebenwahlen zugeschrieben wird“ (Binder/Wüst 2004: 40). Der vorliegende Beitrag schließt sich dieser Forschung insofern nahtlos an, als auch hier die programmatischen Angebote der Parteien für die Europawahlen im Juni 2009 hinsichtlich ihres europäischen Framings untersucht werden. Dabei wird die Besonderheit berücksichtigt, dass den Europawahlen nur wenige Monate später eine Bundestagswahl folgte (September 2009). Darüber hinaus liefert das Kapitel einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der bisherigen Forschung. Dieser ist zum einen in der systematischen Konzeption des Nebenwahlcharakters auf der programmatischen Angebotsseite und zum anderen in der Verwendung eines modifizierten Kodierschemas zu sehen. Hierzu wird zunächst die Vermutung diskutiert, inwieweit die deutschen Parteien die Europawahlen als Nebenwahlen behandeln und anhand welcher Merkmale dieser Nebenwahlcharakter deutlich werden könnte (Kap. 2). Anschließend erfolgt die empirische Überprüfung des Konzeptes, wobei im Gegensatz zur bisherigen Forschung das Framing von inhaltlichen Statements um weitere Indikatoren ergänzt wird (Kap. 3). Kapitel 4 beleuchtet den Einfluss des nationalen Parteienwettbewerbs auf den Grad des Nebenwahlcharakters der Wahlprogramme und Kapitel 5 enthält das Fazit. 2 Theoretische Konzeption der Nebenwahlen auf der Angebotsseite Für Parteien ist prinzipiell jede Wahl relevant. In ihrem Wettbewerb um politische Ideen können sie Mandate erringen, die ihnen einen größeren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse ermöglichen. Dies gilt auch für Europawahlen, mit denen die Sitzverteilung im Europäischen Parlament festgelegt wird. In den letzten Jahren hat das Europäische Parlament zunehmend an Mitentscheidungskompetenz gewonnen und ist damit aus der Sicht von Parteien als politikgestaltenden Akteuren von wachsender Relevanz. Dennoch wird im vorliegenden Beitrag der Nebenwahlcharakter der Wahlprogramme analysiert und nicht auf ihren genuinen Charakter als Bestandteil einer eigenständigen Wahl abgezielt. Die zentrale Frage dieses Abschnitts ist daher: Warum sollten Parteien die Wahlen zum Europäischen Parlament trotz der sukzessiven Kompetenzerweiterung der EU als Nebenwahlen betrachten? Werden Parteien als rational handelnde Akteure verstanden, die responsiv auf die Kontextbedingungen von Europawahlen reagieren und ihre knappen Ressourcen (Zeit, Geld, Personal) entsprechend einsetzen, dann können fünf
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Gründe aufgeführt werden, warum Europawahlen von diesen Parteien als Nebenwahlen angesehen werden. Zunächst zeichnen sie sich im Vergleich zu den Bundestagswahlen, wie oben gezeigt, durch ein geringeres Interesse seitens der allgemeinen Öffentlichkeit und der Wähler aus. Dies schlägt sich in einer geringen Wahlbeteiligung nieder. Zweitens werden die Wahlentscheidungen stark von der nationalen politischen Agenda beeinflusst. Drittens stellen die institutionellen Besonderheiten des Europäischen Parlamentes relevante Kontextbedingungen für die Angebotserstellung der Parteien bei den Europawahlen dar. Mangels eines echten europäischen Parteienwettbewerbs müssen sich die nationalen Parteien dem Wettbewerb um die Verteilung der vertraglich zugesprochenen Sitze für ihren Mitgliedsstaat auf der nationalen Ebene stellen. Sie agieren demnach weniger als Europaparteien denn als nationale Parteien im europäischen Raum. Damit kämpfen die Parteien sowohl bei den Hauptwahlen (Bundestagswahlen) als auch bei den Europawahlen in der nationalen Arena um Stimmen, bemühen sich also im Gegensatz zu anderen Nebenwahlen (z.B. Landtagswahlen) jeweils um Stimmen des gleichen Elektorats. Demzufolge liegt das Hauptaugenmerk der Parteien auf der nationalen Arena. Des Weiteren relativieren sich die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der nationalen Parteien im Europäischen Parlament, da die gewählten nationalen Delegierten dort nur eine (kleine) Gruppe in ihrer jeweiligen Fraktion bilden. Der Zusammenhang zwischen ihren Forderungen und der tatsächlich auf der EU-Ebene umgesetzten Politik ist daher sehr schwach ausgeprägt. Dass aus dem Europäischen Parlament keine Regierung hervorgeht, ist ein letzter Faktor, der zu einer geringeren Relevanzzuschreibung durch die Parteien führt. Ungeachtet der gewachsenen Kompetenzen des Europäischen Parlaments verdeutlichen diese Kontextbedingungen, dass die Anreize für die Parteien relativ hoch sind, Europawahlen weniger als eigenständige Wahlen als vielmehr als Nebenwahlen einzustufen und entsprechend zu agieren. Der Nebenwahlcharakter sollte sich demnach nicht nur in der Wahlkampfführung widerspiegeln (vgl. Tenscher 2005), sondern auch in der angebotenen Programmatik. 2.1 Indikatoren zur Messung des Nebenwahlcharakters Im Folgenden werden drei Hauptmerkmale des Nebenwahlcharakters auf der Angebotsseite hergeleitet und Indikatoren für die Messung vorgestellt. Diese Hauptmerkmale leiten sich aus den Kontextbedingungen der Europawahl ab, die sich in zwei Dimensionen unterteilen lassen. Zum einen sind die institutionellen Bedingungen relevant und zum anderen reagieren Parteien auf das Wahlverhal-
Wahlprogramme im Vergleich
45
ten und damit auf die Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs. Abbildung 1 zeigt, dass sich aus beiden Dimensionen konkret folgende Charakteristika ergeben: erstens ein geringerer Ressourceneinsatz2 als bei Hauptwahlen, zweitens die Dominanz des nationalen Framings und drittens das Aufbrechen der nationalen Koalitionslogik. 1.
2.
3.
2
Der geringere Ressourceneinsatz ist einerseits auf das mangelnde Interesse an den Europawahlen auf der Nachfrageseite und andererseits auf die begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten einer einzelnen Partei im Europäischen Parlament zurückzuführen. Da die Ressourcen von Parteien begrenzt sind und diese als rationale Akteure einen effektiven Mitteleinsatz anstreben, sollte sich die Angebotserstellung zwischen den nationalen Wahlen und den Europawahlen in dem Sinne unterscheiden, dass für Letztere weniger Ressourcen in die Programmentwicklung fließen. Ein erster Indikator kann hierbei in der Länge der Programme gesehen werden, wobei sich der Nebenwahleffekt in kürzeren Programmen zeigen sollte. Es ist davon auszugehen, dass der geringere Ressourceneinsatz zweitens dazu führt, dass eine geringere Anzahl von Parteiakteuren an der Ausarbeitung der Wahlprogramme beteiligt ist. Die Dominanz des nationalen Framings resultiert aus dem großen Einfluss der nationalen politischen Agenda auf das Wahlverhalten bei Europawahlen und aus den institutionellen Besonderheiten der Europawahlen, die einen nationalen Wettbewerb implizieren. Demzufolge zeigt sich der Nebenwahlcharakter, wenn Parteien in ihren Europawahlprogrammen stark auf das nationale Framing zurückgreifen. Zweitens folgt aus beiden Kontextbedingungen, dass sich ein Nebenwahlcharakter dann konstatieren lässt, wenn Parteien dieselben Themenbereiche mit der gleichen Relevanz bei Europaund Bundestagswahlen behandeln, obschon die Kompetenzen beider Ebenen deutlich divergieren. In einem solchen Fall würden Parteien die unterschiedlichen Kompetenzausstattungen schlicht ignorieren und kein ebenenspezifisches Policyangebot unterbreiten. Die verhältnismäßig große Anzahl von Wählern, die ihre Stimme bei Nebenwahlen für kleine und neuere Parteien abgeben, und die fehlende Notwendigkeit, im Europäischen Parlament feste Koalitionen einzugehen und eine Regierung zu bilden, ermöglichen es den Parteien wiederum, ihre Präferenzen in der Programmatik festzuhalten, ohne dabei auf potenzielle Koalitionspartner Rücksicht nehmen zu müssen. In der Konsequenz sollte der Der geringere Ressourceneinsatz bei Europawahlen im Vergleich zu Bundestagwahlen ist für den finanziellen Mitteleinsatz im Wahlkampf bereits belegt (vgl. Tenscher 2007: 73 sowie dessen Beitrag in diesem Band).
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Abstand zwischen den Parteien auf der Hauptkonfliktlinie, nämlich auf der Links-Rechts-Achse, bei Nebenwahlen wesentlich größer sein als bei Hauptwahlen. Der Zusammenhang zwischen den Kontextbedingungen und dem Nebenwahlcharakter in der Programmatik ist in Abbildung 1 dargestellt. Festzuhalten ist: Je mehr dieser Merkmale zutreffen, desto stärker ist der Nebenwahlcharakter auf der Angebotsseite ausgeprägt. Abbildung 1:
Merkmale und Indikatoren des Nebenwahlcharakters in der Programmatik
Kontextbedingungen Institutionelle Eingeschränkte GestalBedingungen tungsmöglichkeiten
Fehlender europäischer Parteienwettbewerb
Fehlende Notwendigkeit einer festen Koalitionsbildung
Wählerverhalten (Nachfrageseite) Niedrige Wahlbeteiligung
Beeinflussung der Wahlentscheidung durch die nationale politische Agenda
Wahl kleinerer/neuerer Parteien
Geringerer Ressourceneinsatz bei Angebotserstellung: x Länge der Programme x Anzahl der involvierten Parteiakteure Dominanz des nationalen Framings Thematische Kongruenz bei Haupt- und Nebenwahl Größere ideologische Distanz zwischen den Parteien
Allerdings kann das Ausmaß des Nebenwahlcharakters zwischen einzelnen Wahlprogrammen variieren. Zentral dabei ist, dass sich die oben diskutierten Kontextbedingungen in ihrer Relevanz für die einzelnen Parteien unterscheiden können. Im Rahmen der Analyse wird die Rolle der jeweiligen Partei im nationalen Parteienwettbewerb als besonderer Aspekt hervorgehoben. Wie skizziert, manifestiert sich die hohe Relevanz des nationalen Parteienwettbewerbs bei einer Nebenwahl in unterschiedlichen Facetten der Kontextbedingungen. Demzufolge sollte die Konstellation des nationalen Parteienwettbe-
Wahlprogramme im Vergleich
47
werbs nicht ohne Rückwirkung auf das Ausmaß des Nebenwahlcharakters der Wahlprogrammatik bleiben. Konkret sind diesbezüglich Unterschiede zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien zu erwarten. Da Nebenwahlen häufig den Zweck einer nationalen „Denkzettelwahl“ erfüllen und Regierungsparteien somit tendenziell schlechter abschneiden (vgl. Hix/Marsh 2007: 504; Marsh 1998: 606; Schmitt 1996; Schmitt 2005: 659ff.), ist zu vermuten, dass sich Oppositionsparteien stärker auf nationale Themen bzw. ein nationales Framing konzentrieren. Dadurch können sie eine Unzufriedenheit der Wähler mit den Regierungsparteien für sich nutzen. Die Regierungsparteien wiederum werden sich stärker eines europäischen Framings bedienen, um einer Bewertung ihrer bisherigen Leistungen auf der nationalen Ebene zu entgehen. Mit anderen Worten: Auch wenn die Europawahlen sowohl für die Oppositions- als auch für die Regierungsparteien die Funktion von Nebenwahlen erfüllen, sollte die unterschiedliche Rationalität im Umgang mit dem nationalen Framing zu einem unterschiedlichen Ausmaß des Nebenwahlcharakters führen. Demzufolge lautet die weiterführende Untersuchungshypothese: Die Wahlprogramme der Oppositionsparteien weisen einen höheren Nebenwahlcharakter auf als die der Regierungsparteien. 3 Empirische Analyse 3.1 Datenerhebung Um die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der angebotenen Parteiprogrammatik zwischen den Europa- und Bundestagswahlen 2009 hinreichend beantworten zu können, sind sowohl Daten zur Parteiorganisation als auch zur Programmatik notwendig. Angaben über involvierte Parteiakteure wurden den Satzungen sowie relevanten Beschlüssen der Parteien entnommen und um Erkenntnisse aus dem EU-Profiler-Projekt3 sowie aus der Sekundärliteratur ergänzt. Die empirische Analyse des programmatischen Angebots basiert auf einer systematischen inhaltsanalytischen Auswertung der Europa- und Bundestagswahlprogramme der Parteien. Analysiert wurden die Programme der im deutschen Parteienwettbewerb von 2009 relevanten Parteien: Bündnis 90/Die Grünen, CDU, CSU, Die Linke, FDP und SPD. Während CDU und CSU bei den 3
Der „EU Profiler“ ist eine europaweite Online-Wahlhilfe zur Europawahl 2009 (vgl. http://www.euprofiler.eu und Trechsel/Mair 2009).
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Bundestagswahlen als ein Akteur betrachtet werden, erfolgt eine separate Analyse der Programme zur Europawahl, da sie dort unabhängig voneinander und mit jeweils eigenem Programm antraten. Die inhaltsanalytische Auswertung beruht auf dem Verfahren und dem Kodierschema des Comparative-Manifesto-Projekts (CMP) (vgl. Budge et al. 1987, 2001) und folgt den Anweisungen des entsprechenden Handbuchs für die CMP-Kodierung (vgl. Volkens 2002).4 Die Analyseeinheit ist das jeweilige Wahlprogramm. Als Kodiereinheiten wurden Quasi-Sätze gebildet.5 Im Vergleich zum „Euromanifesto Project“ (Braun et. al. 2007; Wüst/Volkens 2003) wurde das grundlegende CMP-Kodierschema nicht entscheidend verändert, sondern lediglich um zwei Codes ergänzt. Als erstes wurde ein weiterer Europacode eingeführt, der Positionen zur europäischen Integration differenzierter als die bekannten Codes für Aussagen pro und contra EU-Integration erfasst. Konkret wurden damit jene Positionen kodiert, die sich zwischen einer uneingeschränkten pro-europäischen Haltung und einer klaren Verneinung der EUIntegration einordnen lassen. Die zweite Ergänzung besteht in der Einführung eines Codes für negative Äußerungen zur Landwirtschaft, die beispielsweise in der Ablehnung einer weiteren Subventionierung deutlich werden. Des Weiteren wurde die Idee des Euromanifesto Projects, von Parteien benannte Regierungsebenen gesondert mittels sogenannter Ebenencodes zu erfassen, aufgenommen und weiterentwickelt. Als Ergebnis wurde jeder Quasi-Satz mit einem CMP-Code und einem zweistelligen Ebenencode versehen. Der erste Teil des Ebenencodes bildet ab, welche Ebene von den Parteien angesprochen bzw. als handelnde Ebene postuliert wird. Hierbei wird zwischen neun Ebenen unterschieden (lokal, regional, national, europäisch, international sowie zwischen verschiedenen Konstellationen mit Deutschland als zentralem Akteur). Der zweite Teil des Ebenencodes erfasst die benannte Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen und spiegelt die normative Bewertung der Parteien wider. Drei Konstellationen sind dabei möglich: (1) Es wird keine Veränderung gefordert, (2) die angesprochene Ebene soll weniger Kompetenzen erhalten bzw. in geringerem Umfang verbindliche Entscheidungen treffen oder (3) der Ebene 4
5
Die Autorinnen kodierten die Europawahlprogramme selbst. Die Reliabilität dieser Datenerhebung wurde durch die Kodierung in mehreren Runden und mehrere Kodierbesprechungen hergestellt. So wurden alle Kodierungen zuerst von jeweils einer Autorin kodiert, danach von den anderen Autorinnen mehrmals gegenseitig überprüft und schließlich ausführlich diskutiert und aneinander angepasst. Die Daten der Bundestagswahlprogramme wurden dem Comparative Manifesto Project (CMP) entnommen. Quasi-Sätze bestehen aus jeweils einem Argument. Sie umfassen maximal einen Satz. Besteht ein Satz aus mehreren Argumenten, werden so viele Quasi-Sätze gebildet, wie Argumente enthalten sind.
Wahlprogramme im Vergleich
49
sollen mehr Kompetenzen zugesprochen werden bzw. sie soll aktiver an der Entscheidungsfindung respektive Politikumsetzung teilnehmen. Außerdem können die Einstellungen der Parteien durch spezielle Codes z.B. zum Subsidiaritätsprinzip, zur Zusammenarbeit mehrerer Ebenen und zum Lissabonner Vertrag abgebildet werden. 3.2 Ressourceneinsatz für die Angebotserstellung Prinzipiell setzt das deutsche Parteiengesetz recht enge Grenzen für den organisatorischen und funktionellen Aufbau von Parteien, die sich in den Satzungen bzw. Statuten der Parteien wiederfinden. Hinsichtlich der programmatischen Ausrichtung ist im deutschen Parteiengesetz allerdings nur festgehalten, dass Parteien ein Programm benötigen (§ 6 Abs. 1), das von den Parteitagen zu beschließen ist (§ 9 Abs. 3). Da Parteiprogramme eher den Grundsatzprogrammen entsprechen als den (spezialisierten) Wahlprogrammen, müssen die deutschen Parteien weder bei der Entwicklung noch beim Beschluss von Wahlprogrammen gesetzliche Vorgaben berücksichtigen. Die Analyse von Wahlprogrammen beruht auf der grundlegenden Annahme, diese würden die Positionen der Parteien am besten widerspiegeln, da sie einer Zustimmung durch den Parteitag bedürfen und deshalb als allgemein geteilte Positionen der Gesamtpartei interpretiert werden können (vgl. Budge 2001). In der Parteienforschung ist bislang jedoch nur rudimentär beleuchtet worden, wie Wahlprogramme innerhalb von Parteien entstehen. Dies ist insofern überraschend, als verantwortlichen Akteuren eine besondere parteiinterne Agenda-Setter-Funktion zugeschrieben werden kann und sie damit entscheidend dazu beitragen, welche Themen und Positionen in der Programmatik aufgegriffen werden. Dieser Beitrag kann diese Forschungslücke nicht schließen, wird aber einzelne Aspekte hervorheben, die zur Bewertung des Ressourceneinsatzes für die programmatische Angebotserstellung bei Bundestags- und Europawahlen relevant sind. Den Satzungen der Parteien kann nur indirekt entnommen werden, welches Parteigremium für den Entwurf von Wahlprogrammen zuständig ist. In der Regel werden dort lediglich Beratungen grundsätzlicher und organisatorischer Aufgaben erwähnt, die in den Parteien unterschiedlichen Organisationseinheiten wie etwa dem Bundesausschuss (CDU, Die Linke), dem Parteiausschuss (CSU), dem Parteirat (SPD, Bündnis 90/Die Grünen) oder dem Bundespräsidium (FDP) zugewiesen werden. Dies lässt viel Raum für Ad-hoc-Konstellationen (vgl. Po-
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guntke 2007).6 Die Entwürfe von Wahlprogrammen entstehen somit in starker Abhängigkeit von Persönlichkeiten und Netzwerkstrukturen innerhalb der Parteien. Diese Konstellationen können nicht nur zwischen den Europa- und Bundestagswahlen, sondern auch von Wahl zu Wahl variieren. Ein kleiner Unterschied ist dahingehend feststellbar, dass bei den Europawahlen verstärkt EUSpezialisten in den Programmentwurf einbezogen werden, worunter Abgeordnete des Europäischen Parlamentes und auf Europa spezialisierte Abgeordnete der Bundestagsfraktionen fallen (vgl. Poguntke 2007: 122). Auch der Weg vom ersten Entwurf zum endgültigen Beschluss ist bei den Europa- und Bundestagswahlen sowohl innerhalb der Parteien als auch zwischen den Parteien recht uneinheitlich. So diskutieren die jeweiligen Regionalkonferenzen von Bündnis 90/Die Grünen, der FDP und der Linken die Programmentwürfe für die Bundestags- und für die Europawahlen. Bei der SPD lässt sich nur eine Beteiligung ihrer Regionalkonferenzen bei der Bundestagswahl erkennen. Für die CDU wiederum ist nicht bekannt, ob neben dem Bundesvorstand, der das alleinige Beschlussorgan ist, andere Parteigremien in die Ausarbeitung der Wahlprogramme involviert sind. Der „Europakongress“ am 16. März 2009 konnte keinen Einfluss auf die Programmatik nehmen, da es sich lediglich um eine Podiumsdiskussion handelte. Ähnliches ist für die CSU festzuhalten. Auch wenn ihre Mitglieder vor der Europawahl aufgefordert waren, über das Intranet Themen für das Europawahlprogramm vorzuschlagen, blieb die Programmentwicklung dem jeweiligen Beschlussorgan vorbehalten. Welches Parteiorgan Wahlprogramme endgültig verabschiedet, spiegelt nicht nur das partizipatorische Grundverständnis einer Partei wider, sondern auch, welche Ressourcen für die Bundestags- und Europawahlen bereitgestellt werden (vgl. Tabelle 1). Abgesehen von CDU und CSU ist bei allen Parteien ein Parteitag das endgültige Beschlussgremium. Unabhängig davon, ob es sich um ein Bundestags- oder ein Europawahlprogramm handelt, bleiben die Beschlussgremien bei den Grünen, bei der FPD, der CDU sowie bei den Linken dieselben. In der CSU hingegen werden für den Beschluss über das Europawahlprogramm mehr Funktionsträger einbezogen, da der Parteiausschuss neben dem Parteivorstand weitere parteiinterne Akteure umfasst.7 Für die Sozialdemokraten 6 7
Die empirischen Erkenntnisse, auf die wir uns im Folgenden beziehen, beruhen im Wesentlichen auf 24 Eliteninterviews mit Repräsentanten deutscher Parteien (vgl. Poguntke 2007: 130). So gehören dem CSU-Parteiausschuss auch die Bezirksvorsitzenden, die Delegierten der Bezirksverbände, ausgewählte Vertreter des Europäischen Parlamentes, des Deutschen Bundestages sowie des Bayerischen Landtages und die Landesvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaften an.
Wahlprogramme im Vergleich
51
kann ein geringerer Ressourceneinsatz beim Beschluss des Europawahlprogramms konstatiert werden, da die eingesetzte Delegiertenkonferenz wesentlich kleiner ist als beim Bundeswahlprogramm.8 Hinsichtlich der involvierten parteiinternen Akteure lassen sich also nach bisherigen Kenntnissen nur bei den Sozialdemokraten Nebenwahleffekte konstatieren, da dort bei den Europawahlen sowohl an der Programmentwicklung als auch an der Beschlussfassung weniger Akteure beteiligt sind. Tabelle 1:
Beschlussorgane der Europa- und Bundestagswahlprogramme Beschlussorgan des Europawahlprogramms
Beschlussorgan des Bundestagswahlprogramms
CDU
Bundesvorstand (16. März 2009)
Bundesvorstand der CDU (28. Juni 2009); gemeinsames Programm mit der CSU
CSU
Parteiausschuss (9. Mai 2009)
Parteivorstand CSU (28. Juni 2009); gemeinsames Programm mit der CDU
SPD
Europadelegiertenkonferenz (8. Dezember 2008); 280 Delegierte
Außerordentlicher Parteitag (14. Juni 2009); 480 Delegierte
FDP
Europaparteitag (7. Januar 2009); 662 Delegierte
Bundesparteitag (15.-17. Mai 2009); 662 Delegierte
Grüne
Bundesdelegiertenkonferenz Bundesdelegiertenkonferenz (23.-25. Januar 2009); 840 Delegierte (8.-10. Mai 2009); 840 Delegierte
Die Linke
Europaparteitag (28. Februar 2009); Bundestagswahlparteitag 562 Delegierte, ein Mandat unbesetzt (20.-21. Juni 2009); 562 Delegierte, ein Mandat unbesetzt
Quelle: Eigene Darstellung nach Angaben der Parteien.
8
Darüber hinaus zeigen erste vorläufige Forschungsergebnisse zu den Wahlprogrammen der Europaparteien 2009, dass Parteien Synergieeffekte nutzen: Am Beispiel der Europäischen Volkspartei (EVP) und insbesondere der Europäischen Sozialdemokraten (PES) kann bereits gezeigt werden, dass nationale Parteivertreter die europäischen Manifestos mitentwickeln und wiederum Teile der dortigen Programmatik für die nationalen Wahlen übernehmen. Die SPD übernahm nach derzeitigem Stand der Auswertung ca. 30% der Argumente des Euromanifestos und weist damit die mit Abstand höchste Übereinstimmung zwischen beiden Programmen auf. Bei der CDU stimmen ca. 13% der Aussagen überein, was vergleichsweise wenig ist, aber innerhalb der EVP-Familie dennoch einen relativ hohen Wert darstellt (vgl. Sigalas/Mokre 2010: 20f.).
52
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Auch die Länge von Wahlprogrammen kann als ein Indikator für den Ressourceneinsatz dienen. Wie oben dargelegt, erfordert das Verfassen längerer Programme mehr Personal-, Expertise- und Zeitressourcen. Wird die Anzahl der Kodiereinheiten (Quasi-Sätze) als Grundlage des Vergleichs verwendet, dann zeigt sich eindeutig ein klarer Nebenwahlcharakter für die Europawahlprogramme aller Parteien: Sämtliche Europawahlprogramme sind signifikant kürzer (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2:
Länge der Europa- und Bundestagswahlprogramme Partei CDU/CSU CDU
Europawahl 2009
Bundestagswahl 2009
–
2.008
341
–
CSU
321
–
SPD
459
2.208
FDP
640
2.250
2.018
3.596
Die Linke
Grüne
833
1.666
Mittelwert aller Programme
770
2.346
Quelle: Eigene Berechnung. Absolute Anzahl der Quasi-Sätze.
3.3 Inhaltsanalyse der Wahlprogramme 3.3.1 Framing der Europawahlprogramme Das Framing beinhaltet die Information, welcher Ebene im Mehrebenensystem (etwa Nationalstaat oder EU) die Partei ihre inhaltlichen Aussagen zuordnet.9 Die Ergebnisse zum Framing in früheren Europawahlprogrammen lassen sich für das Jahr 2009 nur teilweise bestätigen. Generell „verpackten“ die deutschen Parteien ihre Programme auch bei der jüngsten Europawahl in ein europäisches Framing. Die hohen Anteilswerte der vorangegangenen Wahlen werden jedoch
9
Die Messung erfolgt durch einen zweistelligen Ebenencode. Die erste Ziffer legt das Framing fest, da sie die Ebene wiedergibt, die von der Partei angesprochen wird. Die zweite Ziffer bildet die normativ gewünschte Kompetenzausstattung der angesprochenen Ebene ab.
Wahlprogramme im Vergleich
53
nicht erreicht (vgl. Binder/Wüst 2004: 40; Wüst/Roth 2005: 61f.; Wüst/Schmitt 2007: 80).10 Tabelle 3:
Verwendung von Framings in den Europawahlprogrammen Parteien
CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Die Linke
lokal
1,8
1,9
0,4
0,3
2,8
1,0
regional
0,0
13,1
0,0
0,0
2,1
0,8
subnational (lokal + regional)
1,8
15,0
0,4
0,3
4,9
1,8
national
12,9
10,0
7,2
9,8
7,7
5,8
gesamt national (subnational + national)
14,7
25,0
7,6
10,1
12,6
7,6
EU
66,4
53,6
67,1
61,6
58,6
64,5
international
9,1
2,8
6,3
1,6
11,6
3,8
keine eindeutige Zuordnung
7,3
12,2
11,8
23,6
15,0
22,2
Framing
Angaben: Anteil an Quasi-Sätzen in Prozent, Rundung auf die erste Stelle nach dem Komma.
Zwischen knapp 54% (CSU) und etwas über 67% (SPD) aller programmatischen Statements sind mit einem eindeutigen europäischen Bezug versehen (vgl. Tabelle 3). Die zusätzliche Berücksichtigung der subnationalen Ebenen in der Kodierung kann eine starke Positionierung der CSU als regionale Partei verdeutlichen, wohingegen der CDU der höchste Anteil eines nationalen Framings (13,7%) zuzuschreiben ist. Gerade vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise und des Klimawandels wurden darüber hinaus vielfach Forderungen nach internationalen Lösungen aufgenommen. Diese wurden am stärksten von den Grünen (11,6%) und am wenigsten von den Liberalen (1,6%) vertreten. Insgesamt kann für keine der deutschen Parteien eine eindeutige Dominanz des nationalen Framings festgestellt werden. Mit anderen Worten: Dieses Nebenwahlmerkmal wird von keiner Partei erfüllt.
10
Auffallend ist der im Vergleich relativ hohe Anteil von Statements, die keinem spezifischen Framing zugeordnet werden können.
54
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3.3.2 Thematische Kongruenz Werden Themen häufiger als andere erwähnt, dann unterstreichen Parteien damit eine besondere Relevanz dieser Problembereiche. Ein weiteres Nebenwahlmerkmal ist gegeben, wenn die Kompetenzunterschiede zwischen der europäischen und nationalstaatlichen Ebene unberücksichtigt bleiben und letztlich jene Themenbereiche die Europawahlprogramme dominieren, die auch bei der Bundestagswahl am wichtigsten sind. Zur Durchführung der Analyse wurden die CMP-Codes in 19 Themenblöcke zusammengefasst, die sich an Wüst (2009) anlehnen. Somit ist eine gewisse Kontinuität in Bezug auf die Analysen früherer Europawahlen gewährleistet. Der Themenbereich „Europäische Union“ bleibt in der vorliegenden Auswertung allerdings unberücksichtigt, da aufgrund der Verwendung der neuen Ebenencodes die EU-Codes des CMP-Kodierschemas an Bedeutung verlieren. Tabelle 4 fasst die Differenzen in den Themenschwerpunkten der Europawahl- und Bundestagswahlprogramme 2009 zusammen. Die summierte Themendifferenz ergibt sich aus der Summe aller absoluten Differenzen zwischen den Anteilen, die ein Themenblock im Europa- bzw. Bundestagswahlprogramm der jeweiligen Partei einnimmt. Sie gibt damit an, wie groß die Abweichungen der relativen Anteile aller Themenbereiche zwischen beiden Wahlprogrammen sind. Die Abweichungen können zwischen 0 (keine Abweichung) und +200 (vollkommene Nichtübereinstimmung) variieren. Je höher also der resultierende Wert, desto größer die Unterschiede zwischen den Programmen und desto geringer der Nebenwahleffekt. Tabelle 4:
Thematische Ähnlichkeit der Europawahl- und Bundestagswahlprogramme 2009 CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Die Linke
Summierte Themendifferenzen
51,53
53,93
44,08
50,04
34,52
40,40
Mittlere Abweichung
2,71
2,84
2,32
2,63
1,82
2,13
Standardabweichung
1,77
2,00
2,45
2,63
2,57
3,12
Angaben: Summierte Themendifferenz: summierte Abweichungen der relativen Anteile von Themenbereichen zwischen Europawahl- und Bundestagswahlprogramm 2009.
Die größte Divergenz in der thematischen Schwerpunktsetzung zeigen die Programme der Unionsparteien. Auch die Liberalen zeigen ein hohes Maß an thematischer Verschiebung. Die Grünen weisen mit 34,52 hingegen die niedrigste
Wahlprogramme im Vergleich
55
summierte Prozentpunktdifferenz auf. Dies lässt auf einen deutlichen Nebenwahlcharakter des grünen Europawahlprogramms schließen. Ein Vergleich beider Programme der Linken ergibt eine moderate thematische Verschiebung, wobei die relativ hohe Standardabweichung bereits aufzeigt, dass dieser Wert vor allem von der Abweichung in einer bestimmten thematischen Kategorie ausgelöst wird. „Wohlfahrt“ stellt das wichtigste Thema der Linken im Bundestagwahlprogramm dar. Im Europawahlprogramm hingegen nimmt dieser Bereich 13,49 Prozentpunkte weniger Raum ein und ist damit nur das viertwichtigste Thema (vgl. auch Tabelle 5). Berücksichtigt man, dass die EU kaum Kompetenzen im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat besitzt, handelt es sich bei dieser Salienzverschiebung um eine klare Reaktion auf die unterschiedliche Kompetenzausstattung der Ebenen. Weitere konkrete thematische Verschiebungen werden in Tabelle 5 sichtbar, die sowohl für die Bundestags- als auch für die Europawahlprogramme die zehn häufigsten Themen der Parteien abbildet. So werden in den Europawahlprogrammen der Grünen, der Sozialdemokraten, der Linken und der Liberalen jeweils zwei Themenbereiche aufgegriffen, die nicht Bestandteil der Bundestagswahlprogramme sind. Bei den Liberalen handelt es sich um die Themen „Demokratie“ und „Landwirtschaft“, denen eine mittlere Relevanz (gemessen an der Rangordnung) im Europawahlprogramm eingeräumt wird und für die jene Themen des Bundeswahlprogramms herausgefallen sind, die ohnehin von geringer Relevanz waren. Die abweichenden Themenbereiche in den Europawahlprogrammen der drei anderen Parteien (Grüne, Linke, SPD) sind von geringerer Bedeutung, da fast alle auf den hinteren Plätzen der Rangordnung zu finden sind und jeweils einen Anteil zwischen 2% und 4% am Gesamtprogramm ausmachen. Die größten Abweichungen sind bei der CDU und der CSU festzustellen: Vier andere Themenbereiche sind im mittleren bis hinteren Bereich in der Rangordnung ihres Europawahlprogramms zu finden. Das deutet nicht nur auf einen geringeren Nebenwahleffekt hin, sondern unterstreicht auch die durchaus abweichenden Ansichten beider Parteien, die im gemeinsamen Bundestagswahlprogramm nicht deutlich werden.
56
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Tabelle 5:
Themenranking im Vergleich CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Rang
BTW
EPW
BTW
EPW
BTW
EPW
BTW
EPW
1
Wirtschaft
Wirtschaft
Wirtschaft
Wirtschaft
Wirtschaft
Wirtschaft
Wirtschaft
WirtWirtWirtschaft Umwelt Wohlfahrt schaft schaft
2
PolitiPolitiPolitiAußensches sches sches politik System System System
Wohlfahrt
Wohlfahrt
PolitiPolitisches sches System System
3 Wohlfahrt Sicherheit Wohlfahrt
Arbeit- ArbeitWohlfahrt Umwelt Umwelt nehmer nehmer
Die Nation
Umwelt
Außenpolitik
Menschenrechte
Landwirt- Außenschaft politik
Menschenrechte
Bildung
Sicherheit
Menschenrechte
Sicherheit
5
Umwelt
Die Nation
Umwelt
6
Soziale Gruppen
PolitiSoziale Außensches Gruppen politik System
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Außen- Politische Außen- Arbeitpolitik Autorität politik nehmer
8
Werte
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Kultur/ Sport
10
Umwelt
Umwelt
BTW
EPW
Wohlfahrt
Soziale Umwelt Gruppen
MenDemo- Soziale schenkratie Gruppen rechte
Außen- Wohlpolitik fahrt
MenLandwirtschenschaft rechte
MenAußenUmwelt schenpolitik rechte
Bildung Umwelt
MenSoziale schenGruppen rechte
PolitiPolitisches sches System System
Demo- Sicherkratie heit
Sicherheit
Außen- Außenpolitik politik
Außenpolitik
Arbeit- Demonehmer kratie
Sicherheit
Demokratie
Soziale Politische Arbeit- Politische Soziale Soziale GrupUmwelt Sicherheit Autorität nehmer Autorität Gruppen Gruppen pen
PolitiPolitiKultur/ sches Sicherheit Bildung Sicherheit sches Sport System System
ZivilgeZivilgeWerte Wohlfahrt sellschaft sellschaft
EPW
Wirt- AußenWohlWirtschaft schaft politik fahrt
Demokratie
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LandWerte wirtschaft
BTW
Die Linke
MenDemoSicherheit schen- Bildung kratie rechte
PolitiDemo- Politische Kultur/ Wohlfahrt Bildung Bildung Sicherheit sches kratie Autorität Sport System
Angaben: Ranking anhand der prozentualen Anteile (hier nicht abgebildet) ermittelt. BTW: Bundestagswahlprogramm 2009; EPW: Europawahlprogramm 2009.
Eine explizite Reaktion in der Themensetzung auf die EU zeigt sich bei der FDP, CSU und CDU: Es wird der Bereich „Landwirtschaft“ thematisiert und damit der dominierenden europäischen Kompetenz in diesem Politikfeld Rechnung getragen. Des Weiteren greifen CDU und CSU den Bereich „Nation“ auf,
Wahlprogramme im Vergleich
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der sich explizit aus dem Kontext der Europawahlen ergibt, da vor dem europäischen Hintergrund die eigene Nation herausgestellt wird, was im Bundestagswahlprogramm in dieser Form nicht relevant ist. Demzufolge ist hier der Nebenwahlcharakter noch weiter abgeschwächt. Zusammengefasst weisen die summierte Themendifferenz und die im Ranking abgebildeten konkreten Themenverschiebungen unterschiedliche Ausprägungen auf und deuten damit auf ein differenziertes Ausmaß des Nebenwahlcharakters je nach Partei hin. Während dieses Merkmal für die Grünen eindeutig zutrifft, kann es der CDU, CSU und FDP eindeutig abgesprochen werden. Eine schwache Ausprägung ist für die SPD und Die Linke feststellbar. 3.3.3 Ideologische Distanz zwischen den Parteien Wie oben dargelegt, unterscheiden sich Europa- und Bundestagswahlen dahingehend, dass die Parteien bei den Ersteren keine Rücksicht auf potenzielle Koalitionspartner nehmen müssen und deshalb ihre Positionen wesentlich dezidierter artikulieren können. Dementsprechend sollte der Nebenwahleffekt in einer größeren Distanz der Parteien auf der Links-Rechts-Achse deutlich werden. Die Berechnung der Parteipositionen auf dieser Achse erfolgt im Wesentlichen nach dem etablierten CMP-Prinzip (vgl. Laver/Budge 1992). Dabei wurden aufgrund theoretischer Überlegungen Kategorien ausgewählt, die den linken und den rechten Pol der Achse definieren. Der linke Pol ist definiert durch Eingriffe in das Wirtschaftsystem, Ausbau des Wohlfahrtsstaates, Frieden, Abrüstung und Internationalismus.11 Rechte Positionen sind freier Markt, Abbau des Wohlfahrtsstaates, traditionelle Moral, „Law and Order“, militärische Stärke und Nationalismus. Die programmatische Position einer Partei auf der Links-RechtsAchse wird berechnet, indem zunächst der prozentuale Anteil aller Positionen des linken sowie der des rechten Pols am Umfang eines Programms berechnet werden. Danach werden die Prozentwerte für den rechten Pol von denen des linken Pols abgezogen. Der aus dieser Berechnungsweise resultierende Wert kann zwischen -100 und +100 schwanken. Je negativer der Wert ist, umso stär11
Abweichend wird der zur Linkskodierung gehörende Code 202 („Demokratie“) nicht in die Berechnung der Position einbezogen, da dessen Berücksichtigung bei den Europawahlprogrammen zu einer unverhältnismäßig starken Verschiebung der Parteipositionen nach links führt. Hintergrund ist, dass die Parteien mehr oder weniger ausgeprägt auf das wahrgenommene Demokratiedefizit in der EU eingehen. Da es sich bei der Perzeption von Demokratie nicht um ein genuin „linkes“ Thema handelt, würde demzufolge die Berücksichtigung dieses Codes die Vergleichbarkeit der Links-Rechts-Positionen bei Bundestags- und Europawahlen stark einschränken.
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ker positioniert sich eine Partei im linken Spektrum; je positiver der Wert ist, umso stärker positioniert sich die Partei im rechten Spektrum. Tabelle 6:
Distanz zwischen den Parteien auf der Links-Rechts-Achse CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Die Linke
CDU
–
BTW: 0 EPW: 2,1
BTW: 24,7 EPW: 37,2
BTW: 3,9 EPW: 7,4
BTW: 19,1 EPW: 20,0
BTW: 28,9 EPW: 30,3
CSU
BTW: 0 EPW: 2,1
–
BTW: 24,7 EPW: 39,4
BTW: 3,9 EPW: 9,5
BTW: 19,1 EPW: 22,2
BTW: 28,9 EPW: 32,4
SPD
BTW: 24,7 EPW: 37,2
BTW: 24,7 EPW: 39,4
–
BTW: 20,8 EPW: 29,9
BTW: 5,5 EPW: 17,2
BTW: 4,2 EPW: 7,0
FDP
BTW: 3,9 EPW: 7,4
BTW: 3,9 EPW: 9,5
BTW: 20,8 EPW: 29,9
–
BTW: 15,3 EPW: 12,7
BTW: 25,0 EPW: 22,9
Grüne
BTW: 19,1 EPW: 20,0
BTW: 19,1 EPW: 22,2
BTW: 5,5 EPW: 17,2
BTW: 15,3 EPW: 12,7
–
BTW: 9,8 EPW: 10,2
Die Linke
BTW: 28,9 EPW: 30,3
BTW: 28,9 EPW: 32,4
BTW: 4,2 EPW: 7,0
BTW: 25,0 EPW: 22,9
BTW: 9,8 EPW: 10,2
–
Angaben: Differenzen zwischen den Positionen, gerundet auf eine Stelle nach dem Komma; BTW: Bundestagwahlprogramm, EPW: Europawahlprogramm; Hervorhebung: potenzielle Koalitionspartner.
Da für den hier zu analysierenden Indikator weniger die Positionen der Parteien auf der Links-Rechts-Achse als vielmehr der Abstand zwischen ihnen relevant ist, wurde die Distanz jeder Partei zu den jeweils anderen bei den Europa- und den Bundestagswahlen berechnet (vgl. Tabelle 6). Im Ergebnis zeigt sich ein sehr klares Muster: Bis auf kleine Ausnahmen vergrößert sich auf der europäischen Ebene der Abstand jeder Partei zu den jeweils anderen Parteien. Dies trifft nicht nur auf jene Parteien zu, zwischen denen die ideologische Distanz bekanntermaßen sehr groß ist, z.B. zwischen der Linken und der CDU bzw. CSU. Bei den Europawahlen ist gerade zwischen jenen Parteien eine größere ideologische Distanz festzustellen, die auf der Bundesebene potenziell als Koalitionspartner betrachtet werden – sei es, weil sich diese Parteien zum Zeitpunkt des Entstehens der Europawahlprogramme in einer Koalitionsregierung befanden oder weil sie in der Vergangenheit eine Koalition gebildet hatten. Demzufolge kann der Nebenwahleffekt einer größeren Distanz auf der Links-Rechts-Achse für alle Parteiprogramme attestiert werden. Lediglich bei der FDP zeigt sich ein deutlich geringerer Effekt, da sich ihre Distanz zu den Grünen und zur Linken im Europawahlprogramm etwas verkleinert. Ursächlich hierfür ist der verhält-
Wahlprogramme im Vergleich
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nismäßig geringe Anteil an wirtschaftlichen Kategorien, die in die Rechtspositionierung einfließen. 3.4 Europawahlen: Auch Nebenwahlen auf der Angebotsseite? Die Untersuchung des Nebenwahlcharakters anhand mehrerer Merkmale zeigt, dass zum einen das Ressourcenmerkmal in Teilen für alle Parteien zutrifft und zum anderen die ideologische Distanz zwischen allen Parteien auf der europäischen Ebene größer ist. Doch die Inhaltsanalyse verdeutlicht die Notwendigkeit einer weitaus differenzierteren Betrachtung der Angebotsseite hinsichtlich ihres potenziellen Nebenwahlcharakters. Diese zeigt, dass keine Dominanz des nationalen Framings festgestellt werden kann und demnach die Europawahlen von den Parteien dezidiert dazu genutzt werden, ihre europapolitischen Positionen darzustellen. Tabelle 7:
Der Nebenwahlcharakter deutscher Europawahlprogrammatik
Parteien Merkmale Nebenwahl Geringerer Ressourceneinsatz: Länge der Programme Geringerer Ressourceneinsatz: Involvierte Akteure Dominanz des nationalen Framings Thematische Kongruenz Größere ideologische Distanz zwischen den Parteien Nebenwahlcharakter
CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne
Die Linke
-
-
-
-
-
-
schwach
schwach
stark
schwach
mäßig
mäßig
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Werden die Merkmale zusammengeführt, dann ergibt sich ein klares Bild (vgl. Tabelle 7):12 Anhand der Programmatik lässt sich für die SPD konstatieren, dass für diese Partei die Europawahl 2009 die Funktion einer Nebenwahl erfüllte. Ein mäßiger Nebenwahleffekt trifft für die Grünen und für Die Linke zu. Anhand der Programmatik von CDU, CSU und FDP lässt sich hingegen nur ein schwacher Nebenwahlcharakter feststellen. 4 Einfluss des nationalen Parteienwettbewerbs Die eingangs hergeleitete Hypothese beinhaltet die Vermutung, dass der Nebenwahleffekt mit dem Status als Regierungs- oder Oppositionspartei korrespondiert. Werden alle Merkmale gleichzeitig berücksichtigt, dann ergibt sich ein relativ uneinheitliches Bild. Während der Nebenwahlcharakter für die Wahlprogrammatik der Sozialdemokraten stark ausgeprägt ist und damit der Vermutung widerspricht, lässt sich für ihre Koalitionspartner (CDU, CSU) nur ein schwacher Nebenwahleffekt konstatieren. Der Nebenwahlcharakter der Europawahlprogramme ist bei den Oppositionsparteien mäßig bis schwach ausgeprägt. In der vorliegenden Analyse für das Jahr 2009 lässt sich demnach kein klarer Zusammenhang ableiten, wodurch die Hypothese vorerst als nicht bestätigt gelten kann. Bei einer Fokussierung auf die programmatischen Inhalte zeigen sich durchaus Effekte in Abhängigkeit von den Rollen im deutschen Parteienwettbewerb: Die Anteile des europäischen Framings der angesprochenen Themen sind bei der SPD und CDU am höchsten. Der hohe Anteil des EU-Framings kann dahingehend interpretiert werden, dass insbesondere europäische Themen in den Mittelpunkt gerückt werden sollen, um mögliche Unzulänglichkeiten der Regierungsarbeit nicht auf die Agenda zu setzen. Die CSU nimmt eine gewisse Sonderrolle ein, da sie sich als Regionalpartei profilieren will und daher ihr relativ hoher Anteil regionalen Framings nicht überraschend ist. Auf der anderen Seite zeigt eine qualitative Bewertung des Europawahlprogramms der Grünen, dass der relativ hohe Anteil des nationalen Framings auffällig aus der Kritik an der amtierenden deutschen Regierung resultiert. Werden auch bei den anderen Parteien die Anteile des gesamtnationalen Framings berücksichtigt, zeigen sich ein geringer Anteil bei der SPD und der Linken und ein sehr hoher 12
Treffen 0 bis 1 Merkmal zu, wird von einem sehr schwachen Nebenwahlcharakter ausgegangen. 1,5 und 2 zutreffende Merkmale weisen auf einen schwachen, 2,5 und 3 zutreffende Merkmale auf einen mäßigen, 3,5 und 4 zutreffende Merkmale auf einen starken und 4,5 und 5,5 zutreffende Merkmale auf einen sehr starken Nebenwahlcharakter hin.
Wahlprogramme im Vergleich
61
Prozentsatz bei der CDU sowie der CSU. Abgesehen von dem bereits angesprochenen Effekt der regionalen Profilierung bei der CSU verdeutlicht das recht unterschiedliche Framing der Regierungsparteien das Dilemma der Koalitionspartner: Während die Sozialdemokraten 2009 relativ stark in der Kritik standen, umschiffte die CDU unter ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel vergleichsweise geschickt die Kritik an ihrer Regierungsarbeit, sodass ein höherer EUBezug als taktisches Ausweichmanöver kaum nötig war (vgl. Brunsbach et al. 2010). Dieser etwas genauere Blick auf das Framing verdeutlicht, dass der Status als Regierungs- bzw. Oppositionspartei durchaus die Ausprägung einzelner Merkmale beeinflussen kann, sich jedoch nicht auf den Nebenwahlcharakter der Europawahlprogrammatik als solcher auswirken muss. Auch wenn die Hypothese vorerst nicht bestätigt werden kann, wird erst eine Erweiterung des Studiendesigns zeigen, ob sie komplett zu verwerfen ist. Zum einen würde beispielsweise eine Längsschnittstudie aufzeigen, ob sich der Nebenwahlcharakter der jeweiligen Europawahlprogramme ändert, wenn eine Partei im Untersuchungszeitraum sowohl die Position einer Regierungs- als auch einer Oppositionspartei einnimmt. Zum anderen könnte in einer Querschnittstudie durch die Hinzunahme weiterer Mitgliedstaaten die Anzahl der untersuchten Regierungs- und Oppositionsparteien erhöht werden. Gleichsam könnten mit der Erweiterung des Studiendesigns alternative bzw. weiterführende Erklärungsfaktoren für die unterschiedliche Ausprägung des Nebenwahlcharakters getestet werden. So wäre etwa der Einfluss der Parteigröße überprüfbar, was hier entfiel, da keine Varianz für den Zusammenhang des Status als Regierungs-/Oppositionspartei und der Parteigröße zum Untersuchungszeitpunkt vorliegt. Auch Lerneffekte der Parteien als Reaktion auf Erfolge bzw. Misserfolge bei vorangegangenen Europawahlen oder auf die institutionellen Veränderungen auf der europäischen Ebene würden sichtbar und könnten analysiert werden. 5 Fazit Für die Nachfrageseite wurde hinlänglich gezeigt, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament für die deutschen Wähler Nebenwahlen darstellen. Für die deutschen Parteien lag hingegen bisher nur für die Wahlkampagnen eine systematische Betrachtung eines möglichen Nebenwahlcharakters der Europawahlen vor (vgl. Tenscher 2007), während die Wahlprogramme bisher nicht mit Hilfe einer systematischen Konzeption analysiert wurden. Der vorliegende Beitrag
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schließt einen Teil dieser Forschungslücke anhand einer Analyse der Europaund Bundestagswahlprogramme im Jahr 2009. Die empirischen Ergebnisse zeichnen ein differenziertes Bild. Hinweise auf einen Nebenwahlcharakter der Europawahlen konnten für alle Parteien gefunden werden, allerdings variiert das Ausmaß erheblich. Zunächst zeigt sich für alle Parteien zum einen, dass sie weniger Ressourcen für die Erstellung ihrer Europa- als für ihre Bundestagswahlprogramme einsetzen. Zum anderen ist die Polarisierung der Parteien auf der Links-Rechts-Achse in den Europawahlprogrammen stärker ausgeprägt. Bei den Merkmalen des Nebenwahlcharakters, die sich auf die Inhalte der Wahlprogramme beziehen, unterscheiden sich die Wahlprogramme dagegen stärker. So variiert der Nebenwahleffekt sowohl für die Themensetzung als auch für den Anteil des europäischen Framings der deutschen Wahlprogramme. Hervorzuheben ist jedoch, dass die deutschen Parteien ihre Europawahlprogrammatik sehr wohl in den europäischen Kontext setzen und damit das Merkmal einer Dominanz des nationalen Framings nicht erfüllt ist. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Nachfrage- und der Angebotsseite bei den Europawahlen. Demnach reagieren die Parteien – zumindest in ihren wahlprogrammatischen Inhalten – nicht auf das Wählerverhalten. Vielmehr vermitteln sie ihre europapolitischen Ansichten und Ideale, um so möglicherweise auch ihre Kompetenz in Bezug auf diese mittlerweile so relevante Entscheidungsebene zu signalisieren. Abschließend ist darauf zu verweisen, dass dieser Beitrag zunächst eine systematische Konzeption des Nebenwahlcharakters auf der programmatischen Angebotsseite vorstellen und auf die Europawahlen 2009 anwenden wollte. Um allgemeingültige Aussagen treffen zu können, ist jedoch eine Ausweitung des Forschungsdesigns im Längs- oder Querschnitt notwendig, die an anderer Stelle geleistet werden muss. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse auf weiteren Forschungsbedarf hin, insbesondere für die Erklärung der unterschiedlichen Bedeutung der Europawahlen auf der Angebots- und der Nachfrageseite. 6 Literatur Binder, Tanja/Wüst, Andreas M. (2004): Inhalte der Europawahlprogramme deutscher Parteien 1979-1999. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 17, 38-45. Braun, Daniela/Salzwedel, Maike/Stumpf, Christian/Wüst, Andreas M. (2007): Euromanifesto Documentation. Mannheim: MZES.
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Defizitär – und trotzdem professionell? Die Parteienkampagnen im Vergleich Jens Tenscher
1
Einleitung
„Langweilig“, „geräuschlos“, „wenig inspirierend“ und „inhaltsleer“ – so lauteten nur einige der Schlagwörter, die die Wahlkampfbeobachter im Superwahljahr 2009 bemühten. Damit knüpften sie an Begrifflichkeiten an, die schon aus früheren Europawahlkämpfen in Deutschland bekannt waren (vgl. u.a. Tenscher 2006: 130f.). Allerdings bezogen sich die entsprechenden Bewertungen dieses Mal nicht nur auf den Wahlkampf im Vorfeld der europäischen Nebenwahl. In der Tat verursachte dieser wie seine Vorläufer auch im Jahr 2009 keine große Geräuschkulisse (vgl. Niedermayer 2009: 712ff.; Brunsbach et al. 2010: 91). Neu war aber, dass das Etikett „Watte- und Valium-Wahlkampf“ (o.V. 2009; van Rinsum/Grill 2009) im Jahr 2009 ebenso dem Bundestagswahlkampf, mithin der Konfrontation vor einer nationalen Hauptwahl, anheftete. Wie nur wenige Bundestagswahlkämpfe zuvor schleppte sich dieser im Superwahljahr über weite Strecken fast unauffällig dahin. Laute Töne, resonanzträchtige Konflikte, aufwühlende Themen oder bilderträchtige Selbstinszenierungen der politischen Kontrahenten, wie sie noch aus den beiden vorangegangenen Bundestagswahlkämpfen in guter Erinnerung waren, waren 2009 eine Seltenheit. Dergestalt entwickelte sich der Bundestagswahlkampf als ein in vielerlei Hinsicht eher untypisches Kommunikationsereignis – als ein nachrangiger Wahlkampf für eine vorrangige Wahl. Dass sich diese selbst als ein „Solitär“ (Korte 2010: 9) entpuppte, dass sich an der Wahl so wenige Wähler wie niemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands beteiligten und dass die Anzahl der Wechselwähler auf ein Rekordhoch bei national ausgetragenen Wahlen stieg (vgl. Hilmer 2010a: 149), mag nicht zuletzt ebendieser gedämpften Stimmung und Unaufgeregtheit geschuldet sein, in der der Bundestagswahlkampf 2009 stattfand. Die Ursachen für das sedierte Klima, in dem Europa-, Landtags-, Kommunal- und Bundestagswahlen stattfanden, scheinen offensichtlich: Auf der einen Seite zwang die Weltwirtschafts- und -finanzkrise die Parteien zu einer für J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jens Tenscher
Wahlkampfzeiten eher unüblichen konstruktiven Zusammenarbeit; und dies auch während der „Dauerwahlkampfperiode“ mit 16 Wahlen, die zwischen Mai und September 2009 terminiert waren. Auf der anderen Seite ging von der Großen Koalition im Bund eine lähmende Wirkung aus; Konflikte, wie sie ansonsten zwischen Oppositions- und Regierungsparteien ausgetragen werden, wären zwischen den Koalitionären wenig glaubwürdig gewesen. So blieben diese im Jahr 2009 eher den „kleinen“ Parteien vorbehalten (vgl. den einleitenden Beitrag von Tenscher in diesem Band). Neben diesen vordergründigen Ursachen mag jedoch ein weiterer Aspekt dazu beigetragen haben, dass der Bundestagswahlkampf ähnlich geräuschlos wie der Europawahlkampf 2009 geführt wurde: Defizitäre Parteienkampagnen könnten das ruhige Wahlkampfklima noch verstärkt haben. Defizitär wären die Kampagnen dann gewesen, wenn sie ihre primären Ziele, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und Unterstützung bei den Wählern zu generieren, nur unzureichend verfolgt hätten. Diese Annahme knüpft an den empirischen Befund an, dass die Intensität, mit der die Massenmedien über Wahlkämpfe berichten und mit der die Wähler diese verfolgen, von der Quantität und Qualität, mit der sich die Parteien im Wahlkampf engagieren, positiv korreliert (vgl. u.a. Banducci/Semetko 2003; Niedermayer 2009: 712). Der Input entsprechend defizitärer Kampagnen wird denn auch seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament immer wieder als mit ursächlich für deren Output, wie insbesondere die niedrige Wahlbeteiligung und der Erfolg kleiner, populistischer und auch antieuropäischer Parteien, angesehen (vgl. die Beiträge in Maier/Tenscher 2006; de Vreese 2009; Gagatek 2010). Im Jahr 2009 fanden die beiden einzigen national ausgetragenen Wahlen in Deutschland im Abstand von dreieinhalb Monaten statt: die Europawahl Anfang Juni und die Bundestagswahl Ende September.1 Hieraus ergab sich die Möglichkeit und angesichts limitierter (finanzieller) Ressourcen auch die Notwendigkeit, den Europawahlkampf als frühen Stimmungstest für und als Auftakt in den Bundestagwahlkampf zu integrieren:“ „The campaigns of the German parties for the European Parliament election were all part and by-product of the campaigns for the general elections in September“ (Brunsbach et al. 2010: 91). 1
Obwohl ein supranationales Parlament gewählt wird, handelt es sich bei der Europawahl faktisch um die Summe einer Vielzahl von national ausgetragenen Wahlen. Alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden innerhalb der ersten Juniwoche gewählt, jedoch nach 27 länderspezifischen Wahlsystemen (vgl. Wüst/Tausenpfund 2009: 4f.). Im Unterschied zur Bundestagswahl mit 299 Wahlkreisen wird bei der Europawahl in Deutschland in nur einem nationalen Wahlkreis abgestimmt.
Defizitär – und trotzdem professionell?
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Diese „Nebenprodukt“-Kampagnen dürften, so die Annahme, anlässlich der Europawahl 2009 noch reduzierter und geräuschloser ausgefallen sein, als dies ohnedies schon anlässlich früherer Europawahlen in Deutschland festgestellt wurde (vgl. Wilke/Tangemann 2004; Tenscher 2005). Vor diesem Hintergrund kann erstens angenommen werden, dass sowohl die Parteienkampagnen zur Bundestagswahl (s.o.) als auch jene zur Europawahl im Jahr 2009 in besonderem Maße defizitär ausfielen. Dies müsste, so die zweite untersuchungsleitende Annahme, für die in der Koalition „gefesselten“ Großparteien in stärkerem Maße als für die Kleinparteien, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und CSU, gegolten haben. Diesen beiden Annahmen möchte der vorliegende Beitrag empirisch auf den Grund gehen. Als Indikatoren für die Intensität (~ Quantität) und die Art und Weise (~ Qualität), mit der sich die Parteien 2009 engagierten, werden strukturelle sowie strategische Kampagnenkomponenten herangezogen. Hieraus leiten sich Befunde ab, die Auskunft über die Professionalität in der Kampagnenführung liefern (vgl. Tenscher 2007; Gibson/Römmele 2009; Strömbäck 2009). Um überdies Aussagen über die Spezifika und Defizite der Parteienkampagnen des Jahres 2009 treffen zu können, werden diese mit den jeweils vorangegangenen Wahlkämpfen, jenen zur Europawahl 2004 und der Bundestagswahl 2005, verglichen. Das longitudinale Design erlaubt es drittens zu überprüfen, inwieweit der nach Wahlebenen „abgestufte(n) und zeitlich verzögerte(n)“ (Tenscher 2007: 72; Hervorhebung i.O.) Prozess der Professionalisierung der Parteienkampagnen im Jahr 2009 gebremst wurde. Den empirischen Befunden zu diesen drei untersuchungsleitenden Annahmen (Kap. 3) vorangestellt ist eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Professionalisierung (Kap. 2). Abschließend werden die zentralen Befunde zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige Wahlkämpfe in Deutschland gewagt. 2
Professionalisierung von Wahl zu Wahl
Die Art und Weise, wie Wahlkampagnen geplant, organisiert und durchgeführt werden, ist einem steten Wandlungsprozess unterworfen. Wenn auch historisch ein Fluss, ist den entsprechenden Transformationen erst in jüngster Zeit vermehrt Beachtung geschenkt worden (vgl. u.a. Papathanassopoulus et al. 2007; Strömbäck 2009: 96f.). Hierzu hat vornehmlich die Beobachtung einiger besonders sichtbarer Veränderungen US-amerikanischer Präsidentschaftswahlkämpfe beigetragen, die die Wahlkampfpraxis ebenso wie die Wahlkampfforschung in Europa in den vergangenen beiden Dekaden stimuliert haben. Erinnert sei in
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Jens Tenscher
diesem Zusammenhang nur an die Einrichtung von „War Rooms“, an die z.T. mystifizierende Debatte um das Aufkommen von „Spin Doctors“ und anderen „Consultants“ sowie die zunehmende Bereitschaft der politischen Elite, Wahlkampftätigkeiten auszulagern und sich die unterhaltenden Talkformate des Fernsehens zur Selbstdarstellung zunutze zu machen (vgl. zusammenfassend Tenscher 2007: 67; Holtz-Bacha 2010: 9ff.). Ein in den vergangenen Jahren zunehmend geschärfter Blick hinter derartige Oberflächenphänomene verweist gleichwohl auf eine Fülle an strukturellen und strategischen Veränderungen auf Seiten der Parteien und anderer politischer Akteure, die deutlich über die selektive Übernahme von in den USA erprobten Wahlkampftechniken und Darstellungsformen hinausgeht.2 Zu nennen sind hier insbesondere:
das verstärkte Bemühen der Parteien und politischer Eliten um eine konsequente(re) Ausrichtung auf die Wählerumwelt, den Wahlkampf und den Wahlerfolg (Elektoralisierung); die nachhaltige Orientierung von politischen Akteuren an journalistischen Erwartungen bzw. medialen Logiken und Formaten (Medialisierung); sowie das Bemühen um ein dauerhaft angelegtes, strategisch geplantes professionelles Kommunikationsmanagement (Professionalisierung).
Solche tiefgreifenden Transformationen signalisieren modernisierungsbedingte Anpassungsleistungen politischer Akteure gegenüber umfassenden Veränderungen im politischen, soziokulturellen und medialen Umfeld ihres Handelns (vgl. Tenscher 2007: 67; Kamps 2010: 189ff.).3 Diese wirken nicht nur temporär, d.h. zu Wahlkampfzeiten, sondern dauerhaft – und sie betreffen nicht nur die Parteien, sondern jegliche Akteure im Bereich des Politischen (vgl. Holtz-Bacha 2010: 13ff.). Zum Ausdruck kommt dies in Gestalt nachhaltiger Transformationen der organisatorischen Strukturen und der alltäglichen politischen Kommunikationspraktiken (vgl. u.a. Jun 2009). Vereinfacht sind diese in den vergangenen Jahren immer wieder drei Phasen zugeordnet worden, die vermeintlich durch je spezifische Kommunikationsmodi, -strukturen und -strategien gekennzeichnet sind (vgl. Blumler/Kavanagh 1999; Norris 2000: 137ff.; Plasser/Plasser 2 3
Entsprechend antiquiert wirkt heutzutage die Debatte um eine vermeintliche „Amerikanisierung“ von Wahlkämpfen (vgl. Kamps 2010: 187f.). Während also das Konzept der Modernisierung auf der Makroebene Veränderungen der Politik, der Massenmedien und der Bürger identifiziert, bezieht sich der Begriff der Professionalisierung auf entsprechende organisationsspezifische Reaktionen der Mesoebene, die sich im Kommunikations- bzw. Kampagnenmanagement der Parteien manifestieren.
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2002: 22ff.). Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses oft bemühte „Phasenmodell“ jedoch als zu grobschlächtig und undifferenziert. Es vernachlässigt in hohem Maße länder-, parteien- und wahlebenenspezifische Charakteristika. So ist es durchaus denkbar, dass in ein und demselben Land unterschiedliche Parteien im Rahmen von Haupt- und Nebenwahlkämpfen gleichzeitig auf als „postmoderne“, „moderne“ und „vormoderne“ klassifizierte Kommunikationsmodi zurückgreifen, dass sie auf manchen Kommunikationsmitteln ganz bewusst verzichten und andere stärken, um ihre je spezifischen Wahlkampfziele zu erreichen. Tatsächlich scheint gerade dieser Mix an strategischen und strukturellen Kommunikationskomponenten das Kennzeichen professioneller Kampagnenführung zu sein (vgl. Tenscher 2007; aber auch den Beitrag von Giebler und Wüst in diesem Band). Professionalisierung würde demnach nicht eine bestimmte Phase symbolisieren, sondern vielmehr auf einen Prozess verweisen. Dieser kann verstanden werden als: „a process of change […] that […] brings a better and more efficient organisation of resources and skills in order to achieve desired objectives, whatever they might be“ (Papathanassopoulus et al. 2007: 10; Hervorhebung J.T.).
Um im Zusammenhang mit Wahlkämpfen herauszufinden, wie professionell das Kampagnenmanagement einer Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt ausfällt, bedarf es also des Blicks auf die Art und Weise des Einsatzes der zur Verfügung stehenden Mittel vor dem Hintergrund der zu erreichenden Möglichkeiten und Ziele einer Partei. Diese sind keineswegs bei allen Parteien identisch, reichen sie doch von Stimmenmaximierung über Policy-Zentrierung bis hin zur Verhinderung von politischen Entscheidungen (vgl. u.a. Gibson/Römmele 2001: 26ff.). Eine derartige Annäherung an das Phänomen der Professionalität der Kampagnenkommunikation setzt jedoch einen Perspektivenwechsel voraus: weg von der Makroebene und hin zur Mesoebene der involvierten Parteien. Die komparative Analyse deren Kampagnenbemühungen ermöglicht Aussagen über die Art und Weise der modernisierungsbedingten Anpassungsleistungen bzw. die mit dem Einsatz bestimmter Mittel verbundenen Intentionen einer Partei (ZielMittel-Relation). Hierdurch kann das Ausmaß der Professionalität einer Partei in Relation zu anderen Parteien eruiert werden (vgl. Strömbäck 2009; Gibson et al. 2009; Gibson/Römmele 2009). Erst der longitudinale Vergleich zwischen mindestens zwei Messzeitpunkten ermöglicht darüber hinaus Aussagen über Veränderungen der Professionalität des Kampagnenmanagements, sprich Aussagen
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Jens Tenscher
über den Prozess der Professionalisierung (vgl. Holtz-Bacha 2010: 15).4 Beide Perspektiven nimmt der vorliegende Beitrag ein. Er erweitert diese um den Vergleich der Parteienkampagnen anlässlich zweier a priori als unterschiedlich wichtig eingestufter Wahlen, der nationalen Haupt- und der europäischen Nebenwahl. Hierdurch kann verdeutlicht werden, dass auch ein und dieselben Parteien einen kontextspezifisch divergierenden Einsatz ihrer Mittel favorisieren, also ganz unterschiedlich professionell agieren (vgl. auch Tenscher 2007). Während das „Phasenmodell“ einen Prozess voranschreitender Modernisierung und Professionalisierung der Kampagnenbemühungen unterstellt, lässt sich aus der „Nebenwahlthese“ die Vermutung ableiten, dass die Professionalität der Parteienkampagnen im Vorfeld von Nebenwahlen niedriger als zu Hauptwahlkampfzeiten ausfallen müsste. Diese beiden Vermutungen lassen sich exemplarisch an einem idealtypischen Verlauf einer nach Wahlebenen abgestuften Steigerung des Professionalitätsgrades der Kampagnenbemühungen einer beliebigen Partei zwischen den beiden zurückliegenden Europa- und Bundestagswahlkämpfen illustrieren (vgl. Abbildung 1; schwarze Pfeile). Der Annahme folgend, dass es hierbei jedoch auch zu Unterschieden zwischen Parteien kommen kann, sind prinzipiell auch De-Professionalisierungsprozesse zwischen zwei Wahlen desselben Typs denkbar: Der Grad der Professionalität der Kampagnenbemühungen einer Partei zum Zeitpunkt (t) würde entsprechend höher ausfallen als jener bei der darauffolgenden Wahl (t+1). Dies signalisieren die grauen Vektoren in Abbildung 1.5 Alle Abweichungen im Grad der Professionalität einer Parteienkampagne gegenüber dem idealtypischen, stetig steigenden Modell können demzufolge als „defizitär“ angesehen werden. Diese „Defizite“ sind in Abbildung 1 als gestrichelte Linien gekennzeichnet. Sollten sich diese über mehrere Messzeitpunkte bestätigen, muss schließlich von einem De-Professionalisierungsprozess gesprochen werden. Ein solcher kann an dieser Stelle aufgrund der eingeschränkten Datenlage bzw. nur jeweils zweier Messzeitpunkte zwar nicht überprüft 4
5
Auf diese Differenzierung zwischen der Professionalität der politischen Kommunikationspraxis zu einem bestimmten Zeitpunkt einerseits und dem Prozess der Veränderungen zwischen mindestens zwei Messzeitpunkten, d.h. der Professionalisierung, andererseits, wird allzu oft verzichtet. Tatsächlich finden sich in einer ganzen Reihe an empirischen Studien z.T. generalisierte Aussagen über Veränderungen, die auf Basis von Momentaufnahmen getroffen werden (vgl. u.a. Strömbäck 2009; de Vreese 2009). Divergierende Parteiziele und unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten unterstellt, mag es schließlich auch zu Abweichungen im Ausmaß der Professionalisierung bzw. De-Professionalisierung kommen. Diese kämen in Abbildung 1 in Form unterschiedlicher Winkel der Vektoren zum Ausdruck. Der Übersichtlichkeit halber ist hier jedoch nur eine Partei (bzw. das Aggregat aller Parteien) dargestellt.
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werden. Dessen ungeachtet lassen sich aber Aussagen über den Grad der Professionalität der Kampagnen im Parteien- und Wahlebenenvergleich treffen. Diese erlauben es, der ersten untersuchungsleitenden Annahme von in Gänze defizitären Europa- und Bundestagswahlkämpfen im Jahr 2009 im Vergleich zu den Wahlkämpfen 2004 bzw. 2005 (s.o.) empirisch auf den Grund zu gehen und zugleich Parteienunterschiede zu markieren. Diese liegen der zweiten Annahme zugrunde, die davon ausgeht, dass die negativen Abweichungen vom idealtypischen Professionalitätsgrad der Kampagnen der beiden Großparteien im Jahr 2009 größer ausfallen müssten als diejenigen der im Bundestag vertretenen Kleinparteien. Abbildung 1:
Professionalität und (De-)Professionalisierung der Wahlkampagnen De-Professionalisierung
Grad an Professionalität
Professionalisierung
EW 2004
BTW 2005
EW BTW 2009 2009
Die empirische Überprüfung dieser beiden Annahmen muss dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Professionalität politischer Kommunikation (und nicht nur der Kampagnenkommunikation) sowohl in struktureller, organisatorischer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Ressourcen und Kampagnenvoraussetzungen, als auch in strategischer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Kampagnenausführung, manifestieren können. Schließlich schlagen sich modernisierungsbedingte Veränderungen der politischen Kommunikation nicht nur in der Organisationsstruktur nieder (d.h. in Bezug auf finanzielle, personelle, zeitliche, materielle, infrastrukturelle und kommunikationsbezogene Ressourcen), sondern immer
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Jens Tenscher
auch in der Art und Weise der Wahlkampfführung, in der „Tonalität“ einer Kampagne, im Umgang mit den politischen Kontrahenten, im Kommunikationsmix, in Bezug auf Inhalte und Personen – kurzum: in der strategischen Ausrichtung (vgl. Tenscher 2005; Holtz-Bacha 2006). Entsprechende Elemente, die sich zu Indizes6 zusammenfassen lassen, wurden andernorts bereits identifiziert (vgl. Tenscher 2007: 70). Dabei handelt es sich um die folgenden Bestandteile:
Kampagnenstrukturen (acht Komponenten): Größe der Wahlkampfbudgets und des Mitarbeiterstabs, Ausmaß der Zentralisierung der Kampagnenorganisation und der Externalisierung von Kampagnenmaßnahmen, Ausdifferenzierung der internen Kommunikationsstrukturen, Art und Umfang der Rückkopplung, Ausmaß der Gegnerbeobachtung sowie die Dauer der Kampagne.7 Kampagnenstrategien (neun Komponenten): Ausmaß der Zielgruppenorientierung und der Narrowcasting-Aktivitäten, Relevanz der paid media, der free media und der Talkshowisierung, Ausmaß des Ereignis- und Newsmanagements, der Personalisierung, der Privatisierung sowie des Negative Campaignings.
Je nach Intensität bzw. Ausmaß des Vorkommens eines der genannten Elemente werden unterschiedlich viele Punkte vergeben.8 Diese summieren sich zu Maximalpunktzahlen, die jeweils hundert Prozent des Professionalitätsgrads des Indexes „Kampagnenstrukturen“ (24 Punkte)9 bzw. „Kampagnenstrategien“ (30 6
7
8 9
Bislang ist sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht nur unzureichend geklärt, in welcher Relation die einzelnen Komponenten zueinander stehen und ob ein additiver Index, der ein „je-mehr-desto“-Verhältnis unterstellt, angemessen ist. Auch die Frage der „richtigen“ Gewichtung der Elemente, die entsprechende Kontextspezifika zu berücksichtigen hätte, ist noch nicht beantwortet (vgl. auch Gibson et al. 2009: 461). Eine entsprechende Annäherung an die interne Validität der Indizes erfolgt an anderer Stelle auf Basis internationaler Vergleichsdaten zur Europawahl 2009 (vgl. Tenscher et al. 2011). Im Unterschied zum „CAMPROF Index“ (Gibson/Römmele 2009: 270) und dessen Modifikation (vgl. Strömbäck 2009: 101ff.) wird darauf verzichtet, die Einrichtung einer räumlich abgetrennten Wahlkampfzentrale („War Room“) als relevante strukturelle Komponente zu berücksichtigen. Es dürfte ziemlich gleich sein, ob die Wahlkampfverantwortlichen innerhalb eines bestehenden Gebäudes wie der Parteizentrale agieren oder ein räumlich abgetrenntes Gebäude beziehen. Während die erste Option den funktionalen Nutzen steigern dürfte, kommt der Alternative ein höherer symbolischer Wert zu. Entsprechend sind auch einige besonders plakative Benennungen von Wahlkampfzentralen im Jahr 2009 zu deuten. Erinnert sei nur an die „Nordkurve“ (SPD), das „Triebwerk“ (Grüne) oder das „IdeenReich“ (FDP). Der grundlegende Schlüssel zur Vergabe der Punkte findet sich bei Tenscher (2007: 90ff.). Die gegenüber der Analyse der Wahlkampagnen der Jahre 2004 und 2005 an dieser Stelle um zwei Punkte erhöhte Gesamtzahl ist der stärkeren Gewichtung der Komponente „Ausdifferenzierung der internen Kommunikationsstrukturen“ geschuldet (vorher 3 nun 5 Punkte). Bei die-
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Punkte)10 repräsentieren. Dabei decken die identifizierten Komponenten den Raum von potentiell relevanten strukturellen und strategischen Kampagnenelementen unabhängig von kontextspezifischen, zeitlichen und/oder räumlichen Einflussfaktoren so breit wie möglich ab. Sie verengen ihn beispielsweise weder auf Aspekte des Outsourcings noch der Online-Kommunikation, wie es alternative Indizes tun (zur Kritik vgl. Holtz-Bacha 2010: 13f.). Die Zusammenfassung der Elemente zu Indizes ermöglicht es überdies, das ganze Spektrum von „traditionellen“ (oder „vormodernen“) bis hin zu „postmodernen“ Kampagnencharakteristika gleichsam zu zwei zentralen „Kampagnenbündeln“ – Strukturen und Strategien – zu verdichten. Dabei müssen die Indizes auch offen gegenüber zukünftigen Veränderungen sein, wie sie sich z.B. hinsichtlich des Einsatzes Neuer Medien bereits abzeichnen. De facto würde das Hinzufügen neuer, noch nicht absehbarer Elemente zu den beiden Indizes jedoch nur die zum jeweiligen Zeitpunkt zu erfassende Komponentenanzahl und damit die jeweilige Prozentuierungsbasis erhöhen – die Relationen zwischen den Parteien und auch zwischen zwei Messzeitpunkten würden hiervon aber unberührt bleiben. Somit ermöglichen die hier propagierten Kampagnenindizes sowohl longitudinale als auch Parteien-, Länder- und Wahlebenenvergleiche. Neben der Frage der Validität der Indizes stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit der Messung der einzelnen Komponenten. Um diese gewährleisten zu können, basieren die Indizes vorwiegend auf objektiv messbaren Kampagenkriterien. Diese werden ergänzt durch subjektive Einschätzungen der Hauptverantwortlichen, sprich der Wahlkampfmanager. Deren Ansichten bieten, insbesondere, wenn es um strategische Fragen geht, die bestmögliche Annäherung an die Kampagnenrealität, wie sie sich für die einzelnen Parteien und deren Mitarbeiter darstellt (vgl. auch Gibson et al. 2009: 460ff.).11 In diesem Zusam-
10
11
ser wurden die drei Subkategorien des Telemarketings nunmehr einzeln erhoben (vgl. Tabelle 1 im Anhang). Die gegenüber der Analyse der Wahlkampagnen der Jahre 2004 und 2005 um zwei Punkte erhöhte Gesamtzahl ist der stärkeren Gewichtung des Indikators „Ausmaß der NarrowcastingAktivitäten“ geschuldet (vorher 4 nun 6 Punkte). Bei dieser wurden die drei Subkategorien des Telemarketings nunmehr einzeln erhoben (vgl. Tabelle 2 im Anhang). Durch die auch rückwirkend für die Jahre 2004 und 2005 veränderten Prozentuierungsbasen weichen die dargestellten Werte gegenüber den vorab publizierten (vgl. Tenscher 2007) leicht ab. Die Alternative bestünde darin, auf Einschätzungen externer Wahlkampfbeobachter (z.B. Journalisten, „Experten“) zurückzugreifen oder diese zur Validierung zu nutzen (vgl. Strömbäck 2009: 105). Deren Antworten mögen bisweilen „ehrlicher“ als jene der direkt Betroffenen sein. Ob sie deswegen näher an der „Kampagnenrealität“ einer Partei sind, ist eine offene Frage. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die im Anschluss an den Wahlkampf geäußerten Einschätzungen der Kampagnenverantwortlichen immer auch den Erfolg bzw. Misserfolg der Parteien am Wahltag widerspiegeln. Einzelne Kampagnenmaßnah-
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menhang stützt sich die vorliegende Analyse auf schriftliche Befragungen der für die jeweiligen Kampagnen verantwortlichen Wahlkampfmanager. Diese wurden im unmittelbaren Anschluss an die Europawahlen 2004 und 2009 sowie die Bundestagswahlen 2005 und 2009 schriftlich befragt.12 3
Die Kampagnen im Vergleich
3.1 Kampagnenstrukturen Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung zur Durchführung professioneller Wahlkampagnen ist zweifellos eine entsprechende finanzielle Ressourcenausstattung. Nur diese ermöglicht sowohl den Aufbau ausdifferenzierter Kampagnenstrukturen, einschließlich der Hinzuziehung spezialisierter Agenturen und Wahlkampfberater, als auch die Implementierung z.T. kostenintensiver, zielgruppenorientierter und multimedialer Wahlkampfstrategien (vgl. Gibson/Römmele 2009: 280).13 Zugleich manifestieren sich in der Höhe des Wahlkampfbudgets einer Partei zwei aus professionalisierungstheoretischer Sicht relevante Merkmale: Erstens signalisiert die Höhe des Budgets einer Partei, in welchem Maße diese auf sinkende Mitgliederzahlen und nachlassendes Engagement freiwilliger Wahlkampfhelfer mit der Umstellung von personal- zu kapitalintensiven Kampagnen reagiert (vgl. Mair et al. 1999: 392f.). So stehen Parteien mit einer großen und aktiven Mitgliederbasis unter einem vergleichsweise niedrigen Externalisierungs- und Kommerzialisierungsdruck. Zweitens kommt im Umfang der Wahlausgaben aber auch das Commitment zum Ausdruck, mit dem Parteien bzw. Wahlkampfverantwortliche einer Wahl begegnen. „Hauptwahlen“, bei denen über die Besetzung nationaler Herrschaftspositionen und damit die gesamtgesellschaftliche Positionierung und Weiterentwicklung der Parteien entschieden wird (vgl. Niedermayer 1989: 472), lassen entspre-
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13
men und allgemeine Beurteilungen des Wahlkampfumfelds sind insofern durch das jeweilige Wahlergebnis „gefiltert“, ggf. verzerrt und einzelne Antworten „rechtfertigen“ im Nachhinein bestimmte Maßnahmen. Dies gilt es bei der Interpretation der Auskünfte und Befunde zu beachten. Die Rücksendung der Fragebögen zog sich in Einzelfällen bis zu sechs Monate hin. Zeitbedingte (un)bewusste Editierungen der Antworten sind insofern nicht völlig auszuschließen. Ich möchte an dieser Stelle den Verantwortlichen für die fortwährende Unterstützung unserer Kampagnenstudien danken. Im CAMPROF Index und dessen Modifikation wird die Ressourcenausstattung als unabhängige Variable betrachtet. Genauso wie die Mitarbeiterzahl scheint diese jedoch ein im Wahlkampf variabler immanenter Bestandteil der Kampagnenorganisation selbst zu sein (vgl. auch Tenscher et al. 2011).
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chend ein höheres finanzielles Engagement der Parteien als bei „Nebenwahlen“ erwarten. Abbildung 2:
Wahlkampfausgaben der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien 1999-2009 (in Millionen Euro)14
Quelle: Tenscher 2007; Kampagnenstudie 2009.
Diese Annahme kann mit Blick auf die von den Parteien veranschlagten Ausgaben in den zurückliegenden Bundestags- und Europawahlkämpfen klar bestätigt werden (vgl. Abbildung 2): Bei den drei Bundestagswahlen, die in diesem Millennium abgehalten wurden, gaben die im Bundestag vertretenen Parteien immer mindestens doppelt so viel Geld aus wie bei den jeweils vorangegangenen Europawahlen. Dabei weisen die Gesamtbudgets aller Parteien – mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen – eine erstaunliche Kontinuität auf: Bei Europawahlen sind von den sechs Parteien insgesamt jeweils rund 30 Millionen Euro in Kampagnenmaßnahmen investiert worden. Bei den nachfolgenden Bundestags14
Die CSU-Verantwortlichen äußerten sich weder in der Befragung noch öffentlich zu ihren Wahlkampfausgaben im Jahr 2009. Die für die Bundestags- und Europawahl dargestellten Werte basieren auf entsprechenden Schätzungen (vgl. den Beitrag von Wilke, Schäfer und Leidecker in diesem Band).
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wahlen waren es zweimal rund 70 Millionen und einmal knapp 62 Millionen Euro. Die „Delle“ der Kampagnenausgaben des Jahres 2005, die bis auf die Grünen alle Parteien betraf, erklärt sich vor dem Hintergrund der damals überraschenden Ankündigung von Neuwahlen, der daraus folgenden kurzen Vorlaufzeit zur Planung des Wahlkampfes und die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder ausreichend gefüllten Parteikassen (vgl. Tenscher 2007: 74). Nur die Grünen gaben bei den drei vergangenen Bundestagswahlen kontinuierlich mehr aus – bei den anderen Parteien schwankten die Budgets von Wahlkampf zu Wahlkampf, blieben konstant oder sanken im Verlauf der zurückliegenden Dekade. Diese Zahlen sprechen zunächst gegen die populäre Annahme, dass die Parteien zusehends kapitalintensivere Wahlkämpfe führen müssten. Allerdings sind hierbei die sinkenden Mitgliederzahlen aller Parteien (bis auf die FDP) zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund kann zwar nicht von einer absoluten, aber von einer im Verhältnis zur potentiellen Manpower relativen Kapitalintensivierung gesprochen werden. Dies gilt insbesondere für die Grünen. Dennoch konnten diese wie die anderen „kleinen“ Parteien den „doppelten Startvorteil“ (ebenda) der Großparteien, auf deutlich mehr Geld und mehr freiwillige Helfer im Wahlkampf zurückgreifen zu können, auch nicht ansatzweise kompensieren. Im Gegenteil: Bündnis 90/Die Grünen bildeten, trotz steter Aufstockung ihrer Budgets, bei vier der sechs vergangenen national ausgetragenen Wahlkämpfe das Schlusslicht, was die finanzielle Ressourcenausstattung anging. Insgesamt scheinen die Parteien aber im bundesdeutschen Kontext bei den national ausgetragenen Wahlkämpfen ihre budgetären Obergrenzen gefunden zu haben. Dies gilt für Bundestagswahlkämpfe noch mehr als für Europawahlkämpfe.15 Diesbezüglich muss konstatiert werden, dass das Superwahljahr 2009 nur bei drei der sechs Parteien dazu führte, den Europawahlkampf mit weniger Geld als 2004 zu bestreiten. Das Motto „Gesundsparen für den Bundestagswahlkampf“, wie es allenthalben den Parteien unterstellt wurde (vgl. Niedermayer 2005: 47f.), trifft demnach, wenn überhaupt, nur auf SPD, CSU und Bündnis 90/Die Grünen zu.
15
Die sechs im Bundestag vertretenen Parteien gaben zusammen bei den vergangenen beiden Europawahlen rund 50 Cent pro Wahlberechtigtem aus. Durchschnittlich gab jede Partei 1,1 Euro pro Wahlstimme und 21 (2009) bzw. 18 (2004) Euro pro Mitglied aus. Bei den Bundestagswahlen waren es 113 bzw. 99 Cent pro Wahlberechtigtem, 1,6 bzw. 1,3 Euro pro Wahlstimme und 50 bzw. 40 Euro pro Mitglied (immer: 2009 bzw. 2004). Offensichtlich ließen sich die Parteien also eine Wählerstimme bei den Bundestagswahlen deutlich mehr kosten als bei den Europawahlen (ohne Abbildung).
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Die Kampagnenbudgets sind eine wesentliche Voraussetzung für professionelles Kampagnenmanagement. Um es mit den Worten der „grauen Eminenz“ (Diermann/Korte 2007: 73) der Kampagnenführung in Deutschland, Peter Radunski, zu sagen: „Zum modernen Wahlkampf braucht man drei Dinge: Geld, Geld, Geld“ (Radunski 2003: 185). Je mehr Gelder zur Verfügung stehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, jene organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, die der Partei und ihren Spitzenkandidaten Aufmerksamkeit und Unterstützung bringen sollen. Vor diesem Hintergrund ist die Größe des Budgets ein zentraler Mosaikstein des Index „Kampagnenstrukturen“ (vgl. Tenscher 2007: 91). Er geht mit größerem Gewicht in den Index ein als z.B. das Ausmaß der Zentralisierung des Kampagnenmanagements oder der Externalisierung kampagnenspezifischer Tätigkeiten. Ein Blick auf das Ausmaß der Professionalität der Wahlkampagnen im Vorfeld der zurückliegenden Europa- und Bundestagswahlkämpfe verdeutlicht, dass der Bundestagswahlkampf 2009 zumindest in struktureller Hinsicht alles andere als defizitär war (vgl. Abbildung 3): Alle Parteien schufen organisatorische Voraussetzungen, die unter dem Gesichtspunkt der Professionalität umfänglicher ausfielen als im Bundestagswahlkampf 2005. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass 2005 deutlich weniger Zeit blieb, um überhaupt professionelle Kampagnenstrukturen aufzubauen. Schließlich fließt die Kampagendauer in den Index mit ein. Dennoch deuten insbesondere die enormen Anstiege im Professionalitätsgrad von CDU und Grünen auf strukturell tiefergreifende Veränderungen hin. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass alle Parteien im Superwahljahr 2009 auf hohe Kontinuität und auf Kampagnen „aus einem Guss“ setzten. Allesamt ließen sie den Europa- und Bundestagswahlkampf von jeweils ein und derselben Leadagentur konzipieren. Auch griffen alle Parteien auf in früheren Wahlkämpfen bewährte Kooperationspartner zurück (vgl. Tenscher 2007: 76ff.). Bei der SPD war dies die Agentur Butter, bei der CDU Shipyard, bei CSU McCann-Erickson, bei Bündnis 90/Die Grünen die Agentur Zum Goldenen Hirschen, bei der FDP von Mannstein und BursonMarsteller und Die Linke arbeitete wieder mit DIG/Trialon zusammen. Auch die zweite Annahme, wonach sich etwaige Defizite vor allem bei den beiden Großparteien finden würden, muss klar verneint werden. Im Gegenteil: Die Werte für SPD und CDU (beide 88 Prozent) verweisen auf eine rasche Annäherung an das Maximum des momentan in organisatorischer Hinsicht Möglichen. Die kleinen im Bundestag vertretenen Parteien bewegen sich erkennbar unter dem Niveau der zur Koalition vereinigten Sozial- und Christdemokraten. Dennoch stellten auch sie sich, mit Ausnahme der CSU, im Bundestagswahlkampf 2009 auf so professionelle Beine wie bei noch keiner Wahl zuvor. Das
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bedeutete Spitzenwerte im Index „Kampagnenstrukturen“ für die FDP (67% auch bei der Europawahl), Grüne (67% bzw. 54% bei der Europawahl) und Linke (63% bzw. 58%).16 Abbildung 3:
Professionalität der Kampagnenstrukturen bei den Europa- und Bundestagswahlkämpfen 2004-2009
100%
80%
60%
40%
20%
0%
EW2004
BTW2005
EW2009
SPD
55%
86%
63%
BTW2009 88%
CDU
41%
68%
75%
88%
CSU
45%
41%
50%
46%
Grüne
36%
45%
54%
67%
FDP
36%
55%
67%
67%
Linke
23%
55%
58%
63%
Quelle: Kampagnenstudie 2009.
Die CSU bildet, wie schon vier Jahre zuvor und wie auch im Rahmen des Europawahlkampfes 2009 das Schlusslicht hinsichtlich der strukturellen „Aufrüstung“ der Parteien. Insgesamt zeigen die Christsozialen die geringsten Veränderungen zwischen Bundestags- und Europawahlkämpfen. Zurückzuführen ist dies auf ihre Sonderrolle, da sie auch bei nationalen Wahlen immer eine regionale, auf Bayern beschränkte Kampagne führen (vgl. auch Tenscher 2007: 77). Abstimmungen mit der Schwesterpartei CDU betrafen bei den beiden zurückliegenden Bundestagswahlkämpfen in erster Linie strategische und inhaltliche 16
In einem internen Abschlussbericht benennt die Linkspartei durchaus selbstkritisch einige strukturelle und strategische Defizite. So erschien ihr im Nachhinein u.a. der Wahlkampfstart im Dezember 2008 als zu spät.
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Aspekte und in geringerem Maße strukturelle Fragen (vgl. Tenscher 2009: 138; Hilmer 2010a: 156). Dass eine Koordination der Unionsparteien jedoch nicht nur die Kampagnenstrategie der CSU tangiert, wird an einem scheinbaren Paradoxon deutlich: Offenkundig stellte sich die CSU im Vorfeld der beiden vergangenen Nebenwahlen (45% bzw. 50%) auf solidere Beine als in den nachfolgenden Bundestagswahlkämpfen (41% bzw. 46%). Genau das gegenteilige Muster wäre gemäß der Nebenwahlkampfthese zu erwarten gewesen. Und tatsächlich bewahrheitet sich dieses auch, dem idealtypischen Verlauf einer stetig ansteigenden Professionalisierung von Wahl zu Wahl entsprechend (vgl. Abbildung 1), bei allen anderen Parteien. Offenkundig hat der Verzicht, eine eigenständige Bundestagswahlkampagne zu führen, zur Folge, dass die CSU dann an den Ressourcen ihrer Schwesterpartei partizipieren kann. 3.2 Kampagnenstrategien Die Überprüfung der Kampagnenstrukturen kann offensichtlich nicht erklären, warum die beiden national ausgetragenen Wahlkämpfe 2009 so geringe Resonanz erzeugten und nur so wenige Wahlberechtigte wie niemals zuvor zur Stimmabgabe motivieren konnten. Weder den Großparteien noch den kleinen im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien könnte vorgehalten werden, sie hätten nicht die organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen, um zwei professionelle, d.h. effiziente und resonanzträchtige Wahlkämpfe auszutragen. Sollte der „Schwarze Peter“ doch bei den Massenmedien liegen, die vielleicht ein Bild von den Kampagnen transportierten (Stichwort: „ValiumWahlkampf“), das den Parteienkonfrontationen schlichtweg nicht gerecht wurde? Schließlich berichteten diese über die Bundestagswahl 2009 im Fernsehen so wenig wie seit 1990 und in den Tageszeitungen so wenig wie seit 1994 nicht mehr (vgl. Wilke/Leidecker 2010: 342; Schulz/Zeh 2010: 321). Warum konnte also nicht nur die Europawahl, sondern auch die Bundestagswahl so wenig massenmediale Aufmerksamkeit erzeugen? Eine Antwort hierauf erfordert eine Neufokussierung: weg von der Quantität und hin zur Qualität des Wahlkampfes; oder anders ausgedrückt: weg von den strukturellen Voraussetzungen und hin zu den faktischen Auseinandersetzungen der Parteien in den beiden national ausgefochtenen Wahlkämpfen des Jahres 2009. Damit rücken strategische und inhaltliche Fragen in das Zentrum des Interesses. Um eine Analogie zu bemühen: Es sind nicht die Orchesterinstrumente, die die Musik machen. Es sind die Dirigenten und Musiker, die laut und leise, die schnell und langsam spielen. Nicht die Strukturen, sondern die
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Parteien (und Medien) geben dem Wahlkampf eine Melodie und verleihen ihm einen Spannungsbogen. In diesem Sinne soll im Folgenden ein Blick auf die Strategien der im Bundestag vertretenen Parteien und deren Schlagabtausch geworfen werden. Wie skizziert, kam im Vorfeld der Europawahl 2009 ein eigenständiger Wahlkampf, der in einem vernehmbaren Maße Aufmerksamkeit auf die supranationale Volkvertretung gerichtet hätte, gar nicht zustande. Vielmehr entstand durch die zeitliche Nähe zur Bundestagswahl eine Art Sog, der die Europawahlkampagnen – mehr noch als aus früheren Europawahlen ohnedies bekannt – in das Fahrwasser der Hauptwahl hinüberzog: „European issues and the European campaign itself played only a minor role“ (Brunsbach et al. 2010: 2010). Stattdessen beherrschten nationale Themen und die nationale Politikprominenz die Wahlkampfbühne. Für die SPD sollte die Europawahl nach der desaströs verlaufenen hessischen Landtagswahl zu Beginn des Jahres und der erwarteten Niederlage ihrer Kandidatin bei der Bundespräsidentenwahl im Mai die erhoffte Wende bringen. Die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise spielten ihr hierbei an sich in die Karten, brachten sie doch Themen auf die Agenda, bei denen den Sozialdemokraten schon traditionell hohe Problemlösungskompetenzen zugesprochen werden. Entsprechend versuchte die SPD, sich als „Hüterin der sozialen Gerechtigkeit und Anker in der Wirtschaftskrise“ (Niedermayer 2009: 716) zu positionieren. Dies erforderte eine radikale Abgrenzung nicht nur gegenüber dem Koalitionspartnern CDU und CSU, sondern ermöglichte auch die Markierung von Unterschieden gegenüber der FDP und den Linken. Besonders augenscheinlich wurden diese Abgrenzungsversuche im Rahmen einer Negativkampagne in Comic-Form, bei der die politischen Kontrahenten u.a. als Haie („Finanzhaie würden FDP wählen“) präsentiert wurden (vgl. Leidecker 2010). Mit dieser Art des aggressiv-humorvollen Negative Campaignings betraten die Sozialdemokraten Neuland. Parallel dazu nutzte die SPD den Europawahlkampf, um ihren Kanzlerkandidaten der breiten Masse näher zu bringen. Entsprechend posierte und dominierte Frank-Walter Steinmeier den Wahlkampf neben einem vergleichsweise unscheinbaren Europawahlspitzenkandidaten Martin Schulz (vgl. Lessinger/Holtz-Bacha 2010: 85f.). Beide Faktoren, eine starke Angriffsstrategie und ein hoher Personalisierungsgrad, trugen dazu bei, dass die Sozialdemokraten im Europawahlkampf 2009 von allen im Bundestag vertretenen Parteien in strategischer Hinsicht am professionellsten agierten (vgl. Abbildung 4). Dies ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Erstens war die SPD bei der vorangegangenen Europawahl noch diejenige Partei mit dem niedrigsten Professionalitätsgrad, der bislang für deutsche Parteien gemessen wurde (vgl. Ten-
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scher 2007: 87). Offensichtlich sollte sich das damalig schlechte Abschneiden nicht wiederholen bzw. zumindest nicht an einer abermals „verschlafenen“ Kampagne scheitern. Allerdings konnte die strategisch deutlich aufgestockte Kampagne auch 2009 nicht ein Wahldebakel verhindern (vgl. Niedermayer 2009). Das zweite Bemerkenswerte ist, dass die SPD die einzige Partei blieb, die zwischen Europa- und Bundestagswahlkampf in strategischer Hinsicht nicht weiter zulegen konnte. Der Bundestagswahlkampf wurde also auf dem Niveau eines Nebenwahlkampfes geführt (vgl. Abbildung 4). Diese „Strategiedefizite“ (Machnig 2010: 41), kombiniert mit taktischen Fehlern, was Koalitionsaussagen und Themenwahl anging, den häufigen Wechseln an der Parteispitze und einem unklaren „Markenkern“ führten schließlich dazu, dass der SPD bei der Bundestagswahl so wenige Wähler wie nie zuvor ihre Stimme gaben (vgl. Hilmer 2010b; Raschke/Tils 2010). Abbildung 4:
Professionalität der Kampagnenstrategien bei den Europa- und Bundestagswahlkämpfen 2004-2009
100% 80% 60% 40% 20% 0%
EW2004
BTW2005
EW2009
BTW2009
SPD
11%
75%
67%
67%
CDU
43%
75%
63%
73%
CSU
43%
68%
40%
50%
Grüne
32%
61%
47%
60%
FDP
54%
64%
50%
57%
Linke
29%
71%
50%
53%
Quelle: Kampagnenstudie 2009.
Im Vergleich zur SPD war das Bild, das die CDU in den beiden national ausgetragenen Wahlkämpfen 2009 abgab, deutlich kohärenter – und in beiden Fällen auch deutlich ruhiger. Bereits im Europawahlkampf wurde das ausprobiert, was
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im Bundestagswahlkampf aus Sicht der journalistischen Beobachter, der politischen Kontrahenten, bisweilen aber auch der eigenen Anhänger in einer Art „Nicht-Wahlkampf“ (Hilmer 2010a: 155) mündete. Dessen prägendste Kennzeichen waren in beiden Wahlkämpfen die Omnipräsenz der Kanzlerin, der Verzicht auf jegliche Angriffe gegenüber den politischen Kontrahenten und die damit einhergehende De- und Entpolitisierung des Wahlkampfes. Was die anderen Parteien machten oder vorschlugen, wurde öffentlich ignoriert, still, pragmatisch und „präsidial“ (vgl. Murswieck 2009: 29; Krewel et al. 2011) ausgesessen oder einfach nicht weiter thematisiert. Dies gilt auch für die Störfeuer, die von der CSU in beiden Wahlkämpfen gelegt wurden:17 Während sich die Christdemokraten beispielsweise im Europawahlkampf als eine Partei darstellten, die für ein starkes Deutschland in Europa eintrat („Wir in Europa“), warb die Schwesterpartei, wie aus früheren Europawahlkämpfen bekannt, für die Eigenständigkeit und Sonderrolle Bayerns in der EU (vgl. auch Tenscher 2005: 45). Und als die CDU im Bundestagswahlkampf für die schwarz-gelbe Koalitionsoption warb, griff die CSU die Liberalen mit einer massiven Zweitstimmenkampagne an (vgl. Krewel et al. 2010). Beides spricht für eine wenig gelungene bzw. nicht vorhandene Abstimmung der Wahlkampfstrategien der Unionsparteien. Personifiziert wurden die Kampagnen der CSU im Jahr 2009 nicht nur durch den Parteivorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, sondern in gleichem Maße durch den „Shootingstar“ unter den Politikern, Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Ungeachtet deren Einsatzes kristallisierten sich die CSU-Kampagnen in beiden Wahlkämpfen im Vergleich zu den Mitstreitern als am geringsten professionalisiert heraus (40% bzw. 50%). Auch hier dürfte die Tatsache, dass die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, zu einem – für national ausgetragene Wahlkämpfe – vergleichsweise reduzierten Engagement geführt haben. Die Wahlen konnten entsprechend auch nicht die nach der Schlappe bei der Landtagswahl 2008 erhoffte Trendwende bringen. Von den drei Oppositionsparteien hatte es die FDP im Superwahljahr vergleichsweise am leichtesten (vgl. auch Brettschneider/Bachl 2009: 50f.): In den Europawahlkampf konnte sie mit der populären Silvana Koch-Mehrin starten, die der Partei schon 2004 überdurchschnittlich viel mediale Aufmerksamkeit beschert hatte (vgl. Tenscher 2006: 128f.; Lessinger/Holtz-Bacha 2010: 8f.). Der anschließende Bundestagswahlkampf wurde dann aus der Position des per17
Bei den Europawahlkämpfen 2004 und 2009 verzichteten die Unionsparteien komplett auf eine Abstimmung in strategischen oder organisatorischen Fragen (vgl. Niedermayer 2009: 717).
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manenten „Gewinners“ bei den vergangenen Landtagswahlen und der Europawahl (11%) aufgenommen. Hinzu kam der Vorteil einer klaren und realistischen Machtperspektive für einen Wechsel zu Schwarz-Gelb. In Zeiten der globalen Wirtschaftskrise konnte sich die FDP zudem leicht als eine wirtschaftsliberale Partei gegenüber SPD, Linken und Grünen abgrenzen. Ebenso glaubwürdig erschien die Positionierung der Liberalen als eine seriöse und in der Opposition geläuterte Partei, die sich zum „ordnungspolitischen Korrektiv“ (Krewel et al. 2011) einer schwarz-gelben Regierung stilisierte und die Themenfelder „Steuern“, „Bürgerrechte“ und „Bildung“ versuchte zu besetzen. Hierdurch und auch durch einen zunehmend staatsmännisch auftretenden Parteivorsitzenden konnten enttäuschte Unions- und SPD-Wähler im Rahmen einer klaren Zweitstimmenkampagne gewonnen werden (vgl. Hilmer 2010a: 158; Lessinger/Holtz-Bacha 2010: 107). Im Vergleich zur FDP hatten es Bündnis 90/Die Grünen insbesondere bei der Bundestagswahl 2009 deutlich schwerer, mussten sie doch ohne klare Machtperspektive und, nach dem Abgang Joschka Fischers, mit neuen Zugpferden in den Wahlkampf starten. Im Europawahlkampf bildeten die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Rebecca Harms und der frühere Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer die neue Doppelspitze. Wie bereits 2004 erprobt, waren Bündnis 90/Die Grünen auch 2009 in eine paneuropäische Kampagne integriert. Diese schrieb sich einen „Grünen New Deal“ auf die Fahnen. In Deutschland wurden wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitische Themen unter dem Slogan „WUMS! Für ein besseres Europa“ vereint (vgl. Lessinger/HoltzBacha 2010: 90f.). Ausgestattet mit einem unverkennbaren umweltpolitischen Profil, einem klaren Erfolg bei den Europawahlen und zwei „dynamischen“ Führungspersonen, den Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin, starteten die Grünen dann in den Bundestagswahlkampf. Trotz fehlender Machtperspektive und einer gering personalisierten Kampagne gelang ihnen dort das beste Abschneiden bei einer Bundestagswahl. Dies mag auch auf die in strategischer Hinsicht am drittprofessionellsten ausgeführte Kampagne (60%) zurückzuführen sein, der bisweilen jedoch die „orchestrierte Kommunikation“ (Brettschneider/Bachl 2009: 51) fehlte. Mit ihrem Professionalitätsgrad lagen die Grünen vor der Linkspartei, die ihre Kampagne zur Bundestagswahl deutlich weniger professionell ausführten (53%). Zurückzuführen ist dies sicherlich auch darauf, dass die Kampagnen der Linken 2009 sowohl auf ihre langjährige „Wahlkampflokomotive“ Gregor Gysi als auch auf den erfahrenen Kampagnenmanager André Brie verzichteten. Die Folge war u.a. ein Rückgang im strategischen Professionalitätsgrad der Bundestagswahlkampagne gegenüber dem Jahr 2005 um 18 Prozentpunkte. Dies zeich-
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nete sich bereits in der Europawahlkampagne ab (50%). In dieser wurde im Unterschied zu allen im Bundestag vertretenen Mitbewerbern eine europakritische Position eingenommen. Dies brachte, trotz „blauer“ Plakate, wie es in einem parteiinternen Papier heißt, 7,5% der Wählerstimmen (vgl. Niedermayer 2009: 718), womit die Partei selbst nicht zufrieden war. Dieses Ergebnis wurde jedoch bei der Bundestagswahl mit einem neuen Rekordergebnis von 11,9% der Wählerstimmen getoppt. Insofern muss die unverkennbare Contra-Strategie der Linkspartei („Hatz IV muss weg“, „Deutsche Truppen raus aus Afghanistan“) und ihre Fokussierung auf die Themen „soziale Gerechtigkeit“ und „Frieden“ – trotz vergleichsweise geringem Professionalitätsgrad – als gelungen bezeichnet werden (vgl. Krewel et al. 2011). Unabhängig von den Strategien, für die sich die einzelnen Parteien in den Europa- und Bundestagswahlkämpfen entschieden, zeichnen sich einige generelle Trends im Parteien- und Wahlebenenvergleich ab: Erstens fiel der Grad der strategischen Professionalität bei allen Parteien zur Bundestagswahl 2009 niedriger aus als bei der vorangegangenen Hauptwahl 2005 (vgl. Abbildung 4). Dies ist ein deutlicher Beleg für einen Teil der ersten Annahme, nämlich der Vermutung defizitärer Bundestagswahlkampagnen 2009. Der idealtypisch unterstellte, steigende Verlauf in der Professionalisierung der Kampagnenführung wurde hier offenkundig unterbrochen und es stellt sich die Frage, in welche Richtung er bei den nächsten Wahlen gehen wird. Denn, zweitens, hat im Sog der Bundestagswahl die strategische Professionalität im Kampagnenmanagement der meisten Parteien zur Europawahl gegenüber der Wahl 2004 klar zugenommen. Der zweite Teil der ersten untersuchungsleitenden Annahme, der ein Defizit bereits in den Europawahlkampagnen 2009 unterstellte, muss also verneint werden. Nur die FDP (auf hohem Niveau) und die CSU (als regionale Partei) verzichteten darauf, ihre Europawahlkampagnen gegenüber 2004 strategisch „aufzurüsten“. Auch hier stellt sich die Frage, ob dieser dem Idealverlauf entsprechende Anstieg der Professionalisierung bei der nächsten europäischen Nebenwahl seine Fortsetzung finden wird. Zunächst kann aber festgehalten werden, dass die Parteienkampagnen im Vorfeld der vergangenen Europawahl nicht derart defizitär gewesen wären, dass sich hierdurch die geringe Medienaufmerksamkeit und die mangelhafte Wählermobilisierung allein erklärten. Hierfür muss es andere Gründe auf Seiten der Medienberichterstattung und der Wähler geben (vgl. den Beitrag von Schoen und Teusch in diesem Band).18
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Zur Erklärung der gewonnenen Stimmenanteile vor dem Hintergrund des Einflusses der Parteienkampagnen vgl. auch Tenscher et al. (2011).
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Drittens ist zu betonen, dass die beiden Großparteien, SPD und CDU, bei allen national ausgetragenen Wahlkämpfen seit dem Jahr 2005 im Ausmaß der strategischen Professionalität deutlich vor den kleinen Parteien im Bundestag rangieren. Dies spricht für die Annahme, dass das Ausmaß des Budgets und die Größe der Mitarbeiterstäbe, als zwei wesentliche Komponenten der Kampagnenstrukturen (s.o.), einen erheblichen Einfluss auch auf die Strategien der Parteien haben (vgl. auch Strömbäck 2009). Über die vier Kampagnen und alle Parteien hinweg gerechnet korrelieren die beiden Indizes positiv und signifikant (r = 0,59; p < 0.01). Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass es den kleinen im Bundestag vertretenen Parteien durchaus gelingen kann, ihre strukturellen Defizite durch professionelle Kampagnen zu kompensieren. Dies gilt insbesondere für die Bundestagswahlkämpfe (vgl. auch Tenscher 2005: 87). So verringert sich beispielsweise die Distanz im Professionalitätsgrad der Bundestagswahlkampagnen 2009 zwischen den beiden Extremen von 42 Prozentpunkten (Index Kampagnenstrukturen) auf 23 Prozentpunkte (Index Kampagnenstrategien). Davon unbenommen findet die zweite untersuchungsleitende Annahme, wonach sich bei SPD und CDU besonders hohe Defizite im Professionalitätsgrad ihrer Kampagnen 2009 im Vergleich zu den „kleinen“ Parteien finden würden, keine Bestätigung. Schließlich fällt auf, dass, der dritten untersuchungsleitenden Annahme über einen zeitlich abgestuften Prozess der Professionalisierung folgend, alle Parteien zwischen Europa- und Bundestagswahlkampf 2009 strategisch gesehen entweder zulegten oder sich, wie die SPD, zumindest ebenso professionell verhielten. Da ersteres auch auf den Vergleich zwischen den Wahlen 2004 und 2005 zutrifft, kann die Vermutung eines nach Wahlebenen zeitlich abgestuften Professionalisierungsprozesses als weitgehend bestätigen gelten. 3.3 Kampagnenprofessionalität im Vergleich Was ergibt sich aus diesen, z.T. widersprüchlichen Befunden zu den strukturellen Voraussetzungen und den strategischen Ausrichtungen der Parteienkampagnen? Inwieweit treffen die Ausgangsannahmen von zwei defizitär geführten Wahlkampagnen 2009, für die vor allem die Großparteien verantwortlich zeichneten, zu? Eine Antwort hierauf erlaubt ein abschließender Blick auf die Gesamtprofessionalität der Parteienkampagnen in den zurückliegenden Wahljahren
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(vgl. Abbildung 5). Hierzu wurden die beiden bisher genutzten Indizes zu einem Gesamtindex „Kampagnenprofessionalität“ zusammengeführt.19 Abbildung 5:
Gesamtprofessionalität der Kampagnen bei den Europa- und Bundestagswahlkämpfen 2004-2009
100% 80% 60% 40% 20% 0%
ES2004
BTW2005
EW2009
SPD
28%
74%
65%
BTW2009 76%
CDU
39%
67%
69%
80%
CSU
41%
52%
44%
48%
Grüne
31%
50%
50%
63%
FDP
43%
56%
57%
61%
Linke
24%
59%
54%
57%
Quelle: Kampagnenstudie 2009.
Die Befunde sind eindeutig und könnten plastischer kaum ausfallen: Erstens ähnelt die Entwicklung der Kampagnenindizes in hohem Maße dem idealtypischen Modell einem nach Wahlebenen abgestuften, zeitlich verzögerten Anstieg der Kampagnenprofessionalität bei nationaler Haupt- und europäischer Nebenwahl. Dabei bewegen sich alle Parteien, wahlunabhängig, immer noch deutlich 19
Wiederum stellt sich die Frage nach der „richtigen“ Gewichtung der Komponenten, in diesem Fall der beiden Indizes. Da der Index der Gesamtkampagnenprofessionalität den kompletten Raum aller möglichen Komponenten im richtigen Verhältnis abdecken soll, gehen die beiden Indizes im Verhältnis der Anzahl ihrer Komponenten, d.h. im Verhältnis 24/30 bzw. 4/5, in den Gesamtindex ein. Das heißt, alle Einzelkomponenten werden addiert, durch die maximal erreichbare Punktezahl (54) dividiert und mit hundert multipliziert. Dies ergibt die prozentuale Gesamtpunktezahl. Marginale Abweichungen gegenüber andernorts veröffentlichten Befunden (vgl. Tenscher 2007: 87) ergeben sich wiederum aus der Neukonstruktion der oben angesprochenen Teilkomponenten.
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unter dem Niveau des momentan Denkbaren, sprich der Hundert-Prozentmarke. Dies gilt für die Europawahlkämpfe noch mehr als für die Bundestagswahlkämpfe: Allen Parteienkampagnen zur Europawahl 2009 kann eine höhere Professionalität attestiert werden als jenen fünf Jahre zuvor. Die These defizitärer Kampagnen 2009 muss also mit Blick auf die Europawahlkämpfe klar verworfen werden. Inwieweit dies dem Sog der terminlich nahen Bundestagswahl 2009 geschuldet war, kann nur durch weitere Studien verifiziert werden. Der Anstieg in der Professionalität des Kampagnenmanagements bewahrheitet sich allerdings beim Blick auf die Bundestagswahlkämpfe nur für die Hälfte der untersuchten Parteien: SPD, Linke und CSU bestritten den Bundestagswahlkampf 2009 weniger professionell als noch 2005. Hieraus können sich jedoch nur schwerlich verallgemeinerbare Aussagen ableiten lassen. Erstens lässt sich nicht, wie andernorts vermutet (vgl. Gibson/Römmele 2009: 280), behaupten, dass „linke“ Parteien generell offener gegenüber „modernen“, Marketing-orientierten Kampagnentechniken wären. Entsprechend eindeutige Muster sind in den vier Wahlkämpfen nicht zu erkennen. Zweitens muss aber auch die zweite untersuchungsleitende Annahme verworfen werden, dass die Großparteien im Wahljahr 2009 in besonderem Maße defizitäre Kampagnen geplant und ausgeführt hätten. Das Gegenteil ist der Fall: Seit den Bundestagswahlen 2005 bewegen sich SPD und CDU, was die Professionalität ihrer Kampagnen angeht, kontinuierlich über dem Niveau aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Sie scheinen sich auch immer weiter von ihren „kleinen“ politischen Kontrahenten abzusetzen. Dass die Sozial- und Christdemokraten ihren „doppelten Startvorteil“ (Tenscher 2007: 74) – mehr Ressourcen und mehr Medienaufmerksamkeit – dennoch nicht in ähnlichem Maße in Wahlerfolge ummünzen können, ist schließlich nicht nur taktischen Fehlern, sondern auch unterschiedlichen bzw. unterschiedlich wahrgenommenen „Leistungen“ und Akteuren und somit nicht zuletzt den „Eigenwilligkeiten“ der Massenmedien und der Wähler geschuldet. Die Professionalisierung des Kampagnenmanagements wird hier immer an quasi-natürliche Grenzen stoßen. Sie bleibt nur eine Voraussetzung für Wahlerfolge, ohne diese garantieren zu können. Wenngleich also augenscheinlich zwei der untersuchungsleitenden Annahmen verworfen werden müssen, muss doch darauf hingewiesen werden, dass sich das „Tempo“ der Professionalisierung zu verlangsamen scheint. Die großen Veränderungen zwischen dem Europawahlkampf 2004 und dem nachfolgenden Bundestagswahlkampf wiederholten sich danach nicht mehr. Hierin könnten durchaus wahlzyklische Effekte zum Ausdruck kommen. Genauso möglich ist aber, dass die deutschen Parteien sich mittlerweile auf einem je wahlspezifischen Niveau „eingependelt“ haben, der Professionalisierungsprozess sich also
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etwas abflaut. Dagegen spricht jedoch, dass die Distanz zwischen den beiden Großparteien und den „kleinen“ im Bundestag vertretenen Parteien im Jahr 2009 größer als 2005 ausfiel. Dies gilt es weiter zu beobachten. 4
Zusammenfassung und Ausblick
Der Anteil der Wähler, die sich erst kurz vor dem Wahltag entscheiden, ob und wen sie wählen werden, ist in den vergangenen Dekaden immer größer geworden. Damit werden die „Fenster der Gelegenheit“ (Schmitt-Beck 2003) für die Parteien größer, um durch ein effektives Kampagnenmanagement Aufmerksamkeit und Unterstützung für sich zu gewinnen. Eine professionelle Kampagnenführung wird so bedeutsam, insbesondere, da sich die Massen- und Neuen Medien immer „eigenwilliger“ zeigen und sich immer stärker gegen politische Instrumentalisierungsversuche sperren. Die Anpassung an die Medienlogik nötigt den Parteien einiges an Subtilität ab, um erfolgreich sein zu können. Auch hierfür bedarf es aber einer professionellen politischen Kommunikation, die auf Dauer angelegt ist und sich zu Wahlkampfzeiten verdichtet (vgl. Negrine 2007). Professionelle politische Kommunikation ist, wie gezeigt werden konnte, eine Kombination aus organisatorischen Voraussetzungen und prozessualen Auseinandersetzungen. Diese Differenz zwischen Struktur und Strategie gilt es in der politischen Kommunikations- bzw. Wahlkampfpraxis genauso zu beachten wie in der empirischen Auseinandersetzung mit entsprechenden Phänomenen. In diesem Sinne verweisen die hier präsentierten Befunde sowohl auf Ähnlichkeiten der parteispezifischen Kampagnenstrukturen und -strategien als auch auf Besonderheiten. Alles in allem lässt sich diesbezüglich festhalten, dass die Großparteien in struktureller Hinsicht von ihren finanziellen und personellen Ressourcen zwar profitieren konnten. Die „kleinen“ Parteien wussten aber bislang entsprechende Malusse durch „innovative“, mediengerechte und publikumsattraktive Strategien im Wahlkampf zu kompensieren. Inwieweit sie dadurch auch zukünftig in der Lage sein werde, die kommunikative Schere zwischen Groß und Klein zu schließen, gilt es zu überprüfen. Mit Blick auf das Wahljahr 2009 kann vor dem Hintergrund der hier präsentierten Befunde konstatiert werden, dass es kaum Defizite im Professionalitätsgrad der Parteien gab. Im Gegenteil: Der Prozess der zeitlich abgestuften Professionalisierung bei Haupt- und Nebenwahlkämpfen hat sich, dem idealtypischen Modell folgend, fortgesetzt bzw. auf hohem Niveau konsolidiert. Auch wenn es so erscheinen mochte, behandelten die Parteien den Bundestagswahlkampf 2009 aus professionalisierungsspezifischer Perspektive nicht etwa nach-
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rangig. Überdies legten die zur Großen Koalition vereinten Sozial- und Christdemokraten sowie ihre „kleinen“ im Bundestag vertretenen Mitbewerber im Vergleich der beiden zurückliegenden Europawahlkämpfe klar an Professionalität zu. Ob sich hierin Sog- bzw. Wahlzykluseffekte widerspiegeln, müssen zukünftige, longitudinal angelegte Studien klären. Diese bedarf es ohnehin, um dem Langzeitphänomen „Professionalisierung der Wahlkampfkommunikation“ empirisch auf den Grund zu gehen und auch, um Kontinuitäten und Brüche, wie sie De-Professionalisierungsprozesse markieren würden, zu entdecken. Dies erfordert eine angemessene, valide und reliable analytische Herangehensweise. Die hierfür genutzten Indizes scheinen beiden Kriterien zu entsprechen – und sie ermöglichen zudem ländervergleichende Analysen (vgl. Tenscher et al. 2011). Dessen ungeachtet sollten sie fortwährend auf den methodologischen Prüfstand gestellt, ggf. modifiziert und erweitert sowie mögliche Gewichtungsfaktoren berücksichtigt werden. Dies ist bei einem kontextspezifischen, zeit- und raumabhängigen Phänomen wie der Professionalisierung politischer Kommunikation unerlässlich. Was bleibt, ist ein „Wahlkampfparadoxon“ (Tenscher et al. 2010): Es sind nicht zwangsläufig die professionellsten Kampagnen, die die größte Aufmerksamkeit in den Massenmedien und der allgemeinen Öffentlichkeit finden oder gar die besten Wahlergebnisse erzielen. Auch gering professionalisierte Kampagnen können medienwirksam und effektiv sein. Und selbst ein hoher Grad an Professionalität, wie er für die Wahlkämpfe 2009 grosso modo und vor allem für die beiden Volksparteien festgestellt werden konnte, mündet nicht zwangsläufig in spannende und „hitzig“ geführte Parteienkonfrontationen, die einen entsprechenden Widerhall in der Medienberichterstattung finden und eine mobilisierende Wirkung auf die Wählerschaft entfalten könnten. Defizite wie Überschüsse im Professionalisierungsgrad der Kampagnen bleiben insofern immer nur ein Hilfskonstrukt: für die Parteien, um sich mehr oder weniger „gut“ im Wahlkampf zu positionieren, und für die Wahlkampfforschung, um einen systematischen Eindruck über die Parteienkampagnen zu bekommen. Was bislang nur ansatzweise damit erklärt werden kann, sind die direkten und indirekten Effekte, die von entsprechenden Wahlkampagnen ausgehen (vgl. den Beitrag von Schoen und Teusch in diesem Band sowie Tenscher et al. 2011). Dies mag diejenigen enttäuschen, die daran glauben, Wahlerfolge quasi am Reißbrett planen zu können (vgl. Radunksi 2003; Machnig 2010). Für diejenigen aber, die an die Komplexität von Gelegenheitsfenstern erinnern, dürfte das Wahlkampfparadoxon eher beruhigend sein.
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Defizitär – und trotzdem professionell?
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Jens Tenscher
Anhang Tabelle 1:
Kampagnenstrukturen 2009 im Vergleich SPD EW 2009
Budgetierung (max. 5) Mitarbeiterstab (max. 3) Zentralisierung (max. 2) Externalisierung (max. 3) Interne Kommunikationsstrukturen (max. 5) Rückkopplung (max. 2) Gegnerbeobachtung (max. 1) Kampagnendauer (max. 3) Gesamt (max. 24 Punkte) Gesamt (prozentual)
CDU 5 3 1 3 4
2 3 2 2 5
4 3 2 2 5
1 1 1 2 3
2 1 1 1 2
2 1 1 15 63%
2 1 2 21 88%
2 1 1 18 75%
2 1 2 21 88%
2 1 1 12 50%
2 1 1 11 46%
Grüne
Quelle: Kampagnenstudie 2009.
BTW 2009
2 3 1 2 3
EW 2009
Budgetierung (max. 5) Mitarbeiterstab (max. 3) Zentralisierung (max. 2) Externalisierung (max. 3) Interne Kommunikationsstrukturen (max. 3) Rückkopplung (max. 2) Gegnerbeobachtung (max. 1) Kampagnendauer (max. 3) Gesamt (max. 24 Punkte) Gesamt (prozentual)
CSU
BTW 2009 EW 2009 BTW 2009 EW 2009
FDP
BTW 2009 EW 2009
Linke
BTW 2009 EW 2009
BTW 2009
1 1 2 2 3
1 2 2 2 5
1 3 1 2 5
1 2 1 3 5
1 3 2 1 5
1 3 2 1 4
2 1 1 13 54%
2 1 1 16 67%
2 1 1 16 67%
2 1 1 16 67%
1 0 1 14 58%
2 1 1 15 63%
Defizitär – und trotzdem professionell?
Tabelle 2:
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Kampagnenstrategien 2009 im Vergleich SPD EW 2009
Zielgruppenorientierung (max. 3) Narrowcasting (max. 6) Relevanz der paid media (max. 5) Relevanz der free media (max. 6) Relevanz der Talkshowisierung (max. 2) Ereignismanagement (max. 2) Personalisierung (max. 2) Privatisierung (max. 2) Negative Campaigning (max. 2) Gesamt (max. 30 Punkte) Gesamt (prozentual)
CDU
BTW 2009 EW 2009
CSU
BTW 2009 EW 2009
2 4 3 5 2
2 5 3 6 1
2 5 4 6 1
2 2 4 2 0
3 2 4 4 0
2 1 0 0 20 67%
2 1 1 0 20 67%
1 1 0 0 19 63%
2 2 0 0 22 73%
2 0 0 0 12 40%
2 0 0 0 15 50%
Grüne
FDP
Linke
EW 2009 BTW 2009 EW 2009 BTW 2009 EW 2009
Zielgruppenorientierung (max. 3) Narrowcasting (max. 6) Relevanz der paid media (max. 5) Relevanz der free media (max. 6) Relevanz der Talkshowisierung (max. 2) Ereignismanagement (max. 2) Personalisierung (max. 2) Privatisierung (max. 2) Negative Campaigning (max. 2) Gesamt (max. 30 Punkte) Gesamt (prozentual) Quelle: Kampagnenstudie 2009.
BTW 2009
3 3 4 5 2
BTW 2009
1 4 2 3 1
2 4 3 4 2
2 3 2 3 1
2 4 1 6 1
1 1 4 6 1
2 1 3 5 2
2 0 0 1 17 47%
2 0 0 1 18 60%
2 1 1 0 15 50%
2 1 0 0 17 57%
1 0 1 0 15 50%
1 2 0 0 16 53%
Webkampagnen im Vergleich Uta Rußmann
1 Einleitung Mitte der 1990er Jahre gingen die ersten deutschen Parteien ins Netz – allen voran SPD, CDU und FDP. Bereits im Bundestagswahlkampf 1998 waren die Onlineauftritte Teil der Wahlkampagnen, allerdings bestanden die Websites aus einzelnen ziselierten Angeboten. An was es fehlte, war eine sorgsam ausgearbeitete Dramaturgie der Webauftritte (vgl. Bieber 2002: 277). Doch schon mit den ersten Webkampagnen verfolgten die Parteien primär das Ziel, die Aufmerksamkeit jener Wähler auf sich zu ziehen, die sich mehr oder weniger häufig im Internet bewegen und die mit den Jahren zu einer immer größeren Gruppe angewachsen sind. Zunächst nicht viel mehr als „electronic broschures“ (Kamarck 1999: 108), die in der Regel gerade einmal über die Geschichte und Struktur der Parteiorganisation informierten sowie das Parteiprogramm online veröffentlichten, haben sich die Websites der Parteien und Politiker im Jahr 2009 zu multifunktionalen Drehscheiben1 entwickelt. Den Bürgern werden nicht nur auf den Websites der Parteien vielfältige Informationen rund um die Partei, deren Personal, Aktivitäten und Ziele angeboten, auch offerieren die Parteienwebsites mittlerweile zahlreiche Vernetzungen zu den Onlineauftritten einzelner Politiker (insbes. Spitzenkandidaten), zu spezifischen Kampagnenportalen oder zu parteispezifischen Teilorganisationen. Im Wahljahr 2009 stand dabei insbesondere die Vernetzung zu Social Network Sites der Partei und der eigenen Politiker im Zentrum (vgl. den Beitrag von Bieber und Schwöbel in diesem Band). Hoffnung wird dabei in das Interaktivitätspotential von Social Network Sites wie Facebook, Twitter und YouTube gesetzt, die die Wählermobilisierung und Bürgerpartizipation in ein neues Zeitalter navigieren sollen. Zehn Jahre
1
Mit dem Begriff multifunktionale Drehschreibe wird der Vernetzungscharakter des Webs betont. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass von der Parteiwebsite als der ursprünglichen (und oftmals einzigen) Plattform der Partei, Verbindungen zu anderen, zumeist neueren Plattformen der Partei ausgehen. Damit verknüpft die Parteiwebsite die einzelnen, parteispezifischen Webangebote und baut um sich herum ein Netzwerk auf.
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Uta Rußmann
nach den ersten Gehversuchen im Netz vermitteln die Websites der Parteien das Bild von strategisch geplanten, technisch ausgefeilten Auftritten. Im Wahljahr 2009 begann der „obligatorische Relaunch“ (Hagen 2009: 34) der Parteienwebsites bereits zu Jahresbeginn mit der Präsentation des neu designten Webportals der SPD. Kurze Zeit später folgte die CDU, die im Februar der Öffentlichkeit ihre überarbeitete Website vorstellte. Zwei Monate vor den Europawahlen stellten dann auch Bündnis 90/Die Grünen den Relaunch ihres Webauftritts vor. Die FDP, als letzte größere Partei, präsentierte ihren neuen Onlineauftritt erst etwa einen Monat vor der Bundestagswahl am 18. August 2009 (vgl. ebd.). Als Auslöser für den im Vergleich zu vorangegangenen Wahlkämpfen früher einsetzenden Start der Internetkampagnen der deutschen Parteien kann wohl im besonderen Maße der wenige Monate zuvor endende U.S.Präsidentschaftswahlkampf gesehen werden. Über Monate hinweg zeigten Hillary Clinton, John McCain und vor allem Barack Obama mit seiner „Organizing for America“-Campaign, welches Potential in den Webkampagnen für die Informationsverbreitung und die Wählermobilisierung innewohnt. Der in den letzten Jahren massive Bedeutungszuwachs des Internet für die politische Kommunikation basiert insbesondere auf der gesteigerten Nutzung des Mediums durch die Bevölkerung. Durchaus spielen hierbei die immer neuen technischen Möglichkeiten eine nicht mindere Rolle. Dies zeigte sich im Wahljahr 2009 auch anhand des intensiven Web 2.0-Einsatzes der deutschen Parteien. Waren im Jahr 1998 gerade einmal 10,4 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung über 14 Jahre online, waren es im Frühjahr 2009 67,1 Prozent (43,5 Mio.) der Erwachsenen ab 14 Jahren (vgl. van Eimeren/Frees 2009: 335). Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass die Parteien mittlerweile zu jeder Wahl auch im Web Wahlkampf betreiben (vgl. u.a. Bieber 2002; Schweitzer 2010). Nichtsdestotrotz, und dies ist auch im Hinblick auf die folgenden Ausführungen und die hier präsentierten empirischen Befunde zu bedenken, sind die traditionellen Massenmedien das zentrale Element für die politische Parteienkommunikation, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Dennoch können die Webauftritte der Parteien mittlerweile zum Standardrepertoire der Wahlkampagnen gezählt werden (vgl. Williamson et al. 2010). Der vorliegende Beitrag betrachtet den Einsatz von Websites politischer Parteien im Vorfeld der Europawahl am 7. Juni 2009 und der Bundestagswahl am 27. September 2009 aus der Akteurs- bzw. Parteienperspektive. Die beiden Wahlen unterscheiden sich vor allem bezüglich der ihnen entgegengebrachten Aufmerksamkeit. EU-Wahlen werden allgemein als Nebenwahlen bzw. „Second-Order-Elections“ bezeichnet (vgl. Reif/Schmitt 1980; Tenscher 2005). Im Vergleich zu Bundestagswahlen schenken nicht nur die Bürger und die Mas-
Webkampagnen im Vergleich
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senmedien den Wahlen zum europäischen Parlament weitaus weniger Aufmerksamkeit, auch das Engagement der Parteien kann seit jeher als zurückhaltender beschrieben werden. Im Zentrum des Beitrags steht deshalb die Frage, wie sich die Parteien bei den Haupt- und Nebenwahlkämpfen des Jahres 2009 im Web präsentierten. Oder anders gefragt: Welches Informations- und Kommunikationsangebot wurde den Wählern im Europa- und im Bundestagswahlkampf online gemacht? Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst ein Überblick über die früheren Onlineauftritte deutscher Parteien bei Bundestagswahlkämpfen sowie die Webpräsentationen von Parteien in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten im Vorfeld von Europawahlen in die Thematik einführen und die einleitend angesprochene Entwicklung von Webkampagnen beleuchten (Kap. 2). Daran schließt die Beschreibung der Methode und Datengrundlage an (Kap. 3). Kernstück des Beitrags ist die empirische Analyse der Websites deutscher Parteien während des Europawahlkampfes und des Bundestagswahlkampfes im Jahr 2009 (Kap. 4). Um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Wahlkämpfen zu klassifizieren, werden die virtuellen Parteienauftritte strukturanalytisch untersucht. Dabei werden die diversen Webelemente entlang von vier zentralen Webfunktionen – Information, Vernetzung/Integration, Mobilisierung und Partizipation – systematisiert. Betrachtet und diskutiert wird, welches Gewicht die Parteien auf die verschiedenen Webfunktionen im vergangenen „Superwahljahr“ legten und ob sich die den zwei Wahlkämpfen unterschiedlich zugesprochene Relevanz auch in den Webauftritten der Parteien widerspiegelt. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und kurzen Diskussion der zentralen Befunde (Kap. 5). 2 Politische Parteien im Web 2.1 Webkampagnen zu Bundestags- und Europawahlen Wie bereits angedeutet, haben sich die Onlineauftritte der Parteien seit den Wahlkämpfen Ende der 1990er Jahre von einfachen elektronischen Informationsbroschüren (vgl. Kamarck 1999: 108) zu multifunktionalen Kampagnendrehscheiben entwickelt, die eine stärkere Partizipation und Interaktivität zwischen Bürgern und Parteien ermöglichen und auf die Mobilisierung der Wähler abzielen (vgl. u.a. Foot/Schneider 2006). So fand Schweitzer (2010) in einer Strukturanalyse, die sich auf die Startseiten der Webauftritte von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zu den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 bezieht, Hinweise für diese Veränderungen der Webkampagnen: Waren
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Uta Rußmann
im Jahr 2002 fast ausschließlich Informationselemente auf den Homepages der Parteien zu finden, konnte in den darauffolgenden Wahlkämpfen ein deutlicher Anstieg bei interaktiven, die Partizipation und Mobilisierung fördernden Elementen registriert werden. Dabei stieg die Nutzung von Partizipationselementen im Zeitverlauf stärker an als die der Informations- und Mobilisierungselemente. Trotz des intensiveren Einsatzes von Partizipations- und Mobilisierungselementen dominierten auch im Wahlkampf 2009 die diversen Informationsangebote auf den Startseiten der deutschen Parteienwebsites (vgl. Schweitzer 2010: 233). Die Längsschnittuntersuchung zeigt zudem eine sukzessive Abflachung bei den Zuwachsraten der diversen Webelemente über die letzten drei Wahlzyklen (vgl. ebd.: 211). Erste Analysen der Webauftritte der Parteien zur Bundestagswahl 2009 legen nahe, dass sich die Entwicklung in Richtung vermehrter Interaktivität zwischen Wählern und Gewählten sogar verstärkt hat (vgl. Hagen 2009: 33). Die Parteien nutzten das Internet, vor allem um Spenden einzuwerben, und Bündnis 90/Die Grünen, SPD, Linke und FDP waren erfolgreich mit Plakatspendenaktionen, bei denen die Bürger über das Internet Standorte von Wahlplakaten bestimmen konnten. Auch die erstmalige intensive Einbindung von Web-2.0-Plattformen im Bundestagswahlkampf 2009 zeigte die gestiegene Bereitschaft der Parteien, mit den Bürgern in den Dialog zu treten (vgl. den Beitrag von Bieber und Schwöbel in diesem Band). Weitaus weniger als in nationalen Wahlkämpfen wird das Web von den Parteien in Europawahlkämpfen eingesetzt. Lusoli (2005a) spricht im Sinne der „Second-Order-Elections“-Annahme vom Internet als „Second-Order-Medium“, dessen Hauptfunktion es sei, den Wähler top-down über die Wahl zum Europäischen Parlament zu informieren. Nichtsdestotrotz waren Informationen auf den Parteienwebsites zur Europawahl 1999 wie auch 2004 nur in sehr geringem Ausmaß online vorhanden. Stark bis völlig vernachlässigt wurden Möglichkeiten der direkten Kommunikation zwischen Wählern und Politikern oder der Involvierung der Bürger in Kampagnenaktivitäten (vgl. u.a. Lusoli 2005b: 158 für Frankreich, Finnland, Ungarn, Großbritannien und Italien; Lusoli/Ward 2005 für Großbritannien). Diese halbherzige Zuwendung zum Europawahlkampf unterstreicht auch eine Analyse der Onlineauftritte finnischer Parteien im EU-Wahlkampf 2004 von Carlson und Strandberg (2005). Auf den elf untersuchten Parteienwebsites wurden nur wenige Elemente eingesetzt, die über die europäischen Parlamentswahlen informierten: Dabei waren Biographien, Issue Positionen sowie ein Kalender am häufigsten vorhanden, gefolgt von Informationen zum Wahlablauf sowie Reden von Politikern und spezifischen Kampagneninformationen (vgl. Carlson/Strandberg 2005: 195). Einen Kontakt zur Parteizentrale gaben alle
Webkampagnen im Vergleich
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finnischen Parteien auf ihren Websites an. Unter den elf Mobilisierungselementen dominierten die Möglichkeit, Mitglied der Partei zu werden, elektronisch zur Verfügung gestelltes Kampagnenmaterial, das offline (‚auf der Straße‘) verteilt werden konnte, sowie die Option, die Partei mit einer Online-Spende zu unterstützen (vgl. ebd.: 196). Kein anderes Bild vermittelt die Strukturanalyse der Homepages der deutschen Parteien, die zum EU-Wahlkampf 2004 antraten (vgl. Schweitzer 2009). Hintergrundinformationen zum EU-Wahlsystem oder zu einzelnen EU-Politikern wurden nur äußerst selten online gestellt, und auf keiner einzigen deutschen Parteienwebsite waren Informationen zu den diversen europäischen Institutionen, z.B. dem EU-Parlament oder der EU-Kommission, zu finden. Hingegen gehörten Wahlprogramme, Veranstaltungshinweise sowie Presseaussendungen zum Standardangebot. Das meistverbreitete direkte Kommunikationselement war die Newsgroup. Die Bürger für den EU-Wahlkampf zu mobilisieren, wurde dagegen völlig vernachlässigt: Gerade einmal auf etwa einem Viertel der Websites wurde die Möglichkeit der Online-Spende und/oder des OnlineWahlkampfhelfers angeboten. Laut Schweitzer ließen bereits die Startseiten deutscher Parteienwebsites zur Bundestagswahl 2002 auf deren Relevanz für große wie kleine Parteien schließen. Trotz allem wurde im zwei Jahre später stattfindenden EU-Wahlkampf das Potential von Websites zur Wählermobilisierung weitaus weniger ausgeschöpft (vgl. ebd.: 28f.). Auch bei den Verlinkungen ist die Europäische Union während der europäischen Parlamentswahlen auf den virtuellen Parteiauftritten (fast) nicht existent.2 Mehr als die Hälfte der untersuchten Homepages verlinkte zu keiner einzigen Website der Europäischen Union, ihrer Institutionen oder Arbeitsgruppen. Hingegen vernetzten 65 Prozent der knapp 5.000 analysierten Links zu nationalen Parteiorganisationen (vgl. ebd.: 29f.). Die Web-Untersuchungen von Bieber (2005: 199) zur Europawahl 2004 unterstützen diese Darstellung: „Die politischen Parteien als wesentliche Träger der Wahlkampfaktivitäten investierten in die Gestaltung der OnlineKampagnen zum Europawahlkampf deutlich geringere Mittel als etwa während Bundestags- oder auch Landtagswahlen.“ Die geringe Einbindung des Webs in Europawahlkämpfe lässt sich zusammenfassend auf einige wenige Faktoren zurückführen. Jankowski et al. (2005: 169) verweisen erstens auf die geringere Relevanz der europäischen Parla2
Demgegenüber haben die Parteienwebsites im Rahmen der jüngsten Bundestagswahlkämpfe sehr wohl zu den verschiedenen Onlineauftritten der Bundesregierung oder des Bundestags vernetzt. So verlinkten beispielsweise SPD und CDU im Jahr 2009 von ihren Parteienwebsites direkt zur Bundesregierung (www.bundesregierung.de), zum Bundestag (www.bundestag.de) und zur Website des Bundespräsidenten (www.bundespraesident.de).
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Uta Rußmann
mentswahlen für die nationale Politik, die dadurch grundsätzlich von einem weniger intensiven Wahlkampf geprägt sind als nationale Wahlkämpfe. Europäer zeigen seit jeher ein geringeres Interesse an EU-Wahlen. Zweitens finden Wahlen zum Europäischen Parlament, laut der Autoren, in der Regel zwischen nationalen Wahlen statt und erregen damit bei den politischen Akteuren weniger Aufmerksamkeit. Schlussendlich ist zu bedenken, dass das Internet für die EUBürger nur eine zusätzliche Informationsquelle über die Wahlen ist. Im Vorfeld der europäischen Parlamentswahlen des Jahres 2004 nutzten gerade einmal 3,5 Millionen Europäer (8 Prozent der Bevölkerung der EU25) das Internet, um sich über die EU-Wahlen zu informieren (vgl. Lusoli 2005b: 252). In Deutschland waren es 11 Prozent der Bürger, die zumindest gelegentlich Wahlkampfinformationen über das Internet wahrnahmen (vgl. Wüst/Roth 2005: 65). 2.2 Websites als Kampagnenmedium Zweifelsohne gehörten Websites im Wahljahr 2009 zum Standardrepertoire der seitens der Parteien eingesetzten Kampagneninstrumente. Im Gegensatz zum klassischen Weg über die Massenmedien erlaubt das Internet den Parteien, Informationen über die Partei und ihre Kandidaten, ihre Themen und Anliegen schnell, kostengünstig und direkt an die Wähler zu vermitteln. Die Parteien können mit den Bürgern in einen direkten Kommunikationsaustausch treten und sie für den eigenen Wahlkampf mobilisieren. Obwohl die obige Auseinandersetzung zeigt, dass deutsche Parteien das Potential des Webs mit jeder bisherigen Wahl stärker in ihre Kampagnenstrategien eingebunden haben, sind die Unterschiede zwischen nationalen und europäischen Wahlkämpfen weiterhin markant. Den Bürgern ein vielfältiges wahlspezifisches Angebot zu den Nebenwahlen zu machen, bleibt eher nebensächlich. Gerade die Informationsvermittlung über die eigene Website bietet den Parteien die Möglichkeit, ohne besonderen Aufwand und zusätzliche Kosten den Bürgern Europas das Thema ‚Europa und die Europäische Union‘ näher zu bringen. Tenscher (2005: 10) weist darauf hin, dass die deutschen Wähler im europäischen Vergleich „am stärksten Europawahlkämpfe massenmedial verfolgen und sich aktiv Informationen suchen“. Zudem zeigt sich, dass die intensive und umfassende Thematisierung der europäischen Parlamentswahlen zu einer gesteigerten Wählerbeteiligung führt (vgl. ebd.: 10f.). Beide Befunde zusammengenommen, bedeutet dies, dass auch dem Internet zukünftig eine stärkere Bedeutung als Informations- und Mobilisierungsmedium in Europawahlkämpfen zukommen dürfte.
Webkampagnen im Vergleich
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Schließlich verweisen aktuelle Befunde zur Mediennutzung im Bundestagswahlkampf 2009 auf die wachsende Rolle des Internet bei der Informationssuche: Zwar ist das Fernsehen weiterhin die Hauptinformationsquelle der Deutschen, wenn es darum geht, sich über den Wahlkampf zu informieren. Allerdings wird in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen dem Internet die gleiche Bedeutung zugemessen wie der Zeitung. Für rund ein Drittel der 18- bis 24Jährigen ist das Internet sogar ein weitaus wichtigerer Informationslieferant im Wahlkampf als die Zeitung. Gerade einmal 7 Prozent nennen die Zeitung als wichtigste Quelle, wenn es darum geht, sich über das Wahlgeschehen zu informieren (vgl. von Pape/Quandt 2010: 394). Für die EU-Wahlen bestätigen die Befunde von Carlson und Strandberg (2005: 201) die Bedeutung des Webs für die jüngeren Generationen, wenn es um die Informationssuche geht: Eine Befragung unter 1.362 Finnen zwischen 18 und 69 Jahren veranschaulicht, dass 18- bis 24-Jährige das Web stärker als traditionelle Massenmedien nutzen, um sich über die Europawahlen zu informieren. Werden diese Befunde auf Deutschland übertragen, so könnte dies bedeuten, dass die deutschen Parteien das Web auch zu den europäischen Parlamentswahlen aktiv nutzen, auf dessen Funktion der Wählermobilisierung setzen und in den virtuellen Dialog mit den Bürgern eintreten. Für die deutschen Parteien muss für die bisherigen EU-Wahlen diesbezüglich mangelndes Bewusstsein oder Desinteresse konstatiert werden. Insofern kann vermutet werden, dass wie im Offline-Wahlkampf (vgl. den Beitrag von Tenscher in diesem Band) das Engagement der Parteien im EU-Wahlkampf hinter jenem bei nationalen Hauptwahlkämpfen zurückbleibt. Dieser Annahme wird an dieser Stelle empirisch auf den Grund gegangen. Auf Basis der oben dargelegten Entwicklungen von Webkampagnen in Bundestags- und Europawahlkämpfen ist zu erwarten, dass die Parteien auch im Wahljahr 2009 hauptsächlich eine top-down information strategy verfolgten und damit vornehmlich das Informationspotential des Internet ausschöpften. Jedoch ist anzunehmen, dass interaktive Elemente zu den Hauptwahlen, der Bundestagswahl 2009, auf den Parteienwebsites eine stärkere Präsenz genossen als zu Nebenwahlzeiten wie dem Europawahlkampf 2009. Nicht nur zeigt die obige Auseinandersetzung, dass die Parteien mit jedem Wahlzyklus stärker auf die Interaktion mit den Bürgern und deren Teilnahme und damit Unterstützung im Wahlkampf setzen, auch lassen internationale Tendenzen vermuten, dass bottom-up communication strategies in den Webkampagnen der Parteien an Bedeutung gewinnen. Zu vermuten ist, dass der erfolgreiche Web-Wahlkampf Barack Obamas bei den U.S.-Präsidentschaftswahlen 2008, auch die deutschen Parteien zu einer intensiveren Zuwendung zum Internet bewegte. Via Web wurden die U.S.-amerikanischen Bürger in den Wahlkampf eingebunden. Die Be-
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Uta Rußmann
reitstellung von Kampagneninformationen schien dabei nur nebensächlich zu sein. Primär ging es darum, die Wähler als Wahlkampfhelfer zu gewinnen und Spenden einzuwerben. Im U.S.-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf wurde dazu massiv auf die diversen Web 2.0-Anwendungen gesetzt. Im ein Jahr später stattfindenden Bundestagswahlkampf waren auch die deutschen Parteien mit Facebook-Profilen, Twitter-Accounts und YouTube-Videos online (vgl. den Beitrag von Bieber und Schwöbel in diesem Band). Vor diesem Hintergrund durchleuchtet die folgende strukturanalytische Untersuchung das Angebot deutscher Parteien auf ihren Websites im Superwahljahr 2009. Dabei werden die folgenden Hypothesen auf den empirischen Prüfstand gestellt: H 1: Die Parteien nutzten Websites als politisches Kommunikationsinstrument im Bundestagswahlkampf 2009 stärker als im Europawahlkampf 2009. H 2: Die insgesamt weniger zum Einsatz kommende bottom-up communication strategy wurde im Vergleich von Haupt- und Nebenwahlkampf auf den Parteienwebsites im Bundestagswahlkampf 2009 stärker verfolgt: Partizipations- und Mobilisierungselemente sollten auf den Parteienwebsites im Bundestagswahlkampf 2009 häufiger zu finden sein als im Europawahlkampf 2009. H 3: Die Parteien verfolgten auf ihren Websites jedoch während beider Wahlkämpfe vornehmlich eine top-down information strategy: Informationselemente dominierten die Websites der politischen Parteien. Partizipationsund Mobilisierungselemente waren weniger intensiv in die Websites eingebunden. 3 Methode und Datengrundlage Um Antworten auf die vorgenannten Fragen und Hypothesen zu geben, werden mit einer Strukturanalyse die Websites deutscher Parteien zur Europawahl 2009 und zur Bundestagswahl 2009 untersucht. Fokussiert wird auf die Onlineauftritte der folgenden sechs Parteien: CDU (www.cdu.de), CSU (www.csu.de), SPD (www.spd.de), FDP (www.fdp-bundespartei.de), Bündnis 90/Die Grünen (www.gruene.de) und Die Linke (www.linksfraktion.de). Die Strukturanalyse folgt dabei den vier zentralen Funktionen des Web-Wahlkampfes: Information, Vernetzung/Integration, Mobilisierung und Partizipation (vgl. u.a. Gibson/Ward 2000; Foot/Schneider 2006):
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x
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x
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Informationsfunktion: Die Informationsfunktion umfasst alle Elemente, die über die Partei, deren Aktivitäten und Handlungen informieren. Dies sind z.B. Informationen über die Geschichte der Partei, zu deren Organisation und Struktur, zum Wahlprogramm und/oder über Parteitage. Über Websites können die Parteien die Bürger direkt informieren, ohne auf die Vermittlerrolle der Massenmedien angewiesen zu sein. Die Informationsvermittlung ist somit weder zeit- noch ortsgebunden. Vernetzungs-/Integrationsfunktion: Politische Akteure vernetzen sich mit anderen Akteuren, indem sie sich über das Web verlinken. Das heißt, mittels Hyperlinks werden zwei oder mehrere Websites miteinander verknüpft, um so das eigene Informations- und Kommunikationsnetzwerk auszubauen und zu stärken. Über solche Verknüpfungen zu anderen Websites können dem Nutzer auf einfachem, schnellem Weg zusätzliche Informationen und ein breites Spektrum an politischen Ansichten und Meinungen angeboten werden. Zu unterscheiden ist hier zwischen internen und externen Verlinkungen: Interne Links verweisen auf Websites mit einem direkten Bezug zum politischen Akteur, von dessen Website verlinkt wird (z.B. Websites der Landesparteien). Externe Links verweisen auf Websites, auf die der politische Akteur, von dessen Website verlinkt wird, keinen Einfluss hat (z.B. Websites von Ministerien oder Medienorganisationen). Mobilisierungsfunktion: Das Web kann die Mobilisierung der Bürger fördern, indem Praktiken eingesetzt werden, mit denen die politischen Akteure die Wähler in den laufenden Wahlkampf einbinden können (z.B. OnlineWahlkampfhelfer, Online-Spende) und die dem Nutzer helfen, dritte Personen für die Partei, deren Anliegen und Ziele zu mobilisieren (z.B. durch das Verschicken von E-Cards oder den Download von Kampagnenmaterialien). Der Online-Wahlkampf öffnet so neue Wege für politische Akteure, ihre Zielgruppen zu erreichen und Wähler im ganzen Land zu mobilisieren. Partizipationsfunktion: Partizipationselemente wie E-Mail, Chat und Foren öffnen den Raum für Diskussionen zwischen Politikern und Wählern sowie unter den Wählern – und dies teilweise sogar in „Echtzeit“. Der interaktive Kommunikationsaustausch durch E-Mail oder Online-Meinungsumfragen hat für die politischen Akteure zudem den Vorteil, Wählermeinungen auf direktem Weg zu erfahren, wenn die Wähler das Web nutzen, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Einige interaktive Diskussions- und Beteiligungsformate wie der Chat lassen die Nutzer durch den wechselseitigen Informations- und Kommunikationsaustausch zudem selbst Inhalte kreieren und damit zum Website-Koproduzenten werden.
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Im Anschluss an bisherige Strukturanalysen (vgl. insb. Gibson/Ward 2000; Foot/Schneider 2006) wurde ein Kategorienschema mit insgesamt 91 Funktionselementen3 entwickelt, mit dem das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein diverser Elemente (wie Wahlprogramme, Presseaussendungen, Informationen über einzelne Politiker, Umfragen, Chat- oder Kontaktmöglichkeiten) in den vier Funktionskategorien überprüft werden kann: 47 Informationselemente, 21 Vernetzungs-/Integrationselemente, 15 Mobilisierungselemente sowie 8 Partizipationselemente. Dem Modell früherer Strukturanalysen (vgl. u.a. Gibson/Ward 2000: 307) folgend, erhält jedes Element für sein Vorhandensein einen Punkt (1) und bei Nicht-Vorhandensein null Punkte (0). Im Anschluss an die Analyse werden die Punkte pro Funktionskategorie addiert und durch die maximale Anzahl an zu codierenden Elementen dividiert. Auf diese Weise errechnet sich pro Funktionskategorie ein Indexwert, der das genutzte Ausmaß der jeweiligen Kategorie abbildet. Ein Indexwert von 1 bedeutet, dass alle Elemente einer Funktionskategorie auf einer Website vorhanden sind. Hingegen verweist ein Indexwert von 0 darauf, dass keines der Funktionselemente auf der Website zu finden ist. Die Werte dazwischen lassen erkennen, inwieweit das Potential der jeweiligen Funktionskategorie ausgeschöpft wurde. Ein solcher Index ermöglicht zum einen eine Qualitätsbewertung der analysierten Parteienwebsites und zum anderen einen quantitativen Vergleich der Websites innerhalb und zwischen den untersuchten Wahlkämpfen.4 Untersuchungsgegenstand sind die ersten drei Ebenen der Websites von CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.5 Die Homepage wird als erste Ebene betrachtet, zu der zusätzlich zwei weitere Ebenen (sprich zwei serielle Links im URL-Schema) analysiert werden. Eine Vollanalyse der Websites scheitert an den Grenzen der Archivierung, d.h. dem grenzenlosen Datenvolumen von Websites. Durch die Untersuchung der ersten drei Ebenen wird zumindest der Versuch unternommen, die Komplexität der Websites stärker zu erfassen als dies in bisherigen Strukturanalysen der Fall ist, die (i.d.R.) 3 4
5
Das vollständige Kategorienschema kann unter www.autnes.at abgerufen werden. Pro Wahlkampf wurde anhand je einer ausgewählten Website ein Reliabilitätstest durchgeführt. Für den Europawahlkampf wurde der Onlineauftritt der CDU von zwei Codierern und für die Bundestagswahl 2009 wurde der Onlineauftritt von Bündnis 90/Die Grünen von drei Codierern analysiert. Intercoder-Reliabilität (nach Holsti, rh): 0,84 bis 1,0. Die Autorin dankt dem Codierer-Team, Andreas Hacker, Manuela Leitner und Juliane Nagiller, sowie Jens Tenscher für die konstruktiven Hinweise bei der Überarbeitung des Beitrags. Analyseeinheit ist die einzelne Parteienwebsite. Maßgebend ist dabei der URL (die Internetadresse). Öffnet sich ein neuer Pfad (url-path) innerhalb des URL-Schemas ist diese Seite (page) inklusive ihres Angebots Teil der Analyseeinheit. Erst wenn sich eine neue Website mit einer neuen URL öffnet, ist diese als eigenständige Analyseeinheit zu betrachten. Deren Angebot ist dann nicht mehr Gegenstand der Untersuchung.
Webkampagnen im Vergleich
107
ausschließlich die Startseite (Homepage) von Websites analysieren. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass Angebote (Elemente), die für die Partei von zentraler Bedeutung sind, relativ schnell für den Nutzer ersichtlich sein sollen und folglich über die ersten Klicks zu erreichen sind. Für die Analyse wurden vier Wochen vor der jeweiligen Wahl die Parteienwebsites wöchentlich archiviert. Dies betrifft die sogenannte „heiße Phase“ des Wahlkampfes. Aufgrund der geringen Schwankungen bezüglich des Vorhandenseins bzw. Nicht-Vorhandenseins der einzelnen Funktionselemente (auf der jeweiligen Parteienwebsite) über diesen Zeitraum werden zur Beantwortung der Forschungsfragen die Befunde der zweiten Woche vor dem jeweiligen Wahltag herangezogen. 4 Die Webkampagnen der deutschen Parteien im Superwahljahr 2009 4.1 Art und Umfang des Angebots auf Parteienwebsites Die Befunde der vergleichenden Analyse der Webauftritte deutscher Parteien im Superwahljahr 2009 verdeutlichen zunächst, dass die Parteien weder im Europawahlkampf noch im Bundestagswahlkampf das Potential des Webs ausschöpften. Belegt wird dies durch die durchschnittlichen Indexwerte der vier zentralen Funktionskategorien, die die sechs Parteien pro Wahlkampf erzielten (vgl. Tabelle 1). Im europäischen und nationalen Wahlkampf konzentrierten sich die Parteien darauf, die Bürger zu informieren und zu mobilisieren – jedoch auf einem eher niedrigen Niveau. Der höchste Indexwert von 0,56 errechnet sich für die Informations- und Mobilisierungsfunktion im Bundestagswahlkampf. Damit schöpften die Parteien die ihnen durch das Web gegebenen Informationsmöglichkeiten (nur) zu 56 Prozent aus. Vernetzungs-/Integrationselemente (Links) und Partizipationselemente waren weitaus weniger auf den Parteienwebsites vorhanden. Dabei vermieden die Parteien insbesondere die Partizipation mit den Bürgern. Der entsprechende mittlere Indexwert der Partizipationsfunktion liegt für die sechs analysierten Parteienwebsites im Europawahlkampf bei 0,29 und im Bundestagswahlkampf bei 0,33. Aus Tabelle 1 ist zudem ersichtlich, dass die Parteien zu den nationalen Wahlen das Potential des Webs stärker ausschöpften und folglich den Wählern ein größeres Angebot unterbreiteten. Damit spiegelt sich die allgemein den zwei Wahlkämpfen von Seiten der Parteien unterschiedlich zugesprochene Relevanz (vgl. den Beitrag von Tenscher in diesem Band) auch in den Webauftritten der Parteien wider. Hypothese 1 kann somit bestätigt werden.
108
Tabelle 1:
Uta Rußmann
Durchschnittliche Indexwerte der vier Funktionskategorien auf den Parteienwebsites zu den Europa- und Bundestagswahlen 2009 (Mittelwerte, n=Anzahl der Elemente auf der Website) Information (n=47)
Vernetzung (n=21)
Mobilisierung (n=15)
Partizipation (n=8)
Gesamt (n=91)
EU-Wahlen
0,40
0,37
0,47
0,29
0,38
CDU (n=36)
0,43
0,29
0,47
0,38
0,39
CSU (n=40)
0,47
0,38
0,40
0,50
0,44
SPD (n=37)
0,36
0,43
0,67
0,13
0,40
FDP (n=31)
0,30
0,38
0,40
0,38
0,36
Grüne (n=32)
0,40
0,33
0,27
0,25
0,31
Die Linke (n=39)
0,45
0,38
0,60
0,13
0,39
BTW-Wahlen
0,56
0,39
0,56
0,33
0,46
CDU (n=52)
0,72
0,29
0,60
0,38
0,50
CSU (n=45)
0,57
0,38
0,40
0,50
0,47
SPD (n=43)
0,45
0,52
0,60
0,25
0,46
FDP (n=40)
0,38
0,38
0,73
0,38
0,47
Grüne (n=44)
0,57
0,38
0,40
0,38
0,43
Die Linke (n=48)
0,64
0,38
0,60
0,13
0,44
Indexwerte von 0 (Minimum) bis 1 (Maximum).
Auch Hypothese 2, die besagt, dass Partizipations- und Mobilisierungselemente auf den Parteienwebsites im Bundestagswahlkampf 2009 häufiger zu finden sind als im Europawahlkampf 2009, trifft zu. Während sich bei der Mobilisierungsfunktion wie auch bei der Informationsfunktion die angenommenen Unterschiede zwischen den zwei Wahlkämpfen deutlich zeigen, sind bei der Partizipationsfunktion sowie bei der Vernetzungs-/Integrationsfunktion jedoch nur marginale Unterschiede ersichtlich. Aufgrund der allgemein bedeutenderen Rolle des Bundestagswahlkampfs liegt zunächst die Vermutung nahe, dass die Differenzen zwischen den zwei Wahlkämpfen auf das größere wahlspezifische Angebot im Bundestagswahlkampf zurückzuführen ist (s.u.). Jedoch haben die Parteien im Zuge der Bundestagswahlen ihre Webangebote generell ausgebaut. Das (im Vergleich zum EU-Wahlkampf) größere Angebot auf den Parteienwebsites zum Bundestagswahlkampf ist damit nicht nur auf den stärkeren Einsatz der wahlspezifischen Elemente zurückzuführen.
Webkampagnen im Vergleich
109
Wie lassen sich nun die relativ großen Unterschiede im Einsatz von Informations- und Mobilisierungselementen zwischen den zwei Wahlkämpfen erklären? Die größten Zuwachsraten beim Informationsangebot zwischen Europaund Bundestagswahlkampf weist die Kanzlerinnenpartei auf (vgl. Tabelle 1): Hier ist der Indexwert um 29 Prozentpunkte gestiegen. 14 weitere Informationselemente (z.B. Suchmaschine zu Parteimitgliedern oder Presseakkreditierung) wurden während des Wahlkampfes zum Bundestag auf der Website der CDU eingesetzt. Im mittleren Feld liegen mit einem um 19 Prozentpunkte höheren Indexwert die Linke sowie mit einem um 17 Prozentpunkte angestiegenen Indexwert das Bündnis 90/Die Grünen. Nur marginale Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenwahlen zeigen sich für FDP (plus 8 Prozentpunkte), SPD (plus 9 Prozentpunkte) und CSU (plus 11 Prozentpunkte). Tabelle 1 verdeutlicht zudem die Zuwachsraten in der Kategorie ‚Mobilisierung‘ für die Hälfte der Parteienwebsites zwischen dem europäischen und dem nationalen Wahlkampf 2009. Hier sticht mit einem um 33 Prozentpunkte gestiegenen Indexwert die FDP hervor. Anzunehmen ist, dass dies auf den späten Relaunch der Parteiwebsite zurückzuführen ist, der erst im August und damit rund zwei Monate nach den EU-Wahlen erfolgte (vgl. Hagen 2009: 34). Bei CDU und Grünen wurde das Mobilisierungsangebot um zwei Funktionselemente erweitert. Der Indexwert für den Bundestagswahlkampf ist hier dementsprechend um 13 Prozentpunkte höher als für den EU-Wahlkampf. Eine negative Tendenz (minus 7 Prozentpunkte) ist für die Website der SPD zu erkennen. Hier wurden nach den EU-Wahlen zwei Mobilisierungselemente (Online-Unterstützungserklärung, Liste von Parteiunterstützern) von der Website entfernt, jedoch kam nur ein weiteres Element (Parteibanner) hinzu. Bei zwei Parteien, CSU und Die Linke, ist für beide Wahlkämpfe die gleiche Anzahl an Mobilisierungselementen auf den Websites zu zählen. Dies heißt jedoch nicht, dass die Parteien im Bundestagswahlkampf dieselbe Mobilisierungsstrategie verfolgten wie im Europawahlkampf. Die Änderungen sind zwar sehr minimal, jedoch existent. So ist während des Europawahlkampfes auf den ersten drei Ebenen der Website der CSU das Element ‚Online-Wahlkampfhelfer‘ zu finden, jedoch nicht das im Bundestagswahlkampf vorhandene Element ‚Plakatwerbung und Poster‘. Auf der Website der Linken betrifft dies (wie bei der SPD) die Elemente ‚Liste von Parteiunterstützern‘ (EU) und ‚Parteibanner‘ (BTW). Interessante Befunde offenbart auch die detaillierte Analyse des Einsatzes der einzelnen Funktionselemente. Tabelle 2 illustriert die Verteilung der vier Funktionskategorien pro Website für beide Wahlkämpfe. Demnach stellten Informationselemente mit 45 bis 65 Prozent das größte Angebot auf den Partei-
110
Uta Rußmann
enwebsites dar. Bis auf die FDP räumten alle Parteien im Bundestagswahlkampf dem Informationsangebot auf ihren Websites einen größeren Platz ein als im Europawahlkampf. Dies geht nicht unmittelbar zu Lasten der anderen Funktionen, sondern liegt vielmehr darin begründet, dass die zur Bundestagswahl zusätzlich eingebauten Elemente auf den Websites der Kategorie ‚Information‘ zuzuordnen sind. Der Anteil von Vernetzungs-/Integrationselementen sowie Mobilisierungselementen lag je nach Partei zwischen 12 und 28 Prozent. Dabei zeigten sich zwischen den beiden Wahlgängen nur minimale Schwankungen auf den einzelnen Parteienwebsites. Partizipationselemente wurden, wie erwartet, von den sechs Parteien gleichermaßen wenig eingesetzt. Deren Anteil machte auf den Websites zwischen 2 und 10 Prozent aus. Tabelle 2:
Verteilung der Funktionselemente auf den Parteienwebsites zu den Europa- und Bundestagswahlen 2009 (in Prozent ) Information (n=47; 52%*)
Vernetzung (n=21; 23%)
Mobilisierung (n=15; 17%)
Partizipation (n=8; 8%)
EU-Wahlen
53%
22%
18%
7%
CDU (n=36)
56%
17%
19%
8%
CSU (n=40)
55%
20%
15%
10%
SPD (n=37)
46%
24%
27%
3%
FDP (n=31)
45%
26%
19%
10%
Grüne (n=32)
59%
22%
13%
6%
Die Linke (n=39)
54%
20%
23%
3%
BTW-Wahlen
58%
18%
18%
6%
CDU (n=52)
65%
12%
17%
6%
CSU (n=45)
60%
18%
13%
9%
SPD (n=43)
49%
25%
21%
5%
FDP (n=40)
45%
20%
28%
7%
Grüne (n=44)
61%
18%
14%
7%
Die Linke (n=48)
62%
17%
19%
2%
* Die Prozentwerte geben das relative Gewicht der Funktionskategorien auf einer Website an, auf der alle 91 möglichen Elemente vorhanden wären.
Obwohl sich in der Analyse der Anteile der vier Funktionselemente über die Parteien und für die zwei Wahlkämpfe ein recht einheitliches Bild zeigt, ergibt
Webkampagnen im Vergleich
111
sich für den Einsatz der diversen Webelemente kein klares Muster. Die strukturanalytische Untersuchung der ersten drei Ebenen der Parteienwebsites lässt deutliche Unterschiede im Einsatz der einzelnen Elemente erkennen: So waren auf den analysierten Websites im Bundestagswahlkampf gerade einmal elf der 47 analysierten Informationselemente auf allen Websites zu finden. Darunter fallen Informationen zu aktuellen Themen, Wahl- und Parteiprogramme, Informationen zur Geschichte sowie Organisation und Struktur der Partei und der Kalender mit Wahlkampfterminen. Unter den Partizipationselementen war lediglich die E-Mail-Option auf allen Parteienwebsites integriert. Einige Parteien gaben den Nutzern zusätzlich die Möglichkeit, Anregungen und Vorschläge an die Partei zu richten. So war beispielsweise während des Europawahlkampfes auf der SPD-Website nur die E-Mail-Funktion vorhanden. Zu den nationalen Wahlen konnten die Bürger dann zusätzlich auch Vorschläge über ein Kontaktformular an die Partei senden. Bei den Linken verlief der Kommunikationsaustausch zu Haupt- und Nebenwahlen ausschließlich über E-Mail. Die Möglichkeit zur direkten Kommunikation zwischen der Partei und den Bürgern sowie unter den Bürgern, z.B. über einen Chat, bot keine Partei an. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Parteien mit ihren Webauftritten in beiden Wahlkämpfen 2009 vornehmlich auf eine top-down information strategy konzentrierten. Damit bestätigt sich die dritte Hypothese. Etwa zwei Drittel der analysierten Funktionselemente erfüllten eine Informationsfunktion. Hierzu werden auch die Links der Vernetzungs-/Integrationsfunktion gezählt, denn diese führen zu zusätzlichen Informationen über die Parteien und ihr Umfeld sowie zu den Wahlen und zur Politik allgemein. Äußerst selten wurden im Jahr 2009 genuin web-spezifische Möglichkeiten genutzt. Dabei vermieden die Parteien insbesondere die direkte und offene Diskussion mit den Wählern. Ersichtlich ist, dass die Parteien in ihren Webkampagnen vornehmlich eine Informationsstrategie von oben nach unten verfolgten. Bottom-up communication strategies wurden nur zögerlich eingesetzt. Der Kommunikationsfluss von den Bürgern zu den Parteien fand somit kaum statt. Durch das Fehlen von offenen Diskussionsmöglichkeiten (z.B. Chat und Diskussionsforen) wurden auch horizontale Kommunikationsprozesse von den Parteien nicht unterstützt. Virtuelle Diskussionen zwischen den Bürgern über Politik und die Wahlen mussten demzufolge zwangsläufig außerhalb der virtuellen Parteiensphäre stattfinden.
112
Uta Rußmann
4.2 Wahlspezifische Angebote auf Parteienwebsites Der obige aggregierte Vergleich von Parteienwebsites überdeckt allerdings, welches wahlspezifische Angebot den Wählern auf den Parteienwebsites in den zwei Wahlkämpfen gemacht wurde. Auch bisherige Studien (vgl. u.a. Lusoli 2005b; Lusoli/Ward 2005; Schweitzer 2009, 2010) haben eine genaue Betrachtung des wahlspezifischen Websiteangebots vernachlässigt. Von den insgesamt 91 analysierten Webelementen können 27 Elemente als spezifisches Kampagnenangebot bezeichnet werden (vgl. Tabelle 3). Ein exemplarischer Vergleich nach den Bundestagswahlen 2009 offenbart, dass im Gegensatz zu den anderen 64 (im Kategorienschema enthaltenen) Elementen, diese 27 Funktionselemente nach der Wahl von den Websites genommen oder stärker verändert wurden, in dem sie mit nicht-wahlkampfspezifischen Inhalten gefüllt wurden. Tabelle 3:
Anzahl der wahlspezifischen Elemente auf den Parteienwebsites zu den Europa- und Bundestagswahlen 2009 (n = 27) CDU
CSU
SPD
FDP
Grüne Die Linke Gesamt
EU-Wahl
7
9
10
4
5
12
47
Bundestagswahl
16
12
13
11
13
17
82
Vor dem Hintergrund bisheriger Entwicklungen in nationalen und europäischen Wahlen (s.o.), wird erwartet, dass das wahlspezifische Angebot auf den sechs analysierten Websites deutscher Parteien zu den Europawahlen geringer ausfiel als zu den Bundestagswahlen. Aus Tabelle 3 ist ersichtlich, dass diese Annahme bestätigt werden kann. Die Anzahl der wahlspezifischen Elemente war (bezogen auf alle sechs Parteienwebsites) im Hauptwahlkampf mit insgesamt 82 Webelementen fast doppelt so hoch wie zu den Nebenwahlen mit insgesamt 47 Funktionselementen. Zu den Hauptwahlen konnte der Wähler das größte Angebot auf der Website der Kanzlerinnenpartei und bei den Linken finden. Die Linken stechen auch zu den EU-Wahlen hervor: So waren auf der Website der Linken umfassende Informationen zu ihrem Europaparteitag am 28. Februar 2009 zu finden. Diese beinhalteten Reden von Parteimitgliedern und eingeladenen Gästen, die Verabschiedung der Bundesliste, Beschlüsse und Live-Berichte vom Europaparteitag. Ein fast genauso großes EU-spezifisches Angebot war auf den Websites von CSU und SPD vorhanden. CDU, FDP und Die Grünen setzten nur sehr wenige EU-wahlspezifische Elemente ein (vgl. Tabelle 4).
Webkampagnen im Vergleich
Tabelle 4:
113
Wahlspezifische Angebote auf den Parteienwebsites zu den Europa- und Bundestagswahlen 2009
Europa-Wahl 2009 BTW 2009 Funktionselemente CDU CSU SPD FDP Grüne Linke CDU CSU SPD FDP Grüne Linke INFORMATIONSELEMENTE Wahlprogramm 1 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 Informationen zu Parteitagen 1 0 1 0 1 1 1 0 1 1 0 1 Informationen zum Spitzenkandidaten/Parteivorsitzenden Biographie und Profil 0 1 0 0 1 1 0 1 1 0 1 1 Reden 0 1 0 0 0 1 0 0 0 0 1 1 Interviews 0 1 0 0 1 0 0 1 0 1 1 0 Artikel 0 1 0 0 0 0 1 1 1 1 1 0 Fotos 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 Wahlkampftagebuch 0 0 1 0 0 0 0 0 1 0 0 0 Tourkalender 0 0 1 0 0 0 1 0 1 0 1 1 Medienauftritte 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 Informationen zur Kampagne/zum Wahlkampf Informationsmaterialen 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 Kampagnen-Nachrichten 0 1 1 1 0 0 0 1 0 0 0 1 Informationen zur Wahlkampftour 0 0 0 0 0 0 1 0 1 1 1 0 Kalender mit Wahlkampfterminen 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 Wahlkampf-Werbung 0 0 0 0 0 0 1 1 0 0 1 1 Fotos von Wahlkampfveranstaltungen 0 0 0 0 0 1 1 1 0 0 1 1 PARTIZIPATIONSELEMENTE Politisches Online-Diskussionsforum Chat mit dem Spitzenkandidaten / Parteivorsitzenden 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Online-Meinungsumfrage 0 1 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 MOBILISIERUNGSELEMENTE Online-Wahlkampfhelfer 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 Online-Unterstützungserklärung 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Liste von Parteiunterstützern 0 0 1 0 0 1 0 0 0 1 0 0 Spenden Spendeninformation 1 0 1 0 0 1 1 0 1 0 0 1 Online-Spendenaktion 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 Friendraising 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Kampagnen- und Werbematerialen Kampagnenmaterial 0 1 1 1 0 1 1 1 1 1 0 1 Parteibanner 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 1 Plakatwerbung und Poster 0 0 0 0 0 1 1 1 0 1 0 1
Aus Tabelle 4 ist ersichtlich, dass von den 16 wahlspezifischen Informationselementen auf den Websites aller Parteien im Bundestagswahlkampf das Wahlprogramm und ein Kalender mit Wahlkampfterminen existierten. Ansonsten dominierten Artikel über den Spitzenkandidaten (5 von 6 Websites). Auch In-
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formationen zu Parteitagen, Biographie/Profil und Tourkalender des Spitzenkandidaten sowie Informationen zur Wahlkampftour, Wahlkampfwerbung und Fotos von Wahlkampfveranstaltungen (4 von 6 Websites) wurden häufig eingesetzt. Hingegen war zur EU-Wahl nur ein Informationselement auf vier Parteienwebsites vertreten, nämlich Informationen zu Parteitagen, sowie zwei Informationselemente (Biographie/Profil der Kandidaten und KampagnenNachrichten) auf jeweils drei Websites. Die Analyse der wahlspezifischen Mobilisierungselemente macht die wachsende Bedeutung der Wählermobilisierung deutlich. Denn von den 27 untersuchten wahlspezifischen Elementen war als einziges Element die OnlineSpendenaktion im EU- und im Bundestagswahlkampf auf allen Parteienwebsites zu finden. Mit Ausnahme der Website der CSU im Bundestagswahlkampf trifft dies auch auf das Element ‚Online-Wahlkampfhelfer‘ zu. Eine detaillierte Betrachtung der zwei wahlspezifischen Partizipationselemente (Chat mit Spitzenkandidat der Partei und Online-Meinungsumfrage) unterstreicht einmal mehr das oben beschriebene Bild: Den Bürgern wurde kaum die Chance gegeben, sich den Parteien und ihren Politikern mitzuteilen. Nur auf der Website der CSU wurden in jedem Wahlkampf die Bürger nach ihrer Meinung gefragt. Dabei ging es in der Umfrage im Europawahlkampf um die Themensetzung durch die Partei („Welches ist Ihrer Ansicht nach das wichtigste Thema, bei der die EU sich stärker engagieren sollte?“) und das Themeninteresse der Bürger wurde erkundet („Die CSU versteht sich als Interessenvertretung Bayerns in Europa. Welches Thema ist Ihnen wichtig?“). Für die Teilnahme an der Abstimmung war jedoch eine Registrierung erforderlich. Als positives Beispiel der Präsentation des wahlspezifischen Angebots ist die Website der CSU zu nennen. Hier konnte der Nutzer gleich auf der Startseite in der Menüleiste (an zweiter Stelle) den Menüpunkt Europawahlen finden (vgl. Abbildung 1). Ohne intensiv auf der Website suchen zu müssen, konnte der Bürger einen Überblick über die Kandidaten (Biographie und Profil), Informationen zur Europapolitik der CSU, aktuelle Meldungen und einen Link zur CSU im Europaparlament (www.csu-europagruppe.de) erhalten. Zudem wurde dem Wähler die Möglichkeit gegeben, seine Meinung zu bestimmten Themen zu hinterlassen (Umfrage) und im Forum untereinander und mit den CSUEuropaparlamentskandidaten über europapolitische Fragen und Entwicklungen der EU zu diskutieren. Im Parteienvergleich ist das EU-spezifische Angebot der CSU zudem als eher umfangreich zu beschreiben. Auffällig in der Analyse der Websites im Europawahlkampf ist, dass die Parteien sehr häufig zu internen wie externen Websites verlinkten, deren Angebot sich ausschließlich um die EU-Wahlen 2009, Europa und/oder die Europäi-
Webkampagnen im Vergleich
115
sche Union drehten. So wurde von der Website der CDU zu www.cdu-csu-ep.de verlinkt, die Grünen vernetzten zu http://europeangreens.eu sowie http://greensefa.org, die CSU zu www.csu-europagruppe.de und die FDP zu www.fdp-ineuropa.de. Allerdings waren diese Links – mit Ausnahme der FDP – nicht zentral auf der Startseite (Homepage) der Parteienwebsites angebracht und damit über die Website der Bundespartei nur schwer zu finden. Abbildung 1:
Website der CSU zum Europawahlkampf 2009
Zusammengefasst untermauert auch der Vergleich der wahlspezifischen Angebote, dass sich die Parteien den vergangenen Wahlen um Europa nur beiläufig zuwandten. Schließlich entpuppte sich das wahlspezifische Web-Angebot zur nachfolgenden Bundestagswahl als weitaus vielfältiger.
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5 Fazit Webkampagnen, so lässt sich durchaus sagen, wurden in nationalen und europäischen Wahlkämpfen von den deutschen Parteien noch nie derartig viel Aufmerksamkeit geschenkt wie im Superwahljahr 2009. Ausschlaggebend für die Internet-Euphorie war wohl der vielfältige Einsatz des Webs im U.S.-Präsidentschaftswahlkampf 2008, in dem Kandidaturen über YouTube (Hillary Clinton) bekannt gegeben wurden und der spätere U.S.-Präsident Barack Obama seinen Siegeszug über das Internet antrat. Trotz allem, so scheint es, haben die deutschen Parteien (und Politiker) im Superwahljahr 2009 das Web noch lange nicht so intensiv eingesetzt wie ihre US-amerikanischen Pendants. Der mögliche Einfluss der U.S.-Webkampagnen (insb. der Präsidentschaftskandidaten) auf die Webkampagnen (von Parteien wie auch Spitzenkandidaten) in europäischen Wahlen sollte in künftigen ländervergleichende Studien stärker Beachtung finden. Zwar zeigen die Befunde der Strukturanalyse der Websites der politischen Parteien im Vorfeld der Europawahl am 7. Juni 2009 und der Bundestagswahl am 27. September 2009, dass viele Möglichkeiten des Webs zur Mobilisierung der Wähler noch ungenutzt blieben. Nichtsdestotrotz ergriffen die deutschen Parteien im Wahljahr 2009 die Chance, die Wähler über ihre Websites für sich zu mobilisieren, in einem vorher nicht gekannten Ausmaß. Dabei vertrauten im Europa- und Bundestagswahlkampf 2009 alle Parteien hauptsächlich auf eine top-down information strategy. Diesbezüglich setzten die politischen Kontrahenten unterschiedliche Strategien ein. Denn obwohl sich für den Anteil der vier zentralen Funktionen auf den Parteienwebsites im Parteien- und sogar im Wahlkampfvergleich ein recht einheitliches Bild herauskristallisiert, zeigt sich für den Einsatz der den jeweiligen Funktionen zugeordneten diversen Webelemente kein klares Muster über alle Parteien hinweg. Künftige Untersuchungen sollten diesem Befund nachgehen und die durch die Parteien eingesetzten OnlineStrategien aufdecken. Dazu ist jedoch ein erweitertes Methodendesign nötig (s.u.), das die hinter den Webkampagnen stehenden Kommunikationsprozesse und -intentionen aufzudecken hilft. Dem Einsatz von Partizipationselementen steht wohl noch immer die Befürchtung der Wahlkampfverantwortlichen im Weg, die durch die Wähler in den Umlauf gebrachte Kommunikation nicht mehr kontrollieren zu können. Bottomup communication strategies werden von den Parteien entsprechend nur zögerlich eingesetzt. Dabei sind es gerade diese neuen Möglichkeiten, die das Web auszeichnen. Der schnelle und direkte Kommunikationsaustausch mit den Bürgern verbindet und könnte die Menschen den Parteien vielleicht auch etwas näherbringen. Letzteres würde voraussetzen, dass die Parteien in Chats oder
Webkampagnen im Vergleich
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Diskussionsforen den Bürgern (zumindest) das Gefühl geben, ihrer Meinung Gehör zu verschaffen. Doch hat sich diese Art der Direktkommunikation in den zurückliegenden Wahlkämpfen bislang zumeist auf den Austausch via E-Mail beschränkt. Obwohl deutsche Parteien das Web mit jeder bisherigen Wahl stärker in ihre Kampagnenstrategien eingebunden haben, sind die Unterschiede zwischen Bundestagswahlen und EU-Wahlen weiterhin markant. Wie bereits in früheren Wahlen zum Europäischen Parlament zeigt sich auch bei der EU-Wahl 2009 eine eher halbherzige Zuwendung zum Webwahlkampf durch die Parteien. Die Parteien sind nicht sehr bemüht darin, den Bürgern Deutschlands das Thema ‚Europa‘ näher zu bringen. Die deutschen Parteien sind hier durchaus keine Ausnahme, sondern ähneln vielmehr jenen anderer etablierter EU-Länder (z.B. Carlson/Strandberg 2005; Lusoli/Ward 2005), bei denen das EU-spezifische Angebot auf den Parteienwebsites ebenfalls als „übersichtlich“ zu beschreiben ist. Die vorliegenden Befunde unterstreichen, dass die wenigen wahlspezifischen Elemente auf den Websites immer wiederkehren. Im deutschen EUWahlkampf 2009 fanden sich wie bereits 2004 auf den deutschen Parteienwebsites überwiegend Biographien und Profile (Kandidatenlisten), Wahlprogramme und Kampagnen-Nachrichten. Zur Mobilisierung der Wähler wurden am häufigsten die Elemente ‚Online-Wahlkampfhelfer‘ und ‚Online-Spendenaktionen‘ sowie elektronisch zur Verfügung gestelltes Kampagnenmaterial eingesetzt. Deutlich wurde, dass die Parteien den EU-Webkampagnen weitaus weniger Aufmerksamkeit schenken als Bundestags-Webkampagnen. Wie für die OfflineKampagnen lässt sich demnach auch für die Online-Kampagnen sagen, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament aus Sicht der Parteien nicht mehr als Nebenwahlen darstellen. Für das Wahljahr 2009 kann aufgrund der vorliegenden Befunde zudem vermutet werden, dass die EU-Webkampagnen (wie auch die bei den diversen Landtagswahlkämpfen des Jahres 2009) vor allem als Vorlauf für die Bundestagswahl im Herbst genutzt wurden. Der Einsatz „bewährter“, veränderter und neuer Funktionselemente wurde gewissermaßen vorab getestet. Websites werden von den Parteien seit nunmehr zehn Jahren in Wahlkämpfen eingesetzt und obwohl diese mittlerweile zum Standardrepertoire der Parteienkampagnen gehören, erfordert der routinierte Einsatz einiger Elemente eine gewisse Erfahrung. Denn das Knowhow über die Strategien und Prozesse von Webkampagnen muss auch von den Parteien erst einmal erlernt werden und dies erfordert in der Regel eine gewisse Zeit. Zudem bietet das Web aufgrund der ständigen technischen Neuerungen mit jeder Wahl mehr Spielraum. Im Superwahljahr 2009 entwickelten sich die Parteienwebsites wieder einen Schritt weiter hin zu multifunktionalen Drehscheiben. Dieser Prozess dürfte
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sich weiter beschleunigen und die Webkampagnen sich dadurch schneller als die Offline-Bemühungen der Parteien verändern. Dazu trägt zum einen die ständig wachsende Zahl an Informations- und Kommunikationsmedien bei. Die Parteien bauen rund um ihre Parteienwebsites ein intensives Informations- und Kommunikationsnetzwerk auf. Vernetzungen zu Kampagnenportalen (z.B. die Plattform der SPD Wahlkampf 09) und der erstmalige und gleich massive Einsatz diverser Social Network Sites (vgl. den Beitrag von Bieber und Schwöbel in diesem Band) sind hier zu nennen. Darüber hinaus ist diese Entwicklung von sozialen Veränderungen getragen, denn die heute Jungen sind die Wähler der Zukunft, die in und mit einer interaktiven Web-Welt aufwachsen. Ihre Aufmerksamkeit gewinnt man jedoch nur in begrenztem Maße durch ein einseitiges Informationsangebot. Die in bisherigen Wahlkämpfen stark bis völlig vernachlässigten Möglichkeiten der direkten Webkommunikation zwischen Wählern und Politikern sowie Elemente, die die Bürger in diverse Kampagnenaktivitäten involvieren, werden vermutlich künftig eine attraktive Webkampagne auszeichnen. Bei der Untersuchung von Webkampagnen muss diesen Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven Rechnung getragen werden. Hinsichtlich der Methode ist zu bedenken, dass jedes Kategoriensystem nur eine Momentaufnahme darstellt; der schnelle technologische Wandel lässt immer wieder neue Möglichkeiten und damit Funktionselemente entstehen. Dass diese (zumindest teilweise) zum Einsatz kommen, belegt im Superwahljahr 2009 der Web 2.0-Hype. Jede Weiterentwicklung von Kategoriensystemen wie jenes in der vorliegenden Untersuchung muss demzufolge der Schnelllebigkeit des Webs Rechnung tragen. Werden die bisherigen Entwicklungen betrachtet, kann angenommen werden, dass einige Elemente auch weiterhin zum ‚Grundgerüst‘ von Kategorienschemata für Web-Strukturanalysen gehören werden, andere, z.B. das Gästebuch, werden jedoch wohl von innovativeren Elementen abgelöst werden. Die technischen und medialen Veränderungen müssen besonders bei Langzeitvergleichen bedacht werden, auf die künftige Untersuchungen stärker fokussieren sollten. Nur über Querschnitts- und Longitudinalstudien (d.h. Länderund Wahlvergleiche) kann die Forschung schließlich die Entwicklungen des Web Campaignings und dessen Einbettung in die Wahlkampagnen der Parteien erklären. Gerade aufgrund der vielfältigen Spielräume, die das Web eröffnet, stellt sich dabei vor allem die Frage, ob sich die Webkampagnen der Parteien in ein und dieselbe Richtung entwickeln oder ob sich nicht doch unterschiedliche Strategien bewähren. Werden kleine Parteien aufgrund der geringeren Präsenz in den klassischen Massenmedien mit der Zeit das Web stärker in Anspruch nehmen als große Parteien? Konzentrieren sich Parteien mit einer eher jüngeren
Webkampagnen im Vergleich
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Wählerschaft stärker auf neue Webangebote? Wird mit wachsender Erfahrung die Angst vor dem Kontrollverlust kleiner, was die Vernetzung ebenso wie bottom-up communication strategies befördern würde? Dies sind einige der Fragen, mit denen sich die politische Web-Forschung in Zukunft beschäftigen dürfte. Um Strategien und Prozesse von Webkampagnen abbilden zu können, sollten schließlich zukünftige Studien weniger einzelne Aspekte von Webkampagnen (z.B. Website-Analysen, Web-2.0-Untersuchungen) betrachten, wie dies noch immer der Fall ist und auch für die vorliegende Untersuchung gilt. Vielmehr sollte eine integrative Betrachtung der Webkampagnen im Gesamtprozess ‚Parteienkommunikation‘ stattfinden. Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die Parteien der Erforschung ihrer (Web-)Strategien gegenüber weiter öffnen würden. Auch hier scheint jedoch ein Kontrollverlust befürchtet zu werden. Um den tatsächlichen Einfluss von Webkampagnen auf die Wählerbeteiligung und Wahlentscheidungen der Bürger zu verstehen, sollte zudem die Zuwendung und Nutzung unterschiedlicher Webfunktionen seitens der Bürger untersucht werden. Denn die allgemeine Frage nach der Nutzung von Parteienwebsites im Wahlkampf, die sich bislang (wenn überhaupt) in Wahlumfragen findet, gibt nur wenig Aufschluss über den Erfolg oder Nicht-Erfolg des Webs als Kampagneninstrument. Angesichts dieser Desiderata und der zu erwartenden zukünftigen Entwicklung des Webs als politisches Kommunikations- und Kampagneninstrument gilt es schließlich, die Position, Funktion und Wirkungen des Internet aus Sicht der Parteien und der Rezipienten weiter zu beleuchten. 6 Literatur Bieber, Christoph (2002): Online-Wahlkampf 2002. Formate und Inhalte der digitalen Politikarena. In: Media Perspektiven 6, 277-283. Bieber, Christoph (2005): Europawahlkampf im Internet. In: Tenscher, Jens (Hg.): WahlKampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament 2004. Wiesbaden: VS, 195-210. Carlson, Tom/Strandberg, Kim (2005): The 2004 European Parliament Election on the Web. Finnish Actor Strategies and Voter Responses. In: Information Polity 10 (3/4), 189-204. Foot, Kirsten A./Schneider, Steven M. (2006): Web Campaigning. Cambridge, MA: MIT Press. Gibson, Rachel/Ward, Stephen (2000): A Proposed Methodology for Studying the Function and Effectiveness of Party and Candidate Web Sites. In: Social Science Review 18 (3), 301-319.
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Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009: Länderübergreifende und ebenenspezifische Befunde Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
1 Einleitung Im Verlauf von Wahlkämpfen spielen nicht nur Parteien und die Massenmedien eine entscheidende Rolle für Erfolg und Misserfolg, sondern auch individuelle Kandidatinnen und deren persönliche Kampagnenaktivitäten.1 Bislang haben in erster Linie Spitzen- oder Präsidentschaftskandidatinnen im Fokus wissenschaftlicher Analysen gestanden (vgl. Hacker 1995; Campbell 2000; Filzmaier/Plasser 2001; Brettschneider 2002), aber auch Personen, die ‚nur’ um Stimmen und in der Folge Sitze im Parlament kämpfen, spielen eine wichtige Rolle für den Wahlausgang. Eben jene Individuen – und weniger die Parteien an sich – geben Informationen an potentielle Wähler weiter, diskutieren konkret über inhaltliche Fragen und (re-)etablieren die Verbindung zwischen Wählerschaft und Parteien. Bei Europawahlen, die allgemein als nationale Nebenwahlen charakterisiert werden (vgl. Reif/Schmitt 1980), könnte diese Rolle von besonders großer Relevanz sein. Europawahlkampagnen werden als generell wenig intensiv beschrieben (vgl. Cayrol 1991) und auch die Medienaufmerksamkeit ist eher gering (vgl. Maier/Tenscher 2006; de Vreese et al. 2007). Die Aktivitäten der Kandidatinnen könnten daher zu einer stärkeren Politisierung der EU, vor allem mit Blick auf Europawahlen, beitragen. Leider liegen bislang kaum komparative Studien über individuelle Wahlkämpfe bei Europawahlen vor, so dass wir über diese relevante Komponente des Wahlprozesses wenig aussagen können. Mit dem vorliegenden Beitrag soll etwas Licht ins Dunkel individueller Europawahlkämpfe gebracht werden. Während bereits einige funktionale Aspekte individueller Wahlkämpfe in Mehrheitswahlsystemen identifiziert wurden (vgl. u.a. Denver et al. 2003, 2004), existiert in Bezug auf Verhältniswahlsysteme weit weniger Klarheit. Da seit 2005 jedoch in allen Mitgliedsstaaten der EU Verhältniswahlsysteme Anwen1
Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Beitrag grundsätzlich die weibliche Form verwendet (Kandidatin, Wählerin usw.). In jedem Fall sind dabei Personen beiderlei Geschlechts gemeint.
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dung finden (vgl. Wüst/Tausendpfund 2009) und ohnehin die Mechanismen der Europawahlkämpfe kaum untersucht wurden, besteht hier ein Forschungsdesiderat.2 Im Rahmen dieses Beitrags soll versucht werden, an die Vorgehensweisen und Ergebnisse von Wahlkampfstudien nationaler Wahlen anzuknüpfen. Aufgrund der wenigen Forschungsergebnisse über individuelle Europawahlkämpfe wird dabei allerdings zu einem gewissen Grad auch einer explorativen Strategie gefolgt, um zwei Leitfragen zu beantworten: 1. 2.
Welche Faktoren determinieren die Ausgestaltung individueller Wahlkämpfe bei Europawahlen? Handelt es sich bei Europawahlkampagnen tatsächlich um Kampagnen zweiter Ordnung?
Zusammengefasst ist es das Ziel dieses Beitrags, zum einen die Varianz verschiedener Elemente – Intensität und genutzte Instrumente – europäischer Wahlkampagnen und deren Determinanten zu identifizieren. Zum anderen werden in einem zweiten Schritt die Ausprägungen derselben Elemente für die deutschen Kandidatinnen bei der Europawahl 2009 und der Bundestagswahl 2009 kontrastiert, um eventuell vorhandene Nebenwahlcharakteristika aufzuzeigen (vgl. auch Tenscher 2007). Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgt mithilfe der Kandidatenstudie zur Europawahl 2009, der 2009 European Election Candidate Study (vgl. EES 2010; Giebler et al. 2010; Giebler/Weßels 2010) und der Deutschen Kandidatenstudie 2009, die im Rahmen der Deutschen Wahlstudie 2009, GLES, durchgeführt wurde (vgl. German Longitudinal Election Study 2010). Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zunächst wird ein Analyseraster für Wahlkampagnen unter besonderer Berücksichtigung elementarer Bestandteile der Europawahlen vorgestellt (Kap. 2). Daran schließt die Präsentation verschiedener potentieller Determinanten individueller Wahlkämpfe an, wobei Faktoren auf drei Ebenen – Mikro- (Kandidatinnen), Meso- (Parteien) und Makroebene (Länder) – herangezogen werden (Kap. 3). Nach einer Beschreibung der Datengrundlage und der Operationalisierung (Kap. 4) erfolgen in einem ersten Schritt die Identifikation der Varianz von Wahlkampagnen sowie statistische Analysen zur Überprüfung der Erklärungskraft einzelner Faktoren (Kap. 5). In einem weiteren Abschnitt werden dann nationale und europäische Wahlkämpfe von 2
Eine Untersuchung von Norris (1997: 228f.) zu den Europawahlen 1994 stellt hier mit Blick auf wenige analytische Aspekte eine Ausnahme dar; hier kann vor allem ein Zusammenhang zwischen dem Zeitaufwand im Wahlkampf und dem Wahlerfolg nachgewiesen werden.
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Kandidatinnen des Jahres 2009 in Deutschland kontrastiert (Kap. 6). Abschließend werden die zentralen Ergebnisse der Analysen zusammengefasst (Kap. 7). 2 Ein Analyseraster für Wahlkämpfe Politische Parteien konkurrieren um Aufmerksamkeit, um die Hoheit im politischen Diskurs und nicht zuletzt um öffentliche Unterstützung in Form von Wählerstimmen. Unterschiedliche Strategien werden zum Erreichen dieser Ziele gewählt und die eingesetzten Ressourcen variieren nicht nur zwischen Ländern, sondern auch zwischen Parteien und zwar unabhängig davon, ob es sich um nationale oder europäische Wahlen handelt (vgl. Tenscher 2007). Eine weitere Quelle der Varianz wurde bislang – vor allem in vergleichenden Studien – vernachlässigt: individuelle Kandidatinnen, also die „Mikroebene des Wahlkampfs“. Diesbezüglich sind in erster Linie drei Komponenten für eine Evaluation von Wahlkämpfen zu berücksichtigen: Dauer, Intensität sowie eingesetzte Wahlkampfaktivitäten und -instrumente. Es ist offensichtlich, dass die Dauer bzw. der Beginn von Wahlkämpfen primär durch rechtliche Rahmenbedingungen beeinflusst wird, wie etwa durch den spätmöglichsten Abgabetermin für Wahllisten. Verschiedene rechtliche Rahmenbedingungen für zeitliche Abläufe oder Finanzierung wurden für nationale Wahlen bereits identifiziert (vgl. Plasser/Plasser 2000: 137ff.). Unglücklicherweise existiert eine ähnlich umfassende Zusammenstellung nicht für Europawahlen, was eine Analyse der Dauer der Wahlkämpfe erschwert. Im Folgenden muss deshalb auf eine Untersuchung dieser Komponente der Wahlkämpfe verzichtet werden.3 Wahlkampagnen können früh beginnen und lang andauern, ohne gleichzeitig intensiv zu sein. Es kann aber erwartet werden, dass gerade jene Intensität ein guter Maßstab für individuelle Anstrengungen der Kandidatinnen darstellt. Dabei scheint es sinnvoll, die Intensität auf unterschiedliche Weise zu erfassen (vgl. Hobolt 2009: 92f.). In diesem Beitrag wird deshalb sowohl auf den Aufwand zeitlicher wie auch finanzieller Ressourcen für die Messung der Intensität zurückgegriffen. Vorangegangene Studien zeigten, dass es bezüglich dieser 3
Zumindest liegen vergleichende Informationen über den spätmöglichsten Abgabetermin der Wahllisten für jedes Land vor (vgl. Robert Schuman Foundation 2009). Unter Bezugnahme auf diese Informationen können zentrale Zeitpunkte des Wahlkampfes, Nominierung der Kandidatinnen, Organisation der Wahlkampagne und Beginn des Wahlkampfes, zumindest für alle 27 EU-Mitgliedsstaaten verglichen und eingeordnet werden. Eine entsprechende Darstellung findet sich bei Giebler und Wüst (2011).
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Maßzahlen deutliche Varianz zwischen Parteien gibt (vgl. Wüst et al. 2006: 425f.). Vor diesem Hintergrund können analog nicht nur Unterschiede nach Parteien, sondern auch nach Ländern erwartet werden. Zeitlicher und finanzieller Aufwand können und werden für unterschiedliche Wahlkampfaktivitäten, die von eher klassischen Instrumenten wie Straßenwahlkampf bis hin zu neueren Entwicklungen wie Online-Chats mit (potentiellen) Wählern reichen, variieren. Einschlägige Arbeiten im Kontext der Wahlkampfforschung weisen die verwendeten Instrumente und durchgeführten Aktivitäten drei Idealtypen zu (vgl. u.a. Norris 2000; Plasser/Plasser 2000): vormodern, modern und postmodern. In vormodernen Wahlkämpfen werden keine elektronischen Wahlkampfinstrumente genutzt. Die Kommunikation zwischen Parteien bzw. Kandidatinnen und der Wählerschaft ist zum einen statisch (über Flugblätter, Plakate usw.), zum anderen aber auch interaktiv (vor allem in der Form persönlicher Gespräche auf öffentlichen Straßen und Plätzen sowie durch Hausbesuche). In modernen Wahlkämpfen gibt es kaum noch direkte Interaktion mit Wählerinnen. Elektronische Medien, Radio und Fernsehen, sind die dominanten Wahlkampfmittel eines folglich statischen und unidirektionalen Wahlkampfs. Postmoderne Wahlkämpfe lassen sich dagegen durch eine Wiederbelebung interaktiver Kommunikation charakterisieren (vgl. Römmele 2002; Ward 2003), primär durch das Aufkommen und die Entwicklung solcher Kommunikationsinstrumente über das Internet. Anhand dieser Typologie wurden bereits Kriterien für postmoderne Kampagnen auf der Ebene der Parteien entwickelt (vgl. Farrell/Webb 2000; Gibson/ Römmele 2009), die sich jedoch nur begrenzt auf die individuelle Ebene der Kandidatinnen übertragen lassen. Obwohl in Wahlkämpfen zunehmend von postmodernen Wahlkampfmitteln Gebrauch gemacht wird, erscheint es unwahrscheinlich, dass diese vormoderne oder moderne Instrumente und Aktivitäten völlig verdrängt haben. In jedem Fall ist die tatsächliche Bandbreite genutzter Mittel einzelner Kandidatinnen kaum erforscht. In diesem Beitrag soll kontrastierend die Nutzung wichtiger Wahlkampfmittel der beiden Extremtypen – vormodern und postmodern – analysiert werden.4 Vorangegangene Forschung fokussierte entweder auf Parteien als Ganzes und/oder beschränkte den Analyserahmen auf Internetauftritte und/oder nutzte keine komparativen Daten. Die Daten der 2009 EECS und der Deutschen Kandidatenstudie 2009 der GLES – sowie die Möglichkeit, diese direkt zu kontrastieren – erlauben es jedoch nicht nur erstmalig, Vergleiche vorzunehmen, sondern darüber hinaus auch, neueste 4
Die Anzahl der modernen Kampagnenmittel, die in beiden zugrunde liegenden Datensätzen abgefragt wurden, ist zu gering, um diesen Kampagnentyp zu analysieren.
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Formen des Wahlkampfs, wie etwa die Nutzung virtueller social networks, in der Analyse zu berücksichtigen. 3 Erklärungen für Unterschiede individueller Wahlkampfaktivitäten Wahlkämpfe in parlamentarischen Regierungssystemen, zu denen auch Europaund Bundestagswahlkämpfe zu zählen sind, werden in erster Linie als Parteiwahlkämpfe verstanden (vgl. Norris et al. 1999). In der Konsequenz sollten sich Kampagnen von Partei zu Partei unterscheiden, was sich auch empirisch nachweisen lässt (vgl. Gibson/Römmele 2001; 2009). Kandidatinnen stellen zwar die Analyseeinheit dieses Beitrages dar, da sie jedoch verschiedenen Parteien angehören, sind Unterschiede in den Wahlkampagnen aufgrund von Parteicharakteristika zu erwarten. Eine erste mögliche Determinante stellt die Rolle der Partei bei der Kandidatinnennominierung dar. Mit der Ausnahme von Ländern mit Single Transferable Vote (STV), wie Malta, Irland und Nordirland, oder offenen Listen (Finnland), stellen Parteien nationale bzw. regionale Kandidatinnenlisten auf. Eine solche Nominierung kann durch die Parteispitze, durch ernannte Parteimitglieder, durch Delegierte, Parteimitglieder oder durch die Wählerinnen selbst erfolgen. Eben jene Nominierungsregeln haben, wie etwa Gallagher und Marsh (1988) oder Hix (2004: 198f.) zeigen, Einfluss auf verschiedene Bereiche, z.B. innerparteiliche Kohäsion oder die endgültige Zusammensetzung des Parlaments. Daran anschließend wird an dieser Stelle ein Zusammenhang zwischen der Art der Nominierung und der individuellen Motivation im Wahlkampf, also primär in Bezug auf die Intensität der spezifischen Kampagne, erwartet. Dabei ist anzunehmen, dass Nominierung durch die Parteispitze oder durch ein nicht gewähltes Gremium tendenziell eine Kartellstruktur widerspiegelt, die zu geringeren Wahlkampfaktivitäten der so nominierten Kandidatinnen führen sollte. Nach dem „second-order“-Ansatz (vgl. u.a. Reif/Schmitt 1980; Reif 1984; Oppenhuis et al. 1996; Hix/Marsh 2007) haben kleine, extreme und Parteien in der Opposition größere Erfolgschancen bei Europa- als bei nationalen Wahlen. Die Wählerschaft ist eher zu „voting with the heart“ (Oppenhuis et al. 1996: 301) geneigt oder bestraft gezielt Regierungsparteien bei den als weniger relevant wahrgenommenen Europawahlen für ihre nationale Performanz (vgl. Reif 1984: 13f.; Marsh 1998: 593; van Egmond 2007: 47f.). Vor diesem Hintergrund sollten die Anreize für kleine und extreme Parteien, einen intensiven und umfassen-
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den Wahlkampf zu betreiben, hoch sein.5 Nichtsdestotrotz können große und/ oder Regierungsparteien meist auf mehr Ressourcen für Kampagnen zurückgreifen und sie sind häufig organisatorisch stärker professionalisiert, was sich in der Nutzung verschiedenster Kampagnenmittel niederschlagen könnte. Inhaltliche Parteipositionen, insbesondere in Bezug auf die klassische Links/Rechts-Achse und auf Fragen der europäischen Integration, sind nicht nur relevante Dimensionen der politischen Arena „Europa“ (vgl. Thomassen/ Schmitt 1999: 257f.; Hix et al. 2006; Wüst/Tausendpfund 2009), sondern können auch den Wahlerfolg der Parteien beeinflussen (vgl. Ferrara/Weishaupt 2004; van Egmond 2007: 48). Es wäre somit denkbar, dass bestimmte Positionen auch mit einer bestimmten Wahlkampfform oder -ausrichtung assoziiert sind. Obwohl Parteicharakteristika durchaus in der Lage erscheinen, Varianz zwischen den Kandidatinnen zu erklären, gibt es gute Gründe, ebenfalls nach Erklärungsfaktoren auf anderen Ebenen zu suchen. Tatsächlich können verschiedene plausible Determinanten auf der Mikro- und Makroebene identifiziert werden. Auf der Ebene der Mitgliedsstaaten ist zu allererst festzuhalten, dass es sich bei den Europawahlen keinesfalls um eine einzige, transnationale Wahl handelt, sondern vielmehr separate Wahlen zum Europäischen Parlament in 27 Ländern stattfinden. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der Anwendung unterschiedlicher Wahlsysteme aus. Überträgt man Erkenntnisse von nationalen Wahlkämpfen (vgl. Swanson/Mancini 1996; Plasser/Plasser 2000), so kann vermutet werden, dass entsprechende Effekte auch durch sozioökonomische oder kulturelle Faktoren verstärkt oder dass Unterschiede auf das Alter der Demokratie zurückgeführt werden können. Über die länderspezifische Kampagnentradition hinaus sollte das politische Gewicht der Europawahl, nicht zuletzt bedingt durch deren Position im nationalen Wahlzyklus (vgl. u.a. Reif/Schmitt 1980; Oppenhuis et al. 1996), einen Effekt auf Wahlkampfstrategien besitzen. Im Anschluss an Studienergebnisse im Bereich der Wahlbeteiligung (vgl. Franklin 2007; Weßels/ Franklin 2009) ist anzunehmen, dass Europawahlkämpfe kurz vor einer nationalen Wahl deutlich intensiver sind, als wenn die Europawahl kurz nach einer nationalen Wahl stattfindet. Im letztgenannten Fall wird das politische Geschehen noch primär von „post-election euphoria“ (Reif 1984: 246) geprägt.
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In diesem Beitrag soll nicht untersucht werden, inwiefern ein Wahlerfolg dieser Parteien tatsächlich auf spezifische Wahlkampf- und Kampagnenstrategien zurückzuführen ist. Ein Ziel ist lediglich, Erklärungen für die Varianz dieser Strategien zu überprüfen.
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Die bereits angesprochenen Unterschiede der Wahlsysteme können ebenfalls dazu führen, dass individuelle Kandidatinnen mit größerem Engagement oder aber zumindest mithilfe anderer Strategien in den Wahlkampf ziehen. Insbesondere die Existenz von offenen oder halboffenen Listen, also der Möglichkeit, Präferenzstimmen zu vergeben, verstärkt nicht nur Personalisierungstendenzen des Wahlkampfs (vgl. Wertman 1977; Katz 1985: 101f.; Ruostetsaari/ Mattila 2002: 92). Vielmehr ermöglichen Präferenzstimmen die Erhöhung der Wahlchancen einzelner Kandidatinnen aufgrund einer sichtbaren und erfolgreichen Kampagne. Entsprechende Verfahren sind Teil der Wahlgesetzgebung in 18 von 27 Mitgliedsstaaten (vgl. Wüst/Tausendpfund 2009: 5). Lusoli (2005) konnte in einer Studie zu den Europawahlen 2004 bereits einen Zusammenhang zwischen Präferenzstimmen und der vermehrten Nutzung von postmodernen Kampagnenmitteln nachweisen. Auf der Mikroebene sind es in erster Linie der persönliche und politische Hintergrund sowie die individuelle Motivation, die einen prognostizierten Einfluss auf Kampagnenintensität und eingesetzte Mittel haben (vgl. Studlar/ McAllister 1994: 388; Norris et al. 1999). Die Chance, unmittelbar von Wahlkampfaktivitäten zu profitieren, sollte einen starken Anreiz für größeres Engagement und vor allem auch für die Nutzung verschiedenster Kommunikationswege und -mittel bedeuten (vgl. Zittel/Gschwend 2008: 984). Umgekehrt ist von Kandidatinnen auf aussichtslosen Listenplätzen kaum zu erwarten, dass sie viele Ressourcen in den individuellen Wahlkampf investieren. Ganz anders sieht dies bei erneut kandidierenden Parlamentarierinnen aus; diese können nicht nur in der Regel auf mehr Ressourcen zurückgreifen, sondern besitzen auch eine größere Erfahrung und sicherlich eine hohe Motivation, ihren Sitz im Europäischen Parlament zu verteidigen. Darüber hinaus dürften weitere Aspekte auf der Mikroebene von Relevanz sein. So kann vermutet werden, dass das Bildungsniveau der Kandidatinnen einen Teil der individuellen Varianz erklärt. Da etwa Bildung und Einkommen eng miteinander verbunden sind, ist ein positiver Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und den Wahlkampfausgaben zu erwarten. Zudem stehen Personen mit einem höheren Bildungsniveau neuen Medien und damit wahrscheinlich auch der Nutzung des Internets im Wahlkampf offener und professioneller gegenüber (vgl. Martin/Robinson 2007). In diesem Kontext ist auch ein signifikanter Unterschied zwischen „Alt und Jung“ wahrscheinlich. Ältere Kandidatinnen werden weniger Gewicht auf postmoderne Kampagnenmittel legen; auf der anderen Seite ist aber anzunehmen, dass mit zunehmendem Alter auch die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen wachsen. Obwohl der Unterschied zwischen Frauen und Männern in der allgemeinen Nutzung des Internets
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beständig zurückgeht, nutzen Frauen das Internet noch immer weniger häufig und weniger intensiv (vgl. Ono/Zavodny 2007). Deshalb sollten Kandidaten auch stärker auf postmoderne Mittel zurückgreifen als Kandidatinnen. 4 Datengrundlage und Operationalisierung Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgt mithilfe der 2009 European Election Candidate Study (vgl. EES 2010; Giebler et al. 2010; Giebler/Weßels 2010) und der Deutschen Kandidatenstudie 2009 der German Longitudinal Election Study (vgl. German Longitudinal Election Study 2010).6 Die europäische Kandidatenstudie, Teil der durch die Europäische Kommission finanzierten Europawahlstudie PIREDEU, ermöglicht eine Analyse von mehr als 1.300 Kandidatinnen, organisiert in 216 Parteien in allen 27 Mitgliedsstaaten der EU. Vergleichbare Daten lagen bislang nicht vor. Insgesamt wurden über 6.500 Kandidatinnen kontaktiert (primäre Feldphase: 01.07.2009 bis 15.11.2009); die durchschnittliche Rücklaufquote beträgt 21%. Die Rücklaufquoten der Befragung für einige Länder, u.a. Rumänien und Bulgarien, aber auch Polen oder Italien, waren relativ gering (vgl. Giebler/Weßels 2010). Entsprechend sind vor allem die hier präsentierten Länderdurchschnitte sowie deren Vergleich mit notwendiger Vorsicht zu interpretieren. Für Analysen auf der Basis aller Kandidatinnen, die an der Studie teilgenommen haben, gilt diese Einschränkung in geringerem Ausmaß. Die Deutsche Kandidatenstudie 2009 (N=778; primäre Feldphase: 04.11.2009 bis 10.05.2010) wird für den direkten Vergleich der individuellen Wahlkämpfe zwischen nationaler und europäischer Ebene für Deutschland herangezogen und bildet somit die Basis für die Beantwortung der zweiten Leitfrage. Aufgrund der Struktur dieses Beitrags wird hier primär auf die 2009 EECS 6
Die Daten, die diesem Beitrag zugrunde liegen, wurden im Rahmen der German Longitudinal Election Study (GLES) (GLES-Komponente 6: Kandidatenstudie) erhoben. Die Erhebung geschah im Auftrag von Hans Rattinger (Universität Mannheim), Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung), Die GLES-Komponente 6: Kandidatenstudie wurde in erster Linie von PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung), Thomas Gschwend, Hermann Schmitt, Andreas M. Wüst und Thomas Zittel (jeweils MZES) in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung (DGfW) und GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim durchgeführt. GESIS ist auch für die Datenaufbereitung und -dokumentation verantwortlich und stellt die Daten für Analysen zur Verfügung. Weder die genannten Personen noch die beteiligten Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag.
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eingegangen, da erklärenden Modelle nur für den europäischen Vergleich aufgestellt werden, während die Analyse der Unterschiede zwischen nationalen und europäischen Wahlkampagnen rein deskriptiver Natur ist.7 4.1 Abhängige Variablen: Die Komponenten des Wahlkampfs Intensität Das zeitliche Ausmaß der individuellen Wahlkämpfe wurde in durchschnittlich aufgewendeten Stunden im letzten Monat vor der Wahl gemessen. Die eingesetzten finanziellen Ressourcen stellen den zweiten Indikator zur Messung der Intensität dar; um vergleichbare Beträge zu erhalten, wurden alle angegebenen Summen in Euro ausgewiesen (ggf. umgerechnet) und zusätzlich kaufkraftbereinigt.8 Wie erwartet, ist die Anzahl der Verweigerungen bei der Frage nach den eingesetzten finanziellen Mitteln deutlich höher, als dies beim Zeitaufwand der Fall ist. Trotz dessen werden beide Indikatoren in der Analyse berücksichtigt, um ein umfassenderes Bild der individuellen Wahlkampfintensität zu erhalten. Wahlkampfaktivitäten und -instrumente Die Fragebögen beider Studien beinhalten diverse Fragenkomplexe zur Nutzung verschiedener Wahlkampfaktivitäten und -instrumente. Dabei lassen sich diese Fragenkomplexe in zwei Gruppen einteilen: Die Komplexe zielen entweder auf die generelle Nutzung der Instrumente oder auf die Häufigkeit, gemessen in Zeit, mit der Aktivitäten durchgeführt oder Instrumente verwendet wurden, ab. Um diese beiden Gruppen zusammenführen zu können, wurden alle Items dichotomisiert; es liegt also nur noch eine Unterscheidung zwischen „genutzt“ und „nicht genutzt“ vor. Leider stimmen nicht in allen Fällen die Formulierungen der Items überein, weshalb lediglich eine Liste von elf Wahlkampfaktivitäten und -instrumenten vergleichend berücksichtigt werden kann. Einzeln genutzt ermöglichen beide Studien eine weit detailliertere Analyse. Die jeweilige An-
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Eine Beschreibung der beiden Studien ist an dieser Stelle nicht möglich; entsprechende Information finden sich in Giebler und Weßels (2010) und Giebler et al. (2010) bzw. auf der Homepage der GLES (German Longitudinal Election Study 2010) und der Deutschen Kandidatenstudie 2009 (http://www.wzb.eu/zkd/dsl/Kandidatenstudie/). Zu diesem Zweck wurden die angegebenen Ausgaben durch die relative Kaufkraft in den einzelnen Ländern geteilt, wobei der durchschnittliche Wert für die EU auf 1 gesetzt wurde. Auf diese Weise ergibt sich eine deutliche „Erhöhung“ der Ausgaben für Länder wie Rumänien und eine deutliche „Senkung“ etwa für Luxemburg.
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zahl der verwendeten Mittel wurde auf einer Skala von 0 bis 100, prinzipiell also Prozentanteile, standardisiert.9 4.2 Unabhängige Variablen: Die Determinanten des Wahlkampfs10 Im Folgenden werden Operationalisierung und Kodierung der verwendeten unabhängigen Variablen präsentiert. Die grundsätzlichen Informationen können Tabelle 1 entnommen werden. Die Erfolgschancen einer Kandidatin werden auf der Grundlage eines Prognosemodells bestimmt. Ausgangspunkte bilden die erwartete Sitzzahl einer Partei nach Hix et al. (2009) und der individuelle Listenplatz.11 Für die Einschätzung wurde der jeweilige Listenplatz mit der prognostizierten Sitzzahl verglichen.12 Um die Unsicherheit des Wahlausgangs zu modellieren, wurde für jedes Land die Standardabweichung der Diskrepanz zwischen Vorhersage und realer Sitzverteilung berechnet. Kandidatinnen mit einem Listenplatz größer der Summe von prognostiziertem Sitzanteil der Partei und Standardabweichung wurden als chancenlos eingestuft. Entgegen der Annahme, dass es sich bei der Nominierung um eine parteispezifische Variable handelt, wird die jeweilige Information auf der Mikroebene erfasst. Diese Entscheidung fußt auf den Angaben der Befragten, die zeigen, dass es große Varianz bei den Nominierungspraktiken innerhalb von Parteien gibt. Selbst bei einer nur dichotomen Kodierung – Nominierung durch die Parteispitze und berufene Mitglieder auf der einen und stärker basisorientierte bzw. demokratische Verfahren auf der anderen Seite – ergeben sich nur für etwa die Hälfte der 216 Parteien konstante Prozeduren, denn die Kandidatinnen identischer Parteien machen unterschiedliche Angaben. Dies ist ein Indiz für regional unterschiedliche Verfahren innerhalb derselben Parteien. 9 10 11
12
Eine Übersicht über die in diesem Beitrag verwendeten Wahlkampfaktivitäten und -instrumente sowie über deren Einteilung in klassische – also vormoderne und moderne Mittel – und internetbezogene Wahlkampfmittel – also postmoderne Mittel findet sich im Anhang. Die unabhängigen Variablen beziehen sich ausschließlich auf den Datensatz der europäischen Kandidatenstudie. Für weitere Informationen sei hier auf das entsprechende Codebuch verwiesen (vgl. Giebler et al. 2010). In den Fällen, in denen aufgrund des Wahlsystems keine Listenplätze vergeben werden, wurde auf Experteneinschätzungen zurückgegriffen: Michael Marsh (Trinity College, Dublin – für Irland und Nordirland), Hermann Schiavone (University of Manchester – für Malta) sowie Tapio Raunio und Mikko Mattila (University of Tampere bzw. University of Helsinki – für Finnland). An dieser Stelle möchten wir uns erneut für die Unterstützung bedanken. Die prognostizierten Sitzanteile werden auch als Variable auf der Mesoebene genutzt.
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
131
Die ideologische und inhaltliche Position der Parteien wird nicht auf der Basis von Experteneinschätzungen oder kodierten Parteiprogrammen gemessen. Stattdessen wird auf die durchschnittliche Einschätzung der Position einer Partei durch ihre eigenen Kandidatinnen zurückgegriffen. Dies ermöglicht die Inklusion einer deutlich größeren Anzahl von Parteien, da insbesondere für kleinere Parteien keine anderen Datenquellen existieren. Tabelle 1:
Übersicht der verwendeten unabhängigen Variablen Unabhängige Variablen
MIKRO
Ebene
Chancenlose Kandidatur
Dummy-Variable (1 = chancenlos)
MdEP
Dummy-Variable (1 = MdEP)
Nominierung
Dummy-Variable (1 = Nominierung durch Parteispitze oder berufene Mitglieder)
Alter
in Jahren
Geschlecht
Dummy-Variable (1 = männlich)
Bildung
MESO
Regierungspartei
MAKRO
Operationalisierung und Kodierung
Dummy-Variable (1 = Tertiärer Abschluss oder höher); Rekodierung der nationalen Bildungsabschlüsse nach ISCED-Codes Dummy-Variable (1 = Regierungspartei)
Prog. Sitzanteil
Von Prozentpunkten auf eine Skala von 0 bis 1 rekodiert
Links/Rechts-Position
Aggregierte Mittelwerte der Kandidatinnen einer Partei; 0 = links 10 = rechts
EU-Position
Aggregierte Mittelwerte der Kandidatinnen einer Partei; 0 = contra Vertiefung der EU, 10 = pro Vertiefung
Präferenzstimmen
Dummy-Variable (1 = Präferenzstimmen möglich)
Wahlzyklus
Zeitlicher Abstand der Europawahlen zu den letzten nationalen Wahlen; hohe Werte = großer zeitlicher Abstand
132
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
5 Europawahlkämpfe im Vergleich In einem ersten Schritt sollen die durchschnittliche Intensität und Diversität der Mittel pro Land mit besonderem Augenmerk auf Deutschland verglichen werden. Die präsentierten Ergebnisse sind Mittelwerte der Kandidatinnen pro Land.13 Die Balkendiagramme enthalten jeweils auch das ungewichtete Mittel aller Länder in Form einer vertikalen, gestrichelten Linie. Abbildung 1: LT LV NL EE HU AT LU PL SW FR CZ SK UK PT ES SI GE DK BE RO IT GR FI BG MT IE CY
Individueller Zeitaufwand für den Wahlkampf nach Ländern (Mittelwerte) 16.9
20.7 21.2 23.6 23.7 24.2 24.9 26.4 29.1 30.0 30.5 30.9 31.9 34.4 36.3 36.3 36.4
45.6 46.8
51.1 51.4 51.8 54.4
65.0
71.4 74.8
0
20
40
60
86.8
80
Zeitaufwand für den Wahlkampf in Stunden
In den Abbildungen 1 und 2 sind die Mittelwerte für die beiden Indikatoren zur Messung der Intensität der Wahlkampagnen dargestellt. Bereits auf den ersten Blick wird sowohl für die verwendeten zeitlichen als auch die finanziellen Res13
Die Datensätze wurden gewichtet, um für parteispezifische Ausfälle zu korrigieren. Sowohl für die europäische als auch die nationale Kandidatenstudie wurde ein Gewicht verwendet, das die Anzahl der befragten Kandidatinnen pro Partei ihrer realen Anzahl angleicht. Es können somit Aussagen über den Wahlkampf pro Land, aber auch vergleichend zwischen Ländern und Parteien getroffen werden. Auf weitere Gewichtungen, etwa nach Relevanz der Parteien, wurde bewusst verzichtet.
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
133
sourcen eine große Varianz zwischen den Ländern deutlich. So variieren die für den Wahlkampf durchschnittlich verwendeten Stunden zwischen knapp 17 in Litauen und fast 87 in Zypern, wobei der Mittelwert etwa 40 Stunden beträgt. Deutschland liegt mit einem Wert von 36,4 Stunden zwar leicht unterhalb des Durchschnitts, aber nichtsdestotrotz im oberen Mittelfeld. Ländermuster lassen sich nur begrenzt identifizieren. Bis auf Rumänien und Bulgarien rangieren fast alle ost- und südosteuropäischen Länder deutlich unterhalb des Gesamtdurchschnitts. Abbildung 2: GR SW LT AT EE PL BG BE DK GE ES SK NL HU UK LV MT CY CZ FI IT SI RO LU IE FR PT
Individuelle Ausgaben für den Wahlkampf nach Ländern (Mittelwerte)
1496 1803 3049 3165 3688 4310 5060 5672 7496 7899 10876 12257 12292 12504 16088 21546 22179 25000 27117 33633 38902 40412 52189 52735 69879 73295 83151
0
20,000
40,000
60,000
80,000
Wahlkampfausgaben in EURO
Die kaufkraftkorrigierten Wahlkampfausgaben ergeben ebenfalls ein uneinheitliches Bild; Griechenland bildet mit weniger als 1.500 Euro das Schlusslicht, während in Portugal – etwas überraschend – mit etwa 81.000 Euro das meiste Geld pro Kopf für die individuelle Wahlkampagne ausgegeben wird. Der Mittelwert aller Länder liegt bei fast exakt 24.000 Euro und ist damit mehr als dreimal so hoch wie der Durchschnittswert für Deutschland. Entsprechend
134
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
nimmt Deutschland in diesem Kontext auch nur einen Rang im unteren Mittelfeld ein. Ein Eindruck über die Gesamtintensität der Wahlkampagnen lässt sich mithilfe von Abbildung 3 gewinnen. In dieser Grafik sind jeweils die Mittelwerte für zeitliche und finanzielle Ressourcen sowie die Durchschnittswerte aller Länder abgetragen (gestrichelte bzw. gepunktete Linie). Der untere, linke Quadrant beinhaltet somit jene Länder, in denen ein unterdurchschnittlich intensiver Wahlkampf geführt wurde. Neben Deutschland finden sich hier auch Litauen, Österreich, Estland, Spanien Schweden, Polen, Großbritannien, Slowakei, Ungarn, Niederlande und Lettland. Diese Ländergruppe ist sehr heterogen, handelt es sich doch um alte und junge Demokratien, alte und junge Mitglieder der EU und auch Faktoren wie politische Kultur und sozioökonomisches Entwicklungsniveau differieren stark. Lediglich fünf Länder liegen bei beiden Intensitätsmaßen über dem Durchschnitt: Zypern, Finnland, Italien, Rumänien und Irland. Insbesondere Irland sticht deutlich als Ausreißer aus der Gruppe der 27 Mitgliedsstaaten heraus.
Zeitaufwand für den Wahlkampf in Stunden 20 40 60 80 100
Abbildung 3:
Individuelle Intensität des Wahlkampfs aufgrund zweier Indikatoren nach Ländern (Mittelwerte)
CY
IE
MT BG FI
GR BE GE SW EE PL AT LT
0
IT
RO
DK ES
SI UK
SK HU NL
PT
CZ
FR LU
LV
20000
40000 60000 Wahlkampfausgaben in Euro
80000
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
135
In Bezug auf die Nutzung unterschiedlicher Aktivitäten und Instrumente innerhalb des Wahlkampfs lassen sich ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen den Ländern erkennen (vgl. Abbildungen 4 und 5). Ein Vergleich der beiden Abbildungen macht zudem deutlich, dass klassische Wahlkampfmittel (noch) deutlich verbreiteter als internetbezogene Mittel sind. Erneut findet sich Deutschland hinsichtlich beider Aspekte eher im Mittelfeld. Interessanterweise werden die fünf letzten Plätze sämtlich von etablierten Demokratien eingenommen; dies gilt jedoch – mit Ausnahme des Spitzenreiters Rumänien – auch für die bestplatzierten Länder. Somit ist auch hier kein eindeutiges Ländermuster zu konstatieren. Abbildung 4:
Individuelle Nutzung klassischer Wahlkampfmittel nach Ländern (in Prozent; Berechnungsgrundlage: 7 klassische Items in Tabelle 5)
LU AT NL UK ES LV HU GR EE LT CZ FR SW SK PT GE MT SI DK BG PL CY IT BE FI IE RO
44.1
47.9 48.7 50.3 54.3 54.8 56.4 56.8 57.6
61.4 65.1 65.4 65.5 66.6 69.8 70.2 71.7 73.0 74.9 76.8 76.9 77.0 77.2 78.1 78.3 78.6
0
20
40
60
83.0
80
Nutzung klassischer Wahlkampfmittel
Unterschiedliche internetbezogene oder postmoderne Mittel erfuhren in Deutschland im Europawahlkampf 2009 eine geringere Verbreitung, als dies bei klassischen Mitteln der Fall war; mit 41,1 liegt der Durchschnittswert aber zusätzlich unter dem Ländermittel von 46,0. In der Spitzengruppe finden sich erneut Irland, Finnland, Italien und Zypern. In diesen Ländern scheinen Kandi-
136
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
datinnen generell auf eine Vielzahl von Aktivitäten und Instrumenten in ihren Wahlkämpfen zurückzugreifen. Abbildung 5:
Individuelle Nutzung postmoderner Wahlkampfmittel nach Ländern (in Prozent; Berechnungsgrundlage: 4 postmoderne Items in Tabelle 3)
PL HU GR EE AT UK LT ES PT NL LV GE SW CZ LU SK BG FR RO BE CY IT SI FI DK IE MT
26.1 28.5 30.4 31.2 32.0 32.3 34.9 36.4 37.1 39.4 40.3 41.1 42.3 44.5 44.8
49.2 50.0 51.2 52.0 52.4 58.2 58.3 63.6 64.6 66.3 69.7 72.0
0
20
40
60
80
Nutzung internetbezogener Wahlkampfmittel
Eine Korrelation der beiden Indizes zur Messung der Nutzung verschiedener Wahlkampfmittel auf der Individualebene ist positiv (r = 0,41; p<0,001). Es bestätigt sich also tatsächlich die Vermutung, dass die unterschiedlichen Kampagnentypen nicht als Ersatz für den jeweils anderen Typ, sondern vielmehr komplementär genutzt werden. Mit anderen Worten: Kandidatinnen, die auf einen diversifizierten Wahlkampf mit klassischen Instrumenten und Aktivitäten setzen, nutzen ebenfalls verschiedene internetbezogene Mittel und umgekehrt. Was lässt sich über diejenigen Faktoren sagen, die einen Einfluss auf die Wahlkampfintensität und die Wahl der Mittel haben könnten? Da die dargestellten Mittelwerte nur wenig Aufschluss über potentielle Muster liefern können, sollen im Folgenden die Effekte der bereits skizzierten unabhängigen Variablen überprüft werden. Zu diesem Zweck wurde eine Anzahl von ‚quasi-bivariaten‘ Regressionsanalysen berechnet, deren Ergebnisse, deutlich vereinfacht, in Ta-
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
137
belle 2 zusammengetragen wurden. 14 Auf diese Weise werden die einzelnen Determinanten zwar nicht unter Berücksichtigung der anderen Faktoren, wie etwa in einem multivariaten Modell, getestet, die Komplexität der statistischen Modelle bleibt jedoch relativ gering. Die Tabelle ist dabei wie folgt zu lesen: Die Vorzeichen geben die Richtung des Zusammenhangs an, während die Grau hinterlegten Felder einen signifikanten Koeffizienten auf dem 5%-Niveau markieren. Die Fallzahl wurde für jede abhängige Variable konstant gehalten. Wie Tabelle 2 zeigt, besitzen fast alle unabhängigen Variablen mit mindestens einem Aspekt des individuellen Wahlkampfs eine statistisch signifikante Beziehung. Lediglich die Bildung der Kandidatinnen weist – trotz der Vorzeichen in erwarteter Richtung – keinen signifikanten Effekt auf. Zu einem gewissen Teil mag dies auch der geringen Varianz der formalen Bildung geschuldet sein; wie bei einer Befragung von Eliten typisch, verfügen mehr als 80% der Befragten über einen tertiären Bildungsabschluss. Erfreulicherweise bestätigt sich die ursprüngliche Vermutung, dass Faktoren auf allen drei Ebenen von Relevanz sind. Auf der Mikroebene gilt dies insbesondere für die Wahlchance. Aussichtslose Kandidatinnen verwenden nicht nur weniger zeitliche und finanzielle Ressourcen, sondern greifen auch auf weniger unterschiedliche Wahlkampfmittel zurück. Die umgekehrte Beziehung gilt, mit Ausnahme der klassischen Kampagnenmittel, für Abgeordnete des Europaparlaments: Ihre Wahlkämpfe sind signifikant intensiver und sie verwenden auch mehr internetbezogene Aktivitäten und Instrumente. Tatsächlich hat auch die Art der Nominierung einen Effekt, der sich allerdings nur für die Wahl der Kampagnenmittel als verlässlich erweist. Eine stark elitengesteuerte Nominierung führt zu weniger ausdifferenzierten, individuellen Wahlkämpfen. Inwieweit dies etwa ein Zeichen für einen stärker zentralistisch gesteuerten und damit vielleicht weniger diversifizierten Wahlkampf in Bezug auf die Wahl der Mittel ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Ältere Kandidatinnen wenden weniger Zeit für den Wahlkampf auf und sie nutzen dabei auch weniger unterschiedliche Mittel. Während dies im Kontext von internetbezogenen In14
Um der Datenstruktur zu entsprechen, wurden sowohl die bereits angesprochenen Parteigewichte genutzt als auch eine Korrektur für Länder- und Parteieffekte vorgenommen. Letztgenannte Effekte wurden mithilfe von „clustered error terms“ korrigiert, während die Ländereffekte durch entsprechende Dummy-Variablen berücksichtigt wurden. Es wurde also in jedem Fall eine Regression mit der entsprechenden unabhängigen Variablen und den Länderdummys berechnet, also eine „quasi-bivariate“ Regressionsanalyse. Auf dieser Weise kann die dreistufige Datenstruktur – Individuum, Partei, Land – adäquat abgebildet werden. Die Fallzahl wurde zwischen den Modellen nicht konstant gehalten, da dies die Fallzahl aufgrund der höheren Anzahl von fehlenden Informationen für den finanziellen Aufwand deutlich einschränken würde.
138
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
strumenten kaum verwundert, stellt die systematische Verwendung von weniger klassischen Mitteln ein unerwartetes Ergebnis dar. Schließlich geben Kandidaten signifikant mehr Geld für ihren Wahlkampf aus, als Kandidatinnen dies tun. Sie nutzen ebenfalls mehr internetbezogene Mittel, allerdings ist dieser Zusammenhang nicht signifikant. Tabelle 2:
Zusammengefasste Ergebnisse der Regressionsanalysen Abhängige Variablen
MAKRO
MESO
MIKRO
Ebene
Unabhängige Variablen
Intensität
Kampagnenmittel
Zeit
Ausgaben
Klassisch
Internet
Chancenlose Kandidatur
-
-
-
-
MdEP
+
+
+
+
Nominierung
-
-
-
-
Alter
-
-
-
-
Geschlecht
-
+
-
+
Bildung
+
+
+
+
Regierungspartei
+
+
+
+
Prog. Sitzanteil
+
+
+
+
Links/Rechts-Position
+
+
+
+
EU-Position
+
-
+
+
Präferenzstimmen
+
+
+
+
Wahlzyklus
-
-
-
-
Auf der Mesoebene, also der Ebene der Parteien, wurden insgesamt vier Variablen getestet, wobei zwei eher strukturelle Aspekte und die anderen zwei inhaltliche Positionen abdecken. Konträr zu Überlegungen, die sich aus dem „secondorder“-Ansatz ableiten lassen, ist die Wahlkampfintensität bei Kandidatinnen
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
139
von Regierungsparteien bzw. großen Parteien – gemessen durch den prognostizierten Sitzanteil – höher als bei ihren Pendants. Es bestätigt sich somit die Vermutung, dass Kandidatinnen von großen oder Regierungsparteien mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. Für die Wahlkampfmittel zeigen die Ergebnisse nur eine diversifiziertere Nutzung von klassischen Instrumenten bei Regierungsparteien. Interessanterweise ergeben sich auch Muster auf der Parteiebene nach ideologischen oder inhaltlichen Positionen. Kandidatinnen von bürgerlichkonservativen Parteien machen intensiver Wahlkampf und es ergibt sich ebenfalls ein positiver Effekt bei den klassischen Wahlkampfmitteln. Bei den Europawahlen 2009 kam es in fast allen Mitgliedsländern zu einem „Rechtsruck“, der sich deutlich in der Zusammensetzung des aktuellen Europäischen Parlaments widerspiegelt. Es kann auf der Basis der vorliegenden Querschnittsanalyse (für das Jahr 2009) kein allgemeiner Schluss zwischen dem intensiveren und variableren Wahlkampf eines politischen Lagers und dessen Wahlerfolg abgeleitet werden, doch geben diese Ergebnisse zumindest Anlass für weitergehende Untersuchungen. Parteien, die der Vertiefung der Europäischen Union gegenüber eine eher positive Einstellung haben, machen keinen signifikant intensiveren Wahlkampf, verwenden aber eine größere Anzahl unterschiedlicher Instrumente und üben eine größere Anzahl unterschiedlicher Aktivitäten aus. Dies gilt gleichermaßen für klassische als auch internetbezogen Mittel. Auf der Makroebene zeigt sich für die Variable zur Messung des Wahlzyklus in allen Modellen ein negatives Vorzeichen; aufgrund der Kodierung der Wahlzyklusvariable bedeutet dies, je näher der Europawahltermin am Termin der nationalen Wahl liegt, desto weniger Intensität bzw. geringere Differenzierung zeigt sich mit Blick auf die verwendeten Mittel. Die Zusammenhänge sind jedoch nur für die aufgebrachte Zeit sowie die klassischen Aktivitäten und Instrumente statistisch signifikant. Nichtsdestotrotz ergibt sich ein in gewisser Weise der Charakterisierung von Europawahlen als „Barometerwahl“ (vgl. u.a. Oppenhuis et al. 1996: 301ff.) widersprechendes Ergebnis. Als alternative Erklärung kann vorgebracht werden, dass Europawahlen in der Mitte des nationalen Wahlzyklus stärker von Mobilisierungsproblemen der Wählerschaft betroffen sind und entsprechend Kandidatinnen mehr und breiteren Wahlkampf machen (müssen). Im Gegensatz dazu entsprechen die Resultate für die Existenz von Präferenzstimmen den theoretischen Annahmen. Der durch Präferenzstimmen induzierte Anreiz führt zu mehr Intensität – signifikant aber lediglich für die verwendete Zeit – und zur Nutzung verschiedenster Wahlkampfmittel sowohl klassischer als auch postmoderner Natur. Abschließend muss erneut betont werden, dass die präsentierten Ergebnisse nur einen ersten Einblick in die potentiellen Determinanten individueller Wahl-
140
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
kampfstrategien bei Europawahlen bieten. Prinzipiell decken sich die Erkenntnisse jedoch mit jenen einer komplexeren Modellierung der statistischen Zusammenhänge (vgl. Giebler/Wüst 2011). 6 Kampagnen zweiter Ordnung? Individuelle Europa- und Bundestagswahlkämpfe in Deutschland 2009 im Vergleich Nachdem im vorangegangen Kapitel die Varianz der Wahlkämpfe und deren mögliche Ursachen für die Europawahl 2009 untersucht wurden, widmet sich dieses Kapitel der zweiten Leitfrage des Beitrags: Sind Europawahlkampagnen Wahlkämpfe zweiter Ordnung? Zu diesem Zweck wird der Bundestagswahlkampf 2009 mit dem Europawahlkampf im selben Jahr, erneut auf der Basis von Kandidatenbefragungen, kontrastiert. Dabei wird erwartet, dass es sich bei Europawahlkämpfen nicht nur aus Parteien- und Medienperspektive um Nebenwahlkämpfe handelt, sondern dass auch die Intensität der individuellen Wahlkampfaktivitäten und die Bandbreite der verwendeten Instrumente geringer ausfallen als bei nationalen Wahlen. Sollte dies nicht der Fall sein, müsste man die Nebenwahlthese für die Ebene der Kandidatinnen verwerfen. Zunächst wird in Abbildung 6 und 7 die Intensität der Wahlkämpfe, aufgeschlüsselt nach Parteien und Wahlebene, präsentiert.15 Es handelt sich jeweils um die Mittelwerte der Angaben individueller Kandidatinnen. Zusätzlich visualisieren zwei vertikale Linien die Durchschnittswerte der Ebenen, berechnet als Mittelwert der Parteidurchschnitte. Dabei bildet die gestrichelte Linie den entsprechenden Wert für die Bundestags- und die gepunktete Linie für die Europawahl ab. Für die Intensität, gemessen anhand der aufgewendeten Stunden, ergibt sich im Durchschnitt kein Unterschied zwischen den beiden Wahlebenen (vgl. Abbildung 6). Beide Werte liegen bei etwa 41 Stunden. Ein genereller Trend lässt sich an dieser Stelle also nicht ablesen. Die Grafik offenbart jedoch zumindest Unterschiede zwischen den Parteien, die allerdings keinem einheitlichen Muster folgen. So investierten die Europakandidatinnen von SPD und FDP im Jahr 2009 deutlich weniger Zeit in den Wahlkampf als die Bundestagskandidatinnen beider Parteien. Partiell kann demnach von einer Bestätigung des Ne15
Die Ergebnisse für CDU und CSU werden gemeinsam ausgewiesen. Es wurden generell für die Berechnung nur Kandidatinnen der fünf im Parlament vertretenen Fraktionen verwendet, weshalb die Werte für die Europawahlen von den oben präsentierten Zahlen abweichen können, da hier alle Befragten berücksichtigt wurden, also auch etwa Kandidatinnen der Freien Wähler.
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
141
benwahlkampagnencharakters gesprochen werden, während bei den Kandidatinnen anderer Parteien für die europäische Ebene eine höhere Intensität zu konstatieren ist. Bei der CDU/CSU und der Linken sind die Unterschiede relativ gering, während die Kandidatinnen von Bündnis 90/Die Grünen bei den Europawahlen fast 15 Stunden mehr pro Woche für ihre Wahlkampagne aufwendeten als für die Bundestagswahl 2009. Abbildung 6:
Intensität des Wahlkampfs I (Stunden pro Woche) nach Parteizugehörigkeit und Wahlebene
SPD
CDU/CSU
FDP
Bündnis 90/Die Grünen
Die Linke
Europa
36.8
National
49.4
Europa
50.8
National
44.7
Europa
23.8
National
34.9
Europa
52.4
National
37.6
Europa
40.4
National
38.3
0
10
20
30
40
50
Zeitaufwand für den Wahlkampf in Stunden
In Bezug auf die Ausgaben für den Wahlkampf ergibt sich hingegen – mit Ausnahme der Linken – eine eindeutige Nebenwahleinordnung. Für Kandidatinnen der SPD und CDU/CSU lassen sich in etwa um ein Viertel geringere Ausgaben für den durchschnittlichen Europawahlkampf als für den durchschnittlichen Bundestagswahlkampf im Jahr 2009 feststellen, während bei den Kandidatinnen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen das Budget bei Europawahlen um sogar die Hälfte niedriger ausfällt. Einzig bei den Kandidatinnen der Linken zeigen sich gegensätzliche Ergebnisse; kombiniert man diesen Befund mit dem ebenso
142
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
höheren Zeitbudget, so kann nur für die Kandidatinnen dieser Partei eine höhere Intensität des Europawahlkampfs im Vergleich zur nationalen Kampagne identifiziert werden. Für die SPD und die FDP ergibt sich der deutlichste Nebenwahlcharakter im Kontext der Wahlkampfintensität, da unabhängig vom gewählten Indikator der nationale Wahlkampf dominiert. Für die beiden anderen Parteien fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Somit gibt es kein klares Muster, das „second-order“-Annahmen – kleine und/oder Oppositionsparteien gewinnen – oder die Annahmen über Effekte der Professionalisierung von großen und/oder Regierungsparteien – in der Summe bestätigt. Abbildung 7:
Intensität des Wahlkampfs II (Wahlkampfausgaben) nach Parteizugehörigkeit und Wahlebene
SPD
CDU/CSU
FDP
Bündnis 90/Die Grünen
Die Linke
Europa
14931
National
19716
Europa
16032
National
22187
Europa
3278
National
7809
Europa
3333
National
6027
Europa
5333
National
2916
0
5,000
10,000
15,000
20,000
25,000
Wahlkampfausgaben in EURO
Die Nutzung unterschiedlicher Kampagnenaktivitäten und -instrumente, aufgeschlüsselt nach Parteien, wird in den Abbildungen 8 und 9 präsentiert. Für die beiden Typen von Kampagnenmitteln ergeben sich dabei (fast) völlig gegensätzliche Resultate: In nationalen Wahlkämpfen setzen Kandidatinnen eine größere Anzahl von klassischen Mitteln ein, während internetbezogene Mittel häufiger
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
143
bei den Europawahlkämpfen genutzt werden.16 Dies wird auch durch die Differenzen der Gesamtunterschiede unterstrichen. Für manche Parteien sind die Unterschiede marginal, etwa für die CDU/CSU und klassische Mittel oder die SPD und internetbezogene Mittel. Bei Bündnis 90/Die Grünen lassen sich hingegen jeweils enorme Differenzen identifizieren. Vergleicht man die absoluten Werte zwischen den Abbildungen, wird deutlich, dass die Bandbreite möglicher Mittel im Kontext klassischer Aktivitäten und Instrumente signifikant stärker genutzt wird. Abbildung 8:
Nutzung klassischer Wahlkampfmittel (Index-Mittelwerte) nach Parteizugehörigkeit und Wahlebene
SPD
CDU/CSU
FDP
Bündnis 90/Die Grünen
Die Linke
Europa
72.7
National
82.4
Europa
75.8
National
77.4
Europa
64.6
National
87.9
Europa
57.1
National
87.4
Europa
72.9
National
83.2
0
20
40
60
80
Nutzung klasischer Wahlkampfmittel
Die präsentierten Parteivergleiche auf der Basis aggregierter Informationen individueller Kandidatinnen lassen keine eindeutigen Schlüsse zur Beantwortung der zu Beginn gestellten Frage über den Nebenwahlkampagnencharakter zu. Deshalb erfolgt in einem zweiten Schritt eine Unterscheidung zwischen unter16
Ausnahmen stellen hier die SPD und die FDP dar; die durchschnittliche Anzahl der verwendeten internetbezogenen Mittel ist höher in nationalen als in europäischen Wahlen.
144
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
schiedlichen Kandidatentypen auf beiden Ebenen. Wie sich bereits im analytischen Teil zur Identifikation der Determinanten des Wahlkampfs bei Europawahlen gezeigt hat, ist gerade die Wahlerfolgschance in der Lage, Varianz zu erklären. Bei den Kandidatinnen für das Europäische Parlament wird auf die bereits erläuterte Unterscheidung zwischen „chancenlos“ und „aussichtsreich“ zurückgegriffen. Im Fall der Bundestagswahl erfolgt eine Einteilung nach Listenkandidatinnen, Wahlkreiskandidatinnen und jenen, die beide Möglichkeiten der Kandidatur parallel nutzen (vgl. Wüst et al. 2006). Dies entspricht nicht nur unterschiedlichen Kandidatentypen, sondern auch einer Differenzierung im Kontinuum zwischen „chancenlos“ und „aussichtsreich“: Aus den Daten der Deutschen Kandidatenstudie 2009 lässt sich ermitteln, dass lediglich 1,9% der Listenkandidatinnen, 16,2% der Wahlkreiskandidatinnen und 43,3% der Kandidatinnen mit Listenplatz und Wahlkreisnominierung tatsächlich auch ein Mandat erlangten. Abbildung 9:
Nutzung postmoderner Wahlkampfmittel (Index-Mittelwerte) nach Parteizugehörigkeit und Wahlebene
SPD
CDU/CSU
FDP
Bündnis 90/Die Grünen
Die Linke
Europa
39.4
National
40.3
Europa
38.3
National
32.2
Europa
32.6
National
37.3
Europa
67.9
National
38.2
Europa
37.5
National
27.7
0
20
40
60
Nutzung internetbezogener Wahlkampfmittel
80
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
145
Tabelle 3 stellt die Intensität der Kampagnen aufgeschlüsselt nach Kandidatentypen dar; als zusätzliche Information sind die jeweiligen Mittelwerte über alle Typen hinweg angegeben. Für den Zeitaufwand und die Wahlkampfausgaben ergibt sich ein identisches Bild; auf beiden Wahlebenen gilt der Befund aus dem europaweiten Vergleichskapitel: Bessere Erfolgsaussichten sind mit mehr Engagement verbunden. Dabei betreiben aussichtsreiche Kandidatinnen bei den Europawahlen einen noch intensiveren Wahlkampf, als dies ihre nationale Pendants, Kandidatinnen mit Listenplatz und Wahlkreisnominierung, tun. Dies gilt ebenso für einen Vergleich chancenloser Kandidatinnen. Bei den Europawahlkampagnen handelt es sich also in Bezug auf die individuell gemessene Intensität keineswegs um Wahlkämpfe zweiter Ordnung, was durchaus als kontraintuitives Ergebnis bezeichnet werden muss. Tabelle 3:
Kampagnenintensität nach Kandidatentypen und Ebenen
National
Europa
Ebene
Mittelwert
Kandidatentyp
Wahlkampfintensität Zeit (in Stunden) Ausgaben (in €)
Chancenlos
27,4
4.444
Aussichtsreich
64,9
24.659
Liste
19,9
989
Wahlkreis
41,1
10.582
Liste + Wahlkreis
53,6
20.210
41,4
12.177
Analog zur vorangegangenen Tabelle werden die Aktivitäten und verwendeten Instrumente in Tabelle 4 dargestellt. Prinzipiell offenbaren sich hier sehr ähnliche Unterschiede zwischen den Kandidatentypen. Die Mittelwerte der aussichtsreichen Europakandidatinnen und jener der Kandidatinnen mit Listenplatz und Wahlkreisnominierung bewegen sich auf etwa ähnlichem Niveau, wobei klassische Wahlkampfmittel eher von nationalen und internetbezogene eher von europäischen Spitzenkandidatinnen verwendet werden. Zusammengefasst kann also festgehalten werden, dass es sich bei den Europawahlkämpfen auch in Bezug auf die verwendeten Mittel nicht um Nebenwahlkampagnen handelt.
146
Heiko Giebler & Andreas M. Wüst
Tabelle 4:
Kampagnenaktivitäten und -mittel nach Kandidatentypen und Ebenen
National
Europa
Ebene
Mittelwert
Kandidatentyp
Wahlkampmethoden Klassische Internetbezogene WahlWahlkampfmittel kampfmittel
Chancenlos
65,0
33,2
Aussichtsreich
83,6
51,6
Liste
60,4
15,5
Wahlkreis
89,3
34,6
Liste + Wahlkreis
92,8
45,9
78,2
36,2
7 Fazit Individuelle Wahlkämpfe stellen einen elementaren Bestandteil des Wahlprozesses dar. Ein besseres Verständnis dieser Kampagnen kann helfen, unser Bild von Wahlkämpfen, maßgeblich geprägt durch Analysen des Parteienwahlkampfs, der Aktivitäten von Spitzenkandidatinnen und der Medienberichterstattung, zu komplettieren. Dies gilt insbesondere für Europawahlen, die bislang in dieser Hinsicht kaum untersucht wurden. Auf der Basis neuer Kandidatenbefragungen wollte dieser Beitrag zwei Leitfragen beantworten: Erstens, welche Faktoren determinieren die Ausgestaltung individueller Wahlkämpfe bei Europawahlen? Und zweitens, handelt es sich bei Europawahlkampagnen tatsächlich um Wahlkämpfe zweiter Ordnung? Die Differenzierung der individuellen Wahlkampagnen erfolgte sowohl in Bezug auf ihre Intensität als auch auf die Diversität der verwendeten Mittel. In einem europaweiten Vergleich konnte nicht nur gezeigt werden, dass große Unterschiede existieren, sondern auch dass Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen – Mikro- (Kandidatinnen), Meso- (Parteien) und Makroebene (Länder) – diese erklären können. Insbesondere die Wahlchance, aber auch die Existenz von Präferenzstimmen oder die inhaltliche Position und Größe einer Partei, erwiesen sich als statistisch signifikante Prädiktoren für Unterschiede im individuellen Wahlkampf.
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
147
Die Annahme, dass es sich bei den individuellen Wahlkämpfen zur Europawahl um Nebenwahlkämpfe handelt, konnte – zumindest für das Jahr 2009 in Deutschland – nur zum Teil bestätigt werden. Mit Blick auf die Intensität der Wahlkämpfe zeigte sich, dass die Europakandidatinnen aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei zwar weniger Geld für den Wahlkampf ausgaben als die Bundestagskandidatinnen, doch hinsichtlich des Zeitaufwands war das Bild nicht eindeutig. Und bei der Wahl der Mittel konnte zwar eine etwas häufigere Nutzung klassischer Mittel im Rahmen der individuellen Wahlkämpfe bei der Bundestagswahl festgestellt werden, doch bei den postmodernen Mitteln war das Ergebnis wiederum uneinheitlich. Auf beiden Wahlebenen gab es allerdings einen großen Unterschied zwischen aussichtsreichen und aussichtslosen Kandidatinnen: Mit der Wahlchance stieg die Kampagnenintensität und die Nutzung verschiedener Wahlkampfmittel erheblich. Allerdings müssen die Ergebnisse der Vergleichsanalyse zwischen nationalen und Europawahlkämpfen mit zumindest zwei Warnhinweisen versehen werden. Erstens: Die hier untersuchten Wahlen fanden vergleichsweise kurz nacheinander statt. Aus früheren Untersuchungen von Nebenwahlen lässt sich schlussfolgern, dass Unterschiede zwischen Wahlen auf der nationalen und der europäischen Ebene zu Beginn bzw. Ende des nationalen Wahlzyklus geringer ausfallen (u.a. Reif/Schmitt 1980; Wüst/Roth 2005; Weßels/Franklin 2009). Entsprechend könnte die geringe Differenz zwischen der Intensität und den Aktivitäten auf beiden Ebenen zu einem gewissen Teil auch auf die zeitliche Verortung der Europawahl 2009 zurückzuführen sein. Aus dieser Perspektive war der Europawahlkampf bereits eine Art erste Stufe des Bundestagswahlkampfs. Glücklicherweise ermöglicht die 2009 European Election Candidate Study Vergleiche mit Wahlkämpfen in anderen Ländern, so dass weitere Forschungsanstrengungen möglich sind, um dieses potenzielle Problem der hier präsentierten Ergebnisse eingehender zu untersuchen. Zweitens: Die Gesamtintensität des Wahlkampfs ist bei nationalen Wahlen deutlich höher, wie am Beispiel Deutschland verdeutlicht werden kann: Bei der Europawahl traten für die fünf großen Parteien (Union, SPD, FDP, Bündnis 90/ Die Grünen und Linke) knapp 480 Personen an; bei der Bundestagswahl waren es über 2.000. Zusätzlich ergeben sich durch die Direktwahlkreise bei nationalen Wahlen, im Gegensatz zu einem einzigen nationalen Wahlkreis bei Europawahlen, offensichtlich andere Möglichkeiten der Kommunikation mit der Wählerschaft und gleichsam eine viel engere Anbindung an diese. Durch das erheblich größere Medieninteresse werden diese Effekte noch verstärkt. Es kann vermutet werden, dass sich diese Tatsache auch in der teils deutlich häufigeren Nutzung internetbezogener Aktivitäten und Instrumente im Europawahlkampf
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widerspiegelt, denn mit Hilfe dieser Instrumente können einfacher geographische Distanzen überbrückt werden. Letzteres muss ein Direktkandidat bei Bundestagswahlen nur bedingt leisten. 8 Literatur Brettschneider, Frank (2002): Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Campbell, James E. (2000): The American Campaign. U.S. Presidential Campaign and the National Vote. College Station: Texas A&M University Press. Cayrol, Roland (1991): European Elections and the Pre-Electoral Period. Media Use and Campaign Evaluations. In: European Journal of Political Research 19 (1), 17-29. de Vreese, Claes H./Lauf, Edmund/Peter, Jochen (2007): The Media and European Parliament Elections. Second-Rate Coverage of a Second-Order Event? In: van der Brug, Wouter/van der Eijk, Cees (Hg.): European Elections & Domestic Politics. Lessons from the Past and Scenarios for the Future. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 116-130. Denver, David/Hands, Gordon/Fisher, Justin/MacAllister, Iain (2003): Constituency Campaigning in Britain 1992-2001. Centralization and Modernization. In: Party Politics 9 (5), 541-559. Denver, David/Hands, Gordon/MacAllister, Iain (2004): The Electoral Impact of Constituency Campaigning in Britain 1992-2001. In: Political Studies 52 (2), 289306. EES (2010): European Parliament Election Study 2009. Candidate Study. Advance Release. Online unter: www.piredeu.eu; Abruf am 20.08.2010. Farrell, David M./Webb, Paul (2000): Political Parties as Campaign Organizations. In: Dalton, Russel J./Wattenberg, Martin P. (Hg.): Parties without Partisans. Political Chance in Advanced Industrial Democracies. Oxford: Oxford University Press, 102-128. Ferrara, Federico/Weishaupt, J. Timo (2004): Get Your Act Together. Party Performance in European Parliament Elections. In: European Union Politics 5 (3), 283-306. Filzmaier, Peter/Plasser, Fritz (2001): Wahlkampf um das Weiße Haus. Presidential Elections in den USA. Opladen: Leske+Budrich. Franklin, Mark N. (2007): Effects of Space and Time on Turnout in European Parliament Elections. In: van der Brug, Wouter/van der Eijk, Cees (Hg.): European Elections & Domestic Politics: Lessons from the Past and Scenarios for the Future. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 13-31. Gallagher, Michael/Marsh, Michael (1988): Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London: Sage. German Longitudinal Election Study (2010): German Longitudinal Election Study. Komponente 6. Kandidatenstudie. Online unter: http://www.dgfw.info/gles.php? show=component&component=6&lang=de; Abruf am: 20.08.2010.
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009
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Anhang Tabelle 5:
Übersicht über die Einordnung der Wahlkampfaktivitäten und Wahlkampfinstrumente
Wahlkampfaktivitäten und -instrumente
Klassisch (vormodern)
Persönliche Flugblätter
X
Persönliche Wahlplakate
X
Wähler an der Haustür oder auf der Straße persönlich ansprechen
X
Presseaktivitäten und Interviews
X
Teilnahme an öffentlichen Diskussionen
X
Besuch von Spendenveranstaltungen oder von Unternehmen und Vereinen
X
Treffen mit Parteifunktionärinnen und -mitgliedern
X
internetbezogen (postmodern)
Persönliche Internetpräsenz
X
Nutzung eines Blogs
X
Kontakt mit Wählern über soziale Netzwerke wie Facebook
X
Online-Chat mit Wählerinnen
X
MEDIENANGEBOTE UND MEDIENINHALTE
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten: Haupt- und Nebenwahlkämpfe in Tageszeitungen am Beispiel der Bundestags- und Europawahlen 1979-2009 Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
1 Einleitung Im Jahr 2009 traf es sich, dass in der Bundesrepublik Deutschland die (siebte) Wahl zum Europäischen Parlament und die (siebzehnte) Bundestagswahl im Abstand von nur wenigen Monaten anberaumt waren: die erstere am 7. Juni, die letztere am 27. September. Da die Europawahl seit 1979 alle fünf Jahre, die Bundestagswahl seit 1949 aber (normalerweise) alle vier Jahre stattfindet, war diese Koinzidenz ein seltener Fall, der (nach 1994) erst zum zweiten Mal eintrat. Damit rückten zwei Wahlen in eine zeitliche Nähe, die von ihrer Funktion und Bedeutung sehr unterschiedlich sind. Während bei der Europawahl das gemeinsame Parlament der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) bestimmt wird, das über begrenzte, wenn auch im Laufe der Jahre gewachsene Kompetenzen verfügt, wird in der Bundestagswahl über die Zusammensetzung des Bundestages, des nationalen Parlaments, entschieden und mittelbar darüber, wer im Lande regiert und wie die Machtverteilung aussieht. Schon nach der ersten Europawahl 1979 setzte sich der Eindruck fest, dass es sich bei dieser um eine nachrangige Wahl handele, zumindest gemessen an den nationalen Parlamentswahlen, die als Maßstab, sozusagen als ‚benchmark‘, dienen konnten. Das fand seinen Niederschlag auch in der wissenschaftlichen Forschung. Karlheinz Reif und Hermann Schmitt (1980) prägten seinerzeit die Formel der „second-order national elections“, die sie von den „first-order national elections“ abhoben. Für den erstgenannten Begriff führten die Autoren im Deutschen den Begriff „Nebenwahl“, für den zweiten den Begriff „Hauptwahl“ ein. Die damit geschaffene Begrifflichkeit hat sich in der Folgezeit fest im Sprachgebrauch etabliert, im Englischen ebenso wie im Deutschen. Ihre Urhe-
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
ber haben sie selbst später wieder verwendet (vgl. Reif 1984, 1997),1 sie auch nach einem Vierteljahrhundert 1999 und 2004 überprüft und – „surprisingly enough“ (Schmitt 2005: 650) – in den Grundannahmen bestätigt gefunden. In den ersten, bereits vorliegenden Publikationen zur Europawahl 2009 wird die Frage „still second-order?“ (Schmitt 2010: 1; vgl. auch Schmitt et al. 2009; Niedermayer 2009) ebenfalls wieder aufgeworfen. Durchgängig ließ sie sich stets bejahen und vor allem an drei Befunden festmachen: dass die Wahlbeteiligung bei Europawahlen geringer ist als bei nationalen Wahlen, dass Regierungsparteien und große Parteien bei ihnen im Vergleich zur Bundestagswahl Stimmen verlieren und kleine Parteien solche gewinnen.2 Allerdings zeigte sich 1999 und 2004, dass dergleichen primär auf die alten Mitgliedsstaaten der EU zutraf, nicht so auf die damals neu hinzugekommenen (vgl. Schmitt 2005; Koepke/Ringe 2006). 2 Von „second-order elections“ zum „second-rate coverage“ Es verwundert nicht, dass auch andere Autoren die Rede von den „second-order elections“ aufgriffen und sich dieser Begrifflichkeit bedienten (vgl. u.a. Marsh 1998, 2005, 2007; Hix/Marsh 2007). Das betrifft nicht nur die politikwissenschaftliche Wahlforschung, sondern auch die kommunikationswissenschaftliche, die sich mit der Rolle und Wirkung der Medien bei diesen Wahlen beschäftigt. Auch diese Forschung setzte schon mit der ersten Europawahl 1979 ein und hat die folgenden Wahlen begleitet – von Beginn an mit besonderem Augenmerk auf das Fernsehen (vgl. u.a. Blumler 1983; Holtz-Bacha 2005; Tenscher 2005; Maier/Tenscher 2006). Aber erst später wurde der Gedanke der „second-order election“ darin rezipiert und in die Formel von der „second-rate coverage“ (de Vreese et al. 2007; vgl. Tenscher/Maier 2009) umgemünzt. Mit den Fragestellungen erweiterte sich auch das untersuchte Medienspektrum. Waren zunächst nationale Studien üblich, so kamen seit 1999 auch solche hinzu, in die sämtliche Mitgliedsländer der EU einbezogen wurden (vgl. de Vreese et al. 2007; de Vreese/Semetko 2009). Damit sollten transnationale Vergleiche innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft ermöglicht werden. Eine Bestätigung der „second-order“-These sah man im geringen Umfang der 1 2
Karlheinz Reif spricht hier mit Blick auf die Europawahlen sogar von „third order elections“ (1997: 121). Dies ist nicht allein ein Effekt der Nebenwahl; auch andere wahltaktische Überlegungen spielen bei den Wählern eine Rolle. Ungefähr 85% aller Wähler stimmen sowohl bei nationalen als auch bei Europawahlen für das gleiche ‚Lager‘ (vgl. Carrubba/Timpone 2005).
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
157
Medienberichterstattung (vgl. Reif/Schmitt 1980), in der ‚Unsichtbarkeit‘ des Europäischen Parlaments (EP) und auch darin, dass eher nationale als europäische Themen den Wahlkampf und die Berichterstattung bestimmten. Woran es jedoch fehlte, das waren direkte Vergleiche der Berichterstattung über Europawahlen („Nebenwahlen“) und nationale Parlamentswahlen („Hauptwahlen“). Solche Vergleiche setzen standardisierte Erhebungen über beide Arten von Wahlen voraus. In diesem Sinne haben Jesper Strömbäck und Lars Nord (2008) einen Vergleich der Berichterstattung über die Europawahl 2004 und die nationale Parlamentswahl 2002 in Schweden angestellt, wenn auch nur anhand weniger Merkmale. Das „second-order-model“ ließ sich aber auch hier bestätigen. Allerdings machten die Autoren dafür nicht die Medien selbst, sondern die geringeren Wahlkampfinvestitionen der Parteien verantwortlich. In Deutschland bot sich die Chance zu einem Vergleich zwischen Hauptund Nebenwahlen durch die Zusammenführung von zwei getrennten, aber aufeinander abgestimmten Untersuchungen. Ausgehend vom Jahr 1998 hatten Jürgen Wilke und Carsten Reinemann zunächst retrospektiv die Wahlkampfberichterstattung zu allen Bundestagswahlen seit 1949 komparativ untersucht. Neben dem Umfang, den Quellen, den Darstellungsformen und Themen interessierte vor allem die Präsentation der jeweiligen Kanzlerkandidaten (vgl. Wilke/ Reinemann 2000). Angesichts der damit einmal gebildeten Zeitreihe lag es nahe, diese Untersuchung bei den folgenden Bundestagswahlen fortzusetzen. Dies geschah denn auch anlässlich der Bundestagswahlen 2002 (vgl. Wilke/Reinemann 2003), 2005 (vgl. Wilke/Reinemann 2006) und 2009 (vgl. Wilke/Leidecker 2010). Die Europawahl 2005 bot schließlich die Gelegenheit, eine ähnliche Studie auch zur Berichterstattung über die Europawahlen seit 1979 durchzuführen. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse wurden zum einen für sich genommen publiziert (vgl. Wilke/Reinemann 2005a), dann aber – so weit möglich – mit den Befunden der Bundestagswahlen seit 1980 konfrontiert (vgl. Wilke/Reinemann 2005b). Die Möglichkeit dazu resultierte aus einer methodischen Synchronisation. Zwar waren die Kategorien der Europawahl-Studie notwendigerweise auf die Spezifika dieser Wahlen abgestellt. Andererseits wurden sie aber auch in mehrerlei Hinsicht mit denen zu den Bundestagswahlen gleich gehalten. Daraus resultierte die Möglichkeit, die Berichterstattung zu Europawahlen und Bundestagswahlen seit 1979/80 jeweils miteinander zu vergleichen. Keine andere bekanntgewordene Studie bietet einen solchen Vergleich zwischen den sogenannten „Haupt“- und „Nebenwahlen“. Um die Chance dieses Vergleichs weiter zu nutzen, wurden auch 2009 die Europa- und die Bundestagswahl inhaltsanalytisch untersucht. Im Folgenden werden die Daten für beide Wahlen präsentiert
158
Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
und die Zeitreihe seit 1979/80 damit fortgesetzt.3 Außer den komparativen Daten sollen auch einige wichtige Befunde zur Europawahl für sich genommen präsentiert werden. 3 Anlage der Untersuchung Grundbedingung für einen methodisch validen Vergleich sowohl in der Zeitreihe als auch zwischen den zwei Typen von Wahlen ist die Konstanz des Erhebungsinstruments. Durchgeführt wurde jeweils eine quantitative Inhaltsanalyse von vier deutschen Tageszeitungen,4 der „Frankfurter Rundschau“ (FR), der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) und der Zeitung „Die Welt“ (DW). Dies sind (auch) überregional verbreitete Blätter bzw. Organe, die laut Media Tenor (2010) im Ranking der von Medien zitierten Medien vordere Plätze belegen und denen in Deutschland eine besondere journalistische Qualität attestiert wird. Qualitätszeitungen unterscheiden sich zwar hinsichtlich der Themenauswahl und -gewichtung sowie der Kommentierung von EU-Themen kaum von Regionalzeitungen (vgl. Vetters 2007). Die Befunde für diese vier Zeitungen können aber trotzdem nicht für die gesamte deutsche Tagespresse verallgemeinert oder gar insgesamt auf andere Medien übertragen werden. Sie dürften in der Wahlkampfberichterstattung eher ‚Maximalwerte‘ in Umfang und Vielfalt erbringen. Vor allem repräsentieren die vier Zeitungen recht gut das politische Meinungsspektrum im deutschen Journalismus zwischen links (FR), Mitte-links (SZ), Mitte-rechts (FAZ) und rechts (DW) (vgl. Maurer/Reinemann 2006; Brettschneider 2008). Als Untersuchungszeitraum wurden jeweils die letzten vier Wochen vor dem Wahltag gewählt.5 Damit wird zwar nur ein Teil der Wahlkämpfe insgesamt abgebildet, denn diese beginnen selbstverständlich schon früher. Allerdings gibt es auch keinen eindeutig definierten, verbindlichen Start. Für die Beschränkung auf vier Wochen waren forschungsökonomische Gründe ausschlaggebend, aber auch die durch Interviews mit Wahlkampfmanagern der 3 4 5
Die Durchführung der Untersuchung wurde durch finanzielle Unterstützung der FAZIT-Stiftung ermöglicht, wofür an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei. Dank gilt auch den Codierern Marcel Giersdorf, Mareike Hohls, Alexander Stephan, Stephanie Süß und Jonas Trautner. Tageszeitungen sind in den Augen der deutschen Bevölkerung die objektivsten und verlässlichsten Berichterstatter über die EU (vgl. Eurobarometer 68). Das ist mehr, als in den meisten anderen Studien üblich ist. Claes de Vreese et al. (2007) analysierten die letzten zwei Wochen, Jesper Strömbäck und Lars Nord (2008) sowie Kerstin Faßbinder (2009) die drei letzten Wochen vor dem Wahltag. Leidglich Andrew Williams et al. (2008) begannen dreieinhalb Monate vor dem Wahltag.
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Parteien bestätigte Überzeugung, dass es sich bei den letzten vier Wochen um die ‚heiße Phase‘ des Parteienwettkampfs handelt (vgl. Wagner 2010). Zugrunde gelegt wurde der Untersuchung im Fall der Bundestagswahl jeder zweite Artikel (samt eventueller Bilder sowie alle Einzelbilder) auf der Titelseite, im politischen Teil oder im Ressort Vermischtes, die einen Bezug zu dieser Wahl und dem Wahlkampf aufwiesen (Stichprobe). Die Daten lassen sich auf die Grundgesamtheit hochrechnen. Aufgreifkriterium für die Inhaltsanalyse war, ob in der Überschrift oder zu Beginn des Artikels ein Kanzlerkandidat oder die Wahl und der Wahlkampf thematisiert wurden (vgl. zum Vorgehen auch Wilke/Leidecker 2010). Im Fall der Europawahl wurden in einem ersten Schritt alle Artikel (Vollerhebung) ermittelt, die in der Schlagzeile oder im ersten Abschnitt die Europäische Union oder ihre Institutionen bzw. den Wahlkampf erwähnten. In einem zweiten Schritt wurden nur noch diejenigen Artikel weiter verschlüsselt, in denen ein Bezug zur Europawahl oder den Kandidaten für das EP erkennbar war. Dies sind die Beiträge, die als „Europawahlberichterstattung“ klassifiziert wurden und welche die Basis für den folgenden Vergleich mit der Berichterstattung über die Bundestagswahlen bilden. In einem dritten Schritt wurden einzelne Merkmale lediglich für die Berichterstattung über den Europawahlkampf in Deutschland erhoben. Maßgeblich war, ob Artikel mindestens einen Absatz der Wahl in Deutschland widmeten oder Deutschland im Kontext des Artikels anderweitig eine hohe Bedeutung hatte bzw. Fotos gezeigt wurden, die einen deutschen Kandidaten zur Europawahl abbildeten. Auch dieser Teil der Berichterstattung wird im Folgenden für Vergleiche herangezogen, etwa wenn es um die Frage der Personalisierung geht. In der Inhaltsanalyse wurde die einschlägige Berichterstattung der vier genannten Zeitungen anhand einer Reihe von Kategorien verschlüsselt. Gemessen werden sollten der Umfang, die Platzierung und der zeitliche Verlauf der Beiträge vor dem Wahltag. Weiterhin interessierten die verwendeten journalistischen Darstellungsformen und die Herkunft bzw. die Urheber der Beiträge. Darüber hinaus sollen aber auch Aussagen über den Grad der Personalisierung, der Visualisierung und der Authentizität der Berichterstattung gemacht werden.6 Die Ergebnisse der beiden Inhaltsanalysen aus dem Jahr 2009 werden einander gegenüber gestellt und an die Daten der früheren Untersuchung angefügt. Die Präsentation folgt einer chronologischen Zeitreihe. Diese umfasst für die Bundestagswahl die Jahre 1980, 1983, 1987, 1990, 1994, 1998, 2002, 2005 und 2009. Für die Europawahl erstreckt sich die Zeitreihe auf die Jahre von 1979 6
Jede Kategorie der Inhaltsanalyse wies bei Berechnung des Intra- und Intercoderreliabilitätskoeffizienten nach Holsti Werte über 0,8 auf.
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über 1984, 1989, 1994, 1999, 2004 bis 2009. Im ersten Fall ergeben sich neun, im zweiten Fall sieben Messzeitpunkte. Wie in früheren Veröffentlichungen (vgl. Wilke/Reinemann 2005b) werden die Ergebnisse im Folgenden zum Teil in einer ‚gemischten‘ Zeitreihe präsentiert, sozusagen in der Chronologie der ‚Wahlereignisse‘, zum Teil aber auch – aus Gründen der Transparenz – für Bundestagswahlen und Europawahlen für sich genommen. Man sollte sich bewusst sein, dass das chronologische Nacheinander (und das räumliche Nebeneinander in den Abbildungen) nicht zwingend eine Beziehung oder einen Zusammenhang impliziert. Alle vier untersuchten Zeitungen werden im Folgenden – schon aus Platzgründen – zusammen betrachtet; entsprechende Unterschiede werden in der Regel nicht diskutiert (vgl. dazu für die Bundestagswahl Wilke/Leidecker 2010). 4 Ergebnisse 4.1 Umfang der Berichterstattung, Platzierung und Bedeutung des EP Der Umfang der Berichterstattung ist ein grundlegender Indikator für die Bedeutung, die die Medien einer Wahl in der Demokratie zuschreiben. Doch wird dieser jeweils auch durch die konkurrierende Ereignislage (mit-)bestimmt. 2009 veröffentlichte von den untersuchten Zeitungen die SZ im Untersuchungszeitraum die größte Anzahl von Beiträgen mit EU- oder Europawahlbezug (133), vor der FAZ (104), der „Welt“ (82) und der FR (57). Rund 52 Prozent der Beiträge aus der Vollerhebung lassen sich im eigentlichen Sinne der Europawahlberichterstattung zurechnen. Abbildung 1 veranschaulicht, in wie vielen Artikeln in den untersuchten Zeitungen die Bundestagswahlen und die Europawahlen seit 1979/80 behandelt wurden. Im Zeitverlauf zeigt sich, dass in den vier untersuchten Zeitungen über die Bundestagswahlen stets umfangreicher berichtet wurde als über die Europawahlen. Das bestätigt grundsätzlich die These von „Haupt-“ und „Nebenwahlen“ und der Etikettierung der Europawahl 2009 als „Wahl im Schatten“ (Fahrenholz 2009) der nachfolgenden Bundestagswahl. Insgesamt beschäftigten sich mit den Bundestagswahlen bis 2009 mehr als fünf Mal so viele Artikel wie mit den Europawahlen (deren Zahl im Untersuchungszeitraum allerdings um zwei geringer war). Dabei waren die Unterschiede zwischen Bundestagswahl und Europawahl zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich groß. Zwischen Mitte der 1980er und Mitte der 1990er Jahre waren sie vergleichsweise gering, am größten waren sie nach der Jahrtausendwende. Das hatte vor allem mit den Schwan-
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kungen in der Berichterstattung zur Bundestagswahl zu tun. Diese erreichte 2002 und 2005 ihre Höhepunkte mit jeweils über 1.100 Artikeln. Dagegen veränderte sich die Zahl der Beiträge zur Europawahl über die Zeit hinweg absolut gesehen nur in geringerem Maße. Die wenigsten Artikel brachten die vier Zeitungen 1984 (133), die meisten 1999 (222). Die relativen Schwankungen waren aber auch hier nicht unerheblich. Abbildung 1:
Umfang der Berichterstattung über die Europawahlen 1979-2009 und die Bundestagswahlen 1980-2009 (Anzahl der Beiträge)
1400
1200
Europawahlen Bundestagswahlen
1000
800
600
400
200
0
Basis: 1.259 Beiträge über Europa- und 6.728 Beiträge über Bundestagswahlen (bei BTW: Hochrechnung auf Basis einer 50%-Stichprobe)
Besonders augenfällig war 2009 der Rückgang der Berichterstattung zur Bundestagswahl. Nachdem deren Umfang seit Anfang der 1990er Jahre enorm angestiegen war, sank er jetzt dramatisch ab, und zwar von (hochgerechnet) 1.134 Beiträgen (2005) auf nur noch 604 (2009). Das kam nahezu einer Halbierung gleich. Mehrere Faktoren dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein: der geringe Spannungsgehalt wegen des zu erwartenden Wahlausgangs und der wenig leidenschaftliche Tenor des Wahlkampfs, für den es objektive und subjektive Gründe gab (vgl. Köcher 2009). Eine Große Koalition hatte regiert, deren Partner sich schwerlich angreifen konnten, vor allem aber legte es die
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel darauf an, Konflikte herunterzuspielen und entsprechende Themen auszusparen (vgl. Wilke/Leidecker 2010). Deutlich im Gegensatz dazu steht, dass der Umfang der Berichterstattung zur Europawahl zunahm, und zwar von 167 Artikeln (2004) auf 195 (2009). Das war gut ein Fünftel mehr, ja der dritthöchste Wert, der nur 1999 deutlich übertroffen worden war. Obwohl also 2009 die Differenz im Umfang zwischen den beiden Wahlen geringer ausfiel als zuvor, ändert das im Prinzip wenig an der weiter bestehenden Kluft zwischen Haupt- und Nebenwahl. Nicht nur bei der Anzahl, sondern auch bei der Platzierung der Beiträge schneiden die Bundestagswahlen in den untersuchten Zeitungen besser ab als die Europawahlen. Dabei haben die letzteren eher noch an ‚Sichtbarkeit‘ eingebüßt. Standen bei der ersten Wahl 1979 noch 18 Prozent und 1984 noch 17 Prozent der Artikel auf der ersten Seite, waren es 2004 noch 12 Prozent und 2009 nur sechs Prozent. Das Thema wurde folglich immer mehr bloß im Innenteil der Blätter abgehandelt. Mehr als die Zahl der zur Europawahl publizierten Artikel und ihre Platzierung ließ jedoch die explizite Bewertung durch die Journalisten die gleichwohl gewachsene Bedeutung des EP erkennen. Eine große Bedeutung maßen ihm explizit 1979 und 1984 nur zwei Prozent der Artikel zu, 1994 waren es sechs Prozent und 2004 13 Prozent. Dieser Wert ist 2009 nochmals leicht auf 15 Prozent gestiegen. Noch deutlicher wird dieser Trend, wenn man die Gegenrechnung aufmacht: 1979 maßen noch 15 Prozent der Artikel dem EP geringe oder mittlere Relevanz zu, 1984 waren es 17 Prozent, 2004 neun Prozent. Und 2009 sprachen lediglich drei Prozent der Artikel von geringer oder mittlerer Bedeutung. Wenn die Journalisten Europa- und Bundestagswahlen verglichen, so sprachen sie auch viel seltener als früher von einer „Testwahl“. Nur in fünf Prozent der Beiträge zur Europawahl 2009 wurde diese noch als nationale Testwahl bezeichnet, 1989 und 1994 waren es 15 Prozent, 1999 14 Prozent und 2005 10 Prozent gewesen. Gleichwohl schlägt sich der anerkannte Bedeutungsgewinn des EP in der Wahlkampfberichterstattung kaum angemessen nieder. 4.2 Verlauf der Berichterstattung Wie sieht es mit dem Verlauf und der Dynamik der Berichterstattung in den vier Wochen vor dem Wahltag aus? Auch darin unterscheiden sich Bundestags- und Europawahlen (vgl. Abbildung 2). Im Durchschnitt ist der Anteil der Artikel in den vier Wochen vor dem Wahltag bei Bundestagswahlen ziemlich gleich. Publiziert wird jeweils rund ein Viertel der in diesem Zeitraum erschienen Beiträ-
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
163
ge. Die Berichterstattung verteilt sich in der ‚heißen Phase‘ somit gleichmäßig, obwohl es ‚Ausschläge‘ an einzelnen Tagen aufgrund bestimmter Ereignisse (bspw. TV-Duelle) gibt. Anders dagegen ist dies bei der Europawahl. Hier liegt der relative Anteil der Artikel in der vierten oder dritten Vorwahlwoche noch deutlich unter dem Durchschnitt; und er steigt erst in der letzten Woche stark an. An den sechs Wochentagen vor dem Wahltag wurde im Durchschnitt knapp die Hälfte der Wahlkampfbeiträge publiziert. Abbildung 2:
Verlauf der Berichterstattung über die Europawahlen 1979-2009 und die Bundestagswahlen 1980-2009 (Anteil der Beträge pro Woche)
50
40
Europawahlen
Bundestagswahlen
30
20
10
0 4 Wochen vorher
3 Wochen vorher
2 Wochen vorher
Woche vor der Wahl
Basis: 1.259 Beiträge über Europa- und 3.364 Beiträge über Bundestagswahlen (Stichprobe)
Die Berichterstattung der Zeitungen zur Europawahl konzentriert sich mithin viel stärker auf die Schlussphase des Wahlkampfs. Erst wenn der Wahltag bevorsteht, schenken ihm die Journalisten größere Beachtung. Das hängt möglicherweise auch mit vermehrten Wahlkampfeinsätzen der Parteien zusammen, spricht aber auch für eine ‚last minute‘-Thematisierung. Dann ist es aber gewiss zu spät, um noch einen Mobilisierungseffekt bei der Wahlbeteiligung auszulösen (vgl. den Beitrag von Schoen und Teusch in diesem Band).
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
4.3 Journalistische Darstellungsformen und Urheberschaft Die Inhaltsanalyse zu den Bundestagswahlen hatte schon seit den 1950er Jahren eine allmähliche, aber stetige Veränderung bei den verwendeten journalistischen Formen der Berichterstattung gezeigt, die sich als „Subjektivierung“ (Reinemann 2008: 183) bezeichnen lässt. Machten Nachrichten und Berichte, also ‚objektive‘ Formen, anfangs noch mehr als vier Fünftel der Beiträge aus, so nahmen Reportagen, Kommentare, Glossen Interviews, d.h. eher ‚subjektive‘ Formen, zu. In den 1990er Jahren war der Anteil der ‚objektiven‘ Formen auf unter 60 Prozent gesunken. Dieser Wandel, der sich unter anderem aus Anpassungsprozessen der Zeitungen an veränderte Leserwünsche und Marktsituationen ergibt (vgl. Noelle-Neumann 1986; Mast 2007), zeigt sich, wie zu erwarten, auch in der Berichterstattung zu den Europawahlen (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: 80
Anteil der tatsachenbetonten Darstellungsformen in Beiträgen über Europa- und Bundestagswahlen (in Prozent) Europawahlen
Bundestagswahlen
60
40
20
0
Basis: 1.259 Beiträge über Europa- und 3.364 Beiträge über Bundestagswahlen (Stichprobe)
Stellten Nachrichten und Berichte 1979 noch 68 Prozent der Beiträge zur Europawahl, waren es 2009 nur noch 42 Prozent. Der Vergleich zeigt, dass der Rückgang dieser Darstellungsformen der ‚objektiven‘ Berichterstattung bei der
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
165
Europawahl genauso stark ausgeprägt ist wie bei den Bundestagswahlen. Nur noch zwei von fünf Beiträgen sind ‚klassische‘ Berichterstattung. Allein der Anteil von Reportagen/Features nahm in der Europawahl-Berichterstattung von 11 Prozent im Jahr 2004 auf 19 Prozent im Jahr 2009 zu. Hingegen halbierte sich fast der Anteil von Kommentaren, Leitartikeln und Glossen. Deutlich zugenommen haben die Porträts – vor allem in Form neuer Kleinstartikel im Rahmen größerer Textcluster. Ein deutlicher Trend zeigt sich seit längerem auch in den Quellen und der Urheberschaft der Wahlkampfberichterstattung. Das gilt sowohl für Bundestagsals auch für Europawahlen (vgl. Abbildung 4): Immer größer geworden ist der Anteil der redaktionellen Eigenbeiträge, immer geringer der der Fremdbeiträge, die von Nachrichtenagenturen übernommen werden. Bei den letzten drei Wahlen war nur noch jeder sechste bis jeder zehnte Beitrag fremdbeschafft. Wahlen sind also Ereignisse, bei denen die Zeitungen ihre Beiträge selbst verfassen und damit vermutlich auch eher ihre redaktionelle Linien erkennen lassen als bei anderen Geschehnissen. Abbildung 4: 100
Anteil der Eigenbeiträge der Redaktionen an Beiträgen über Europaund Bundestagswahlen (in Prozent) Europawahlen
Bundestagswahlen
80
60
40
20
0
Basis: 1.259 Beiträge über Europa- und 3.364 Beiträge über Bundestagswahlen (Stichprobe)
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
4.4 Themen und Landesbezug bei den Europawahlen Ein Vergleich der Themen von Bundestagswahlen und Europawahlen lässt sich wegen ihrer unterschiedlichen Rolle und Funktion im politischen System nicht oder nur begrenzt vornehmen. Aus diesem Grund erfolgt eine Fokussierung auf die Themenverteilung bei den bisherigen Europawahlen (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1:
Themen in der Europawahl-Berichterstattung 1979-2009 (Anteile in Prozent) 1979
Europäische Union EU allgemein Europäische Institutionen Europäisches Parlament Fraktionen des EP EU-Verträge/-Verfassung Politikfelder Summe Deutschland Politik allgemein Europawahl Institutionen / Parteien Politikfelder Andere Wahlen Summe Andere EU-Länder Politik allgemein Europawahl Institutionen / Parteien Politikfelder Andere Wahlen Summe Gesamtsumme
1984
1989
1994
1999
2004
2009
1 15 2 9 4 31
1 1 8 3 15 15 43
1 2 13 2 7 11 36
1 3 12 2 14 5 37
0,3 9 5 2 5 9 30
1 3 18 10 6 38
2 14 1 6 6 29
39 15 6 3 63
34 10 7 2 53
35 20 6 2 63
40 10 1 4 55
0,3 34 22 6 4 66
0,4 39 11 4 2 56
39 14 8 5 66
7 7 101
2 2 4 100
0,7 0,4 1 100
7 0,4 7 99
3 0,3 0,6 4 100
5 0,9 6 100
4 1 0,3 5 100
Basis: 818 Beiträge über den Europawahlkampf in Deutschland
Die Klassifikation besteht aus drei Themenfeldern und ist vor allem darauf angelegt zu prüfen, wie ‚europäisch‘ oder wie ‚national‘ die Berichterstattung ausfiel. International vergleichende sowie frühere nationale Studien zeigten,
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
167
dass die Darstellung der Europawahlen in der Presseberichterstattung bisher kaum eine europäische Perspektive eingenommen hat respektive EU-Themen in den Mittelpunkt gerückt hätte (vgl. Williams et al. 2008; Wilke/Reinemann 2007). Tabelle 1 zeigt erneut, dass die nationale Perspektive bei allen Europawahlen dominierte, und zwar in der Hälfte bis zu zwei Dritteln der Beiträge. 2009 stieg der nationale Bezug gegenüber 2004 sogar wieder an (von 56 Prozent auf 66 Prozent). Innerhalb dieses Themenfeldes nahm die Europawahl selbst immer den größten Anteil ein, zuletzt mit rund 40 Prozent. Die Wahl und der Wahlkampf zum Europäischen Parlament sind damit weniger Gegenstand der Berichterstattung, als wenn der Bundestag gewählt wird (vgl. Wilke/Leidecker 2010). Leicht abgenommen hat die Zahl der Beiträge, in denen die Journalisten der vier Tageszeitungen explizit einen Vergleich zwischen Europa- und Bundestagswahlen hinsichtlich der zu erwartenden Wahlbeteiligung vornehmen. War 2004 noch in 19 Prozent der Beiträge von einer niedrigeren Wahlbeteiligung bei den Europawahlen die Rede, enthielten 2009 nur 15 Prozent der Beiträge diese Vorhersage. Diese Werte liegen jedoch wesentlich höher als in früheren Wahlkämpfen (1979-1999: zwischen 5 und 10 Prozent), so dass hier nicht von einer Angleichung der beiden Wahlen gesprochen werden kann. Vielmehr bestätigten sich die Prognosen: Die Wahlbeteiligung in Deutschland stieg 2009 mit 43,3 Prozent im Vergleich zur letzten Europawahl 2004 (43 Prozent) zwar leicht an, blieb aber deutlich unter der Beteiligung an der Bundestagswahl 2009 (70,8 Prozent). Allerdings spielen verschiedene andere Themen bei der Europawahl eine geringere Rolle. Die Europäische Union war 2009 Thema in 29 Prozent der Beiträge, etwa so viel wie 1979 und 1999, aber weniger als 1984, 1989, 1994 und 2004. Nachrangige Aspekte waren dabei Europäische Institutionen und die Fraktionen des Europäischen Parlaments. Aber auch das Parlament selbst und die Verfassung bzw. der Lissabon-Vertrag wurden weniger behandelt als fünf Jahre zuvor, und das obwohl Leistungen und Erfolge des Europaparlaments insgesamt am dritthäufigsten zentrales Thema der Beiträge waren. Der Anteil der Berichterstattung über die Wahlkämpfe in anderen EU-Ländern blieb 2009 mit fünf Prozent gleichbleibend gering. Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise spielte diese in der Berichterstattung so gut wie keine Rolle. Lediglich sieben Artikel befassten sich damit (zumindest im politischen Teil der Zeitungen). Dass die Europawahl-Berichterstattung 2009 in Deutschland weniger „europäisch“ ausgerichtet war als 2004, zeigt sich auch am Landesbezug (vgl. Tabelle 2).
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
Tabelle 2:
Länderbezug der Europawahl-Berichterstattung 1979-2009 (Anteil an allen Ländernennungen in Prozent) 1979
EU-Länder als Gruppe genannt Erstteilnahme 1979 Belgien Dänemark Deutschland Frankreich Großbritannien Irland Italien Luxemburg Niederlande Erstteilnahme 1984 Griechenland Erstteilnahme 1989 Portugal Spanien Erstteilnahme 1999 Finnland Österreich Schweden Erstteilnahme 2004 Estland Lettland Litauen Malta Polen Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn Zypern Erstteilnahme 2009 Bulgarien Rumänien Summe
1984
1989
1994 17
2004
21
24
2009
15
20
2 4 42 14 7 2 7 2 5
1 1 48 11 8 0,5 7 0,5 2
2 3 50 5 6 3 3 1 2
0,4 3 46 10 6 1 5 1 4
1 2 49 5 5 1 4 1 2
0,4 1 40 5 6 2 3 1 4
1 49 3 6 3 2 5
-
2
1
1
1
0,4
-
-
-
1 4
1 3
1 3
1 2
2
-
-
-
-
1 2 2
2 1
3 1
-
-
-
-
-
0,4 3 1 2 0,4 -
1 1 2 3 1 -
101
100
98
101
100
1 1 100
100
19
1999
15
Basis: 1.259 Beiträge über den Europawahlkampf. Lesehilfe: 49 Prozent aller Ländernennungen entfielen 2009 auf Deutschland.
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Rund die Hälfte der Berichterstattung zur Europawahl in den vier untersuchten Zeitungen hatte einen Bezug zu Deutschland, so viel wie 1999 (49 Prozent), aber deutlich mehr als 2004 (40 Prozent). Die übrige Hälfte verteilte sich auf andere EU-Staaten. Von den damals 25 Mitgliedsstaaten kamen 17 in der Wahlkampfberichterstattung vor (2004: 19), darunter auch die neuen Beitrittsländer Bulgarien und Rumänien. Zehn wurden nicht erwähnt: Dänemark, Luxemburg, Griechenland, Portugal, Finnland, Slowenien, Slowakei, Zypern, Estland und Malta. Bemerkenswert ist, dass Frankreich, das bei den früheren Europawahlen (nach Deutschland) die meiste Aufmerksamkeit fand, in der Berichterstattung weiter an Bedeutung verliert. Ähnlich erging es Italien. Der Anteil Großbritanniens blieb hingegen stabil. Stärker beachtet wurde 2009 Irland, vermutlich weil die dort durch Volksentscheid zunächst herbeigeführte Ablehnung des Vertrags von Lissabon im Juni 2008 und der für Oktober 2009 angesetzte neuerliche Volksentscheid die Aufmerksamkeit für dieses Land erhöht hatte. 4.5 Kandidatenbezug und Personalisierung Bei Bundestagswahlen und Europawahlen gelten in Deutschland unterschiedliche Wahlsysteme. Für den Bundestag werden mit der Erststimme Wahlkreiskandidaten gewählt, mit der Zweitstimme die Parteien. Diese wiederum stellen entsprechend vor allem ihre Spitzenkandidaten heraus, bei denen es auf große Bekanntheit ankommt. Bei den Europawahlen werden hingegen nach Bundesoder Landeslisten Vertreter für das EP gewählt,7 wobei jeder Wähler eine Stimme hat. Weil dieses zunächst nur wenig zu entscheiden hatte, kandidierten eher verdiente Parteimitglieder aus der zweiten Reihe oder „altgediente Recken“ (Fahrenholz 2009). Das hat sich allerdings längst verändert. Dennoch ergab sich aus diesen Umständen, dass die Europawahlen weniger personalisiert waren als die Bundestagswahlen. Indessen zeigte sich bei der Berichterstattung zur Europawahl 2004 erstmals seit 1979 ein deutlicher Trend zur Personalisierung (vgl. Wilke/Reinemann 2005b). Dieser erscheint auch fünf Jahre später als konsolidiert: 2009 fanden die Kandidaten zur Wahl des Europaparlaments etwa in jedem zweiten Beitrag Erwähnung (vgl. Abbildung 5).
7
Von 32 an der Europawahl 2009 teilnehmenden Parteien stellten lediglich CDU und CSU (für Bayern) Landeslisten auf; alle übrigen eine Bundesliste.
170
Abbildung 5: 100
Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
Kandidatenbezug der Beiträge über die Europa- und Bundestagswahlen (in Prozent) Europawahlkandidaten
Kanzlerkandidaten
80
60
40
20
0
Basis: 818 Beiträge über den Europawahlkampf in Deutschland und 3.364 Beiträge über Bundestagswahlen (Stichprobe)
Nach wie vor stehen die Kanzlerkandidaten bei der Bundestagswahl aber mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dazu trägt auch eine deutlich stärker personalisierte Wahlkampfführung der Parteien bei. Bemerkenswert ist jedoch ein erkennbarer Anstieg der Personalisierung der Berichterstattung zur Europawahl. Die Kandidaten für das EP wurden in der Berichterstattung 2009 als wesentlich bekannter dargestellt als jemals zuvor. Hielten 2004 nur 4 Prozent der Beiträge die Kandidaten für das Europaparlament für mittelmäßig bis sehr bekannt, waren es 2009 12 Prozent. Auch ihre Qualifikation hat sich in den Augen der Journalisten deutlich verbessert. Seit 1979 stellten nie mehr als 4 Prozent der Beiträge die Kandidaten als „gut qualifiziert“ dar, 2009 waren es hingegen 16 Prozent. In einer weiteren Hinsicht noch hat sich 2009 der gewachsene Europabezug der Wahlkampfberichterstattung zum EP bestätigt: Während bei den Wahlen von 1979 bis 1999 in z.T. erheblichem Maße mehr die Spitzenpolitiker der Parteien als die EP-Kandidaten genannt wurden, kehrte sich dies 2004 und 2009 um. CDU/CSU-Kandidaten kamen im Jahr 2009 in 42 Prozent der Beiträge vor, SPD-Kandidaten in 39 Prozent. Das war jeweils etwas mehr als 2004. Die
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
171
stärkste Zunahme in der Erwähnung hatten FDP-Kandidaten zu verzeichnen, nämlich von 9 Prozent der Beiträge (2004) auf 27 Prozent (2009). Das war gewiss in erster Linie der FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin zu verdanken, die schon 2004 kandidiert hatte (vgl. Althaus 2009). An ihr und ihrer Präsenz im Europäischen Parlament hatte sich allerdings eine öffentliche Kontroverse entzündet (vgl. Schraven 2009). 4.6 Visualisierung der Kandidaten Noch offensichtlicher wird der Trend zur Personalisierung der Berichterstattung im Europawahlkampf anhand der von den Zeitungen vier Wochen vor der Wahl veröffentlichten Bilder. Wurde schon 2004 ein neuer Höchststand bei den Fotos der Europakandidaten erreicht, nämlich 24, so gab es 2009 einen weiteren Zuwachs auf 35 Bilder (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6: 180
Zahl der Bilder in der Berichterstattung über Europa- und Bundestagswahlen
160 140 Europawahlen
Bundestagswahlen
120 100 80 60 40 20 0
Basis: 818 Beiträge über den Europawahlkampf in Deutschland und 6.726 Beiträge über Bundestagswahlen (Vollerhebung von ‚Einzelbildern‘ und Hochrechung auf Basis einer 50%Stichprobe der ‚Beitragsbilder‘)
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Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
Am häufigsten abgebildet wurde Silvana Koch-Mehrin, die attraktive Spitzenkandidatin der FDP, die auf 11 Fotos zu sehen war (als einzige ihrer Partei), gefolgt von Martin Schulz (SPD, 4) und Hans-Gert Pöttering (CDU, 3). Eine viel stärkere Visualisierung hat es jedoch in der Berichterstattung zu den letzten drei Bundestagswahlen gegeben. Seit 2002 übersteigt die Zahl der Fotos der Kanzlerkandidaten die der EP-Kandidaten um rund 100. 4.7 Authentizität Spitzenkandidaten werden in der Berichterstattung nicht nur passiv dargestellt, sondern können auch aktiv mit Zitaten eingebunden werden. Je mehr sie in eigenen Worten wiedergegeben werden, desto größer ist der Grad der Authentizität der Berichterstattung (obwohl das natürlich nicht der einzige Indikator für Authentizität ist). Abbildung 7: 6000
Gesamtlänge der Kandidatenzitierung in Zeilen in der Berichterstattung über Europa- und Bundestagswahlen Europawahlkandidaten
Kanzlerkandidaten
5000 4000 3000 2000 1000 0
Basis: 818 Beiträge über den Europawalhkampf in Deutschland und 6.726 Beiträge über Bundestagswahlen (Hochrechnung auf Basis einer 50%-Stichprobe)
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
173
Wie aufgrund der gestiegenen Personalisierung zu erwarten war, wurde die Berichterstattung zur Europawahl bezüglich der Zitierung von Kandidaten auch ‚authentischer‘. Zwar erreichte die durchschnittliche Länge der Zitate der Kandidaten für das Europaparlament mit rund 14 Zeilen im Jahr 2009 einen neuen Tiefststand. Gleichzeitig war die die Summe aller Zitate mit 826 Zeilen zuvor nie so hoch gewesen (vgl. Abbildung 7 und 8). Zurückzuführen ist dies auf die vermehrte Zahl an Beiträgen, die mit Zitaten angereichert waren (58%); sie überstieg erstmals diejenigen ohne Zitate (42%). Abbildung 8:
Durchschnittliche Länge der Kandidatenzitierung in Zeilen
50 Europawahlkandidaten
Kanzlerkandidaten
40
30
20
10
0
Basis: 196 Beiträge mit Zitaten der Kandidaten über den Europawalhkampf und 921 über Bundestagswahlen (Stichprobe)8
In der Berichterstattung über die Bundestagswahlkämpfe lässt sich kein stetiger Zuwachs der Zitatlänge feststellen. Während die Kandidaten für das Europaparlament auf niedrigem Niveau immer häufiger in den Zeitungen mit eigenen Worten wiedergegeben werden, schwanken die Werte bei den Kanzlerkandidaten beträchtlich. Von einer klaren „second-rate“-Berichterstattung kann ange8
Aufgrund der über die verschiedenen Wahlen hinweg schwankenden Beitragszahlen, wird die Durchschnittslänge der Zitate nur aus den Artikeln berechnet, die auch Zitate enthielten.
174
Jürgen Wilke, Christian Schäfer & Melanie Leidecker
sichts der wesentlich höheren Zitiermenge bei der Bundestagswahl aber nicht gesprochen werden. Denn die durchschnittliche Länge der Zitate, und damit der Grad der Authentizität, ist bei beiden Wahlkämpfen ungefähr gleich groß – und das, obwohl Kanzlerkandidaten mit Parlamentskandidaten verglichen werden. 5 Fazit Unstrittig kann man davon sprechen, dass dem Europäischen Parlament von den Mitgliedsländern der EU seit einigen Jahren mehr Rechte zugestanden worden sind. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hält das EP nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages sogar für eine mächtige Institution, „denn über 90 Prozent aller europäischen Entscheidungen bedürfen […] künftig“ (Stoiber 2009: 9) dessen Zustimmung. Trotz dieses Machtgewinns investierten die sechs großen Parteien in Deutschland 2009 mit rund 30 Mio. Euro nicht mehr in den Europawahlkampf als bei den letzten beiden Wahlen. Das waren weniger als halb so viel wie für die Bundestagswahl im gleichen Jahr (70 Mio. Euro; vgl. auch den Beitrag von Tenscher in diesem Band).9 Auch deswegen bleibt nach Kenntnisnahme der hier vorgestellten Daten kein Zweifel, dass die vier wichtigsten deutschen Tageszeitungen die Europawahl noch immer als „Nebenwahl“ behandeln. Nach wie vor berichten FAZ, SZ, FR und „Die Welt“ während des Wahlkampfs weniger umfangreich über die Europa- als über die Bundestagswahlen. Sie platzieren Artikel über die ersteren schlechter, thematisieren sie erst ‚last minute‘, setzen bei der Thematisierung nationale Schwerpunkte, sagen eine geringe Wahlbeteiligung voraus, fokussieren ihre Beiträge auf Deutschland und bilden weniger Kandidaten ab. Betrachtet man also Form und Themen der Berichterstattung, bleibt die Europawahl unverändert eine „Wahl im Schatten“. Nimmt man aber die konkreten Bewertungen der Journalisten in den Blick, so sind doch ‚Schritte aus dem Schatten‘ zu erkennen. Sie haben das Europäische Parlament 2009 als wesentlich bedeutsamer eingeschätzt als zuvor. Sie haben viel seltener von einer „Testwahl“ für die Bundestagswahl dreieinhalb 9
Investitionen in den Europawahlkampf 2009 der CDU: 10 Mio. Euro; SPD: 11; FDP: 1,4; Bündnis 90/Die Grünen: 1,5; Die Linke: 3,5 (jeweils Auskunft der Wahlkampfmanager, vgl. Wagner 2010); die CSU gab auf Anfrage keine Auskunft, ihre Ausgaben dürften schätzungsweise bei 2-3 Mio. Euro gelegen haben. Für Zahlen zu den Wahlen 2004 und 1999 vgl. Tenscher (2007). Für Investitionssummen in den Bundestagswahlkampf vgl. Wilke/Leidecker (2010). Hierbei wurden auf Basis der früheren Wahlkämpfe 6,5 Mio. Euro für die CSU veranschlagt.
Mit kleinen Schritten aus dem Schatten
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Monate später gesprochen. Die von den Parteien für das EP nominierten Kandidaten wurden als bekannter und kompetenter dargestellt als jemals zuvor. Auch die durchschnittlichen Zitatlängen von Bundestags- und Europakandidaten lagen relativ nahe beieinander. Während über die Bundestagswahl 2009 deutlich weniger berichtet wurde als über diejenigen 2002 und 2005, erhöhte sich die Anzahl der Artikel über die Europawahl 2009 und war die höchste nach 1999. Diese Trends können den grundlegenden Eindruck der Europawahlberichterstattung als „second-rate coverage“ aber schwerlich entscheidend schmälern. Das schon 30 Jahre alte „second-order-model“ hat sich im Hinblick auf die Berichterstattung in deutschen Qualitätszeitungen im Grundsatz abermals bestätigt; gleichwohl aber auch der bei der Europawahl 2004 konstatierte Befund, dass den immer wieder kritisch gesehenen Defiziten langfristig gewisse Fortschritte in der EP-Wahlkampfberichterstattung gegenüberstehen (vgl. Wilke/Reinemann 2005a). Überdies zeigen sich mit dem Rückgang ‚objektiver‘ journalistischer Darstellungsformen sowie der Zunahme selbst erstellter Beiträge wahlübergreifende Trends in der Berichterstattung über Politik. Hierzu gehören auch das gleichbleibend hohe Niveau der Personalisierung und die zunehmende Visualisierung bei den Bundestagswahlen respektive der Zuwachs beim Kandidatenbezug und der Bilder der Kandidaten bei den Europawahlen. Solange Ortsverbände der Parteien den Europawahlkampf weiterhin als „Pflichtübung“ ansehen und Journalisten gegenüber Wahlkampfmanagern bei diesem Thema Angst vor einem „Quotenkiller“ bekunden (für diese Aussagen vgl. Wagner 2010), dürfte sich am „Schattendasein“ der Europawahlen kaum etwas ändern. Die vielfach gepriesenen neuen Wahlkampftools im Internet können jedenfalls nur einen sehr begrenzten Mobilisierungsbeitrag leisten (vgl. Albers 2009; Porten-Cheé 2010). In lediglich acht der 195 Beiträge wurde ein Bezug zu den Internetaktivitäten im Europawahlkampf hergestellt. Wollte man sowohl in der Bevölkerung als auch in den Medien eine größere Aufmerksamkeit für die Europawahlen erzielen, so gelänge dies nur, wenn das EP zukünftig nicht nur noch mehr Kompetenzen, sondern auch die Befugnisse erhielte, eine wie auch immer ausgestaltete EU-Regierung zu bestimmen (vgl. Martens 2009). Dieser Machtzuwachs müsste aber mit einer Beseitigung des Demokratiedefizits bei seiner Zusammensetzung einhergehen (vgl. Wessels 2006). Diese Erwartungen werden sich in absehbarer Zeit aber kaum erfüllen. Doch zu wünschen wäre den Europawahlen eine gesteigerte Aufmerksamkeit schon heute. Denn mehr Berichterstattung würde wahrscheinlich auch zu höherer Wahlbeteiligung führen (vgl. Döhner 2005). Die Legitimität der Entscheidungen des Europaparlaments würde steigen und gleichzeitig würde mehr medi-
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„Hast’ es nicht gesehen?!“ Haupt- und Nebenwahlkämpfe in deutschen Fernsehnachrichten Hajo G. Boomgaarden, Claes H. de Vreese & Holli A. Semetko
1 Einleitung Wahl ist nicht gleich Wahl, und Wahlkampf ist nicht gleich Wahlkampf. Insbesondere Wahlen und Wahlkämpfe zur nationalen Wahlen zeigen deutliche unterschiede zu jenen auf regionaler Ebene (vgl. Heath 1999; Freire 2004). Letztere werden als zweitrangig und untergeordnet beschrieben, was sich sowohl auf Wahlkampagnen als auch auf das Wählerverhalten auswirken kann. Auch bezüglich der Europawahl ist eine Zweitrangigkeit im Vergleich mit nationalen Wahlen, wie zum Beispiel der Bundestagswahl, wiederholt festgestellt worden (vgl. Reif/Schmitt 1980; van der Eijk/Franklin 1996). Wie den regionalen Wahlen wird auch der Europawahl eine geringere Bedeutung beigemessen. Diese Zweitrangigkeit der Europawahl kennzeichnet sich zum einen durch eine geringere Wahlbeteiligung und zum anderen durch eine deutliche und starke Fokussierung auf nationale Aspekte. In anderen Worten, die Wähler haben ein geringeres Interesse und wählen vorwiegend aufgrund nationaler Überlegungen, und die nationalen Politiker nutzen die Chance zur Profilierung, während EUPolitiker kaum in Erscheinung treten. Den Medien kann in solcher Situation eine entscheidende Rolle zukommen. Einerseits können sie mobilisierend wirken und somit auf die Wahlbeteiligung Einfluss nehmen und andererseits bieten die Medien ein Forum für die verschiedenen politischen Akteure. Die Tatsache, dass Wähler ihre Wahlentscheidung bei Nebenwahlen zu einem späteren Zeitpunkt treffen als bei Hauptwahlen (vgl. Eisinga 1997), verleiht einer Untersuchung der Kampagne in den Massenmedien zusätzliche Relevanz. Gibt es Unterschiede in der Medienberichterstattung von nationalen, erstrangigen Wahlen und zweitrangigen Wahlen? Nur wenige Studien bieten einen expliziten Vergleich der Medienberichterstattung zu Wahlkämpfen von Haupt- und Nebenwahlen (vgl. Schuck et al. 2006 sowie den Beitrag von Wilke, Schäfer und Leidecker in diesem Band). So zeigen Wilke und Reinemann (2005) in einem Vergleich von Europa- und BundesJ. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tagswahlberichterstattung in deutschen Tageszeitungen, dass der Hauptwahl wesentlich größere Bedeutung zugemessen wurde und dass diese Berichterstattung auch stärker personalisiert war. Das „Superwahljahr“ 2009 gibt Gelegenheit, eine Medienperspektive zum Thema Haupt- und Nebenwahlen zu geben, da innerhalb eines kurzen Zeitraums unter relativ konstanten systemischen Vorraussetzungen in Deutschland eine Haupt- und eine Nebenwahl stattfanden, wodurch die Ergebnisse einer Betrachtung der Medienberichterstattung gut vergleichbar sind. Auch eine Überschneidung beider Wahlen wäre nicht wünschenswert, da in einem solchen Fall die Bundestagswahlberichterstattung die Nachrichten über die Europawahl verdrängen würde (vgl. Boomgaarden et al. 2010a) und nationale politische Akteure in den Vordergrund gestellt würden (vgl. Boomgaarden et al. 2010b). Die vorliegende Studie beschäftigt sich konkret mit der Fernsehberichterstattung über die Bundestagswahl und die Europawahl 2009 in deutschen Nachrichtensendungen. Fernsehen ist für die Mehrzahl der Bürger das wichtigstes Medium, um Informationen über Politik zu bekommen, und Fernsehnachrichten erreichen täglichen einen großen Teil der Bevölkerung (vgl. Geese et al. 2009). Obwohl die TV-Nachrichten zwar in den letzten Jahren leichte Einbuße verzeichnen, haben sie immer noch relativ gute Einschaltquoten mit Marktanteilen von 7% (Sat.1 Nachrichten) bis 32% (ARD Tagesschau) (vgl. Zubayr/Gerhard 2010). Vor allem zu Wahlkampfzeiten erfahren Fernsehnachrichten einen zwar leicht abnehmenden, aber immer noch sehr großen Publikumszuspruch (vgl. Geese et al. 2009). Aber wie berichten die Hauptnachrichtensendungen der öffentlichrechtlichen und privaten Sender über Haupt- und Nebenwahlen, wie sichtbar ist die Wahlberichterstattung, welche Rolle kommt den politischen Akteuren zugute und wie konflikthaltig ist die Berichterstattung? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Studie nachgegangen. Sie stellt sich damit der Diskussion, ob und inwiefern die Medienberichterstattung als Indikator für die Zweitrangigkeit von Wahlen herangezogen werden kann. Dazu wird im Folgenden zunächst die Nebenwahlhypothese in Bezug auf Europawahlen allgemein besprochen. Im Anschluss werden die daraus hervorgehenden Erwartungen bezüglich der Fernsehberichterstattung dargelegt (Kap. 2). Nach einer kurzen Behandlung des Forschungsstandes und einer Ausführung der methodischen Herangehensweise (Kap. 3) wird zu den empirischen Ergebnissen übergegangen (Kap. 4). Abschließend folgt eine Diskussion der möglichen Konsequenzen dieser Ergebnisse (Kap. 5).
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2 Europawahl als Nebenwahl Auf Basis von Wahlergebnissen fasst Schmitt (2005) allgemein zusammen, wodurch sich zweitrangige Wahlen auszeichnen. Erstens ist die Wahlbeteiligung bei Nebenwahlen im Allgemeinen geringer – eine Konsequenz von geringerer Politisierung und niedrigerer Wählermobilisierung. Im Jahr 2009 zeigte sich, dass zwar mit nur 72,2% ein historischer Tiefpunkt in der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl erreicht war, dies jedoch im Vergleich zur Beteiligung von 43,3% bei der Europawahl noch ein erheblicher Unterschied ist. Bezüglich der Politisierung hat Tenscher (2006) bestätigt, dass die deutschen Parteien eine nur sehr zurückhaltende Kampagne für die Europawahl 2004 veranstalteten. Spiegelt sich ein solch gedämpftes Parteien- und Wählerinteresse in geringerer Medienaufmerksamkeit wider? Zum Zweiten spielt die vom Wähler als gering wahrgenommene Bedeutung von Nebenwahlen eine Rolle bei der Wahlentscheidung. Es wird bei Nebenwahlen häufiger die Gelegenheit genutzt, der Regierung „eins auszuwischen“. So zeigt sich, dass Regierungsparteien im Allgemeinen bei Nebenwahlen schlechter Abschneiden als Oppositionsparteien – in der Literatur wird dieses Phänomen als punishment trap angedeutet (vgl. Hix/Marsh 2007). Findet die Nebenwahl genau zwischen zwei Hauptwahlen statt, ist das schlechte Abschneiden der Regierungsparteien am deutlichsten ausgeprägt. In Bezug auf die Europawahlen scheint das Abstrafen der Regierungsparteien seit 1979 kontinuierlich zuzunehmen (vgl. Marsh 1998). Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die Stimmverteilung für große gegenüber kleinen und neueren Parteien. Strategische Entscheidungen und Parteiloyalitäten spielen bei Nebenwahlen eine geringere Rolle. Bei Hauptwahlen tendieren die Wähler dazu, ihre Stimme großen Parteien und nicht den kleinen und neuen Parteien zu geben, da letztere weniger Chancen auf eine Regierungsbeteiligung haben. Bei Nebenwahlen hingegen entscheidet eher das Herz, weniger der Kopf (vgl. Reif/Schmitt 1980), die Wahlentscheidung basiert auf echten Präferenzen (vgl. Koepke/Ringe 2006) und wird als aufrichtiger beschrieben (vgl. Carrubba/ J. Timpone 2005; Marsh 1998). Dies hat zur Folge, dass kleine Parteien im Allgemeinen besser bei einer Nebenwahl im Vergleich zu einer Hauptwahl abschneiden. Im „Superwahljahr“ 2009 lassen sich die beiden letzten Kategorien nicht voneinander trennen, da die beiden großen Volksparteien CDU (plus CSU) und SPD in der Regierung vertreten waren, während die kleinen Parteien gleichzeitig die Opposition stellten. Auch ist festzustellen, dass es im Gegensatz zu den allgemeinen Annahmen bei der Bundestagswahl leichte Verluste für die Regierungsparteien und leichte Gewinne für die kleinen Oppositi-
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onsparteien gab (vgl. den Beitrag von Schoen und Teusch in diesem Band). Es bleibt jedoch die allgemeine Frage, ob es Unterschiede in der Wahlberichterstattung über große und kleine Parteien während der zwei Wahlkämpfe gab. Abschließend ist festzustellen, dass Nebenwahlen oft nicht über die Themen ausgefochten werden, die im jeweiligen Falle für eine fundierte Wahlentscheidung ausschlaggebend sein sollten (bezüglich der Europawahl zum Beispiel Themen bezüglich der EU) sondern von nationalen Themen dominiert werden, für welche die zu wählenden Repräsentanten keine Befugnisse haben. Dies spiegelt sich auch in den Akteuren wider. Nationale politische Akteure werden aufgrund ihrer Prominenz im Nebenwahlkampf eingesetzt und nutzen diesen zur Profilierung. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend untersucht, ob und inwiefern nationale Akteure die Berichterstattung zur Europawahl 2009 dominierten. 2.1 Nebenwahlen und Medienberichterstattung In den oben angeführten Studien wird die Zweitrangigkeit der Europawahl anhand von Wahlergebnissen analysiert. Eine Analyse der Medienberichterstattung stellt eine alternative Herangehensweise dar, indem sie sowohl eine Reflektion der Bedeutsamkeit von Wahlkämpfen bietet als auch in einem wechselseitigen Prozess deren Bedeutsamkeit in der Öffentlichkeit beeinflusst. Medien stehen unter dem Einfluss von Politik und öffentlicher Meinung, sind aber auch am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung beteiligt und können somit einen Beitrag zu Wahlverhaltensmustern liefern. Mithin liefert eine Analyse der Medien eine alternative, aber durchaus komplementäre Sicht auf die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwahlen. Auf Basis der Literaturübersicht zu Europawahlen als Nebenwahlen werden im Folgenden inhaltsanalytische Indikatoren für einen Vergleich von Hauptund Nebenwahlen präsentiert: 1.
Sichtbarkeit: Die geringe Wahlbeteiligung bei Nebenwahlen im Vergleich zu Hauptwahlen mag ein Indikator für ein geringes Medieninteresse an Nebenwahlen sein. So wurde belegt, dass eine geringe Medienpräsenz der Europawahl 1999 in direktem Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung in den 15 Mitgliedsstaaten stand (vgl. Banducci/Semetko 2003). Da es angeblich bei der Europawahl ‚um Nichts geht’ (vgl. Reif/Schmitt 1980; Schmitt 2005), ist zu erwarten, dass auch die Medien ein geringeres Interesse an dieser Wahl zeigen. Je geringer das Medieninteresse, desto nebensächlicher
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erscheinen der Wahlkampf und die Wahl. Die Bundestagwahl sollte also eine deutlich größere Medienpräsenz haben als die Europawahl. Medienaufmerksamkeit für die Wahl an sich ist wichtig, da sie für die Wähler auf die Bedeutung der Wahl bewusst machen kann, und somit zu Mobilisierungseffekten führt. Dies ist insbesondere für Europawahlen mit allgemein niedriger Wahlbeteiligung von Belang. Nationaler Fokus: Die Europawahl ist laut der Nebenwahl-Hypothese durch eine Fokussierung auf die nationale Politik gekennzeichnet. Dieser nationale Fokus kann sowohl Themen- als auch Akteursbezug haben. Im Hinblick auf die Akteure kann also erwartet werden, dass in den Nebenwahlen nicht die eigentlich im Vordergrund stehenden Akteure – also die Kandidaten für das Europaparlament – auch im Zentrum der Berichterstattung stehen, sondern vor allem nationale politische Akteure. Dies lässt sich eventuell auch auf den häufig geringen Bekanntheitsgrad der EUParlamentarier zurückführen. So ist zu erwarten, dass bei der Europawahl ähnlich der Bundestagswahl vor allem nationale Akteure im Brennpunkt der Berichterstattung stehen. Das Demokratiedefizit der EU wird häufig in Zusammenhang gebracht mit dem fehlenden Gesicht der EU (vgl. Mayer 1999). Es wäre daher wünschenswert, einen hohen Anteil derjenigen Akteure in den Nachrichten zu sehen, auf die es ankommt, nämlich die Kandidaten für das Europaparlament. Parteienakteure: Bei Nebenwahlen schneiden kleine und auch neue Parteien im Allgemeinen besser ab als die großen, etablierten Volksparteien. Ebenso fahren Oppositionsparteien im Allgemeinen bessere Ergebnisse ein als Regierungsparteien. Es stellt sich daher die Frage, ob sich ein solches Muster auch in der Parteizugehörigkeit von Nachrichtenakteuren widerspiegelt. Akteure kleiner Parteien sollten demnach relativ zur Bundestagswahl häufiger in der Berichtstattung zur Europawahl vorkommen als Akteure großer Parteien. In Bezug auf das Jahr 2009 werden hier allerdings nur kleine Verschiebungen erwartet, da die Wahlergebnisse für große und für kleine Parteien bei der Europa- und der Bundestagswahl relativ ähnlich ausfielen. Konflikt: Bei der Europawahl steht (angeblich) weniger auf dem Spiel als bei der Bundestagswahl. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Themen bei der Europawahl weniger politisiert werden. Ein bedeutender Aspekt der Politisierung liegt im Konflikt zwischen politischen Akteuren über Themen und Lösungsansätze. Konfliktframes geben in diesem Zusammenhang Auskunft über den Konfliktgehalt der Nachrichtenberichterstattung (vgl. Semetko/Valkenburg 2000). Es kann also angenommen werden, dass die Berichterstattung zur Bundestagswahl einen höheren Gehalt
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an Konfliktframes aufweist als die Europawahlberichterstattung. Dabei kann Konflikt in der Wahlberichterstattung durchaus positive Auswirkungen haben. Schließlich stellen Konfliktframes deutliche Alternativen dar. Es wird dem Wähler bewusst gemacht, dass es eine Wahl zwischen verschiedenen Standpunkten gibt und dass sich in der Konsequenz der Wahl auch etwas verändern kann. 2.2 Forschungsstand Während die TV-Wahlberichterstattung zu Bundestagswahlen Gegenstand zahlreicher Forschungsvorhaben und Veröffentlichungen ist (vgl. Reinemann/Wilke 2001; Holtz-Bacha 2003, 2006; Schulz/Zeh 2006; Esser/Hamer 2008), liegen zum Thema „Europawahlen“ deutlich weniger Studien vor (vgl. Holtz-Bacha 2005; Machill et al. 2006; Maier/Maier 2008). Nachfolgend werden kurz die Ergebnisse entsprechender Inhaltsanalysen von Fernsehnachrichtensendungen während der Wahlkämpfe zu Bundestags- und zu Europawahlen in Bezug auf die oben genannten Kategorien besprochen. Diese lassen es zu, die Befunde in einer zeitlichen Perspektive einzuordnen. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass dem Bundestagswahlkampf in den TV-Nachrichten eine große und in den letzten Jahrzehnten relativ stabile Bedeutung zukommt (vgl. Schulz/Zeh 2006). Des Weiteren zeigt sich, dass vor allem die Kanzlerkandidaten der zwei großen Parteien die Berichterstattung dominieren (vgl. Schulz/Zeh 2010) und internationale Akteure naturgemäß wenig Beachtung finden.1 Traditionell haben sich die deutschen Medien mit großer Aufmerksamkeit der Europawahl gewidmet, insbesondere bei der ersten Wahl 1979, aber wohl auch in den Folgejahren (vgl. Schönbach 1995; Schulz/Schönbach 1980). Dieses Bild hat sich jedoch grundlegend gewandelt. So gab es sowohl zur Europawahl 1999 als auch 2004 kaum ein anderes Land, in dem der Wahlkampf eine solch geringe Medienbeachtung gefunden hat wie in Deutschland, insbesondere in den TV-Nachrichten (vgl. de Vreese et al. 2006). Zwei aktuelle Studien beschäftigen sich explizit mit der Berichterstattung über die Europawahl in den deutschen Fernsehnachrichten. Diese bestätigen die geringe Medienpräsenz des Europawahlberichterstattung 2004 (vgl. Zeh/Holtz-Bacha 2005; Brettschneider/Rettich 2005). Während im Jahr 1999 kaum ein EU-Akteur in der EU-Wahlbericht1
Für weitere Beobachtungen bezüglich der Wahlberichterstattung zu Bundestagswahlen vgl. u.a. Esser/Hemmer 2008.
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erstattung der deutschen Fernsehsender genannt wurde, waren es 2004 bereits mehr als 20 Prozent (vgl. de Vreese et al. 2006). Jedoch war auch im Jahr 2004 die Berichterstattung noch deutlich geprägt von nationalen politischen Akteuren.2 3 Methode Die Datengrundlage der folgenden Analysen ist ein integrierter Datensatz von Inhaltsanalysen der Fernsehberichterstattung in den letzten drei Wochen vor dem jeweiligen Wahltag zur Bundestags- und zur Europawahl 2009 in der Bundesrepublik Deutschland. Die Daten zur Europawahl wurden im Rahmen der European Parliament Election Media Campaign Study 2009 erhoben (vgl. Schuck et al. 2010), während die Daten zur Bundestagswahl Teil einer kontinuierlichen Erhebung der Wahlberichterstattung seit der Bundestagswahl 1990 sind (vgl. Schönbach/Semetko 1992; Semetko/Boomgaarden 2007). Die folgenden Analysen beschäftigen sich mit der Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung, mit den Akteuren und mit der Konflikthaltigkeit in der Berichterstattung. Für die Datenerhebung zur Bundestagswahl und zur Europawahl wurden an der Universität Amsterdam insgesamt acht Muttersprachler als Kodierer beschäftigt. Die hier präsentierten Analysen beruhen auf identischen Kodieranweisungen in beiden Datenerhebungen.3 Die gesamten Hauptnachrichtensendungen von ARD (Tagesschau, 20.00 Uhr), ZDF (heute, 19.30 Uhr), RTL (aktuell, 18.45 Uhr) und Sat.1 (Nachrichten, 20.00 Uhr) wurden analysiert, mit Ausnahme der Wettervorhersage. Die Kodiereinheit war der einzelne Nachrichtenbeitrag, gekennzeichnet durch eine thematische und/oder visuelle Abgrenzung. Insgesamt wurden 1.698 Beiträge analysiert (897 zur Bundestagswahl und 801 zur Europawahl). 2 3
Für weitere Beobachtungen bezüglich der Wahlberichterstattung zu Europawahlen vgl. Maier/ Maier 2008. Die Reliabilität der Erhebung der in dieser Studie relevanten Variablen wurde gesondert für die Bundestags- und die Europawahl anhand von Cohens Kappa berechnet. Dazu wurde den Kodierern eine Stichprobe mit Hilfe eines Zufallssystems zugeordnet, um systematische Abweichungen zu vermeiden. Die jeweiligen Reliabilitätswerte variieren von .62 und .72 für die Items des Konfliktframes sowie von .88 und 1.0 für die Identifikation der Wahlberichterstattung. Für den Hauptakteur ergeben sich Werte von .45 und .64. Hinsichtlich der weiteren Akteure (Position 2 bis 6) wurde auf die Überprüfung der Reliabilität verzichtet, da die Reihenfolge der Kodierung für deren Richtigkeit unerheblich ist. Eine Inspektion der Daten zur Bundestagswahl zeigt, dass es in der Tat deutlicher die Reihenfolge der Akteure und nicht die Kodierung der Akteure selbst ist, die zu niedrigen Reliabilitätswerten führt.
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Für jeden Beitrag wurde erhoben, ob die jeweils anstehende Wahl oder der Wahlkampf genannt wurden. Anhand dieser Variablen wird im Folgenden die Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung ermittelt. Des Weiteren wurden pro Beitrag bis zu sechs Akteure festgehalten und in der Reihenfolge der Prominenz ihres Auftretens kodiert, also anhand der Einschätzung, wie zentral sie in dem Beitrag selbst zu Wort kamen oder Gegenstand der Berichterstattung waren.4 Für jeden dieser Akteure wurden die Funktion bzw. eventuelle Parteizugehörigkeit erhoben. Dies lässt es zum einen zu, Akteure von großen und kleinen Parteien einander gegenüber zu stellen, zum anderen kann anhand dieser Kodierungen ermittelt werden, ob es sich um nationale, deutsche politische Akteure handelt oder um internationale bzw. EU-Akteure. Zu den großen Parteien zählen Union und SPD und zu den kleinen Parteien gehören in den nachfolgenden Analysen die FDP, Bündnis90/Die Grünen, die Linke und die Piratenpartei. Unter Zuhilfenahme von zwei etablierten Items wurde die Präsenz von Konfliktframes ermittelt, um den Grad der Politisierung der Berichterstattung einstufen zu können. Die konkreten Fragen zur Ermittlung eines Konfliktframes lauteten: (1) Wird im Beitrag erwähnt, dass mindestens ein Akteur einen anderen kritisiert/ihm etwas vorwirft/ihn für etwas verantwortlich macht? und (2) Wird im Beitrag ein Disput/Konflikt/Streit/Uneinigkeit erwähnt? Eine positive Beantwortung beider Fragen legt nahe, dass ein Konfliktframe vorhanden ist (vgl. Semetko/Valkenburg 2000). Da die Nachrichtensendungen unterschiedlicher Länge sind, werden nachfolgend nur proportionale Angaben präsentiert, um den Vergleich zwischen Nachrichtensendungen nicht zu verzerren. 4 Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse der vergleichenden Analysen anhand der vorgestellten Merkmale „Sichtbarkeit“, „Akteure“ und „Konfliktframing“ präsentiert.
4
Für die Bundestagswahlberichterstattung konnten pro Beitrag bis zu zehn Akteure kodiert werden. Um die Datengrundlage mit der zur Europawahl abzugleichen, basieren die hier präsentierten Analysen auf den sechs zuerst kodierten Akteuren.
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4.1 Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung In der Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen der Berichterstattung zur Europawahl und zur Bundestagswahl. Abbildung 1 illustriert den Anteil der Wahlberichterstattung an den gesamten Nachrichtensendungen. In der linken Hälfte der Abbildung ist zu sehen, dass sich im Untersuchungszeitraum etwa 15% aller Beiträge mit dem Bundestagswahlkampf beschäftigten, während sich nur etwa 5% der Beiträge der Europawahl widmeten. Die Diskrepanz war am deutlichsten in den Sat.1-Nachrichten ausgeprägt (mit einem Unterschied von 12,8%), während der Unterschied in der ARD-Tagesschau geringer ausfiel (8,3%). Die Nachrichtensendungen der Privaten zeigten allgemein weniger Beiträge zur Europawahl als ihre öffentlichrechtlichen Mitbewerber; der Abstand war allerdings nur geringfügig. Abbildung 1:
Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung in den Hauptnachrichtensendungen 2009
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Ein noch deutlicheres Bild ergibt sich, wenn nicht die Anzahl der Berichte, sondern deren Länge als Berechnungsgrundlage herangezogen wird. Auf der rechten Seite von Abbildung 1 ist der Aufmerksamkeitsvorsprung der Bundestagswahl gegenüber der Europawahl noch wesentlich offensichtlicher aufgezeigt. Bezogen auf die Gesamtlänge der Nachrichtensendungen ergibt sich, dass etwa 28% der Berichterstattung auf die Bundestagswahl Bezug nahm, während dies für die Europawahl nur etwas mehr als 6% war. Wiederum fällt der Unterschied am stärksten in den Sat.1-Nachrichten aus und erst am geringsten in der Tagesschau der ARD. Dies deutet darauf hin, dass Berichte zur Bundestagswahl überdurchschnittlich lang waren, während die Nachrichtenbeiträge zur Europawahl eher eine durchschnittliche Länge hatten. Zusammenfassend ergibt sich ein Bild, welches weitestgehend den Erwartungen entspricht. Bezogen auf die Gesamtlänge wurde im „Superwahljahr“ 2009 den Bundestagswahlen zwischen 3,1 (ARD) und 13,9 (Sat.1) mal mehr mediale Aufmerksamkeit geschenkt als den Europawahlen. Die Sat.1Nachrichten waren hier der klare Ausnahmefall, während sich RTL aktuell kaum von den Öffentlich-rechtlichen, insbesondere nicht vom ZDF, unterschied. Es fällt auf, dass die Privaten den Bundestagswahlen proportional ebenso viel Aufmerksamkeit schenkten, wie es ARD und ZDF in ihren Hauptnachrichtensendungen taten. Hinsichtlich der vorliegenden Forschungsproblematik kann auf Basis dieser Ergebnisse eindeutig bejaht werden, dass die Europawahlen in den Fernsehnachrichten als Nebenwahlen behandelt und präsentiert werden. 4.2 Nationaler Fokus in der Wahlberichterstattung Nebenwahlen, und also auch die Europawahl, haben einen nationalen Fokus, der nicht ihrem eigentlichen Zweck entspricht. Im Folgenden wird der Grad der Europäisierung anhand des Vorkommens von EU-Akteuren beleuchtet. Abbildung 2 zeigt die Akteure in der Wahlberichterstattung zur Europa- und zur Bundestagswahl im Jahr 2009. Gemäß den Erwartungen wurde die Berichterstattung zur Bundestagswahl 2009 von nationalen Politikern dominiert. Während nicht-politische Akteure noch immerhin rund 25% der Berichterstattung einnahmen, spielten internationale und EU-Akteure in der Bundestagswahl keine mediale Rolle. In der Berichterstattung zur Europawahl zeigt sich dagegen zum einen eine Dominanz nicht-politischer Akteure, zum anderen aber auch eine deutliche Gewichtung zugunsten internationaler, und in diesem Fall insbesondere von EU-Akteuren. Etwa 30% der in den Wahlkampfnachrichten im Vorfeld der Europawahl 2009
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vorkommenden Akteure gehörten dieser Kategorie an. Nationale politische Akteure spielten hier mit etwa 16% eine nur untergeordnete Rolle. Abbildung 2:
Akteure in der Wahlberichterstattung 2009
Es zeigt sich, dass die Annahme eines nationalen Fokus bezüglich der Akteure in der Berichterstattung zur Europawahl nicht bestätigt werden kann. Es wurden in den Beiträgen zur Europawahl etwa doppelt so viele EU-Akteure wie nationale politische Akteure genannt. Augenscheinlich geht es bei der Europawahl demzufolge doch um Europa und nicht nur um die deutsche Politik. Die große Anzahl nicht-politischer Akteure im Jahr 2009 ist schließlich auf die hohe Nennung von Banken und anderen Firmen, von Interessenvertretungen und von Bürgern und Wählern zurückzuführen.
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4.3 Parteienakteure in der Wahlberichterstattung Kleine und Oppositionsparteien schneiden bei Nebenwahlen besser ab als große und Regierungsparteien. Dies führt zu der Annahme, dass kleinen Parteien im Europawahlkampf eine relativ größere mediale Aufmerksamkeit zukommt als beim Bundestagswahlkampf. Diese Annahme wird durch die Analysen nicht bestätigt (vgl. Abbildung 3). Die Diskrepanz zwischen Akteuren von großen und kleinen Parteien fiel bei der Europawahl 2009 deutlich größer aus als bei der nachfolgenden Bundestagswahl. Interessant ist es zu beobachten, dass dabei der Abstand zwischen den beiden Gruppen nahezu gleich blieb, so dass sowohl bei der Europa- als auch bei der Bundestagswahl etwa 20% mehr Akteure den großen Parteien zugeordnet werden konnten. Des Weiteren fällt auf, dass in der Europawahlberichterstattung nur etwa 23% der Akteure überhaupt einer der Parteien angehörten. Dies hängt wiederum mit dem hohen Anteil von Akteuren aus dem kommerziellen Sektor und von Interessenvertretern zusammen. Abbildung 3:
Parteien in der Wahlberichterstattung 2009
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4.4 Politisierung der Wahlberichterstattung Zum Schluss wird die Politisierung der Wahlkämpfe anhand einer Analyse der Konflikthaftigkeit betrachtet. Die Erwartung war, dass die Medienberichterstattung zur Bundestagswahl einen höheren Anteil an Konflikten birgt, da es bei dieser Wahl – im Gegensatz zur Europawahl – angeblich um mehr gehen würde. Es wird also mehr politisiert, und Politisierung bringt Konflikte mit sich. Diese Annahme bestätigt sich vor allem bezüglich der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen. In den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF wurde in der Bundestagswahlberichterstattung 2009 deutlich mehr auf Konfliktframes zurückgegriffen (47% bzw. 41%) als in der vorangegangenen Berichterstattung zur Europawahl (31% bzw. 27%). Während RTL aktuell kaum Unterschiede hinsichtlich der Konflikthaftigkeit zeigte, waren bei Sat.1 sogar marginal mehr Konfliktframes in der Eurowahlberichterstattung zu beobachten. Insgesamt fällt der hohe Anteil an Konfliktframes auf. Im Durchschnitt enthielten im „Superwahljahr“ 2009 nicht weniger als ein Drittel aller Beiträge zum Wahlkampf einen Konfliktframe, etwas mehr bei der Bundestagswahl als bei der Europawahl. Abbildung 4:
Konflikthaltigkeit der Wahlberichterstattung im Wahljahr 2009
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5 Schlussfolgerungen Die Europawahl 2009 wurde in den deutschen Fernsehnachrichten im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 nur in Teilaspekten deutlich als Nebenwahl behandelt. Vorab war zu erwarten, dass die Europawahl deutlich weniger Medienpräsenz erfahren, dass die Berichterstattung von nationalen politischen Akteuren dominiert sein, dass diese Akteure eher den kleinen Oppositionsparteien angehören und dass sich in den Beiträgen zur Europawahl weniger Politisierung finden würde. Nur eine dieser Annahmen wurde klar bestätigt: Im Hinblick auf die Sichtbarkeit der Wahlberichterstattung in den Fernsehnachrichten zeigte sich im Wahljahr 2009 eine klare Zweitrangigkeit der Europawahlen. In keiner Nachrichtensendung erhielt die Europawahl auch nur annähernd die Aufmerksamkeit, die der Bundestagswahl gewidmet wurde. Im Hinblick auf diesen Aspekt kann die Medienberichterstattung also als ein adäquater Indikator für die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwahl dienen. Zwar kann es kaum überraschen, dass der Bundestagswahl mehr mediale Aufmerksamkeit als der Europawahl gewidmet wird. Allerdings gibt das Ausmaß, in dem Europawahl in manchen Medien vernachlässigt wurde – und hier besonders in den Sat.1-Nachrichten – Grund zur Sorge. Zu einer lebendigen europäischen Demokratie gehört schließlich ein demokratisch legitimiertes Europaparlament. Wenn man von einem kausalen Zusammenhang zwischen Medienberichterstattung und Wahlbeteiligung ausgehen darf (vgl. Banducci/Semetko 2003) dann sollten die Nachrichtenmedien aber der Europawahl auch die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Diesem Anspruch wurden sie im Vorfeld der vergangenen Europawahl kaum gerecht. Die Konflikthaftigkeit der Wahlberichterstattung folgte nur in Teilen den Erwartungen. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen zeigte sich – wie angenommen – eine stärkere Konflikthaftigkeit der Bundestagswahlberichterstattung. Die privaten Sender folgen diesem Muster nicht. Insgesamt zeichneten sich aber auch die Beiträge zur Europawahl durch einen hohen Anteil an Konfliktframes aus. Es steht also laut Medienberichterstattung durchaus etwas zur Wahl bei der Europawahl – wobei offen bleibt, ob es hier um Konflikte über nationale oder EU-Themen geht. Das Vorkommen von Konflikten ist insgesamt also nur bedingt als Indikator für Neben- oder Hauptwahlen geeignet. Hinsichtlich der Akteure haben sich die Annahmen nicht bestätigt. EUAkteure kamen in der Europawahlberichterstattung deutlich häufiger vor als nationale politische Akteure. Dies ist eine grundlegende Veränderung in der Berichterstattung zur Europawahl gegenüber den Jahren 1999 und 2004, welche
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von nationalen Politikern dominiert wurde (vgl. de Vreese et al. 2006). Europa bekommt demzufolge zunehmend ein Gesicht. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist es daher als positiv zu beurteilen, dass sich die ursprüngliche Erwartung nicht bestätigte und dass EU-Politiker doch zusehends das Geschehen in der Europawahlberichterstattung bestimmen. Ebenfalls war es keineswegs so, dass Akteure von kleinen oder Oppositionsparteien im medialen Europawahlkampf relativ gesehen sichtbarer waren als im Vorfeld der Bundestagswahl. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die beiden Wahlen in relativ kurzem Abstand aufeinander folgten, was eventuell dazu geführt hat, dass der Bundestagswahlkampf im medialen Europawahlkampf schon antizipiert wurde. Es fällt weiterhin auf, dass es – womöglich auch als Konsequenz der Berichterstattung –, innerhalb der Lager der großen und der kleinen Parteien nur wenige Unterschiede in den Wahlergebnissen gab. Davon unbenommen, bleibt festzustellen, dass sich Analysen der Medienberichterstattung auf Akteursebene nicht als Indikatoren von Nebenwahlen eignen. Während die vorliegende Studie einen Einblick in die medialen Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenwahlen in Deutschland gibt, wäre es wünschenswert, die hier vorgelegten Thesen länderübergreifend zu untersuchen. Schließlich könnte die Tatsache, dass beide Wahlen im „Superwahljahr 2009“ in relativ kurzer Folge abgehalten wurden, einen nennenswerten Einfluss auf die Berichterstattung zur Europawahl gehabt haben. Es könnten also Terminierungseffekte auf die Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenwahl in der Berichterstattung auftreten, die es zukünftig zu berücksichtigen gilt. Um eine vollständige Medienperspektive zum Thema Haupt- und Nebenwahlen geben zu können, wäre es des Weiteren von Belang auch regionale Wahlkämpfe mit einzubeziehen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Wahlkämpfe auf den verschiedenen Ebenen in den verschiedenen Ländern mit vergleichbaren Analyseinstrumenten untersucht würden. Umfassenden Analysen zur Europawahl in allen Mitgliedsstaaten (vgl. de Vreese et al. 2006) sind ein erster Schritt in diese Richtung. 6 Literatur Banducci, Susan/Semetko, Holli (2003): Media, Mobilization and European Elections. Working Paper. Boomgaarden, Hajo/Schuck, Andreas/Vliegenthart, Rens/de Vreese, Claes (2010a): News on the Move. Exogenous Events and News Coverage of the European Union. In: Journal of European Public Policy 17 (4), 506-526.
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Wahlkampf auf dem Boulevard: Personality-Talkshows, Personalisierung und Prominenzkapital zwischen Haupt- und Nebenwahl Andreas Dörner & Ludgera Vogt
1
Einleitung
Die Aufmerksamkeit des Publikums ist in gegenwärtigen Medienkulturen immer schwieriger zu erlangen. Die Zahl der medialen Angebote, sich zu informieren, zu unterhalten und zu bilden, steigt stetig weiter an. Das gilt erstens für die Konstellation zwischen verschiedenen Medien. So werden beispielsweise von Fernsehen, Print und Internet erbitterte Kämpfe um Marktanteile ausgefochten und immer wieder auch auf dem Rechtsweg ausgetragen.1 Die verschärfte Konkurrenz zeigt sich zweitens aber auch innerhalb eines Mediums, was am deutlichsten im Bereich des Fernsehens nachzuvollziehen ist. Die Pluralisierung der Angebote vollzog sich in Deutschland zunächst radikal mit der Einführung des dualen Rundfunksystems 1984, im Zuge dessen sich das Publikum zunehmend diversifizierte (vgl. schon Winter/Eckert 1990) und politische Kommunikation unter „Vielkanalbedingungen“ (Schulz 1998) sich neu ausrichten musste. Ein anschauliches Symptom für die noch immer weiter gehende Entwicklung im deutschsprachigen Raum ist das Flaggschiff öffentlich-rechtlicher Fernsehunterhaltung, die Game Show „Wetten dass…?“, die seit 1981 vom ZDF in Zusammenarbeit mit dem ORF und dem deutschsprachigen SF ausgestrahlt wird. Die Show wurde noch lange nach der Dualisierung des Rundfunksystems als das „letzte Lagerfeuer“ der Nation (Tuma 1999) bezeichnet, da es ihr ungeachtet vielfältiger Konkurrenz durch Angebote der privaten TV-Sender immer wieder gelang, erhebliche Publikumsanteile von deutlich über zehn Millionen Zuschauern vor den Bildschirmen zu versammeln und damit die klassischen Integrationspotenziale des Mediums Fernsehen zu aktualisieren. Auch diese Institution scheint jedoch in der gegenwärtigen Medienkultur nicht mehr wie 1
Ein anschauliches Beispiel dafür sind die jahrelangen Auseinandersetzungen über die Frage, inwieweit öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland gebührenfinanziert Nachrichtenangebote online verbreiten darf. Diese Kämpfe haben erst mit den Regelungen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags von 2009 ein vorläufiges Ende gefunden.
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gewohnt zu funktionieren. Die Zuschauerzahlen erodieren und die Konkurrenz etwa durch Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) ist im Vergleich immer erfolgreicher in der Publikumsgunst. Den vorläufigen Tiefpunkt markierte die 187. Ausgabe von „Wetten dass…?“, die im Februar 2010 erstmals unter acht Millionen Zuschauer erreichte und damit einen Marktanteil von lediglich 25,3 Prozent erzielte. Da klang es schon fast wie ein Beschwörungsversuch einer unumkehrbaren Entwicklung, wenn der „Spiegel“ im Nachgang zu dieser Sendung seine Lobeshymne auf das Format mit den Sätzen einleitete: „So, die Sache ist entschieden und es gibt kein Zurück mehr: Thomas Gottschalk bleibt ewig.“2 Angesichts einer solchen Entwicklung von Angebotspluralisierung und gesteigerter Konkurrenz um Aufmerksamkeiten stellt sich auch für die politische Kampagnenführung der Faktor Prominenz als ein zentrales Kapital dar.3 Schon seit vielen Jahren wird „Personalisierung“ als eine wichtige Strategie der Wahlkampfführung diagnostiziert. Die Person erscheint als Marke auf einem zunehmend dynamischen politischen Markt am ehesten geeignet, die Wiedererkennbarkeit von politischen Angeboten sicherzustellen. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Personen auch über das notwendige Prominenzkapital verfügen. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass die Personality-Talkshow, die auch als „Promi-Talkshow“ (Schultz 2002) etikettiert wird, für diese Strategien von zentraler Bedeutung sein muss. Im Personality-Talk erhalten politische Akteure die Möglichkeit, sich als „Person“ einem breiten Publikum zu präsentieren, wahrnehmbar zu werden und gleichzeitig ihr Prominenzkapital zu steigern. Diese Talk-Formate sind daher zu einem wichtigen Faktor moderner Kampagnenführung geworden. Und sie bilden, so die These des vorliegenden Beitrags, auch ein Kriterium, mit dem sich Haupt- und Nebenwahlen in ihrer Spezifik voneinander abgrenzen lassen. Dies soll die folgende Untersuchung am Beispiel der Wahlkämpfe zum Europaparlament und zum Deutschen Bundestag im Jahr 2009 verdeutlichen. Zunächst einmal wird dargelegt, dass und warum die Präsentation von politischen Akteuren in Personality-Talkshows so bedeutsam geworden ist (Kap. 2). Im Anschluss wird die Entwicklung anhand von Befunden zum Bundestagswahlkampf 2009, die im Kontext eines empirischen Forschungsprojekts erhoben wurden, konkretisiert (Kap. 3).4 Im vierten Kapitel wird im Kontrast dazu die 2 3 4
So der Artikel von Stefan Kuzmany auf Spiegel online am 28. Februar 2010, http://www. spiegel.de/kultur/tv/0,1518,680784,00.html; Abruf am 03.03.2010. Zur Aufmerksamkeitsökonomie siehe grundlegend Frank (1998). Der Titel des an den Universitäten Wuppertal und Marburg durch die Autoren geleiteten Projekts lautet „Die doppelte Kontingenz der Inszenierung. Zur Präsentation politischer Ak-
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Situation im deutschen Wahlkampf zum Europäischen Parlament dargestellt. Abschließend wird ein kurzes Fazit aus den gemachten Beobachtungen gezogen. 2
Personalisierung und Personality-Talk
Die „Personalisierung“ des Wahlkampfs bei der Politikdarstellung durch die Medien ist ein weithin akzeptierter Befund der Forschung.5 Dies ist durchaus überraschend, wenn man in Rechnung stellt, dass Systemanalysen des politischen Feldes in den vergangenen Jahrzehnten eher eine schwindende Bedeutung des Faktors „Person“ diagnostiziert haben (vgl. Grande 2000). Wir haben es heute mit einem vielfältigen Geflecht von Verhandlungsnetzwerken auf und zwischen verschiedenen Politikebenen zu tun, an dem eine große Zahl von personalen, kollektiven und korporativen Akteuren beteiligt ist.6 Den übergeordneten, steuernden Staat gibt es in dieser Welt des Politischen ebenso wenig wie die alles entscheidende Persönlichkeit. Der Staat ist ein Akteur von vielen geworden, häufig auch nur ein Moderator in Auseinandersetzungen zwischen anderen Kräften,7 und die Rolle personaler Akteure in diesen Netzen wird allgemein als gering eingeschätzt. Die Handlungsspielräume selbst derjenigen, die das Amt eines Bundeskanzlers bekleiden, sind eng geworden. Im deutlichen Kontrast zu dieser Entwicklung steht jedoch die öffentliche Darstellung der Politik, wie sie vornehmlich in den audiovisuellen Massenmedien durchgeführt wird. Politikvermittlung in der Mediengesellschaft ist ausgesprochen stark auf Personen bezogen. Dies wird besonders deutlich sichtbar in Wahlkämpfen, wo sich in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz der Personalisierung, ja sogar der Privatisierung des Politischen durchgesetzt hat.8 Der Bundestagswahlkampf des Jahres 2002 stellte mit seinem in Deutschland erstmals eingeführten TV-„Duell“ der Spitzenkandidaten Schröder und Stoiber nur einen
5 6 7 8
teure in Personality-Talkshows des deutschen Fernsehens“. Das Projekt wird seit Mai 2009 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Hier werden mit Methoden der interpretativen Sozialforschung (Videographie) audiovisuelle Texte sowie Interviews und Felddokumente ausgewertet. Vgl. dazu etwa Probst (1998); Brettschneider (2002); Hoffmann/Raupp (2006) und HoltzBacha (2001, 2006) sowie die differenzierenden neuen Befunde bei Brettschneider (2009). Vgl. dazu etwa Mayntz/Scharpf (1995); Lehmbruch (1998); Holtmann/Voelzkow (2000) und Werle/Schimank (2000). Vgl. dazu das Konzept des „kooperativen Staates“ (Benz 1997). Zur Entwicklung der Wahlkämpfe vgl. die Beiträge in Dörner/Vogt (2002). Zu allgemeinen Tendenzen der Politikvermittlung in der Mediengesellschaft vgl. Schulz (1997) und Sarcinelli (1998).
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vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar, in der von Programmen wenig, von den Personen und ihrer professionellen Inszenierung dagegen fast alles abzuhängen scheint. Machterwerb und Machterhalt sind ganz wesentlich vom Gelingen des Medienauftritts abhängig, denn das mediale Publikum ist zugleich auch das Elektorat, das an den Wahlurnen über Konstanz oder Wechsel des politischen Personals entscheidet. Aus dieser Situation resultiert der paradoxe Befund, dass dem politischen Personal in der Gegenwartsgesellschaft gleichzeitig ein Bedeutungsverlust und ein Bedeutungszuwachs zu attestieren ist. Der Bedeutungsverlust ist dabei relativ wenig begründungsbedürftig; wenn die politischen Prozesse in ihrer Mehrebenenverflechtung immer komplexer werden, wird hier kaum von Personen „entschieden“, sondern es wird ausgehandelt und es werden Kompromisse produziert, an denen viele – vor allem korporative – Akteure beteiligt sind. Warum aber geht dies gleichwohl mit einer öffentlichen Bedeutungszunahme der Personen einher, die von den Bürgern und Wählern jederzeit bestätigt wird? Die Antwort ist offenbar im Mechanismus der Komplexitätsreduktion zu suchen (vgl. Grande 2000: 308). Wenn nicht nur der politische Prozess aufgrund seines institutionellen Designs immer komplexer wird, sondern gleichzeitig die zu regelnden Sachfragen immer komplizierter und die den Entscheidungen zugrundeliegende Wissensbasen immer prekärer werden (vgl. Beck/Bonß 2001), dann erwachsen daraus ernsthafte Probleme. Selbst Amts- und Mandatsträger machen in „ehrlichen Stunden“ (bei ausgeschalteten Kameras) kein Hehl daraus, dass sie teilweise im politischen Prozess nicht mehr durchblicken. Wie viel stärker aber muss der Bedarf nach Komplexitätsreduktion beim Laienpublikum sein, das weder die Zeit noch die Kraft hat, sich wie die politischen Profis in die Materie und in die Verfahren einzuarbeiten? Die Person des Politikers schafft in dieser Situation Übersichtlichkeit, Zurechenbarkeit von Entscheidungen9 und insgesamt Wahrnehmbarkeit von Politik. Vor allem diese Wahrnehmbarkeit der Politik durch die Sichtbarkeit der Mächtigen und damit einer spezifischen Form der „Visibilität“ von Demokratie (Münkler 1995) scheint hier zentral zu sein. Das zentrale Medienformat zur Inszenierung von politischen Akteuren ist dabei ohne Zweifel die Talkshow. In Talkshows erhalten politische Akteure regelmäßig die Chance, sich und ihre Vorhaben zu präsentieren, ihre Wahrnehmbarkeit sicherzustellen und Öffentlichkeitsmacht zu generieren. Es ist nicht übertrieben, wenn die Forschung hier für Deutschland von einer „Talkshowisie-
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Das ist ja nicht zuletzt schon die Pointe der repräsentativen Demokratie im Rahmen des „Responsible Government“ bei John Stuart Mill (1861).
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rung“ der politischen Kommunikation und der Wahlkämpfe spricht (Sarcinelli/ Tenscher 1998). Klaus Plake (1999) hat mit einer Typologie hilfreiche Schneisen in die televisionäre Gesprächskultur eingefügt. Demnach lassen sich drei Grundtypen unterschieden: (1) die Debattenshow, in der primär politische, soziale und andere Fragen von öffentlichem Interesse verhandelt werden; hier kommen häufig Experten zu Wort; (2) die Personality Show, die im wesentlichen durch die Selbstpräsentation von Prominenten gestaltet wird; und (3) die Bekenntnisshow, in der – meist von ganz unbekannten Menschen – vor allem Gefühle, Betroffenheiten und Intimitäten zur Sprache gebracht werden. Im Rahmen der Personalisierung ist nun ohne Zweifel die PersonalityTalkshow von höchster Relevanz.10 Sie ist ein Medienformat, in dem sich prominente Politiker als „Mensch“ präsentieren können. Sie erreichen dabei auch das politikerferne Publikum, das ansonsten in Verfolgung des von der Mediennutzungsforschung so genannten „Unterhaltungsslaloms“ (Hasebrink 1998) jegliche Informationsformate weitgehend meidet. Sendereihen wie „Johannes B. Kerner“, „Beckmann“, „Kölner Treff“, „3 nach 9“ oder die „NDR-Talkshow“ bieten den Akteuren die Möglichkeit, sich jenseits ihrer professionellen Funktionsrolle darzustellen und Sympathien zu erheischen. Die Politiker und ihre Berater haben das große Potenzial, das sich für Imagekampagnen in diesem Bereich darbietet, längst erkannt und sorgsam bearbeitet. Wir wissen aus unseren Interviews, dass erhebliche Ressourcen an Zeit und Geld investiert werden, um ein erfolgreiches „impression management“ zu leisten.11 Bis in die letzten Sekunden vor Sendungsbeginn studieren Politiker ihre Skripte, um bei Kerner und Beckmann bestehen zu können. Dem Publikum geht es um die Person, den „ganzen Menschen“, um das Authentische „hinter“ der professionellen Maske, was sich bei näherem Hinsehen freilich nur als eine andere, eben auf die Inszenierung des Menschlichen und Privaten spezialisierte Maske erweist. Das Versprechen der PersonalityShow gegenüber dem Publikum lautet, dass hier jenseits der Kommunikationsroutinen auch unbeabsichtigte, spontane Regungen zutage treten, die vom Publikum nicht nur gesehen, sondern auch interpretiert werden können. Eine Untersuchung von Tanjev Schultz (2002) hat gezeigt, wie gebräuchlich das Format der Personality-Talkshow zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der deutschen Medienkultur geworden ist. Schultz konstatiert für seinen Erhebungs10 11
Vgl. hierzu auch die Analysen von Schultz (2002) und Bußkamp (2002). Vgl. dazu auch Jens Tenschers empirische Untersuchung zur Branche der „Spin Doctors“, die in allen westlichen Demokratien boomt (Tenscher 2003).
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zeitraum im Jahr 2001, dass nicht weniger als 102 Politiker den Weg in die untersuchten acht Shows gefunden haben (Schultz 2002: 186).12 Und auch neuere Beispiele von Politikerauftritten in Personality-Talkshows zeigen, wie gut es möglich ist, in der angenehmen „Feel-Good“-Stimmung einer Unterhaltungsshow einerseits persönliche Sympathiepunkte zu gewinnen und andererseits politische Themen auf die Agenda zu bringen, ohne dass das unterhaltungsorientierte typische Personality-Talk-Publikum durch eine zu ernste und trockene Debatte abgeschreckt wird. So erhielt, um ein typisches Beispiel zu nennen, die amtierende Familienministerin Ursula von der Leyen am 26. Mai 2008 bei „Beckmann“ Gelegenheit, die Gründe darzulegen, warum sie ihren demenzkranken Vater, den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, in den Kontext ihrer Familie aufnahm und in einem Mehrgenerationenhaus mit ihm lebt. Die Ministerin konnte hier auch Bedenken und schwierige Gefühle beschreiben, nutzte jedoch verständlicherweise vor allem die Gelegenheit, sich als pflichtbewusster Familienmensch zu präsentieren. Sie durfte dem Publikum vorführen, dass sie nicht nur eine an abstrakten Normen orientierte Familienpolitik machen kann, sondern auch bereit ist, das eigene Privatleben gleichsam modellhaft als Glaubwürdigkeitsgenerator einzusetzen. Damit war es möglich, ein positives Image als Privatperson aufzubauen und gleichzeitig beim Publikum eine Legitimation für das Amtshandeln als Familienministerin einzuholen. Wenn von der Leyen dabei durchaus auch einmal die Stirn kräuselte, um Bedenken angesichts der Ausfallserscheinungen des Vaters zu zeigen, erhöhte das die Glaubwürdigkeit und vermied das Bild einer allzu glatten und perfekten Fassade. Was oft im Modus des Feel-Good13 daher kommt, erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als ein komplexes Geschehen mit riskanten Bühnen. Es lässt sich mit einer Formulierung von Ronald Kurt (1998) als fortlaufender „Kampf um Inszenierungsdominanz“ kennzeichnen. Dadurch, dass unterschiedliche kommunikative Strategien aufeinander prallen, entsteht neben erwartbaren Inszenierungen auch Kontingenz. Politiker, Publikum und Medienschaffende gehen mit durchaus unterschiedlichen Interessen in diesen Kampf hinein. Die Interessenlage von Publikum und Medien ist mit Unterhaltungslust und Neugier einerseits, Quotenorientierung und Marktlegitimation andererseits noch häufig gut vereinbar. Bei den Politikern liegt die Sache jedoch deutlich anders. 12
13
Die Auszählung von Schultz für 2001 bezieht sich auf die folgenden Formate: „Johannes B. Kerner“ (ZDF), „Boulevard Bio“ (ARD), „Beckmann“ (ARD), „NDR Talkshow“ (NDR), „Herman und Tietjen“ (NDR), „3 nach 9“ (Radio Bremen), „Riverboat“ (MDR), „ALEX“ (B1). Zur Logik des Feel-Good in der politischen Kommunikation vgl. Dörner (2001: 57ff.).
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Sie wollen sympathisch erscheinen und kommunikative Unfälle vermeiden, während die Medienakteure es immer auch versuchen müssen, die Personen aus dem Konzept zu bringen, zu provozieren oder zu entlarven, um daraus Unterhaltungseffekte zu ziehen. So wird aus dem vitalen Amtsträger Günther Beckstein durch die immer wiederkehrende Einblendung der Hinterkamera, die deutlich sein Hörgerät sichtbar werden lässt, fast schon ein gebrechlicher Mann („Beckmann“, 11.02.2008). Andrea Ypsilanti, durch Einspielfilme und aggressive Moderatorenfragen ohnehin in die Lügnerecke gedrängt, wird in ihren Rechtfertigungen endgültig dementiert, wenn die Regie mitten im Statement einen Zwischenschnitt aufs Publikum bringt, wo eine Zuschauerin heftig den Kopf schüttelt („Johannes B. Kerner“, 11.11.2008). Und die Großaufnahme von Dieter Althaus’ Händen, die nervös am Ehering schrauben, unterläuft das sorgsam auf Stabilität ausgerichtete Inszenierungskonzept des Gastes („Johannes B. Kerner“, 30.04.2009). Das „Ensemble“ im Goffmanschen Sinne14 lässt es bei der Talkshow also oft an Kooperation und darstellerischer Loyalität mangeln. Konflikte und Kontingenz resultieren aus divergierenden Handlungslogiken und Interessen, und zum Kampf kommt es häufig sogar da, wo es auf den ersten Blick sehr kooperativ abläuft. Die Personality-Talkshow stellt für den Wahlkampf in der gegenwärtigen Medienkultur deshalb ein so wichtiges Forum dar, weil hier die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie besonders deutlich greift. In den Promi-Talk wird in aller Regel nur derjenige Akteur eingeladen, der schon ein erhebliches Quantum an Prominenzkapital mit einbringt.15 Der politische Hinterbänkler hat, wenn er nicht gerade durch ein aktuelles Ereignis zumindest kurzfristig Prominenz erlangt, keine Chance, die Selektionsmechanismen der Türhüter in den Redaktionen zu überstehen und eingeladen zu werden. Genau diese an Prominenz orientierten Selektionsmechanismen aber bedingen es andererseits, dass der Auftritt, insbesondere der erfolgreiche Auftritt in der Talkshow, dabei hilft, weiteres Prominenzkapital zu akkumulieren. Hier gilt die alte Regel des sogenannten „Matthäus-Prinzips“: „Wer hat, dem wird gegeben“.16 Je häufiger ein bestimmtes Gesicht zum Talk auf den Bildschirmen erscheint, umso wahrscheinlicher ist 14 15 16
Zur Goffmanschen Begrifflichkeit der Beschreibung von sozialen Inszenierungen vgl. grundlegend Goffman (2009) sowie, unter den Bedingungen der Mediengesellschaft, Willems (2001). Zur Funktionsweise von Prominenz in der modernen Medienkultur vgl. Peters (1996), Schierl (2007) und Wippersberg (2007). Zum Prominenzfaktor bei Politikern siehe Sarcinelli (2006). Vgl. hierzu die klassische Analyse zum Matthäus-Prinzip in den Wissenschaften bei Robert K. Merton (1968).
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es, dass weitere Einladungen erfolgen werden. Nur ein prominenter Politiker kann also in letzter Konsequenz als Marke auf dem politischen Markt funktionieren. Dieser Mechanismus wirkt sich, so wird noch zu zeigen sein, vor allem im Kontext von Nebenwahlen aus, wo die meist wenig prominenten Akteure gar keine Chance bekommen, in den Akkumulationszyklus von Prominenzkapital einsteigen zu können. 3
Der Bundestagswahlkampf 2010
Die große Relevanz, die dem Personality-Talk heutzutage im Wahlkampf zu Hauptwahlen zukommt, hat sich im „Superwahljahr“ 2009 voll bestätigt. In unserem Forschungsprojekt wurden in einem Sample von acht Personality-TalkFormaten im Erhebungszeitraum von Anfang April bis Dezember 2009 nicht weniger als 102 Politikerauftritte von 81 verschiedenen Akteuren in insgesamt 65 Sendungen erfasst und mitgeschnitten. Die Formate waren: „Beckmann“ (ARD), „Johannes B. Kerner“/“Markus Lanz“17 (ZDF), „Menschen bei Maischberger“18 (ARD), „3 nach 9“ (NDR), „NRD Talkshow“ (NDR), „Die Tietjen und Dibaba“19 (NDR), „Kölner Treff“ (WDR) und „Riverboat“ (MDR). Hinzu kommen eine Reihe von Hybrid-Formaten, beispielsweise Comedy-TalkFormate wie die „Harald Schmidt-Show“ (ARD), „Aufgemerkt! Pelzig unterhält sich“ (ARD), „Krömer – Die internationale Show“ (ARD) und nicht zuletzt „TV total“ mit Stefan Raab (PRO 7), die insgesamt weitere 16 Politikerauftritte im Erhebungszeitraum boten. Insbesondere „Beckmann“ und „Johannes B. Kerner“ erwiesen sich im Bundestagswahlkampf 2009 als nicht nur quantitativ,20 sondern auch qualitativ wichtige Foren des politischen Diskurses. Die Bedeutsamkeit, die man von Seiten der politischen Akteure und ihrer Berater den Formaten zuschrieb, erhellt 17
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„Johannes B. Kerner“ machte zunächst eine Sommerpause, in der „Markus Lanz“ den Sendeplatz beim ZDF füllte. Als Kerner dann im November 2009 seine Sendereihe beim ZDF aufgrund einiger vorangegangener Unstimmigkeiten einstellte und zu SAT.1 wechselte, trat Lanz mit seiner Show die Nachfolge des erfolgreichen Kerner-Formats an. „Menschen bei Maischberger“ stellt dabei ein Mischformat dar, das teilweise wie eine klassische Personality-Show, teilweise jedoch auch wie eine themenzentrierte Debattenshow strukturiert ist. Es handelt sich um das Nachfolgeformat von „Herman und Tietjen“, das seit 1999 aus Hamburg als Live-Show mit bis zu acht Gästen ausgestrahlt worden war. Seit September 2009 heißt das Format nach erneutem Moderatorenwechsel „Tietjen und Hirschhausen“. Im Zeitraum vom 01.04.2009 bis zum 26.09.2009 wurden zwölf Sendungen der Reihe „Johannes B. Kerner“ und acht Sendungen der Reihe „Beckmann“ ausgestrahlt, in denen politische Akteure zu Gast waren.
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schon aus der erheblichen Prominenz der in diesen beiden Sendereihen auftretenden Akteure: Allein sieben Amtsinhaber von Bundesministerien (teilweise mehrfach), vier Bundesparteivorsitzende und drei Ministerpräsidenten fanden den Weg in die Hamburger Studios der beiden Formate. Einige Akteure wie Philipp Rösler oder die ehemalige bayerische Landtagsabgeordnete und Schauspielerin (!) Barbara Rütting traten im Erhebungszeitraum sogar in drei verschiedenen Personality-Talk-Formaten auf.21 Rösler verdankte sein plötzlich entstehendes Prominenzkapital zunächst einem Karrieresprung im Februar des Wahljahrs 2009. Er wurde für die Talkshows interessant, als der promovierte Mediziner und Stabsarzt mit 35 Jahren für die FDP in Hannover das Amt des Ministers für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr antrat und stellvertretender Ministerpräsident in Niedersachsen wurde. Sein Prominenzkapital erhöhte sich nochmals drastisch, als er mit einem weiteren Karrieresprung nach den Wahlen zum Bundesgesundheitsminister und zum jüngsten Kabinettsmitglied in Berlin avancierte. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das auch mit einem Wahlgang in 2009 zusammenhängt, jedoch keinen Wahlkampfkontext im engeren Sinne beinhaltet. Die Politikwissenschaftlerin und SPDPolitikerin Gesine Schwan war wie schon 2004 von ihrer Partei als Herausforderin gegen Amtsinhaber Horst Köhler für das Amt des Bundespräsidenten nominiert worden. Obwohl diese Wahl in Deutschland bekanntlich nicht als Direktwahl stattfindet, hatte Schwan nach dem Beschluss zu ihrer Kandidatur sehr konsequent eine öffentliche Kampagne geführt. Sie zielte darauf, Sympathien und Zustimmung in der Bevölkerung zu gewinnen und damit vermutlich einen gewissen Meinungsdruck aufzubauen, der sich möglicherweise auf die Entscheidung der Wahlmänner und Wahlfrauen würde auswirken können. Bereits bei ihrer ersten Kandidatur im Jahr 2004 war es Schwan gelungen, zehn Stimmen aus dem Lager von CDU/CSU und FDP zu sich herüberzuziehen. Ein Element ihrer Kampagne waren neben zahlreichen, mitunter provokanten Meinungsäußerungen insgesamt vier Auftritte in Personality-Talks, darunter „Johannes B. Kerner“ und „Die Tietjen und Dibaba“.22 Schwans Strategie ging 21
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Die Auftritte erfolgten bei „Beckmann“, im „Kölner Treff“ sowie bei „Tietjen und Hirschhausen“. Eigentlicher „Spitzenreiter“ in unserem Sample ist Norbert Blüm, der jedoch nicht mehr politisch aktiv ist und in den Talkshows beispielsweise auch für seine literarischen Neuerscheinungen eingeladen wurde. Blüm trat im Erhebungszeitraum in vier Sendungen auf. Im Vorfeld der Sendung gab es eine öffentliche Debatte darüber, ob die Politikerin in dem öffentlich-rechtlichen Format überhaupt auftreten dürfe, da es eine übliche Praxis der ARDAnstalten gibt, der zufolge Personen, die an einem Wahlkampf beteiligt sind, einige Wochen vor dem Wahltermin nicht in Unterhaltungssendungen auftreten sollen. Der NDR betonte jedoch in einer dpa-Meldung vom 5. Mai 2009, dass für Frau Schwan kein Auftrittsverbot gelte
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diesmal jedoch nicht auf, vermutlich auch deshalb, weil Köhler mit dem Amtsbonus ausgestattet war. In den Umfragen kam die Professorin über Werte von 13 Prozent gegenüber 60 bzw. sogar 72 Prozent für Horst Köhler nicht hinaus.23 Im Ergebnis unterlag Schwan im ersten Wahlgang dem Amtsinhaber klar mit 503 gegenüber 613 Stimmen in der Bundesversammlung. Zwei Politikerauftritte waren im Kontext des Bundestagswahlkampfs besonders relevant und interessant. Beide Auftritte wurden durch Parteivorsitzende und Spitzenkandidaten absolviert. Es handelt sich zum einen um den SPDVorsitzenden und amtierenden Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier, der am 3. Juni des Jahres zusammen mit seiner Ehefrau, der Verwaltungsrichterin Elke Büdenbender, bei „Johannes B. Kerner“ zu Gast war. Nur einen Tag später trat im gleichen Format der FDP-Vorsitzende und designierte Außenminister Guido Westerwelle bei Kerner zum Gespräch an, ohne Lebensgefährten, jedoch mit dem ehemaligen James-Bond-Schauspieler Roger Moore an seiner Seite. Während dem Ehepaar Steinmeier/Büdenbender also die kompletten 60 Minuten der Kerner-Sendung zur Verfügung standen, musste sich Westerwelle das Zeitbudget mit dem Bond-Darsteller und einem weiteren Gast teilen (Heike Mertens, Fachanwältin für Familienrecht; Westerwelles Einzelgespräch mit Kerner dauerte insgesamt 35 Minuten). Diese Gewichtung folgt weniger der Verteilung des Prominenzkapitals der beiden Akteure als der öffentlichrechtlichen Logik einer Orientierung an der besonderen Relevanz der beiden großen Volksparteien. Diese zeigte sich auch in dem 2009 wiederum veranstalteten TV-Duell der Spitzenkandidaten von Union und SPD, aus dem die so genannten „kleineren Parteien“ FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke ausgeschlossen blieben, was vor allem die FDP und Westerwelle zu heftigen Protesten veranlasste.24 Bundeskanzlerin Merkel enthielt sich als Amtsträgerin in diesem Wahlkampf jeglicher Auftritte in reinen Personality-Talkshows;25 sicher zum einen,
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– vermutlich aus dem plausiblen Grund, dass hier kein „Wahlkampf“ im üblichen Sinne geführt wurde. So die Ergebnisse zweier Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen (im „Politbarometer“) und des Instituts für Demoskopie Allensbach im Mai 2009. Hier wurde jeweils gefragt, wen die Bürger zum Bundespräsidenten wählen würden, wenn sie wählen könnten (vgl. FAZ vom 19.05.2009). Als „Trostpflaster“ und Ausgleich fanden „TV-Dreikämpfe“ mit Vertretern von FDP, Grünen und Linkspartei statt: am 10.09.2009 im ZDF mit Maybrit Illner sowie Guido Westerwelle, Renate Künast und Gregor Gysi, sowie am 14.09.2009, einen Tag nach dem TV-Duell mit Merkel und Steinmeier, in der ARD mit den Journalisten Jörg Schönenborn und Siegmund Gottlieb sowie wiederum Guido Westerwelle, Jürgen Trittin und Oskar Lafontaine. Merkel trat lediglich am 19. Mai des Jahres in „Menschen bei Maischberger“ auf. In dieser Sendung gab es jedoch keinen Personality-Talk, sondern ein Gespräch zum Thema „60 Jahre
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weil diese Formate der Würde des Amtes nicht in gleicher Weise adäquat scheinen wie die klassischen Einzelinterviews, die sie wahrnahm; zum anderen aber auch, weil sie schon immer wenig Neigung zeigte, ihr Privatleben in der Medienöffentlichkeit zu inszenieren. Wie groß gleichwohl der Erwartungsdruck ist, dass Politiker auch Privates offenbaren, zeigt die Tatsache, dass Merkel einverstanden war, am Schluss einer Diskussionssendung mit Publikum zumindest mit einigen Sätzen den vermeintlichen Blick auf die Hinterbühne der Lebensgemeinschaft Merkel/Sauer zu eröffnen. Merkel erklärte in diesem „TownhallMeeting“-Format dem Moderator Peter Kloeppel, dass sie durchaus selbst im Supermarkt einkaufe („Früher sagte man ‚Kaufhalle’“), zu Hause die Wäsche wasche und ihre Gäste gern mit Spreegurken und Rouladen bewirte – wofür sie von der „Süddeutschen Zeitung“ prompt als „Rouladenkönigin der Nation“ tituliert wurde.26 Die auffälligste Personality-Talk-Sendung im Bundestagswahlkampf 2009 war ohne Zweifel die mit Frank-Walter Steinmeier und Ehefrau Elke Büdenbender bei „Johannes B. Kerner“ am 3. Juni des Jahres im ZDF. Die 68 Minuten dauernde Sendung, in der ausschließlich der SPD-Spitzenkandidat und seine Frau auftraten, musste den Wahlkampfmanagern geradezu als ein Geschenk erscheinen, konnte sich der amtierende Außenminister hier doch in dem bestetablierten Promi-Talk-Format der deutschen Fernsehlandschaft kostenfrei präsentieren. Die Sendung erscheint insgesamt wie eine hybride Mischung aus Talk-, Game- und Castingshow, die dem Publikum gleichsam einen prüfenden Blick auf den Kandidaten eröffnet. Getestet wurde dabei jedoch nicht primär die politische Qualifikation, obwohl durchaus auch politische Gesprächspassagen etwa zur Finanzkrise oder zur Opel-Rettung enthalten waren. Getestet wurden vielmehr die Unterhaltungskompetenz, der Humor und die Schlagfertigkeit sowie das private Image des Politikers, wie es sich in der Beziehung zur Ehefrau, in Erziehungsfragen bezüglich der Tochter oder bei den Hobbys abzeichnet. Strukturbildend wirkt direkt die Eingangspassage der Sendung: Kerner veranstaltet hier das erste Spiel seiner Gameshow, indem er Steinmeier und Büden-
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Deutschland: Sind die besten Jahre vorbei?“. Merkel wurde in dieser Sendung zu ihrem Blick auf die DDR und ihre eigenen Erfahrungen in diesem Staat befragt. Dabei kam auch Persönliches zur Sprache, etwa dass die Kanzlerin den Mauerfall buchstäblich mit einer Freundin in der Sauna „verschwitzt“ hatte, aber im Wesentlichen handelt es sich bei dem 20minütigen Einzelgespräch um ein klassisches politisches Interview. Die Sendung mit dem Titel „Zuschauer fragen – Bundeskanzlerin Merkel antwortet“ wurde am 17.09.2009 um 20.15 Uhr von RTL ausgestrahlt. Die Kritik der „Süddeutschen Zeitung“ ist nachzulesen unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/329/468890/text/; Abruf am 03.03.2010.
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bender eine vorbereitete Tafel mit einer fiktiven Zeitungsseite vom 28. September, dem Tag nach der Wahl überreicht. Zu sehen ist ein großes Foto mit dem Kandidaten in Siegerpose, und die beiden Gäste sollen die Schlagzeile dazu verfassen. Abbildung 1:
Screenshot aus „Johannes B. Kerner“, 03.06.2009
Während die Ehefrau zwar die siegesgewisse, aber dennoch diplomatische Zeile „Merkel gratuliert“ entwirft, geht Steinmeier mit dem Entwurf „Überraschung: SPD absolute Mehrheit“ in die Offensive. Kerner präsentiert Zuschauern und Publikum gleichermaßen – in einer frontalen Halbnahen – unter Lachen, in das Steinmeier, Büdenbender und das Publikum selbst mit einstimmen, die Zeitungsseiten. Dann überreicht Kerner den beiden Gästen eine zweite Zeitungsseite, die Steinmeier nachdenklich, wohl als Unterlegenen, abbildet. Auf die Bitte, sich für dieses Bild die passende Überschrift auszudenken, antwortet dieser:
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„Kanzler Steinmeier vor großen Herausforderungen“, was Kerner, Büdenbender und Steinmeier wieder mit Lachen quittieren.27 Dieser Einstieg ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für den Verlauf der Interaktion. Zum einen gestaltet Kerner das Geschehen immer wieder mit spielerischen Einlagen. So muss der Kandidat später architektonisch anhand von Modellen den Spreebogen kommentieren und zum Schluss der Sendung sogar einen Citroen 2CV („Ente“) reparieren (vgl. Abbildung 1). Diese Spielelemente lockern zum einen dramaturgisch das starre Korsett einer Gesprächssendung und folgen der dominierenden Unterhaltungslogik des Formats. Das Publikum kann zugleich eine Einschätzung im Hinblick auf „menschliche“ Eigenschaften Steinmeiers entwickeln: Hat er Humor? Wie geschickt stellt er sich bei den Spielen an? Wie schlagfertig reagiert er auf kleinere Attacken des Moderators? Zum anderen oszilliert Kerners Umgang mit Steinmeier zwischen den Polen Kooperation und Konfrontation. Auf der einen Seite bietet der Moderator seinem Gast kooperativ die Möglichkeit, sich vorteilhaft in Szene zu setzen, indem er ihm die Zeitungsseite mit Jubelfoto anbietet. Auf der anderen Seite sucht er die Konfrontation mit dem Kanzlerkandidaten: Er führt Steinmeier die Möglichkeit der Niederlage vor Augen, was vor dem Hintergrund der seinerzeit sehr schlechten Umfragewerte der SPD durchaus realistisch erscheint und daher umso brisanter ist. Außerdem unterläuft er Steinmeiers Antwort auf das kooperative Angebot mit einem ungläubigen, ja geradezu höhnisch wirkenden Lachen. Damit unterstellt er dem Politiker, im Hinblick auf die aktuellen Umfragewerte bewusst eine irreale Zukunftsvorstellung zu bedienen. Der Moderator stellt also seinen Gast an dieser Stelle ein Stück weit bloß. Andererseits nimmt das konfrontative Potenzial jedoch niemals Überhand. Indem Kerner seine anzweifelnden Kommentare oftmals lachend vorträgt oder die gesamte Runde in diesen konfrontativen Situationen mit Lachen reagiert, werden die Angriffe humoristisch gebrochen. In letzter Konsequenz wird damit der Feel-Good-Rahmen der Sendung bewahrt. Diese Zweischneidigkeit zieht sich durch die gesamte Sendung hindurch. Es gibt immer wieder kleinere Provokationen des Kandidaten, u.a. mit eingespielten Interviews von der Straße oder mit Umfragewerten. Aber der konfrontative Charakter nimmt niemals Überhand, und das ist typisch für das neuere deutsche Talkgeschehen, das oft eine Balance zwischen Harmonie und Kampffreude herzustellen sucht. Insgesamt gelingt es Steinmeier durchaus, sich als sympathisch und charakterfest zu inszenieren. Dass dabei dennoch zusätzliche Risiken durch die Fremd27
Das Publikum stimmt diesmal jedoch nicht mit ein!
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inszenierung im Talkformat zur Geltung kommen, zeigen zwei Details: Zum einen wird Steinmeier in einer Sequenz, in der ihn Kerner um eine Deutung von negativen Statements über seine Person durch die befragte Bevölkerung bittet, in Nahaufnahme gezeigt. Der Gast blickt hier deutlich auf die Fingernägel der eigenen Hand herunter, eine Geste, die ungewollt Verlegenheit oder, in einer anderen Interpretation, sogar eine Pose des Gelangweiltseins zum Ausdruck bringt, nicht jedoch eine gestische Unterstützung der verbal durchaus souverän vorgetragenen Erklärung für die schlechten Umfragewerte. Hier wird deutlich, dass der inszenierende politische Akteur in letzter Konsequenz eben nicht die Inszenierungshoheit darüber innehat, was auf den Bildschirmen gesendet wird. Die Talkbühne ist und bleibt eine riskante Bühne. Dies zeigt auch das zweite Beispiel, ein Einspielfilm, in dem der arbeitsreiche Tagesablauf des Außenministers und Parteivorsitzenden gezeigt wird. Auf den ersten Blick erscheint der Kurzfilm geradezu wie ein Wahlwerbespot für den Kandidaten, der im steten Einsatz für das Wohl des Landes gezeigt wird. Auf den zweiten Blick wird dieses Bild jedoch ironisiert. Ein Telefonat mit Hillary Clinton ist offensichtlich gestellt, und die ästhetische Inszenierung des Clips in deutlicher Anlehnung an die amerikanische Actionserie „24“, in der ein Superheld ein ums andere Mal die Nation vor der Katastrophe rettet, legt nahe, das Image von „Steinmeier dem Superhelden“ in Frage zu stellen. Sehr markant und wahlkampfrelevant erscheint der nur einen Tag später ebenfalls bei „Kerner“ erfolgende Auftritt des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle. Zwar wird dem Politiker keine Solosendung gewidmet; Westerwelle teilt sich die Sendezeit mit Roger Moore und einer Anwältin für Familienrecht. Dennoch versteht es Westerwelle, die immerhin 35 Minuten seines Auftritts effektiv für die eigene Imagearbeit zu nutzen. In der Sendung wird der Politiker mehrfach mit seiner Vergangenheit als „Spaßpolitiker“ mit „Guidomobil“ und mit dem gescheiterten „Projekt 18“ im Bundestagswahlkampf 2002 konfrontiert. Typisch verläuft eine Sequenz im Mittelteil des Auftritts. Kerner präsentiert, durchaus kooperativ, einen Artikel aus der Wochenzeitung „Die Zeit“, in dem dargelegt wird, Westerwelles Image habe sich in den letzten Jahren „verbessert“, er gelte als „seriöser“, sei „gereifter“. Gleichwohl bringt Kerner direkt danach das gescheiterte „Projekt 18“ ins Spiel. Diese Situation stellt eine Imagebedrohung dar. Westerwelle ist nun in einer Halbnahen zu sehen, seine Miene ist ernst, er signalisiert damit, dass es auch für ihn um ein ernstes Thema geht. Dazu korrespondiert auch seine Wortwahl, als er in ebenso ernstem Ton antwortet: Anders als vor zehn Jahren sei er innerlich nun so bei sich selbst, dass er seine Arbeit mache und das vertrete, was er für richtig halte. Er mache sich nicht mehr so viel Gedanken darüber, wie das alles wirke, denn, und hier kommt
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die entscheidende Formulierung, es komme „etwas Gelassenheit mit den Jahren dazu“ (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:
Screenshot aus „Johannes B. Kerner“, 04.06.2009
Diese Replik wird in einem 38 Sekunden langen Shot eingefangen, außerdem zoomt die Kamera von der Halbnahen zu einer Großaufnahme. Auch Kamera und Bildregie signalisieren damit, dass der Politiker hier etwas Wichtiges zu sagen habe. Es scheint, als ob die Kamera Westerwelle möglichst nahe kommen möchte, um Einblicke in sein Innerstes, in den ‚wahren‘ Westerwelle zu ermöglichen. Dazu passt, dass das Statement weder durch Moderator Kerner noch durch einen Zwischenschnitt unterbrochen wird. Westerwelle greift Kerners Vorlage dankbar auf und belegt durch seine Selbstdarstellung den angesprochenen und auch später in der Sendung fortgesetzten Image-Wandel. Der Gast reflektiert über die Vergangenheit so, als sei der Wandel mit einem Reifeprozess über einen längeren Zeitraum gekommen, d.h. die Entwicklung von einem Spaßpolitiker hin zu einem ernst zu nehmenden, seriösen Politiker erscheint gerade durch die Langfristigkeit der Perspektive plausibel und glaubwürdig.
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Westerwelle vermeidet den Eindruck eines harten Schnittes, da solche abrupten Diskontinuitäten in der Regel unglaubwürdig wirken.28 Ein langsamer Entwicklungsprozess dagegen vermittelt das Bild eines nachhaltigen Erwachsenwerdens. So wird den Wählern kommuniziert, dass der Parteivorsitzende nun auch die Reife für weitere Ämter, etwa das des Bundesaußenministers, gewonnen habe. Die vermeintlich konfrontativen Angriffe des Moderators stellen sich, zumal sie nicht durch harte Nachfragen oder Gegenpositionen ergänzt werden, als eine ideale Basis für den Politiker heraus, sein anvisiertes Image zu entfalten. Die mediale Inszenierung durch Kameraarbeit und Bildregie unterstützt die Strategie in diesem Fall weitgehend. 4
Im Kontrast: der Europawahlkampf 2009
Zeigte der Bundestagswahlkampf auf dem Boulevard der Personality-Talkshows, dass die öffentlichen Wahrnehmungsverhältnisse sich tatsächlich stark am Prominenzkapital politischer Akteure orientieren und Kampagnenführung in der Tat personalisiert erscheint, stellte sich die Situation im Europawahlkampf deutlich anders dar. Dies lässt sich schon anhand der gewählten Plakatierungsstrategien der Parteien erkennen. Nicht nur die Grünen und die Linke setzten auf Sachthemen, sondern auch die SPD legte mit einem auffälligen Negative Campaigning im Comic-Stil die Akzente eindeutig im Bereich der Themen, nicht im Bereich der Personen (vgl. den Beitrag von Tenscher in diesem Band).29 Obwohl SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz nach der berühmt-berüchtigten Attacke Silvio Berlusconis durchaus eine gewisse Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden hatte,30 reichte sein Prominenzkapital offenbar nicht aus, um eine Personenkampagne aussichtsreich zu machen. Bemerkenswert ist demgegenüber die Entscheidung der CDU, auf ihren Plakaten neben Sachthemen durchaus auch eine Person prominent zu präsentie28 29 30
Vgl. hierzu die Analyse des Falls Rudolf Scharping, dessen abrupter Imagewandel im Jahr 2002 für das Publikum unglaubwürdig wirkte und den Akteur schließlich ins politische Abseits führte (vgl. Vogt 2002). Die Slogans der Plakate lauteten: „Finanzhaie würden FDP wählen“, „Dumpinglöhne würden CDU wählen“, „Heiße Luft würde die Linke wählen“. Im Straßburger Europaparlament war es im Juli 2003 zu einem großen Eklat mit viel Presseberichterstattung gekommen. Nach scharfen Angriffen von Schulz hatte Berlusconi mit der Bemerkung reagiert, der Deutsche könne in einem Film über Konzentrationslager, der gerade in Italien gedreht werde, die Rolle eines Nazi-Schergen übernehmen. Er sei eine perfekte Besetzung dafür. Es folgten tumultartige Szenen, die noch ein ausführliches Nachspiel auf dem internationalen Parkett hatten.
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ren: jedoch nicht den Europa-Spitzenkandidaten Hans-Gert Pöttering, sondern die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bekanntlich gar nicht zur Wahl stand. Die Personalisierung erfolgte also ungeachtet der Tatsache, dass gar kein geeigneter Kandidat mit genügend Prominenzkapital zur Verfügung stand. Der Preis dafür lag in der Gefahr der Unglaubwürdigkeit. Die einzige Partei, die in diesem Kontext problemlos personalisieren konnte, war die FDP. Sie hatte bereits im vorherigen Wahlgang mit der attraktiven Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin ein hervorragendes Ergebnis erzielt31 und setzte auch dieses Mal wieder in vollem Umfang auf das Gesicht und das Prominenzkapital der jungen Politikerin. Diese war aufgrund ihres für die Boulevardformate im Print- und Rundfunkbereich sehr interessanten Profils einer Kombination aus blonder Schönheit, promovierter Intelligenz, Karrierefrau und Mutter zwischenzeitlich immer wieder in Homestories und Party-Berichterstattung berücksichtigt worden. Aufsehen erregte insbesondere Koch-Mehrins Entscheidung, sich im Jahr 2005 im achten Schwangerschaftsmonat in der Zeitschrift „Stern“ mit nacktem Bauch ablichten zu lassen und damit für eine Vereinbarkeit von Kindern und Karriere zu werben. Auf dem so gesammelten Prominenzkapital konnte die Kampagne 2009 mühelos aufbauen. Das Wahlplakat mit dem Gesicht der FDP-Frau wurde prompt von den „Bild“-Lesern mit großem Abstand als das schönste gekürt.32 Und die im Hinblick auf das Prominenzpotential ungleichen Verhältnisse der Wahlkampagnen schlugen sich auch im Boulevardwahlkampf in den Talkshows nieder. Keiner der Europa-Spitzenkandidaten schaffte es von Herbst 2009 bis zum Europa-Wahltermin in eine Personality-Talkshow – außer Dr. Silvana KochMehrin. Insgesamt wurde die Europawahl kaum im deutschen Talk-Geschehen berücksichtigt. Selbst bei den einschlägigen Debattenshows wie „Hart aber fair“, „Anne Will“ und „Maybrit Illner“ war das Thema nicht populär,33 was nochmals eindringlich vor Augen führt, dass es sich bei der Wahl zum Europäischen Parlament in der deutschen Öffentlichkeit um eine Nebenwahl handelte.34 31 32 33
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Die FDP schaffte mit Koch-Mehrin an der Spitze 2004 erstmals nach zwei Legislaturperioden mit etwas über sechs Prozent wieder den Einzug in das Europaparlament. Zur Europawahl 2004 vgl. insgesamt die Analysen in Tenscher (2005a). Vgl. dazu http://www.bild.de/BILD/politik/wahlen/05/28/das-beste-wahlplakat/bild-de-leserwaehlen-silvana-koch-mehrin.html; Abruf am 03.03.2010. Es gab keine explizite Debattenshow zur Europawahl; an Europathemen wurden lediglich der deutsch-polnische Streit um ein Zentrum für Flucht und Vertreibung („Anne Will“, 01.03.2009) sowie das europäische Agieren in der Finanzkrise („Maybrit Illner“, 02.04.2009 und 07.05.2009) berücksichtigt. Vgl. dazu auch die ähnlichen Befunde von Schicha (2005) zum Europawahlkampf 2004.
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Koch-Mehrin jedoch war als Person prominent und interessant genug, um in die Talkshows zu gelangen. So trat sie u.a. auf den Nachrichtenkanälen N24 und n-tv in Erscheinung, bei „Späth am Abend“ (29.11.2008, mit Wirtschaftsminister Michael Glos und Gewerkschafter Armin Schild) sowie gleich zwei Mal bei „Was erlauben Strunz“ (29.09.2008, mit Gewerkschafterin Helga Schwitzer, und am 19.01.2009 mit Ex-Minister Hans Eichel). Noch auffälliger sind ohne Zweifel die Auftritte in zwei Comedy-Talk-Formaten im Ersten: Hier wurde die FDP-Politikerin eingeladen am 6. November 2008 bei „Aufgemerkt! Pelzig unterhält sich“ (ARD), einem erfolgreichen Format des Bayerischen Rundfunks, in dem schon häufig prominente Politiker wie Jürgen Trittin oder Markus Söder zu Gast waren, sowie am 2. April 2009 in der betont schrägen Sendereihe „Krömer – Die internationale Show“ (ARD), produziert vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), wo Komiker Kurt Krömer in einer bis zur Absurdität getriebenen Weise herkömmliche Muster der Talkshow parodiert. In diesen Formaten konnte sich Koch-Mehrin also bewusst von der unterhaltsamen und humorvollen Seite zeigen und damit Sympathiepunkte vor allem bei der jüngeren Wählerschaft gewinnen, die primäre Zielgruppe der beiden LateNight-Shows ist. Schließlich fand am 3. März 2009 ein Soloauftritt der Politikerin bei „Thadeusz“ im RBB statt. Moderator Jörg Thadeusz hat ebenfalls eine gewisse Nähe zum komischen Fach, aber die Talksendung bietet bewusst eine Mischung aus ernsten und komischen Elementen, wo die Persönlichkeit der Gäste durchaus differenziert beleuchtet wird. Typisches Beispiel sind die „fiesen Sieben“, provokante Fragen, die Thadeusz en bloc in einer Sequenz an seine Gäste richtet. Die sollen mit Unterhaltungswert herausfordern und die kommunikative Kompetenz der Akteure in Form von Schlagfertigkeit testen. So wird KochMehrin u.a. gefragt: F:
A:
Sie haben vor drei Jahren, d.h. vor vier Jahren war es ganz genau, Ihren Babybauch für den „Stern“ fotografieren lassen – heiße Fotos, sah super aus. Welches Körperteil sollte ein männlicher Politiker zu Provokationszwecken vor eine Fotokamera halten? – Also auch etwas, worüber Sie sich freuen würden, wenn Sie zusähen? Also, ich fänd’ einen Bauch mit Sixpack nicht schlecht.
Nicht auf alle Fragen vermag die Politikerin jedoch so schnell und direkt zu antworten. Der Moderator fragt, welche Schwäche Guido Westerwelles man nur als Eingeweihter kennen könne. Auf diese Frage reagiert Koch-Mehrin zunächst verblüfft:
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Hmmm, … tja…, das ist natürlich eine ganz heimtückische Frage … tja.., vielleicht, dass er… kann ich, kann ich nichts sagen, das, das war vor meiner Zeit, kann ich nichts…, alles andere wär, das wär Vertrauensbruch.
Man kann hier beobachten, dass die Akteurin intensiv darüber nachdenkt, wie sie die Situation bewältigt. Sie ist nach dem ersten Schreck zunächst nachdenklich, überlegt, ob es Dinge gibt, die hinreichend interessant und doch öffentlichkeitsfähig und politisch korrekt sind. Dann realisiert Sie, dass sie sich an dieser Stelle auf gar keinen Fall auf kommunikatives Glatteis führen lassen darf, und blockt die Frage schließlich ab. Die Sequenz zeigt, wie riskant derartige Auftritte sein können, weil die Gäste immer wieder abwägen müssen zwischen Unterhaltungswert sowie der Anpassung an die Formate einerseits und den Erfordernissen der eigenen Rolle im politischen Diskurs andererseits. Abbildung 3:
Screenshot aus „Thadeusz“,03.03.2009
Was bei der Talkauftritten im Rahmen der Kampagne von Koch-Mehrin jedoch insgesamt auffällt, ist die Tatsache, dass selbst diese für Europawahlverhältnisse ausgesprochen prominente Akteurin keine Einladung in eine der marktführenden Shows von „Kerner“ oder „Beckmann“ erhielt und auch in den zahlreichen Formaten der dritten Programme vom „Kölner Treff“ bis zur „NDR Talkshow“ keine Berücksichtigung fand. Auch in diesem Fall zeigt sich also ein deutlicher Kontrast zur Hauptwahl zum Deutschen Bundestag.
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Fazit
Die Auswertung der Politikerauftritte in deutschen Personality-Talkshows im Jahr 2009 zeigt eine deutliche Asymmetrie zwischen den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Europäischen Parlament in Deutschland. Haupt- und Nebenwahl unterscheiden sich hier klar hinsichtlich der Auftrittsdichte von politischen Akteuren in den Promi-Talks. Während ein erheblicher Teil des Bundestagswahlkampfs tatsächlich auf dem Boulevard der Talk-Formate, insbesondere bei Johannes B. Kerner und bei Reinhold Beckmann ausgefochten wurde, zeigten die Europawahlkampagnen der etablierten Parteien eine bemerkenswerte Talk-Abstinenz. Einzige Ausnahme bildet dabei Dr. Silvana Koch-Mehrin von der FDP, die nicht nur als einzige Spitzenkandidatin ihr Gesicht auf Wahlplakaten zeigte, sondern auch gleich in mehreren Talkformaten zu Gast war. Allerdings handelt es sich bei diesen Sendungen um Exemplare von Formaten, die eher an der Peripherie der deutschen Talk-Kultur angesiedelt sind und auch allesamt zu einem relativ frühen Zeitpunkt, also nicht in der heißen Wahlkampfphase ausgestrahlt wurden. Die Ursache für die festgestellte Asymmetrie zwischen Haupt- und Nebenwahlkämpfen ist darin zu sehen, dass die Kandidaten der beiden Wahlgänge sich deutlich hinsichtlich des verfügbaren Prominenzkapitals unterscheiden. Während bei den Bundestagswahlkämpfen möglichst viele prominente Köpfe in die Talk-Arenen geschickt werden, ist das Personal bei einer Nebenwahl wie der Europawahl meist deutlich schlechter ausgestattet. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Medienkultur reagiert mit ihren spezifischen Selektionsmechanismen sehr sensibel auf eine solche Konstellation, und so bleibt der entsprechende Wahlkampf von einem wichtigen Kommunikationskanal zwischen politischen Akteuren und Wählern weitgehend ausgeschlossen. Im Grund genommen kann hier eine Art Teufelskreis diagnostiziert werden. Das geringe Interesse der Bürger an den Europawahlen, das sich auch in der vergleichsweise niedrigen Wahlbeteiligung niederschlägt, wird durch das weitgehende Fehlen einer personalisierten und somit orientierungsfreundlichen Wahlkampfführung und aufgrund des Fehlens bekannter, prominenter Gesichter in den Unterhaltungsformaten des Fernsehens immer weiter geschwächt (vgl. auch Tenscher 2005b; Schicha 2005). Ausnahmefälle wie der von Silvana Koch-Mehrin zeigen, dass es grundsätzlich durchaus anders ginge. Dann jedoch müsste die Rekrutierung der Kandidaten für die Europawahlen nach anderen Kriterien erfolgen als bisher. Ohne Prominenz gibt es keinen Zugang zu den Unterhaltungsformaten, und ohne diesen Zugang wird die erhoffte Aufmerksamkeit nicht im angestrebten Maße erlangt.
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Politische Online-Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Europa- und Bundestagswahl Christoph Bieber & Christian Schwöbel
1 Einleitung Das deutsche „Superwahljahr 2009“ bot eine kunstvolle Dramaturgie mit der Abfolge zahlreicher Wahlen auf unterschiedlichen administrativen Ebenen – die Mehrebenendemokratie generierte dabei empirisch jenen „Dauerwahlkampf“, der in politischen Kommunikationsforschung bereits häufig skizziert worden ist.1 Den Auftakt für den Kampagnenreigen lieferte die Neuauflage der Landtagswahl in Hessen am 18. Januar, danach setzten die Bundespräsidentenwahl im Mai und die Europawahl im Juni 2009 die nächsten Akzente. Als Generalprobe für die Bundestagswahl und Startschuss für die letzte Kampagnenphase galten die Wahlen der Ländervertretungen im Saarland, in Sachsen und Thüringen, die Ende August und damit nur vier Wochen vor der Bundestagswahl stattfanden. Und schließlich bot der 27. September den Höhepunkt im komplexen Wahlkalendarium – neben der nationalen Hauptwahl konkurrierten in Brandenburg und Schleswig-Holstein noch zwei weitere Parlamentswahlen um die Aufmerksamkeit der Bürger. Der nachfolgende Beitrag unternimmt den Versuch, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der politischen Online-Kommunikation im Umfeld eines Nebenwahlkampfs auf supranationaler Ebene im Vergleich zum dominanten Bundestagswahlkampf herauszuarbeiten. Einführend werden dazu zunächst die Rahmenbedingungen der miteinander verkoppelten Kampagnen dargestellt und wesentliche Mechanismen von Online-Wahlkampf und Internet-Berichterstattung skizziert (Kap. 2). In den Fokus geraten dabei vor allem jene Elemente der Kampagnenführung im Internet, die sich an der Positionierung politischer Akteure auf den Web-2.0-Plattformen versuchten. In der Systematisierung der Angebotsentwicklung und -nutzung im Jahresverlauf sind dabei neben den So1
Wenngleich eine explizite Analyse des Phänomens „Dauerwahlkampf“ bislang noch nicht vorliegt, so wird in verschiedenen grundlegenden Texten die Dominanz „wahlkampforientierter“ oder „wahlkampfähnlicher“ Formen politischer Kommunikation hingewiesen (vgl. u.a. die Beiträge in Kamps/Nieland 2006; Sarcinelli 2008: 235ff.).
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ auch die Verwendung von Online-Videos sowie die Möglichkeiten einer Echtzeit-Kommunikation über Angebote wie den Kurznachrichtenservice Twitter relevant. In einem nächsten Schritt werden die strukturellen Besonderheiten des Online-Wahlkampfs zur Europawahl 2009 veranschaulicht (Kap. 3). Hier betreten neue Akteure die Wahlkampfbühne, die europäischen Parteiorganisationen. Fraglich ist jedoch, ob hierdurch die Dominanz nationaler Öffentlichkeiten und Wahlkampfstrukturen aufgebrochen werden kann. In der zusammenführenden Betrachtung von Online-Berichterstattung und den Implikationen europabezogener Wahlkampfführung (Kap. 4) wird schließlich die Diskrepanz zwischen eher konventionellen Methoden im Online-Wahlkampf zur Europawahl einerseits und der Orientierung hin zu experimentellen Formaten bzw. noch kaum erprobten Kommunikationsumgebungen des Web 2.0 im Bundestagswahlkampf andererseits deutlich – die erfolgreiche Thematisierung des Feldes der „Netzpolitik“ durch die zunächst in Schweden und später auch in Deutschland erfolgreichen Piratenpartei zieht allerdings eine Verbindungslinie zwischen Europa- und Bundestagswahl. 2 Online-Wahlkampf 2009: Struktur, Dramaturgie, Akteure und Mechanismen Das von insgesamt 17 Wahlen2 im „Vier-Ebenen-System“ (Woyke 2009) strukturierte Wahljahr 2009 dokumentiert auf besondere Weise die Dramaturgie von Haupt- und Nebenwahlen. Dem Konzept der „Wahlverflechtungsfalle“ folgend (vgl. Florack/Hoffmann 2006), handelte es sich hierbei um eine Folge unterschiedlich „unwichtiger“ Nebenwahlen, die sämtlich von der am Ende der Abfolge stehenden Bundestagswahl überschattet wurden. Wahlen auf Länderebene gelten in diesem Zusammenhang „aus Sicht der Wähler tendenziell [als] ‚Zwischen‘-, ‚Midterm‘- oder ‚Nebenwahlen‘, deren Ergebnisse vor allem auf eine Bewertung der Bundespolitik hinweisen“ (Florack/Hoffmann 2006: 104, Herv. i. O.; vgl. dazu auch grundsätzlich Decker/von Blumenthal 2002).3 2 3
Woyke (2009: 2) führt in seiner Zusammenstellung lediglich 16 Wahlen auf; die durch den Bruch der großen Koalition in Kiel notwendig gewordene Landtagswahl in SchleswigHolstein (27.09.2009) wurde dabei nicht berücksichtigt. Den Wahlen auf kommunaler Ebene wird innerhalb des Konzeptes die geringste Wertigkeit zugesprochen, weshalb deren Betrachtung im Weiteren unterbleibt. Gleichwohl wäre die spezifische Untersuchung von Online-Wahlkämpfen mit Blick auf die Wechselwirkungen zur lokalen bzw. kommunalen Ebene lohnenswert.
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Auch die Europawahl gilt seit ihrer Einführung als „Nebenwahl“, bzw. „Second-Order-Election“ (vgl. Reif/Schmitt 1980, aufbauend auf Dinkel 1977). Die jeweils national strukturierten politischen Arenen üben dabei einen erheblichen Einfluss auf Verlauf und Ausgang der Wahl auf europäischer Ebene aus (vgl. die Beiträge in Tenscher 2005). Im Zuge der Ausweitung der Europäischen Union hat sich zwar ein „polymorphes Wahlsystem“ (Nohlen 2004) als komplexe „Superstruktur“ zur Rahmung der Wahlprozesse ausgebildet, die grundsätzliche „Zerfaserung“ insbesondere des Wahlkampfs in Teilkampagnen mit national begrenzter Reichweite hat sich dadurch jedoch eher verstärkt. Trotz allmählicher Veränderungen verbleibt die Europawahl offenbar im Status einer Nebenwahl: „(In the West,) European Parliament elections are still very much second-order elections: participation is low, first-order government parties lose support in a cyclical manner, and small parties do better than they would do if a first-order election was held“ (Schmitt 2005: 668).
Aus der Abfolge der Nebenwahl-Termine am 18. Januar (Hessen), 7. Juni (Europawahl), und 30. August (Saarland, Sachsen, Thüringen) ergab sich im Jahr 2009 ein allmählicher Spannungsaufbau, der auf den von zwei weiteren Nebenwahlen (Brandenburg, Schleswig-Holstein) flankierten Hauptwahltermin am 27. September hinauslief. Dieser „Fahrplan“ ist hier nicht mit Blick auf die zu erwartenden Folgen für die Wahlergebnisse interessant, sondern als Planungsgröße für die Entwicklung und Umsetzung von Wahlkampagnen – und ganz besonders für die Einbettung von Online-Wahlkämpfen in einen Jahresetat für Ausgaben innerhalb eines mehrkanaligen Wahlkampfs.4 2.1 Online-Wahlkampf in Sozialen Netzwerken Die Organisation von Online-Wahlkämpfen im Jahr 2009 orientierte sich maßgeblich an den Innovationen des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2007/2008.
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Präzisere Aussagen über die Budgetierung der Online-Wahlkämpfe liegen den Autoren des Beitrags nicht vor. Einige Anmerkungen zu den Etats für Online-Kampagnen finden sich in den (anonymisierten) Experteninterviews bei Schwalm (2010). Genereller Tenor dabei ist die Schwierigkeit, die Kosten exakt zu identifizieren und zwischen Online- und OfflineWahlkampf zu trennen. Da allerdings keine Partei aktiv die Höhe des Etats für „Social Campaigning“ kommunizierte, ist davon auszugehen, dass hierfür lediglich kleinere Posten in den Wahlkampfbudgets bereitgestellt wurden.
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Unter den verschiedenen Plattformen des so genannten „Web 2.0“5 wirkte dabei vor allem die Nutzung von Social Network Sites (SNS) stilbildend für die nachfolgenden Kampagnen. Die Einrichtung von Profilseiten bei internationalen sozialen Netzwerken wie Facebook oder MySpace sowie die Präsenz bei nationalen Anbietern (in Deutschland z.B. StudiVZ.de oder die regionalen Anbieter Wer-kennt-wen.de und lokalisten.de) gehört seitdem zum Standard zeitgemäßer Wahlkampfführung. Mit solchen Angeboten werden verbreitungsorientierte (broadcast) und handlungsorientierte (action) Elemente auf einer OnlinePlattform verschmolzen.6 Eine im Jahr 2009 von sämtlichen Bundestagsparteien verfolgte Strategie war es, parteigebundene Unterstützernetzwerke anzubieten, die der Rekrutierung von Freiwilligen im Wahlkampf dienen sollten. Im Auftrag der Parteiorganisationen waren eigene soziale Netzwerke entwickelt worden, die technisch nach dem Muster der „offenen“ Vorbilder Facebook oder StudiVZ funktionierten, jedoch unter der vollständigen Kontrolle der jeweiligen Anbieter standen.7 Einerseits sollte auf diesem Weg eine direktere Kommunikation mit den Bürgern – ohne kommerzielle Vermittlungsplattform – realisiert werden, andererseits war dadurch eine bessere Vernetzung mit anderen Parteistrukturen sowie eine stärkere Kommunikationskontrolle beabsichtigt.8 Die parteigebundenen Unterstützernetzwerke wurden bis spätestens April 2009 eingerichtet bzw. zur Nutzung freigegeben, so dass sie auch im Vorfeld der Europawahl als Kampagnenplattform hätten fungieren können. Den Auftakt machte zu Jahresbeginn die Plattform meineSPD.net (08.01.2009),9 zwei Wochen später folgte die „Mitmach-Arena“ der FDP (22.01.2009).10 Die überarbeite CDU-Seite teAM2009.de ging am 26.02.2009 an den Start,11 während das Netzwerk der Linkspartei unter dem Namen „linksaktiv.de“ erst Ende April
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Eine nähere Klärung des Begriffs sowie der damit verbundenen Online-Nutzungstechniken kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Für eine grundlegende Einführung vgl. Schmidt 2009. Ausführlicher dargestellt werden die Mechanismen politischer Kampagnenführung auf Social Network Sites im US-Wahlkampf 2009 in Bieber 2009a; zur Rolle von SNS im Bundestagswahlkampf vgl. Bieber 2011a. Die Websites im Einzelnen: CDU: www.team2009.de; SPD: http://www.meinespd.net; FDP: http://mitmachen.fdp.de; Bündnis 90/Die Grünen: http://wurzelwerk.gruene.de; Die Linke: http://linksaktiv.de. Vgl. zu den Online-Strategien der Parteiakteure Schwalm 2010. Vgl. http://www.vorwaerts.de/artikel/spdde-als-herzstueck-der-kampagne; Abruf am 31.05.2010. Vgl. http://www.fdp-bw.de/wordpress/wahlkampf-2009-mitmach-arena-der-fdp/1014; Abruf am 31.05.2010. Vgl. http://www.team2009.de/team-blog/archives/14.html; Abruf am 31.05.2010.
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debütierte (27.04.2009).12 Das Angebot von Bündnis 90/Die Grünen konnte gleich zwei Starttermine vorweisen: Am 13. März ging die erste Version des „Wurzelwerk“ für einen ausgewählten Nutzerkreis online, wurde wegen technischer Probleme jedoch nur einen Tag später wieder vom Netz genommen. Der „zweite“ Start fand am 9. April statt, allerdings mit bleibender Limitierung auf die Nutzung durch Parteimitglieder und Grüne Jugend.13 Jedoch waren diese Angebote vornehmlich auf die Bundestagswahl im Herbst ausgerichtet und wurden im Vorfeld der Europawahl nur selten an prominenter Stelle, etwa im Rahmen von Online-Anzeigenkampagnen oder auf den Homepages der Parteien, in den Europawahlkampf einbezogen (vgl. den Beitrag von Rußmann in diesem Band). Dass „Mitnahmeeffekte“ der Unterstützerplattformen in der kurzen Zeit bis zur Europawahl nicht wirklich realisierbar waren, zeigt sich vor allem im Vergleich zur Laufzeit der „Vorbildseite“ my.barack obama.com, deren immense Breitenwirkung als ein prototypisches soziales Netzwerk im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf hatte sich erst nach mehr als einem Jahr Laufzeit im Frühjahr 2008 entfaltet (vgl. Bieber 2009b). Da die Inbetriebnahme der parteigebundenen Netzwerke selbst für eine Ausrichtung auf die Bundestagswahl im September zu spät erfolgte, zeigte sich bereits hier eine zwar nur implizite, aber dennoch deutlich erkennbare Akzentuierung auf Haupt- und Nebenwahl. 2.2 Video-Nutzung im Online-Wahlkampf Als durchgängiges Element des Online-Wahlkampfs 2009 kristallisierte sich auch der Einsatz von Online-Videos heraus. Ganz offenbar spielte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit zur Weiterverwertung bereits vorhandenen Kampagnenmaterials eine wichtige Rolle, denn für die Ausstrahlung im Fernsehen oder Kino gedrehte Werbe- bzw. Wahlspots der Parteien wurden häufig auch auf Distributionsplattformen für Online-Videos angeboten. Einen ersten Eindruck über die Verwendung von politischen Videos im Online-Wahlkampf vermittelt die Datenbank VideoCounter.com. Während des Jahres 2009 wurden dort mehr als 2.000 politische Online-Videos auf verschiedenen Plattformen (YouTube.com, MyVideo.de, vimeo.com etc.) erfasst und die Zugriffe ausge-
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Vgl. http://die-linke.de/die_linke/nachrichten/detail/archiv/2009/april/kategorie/nachrichten/ zurueck/nachrichten/artikel/puderzucker-und-roter-pfeffer/; Abruf am 31.05.2010. Vgl. http://blog.till-westermayer.de/index.php/2009/04/09/mein-wurzelwerk-tagebuch-teil-i/; Abruf am 31.05.2010.
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wertet.14 Bezüglich der Reichweite können die Online-Plattformen bei Weitem nicht mit den TV-Sendern mithalten – nur wenige stark gesehene Videos konnten im Vorfeld der Bundestagswahl sechsstellige Zugriffszahlen erzielen.15 Vor der Europawahl erlebten die Online-Videos zwar einen ersten Boom, allerdings blieb die Reichweite noch deutlich unter den im späteren Jahresverlauf erzielten Werten. Am stärksten nachgefragt wurden in der Woche vor der Europawahl Wahlspots der Grünen, die insgesamt 18.878 Mal aufgerufen wurden, gefolgt von den Videos der SPD (15.778) und den Beiträgen der CDU (10.788). Der Verlauf der Zugriffe über einen fünfwöchigen Zeitraum im Vorfeld der Europawahl vom 7. Juni 2009 weist einen sprunghaften Anstieg in der letzten Woche vor der Wahl auf. Begleitend zum Abschluss des Wahlkampfes und der intensiveren Medienberichterstattung unmittelbar vor der Wahl überrascht diese Entwicklung nicht, sondern spiegelt lediglich die übliche Kampagnendramaturgie wider. Allein die sechs am stärksten nachgefragten Einzelvideos erreichten mehr als 10.000 Zugriffe. Dabei handelte es sich ausschließlich um via Internet verfügbar gemachte TV-Spots von Bundestagsparteien.16 Im Vergleichszeitraum zur Bundestagswahl zeigt sich ein ähnlicher Verlauf. Nur lagen die Zugriffszahlen für sämtliche Parteien nun deutlich höher. Angeführt wird dieses Ranking von der FDP (93.815 Zugriffe) vor den Grünen (35.326) und der SPD (27.975). Die Gründe für die Reichweitensteigerung liegen einerseits in einem „Gewohnheitseffekt“: Über das gesamte Wahljahr 2009 wurden immer wieder Online-Videos produziert und angeboten, so dass die wachsende Nachfrage parallel zum generellen Anstieg der Nutzung politischer Online-Angebote erfolgte. Außerdem sind bei den Strategien der Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl auch erste Lerneffekte bezüglich der Verbreitung der Online-Videos zu bemerken: So setzten die Grünen gezielt auf virales Mar-
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Ausführlicher zur Systematik der Auswertung von VideoCounter.com vgl. www.video counter.com/media/2009-12-04-videoportale-technik-uebersicht-PR-PDF.pdf; Abruf am 31.05.2010. An der Spitze finden sich Spots, die nicht von klassischen Wahlkampfakteuren stammen: Der Video-Mitschnitt des Flashmobs „Und alle so: Yeaahh!“ erzielte bis zur Wahl ca. 500.000 Zugriffe (http://www.youtube.com/watch?v=J_DRAIGbvUw), der von politik-digital verbreitete Wahlaufruf „Geh´ nicht hin“ erreichte etwa 380.000 Zugriffe (www.gehnichthin.de). In diese Dimension konnte einzig der Wahlspot der Piratenpartei mit ca. 400.000 Zugriffen bis zum Wahltag vordringen (http://www.youtube.com/watch?v=3Ixl68QAhGw). In der Reihenfolge der Zugriffe waren dies „Wums! Der TV-Spot zur Europawahl“ von Bündnis 90/Die Grünen (26.910), der zweite TV-Spot der SPD (22.758), der TV-Spot der CDU (14.878), der erste TV-Spot der SPD (11.704), der TV-Spot der Linkspartei (11.166) sowie der Wahlaufruf von Bundeskanzlerin Angela Merkel (10.020).
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keting17 mit Blogs und Twitter, während die Piratenpartei (23.603 Zugriffe vor der Bundestagswahl) zielgruppengerechte Online-Plattformen wie StudiVZ.de oder Software-Tauschbörsen in die Kampagnenstrategie einband. Der Reichweiten-Erfolg der FDP geht schließlich vor allem auf das Schalten einer OnlineAnzeige zurück, denn laut Zugriffsstatistik erfolgten 81.937 Zugriffe am „Erscheinungstag“ des Videos durch eine solche Weiterleitung.18 2.3 Echtzeitkommunikation im Online-Wahlkampf Als weiteres Charakteristikum politischer Online-Kommunikation im Jahr 2009 ist die Nutzung des Microblogging-Dienstes Twitter (www.twitter.com) zu nennen. Empirische Untersuchungen zur kampagnenbezogenen Nutzung von Twitter durch Wahlkampfakteure liegen bislang noch kaum vor, eine erste Sichtung unterschiedlicher Nutzungsarten im politischen Kontext hat Jungherr (2009) vorgenommen.19 Für die Europawahl existiert daher keine solide Datenbasis, die eine retrospektive Analyse der konkreten Twitter-Nutzung ermöglichen würde. Aus ähnlichen Gründen ist auch eine Rekonstruktion des Anstiegs der Follower-Zahlen von Politiker-Accounts nur schwer möglich. Entsprechend lassen sich Reichweiten-Effekte der einzelnen Kampagnen und Wahlen im Jahr 2009 nicht miteinander vergleichen. Dennoch ist davon auszugehen, dass im Umfeld sämtlicher Wahlen eine gesteigerte „Twitter-Aktivität“ verzeichnet
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Virales Marketing umfasst Versuche zur (ursprünglich) mündlichen, unmittelbaren Weitergabe von Botschaften durch individuelle Konsumenten einer i.d.R. nicht offen erkennbaren Werbe- oder PR-Kampagne. Im Internet werden dazu häufig kurze Online-Videos produziert, die von Nutzern per E-Mail, in Weblogs oder innerhalb Sozialer Netzwerke weitergeleitet werden. Der eigentliche Auftraggeber einer solchen Kampagne tritt dadurch in den Hintergrund (vgl. hierzu ausführlich Langner 2007). Einen Eindruck über die „Zugriffsarten“ auf Online-Videos gibt die auf YouTube.com einsehbare Nutzungsstatistik für einzelne Videos. Für den erfolgreichen FDP-Spot „Klare Verhältnisse – FDP wählen!“ vgl. http://www.youtube.com/watch?v=Gb90OSbvHjE; Abruf am 31.05.2010. Aufgrund der unzureichenden bzw. nicht vorgesehenen Archivierbarkeit dieser „EchtzeitMeldungen“ können empirisch fundierte Aussagen (bislang) nur durch die zeitnahe Speicherung ausgewählter Twitter-Accounts realisiert werden. Ein Beispiel dafür liefern Bäck (2009) und Kossatz (2009), die während der Hochschulproteste in Österreich mehr als 60.000 Tweets mit den „Hashtags“ #unibrennt, #unsereuni, #audimax gespeichert und ausgewertet haben. Solche mit dem Rautenzeichen „#“ versehenen Begriffe dienen der Markierung von Inhalten in Twitter-Mitteilungen zur Verbesserung der nachträglichen Auffindbarkeit (vgl. dazu ausführlicher Bieber 2009a).
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werden konnte.20 So stellt etwa Thomas Pfeiffer in seiner monatlichen Darstellung der deutschsprachigen Twitter-Nutzer auf der Website www.webevangelis ten.de einen stetigen Anstieg im Jahresverlauf fest (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1:
Twitternutzung in Deutschland (April 2009 – März 2010)
Die eigenständige Nutzung von Twitter spielte für die meisten EuropaAbgeordneten bei der Gestaltung der Wahlkampfaktivitäten keine große Rolle: „62% of MEPs have either never heard of Twitter or have no plans to use it“ (Fleishman-Hillard 2009: 6). Dennoch setzte das Europäische Parlament den Service im Rahmen einer „Social Media“-Initiative zur Wählerinformation und -motivation ein. Die dabei generierten 2.500 Follower der in 22 Sprachen angebotenen Twitter-Profile21 lesen sich jedoch nicht wie eine Erfolgsbilanz, zumal der Gesamt-Etat für die Aktivitäten des Parlaments auf acht verschiedenen Plattformen mit immerhin 2,5 Millionen Euro angegeben wird (vgl. Kalsnes 2009). 20
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Ein zwar sehr ungenauer, aber doch hilfreicher Indikator ist die Abfrage des NachrichtenAggregators „Google News“, der für das Jahr 2009 mehr als 1.500 Artikel mit den Begriffen „Politik“ und „Twitter“ nennt. Deutlich erkennbare Spitzenwerte sind im Umfeld von Wahlen jedoch nicht zu beobachten, vielmehr steigt die Zahl der Artikel im Jahresverlauf kontinuierlich an, auch noch nach der Bundestagswahl im September. Die Accounts nach dem Muster @eu_elections_EN, @eu_elections_DE etc. sind inzwischen nicht mehr aktiv. Die offiziellen Profile folgen nun dem Schema @Europarl_EN (1.875 Follower zum 08.04.2010), @Europarl_DE (449 Follower) etc.
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Immerhin integrierten einzelne early adopters 22 unter den Europaabgeordneten oder Kandidaten in sämtlichen Mitgliedsstaaten das Versenden von Twitter-Mitteilungen („Tweets“) in ihre je individuellen Wahlkampagnen.23 Um die wahlbezogenen Nachrichten aus der unüberschaubaren Menge der Echtzeitkommunikation herauszufiltern, wurden vor allem die „Hashtags“ #eu09 und #ep09 verwendet. Diese „Markierungen“ einzelner Tweets erlauben eine Strukturierung des Datenmaterials24 und tragen auf diese Weise zur Herausbildung von Öffentlichkeitsstrukturen bei, die vorsichtig mit dem Modell der „Veranstaltungsöffentlichkeit“ beschrieben werden können.25 2.4 Automatisierte Wahlberichterstattung Rückblickend können Angebote zur Beobachtung und Auswertung von „Social Media“-Kommunikation als wesentliche Innovation im Rahmen der Wahlkampfberichterstattung des Jahres 2009 gelten. Die Abbildung kumulierter Nutzungsdaten in „Social Media“-Umfeldern trägt dabei dem Popularitäts- und Bedeutungsgewinn der Echtzeit-Kommunikation im Web 2.0 sowie der Präsenz in Sozialen Netzwerken Rechnung. Grundlegende Idee dieser MonitoringAngebote ist die Aufzeichnung bzw. Verfolgung der Kommunikations-Aktivitäten einzelner Nutzer auf verschiedenen Plattformen (i.d.R. Facebook- oder StudiVZ-Profil, YouTube-Kanal, Twitter-Account, eigener Weblog), die dann mittels einer kumulierten Statistik in Form von Kennzahlen, Benchmarks oder Indizes dargestellt werden. Typische Vertreter entsprechender „Monitoring-Websites“ im Bundestagswahlkampf waren politReport.de, wahl.de, Wahl-im-Web-Monitor oder wahlradar.de. Angeboten wurden diese Services nicht von etablierten Medien22 23 24
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Als early adopters werden Personen bezeichnet, die sich mit neuen Technologien rasch vertraut machen und sie in der Regel früher nutzen als andere Menschen. Für eine Auflistung vom März 2009 vgl. http://publicaffairs2point0.eu/2009/03/19/which-aremeps-are-twittering-i-know-a-few. Eine ausführlichere Liste findet sich auch auf der Seite tweetelect.com (vgl. auch Kap. 2.5). Ein Beispiel hierfür ist das Feed Archive von Matt Wardman, der am 07.06.2009 Tweets mit wahlbezogenen Inhalten bzw. entsprechenden Hashtags speicherte. Das bislang nicht präziser ausgewertete Material ist online einsehbar unter http://www.mattwardman.com/blog/ 2009/06/07/euro-election-2009-twitter-feed-archive-7-june-2009-ep09-eu09-euelex09/ Abruf am 31.05.2010. Eine ausführliche Darlegung dieser Argumentation würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen (vgl. Jungherr 2009; Krohn 2009). Das Konzept der „Veranstaltungsöffentlichkeit“ als Öffentlichkeit mittlerer Reichweite wird ausführlich vorgestellt bei Gerhards 1992, eine Übertragung auf den Bereich der Online-Kommunikation findet sich in Bieber 2006.
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unternehmen, sondern von Multimedia-Agenturen oder Beratungsfirmen.26 Sämtliche Dienste verarbeiten einen umfangreichen Datenkorpus, der die Präsenz von Parteien oder einzelnen Politikern in unterschiedlichen Medienumfeldern registriert. Auf den Websites werden dann die Resultate der Auswertungen präsentiert, meist ergänzt durch ein klassisches redaktionelles Umfeld mit Kurzberichten, Reports oder Rankings. Die Angebote des politReport und der Wahlim-Web-Monitor (als Rubrik des Multi-Autoren-Weblogs „digital daily dose“) waren dabei im Wahljahr 2009 noch im Erscheinungsbild eines Weblogs gehalten. Als Orientierungspunkte fungierten gängige Produkte und Dienstleistungen aus den Bereichen Medienmonitoring und Medienanalyse, die um die Beobachtung von Online-Medien erweitert wurden.27 Durch die Fokussierung auf Weblogs und die aus deren Verweisen resultierenden Netzwerke stellten Visualisierungen dieses Beziehungsgeflechts das zentrale Angebot auf der Website von wahlradar.de dar. Zugleich sollte durch die Darstellung von Themen und „Meinungstrends“ die Komponente der Echtzeit-Kommunikation berücksichtigt werden. Noch stärker auf die Präsenz in Sozialen Netzwerken ausgerichtet waren die Angebote von wahl.de, das insgesamt neun Web 2.0-Plattformen beobachtete (vgl. http://www.wahl.de/plattformen). Aus diesem Materialfundus heraus generierte wahl.de einen so genannten „Aktivitätsstream“, der aktuelle Nachrichten von Politikern aus den einzelnen Netzwerken auf einer Seite zusammenführte. Dabei wurde die Präsenz von Parteien und Politikern im Social Web regelmäßig in Form von Rangfolgen (z.B. über das höchste Wachstum an Kontakten oder die größte Menge versendeter Nachrichten) abgebildet. Auch hier standen klassische Formen der Medienbeobachtung von politischen Akteuren Pate, wobei die Kennzahlen aus den Sozialen Netzwerken implizit als „Beliebtheitswerte“ oder „Zustimmungsraten“ interpretiert werden können. Anders als bei ähnlichen Angeboten aus dem Bereich der Meinungsforschung (z.B. DeutschlandTrend/ARD, Politbarometer/ZDF) resultieren die Daten jedoch nicht aus organisierten Panel-Umfragen, sondern aus der Zusammen26 27
Die Anbieter im Einzelnen: cognita AG, Zürich/Berlin (politReport), compuccino, Berlin (wahl.de), Weber Shandwick, Berlin (Wahl-im-Web-Monitor), linkfluence/Publicis Consultants, Mannheim/Frankfurt (wahlradar.de). Eine Mischform stellte die Informationsplattform buergerinfo09.de dar. Unter redaktioneller Aufsicht wurden hier Informationen aus Sozialen Netzwerken (Twitter, YouTube, StudiVZ), in das parteipolitische Spektrum eingeordnete Weblogs, Pressemitteilungen von Parteien und Intermediären wie Gewerkschaften oder Kirchen auf einer Website integriert. Integraler Bestandteil dabei waren jedoch auch eine „klassische“ Presseschau sowie die Übernahme „fertiger“ Inhalte einzelner Medienanbieter wie der „Bild“-Zeitung, dem Deutschlandfunk oder der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ als Sponsor.
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fassung individuellen Nutzungsverhaltens in Sozialen Netzwerken (z.B. die Registrierung als Facebook-Unterstützer, StudiVZ-Fan oder Twitter-Follower). 2.5 Internationale Aggregatoren-Angebote zur Europawahl Im Umfeld der Europawahl wurde die besondere Bedeutung von politischer Echtzeit- und Netzwerkkommunikation anhand länderübergreifend positionierter „Aggregatoren“ sichtbar. Hier wurde der Versuch unternommen, OnlineKommunikation im Umfeld der Wahl vor allem durch die Sichtung und Darstellung von Twitter-Mitteilungen abzubilden. Das Angebot http://eu09.twitlife.com erstellte dazu ein Angebot im Stile einer „Twitterwall“, die einzelne „Tweets“ auf einer übersichtlichen Website zusammenführte und damit für ein breiteres Publikum sichtbar machte (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:
Tweet-Sammlung twitlife
Quelle: http://eu09.twitlife.com (Ausschnitt). Screenshot am 23.01.2010.
Als Grundlage für diese Selektion fungierte das „Hashtag“ #eu09, so dass lediglich mit dieser Markierung versehene Twitter-Nachrichten im automatischen
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Auswahlprozess erfasst werden konnten.28 Bei häufiger Verwendung des Hashtags durch viele Einzelnutzer und einer durch Weiterleitung (das so genannte „retweeting“) rasch wachsenden Verbreitung erreichen solche Integrationsangebote jedoch schnell die Grenze der individuellen Lesbarkeit: Die automatisch erstellten Ausgabeseiten ähneln dann einer vertikalen Laufschrift, da jeder neu erfasste „Tweet“ unmittelbar durch den nächsten ersetzt wird. Abbildung 3:
„European Dashboard“ von TweetElect09
Quelle: http://tweetelect.com/ (Ausschnitt). Screenshot am 23.01.2010.
Eine komplexere Variante zur Darstellung der europawahlbezogenen Echtzeitkommunikation stellte das Angebot TweetElect09 (www.tweetelect.com) bereit (vgl. Abbildung 3). Die aufwändiger programmierte Website umfasste neben der Darstellung der Live-Aktivitäten auch verschiedene Auswertungen und Analysen wie etwa regionale Verteilung, die Erwähnungshäufigkeit einzelner Politiker oder die Zuordnung von Mitteilungen innerhalb des Parteienspektrums. Die Momentaufnahme der Echtzeitkommunikation wurde außerdem mit weite-
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Technisch gesehen sind solche Angebote nichts anderes als die übersichtliche Darstellung von Ergebnissen einer Suche in Twitter-Nachrichten. Eine Live-Suche in den aktuell versendeten Twitter-Mitteilungen ist auch über die offizielle Twitter-Website möglich (http://search .twitter.com). Vgl. zu Hintergrund und Funktionsweise von Hashtags auch Bieber 2009a.
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ren Inhalten (Videos, Blogeinträge) flankiert. Durch diesen Ansatz entstand mit TweetElect09 eine Alternative zur Berichterstattung etablierter Medienanbieter. Obwohl Aggregatoren-Websites als innovativer Beitrag zur Medienberichterstattung über die Europawahl zu verstehen sind, zeichnen keine klassischen Medienakteure für derartige Angebote verantwortlich. Stattdessen wurden diese Projekte von Beratungsunternehmen oder Multimedia-Agenturen entwickelt (twitlife.com vom Web-Dienstleister i-marginal, TweetElect09 von der Beratungsfirma Burson-Marsteller). Hintergrund ist dabei nicht selten die Absicht, durch einen möglichst guten „Produkt-Showcase“ technologische Kompetenz in einem zukunftsträchtigen Arbeitsfeld zu beweisen. Ziel ist dabei neben öffentlicher Sichtbarkeit auch der Versuch, nach der Wahl Beratungs- oder Dienstleistungsaufträge zu erhalten. Das Aufkommen automatisierter Angebote zu Erfassung, Abbildung und redaktioneller Bearbeitung wahlbezogener Online-Kommunikation deutet eine neue Konkurrenzsituation mit etablierten Medienakteuren an. Auch wenn die knapp vorgestellten Projekte nur jeweils lückenhafte Ausschnitte abbilden können, so entsteht dennoch eine grobe Skizze der Landschaft „europäischer Öffentlichkeitsakteure“.29 Dies ist auch für eine künftige Orientierung wissenschaftlicher Untersuchungen relevant, denn bei bisher vorliegenden Studien handelte es sich in der Regel „um Medieninhaltsanalysen, die vor allem die nationale Medienberichterstattung und dabei in erster Linie die Qualitätspresse zum Untersuchungsgegenstand haben“ (Schwöbel 2009: 11). Die Versuche automatisierter Integration und redaktioneller Bearbeitung politik- wie bürgerseitiger Kommunikation im Europawahlkampf fügen – trotz aller Unvollständigkeit – einer inter- bzw. transnationalen politischen Öffentlichkeit neue sichtbare Facetten hinzu. 3 Online-Wahlkampfkommunikation durch europäische Akteure? Die Übersicht der Kampagnenaktivitäten im Jahresverlauf macht deutlich, dass zwar sämtliche neuen Informations- und Kommunikationsplattformen im Internet Berücksichtigung gefunden haben – allerdings stets mit einer klaren Fokussierung auf die Nutzung im nationalen Rahmen. Dadurch erhält die These vom „Nebenwahl-Charakter“ der Wahl zum Europäischen Parlament weitere Unter29
Vgl. zum Begriff des Öffentlichkeitsakteurs im Internet ausführlich Bieber 1999: 73ff. sowie die einschlägige Definition von Neidhardt (1994: 7) als „Sprecher und Kommunikateur in den Arenen und Relaisstationen“ im „Forum der Öffentlichkeit“.
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stützung. Um die eingangs formulierte These zur „Transformation von Öffentlichkeit“ im Zuge von Online-Kampagnen über verschiedene administrative Ebenen überprüfen zu können, ist ein kurzer Blick auf einige Spezifika der digitalen Wahlkampfkommunikation „europäischer Akteure“ notwendig.30 3.1 Europäische Öffentlichkeitsakteure? Vor dem Hintergrund des viel zitierten „Öffentlichkeitsdefizits“ der Europäischen Union wurden bereits zahlreiche Studien durchgeführt, die den Europäisierungsgrad traditioneller Medien untersucht haben. Ansatzpunkt für die defizitären Einschätzungen ist die Wahrnehmung, dass die EU immer größere Entscheidungsgewalt hat, die Öffentlichkeit, die diese Entscheidungen legitimieren soll, sich aber weiterhin überwiegend im nationalstaatlichen Rahmen formiert (vgl. Latzer/Saurwein 2006: 10). Das Internet, das aufgrund seiner genuin transnationalen Struktur besonders gut für das Aufkommen neuer „Öffentlichkeitsakteure“ sowie die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit geeignet sein könnte, war jedoch nur selten Gegenstand entsprechender Analysen. Zudem beschränkt sich der Großteil der bisherigen Untersuchungen fast ausschließlich auf den Beitrag der Medien zur europäischen Öffentlichkeit, während die beiden anderen ebenso dafür verantwortlichen Akteure, nämlich die Bürger und insbesondere die Parteien, kaum in den Blick genommen werden (vgl. Schwöbel 2009: 3; Koopmans/Zimmermann 2003: 3; Latzer/Saurwein 2006: 10, 20).31 Dabei ist gerade den politischen Parteien mit dem Internet ein Medium an die Hand gegeben, mit dem sie einer ihrer zentralen Aufgaben, nämlich der Schaffung von Öffentlichkeit, durch rasche, umfassende, multimediale und individualisierte Information des Wählers an den tradierten Medienkanälen vorbei in besonderer Weise nachkommen können (vgl. Stocker 2002: 109; Pausch 2008: 104). Das Internet als vergleichsweise neues Wahlkampfmedium 30
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Ausführlich untersucht wurde der Wahlkampf zur Europawahl unter besonderer Berücksichtigung des Internet im Rahmen der Magisterarbeit eines der beiden Verfasser dieses Beitrags. Der Arbeit liegt eine Inhalts- und Strukturanalyse der Partei-Homepages und Kampagnensites der beiden größten deutschen (CDU, SPD) und britischen Parteien (Conservative Party, Labour Party) sowie der beiden größten Europaparteien (European People‘s Party (EPP), Party of European Socialists (PES) zu fünf unterschiedlichen Zeitpunkten vor und nach dem jeweiligen Wahltermin zugrunde. Für ausführlichere Überlegungen zu Methodik und zu den Analyseergebnissen vgl. Schwöbel 2009. Wenngleich sich ausgewählte Beitrage in Tenscher (2005) mit der europäischen Dimension der Kampagnenführung befassen oder Medialisierungseffekte thematisieren, so bleiben explizit auf Bürger und Parteien als „Öffentlichkeitsakteure“ zielende Überlegungen außen vor.
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bietet zusätzliche Möglichkeiten, abseits der – meist national fokussierten – klassischen Medien bewusst europäische Themen zur Sprache zu bringen. Zudem wurden auch direkte Interaktionen des Wählers mit Parteien und Politikern realisiert, mit denen sich auch Vertreter aus anderen EU-Ländern vergleichsweise einfach in die Wahlkampagne einbinden ließen (vgl. Koopmans/Zimmermann 2003: 3f.; Schweitzer 2005: 124f.). 3.2 Nationale vs. „europäische“ Online-Kampagnen? Durch einen genaueren Blick auf parteigebundene Wahlkampf-Angebote zur Europawahl kann jedoch gezeigt werden, dass sich der defizitäre Zustand einer europäischen Öffentlichkeit auch durch den Internet-Wahlkampf der politischen Parteien zur Europawahl 2009 nicht entscheidend verbessert hat. So haben die nationalen Parteien in ihren Online-Nachrichten in erster Linie auf nationale Themen unter zum Teil sträflicher Vernachlässigung europäischer Politikbereiche gesetzt. Auch Internet-Spezifika, wie etwa die Möglichkeit der Verlinkung zu Websites der EU oder zu anderen Europaparteien wurden nur in geringem Maße verwendet (vgl. Schwöbel 2009: 56ff.). Eine Ausnahme bildeten hingegen die Internetauftritte der Europaparteien. Zwar wiesen diese vor allem in struktureller Perspektive einige Defizite auf. Dennoch war „Europa“ insgesamt, sowohl bezüglich der Strukturelemente als auch bei der Schwerpunktsetzung der Online-Nachrichten zu sämtlichen Erhebungszeitpunkten stark auf diesen Websites vertreten. Somit kann durchaus davon gesprochen werden, dass mit den Internetpräsenzen der Europaparteien genuin europäische Plattformen in den Online-Europawahlkampf 2009 eintraten (vgl. Schwöbel 2009: 52ff.). Ungeachtet der Potenziale der europäischen Partei-Websites sollte deren hoher Europäisierungsgrad im Europawahlkampf 2009 keinen Anlass zu allzu viel Optimismus geben, da die Websites der nationalen Parteien nach wie vor die wichtigere Anlaufstelle für die EU-Bürger im Netz darstellen (vgl. Schwöbel 2009: 89). Die Internetangebote der Europaparteien entsprachen wichtigen Faktoren wie Sprache, Zugehörigkeit und Betroffenheit, die in der Regel zu einer erhöhten Aufmerksamkeit führen, in geringerem Maße als das Internetangebot der nationalen Parteien (vgl. Schwöbel 2009: 8f.) – bei diesem war jedoch die vorwiegend nationale Orientierung unverkennbar. Unter den aktualisierten Inhalten der Websites kam europäischen Themen während der entscheidenden Phase des Wahlkampfs zwar eine leicht erhöhte Aufmerksamkeit zu; selbst dann waren sie allerdings meist von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zu
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nationalen und internationalen außereuropäischen Themen. Was die Struktur der Websites angeht, erlangte „Europa“ schließlich zeitweilig eine relativ starke Präsenz in den Internetauftritten der nationalen Parteien. Jedoch war diese lediglich auf die letzten vier Wochen vor dem Wahltermin begrenzt und wurde danach rasch wieder heruntergefahren. Hier zeigte sich in besonderem Maße die Ereigniskonzentriertheit respektive -beschränktheit bei der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit (vgl. Holtz-Bacha 2005: 19; Latzer/Saurwein 2006: 21; Schwöbel 2009: 90). Alles in allem bleibt also festzuhalten, dass die nationalen Parteien die medienspezifischen Vorteile des Internets zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit im Wahlkampf 2009 nur unzureichend nutzten. 3.3 Im Klammergriff des europäischen Wahlsystems Bereits die empirische Rekonstruktion zentraler Informations- und Kampagnenangebote im Online-Wahlkampf verdeutlicht den Charakter der Europawahl als Nebenwahl. Die eher sparsam anmutenden Versuche der politischen Parteien, sich im Vorfeld der Europawahl als relevante europäische Öffentlichkeitsakteure zu positionieren, folgen dabei einer simplen Zweckrationalität: Das „polymorphe Wahlsystem“ zur Europawahl (vgl. Nohlen 2004) stellt einerseits die bestmögliche Struktur für die Organisation des überaus komplexen Urnengangs dar, führt jedoch auch unweigerlich zu einer Ausrichtung der Kampagnenkommunikation auf die jeweils relevanten Zielgruppen – und dies sind bis auf weiteres die nationalen Medienlandschaften, deren Themenstruktur und Publika, die zwangsläufig zu einer „Nationalisierung“ der Wahlkampfkommunikation führen (vgl. auch den einleitenden Beitrag von Tenscher in diesem Band).32 Dennoch verweist die tendenziell stärkere „Europäisierung“ der Kampagnenkommunikation durch die europäischen Parteiorganisationen auf einen wichtigen Vektor für die künftige Entwicklung sowohl der europäischen Öffentlichkeit wie auch der politischen Online-Kommunikation. Wenn die Websites der so genannten „Europaparteien“ (Ayirtman/Pütz 2005) tatsächlich wichtige Orte für die Platzierung, Distribution und Diskussion politischer Themen mit EuropaBezug sind, inwiefern wirkt sich dann die zwingend ideologische Prägung sol32
Schon die vergleichsweise grobe Stichprobe mit nur zwei „nationalen Öffentlichkeiten“ im Visier verweist auf regionale Besonderheiten, die sich in anderen Ländern reproduzieren bzw. intensivieren dürften. Aufschlussreich wären weiterführende Untersuchungen, die sich mit verschiedenen Typen von Mitgliedstaaten (alte vs. junge EU-Mitglieder; kleine vs. große Mitgliedstaaten; regionale Schwerpunkte [z.B. Skandinavien, Baltikum, Südosteuropa]; unterschiedlicher Digitalisierungs- und Vernetzungsgrad) auseinandersetzen würden.
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cher Websites auf Verlauf und Ausbreitung „öffentlicher Diskussionen“ oder gar „Deliberation“ (Schmalz-Bruns 1999) aus? Es scheint geradezu unausweichlich, dass die Online-Angebote der Europaparteien im Sinne so genannter „Echokammern“ funktionieren, die Kommunikationsverläufe innerhalb einer ideologisch homogenen Teilöffentlichkeit begünstigen: Parteipolitisch Interessierte informieren sich, diesem Konzept folgend, vor Wahlen eher im „eigenen Lager“ und blenden so kontroverse Positionen (oder auch „unabhängige Einschätzungen“) tendenziell aus. Während Cass Sunstein diesen Effekt vor allem anhand der Aufteilung der US-amerikanischen Blogosphäre entlang der Kluft zwischen Anhängern von demokratischer und republikanischer Partei skizziert hat (vgl. Sunstein 2007), dürfte eine Netzwerkanalyse von Link- und Kommunikationsstrukturen von Websites und „Social Media“-Präsenzen der Europaparteien ähnliche Abschottungseffekte hervorbringen. Hinzu kommen Nationalisierungseffekte des polymorphen Wahlsystems bei Europawahlen – während die Europaparteien eine zwar „europäische“, aber „ideologisch isolierte“ Wahlkampfkommunikation liefern, bieten die nationalen Parteiorganisationen an der je eigenen nationalen Agenda orientierte Informationen. Dieser zusätzliche, „inter-national isolierende“ Echokammer-Effekt schränkt den Wirkungsraum der wahlbezogenen Online-Kommunikation noch weiter ein und verstärkt eine Ausdifferenzierung und Fragmentierung in tendenziell nur schwach miteinander verbundene Teilöffentlichkeiten. 4 In der zweifachen Echokammer? Die zweifache Nischenbildung stellt auch die kampagnenführenden Organisationen vor grundsätzliche Probleme bei der Gestaltung ihrer Wahlkampfkommunikation: Wenn sich politische Akteure als zentrale Öffentlichkeitsakteure im Wahlkampf positionieren und nennenswerte Reichweiten erzielen sowie unentschlossene Wähler mobilisieren wollen, dann müssen sie den ideologisch formatierten Kommunikationsraum der „Echokammer“ verlassen. An dieser Stelle aber wäre ein Paradigmenwandel der parteipolitischen Online-Kommunikation erforderlich: Online-Angebote politischer Akteure müssten dann weniger als kontrollierte Instrumente zum Partei- und Personalmarketing funktionieren, sondern ideologisch wie technisch offene Plattformen für eine breite Diskussion politischer Themen jenseits parteipolitischer Grenzen bieten.33 Im europäischen 33
Die Inhaltsanalyse von Schwöbel 2009 dokumentiert in der Strukturanalyse für die untersuchten Parteien eine Fokussierung auf die eigenen Positionen und das jeweilige Spitzenpersonal
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Kontext müssten darüber hinaus auch Themen aus anderen nationalen Öffentlichkeiten behandelt werden, die jedoch vom eigenen Elektorat abgekoppelt und damit unter Umständen dysfunktional für die Kommunikation mit der tatsächlichen Wählerschaft sind. Die Einbettung der europabezogenen politischen Online-Kommunikation in einen durch die Wahlsystematik national vorformatierten Rahmen steht demnach der Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit durch im engeren Sinne europäische Akteure wie den Europaparteien im Wege. Angesichts dieser Entwicklung stellen die automatisierten Versuche zur Darstellung der politischen Kommunikation auf den Plattformen des Web 2.0 (s.o.) nicht allein die innovative Abbildung der so genannten „Echtzeit-Kommunikation“ dar, sondern können auch als Hilfsmittel zur Re-Integration parteipolitisch fragmentierter Teilöffentlichkeiten verstanden werden: Die von Anbietern wie „Tweetelect“ oder „Twitlife“ eingesetzten Auswahlverfahren haben keine Sortierung der Inhalte entlang von Parteigrenzen vorgenommen, sondern sämtliche verfügbaren Äußerungen europäischer Öffentlichkeitsakteure gesammelt und dargestellt. Allerdings stecken derartige Angebote noch in einem frühen Entwicklungsstadium, sind anfällig für technische Fehler und kampagnenbasierte Manipulationen. Nicht zuletzt haben sie eine viel zu geringe Reichweite, als dass sie in naher Zukunft eine Breitenwirkung erzielen dürften. Dennoch ist die Perspektive einer automatisierten, algorithmen-basierten politischen Kommunikation ein überaus wichtiges Forschungs- und Entwicklungsfeld im Spannungsfeld von Politik- und Kommunikationswissenschaft. Aus dem zweifachen Echokammer-Effekt ergibt sich mit Blick auf die politische Online-Kommunikation ein vorerst deutliches Fazit zum Verhältnis von europäischer Neben- und nationaler Hauptwahl: Hinsichtlich formaler Gestaltung und Umsetzung von Online-Kampagnen sowie der Medienberichterstattung im Internet ist von einer klaren Dominanz der nationalen Medienöffentlichkeit und der Bundestagswahl als Hauptwahl auszugehen. Besonders deutlich haben sich diese Effekte auch am Beispiel der regionalen Nebenwahlen des Jahres 2009 gezeigt: Der Online-Wahlkampf zu den Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und Thüringen nahm ebenfalls nur eine randständige Rolle ein, digitale Kampagnenführung und Wahlberichterstattung im Internet spielten mit wachsender Nähe zum Termin der Hauptwahl eine immer geringere Rolle.34 In
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(vgl. Schwöbel 2009: 56ff.). Eine aktive Auseinandersetzung oder gar der offen geführte (Online-)Dialog mit dem politischen Gegner fehlen. Gerade für diese drei Landtagswahlen wirken jedoch noch weitere Eingrenzungen: So führt der (N)onliner-Atlas 2009 die drei Länder auf den Plätzen 1 (Saarland), 2 (Thüringen) und 5 (Sachsen) im so genannten Offliner-Ranking. Als „Offliner“ im Sinne der Methodik der Stu-
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dieser Perspektive stellen Haupt- und Nebenwahlkampf kalendarisch fast gleichzeitige, technologisch jedoch phasenverschobene Ausprägungen digitaler Wahlkampfführung dar. Jenseits dieser technologischen „Unterlegenheit“ der Online-Kampagnen im Vergleich zur Bundestagswahl übte die Europawahl auf der Policy-Ebene jedoch durchaus starken Einfluss auf Verlauf und Gestaltung des Wahlkampfs zur Hauptwahl im September aus: Insbesondere der Wahlerfolg der schwedischen Piratenpartei im Juni (7,1% und ein Abgeordneter) und das moderat erfolgreiche Abschneiden ihres deutschen Pendants (0,8% bzw. 229.464 Stimmen) platzierten die Debatte um „Digitale Bürgerrechte“ auf der öffentlichen Agenda. Die breite Sichtbarkeit der so genannten „Zensursula“-Kampagne35 um die Einführung von „Internet-Sperren“ sowie der damit verbundene Aufstieg der Piratenpartei zu einem relevanten Akteur in der digitalen Öffentlichkeit wirkten sich massiv auf den weiteren Verlauf der Wahlkampfkommunikation im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen in Deutschland aus (vgl. Bieber 2011b, 2011c). Unter dem Begriff der „Digitalen Bürgerrechte“ gewann also im Umfeld der Europawahl ein neues Politikfeld an Konturen, das sich im weiteren Jahresverlauf auf der politischen Agenda etablierte. An dieser Stelle besteht eine bislang kaum beachtete Verbindungslinie zwischen Europa- und Bundestagswahl, die allerdings nicht darüber hinweg täuschen kann, dass die Realität der politischen Online-Kommunikation im europäischen Kontext durchaus problembehaftet ist – und aufgrund der wahlsystematischen Rahmenkonstruktion auch bleiben wird. Daran dürften auch innovative Angebote wie die international ausgerichteten Aggregatoren-Dienste nichts ändern. Schließlich gelten hier die gleichen Schwierigkeiten hinsichtlich Sprache, Zugehörigkeit und Betroffenheit, die auch für die Websites der Europaparteien gelten und ein Kernproblem im Formierungsprozess einer integrierten europäischen Öffentlichkeit bilden. Trotzdem sind diese Online-Angebote und
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die gelten dabei Personen, die das Internet zum Zeitpunkt der Befragung nicht nutzen und auch in den nächsten zwölf Monaten nicht vorhaben zu nutzen. Zudem sind nur vergleichsweise kleine Parteiapparate vorhanden. Das für einen lebhaften Online-Wahlkampf notwendige „Grundrauschen“, das von vernetzten Parteimitgliedern erzeugt werden kann, fiel daher besonders schwach aus. Eine ausführlichere Darstellung dieser Faktoren findet sich im Weblog von Christoph Bieber: http://internetundpolitik.wordpress.com/2009/08/25/in-eigener-sacheerfurt/. Unter dem Label „Zensursula“ versammelten sich im Laufe des Frühjahrs 2009 zahlreiche Gegner der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen und inszenierten eine vielschichtige Online-Kampagne zur Kritik an der geforderten Indizierung und Blockierung von Webseiten. Die Ministerin wurde mit dem Vorwurf der „Zensur“ konfrontiert, aus der Verbindung mit ihrem Vornamen resultierte schließlich der plakative Kampagnen-Name (vgl. dazu ausführlich Bieber 2011b).
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die Websites der Europaparteien allemal neue sichtbare Facetten eines interbzw. transnationalen Politikraumes und können zusammen mit dem PolicyImpuls des Europawahlkampfs im Zusammenhang mit der „Zensursula“Kampagne durchaus als Internet-spezifischer – wenn auch temporärer – Beitrag zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit gesehen werden. 5 Literatur Albers, Hagen (2009): Onlinewahlkampf 2009. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51, 33-38. Ayirtman, Selen/Pütz, Christine (2005): Die Europaparteien als transnationale Netzwerke. Ihr Beitrag zum Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit. In: Knodt, Michèle/Finke, Barbara (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft. Konzepte, Akteure, Strategien. Wiesbaden: VS, 389-407. Bäck, Gerald (2009): #unibrennt: 21,5 Millionen Reichweite in 4 Wochen. In: BäckBlog, 27.11.2009. Online-Publikation unter http://www.baeck.at/blog/2009/11/27/ unibrennt-215-millionen-reichweite-in-4-wochen; Abruf am 30.05.2010. Bieber, Christoph (1999): Politische Projekte im Internet. Computervermittelte Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt: Campus. Bieber, Christoph (2006): Weblogs und Podcasts als Veranstaltungsöffentlichkeiten. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (2), 60-68. Bieber, Christoph (2009a): Die Stecknadel im Heuhaufen. Was sind eigentlich Hashtags? In: TV-Duell – Das Blog, 13.9.2009. Online unter http://blog.zdf.de/tvduell/ 2009/09/die-stecknadel-im-heuhaufen--.html; Abruf am 30.05.2010. Bieber, Christoph (2009b): Soziale Netzwerke als neue Arena politischer Kommunikation. In: Bieber, Christoph/Eifert, Martin/Groß, Thomas/Lamla, Jörn (Hg.): Soziale Netze in der digitalen Welt. Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht. Frankfurt a.M.: Campus, 53-64. Bieber, Christoph (2011a): Der Online-Wahlkampf zur Bundestagswahl. In: Schweitzer, Eva/Albrecht, Steffen (Hg.): Die Rolle des Internet bei der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS (i.E.). Bieber, Christoph (2011b): NoBailout und #Zensursula. Online-Kampagnen in der Referendumsdemokratie. In: Kamps, Klaus/Scholten, Heike/Schommer, Guido/Seeligmüller, Ingo (Hg.): Politische Kampagnen in der Referendumsdemokratie. Wiesbaden: VS (i.E.). Bieber, Christoph (2011c): Der Wahlkampf als Onlinespiel. Die Piratenpartei als Innovationsträger. In: Eifert, Martin/Hoffmann-Riehm, Wolfgang (Hg.): Innovation, Recht, öffentliche Kommunikation. Berlin: Duncker & Humblot (i.E.). Bieber, Christoph/Leggewie, Claus (Hg.) (2004): Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff. Frankfurt a.M.: Campus. Decker, Frank/von Blumenthal, Julia (2002): Die bundespolitische Durchdringung der Landtagswahlen. Eine empirische Analyse von 1970 bis 2001. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 33 (1), 144-165.
Politische Online-Kommunikation
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RESONANZEN UND WIRKUNGEN DER KAMPAGNEN
Wahlkämpfe in Krisenzeiten: Ein Vergleich der Medien- und der Bevölkerungsagenda vor den Europa- und Bundestagswahlen 2009 Marko Bachl & Frank Brettschneider
1 Einleitung Die Europa- und die Bundestagswahlen im Jahr 2009 fanden nicht unter normalen Umständen statt. Vielmehr unterschieden sich die Ausgangsbedingungen für die beiden Wahlkämpfe stark von denen in anderen Jahren: Zum einen prägte selten zuvor ein einzelnes Thema das kommunikative Umfeld von Europa- und Bundestagswahlen so stark wie 2009 die Wirtschaftskrise. Bei der massiven Präsenz dieses Thema in der öffentlichen Diskussion darf davon ausgegangen werden, dass es auch für die Bevölkerung von herausragender Bedeutung war. Zahlreiche Untersuchungen im Zusammenhang mit Wirtschaftsthemen weisen nach, dass gerade von der Wirtschaftsberichterstattung ein Agenda-SettingEffekt auf die Problemwahrnehmung der Bevölkerung ausgeht. Dies gilt insbesondere für negative Meldungen über die Wirtschaftslage. Und dies gilt auch für Rezipienten, die selbst gar nicht von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind (vgl. u.a. Mutz 1992; Brettschneider 2003; Quiring 2004; Hagen 2005; Soroka 2006). Zum anderen wurden die Wahlkämpfe vor dem Hintergrund einer in Berlin regierenden Großen Koalition geführt. Die Tatsache, dass die Union und die SPD den Wahlkampf aus der Großen Koalition heraus führen mussten, lieferte den Journalisten weniger Material als üblich. Normalerweise bauen sich im Wahlkampf zwischen Union und SPD grundsätzlich unterschiedliche Positionen auf. Die in der Regierung befindliche Volkspartei führt dann einen Leistungsbilanzwahlkampf und verweist auf ihre Erfolge. Die in der Opposition befindliche Partei bezweifelt die Regierungserfolge, sieht gravierende Defizite und verspricht, das Meiste besser zu machen. Das liefert üblicherweise genügend Stoff für Journalisten, die für ihre Berichterstattung Konflikt und Auseinandersetzung benötigen. Vor allem aber setzen die Parteien in der Regel unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Entscheidend ist es dann, mit Hilfe des Wahlkampfes jene J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Marko Bachl & Frank Brettschneider
Themen in den Medien zu verankern, die einem selbst nützen und die dem politischen Kontrahenten schaden. Dieses Vorgehen ist aus einer Großen Koalition heraus kaum möglich, denn es wäre nicht glaubwürdig. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden untersucht, welche Themen in der Medienberichterstattung vor der Europawahl 2009 und vor der Bundestagswahl 2009 dominierten. Zudem wird analysiert, welche Themen aus Sicht der Bevölkerung vor diesen Wahlen besonders wichtig waren und welche Parteien jeweils von der aktuellen Themen-Agenda profitierten. Dazu wird zunächst die Bedeutung von Agenda-Setting, Agenda-Cutting und Agenda-Surfing für den Wahlerfolg dargestellt (Kap. 2). Sodann werden anhand systematischer Medieninhaltsanalysen und repräsentativer Bevölkerungsumfragen (Kap. 3) die Medien- und die Bevölkerungsagenda zur Europawahl 2009 miteinander verglichen (Kap. 4). Auch wird auf die Präsenz und die Bewertung der Parteien im Kontext wirtschaftspolitischer Themen in Zeiten einer ökonomischen Krise eingegangen. Es folgt die gleiche Analyse für die Bundestagswahl 2009 (Kap. 5), bevor abschließend beide Wahlen miteinander verglichen werden (Kap. 6). 2 Agenda-Setting, Agenda-Cutting, Agenda-Surfing und Wahlerfolg Um Wahlen zu gewinnen, müssen eine Partei und ihr/e Spitzenkandidat/in primär zwei Ziele erreichen: Erstens sind die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Zwar sinkt der Anteil der verlässlichen Stammwähler an allen Wahlberechtigten von Jahr zu Jahr. Dennoch sind sie für eine Partei von größter Bedeutung. Mobilisierte Stammwähler reden mit Nachbarn und Bekannten. Schon Lazarsfeld, Berelson und Gaudet (1944: 158) stellten in ihrem Klassiker zum Wahlkampf fest: „More than anything else people can move people“. Das direkte Gespräch, bei dem man seinem Gesprächspartner ins Gesicht schauen kann, gilt nach wie vor als glaubwürdigste und damit als wirkungsvollste Form der Kommunikation. Vor allem in der Frühphase des Wahlkampfes muss es Parteien daher gelingen, ihre Stammwähler von der Bedeutung ihres Engagements zu überzeugen. Für die Mobilisierung der eigenen Anhänger ist es entscheidend, wie stark eine Partei ihre Grundüberzeugungen und ihre Wertebasis im Wahlkampf vermitteln kann und wie intensiv die für eine Partei zentralen Themen in die Wahlkampfkommunikation gelangen. Hinzu treten Aspekte wie das geschlossene Auftreten der Partei, ihre Unterscheidbarkeit vom Hauptkonkurrenten sowie die Überzeugungskraft des politischen Führungspersonals (Problemlösungskompetenz und Leadership-Qualitäten).
Wahlkämpfe in Krisenzeiten
249
Zweitens muss eine Partei die parteipolitisch ungebundenen oder prinzipiell wechselbereiten Wähler überzeugen. Ihr Anteil wächst stetig. Mittlerweile entscheiden sich 30 bis 40 Prozent der Wähler erst in den letzten beiden Wochen vor der Wahl, wem sie ihre Stimme geben (vgl. Infratest 2009: 66). Verfügen diese Personen über eine hohe formale Bildung und ein ausgeprägtes politisches Interesse, so gelingt die Überzeugung in erster Linie mittels der im Wahlkampf dominanten Themen und der den Parteien bei diesen Themen zugeschriebenen Sachkompetenz. Die ungebundenen Wähler mit einer niedrigen formalen Bildung und einem geringen politischen Interesse werden hingegen eher durch Einzelthemen, die sie unmittelbar betreffen, oder durch Stimmungen direkt vor der Wahl beeinflusst (vgl. Brettschneider/Rettich 2005a). Zudem sollte der Wahlkampf so angelegt sein, dass die Anhänger der politischen Kontrahenten nicht mobilisiert werden. Es ist also ratsam, jene Themen zu vermeiden, die für den politischen Gegner eine besonders große reale oder symbolische Bedeutung haben. Für die Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung, die im besten Fall von den Wahlkämpfern „orchestriert“ eingesetzt, also miteinander verzahnt und aufeinander abgestimmt werden: Da ist zunächst der direkte Kontakt, etwa bei Wahlkundgebungen auf Marktplätzen, an Informationsständen in der Fußgängerzone, durch den Hausbesuch der Kandidaten, durch Maßnahmen des Direktmarketing, durch Wahlplakate und durch das Internet. Das Internet kann einerseits als Informationskanal genutzt werden, in dem man die eigenen Themen und Sichtweisen Interessierten zur Verfügung stellt – etwa auf der klassischen Homepage. Andererseits eignet es sich als Dialogkanal, in dem man der Web 2.0-Logik folgend nicht nur Informationen „von oben nach unten“ kommuniziert, sondern umgekehrt den Wählern die Möglichkeit bietet, sich selbst zu äußern (vgl. den Beitrag von Rußmann in diesem Band). Neben dem direkten Kontakt prägt die Berichterstattung der Massenmedien die wahlrelevanten Eindrücke des Großteils der Wähler (vgl. Überblick bei Brettschneider 2005). Vor allem die Fernsehnachrichten werden auch von jenen wahrgenommen, die sich nicht besonders stark für Politik interessieren. Die Thematisierungsfunktion der Massenmedien ist die bedeutendste Wirkung: Vereinfacht gesagt, erachten Menschen vor allem jene Themen als wichtig und als lösungsbedürftig, über die die Massenmedien häufig und gut platziert berichten. Themen, die in der Medienberichterstattung unter den Tisch fallen, spielen auch aus Sicht der meisten Wähler keine besondere Rolle. Zudem bewerten parteipolitisch ungebundene Wähler die Parteien und Kandidaten nicht, indem sie diese Punkt für Punkt miteinander vergleichen und am Ende einen Saldo aus Vor- und
250
Marko Bachl & Frank Brettschneider
Nachteilen bilden. Dieses Verfahren wäre viel zu zeitraubend. Stattdessen werden Parteien und Kandidaten anhand derjenigen Informationen beurteilt, die gerade „top-of-the-head“ sind, die also ohne großen Aufwand gedanklich verfügbar sind (vgl. u.a. Zaller 1992). Und das sind genau die Themen, die in der aktuellen Medienberichterstattung den breitesten Raum einnehmen. Dominieren in den Medien wirtschaftspolitische Themen, dann bewerten die Wähler Parteien und Kandidaten vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer wahrgenommenen wirtschaftspolitischen Kompetenz. Dominieren hingegen in der Medienberichterstattung sozialpolitische Themen, werden die Parteien und Kandidaten eher unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialpolitischen Kompetenz beurteilt (vgl. u.a. Iyengar 1992). Dies gilt für Bundestagswahlen. Und für Nebenwahlen, zu denen insbesondere Europawahlen zählen (vgl. u.a. Schmitt/Reif 2003), gilt es noch stärker. Denn bei Nebenwahlen kommt die Parteineigung in der Regel weniger stark zum Tragen als bei Bundestagswahlen. Selbst Personen mit Parteineigung wählen dann aufgrund der vermeintlich geringeren Bedeutung der Wahl auch mal eine andere als die normalerweise übliche Partei. Für diese Wählerinnen und Wähler sind dann erneut Themen von besonderer Bedeutung. Auch die Parteien kennen den Stellenwert von Themen für den Wahlentscheid. Dementsprechend sollte im Rahmen des Wahlkampfs das Themenmanagement besondere Beachtung finden. Dieses zielt darauf ab, die ThemenAgenda der Massenmedien, also die Tagesordnung der in den Medien diskutierten Themen, so zu beeinflussen bzw. zu nutzen, dass die eigene Partei und der eigene Kandidat davon profitieren. Drei Strategien stehen hierbei zur Verfügung: 1.
2.
3.
Agenda-Setting: Beim aktiven Setzen der politischen Tagesordnung wird versucht, jene Themen in der Medienberichterstattung zu lancieren oder sie dort zu halten, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung als kompetent angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung bei der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten Defizite wahrnimmt. Agenda-Cutting: Es wird aktiv versucht, jene Themen aus der Medienberichterstattung fernzuhalten oder sie von dort verschwinden zu lassen, bei denen entweder die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung nicht als kompetent angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten Problemlösungsfähigkeit zuschreibt. Agenda-Surfing: Wenn man das in der Medienberichterstattung existierende Themen-Set nicht beeinflussen kann – beispielsweise weil sich ein
Wahlkämpfe in Krisenzeiten
251
Thema so aufdrängt, wie es bei der Elbe-Flut vor der Bundestagswahl 2002 der Fall war –, dann wird versucht, dieses Themen-Set zum eigenen Vorteil zu nutzen. 3 Daten Um die Themen zu untersuchen, die Medien und Wähler im Wahljahr 2009 beschäftigten, werden zwei Datenquellen genutzt. Für die Analyse der Berichterstattung stehen Inhaltsanalysen der Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens zur Verfügung.1 Die Fernsehnachrichten waren auch 2009 die wichtigste Informationsquelle der Wähler (vgl. Zubayr et al. 2009 sowie den Beitrag von Boomgarden, de Vreese und Semetko in diesem Band) und sind somit als ein relevanter Indikator für die über die Massenmedien rezipierten politischen Inhalte anzusehen. In der vorliegenden Untersuchung werden zum Einen alle Aussagen über die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und ihre Politiker in den vier reichweitenstärksten Nachrichtensendungen Tagesschau (ARD), heute (ZDF), RTL aktuell und Sat.1 Nachrichten einbezogen. Zum anderen erfahren alle Bewertungen der Wirtschaftslage, des Arbeitsmarkts und der wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Nachrichtensendungen eine gesonderte Betrachtung. Zur Problemwahrnehmung der Wähler wird auf drei Befragungen zurückgegriffen, die im Rahmen der German Longitudinal Election Study (GLES) durchgeführt wurden.2 Zur Europawahl sind dies die erste und zweite Welle des Online-Trackings, zur Bundestagswahl die Befragung aus der Rolling Cross Section (RCS). Die Problemwahrnehmung und die Problemlösungskompetenz wurden durch die offene Frage nach den wichtigsten politischen Problemen in
1 2
Wir danken Media Tenor International für die Bereitstellung der Inhaltsanalyse-Daten. Die Befragungsdaten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – LeibnizInstitut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der Online-Umfrage wurden im Vorfeld der German Longitudinal Election Study (Komponente X: Vorwahl-OnlineTracking), die Daten der CATI-Umfrage wurden im Rahmen der German Longitudinal Election Study (Komponente 2: Rolling Cross Section-Wahlkampfstudie mit NachwahlPanelwelle) von Prof. Dr. Hans Rattinger (GESIS und Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin) erhoben. Sie wurden von GESIS für die Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag (vgl. zum Untersuchungsdesign der RCS Schmitt-Beck et al. 2010).
252
Marko Bachl & Frank Brettschneider
Deutschland und nach der Partei, die dieses Problem am besten lösen kann, operationalisiert.3 4 Medien- und Bevölkerungsthemen vor der Europawahl 2009 Die Finanz- und Wirtschaftskrise prägte die politische Berichterstattung der Hauptnachrichtensendungen während des Wahljahrs 2009. In den drei Monaten vor der Wahl zum Europäischen Parlament entfiel fast die Hälfte aller Aussagen über Parteien und Politiker, die sich mit einem Sachthema beschäftigten, auf die Wirtschaftspolitik (vgl. Abbildung 1). Getrieben von großen ordnungspolitischen Diskussionen und bedeutenden Ereignissen (z.B. Opel-Rettung, Finanzmarktstabilisierungsgesetz, Insolvenz von Arcandor) stieg der Anteil der Wirtschaftspolitik gar auf über zwei Drittel an allen sachpolitischen Aussagen. Der Fokus auf die Wirtschaftspolitik marginalisierte alle anderen Themen fast vollständig. Lediglich in einer der letzten 14 Wochen vor der Europawahl war das Thema nicht auf dem ersten Platz der Medienagenda. In Kalenderwoche 16 führte der Beschluss des „Regierungsprogramms“ durch den Bundesvorstand der SPD zu einer kurzen Diskussion über die Steuerpolitik, speziell über eine von der SPD vorgeschlagene „Reichensteuer“ (SPD 2009a). Das Thema setzte sich jedoch nicht dauerhaft auf der Medienagenda fest. Alle anderen Politikfelder wurden in den Fernsehnachrichten je nach aktueller Ereignislage mehr oder weniger häufig thematisiert, blieben in ihrer Präsenz jedoch deutlich hinter dem Top-Thema Wirtschaftspolitik zurück. Bemerkenswert ist, dass aus Anlass der Europawahl kaum über Europapolitik berichtet wurde. Lediglich in der letzten Woche vor der Wahl war das Thema mit elf Prozent aller Aussagen marginal wahrnehmbar. Die internationale Dimension der Finanzkrise führte also nicht zu einer größeren Medienaufmerksamkeit für Europa, sondern die Europa-Berichterstattung blieb, wie bei der vorangegangen Europawahl, auch 2009 auf niedrigem Niveau (vgl. Brettschneider/Rettich 2005b).
3
Da die Antworten zum Zeitpunkt dieses Beitrags für die RCS noch nicht codiert vorlagen, haben wir eine computergestützte Codierung durchgeführt. Das Wörterbuch für die computergestützte Codierung wurde an den bereits codierten Datensätzen des Online-Trackings getestet und erreichte eine gute Reliabilität von mindestens Krippendorffs Į = .84 für alle hier berichteten Themen (berechnet nach Hayes/Krippendorff 2007).
Wahlkämpfe in Krisenzeiten
Abbildung 1:
253
Medienthemen vor der Wahl zum Europäischen Parlament in den Hauptnachrichtensendungen
Basis: Alle Aussagen in den Hauptnachrichtensendungen über die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und deren Politiker in der Zeit vom 1. März bis zum 7. Juni 2009 mit Bezug zu Sachthemen (N = 7.169). Dargestellt ist der Anteil der Aussagen zu einem Thema an allen Aussagen mit Bezug zu Sachthemen in Prozent. Prozentuierungsbasis ist die Anzahl aller Aussagen pro Kalenderwoche. Um die Übersichtlichkeit zu verbessern, sind nur Themen dargestellt, die in einer Woche einen Anteil von mindestens zehn Prozent erreichen (Ausnahme: EU-/Europapolitik). x-Achse: Kalenderwochen. Daten: Media Tenor International.
Auch die Wirtschaftsberichterstattung war in den Monaten vor der Europawahl sehr intensiv und äußerst negativ (vgl. Abbildung 2). Dabei dominierte die Evaluation des staatlichen Krisenmanagements, doch auch die Bewertung der Wirtschaftslage und der Situation auf dem Arbeitsmarkt fanden in signifikantem Ausmaß Eingang in die Berichterstattung. Vor allem die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Situation und die Erwartungen bezüglich ihrer Entwicklung spiegelten die Wirtschaftkrise wider: Von Januar bis Mai 2009 übertrafen die negativen Bewertungen die positiven um durchschnittlich über 80 Prozentpunkte. Doch auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt (-53 Prozentpunkte) und die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen (-20 Prozentpunkte) wurden vor der Wahl zum Europäischen Parlament sehr negativ beschrieben.
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Abbildung 2:
Marko Bachl & Frank Brettschneider
Wirtschaftsberichterstattung der Hauptnachrichtensendungen im Wahljahr 2009
Präsenz (absolute Anzahl der Bewertungen)
Bewertung (Saldo positiver und negativer Bewertungen)
Basis: Alle Aussagen in den Hauptnachrichtensendungen über die Wirtschaftspolitik, die Wirtschaftslage oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Zeit vom 1. Januar bis zum 27. September 2009 (N = 1.203). Dargestellt ist die absolute Anzahl der Bewertungen zu einem Thema bzw. der Saldo positiver und negativer Bewertungen zu einem Thema. Daten: Media Tenor International.
Wahlkämpfe in Krisenzeiten
255
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise die Nachrichten vor der Europawahl 2009 entscheidend prägte. Die Wirtschaftspolitik war der mit Abstand häufigste Kontext, in dem über Parteien und Politiker berichtet wurde. Die Darstellung des Krisenmanagements stand im Zentrum der Wirtschaftsnachrichten. Außerdem war die Wirtschaftsberichterstattung ganz überwiegend negativ, vor allem die zukünftigen Aussichten wurden in düsteren Farben gezeichnet. Den Annahmen des Agenda-Settings folgend kann also davon ausgegangen werden, dass wirtschaftspolitische Themen die Bevölkerungsagenda vor der Europawahl bestimmten. Diese Vermutung wird durch einen Blick auf die Meinungsumfragen bestätigt (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3:
Wichtigste Probleme Deutschlands vor der Wahl zum Europäischen Parlament aus Sicht der Bevölkerung
Fragewortlaut: „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste / zweitwichtigste politische Problem in Deutschland?“ Dargestellt ist der Anteil der Befragten, die ein Problem genannt haben (Nt1 = 2.045, Nt2 = 1.072). Daten: GLES Online-Tracking Wellen 1 & 2.
Auf die Frage, welche politischen Probleme in Deutschland aktuell am wichtigsten seien, nannten ca. 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler den Arbeitsmarkt und/oder die wirtschaftliche Lage. Alle anderen Themen wurden nur von einem
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Marko Bachl & Frank Brettschneider
kleinen Teil der Bevölkerung als sehr wichtig eingeschätzt. Die Steuerpolitik und die soziale Lage in Deutschland lagen mit jeweils ca. zehn Prozent auf den Rängen drei und vier der Bevölkerungsagenda. Im für die Wahlentscheidung zur Europawahl relevanten Zeitraum ist damit auch auf der Bevölkerungsagenda kaum eine Veränderung festzustellen. Auffällig ist jedoch die Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die die Sorge um die Lage auf dem Arbeitsmarkt für die Wähler hatte, und der Präsenz arbeitsmarktpolitischer Aussagen in der Berichterstattung über die Parteien und Politiker (vgl. Abbildung 1). Während die Wirtschaftspolitik der Parteien ausführlich dargestellt und bewertet wurde, konnten die Wähler zumindest über die Hauptnachrichtensendungen kaum etwas über die arbeitsmarktpolitischen Pläne der Parteien erfahren. Ob dies an den wenig konkreten Vorstellungen der Parteien zur Gestaltung des Arbeitsmarkts oder an der Entscheidung der Nachrichtenredaktionen lag, die Beschreibung der Krise und allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahmen in den Vordergrund zu rücken, kann hier nicht geklärt werden. Tabelle 1:
Präsenz und Bewertung der Parteien im Kontext der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den drei Monaten vor der Europawahl 2009 Wirtschaftspolitik
Arbeitsmarktpolitik
Präsenza
Tendenzb
Präsenza
CDU/CSU
3.186
-4%
160
SPD
1.848
-9%
206
-8%
FDP
162
-3%
11
-9%
Grüne
154
-2%
40
0%
Die Linke
113
-4%
30
0%
N=
5.463
Tendenzb -21%
447
Basis: Alle Aussagen in den Hauptnachrichtensendungen mit Bezug zur Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in der Zeit vom 1. März bis zum 7. Juni 2009 (N = 5.910). a Anzahl der Aussagen; b Saldo aus Anteil positiver und Anteil negativer Aussagen. Daten: Media Tenor International.
Es ist aber festzuhalten, dass die politischen und die Wirtschaftsnachrichten durch ihren starken Fokus auf die Krise diese in den Mittelpunkt der Bevölkerungswahrnehmung rückten. Gleichzeitig war aus den Fernsehnachrichten aber kaum zu erfahren, wie die Politik auf die durch die Krise verursachte Sorge der Menschen um die Lage auf dem Arbeitsmarkt einzugehen gedachte. In Anbetracht der Bedeutung, die der Themenbereich Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik für einen großen Teil der Wählerschaft hatte, lohnt sich ein Blick auf die
Wahlkämpfe in Krisenzeiten
257
Präsenz und die Beurteilung der Parteien in der Medienberichterstattung in diesem Kontext (vgl. Tabelle 1). Vor allem über die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD wurde vor dem Hintergrund der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik berichtet. Dies verwundert wenig, da nur die Regierung aktiv Maßnahmen zur Bewältigung der Krise beschließen und durchführen kann. Vor der Europawahl waren die Union und ihre Politiker im Bereich der Wirtschaftspolitik deutlich präsenter als ihr Koalitionspartner. Ursächlich hierfür waren die herausgehobenen Rollen, die Kanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in diesem Zeitraum einnahmen. Merkel hatte zu Beginn des Jahres das Krisenmanagement zunehmend zur Chef-Sache erklärt. Zu Guttenberg sorgte als neuer Wirtschaftsminister für großes (mediales) Aufsehen, da er sich als einziges Kabinettsmitglied für ein Insolvenzverfahren für Opel aussprach und auch darüber hinaus eine kritische Position gegenüber Staatshilfen vertrat. Wie die Bewertung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Rahmenbedingungen im Allgemeinen (vgl. Abbildung 2), waren auch die Aussagen über alle Parteien und ihre Politiker im Kontext der Wirtschaftspolitik vor der Europawahl überwiegend negativ. Die Oppositionsparteien FDP und Grüne wurden zwar tendenziell etwas weniger kritisiert, allerdings waren sie kaum sichtbar. Die konkreten Inhalte zur Arbeitsmarktpolitik traten gegenüber dem allgemeinen Krisenmanagement klar in den Hintergrund. Die SPD war, vor allem da sie mit Olaf Scholz den zuständigen Bundesminister stellte, etwas präsenter als ihr Koalitionspartner. Beide Regierungsparteien, vor allem aber die Union und ihre Politiker, wurden in diesem Kontext deutlich negativ bewertet. Gerade den führenden Unionspolitikern Merkel und zu Gutenberg wurde häufig vorgeworfen, bei ihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen die Interessen der Arbeitnehmer zu wenig zu berücksichtigen. Die negative Beurteilung der Regierungsarbeit beim Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise scheint sich auch in der von den Wählerinnen und Wählern wahrgenommenen Problemlösekompetenz niederzuschlagen (vgl. Abbildung 4). Vor der Europawahl traute die relative Mehrheit der Befragten, die die Arbeitsmarkt- und/oder Wirtschaftpolitik für das wichtigste Problem hielten, keiner der politischen Parteien eine Lösung zu. Besonders die SPD litt unter dem geringen Vertrauen, das die Bevölkerung der Problemlösekompetenz der Politik entgegenbrachte. Während immerhin noch 30 Prozent der Wähler, die Arbeitsmarkt- und/oder Wirtschaftspolitik für die wichtigsten Probleme hielten, den Unionsparteien die besten Konzepte zur Bewältigung der Probleme zuschrieb, waren es für die SPD gerade einmal 20 Prozent. Die Kompetenzzuschreibungen vor der Europawahl korrespondiert mit dem späteren Wahlergebnis. Die SPD
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Marko Bachl & Frank Brettschneider
erreichte ein sehr schlechtes Resultat, aber auch die Union verlor gegenüber der letzten Europawahl deutlich an Stimmen (vgl. den einleitenden Beitrag von Tenscher in diesem Band). Abbildung 4:
Zugeschriebene Problemlösekompetenz in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik vor der Wahl zum Europäischen Parlament aus Sicht der Bevölkerung
Fragewortlaut: „Und welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen?“ Dargestellt ist der Anteil an allen Befragten, die Arbeit und/oder Wirtschaft als wichtigstes Problem nannten (Nt1 = 1.052, Nt2 = 490). Daten: GLES Online-Tracking Wellen 1 & 2.
In Anbetracht eines Meinungsklimas, in dem wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Themen die Bevölkerungsagenda klar dominierten, den gemeinsam in der Regierungsverantwortung stehenden Volksparteien von einem beträchtlichen Anteil der Wählerschaft aber keine Lösungen zugetraut wurden, ist dieses Ergebnis wenig überraschend. Gerade zur Lage auf dem Arbeitsmarkt, für einen großen Teil der Bevölkerung eines der wichtigsten politischen Probleme, wur-
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den in den Nachrichtensendungen kaum Lösungsvorschläge der Parteien präsentiert – und wenn doch, so wurden sie negativ dargestellt. Die Differenz zwischen SPD und CDU/CSU in der zugeschriebenen Problemlösekompetenz kann auch erklären, warum die Unionsparteien immer noch besser abschnitten als die SPD. Den Sozialdemokraten fehlte es aus Sicht der Wähler ganz offensichtlich an überzeugenden Konzepten, um den drängendsten Problemen des Landes Herr zu werden. 5 Medien- und Bevölkerungsthemen vor der Bundestagswahl 2009 Auch in den Monaten vor der Bundestagswahl 2009 fokussierte die Berichterstattung der Hauptnachrichtensendungen stark auf die Wirtschaftspolitik. Insgesamt fielen gut ein Drittel aller sachpolitischen Aussagen über Parteien und Politiker in diesen Bezugsrahmen. Damit war das Thema zwar weniger beherrschend als noch vor der Europawahl, ließ aber immer noch wenig Spielraum für andere Themenkarrieren oder aktives Themenmanagement der Parteien. Lediglich in den Kalenderwochen 28 und 32 stand ein anderes Thema an der Spitze der Medienagenda (vgl. Abbildung 5): Anfang Juli führte ein Störfall im Atomkraftwerk Krümmel zu einer kurzzeitigen Aufmerksamkeit für Energiepolitik und speziell für die Positionen der Parteien zum Atomausstieg. Trotz einiger Versuche der SPD und der Grünen, dieses Politikfeld dauerhaft im Wahlkampf zu verankern, verschwand es schon nach kurzer Zeit wieder von der Agenda. In der ersten Augustwoche verdrängte die Arbeitsmarktpolitik die Wirtschaftspolitik kurzfristig vom Spitzenplatz, angestoßen durch die Diskussionen um Frank-Walter Steinmeiers Wahlkampfpapier „Deutschland-Plan“, in dem die Arbeitsmarktpolitik einen breiten Raum einnahm. Darin versprach Steinmeier u.a., bis zum Jahr 2020 für Vollbeschäftigung zu sorgen (vgl. SPD 2009b). Obwohl hiermit ein für die Bevölkerung weiterhin zentrales Problem angesprochen wurde (vgl. Abbildung 6), gelang es der SPD nicht, dieses Thema auf der Agenda zu halten. Damit verflog der einzige im Ansatz erfolgreiche Versuch der SPD, ein eigenes Thema zu setzen, innerhalb von nur einer Woche. Die Verteidigungs- und die Außenpolitik prägten in der 37. Kalenderwoche aufgrund des von einem Bundeswehroffizier veranlassten Luftangriffs auf einen Tanklaster im afghanischen Kunduz die Medienagenda. Da sich in der Afghanistanpolitik alle Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei – einig waren, blieb das Ereignis für den Wahlkampf jedoch ohne Relevanz.
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Abbildung 5:
Marko Bachl & Frank Brettschneider
Medienthemen vor der Bundestagswahl in den Hauptnachrichtensendungen
Basis: Alle Aussagen in den Hauptnachrichtensendungen über die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und deren Politiker mit Bezug zu Sachthemen in der Zeit vom 1. Juli bis zum 26. September 2009 (N = 12.324). Dargestellt ist der Anteil der Aussagen zu einem Thema an allen Aussagen mit Bezug zu Sachthemen in Prozent. Prozentuierungsbasis ist die Anzahl aller Aussagen pro Kalenderwoche. Um die Übersichtlichkeit zu verbessern, sind nur Themen dargestellt, die in einer Woche einen Anteil von mindestens zehn Prozent erreichten. x-Achse: Kalenderwochen. Daten: Media Tenor International.
In den letzten beiden Wochen vor der Wahl nahm die Diskussion über Steuersenkungen Fahrt auf. Sie wurde vor allem von der FDP und von der CSU auf die Agenda gesetzt. Durch das Aufkommen des Themas unmittelbar vor dem Wahltermin könnte es durchaus einen Einfluss auf unentschlossene Wähler gehabt haben – speziell auf solche, die zwischen der FDP und der Union schwankten. Dies wirkte sich besonders zugunsten der Liberalen aus, da sie bezüglich Steuersenkungen eine klarere Position vertraten (vgl. Brettschneider/Bachl 2009). Andere Themen tauchten immer wieder einmal auf der Medienagenda auf, spielten aber im Gesamtkontext der Wahlberichterstattung keine wesentliche Rolle.
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Abbildung 6:
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Wichtigste Probleme Deutschlands vor der Bundestagswahl aus Sicht der Bevölkerung
Fragewortlaut: „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste / zweitwichtigste politische Problem in Deutschland?“ Dargestellt ist der Anteil der Befragten, die ein Problem genannt haben. x-Achse: Kalenderwochen. Daten: GLES RCS, eigene Codierung.
Die Intensität der Berichterstattung zur Wirtschaftslage und zu den wirtschaftspolitischen Maßnahmen war in den Monaten vor der Bundestagswahl deutlich geringer als noch vor der Europawahl (vgl. Abbildung 2). Die wirtschaftliche Situation wurde in den Nachrichtensendungen zwar noch immer überwiegend negativ beurteilt, allerdings ist im Vergleich zu den Vormonaten ein spürbarer Aufwärtstrend zu erkennen. Gerade der wichtige Aspekt der Lage auf dem Arbeitsmarkt wurde im Wahlmonat so positiv (bzw. so wenig negativ) dargestellt wie im gesamten Jahr 2009 noch nicht. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Wirtschaftskrise die Nachrichten vor der Bundestagswahl weiterhin stark beeinflusste. Im Vergleich zur Europawahl ging ihre Dominanz aber etwas zurück, wodurch auch hin und wieder andere Themen zu mehr medialer Aufmerksamkeit gelangen konnten. Auch die Darstellung der Wirtschaftslage war weniger dramatisch als noch im Mai des Jahres. Auf die Problemwahrnehmung
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der Bevölkerung hatte diese leichte Veränderung der Berichterstattung jedoch keine messbare Auswirkung (vgl. Abbildung 6). Weiterhin machten die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die allgemeine Wirtschaftslage den Befragten mit Abstand die größten Sorgen.4 Auch während der letzten acht Wochen des Wahlkampfs gab es diesbezüglich kaum Veränderungen. Einzige kleinere Ausnahme war der Bedeutungsanstieg der Verteidigungspolitik, der durch den Luftangriff in Kunduz und die darauf folgende Berichterstattung erklärt werden kann, aber keine nennenswerten Auswirkungen auf den Verlauf des Wahlkampfes hatte. Die Kumulation der Krisennachrichten über mehr als ein Jahr hinweg führte dazu, dass Wirtschaft und Arbeitsmarkt die zentralen Anliegen der Wähler blieben, auch wenn sich die Lage nach der Darstellung der Massenmedien etwas entspannt hatte. Daher ist es aufschlussreich, die Darstellung der Parteien in diesem Kontext vor der Bundestagswahl zu analysieren. Tabelle 2:
Präsenz und Bewertung der Parteien im Kontext der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den drei Monaten vor der Bundestagswahl 2009 Wirtschaftspolitik
Arbeitsmarktpolitik
Präsenza
Tendenzb
Präsenza
CDU/CSU
1.581
-9%
177
-16%
SPD
1.020
-7%
450
-13%
FDP
97
-8%
31
-19%
Grüne
84
1%
28
0%
Die Linke
59
-10%
46
2%
N=
2.841
Tendenzb
732
Basis: Alle Aussagen in den Hauptnachrichtensendungen mit Bezug zur Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in der Zeit vom 1. Juli bis zum 26. September 2009 (N = 3.573). a Anzahl der Aussagen; b Saldo aus Anteil positiver und Anteil negativer Aussagen. Daten: Media Tenor International.
Auch vor der Bundestagswahl waren die Unionsparteien im Bereich der Wirtschaftspolitik deutlich präsenter als die Sozialdemokraten, über die Oppositionsparteien wurde hingegen kaum berichtet (vgl. Tabelle 2). Beide Regierungs4
Der Anteile der Befragten, die ein Problem nannten, sollten nicht direkt zwischen den Darstellungen zur Europa- und zur Bundestagswahl verglichen werden, da sich Befragungsmodus (Online / CATI), Datendokumentation und Codierung zwischen den beiden Erhebungen unterscheiden. Die Anteile fallen bei der Darstellung zur Bundestagswahl methodenbedingt tendenziell höher aus.
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parteien wurden weiterhin überwiegend negativ bewertet. Im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik war die SPD präsenter als ihr Koalitionspartner. Neben der ministeriellen Verantwortung lässt sich dieser Unterschied auch durch die Wahlkampfkommunikation zum „Deutschland-Plan“ erklären. Die arbeitsmarktpolitischen Vorschläge, die dort präsentiert wurden, erfuhren in den Nachrichten allerdings keine positive Resonanz. Die Tendenz der Berichterstattung über die Sozialdemokraten war fast ebenso negativ wie die über die Union. Insgesamt gelang es den Wahlkämpfern nicht, eine Berichterstattung zu generieren, die geeignet gewesen wäre, das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Sachkompetenz der Parteien zu stärken. Dies spiegelt sich auch in den Kompetenzzuschreibungen der Bevölkerung wider (vgl. Abbildung 7). Abbildung 7:
Zugeschriebene Problemlösekompetenz in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik vor der Bundestagswahl aus Sicht der Bevölkerung
Fragewortlaut: „Und welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, dieses Problem zu lösen?“ Dargestellt ist der Anteil an allen Befragten in einer Woche, die Arbeit und/oder Wirtschaft als wichtigstes Problem nannten. x-Achse: Kalenderwochen. Daten: GLES RCS, eigene Codierung.
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Auch vor der Bundestagswahl trauten etwa ein Drittel aller Befragten, die in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit die größten politischen Aufgaben sahen, keiner Partei eine Problemlösung zu. Den Unionsparteien gelang es, bis zur Woche vor der Wahl immerhin 37 Prozent dieser Bürger von ihrer Sachkompetenz zu überzeugen. Die SPD lag hier über den gesamten Wahlkampf hinweg klar hinter ihrem Koalitionspartner. Insgesamt sind während des Wahlkampfs keine größeren Dynamiken zu erkennen. Auch wenn die Sozialdemokraten in den letzten beiden Wochen vor der Wahl noch etwas aufholen konnten und der Anteil derjenigen Wähler, die keine Partei in diesem Politikfeld für fähig hielten, etwas sank, lassen sich hier kaum Auswirkungen der Wahlkampfkommunikation feststellen. Auch bei der Bundestagswahl können Parallelen zwischen Medienthemen, Bevölkerungsthemen und Kompetenzzuschreibungen sowie dem Wahlergebnis gezogen werden. Beide großen Regierungsparteien konnten aus Sicht eines nennenswerten Anteils der Bürgerinnen und Bürger keine überzeugende Lösung für die wichtigsten Probleme Deutschlands anbieten. Dementsprechend ist es zu erklären, dass zahlreiche Wähler ihr Kreuz bei einer der ‚kleinen‘ Parteien machten. Während FDP, Grüne und Die Linke zusammen 10,5 Prozentpunkte hinzugewinnen konnten, verlor die SPD 11,2 Prozentpunkte. Die CSU verlor wegen ihres guten Abschneidens bei den Erststimmen zwar nur einen Sitz im Bundestag, erhielt aber über 600.000 Zweitstimmen weniger als noch vier Jahre zuvor. Und auch die CDU gewann nur relativ zur SPD – ihr Stimmanteil blieb konstant –, absolut verlor sie jedoch fast 1,3 Millionen Zweitstimmen. Im Bundestagswahlkampf waren die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise die wichtigsten Themen in den Medien und für die Wähler, und zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres vermochten es die großen Regierungsparteien nur eingeschränkt, überzeugende Problemlösungen anzubieten. So verloren sie Stimmen an die kleineren Parteien – und an die Nichtwähler: Mit 70,8 Prozent war die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie zuvor bei einer Bundestagswahl. 6 Vergleich und Diskussion Der Europawahlkampf 2009 und der Bundestagswahlkampf 2009 waren anders als gewohnt. Sie fanden vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise statt. Damit änderte sich die thematische Ausgangslage, die von den Wahlkämpfern berücksichtigt werden musste. Zudem wurden beide Wahlkämpfe von den Volksparteien aus der Großen Koalition heraus geführt. Dies schränkte deren taktischen Spielraum ein (vgl. den einleitenden Beitrag von Tenscher in diesem Band). Beides veränderte sowohl die Art der Wahlkämpfe als auch die Medien-
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berichterstattung über sie. Davon profitierten die Berliner Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linkspartei. Ihnen gelang es, mit einem jeweils klaren Themenprofil Wähler für sich zu gewinnen. Deutlich schwerer taten sich die Volksparteien, wobei vor allem SPD und CSU zahlreiche Fehler begingen, die Wählerstimmen kosteten. Die SPD führte ihren Wahlkampf mit der falschen Strategie, den falschen Themen und dem falschen Kandidaten. Zudem beging sie handwerkliche Fehler. Zur falschen Strategie zählt vor allem, dass sie orientierungslos zwischen Angriffs- und Leistungsbilanzwahlkampf hin und her schwankte. Beide Arten des Wahlkampfes sind unvereinbar und keine der beiden Strategien wurde konsequent verfolgt. Negative Campaigning, der Angriffswahlkampf, ist in Zeiten der Wirtschaftskrise bei einer Volkspartei zum Scheitern verurteilt. Das Warnen vor Schwarz-Gelb, das die letzten Tage des Wahlkampfes prägte, wirkte unglaubwürdig, weil die SPD kein alternatives Bündnis bewerben konnte oder wollte. Der Verbleib in der Großen Koalition, was die logische Folge gewesen wäre, wurde nicht als Ziel ausgegeben. Bleibt die Leistungsbilanzstrategie. Diese wurde von der SPD kaum und wenn, dann viel zu halbherzig verfolgt. Kommunikativ wäre es erfolgversprechender gewesen, die für die eigene Klientel harten Einschnitte unter Rot-Grün als Voraussetzung für das erfolgreiche Bewältigen der Wirtschaftskrise darzustellen und auf (SPD-)Erfolge in der Großen Koalition zu verweisen. Auch die Wahl der richtigen Themen wollte der SPD – anders als 2002 (Irak) und 2005 (Steuern) – diesmal nicht gelingen. Dabei zeigte das ‚TV-Duell’ zwischen Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel, womit die SPD hätte punkten können: Den größten Zuspruch erfuhr Steinmeier von den Zuschauern des ‚TV-Duells’ bei seinem Einsatz für einen flächendeckenden Mindestlohn (vgl. Brettschneider/Bachl 2009). Hier bot sich die Chance, die soziale Verantwortung gerade in Krisenzeiten zum Gesprächsgegenstand zu machen. Schließlich war das Themenfeld Soziale Gerechtigkeit das einzige, in dem der SPD eine größere Kompetenz zugesprochen wurde als der Union. Die Chance wurde halbherzig angegangen und damit verschenkt. Erschwert wurde das Spielen der ‚sozialen Karte’ durch die Agenda 2010 und die Rente mit 67, die beide von der SPD zu verantworten waren. Auch die CSU setzte auf eine riskante und falsche Strategie. Zum einen hat sie – wie die SPD – nicht bedacht, dass Negative Campaigning in Krisenzeiten Wählerinnen und Wähler abschreckt; erst recht dann, wenn sich die Attacken gegen den künftigen Koalitionspartner richten. Die Angriffe auf die FDP nützen daher nur einem: der FDP. Auch der Versuch, durch eine enorme Vielzahl an wöchentlich oder sogar täglich wechselnden Themen die Zustimmung der Wäh-
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lerinnen und Wähler zu erlangen, scheiterte. So ist es der CSU nicht gelungen, ein klares thematisches Profil zu kommunizieren (vgl. ausführlich Brettschneider/Bachl 2009). Zudem fielen die Unterschiede zwischen den Europa- und den Bundestagswahlkämpfen anders aus als normalerweise üblich. Das lag auch daran, dass beide Wahlkämpfe zeitlich eng beieinander lagen und damit mehr oder weniger ineinander übergingen. So kann der Europawahlkampf als eine Art ‚VorWahlkampf’ zur Bundestagswahl angesehen werden. Im kommunikativen Umfeld der Wahlen nahm zwar die Dominanz der Wirtschaftsthemen im Jahresverlauf etwas ab – wenn auch auf hohem Niveau –, aber dennoch prägten in beiden Fällen die Wirtschaftskrise und die Wirtschaftsnachrichten den jeweiligen Wahlkampf und die Bevölkerungsagenda. Und für beide Wahlen gilt: Es bestand auf Seiten der Bevölkerung wenig Vertrauen in die Problemlösekompetenz der die Große Koalition tragenden Volksparteien. Die kleinen Parteien konnten hingegen gewinnen – und das nicht nur bei der ‚Nebenwahl’ zum Europäischen Parlament, wo dies üblich ist, sondern auch bei der Bundestagswahl 2009. Weil weder die Union mit ihrer Kernkompetenz in der Wirtschaftspolitik noch die SPD mit ihren Stammthemen ‚Arbeit’ und ‚Soziale Gerechtigkeit’ punkten konnten, konnte sich keine der beiden großen Parteien entscheidend durchsetzen. Die beiden ‚großen Probleme’, Arbeitsmarkt und Wirtschaft, wurden von einem großen Teil der Wähler als von keiner Partei lösbar betrachtet. Daraus können drei mögliche Schlüsse abgeleitet werden, die zur Erklärung der Ergebnisse des Wahljahres 2009 beitragen können. Erstens: Obwohl Wirtschaft und Arbeit bei vielen Wählerinnen und Wählern „top-of-the-head“ waren, entschieden sie (auch) nach anderen Themen, da sie die ‚großen’ Probleme ohnehin für nicht lösbar hielten. Hier boten kleine Parteien konkretere Lösungen an, z.B. Grüne für Umwelt, FDP für Steuern. Die großen Parteien haben besondere Probleme, wenn sie für die großen Probleme keine Lösung mehr anbieten können, da sie als Volksparteien keinen so klar umrissenen ‚Markenkern’ haben können. Der Union ohne wirtschaftspolitische Kompetenzen oder der SPD ohne Lösungen für einen sozial gerechten Arbeitsmarkt fehlt der wesentliche Wahlgrund für ihre breitere Masse relativ heterogener Wähler. Zweitens: Da die wichtigsten Probleme von vielen Wählern nicht als lösbar erachtet wurden, sank die Bereitschaft, überhaupt zur Wahl zu gehen. Dadurch verloren die großen Parteien Wähler – hiervon besonders betroffen war die SPD. Drittens: Obwohl durch die Wirtschaftskrise und die Berichterstattung über die allgemeine wirtschaftliche Situation und die Lage auf dem Arbeitsmarkt das
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Thema Arbeitsmarkt von einem großen Teil der Wählerschaft als sehr wichtig erachtet wurde, gab es vergleichsweise wenige Aussagen über Parteien und Politiker mit Bezug zur konkreten Arbeitsmarktpolitik. Natürlich haben auch viele wirtschaftspolitische Maßnahmen im weiteren Sinne das Ziel, die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Konkret auf den Arbeitsmarkt bezogene Vorschläge fanden aber nur einmal prominenten Eingang in die Medienagenda: aus Anlass der Vorstellung des „Deutschland-Plans“ der SPD. Es bleibt zu untersuchen, ob dies an der journalistischen Selektion oder an fehlenden Vorschlägen seitens der Politik bzw. der Parteien lag. Auf eines der aus Sicht der Wähler wichtigsten Probleme Deutschlands wurde jedenfalls in der Berichterstattung der Hauptnachrichtensendungen weder vor der Europawahl noch vor der Bundestagswahl ausführlicher eingegangen. Möglicherweise liegt auch hier ein Grund für die geringen Kompetenzzuschreibungen gegenüber der Politik. 7 Literatur Brettschneider, Frank (2003): Economic Affairs, Media Coverage, and the Public’s Perception of the Economy in Germany. In: Schorr, Angela/Campbell, William/ Schenk, Michael (Hg.): Communication Research and Media Science in Europe. Perspectives for Research and Academic Training in Europe’s Changing Media Reality. Berlin/New York: Mouton de Gruyter, 251-270. Brettschneider, Frank (2005): Massenmedien und Wählerverhalten. In: Falter, Jürgen W./ Schoen, Harald (Hg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS, 473-500. Brettschneider, Frank/Bachl, Marko (2009): Die Bundestagswahl 2009 und die Medien. In: Politische Studien 428, 46-55. Brettschneider, Frank/Rettich, Markus (2005a): Medieneinflüsse auf das Wahlverhalten. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: VS, 157-185. Brettschneider, Frank/Rettich, Markus (2005b): Europa – (k)ein Thema für die Medien. In: Tenscher, Jens (Hg.): Wahl-Kampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament. Wiesbaden: VS, 136-156. Hagen, Lutz M. (2005): Konjunkturnachrichten, Konjunkturklima und Konjunktur. Köln: Herbert von Halem. Hayes, Andrew F./Krippendorff, Klaus (2007): Answering the Call for a Standard Reliability Measure for Coding Data. In: Communication Methods and Measures 1 (1), 77-89. Infratest dimap (2009): Bundestagswahl 27. September 2009. Wahlreport. Berlin: Infratest dimap. Iyengar, Shanto (1992): Wie Fernsehnachrichten die Wähler beeinflussen. Von der Themensetzung zur Herausbildung von Bewertungsmaßstäben. In: Wilke, Jürgen (Hg.):
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Marko Bachl & Frank Brettschneider
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Effekte von Medien-Framing und Medien-Priming bei Haupt- und Nebenwahlen: Theoretische Ansätze, empirische Befunde und konzeptionelle Überlegungen Bertram Scheufele
1
Einführung
Ob Politiker, Manager, Gewerkschaftsvertreter, Journalisten oder Wähler – wir alle betrachten die Ereignisse, Sachverhalte, Akteure und Entwicklungen, mit denen wir neu oder erneut konfrontiert werden, aus einer bestimmten Perspektive oder Warte, um sie kognitiv verarbeiten, interpretieren und bewerten zu können. Solche Perspektiven nennt der Framing-Ansatz Interpretations- bzw. Bezugsrahmen – englisch: Frames (vgl. z.B. Reese 2001; Scheufele 2003; Matthes 2007; Scheufele/Scheufele 2010). In seinem Gastbeitrag in der „Welt“ vom 11. Februar 2010 hatte Westerwelle der Hartz-IV-Debatte in Deutschland „sozialistische Züge“ vorgeworfen. Zudem würden jene, die „anstrengungslosen Wohlstand“ versprechen, zu „spätrömischer Dekadenz“ einladen.1 Damit stellte Westerwelle die Diskussion um staatliche Sozialleistungen in den Bezugsrahmen des ‚Sozialismus‘ – und das mit einem Zungenschlag, der ihn selbst in die Kritik brachte. Das Medienecho bzw. die öffentliche Empörung waren groß. Bereits einen Monat später sprach Frank Walter im „Spiegel“ vom „Fluch der permanenten Provokation“.2 Nachdem Kritik auch an Westerwelles Dienstreisen aufgekommen war, schien alles, was er tat oder äußerte, in den Rahmen eines Skandals gestellt zu werden. Für das Politbarometer galt Westerwelle Ende April 2010 als „der unbeliebteste Außenminister“.3 Aber nicht nur er selbst hatte erheblich an Popularität eingebüßt, auch die Bundes-FDP verlor in den Umfragen an Zustimmung. Inwieweit dieser Bundestrend die Liberalen in Nordrhein-Westfalen bei der Landtagswahl 1 2 3
www.welt.de/debatte/article6347490/An-die-deutsche-Mittelschicht-denkt-niemand.html; Abruf am 26.04.2010. www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,druck-683063,00.html; Abruf am 26.04.2010. http://politbarometer.zdf.de/ZDFde/inhalt/22/0,1872,8059222,00.html; Abruf am 26.04.2010.
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Bertram Scheufele
am 9. Mai 2010 Stimmen gekostet hat, lässt sich erst nach eingehender Analyse des Wahlergebnisses klären. Gleichwohl macht das Beispiel deutlich, wie Framing entsprechende Urteile oder Meinungen präformieren kann (vgl. dazu z.B. Cappella/Jamieson 1997; Nelson et al. 1997; Price/Tewksbury 1997; Scheufele 2004; Scheufele/Tewksbury 2007). Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag zunächst die zentralen theoretischen Ansätze zu Effekten von Medien-Framing und Medien-Priming vor (Kap. 2), auf denen dann die nachfolgende Argumentation aufbaut. Zudem werden Framing- und Priming-Effekte in die sozialpsychologischen Modelle des Wählerverhaltens eingebettet (Kap. 3). Anschließend geht es darum, wie sich Framing- und Priming-Effekte bei Haupt- und Nebenwahlen darstellen (Kap. 4). Da es meines Wissens kaum empirische Studien dazu gibt, werden zuletzt Schlussfolgerungen auch für künftige Forschung gezogen (Kap. 5). 2
Theoretische Ansätze zu Effekten von Medien-Framing und Medien-Priming
Framing-Effekte lassen sich nicht getrennt von Agenda-Setting- und PrimingEffekten diskutieren (vgl. z.B. Iyengar/Simon 1993; Price/Tewksbury 1997; Scheufele 2000). Im Folgenden orientiere ich mich zunächst an dem aus meiner Sicht überzeugendsten Versuch, vor allem Framing- und Priming-Effekte in einem schlüssigen Gesamtkonzept zu integrieren. Auf Grundlage kognitionspsychologischer Erkenntnisse gehen Vincent Price und David Tewksbury (1997) davon aus, dass Framing-Effekte mit der Anwendbarkeit („applicability“) kognitiver Schemata zu tun haben: Wenn ein Medienbeitrag ein Thema auf eine bestimmte Weise rahmt, hebt er bestimmte Aspekte hervor, die dann als Schlüsselreize für die Rezipienten fungieren. Kognitiv aktiviert werden somit jene Rezipienten-Schemata, deren Slots mit diesen Schlüsselreizen am stärksten korrespondieren. So sollte z.B. das von der damaligen US-Regierung für den Irak-Krieg 2003 gewählte Leitmotiv „Iraqi Freedom“ einen Frame etablieren, der deutlich macht, dass die Militäroperation aus der Warte von Freiheit zu interpretieren sei. „Consequently, the freedom schema is more likely to be activated than the economic one“ (Scheufele/Scheufele 2010: 114). Solche MedienFraming-Effekte treten nach Price et al. (1997) bereits während oder kurz nach der Medienrezeption auf, sind also zunächst einmal kurzfristiger Natur. Priming-Effekte begreifen die Autoren dagegen als eine Frage der Zugänglichkeit („accessibility“) kognitiver Schemata. Wenn ein Medienbeitrag mittels Framing ein bestimmtes Rezipienten-Schema aufgerufen hat, so bleibt dieses
Effekte von Medien-Framing und Medien-Priming
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Schema für gewisse Zeit noch aktiviert. Diese Resterregung macht es wahrscheinlicher, dass das Schema bei einem späteren Urteil etwa nach der Rezeption erneut aktiviert wird und für diese Urteilsbildung wirksam wird. Beispielsweise fällt ein Rezipient sein Urteil über den Irak-Krieg mit dem obigen Beispiel im Lichte von Freiheit und nicht aus der Perspektive ökonomischer Interessen. Folglich dürfte er den Irak-Krieg eher begrüßen als ablehnen – natürlich einmal abgesehen von entsprechenden Voreinstellungen. Diese Konzeption basiert auf den wegweisenden Arbeiten von E. Tory Higgins (vgl. Higgins 1996; Higgins/Brendl 1995), die wiederum auf Modellen kognitiver Netzwerke aufbauen (vgl. dazu z.B. McClelland/Rumelhardt 1986; Clark 1989). Nach diesen Modellen ist unser Wissensbestand, sind unsere Schemata in einer Art Netzwerk organisiert. „A person’s knowledge, values, motivations, and feelings may be usefully represented as an associative network. [But] (…) only small parts of this store are subject to active thought“ (Price/ Tewksbury 1997: 188). Denn Menschen ziehen erst einmal jene Schemata heran, die auf ein aktuelles Thema oder Ereignis überhaupt anwendbar sind. Darauf kann – wie dargelegt wurde – die Rahmung des Themas bzw. Ereignisses in der Medienberichterstattung entscheidenden Einfluss haben. Darüber hinaus berücksichtigen Menschen Schemata, die aktuell leicht zugänglich sind. Nichts anderes meint im Übrigen die Rede der Verfügbarkeitsheuristik (vgl. Tversky/Kahneman 1973).4 Dabei sind zwei Arten von Zugänglichkeit zu unterscheiden (vgl. z.B. Higgins/Brendl, 1995; Higgins 1996; vgl. zur Anwendung auf Wahlen auch Barker 2005): Temporäre Zugänglichkeit geht auf „recent priming“ zurück. Demnach lässt sich ein Schema, das erst kürzlich aktiviert wurde, leichter erneut abrufen als jene Schemata, die kognitiv gleichsam ‚schlummern‘. Chronische Zugänglichkeit geht auf „frequent priming“ zurück: Schemata, die wiederholt aktiviert wurden, sind gewissermaßen konstant zugänglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie erneut aktiviert werden, ist also weit höher als bei Schemata, die in der Vergangenheit nur vereinzelt aufgerufen wurden. Diese Überlegungen wurden auch auf den Bereich des Medien-Priming übertragen (vgl. z.B. Domke et al. 1998; Peter 2002). Price und Tewksbury (1997) betonen ihrerseits, dass wiederholtes, gleichförmiges Medien-Framing Rezipienten-Schemata chronisch zugänglich machen kann. Damit sprechen sie die schon von Elisabeth Noelle-Neumann (1973) hervorgehobenen Wirkungsfaktoren Kumulation und Konsonanz an. 4
Der Verfügbarkeitsbegriff ist jedoch irreführend. Denn Verfügbarkeit betrifft die Frage, ob wir überhaupt schon ein Schema für etwas haben. Zugänglichkeit betrifft dagegen die Frage, ob ein bereits vorhandenes Schema leicht abrufbar ist (vgl. Scheufele 2003: 26).
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Eine zunächst bekanntere kommunikationswissenschaftliche Konzeption von Priming-Effekten stammt von Iyengar und Kinder (1987). Dass sie sich von dem zuvor vorgestellten Modell in einem zentralen Aspekt unterscheidet, wird auch in aktuelleren Überblicksarbeiten (z.B. Peter 2002; Matthes 2007) nicht deutlich herausgearbeitet. Vereinfacht gesprochen fungiert für Iyengar/Kinder (1987) das Thema als Prime, während für Price/Tewksbury (1997) der Frame als Prime wirkt. Indem Medien ein Thema häufig ansprechen, legen sie nach Iyengar/Kinder (1987: 63) zugleich fest, anhand welcher Kriterien z.B. Politiker beurteilt werden. Insofern wäre Medien-Priming als zweite Stufe von AgendaSetting (vgl. dazu z.B. McCombs 2004) zu begreifen (vgl. z.B. Iyengar/Simon 1993: 368). Dafür ist Westerwelle wieder ein gutes Beispiel: Der Außenminister lancierte mit der Hartz-IV-Debatte ein Thema, das nichts mit Außenpolitik zu tun hat. Folglich wurde er nicht im Lichte seiner Außenpolitik, sondern seiner sozialpolitischen Äußerungen beurteilt – also anhand jener Kriterien bzw. ‚Geister‘, die er selbst rief. Vermutlich dürften auch Vorstellungen aktualisiert worden sein, die viel früher geprägt wurden – etwa die eines Spaß-Politikers. Im Zuge der Prominenz des Framing-Ansatzes wurde versucht, eine Erweiterung des Agenda-Setting-Ansatzes zu etablieren, die als Second-Level- bzw. Attribute-Agenda-Setting bekannt ist (vgl. z.B. McCombs et al. 1997, 2000; McCombs/Ghanem, 2001; Golan/Wanta 2001; Kim et al. 2002). Unterschieden werden nunmehr also zwei Ebenen von Agenda-Setting. „The first level of the agenda-setting process is the transmission of object salience. The second level is the transmission of attribute salience“ (McCombs et al. 2000: 78). Die zweite Ebene von Agenda-Setting, auf der die Attribute von Objekten verortet werden (z.B. Aspekte von Themen oder Merkmale von Politikern), wird mit Framing gleichgesetzt (vgl. z.B. McCombs et al. 2000: 78ff.; McCombs/Ghanem 2001: 74). Das blieb nicht unwidersprochen. (vgl. z.B. Scheufele 2003: 61f.; D. Scheufele/Tewksbury 2007: 15). Erstens sind die von den Autoren untersuchten „affective attributes“ keine Merkmale, sondern Bewertungen. Zweitens sind die auch in aktuellen Studien (z.B. Kiousis 2005) ermittelten Rangkorrelationen zwischen Politikermerkmalen in der Berichterstattung und Politikermerkmalen beim Aggregat der Rezipienten noch kein Framing-Effekt. Drittens kranken die Studien zu Attribute-Agenda-Setting daran, dass sie diese Effekte auf das Individuum auf Aggregatdatenniveau und im Querschnitt untersuchen. Das Modell von Price/Tewksbury (1997) wurde vom Autor bereits an anderer Stelle (Scheufele 2003, 2004) um drei Typen von Framing-Effekten ergänzt. Mit dem ersten Typ des Transformationseffekts wird berücksichtigt, dass Medien-Frames auf das Vorwissen bzw. die Voreinstellungen der Rezipienten treffen. Wenn Medien einen Sachverhalt jedoch wiederholt und gleichförmig
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rahmen, können sich Rezipienten-Schemata Stück für Stück in Richtung des Medien-Frames verändern. Diese Überlegung rekurriert auf den Ansatz mentaler Modelle (vgl. z.B. Johnson-Laird 1980, 1989), den auch manch andere Framing-Arbeit berücksichtigt (vgl. z.B. Rhee 1997). Mentale Modelle sind temporäre kognitive Repräsentationen z.B. eines Ereignisse oder Sachverhaltes. Dazu ein Beispiel: Der Leser eines Zeitungsartikels über die EU-Finanzhilfen für Griechenland im Mai 2010 hat sicher schon eine Vorstellung von Europa und der Europäischen Union und hält z. B. ein geeintes Europa sicherheitspolitisch für unabdingbar. Beginnt er nun mit der Artikellektüre, so speist sich sein aktuelles mentales Modell (t1) zunächst aus diesem Vorwissen. Stellt der Artikel die EU aufgrund der Lage in Griechenland in den Bezugsrahmen einer finanziellen Krise, so wird das aktualisierte mentale Modell (t2) des Lesers nicht mehr nur aus seinem Vorwissen, sondern auch aus der Medienbotschaft gespeist. Liest der Rezipient wiederholt Zeitungsberichte, in denen die EU auf die beschriebene Weise gerahmt wird, so dürften sich seine Vorstellungen sukzessive in Richtung des Medien-Frames verändern. Er wird Europa also nicht mehr in sicherheitspolitischer, sondern vor allem ökonomischer Hinsicht betrachten und möglicherweise bei der nächsten Europawahl für eine Partei stimmen, die den Austritt der Bundesrepublik aus der europäischen Währungsunion fordert. Auch der zweite Typ des Etablierungseffekts setzt kumulatives und konsonantes Medien-Framing voraus. Nur so können sich bei Rezipienten Schemata bzw. kognitive Strukturen herausbilden, die zuvor gar nicht vorhanden waren. Das knüpft an die Schematheorie an (vgl. als Überblick z.B. Scheufele 2003: 17, 65f.; Wirth 1997: 128ff.). Brewer et al. (2003: 496) gehen ebenfalls davon aus, dass „[e]xposure to the frame could also create an association where none previously existed“. Dass Medien-Framing das Potenzial hat, bei Rezipienten eine Verknüpfung zwischen Wissenseinheiten neu zu etablieren, zeigt u.a. ein Experiment, bei dem die mediale Rahmung eines Politikers im Lichte eines Grundwertes dazu führte, dass Probanden den Politiker temporär stärker mit diesem als mit anderen Werten verknüpften (vgl. Scheufele 2010). Der dritte Typ des Einstellungseffekts wurde überzeugend z.B. von Nelson et al. (1997) geprüft. Aber auch die Wirkungsperspektive der Theorie instrumenteller Aktualisierung lässt sich damit in Verbindung bringen, obschon sie nicht explizit auf Framing-Effekte verweist (vgl. Kepplinger et al. 1991). Die Autoren rekurrieren zwar jeweils auf unterschiedliche theoretische Grundlagen. Sie teilen aber die Auffassung, dass Einstellungen (z.B. zur Atomkraft) eine kognitive und eine affektive Komponente haben. Jede der Kognitionen, welche die kognitive Komponente bilden, hat eine affektive ‚Ladung‘. Medien-Framing macht zunächst bestimmte der bereits bestehenden Kognitionen (z.B. Umweltri-
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siken) im Bewusstsein der Rezipienten salienter. Da diese Kognitionen eine affektive (z.B. negative) Seite haben, macht sich ihr Gewicht nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv in der Gesamteinstellung (z.B. zur Atomkraft) bemerkbar, die sich somit ändert (z.B. verschlechtert). Dieser Einstellungseffekt heißt auch wissens- bzw. gedächtnisbasiertes Urteil („memory-based judgement“). Nach Hastie/Park (1986) gibt es aber auch Spontan-Urteile („on-line judgement“). So ist denkbar, dass man Westerwelle, als man ihn das erste Mal im Fernsehen sah, unsympathisch fand. Wenn man aktuell von seinen Äußerungen zur Hartz-IV-Debatte erfährt, wird dieses Urteil abgerufen. Das aktuelle Urteil über Westerwelle ist also nur eine Aktualisierung eines schon zuvor gefällten Urteils. Für den Framing-Ansatz haben diesen Gedanken vor allem Cappella/Jamieson (1997) aufgegriffen. Daran knüpft aktuell auch Matthes (2007) an. 3
Framing- und Priming-Effekte im Lichte sozialpsychologischer Modelle des Wählerverhaltens
Framing- und Priming-Effekte wurden zwar auch anhand von Wahlen untersucht. Aus meiner Sicht sind beide Ansätze aber nur dann für die Wahlforschung fruchtbar, wenn es gelingt, sie in Modelle des Wählerverhaltens zu integrieren. In der Kommunikationswissenschaft bieten sich vor allem die sozialpsychologischen Modelle des Wählerverhaltens in der Tradition des Ann-ArborModells (vgl. Campbell et al. 1954, 1960; als Überblick Schoen/Weins 2005) an. Denn diese Modelle berücksichtigen Einflussfaktoren auf das Wählerverhalten, die wiederum von den Medien beeinflusst werden können. Sozialpsychologische Modelle unterscheiden lang- und kurzfristige Einflüsse auf das Wählerverhalten. Campbell et al. (1954, 1960) haben die Parteiidentifikation als langfristig stabilen Faktor modelliert. Sie ist als „Destillat eines Kausalitätstrichters (funnel of causality) zu verstehen, in den als vorgelagerte Faktoren die persönlichen Erfahrungen und politischen Orientierungen des bisherigen Lebens eingeflossen sind“ (Roth 2006: 37; Herv. i. O.). Als kurzfristige und veränderliche Faktoren werden meistens die Orientierung an Kandidaten und Sachthemen konzeptualisiert (vgl. z.B. Asher 1983: 342f.). Kommunikationswissenschaftliche Vorschläge stellen die Vorstellungen der Wähler von der Sachkompetenz der Kandidaten bzw. Parteien sowie von der Persönlichkeit der Kandidaten gegenüber (vgl. z.B. McLeod et al. 1983; Kepplinger et al. 1994). Auch Attribute-Agenda-Setting-Studien unterstellen implizit einen Gegensatz von Themen und Kandidaten (vgl. z.B. Kiousis 2005).
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Frank Brettschneider (2002: 209) spricht hier von einer „falsch gestellte[n] Frage“. In seiner Modifikation des sozialpsychologischen Modells hält er an der Trias der Einflussfaktoren von Campbell et al. (1954, 1960) fest, führt aber für die kurzfristigen Determinanten des Wählerverhaltens die wichtige Unterscheidung zwischen Bewertungsobjekten und -dimensionen ein. Die Bewertungsobjekte sind Parteien und Kandidaten. Diese können anhand von vier zentralen Dimensionen bzw. Kriterien beurteilt werden – Themen- bzw. Problemlösungskompetenz für verschiedene Politikfelder, Integrität (z.B. Vertrauenswürdigkeit), Leadership-Qualitäten (z.B. Entscheidungsfähigkeit, Führungsstärke) und Unpolitisches (z.B. „Frische“ der Partei, Sympathie des Kandidaten) (vgl. z.B. auch Miller et al. 1986). Wie schon an anderer Stelle vorgeschlagen wurde (vgl. Scheufele 2003: 226), lässt sich Brettschneiders (2002) Modell gut mit dem Framing-Ansatz verbinden:5 1.
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Schon der Grundgedanke ist vergleichbar: Medien rahmen Parteien bzw. Kandidaten und legen Wählern damit nahe, welche ihrer Schemata auf Parteien bzw. Kandidaten überhaupt anwendbar sind (Framing-Effekt). Die durch Medien-Framing aktivierten Schemata dienen dann als Kriterien – im sozialpsychologischen Modell: als Bewertungsdimensionen – für die Wählerurteile über Parteien und Kandidaten (Priming-Effekt). In die Bewertungsdimensionen des modifizierten sozialpsychologischen Modells lassen sich z.B. Überlegungen von Rhee (1997) integrieren. Er untersuchte, ob die mediale Rahmung von Kandidaten im Lichte ihrer Persönlichkeit, Taktiken und Strategien („strategy framing“) Rezipienten dazu bringt, häufiger in solchen Kategorien zu denken, als dies bei einem Medienfokus auf Sachthemen („issue framing“) der Fall wäre. Diese beiden Rahmungen lassen sich leicht mit den Bewertungsdimensionen Brettschneiders (2002) zusammenbringen. Ähnliche Maßstäbe berücksichtigen mit ihren „substantive attributes“ von Kandidaten auch etliche Studien zum Attribute-Agenda-Setting (vgl. z.B. Golan/Wanta 2001: 254; McCombs et al. 2000: 83). In Bezug auf die Themen- bzw. Problemlösungskompetenz des sozialpsychologischen Modells kann man zunächst mit dem Agenda-Setting-Ansatz argumentieren, dass Medien den Wählern verdeutlichen, was die relevanten Wahlkampfthemen sind (vgl. z.B. Kepplinger et al. 1994: 41ff.). Nach Iyengar/Kinder (1987) werden damit aber auch die Kriterien zur Beurteilung der Kandidaten transportiert (Priming-Effekt). Den Bezug zur Schematheorie stellt Brettschneider (2002: 134ff.) selbst her.
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Effekte von Medien-Framing- und Medien-Priming bei Haupt- und Nebenwahlen
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen geht es nun um die Kernfrage dieses Beitrags, also darum, wie sich Framing- und Priming-Effekte bei Haupt- und Nebenwahlen darstellen. Mit Jens Tenscher (2008: 104) verstehe ich unter Nebenwahlen sowohl Landtagswahlen („Nebenwahl 1. Ordnung“) als auch Europawahlen („Nebenwahl 2. Ordnung“). Meines Wissens gibt es keine empirische Studie, die dezidiert die Effekte von Medien-Framing bzw. MedienPriming bei Haupt- und Nebenwahlen kontrastiert. Die Forschungslage scheint noch spärlicher zu sein als für die kommunikationswissenschaftliche Forschung zu Nebenwahlen insgesamt (vgl. dazu z.B. die Beiträge in Sarcinelli/Schatz 2002; Tenscher/Batt 2008). Vor diesem Hintergrund bieten sich meines Erachtens zwei Zugänge zur Kernfrage des Beitrags an – ein empirischer und ein theoretischer. Auch wenn üblicherweise die Theorie vor der Empirie steht, beginne ich mit dem empirischen Zugang. Denn einige meiner theoretischen Schlussfolgerungen lassen sich leichter verstehen, wenn bestimmte empirische Befunde bereits bekannt sind. 4.1 Empirischer Zugang Für den empirischen Zugang berücksichtige ich Studien zu Framing- und Priming-Effekten, die sich auf Nebenwahlen beziehen, ohne dass dieser Beitrag einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Da die Forschungslage für Deutschland unbefriedigend ist, ziehe ich auch Studien heran, die sich auf andere Länder beziehen – wohl wissend, dass politische Systeme und Kommunikationskulturen nicht immer direkt vergleichbar sind (vgl. z.B. Pfetsch 2001). Studien zu Framing-Effekten bei regionalen Nebenwahlen greifen z.B. auf Attribute-Agenda-Setting zurück Solche Effekte untersuchten McCombs et al. (1997) bei einer Bürgermeisterwahl in Pamplona und einer Regionalwahl für das Parlament in Navarro. Allerdings gehen die Autoren über den interessantesten Befund recht lapidar hinweg, denn er widerlegt ihre Hypothese eines direkten Transfers von Kandidatenmerkmalen: Für die Wähler stand bei beiden Wahlen die Persönlichkeit der Kandidaten im Vordergrund, für die Zeitungen dagegen eher deren Ideologie und für das Fernsehen deren Sachkompetenz (vgl. McCombs et al. 1997: 710). Diese geringe Übereinstimmung zwischen Medien und Wählern ist nicht verwunderlich. Denn bei Lokal- oder Regionalwahlen ist der Weg einer direkten Ansprache der Wähler ohne ‚Umweg‘ über die Medien möglich. Diesen Weg dürften die Parteien auch gehen (vgl. für Deutschland z.B.
Effekte von Medien-Framing und Medien-Priming
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Jessen/Zolleis 2007: 178). Diese Befunde lassen sich einer vergleichbaren Studie zu den nationalen Wahlen in Spanien gegenüberstellen, wobei aber nur die Wahl von Kandidaten aus Pamplona untersucht wurde (vgl. McCombs et al. 2000). Hier zeigte sich zumindest im Aggregat eine stärkere Übereinstimmung zwischen den Kandidatenimages der Zeitungen und der Wähler. Daraus könnte man die – freilich noch wenig gesicherte – Vermutung ableiten, dass die Bedeutung, die regionale Kandidaten für die nationale Ebene haben, eine Rolle für Framing-Effekte unterhalb der nationalen Ebene spielen kann. Ebenfalls in der Tradition des Attribute-Agenda-Setting steht eine Studie von Golan/Wanta (2001) zur New Hampshire Primary zwischen Bush und McCain im Januar 2000. Hier zeigten sich auf Aggregatdatenniveau relativ deutliche Übereinstimmungen zwischen den Kandidatenimages in drei Regionalzeitungen und in Umfragen. Die enorme Bedeutung solcher Vorwahlen geht aber mit einem hohen Berichtsaufkommen einher, was die Effekte wohl verstärkt hat. Denn wie erwähnt, ist Kumulation eine wichtige Voraussetzung für solche Effekte. Zweifellos muss aber auch eine entsprechende Konsonanz in der medialen Rahmung dazu kommen. Insgesamt sind die Befunde dieser Studien aufgrund der erwähnten theoretischen und methodischen Defizite ohnehin vorsichtig zu bewerten. Auf eine kommunale Nebenwahl bezieht sich die erwähnte experimentelle Studie von Rhee (1997) zu Effekten von „strategy“ und „issue framing“. Die Probanden sollten „narrative representations of campaign interpretations“ (Rhee 1997: 35) zu einer Bürgermeisterwahl in den USA verfassen. Dabei zeigte sich, dass Rezipienten von Medienbeiträgen mit „strategy frame“ häufiger strategiebezogene Maßstäbe an die Wahl anlegten als Rezipienten von Beiträgen mit „issue frame“. Dieser Effekt war noch stärker, wenn die Probanden schon vorher in entsprechenden Kategorien dachten. Allerdings kann ein Experiment nur das Potenzial für Medienwirkungen prüfen. Gerade bei einer Lokalwahl dürften die Effekte unter ‚Realbedingungen‘ schwächer sein. Druckman (2004) untersuchte Priming-Effekte der Berichterstattung über die Kampagne bei einer Wahl zum US-Senat in Minnesota im Jahr 2000, die man als regionale Nebenwahl sehen kann. Er fand heraus, dass „[c]ampaign voters [exposed and attentive to the campaign] based their votes on one of the two issues emphasized in the campaign [social security] and on the most salient image [integrity], whereas non-campaign voters did not“ (Druckman 2004: 589). Dass sich solche Priming-Effekte unterhalb der nationalen Ebene zeigen, dürfte auch auf das hohe nationale Interesse an der Senatswahl (vgl. Druckman 2004: 581) zurückzuführen sein. So wie hierzulande Landtagswahlen ein „Stimmungsbarometer für die im Bund Regierenden“ (Tenscher 2008: 112) sind, können Wahlen zum Repräsentantenhaus oder Senat ein Gradmesser für den
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US-Präsidenten sein (vgl. z.B. Erikson 1988). Für eine Vorwahl der Republikaner zur US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 untersuchte Barker (2005) mediale Framing- und Priming-Effekte. Sein Experiment zeigte, dass registrierte republikanische Wähler Ƿ
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Ǥ Zuletzt sind Europawahlen als Nebenwahl zweiter Ordnung zu betrachten. Ein wichtiges Thema der Europawahl 2004 war die EU-Erweiterung (vgl. z.B. Langguth/Löffler 2005: 107f.). Das Medien-Framing und dessen Effekte auf die Zustimmung zur EU untersuchten z.B. Schuck/de Vreese (2006). In der Medienberichterstattung spielte „risk“ und „opportunity framing“ eine vergleichbare Rolle. Im einen Fall wird die EU-Erweiterung als Risiko für Europa gerahmt, indem z.B. „high costs, increase of crime and instability“ betont werden, im anderen Fall als Gewinn, indem z.B. „the spread of democracy, freedom and human rights or economic growth“ (Schuck/de Vreese 2006: 11) hochgespielt werden. In einem darauf aufbauenden Experiment prüften die Autoren, inwiefern sich beide Frames auf die Zustimmung der Probanden zur EU-Erweiterung auswirken würden. Wie kaum anders zu erwarten war, begünstigte „opportunity framing“ die Zustimmung. Zudem zeigte sich, dass Probanden mit geringem politischem Wissen empfänglicher für „risk framing“ waren. In einer weiteren Studie wurde für den Zeitraum 1990 bis 2006 und für sieben Länder der Zusammenhang zwischen Medien-Framing und den im Eurobarometer erfassten Zustimmungswerten untersucht. Die Analysen auf Aggregatdatenniveau sind in diesem Fall sinnvoll, weil die Studie nach Medienwirkungen auf die gesellschaftliche Stimmung zu Europa, nicht nach individuellen Ansichten fragte. „The more often EU news was framed in terms of benefits of EU membership, the higher the share of people who perceived their country’s EU membership as beneficial“ (Vliegenthart et al. 2009: 433). „Disadvantage framing“ schien keine Rolle zu spielen, während eine Zunahme des „conflict framing“ mit sinkenden Zustimmungswerten einherging. Für europäische Nebenwahlen lassen sich also auch in Feldstudien entsprechende Framing-Effekte feststellen. 4.2 Theoretischer Zugang Studien zu Framing- und Priming-Effekten, die sich indirekt oder direkt auf nationale Wahlen beziehen (vgl. z.B. Iyengar/Kinder 1987; Park/Kosicki 1995; Shah et al. 1996; Sheafer/Weimann 2005; Althaus/Young 2006; Scheufele
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2010), habe ich bewusst ausgeklammert. Denn dass es solche Effekte bei Hauptwahlen geben kann, dürfte unumstritten sein. Vor allem aber soll dieser Beitrag die Effekte von Medien-Framing bzw. Medien-Priming bei Haupt- und Nebenwahlen vergleichen. Das kann angesichts der derzeitigen Forschungslage nur über einen theoretischen Zugang erfolgen. Die nachfolgenden Überlegungen sind daher auch als Anregungen für Forschungsfragen künftiger empirischer Studien zu verstehen. Aus meiner Sicht sind zwei zentrale Fragen zu stellen. Erstens: Welche Unterschiede bestehen zwischen Haupt- und Nebenwahlen im Hinblick auf Framing- und Priming-Effekte? Ausgangspunkt sind bisherige Befunde zum ‚Stimulus‘, also zur Berichterstattung über Haupt- und Nebenwahlen. Inhaltsanalysen zu Europawahlen (vgl. z.B. de Vreese et al. 2006; Wilke/Reinemann 2005) belegen ein – im Vergleich zu nationalen Hauptwahlen – weit geringes Interesse der Medien, die zudem meist aus nationaler Warte und eher negativ berichten. Bei der Europawahl 2004 betraf dies besonders die 15 alten Mitgliedstaaten. In den zehn neuen Mitgliedsländern war das Medienecho etwas größer und der Tenor nicht durchweg negativ. Entsprechende Einschätzungen erlauben auch die wenigen Inhaltsanalysen zu Landtagswahlen (vgl. z.B. Marcinkowski/Nieland 2002; Tenscher/Schmid 2009; Tenscher 2008: 113): Die nordrheinwestfälische Landtagswahl im Jahr 2000 wurde nicht nur in der überregionalen, sondern auch regionalen innenpolitischen Berichterstattung relativ wenig beachtet. Printmedien und Fernsehen fokussierten vor allem auf Zustand, Handeln und Wahlkampfaktivitäten von Parteien und Kandidaten. Zudem spielten die Spendenaffäre der Bundes-CDU, die Flugaffäre der Landes-SPD und die Greencard-Debatte eine Rolle. Weit abgeschlagen waren Sachthemen; am ehesten ging es um Bildungspolitik (vgl. Marcinkowski/Nieland 2002: 93ff.). Für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im Jahr 2006 wurde ebenfalls eine geringe Aufmerksamkeit für Sachthemen und ein hoher Anteil an Meta-Kommunikation und Wahlkampfbezug mit „Meinungsumfragen als zentrale[r] Interpretationsschablone“ (Tenscher/Schmid 2009: 71) festgestellt. Welche Schlussfolgerungen kann man daraus im Hinblick auf Framingund Priming-Effekte ziehen? 1.
Bereits die wenigen Befunde zeigen, dass jede Nebenwahl – wie auch Hauptwahlen – ihre eigenen ‚Gesetze‘ hat, die sich dann auch in entsprechendem Medien-Framing niederschlagen dürften: Während die Befunde zur NRW-Wahl unter anderem ein Affären-Framing der Medien nahelegen,
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sprechen die Ergebnisse zu den anderen Landtagswahlen für eine Rahmung im Sinne von „horse racing“ (vgl. dazu Tenscher/Schmid 2009: 71). Welche Wirkungen solches Medien-Framing bei den Wählern hatte, lässt sich ohne Wirkungsanalysen nicht klären. Da aber Kumulation und Konsonanz zentrale Bedingungsfaktoren für Medienwirkungen sind, legt das geringe Medienecho auf Nebenwahlen nahe, dass Effekte von MedienFraming und Medien-Priming bei Nebenwahlen vermutlich schwächer sind als bei Hauptwahlen. In diese Richtung deutet auch der Vergleich der Befunde bei McCombs et al. (1997, 2000). Umgekehrt können die Effekte stärker ausfallen, wenn eine Nebenwahl nationale Bedeutung hat. Das deuten indirekt die Befunde bei Druckman (2004) an. Daneben ist zu berücksichtigen, dass Parteien gerade bei Landtagswahlen den direkten Weg zu den Wählern gehen können (vgl. z.B. Jessen/Zolleis 2007: 178), was Medienwirkungen bei Landtagswahlen schmälern dürfte. Tenscher (2008: 110f., 128f.) beschreibt unter dem Gesichtspunkt der Professionalisierung von Landtagswahlkämpfen auch aktuelle Formen der Direktansprache. Sie erfolgt nicht mehr nur an Parteiständen, in Fußgängerzonen oder bei Wahlkundgebungen, sondern zunehmend via Internet (z.B. Twitter, Facebook, Mailing; vgl. dazu z.B. Schweitzer 2006; Albers 2009). So stellten sich etwa die Bündnisgrünen wenige Tage vor der Europawahl 2009 online den Fragen interessierter Bürger (vgl. Albers 2009). Solche Kampagnenaktivitäten können die Effekte des Framing ‚klassischer‘ Massenmedien bei Neben- wie auch Hauptwahlen relativieren. Schließlich legen die bisherigen Befunde zu den Inhalten der Berichterstattung über Landtagswahlen nahe, dass sachthemenbezogenes Framing, also eine spezifische Rahmung z.B. der Bildungspolitik kaum nachhaltige Wirkung auf die Wähler haben dürfte. Größeres Wirkungspotenzial kann von dem ausgehen, was Rhee (1997) „strategy framing“ nennt, da metakommunikative und wahlkampfbezogene Fragen in der Berichterstattung über Landtagswahlkämpfe mittlerweile häufiger anzutreffen sind. Auch der Medienfokus auf Wahlkampfaspekte von Landtagswahlen lässt sich in die Überlegungen zu Framing und Priming einpassen: Wiederholtes „strategy framing“ dürfte – im Sinne von „frequent priming“ – entsprechende Schemata der Wähler chronisch zugänglich machen. Kulminiert solches Framing zudem kurz vor der Wahl (vgl. Marcinkowski/Nieland 2002: 101), dann dürften die strategie- und taktikbezogenen Schemata der Wähler – im Sinne eines zusätzlichen „recent priming“ – auch dann noch präsent sein, wenn die Wähler am Wahltag ihre Stimme abgeben.
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Bei Europawahlen scheint angesichts der Befunde bei Vliegenthart et al. (2009) vor allem eine ‚holistischere‘ Form des Medien-Framing – etwa eine Rahmung im Sinne von Chancen, Risiken oder Konflikten – entsprechende Effekte bei den Wählern zu entfalten. Hier deuten sich möglicherweise Unterschiede im Medien-Framing zwischen Nebenwahlen erster und zweiter Ordnung an. Solange aber komparative Wirkungsanalysen fehlen, die z.B. die Effekte von „strategy framing“ bei Haupt- und verschiedenen Nebenwahlen kontrastieren, stehen meine bisherigen Schlussfolgerungen unter Vorbehalt.
Zweitens ist zu fragen, inwiefern sich Effekte des Medien-Framing und MedienPriming aus dem Zusammenspiel von Haupt- und Nebenwahlen ergeben. Beide können sich nach dem Wahlzyklusmodell (vgl. z.B. Stimson 1976) wechselseitig beeinflussen (vgl. z.B. Gabriel/Holtmann 2007). Dabei gelten Nebenwahlen z.B. als „Test-“ oder „Denkzettelwahlen“ für die Bundespolitik. Auch wenn es empirische Belege für das Zyklusmodell gibt, scheint das Gewicht landespolitischen Faktoren für die Stimmabgabe zuzunehmen (vgl. als Überblick Völkl 2009: 423ff.). Der Zyklusgedanke lässt sich mit dem Framing-Konzept verbinden, weil „bundespolitisch virulente Sachthemen in den Landtagswahlkampf hineinprojiziert werden [können], genauso wie organisatorische, personelle oder programmatische Probleme der jeweiligen Mutterparteien“ (Marcinkowski/Nieland 2002: 87). Bei der nordrhein-westfälischen Landeswahl 2010 mag z.B. die eingangs erwähnte Debatte um Westerwelle bei manchem Wähler ein Kriterium seiner Wahlentscheidung gewesen sein. Die Einstellungen zu Bundespolitikern können bei Landtagswahlen jedenfalls eine Rolle spielen (vgl. Völkl 2009: 440). Als medialer Bezugsrahmen für Landtags- oder Europawahlen können aber auch z.B. bundespolitische Sachthemen mit landespolitischer Tragweite (z.B. Steuern) sowie Personalfragen und Skandale der Bundesparteien (z.B. SpendenAffäre der CDU) wirksam werden. „Strategy“ und „horse race framing“ sind dagegen z.B. dann wahrscheinlich, wenn Umfragen projektieren, dass das Landtagswahlergebnis die Bundesratsmehrheit der im Bund regierenden Parteien gefährden könnte. „Horse race framing“ dürfte aber auch auftreten, wenn Umfragen im Verlauf des Wahlkampfs zunehmend Koalitionen ins Bewusstsein rücken, die auf Bundesebene (noch) undenkbar sind oder die von den Landesparteien (noch) ausgeschlossen werden (z.B. Jamaika-Koalition, rot-rot-grüne Koalition).6 Für Bundestags- und Europawahlen sind solche Verknüpfungen 6
Vgl. z.B. http://www.faz.net/s/RubB4238231944B4B06816C99862ED4A164/Doc~E7C2131 E166224C14B904F9A69E501BAE~ATpl~Ecommon~Scontent.html; Abruf am 03.05.2010.
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unwahrscheinlicher, weil sie weit seltener sind als Landtagswahlen und einen anderen Stellenwert im föderalen System der Bundesrepublik haben. 5
Schlussfolgerungen
Der vorliegende Beitrag fragte nach den Effekten von Medien-Framing und Medien-Priming bei Haupt- und Nebenwahlen. Dafür wurden zunächst relevante theoretische Grundlagen dargelegt. Da es meines Wissens keine empirische Studie gibt, die dezidiert solche Medienwirkungen bei Bundestags-, Landtagsund Europawahlen gegenüberstellt, konnten zur Kernfrage des Beitrags vielfach nur Vermutungen angestellt werden. Sie fußen aber einerseits auf Befunden empirischer Studien, die jeweils eine dieser Wahlen untersuchen, und beruhen andererseits auf theoretischen Überlegungen. Davon ausgehend lassen sich für die künftige Forschung – gleichsam als Arbeitsprogramm – abschließend einige offene Fragen markieren: 1.
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3.
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Zu klären wäre, inwiefern und welche bundespolitischen Dimensionen als Bezugsrahmen für Nebenwahlen in den Wahlkämpfen der Parteien und in der Medienberichterstattung auftreten – und vor allem, inwiefern sie dann auch im Bewusstsein der Wähler als Urteilskriterien wirksam werden. Dabei sind verschiedene Konstellationen von Haupt- und Nebenwahlen zu untersuchen, um verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen. So kann es beispielsweise um die zeitliche Nähe einer Haupt- und Nebenwahl gehen, aber auch um die Frage, ob im Bund und im Land die gleichen oder andere Parteien die jeweilige Regierung stellen. Für künftige Forschung wird es hier auf die Kumulation von Evidenzen ankommen, insbesondere aber auf komparative Forschung. Zudem ist vor allem zwischen Landtags- und Europawahlen zu differenzieren. Die bisherigen Befunde zu Framing-, Priming- und Attribute-AgendaSetting-Effekten bei einzelnen Nebenwahlen deuten zumindest an, dass diese Effekte bei Europawahlen möglicherweise auf ganz anderes MedienFraming zurückgehen als bei Bundes- oder Landtagswahlen. Daran schließt sich einen weiteres Defizit an: Während vergleichende Befunde zu den Themen der Berichterstattung über Haupt- und Nebenwahlen vorliegen (vgl. z.B. Wilke/Reinemann 2005; Tenscher/Schmid 2009), fehlen solche Befunde zu verschiedenen Arten von Medien-Framing und deren Wirkung. Bisherige Studien fokussieren jeweils nur auf eine bestimmte Art des Medien-Framing – z.B. nur die auf Effekte von „strategy“ und „is-
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sue framing“ (vgl. Rhee 1997) oder nur auf die Effekte von „opportunity“ und „risk framing“ (vgl. Vliegenthart et al. 2009). Weitgehend offen ist daher, welche Arten des Medien-Framing bei Haupt- und Nebenwahlen welche anteilige Rolle spielen. Somit lassen sich auch kaum eindeutige Aussagen über Framing- und Priming-Effekte bei Haupt- und Nebenwahlen treffen. Gefordert sind vor allem auch Feldstudien. Zweifellos ist deren kausale Aussagekraft geringer als bei experimentellen Wirkungsstudien (vgl. z.B. Scheufele/Engelmann 2009: 91ff.). Allerdings lässt sich mit Experimenten wiederum nur das Potenzial für Effekte von Medien-Framing und MedienPriming prüfen. Mit den Überlegungen zu mentalen Modellen sind aber auch die Voreinstellungen der Wähler (z.B. Parteiidentifikation, Politikinteresse) unter ‚Realbedingungen‘ zu berücksichtigen.
Schließlich sind die Spezifika jeder Haupt- bzw. Nebenwahl in das jeweilige Wirkungsmodell zu implementieren. Die Einschätzung von Frank Brettschneider (2002: 207) – „‘Candidate Voting‘ hängt von den Umständen einer Wahl ab“ – dürfte nämlich auch auf die Effekte von Medien-Framing und MedienPriming zutreffen. So fand die Europawahl 2009 nur wenige Monate vor der Bundestagswahl 2009 statt und stand ebenfalls unter dem Eindruck der weltweiten Wirtschaftskrise. Daher war es kein Zufall, dass die SPD im Europawahlkampf mit – so Stefan Schultz im „Spiegel“ – „ungewöhnlich forschen Plakaten“7 warb. Slogans wie z.B. „Finanzhaie würden FDP wählen“ und „Heiße Luft würde die Linke wählen“ rahmten die politischen Gegner auf eine Weise, die wohl schon auf die Bundestagswahl einstimmen sollte.8 Mit ihrem Plakat stellten die Sozialdemokraten die Liberalen explizit in den Rahmen der Finanzkrise und auf eine Stufe mit jenen Finanzjongleuren, welche die Krise ins Rollen gebracht hatten. Ob dieses Framing den gewünschten Erfolg hatte, muss offen bleiben. Zumindest ist der Unterschied zu den eingangs diskutierten „Sozialismus“-Vorwürfen Westerwelles nicht allzu groß.
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www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,620977,00.html; Abruf am 08.05.2010. Die Thüringer Jungliberalen konterten im Internet mit „Niemand wird die SPD wählen. Inhaltsleere ist auch diesmal wählbar“ (www.julis-thueringen.de/wahl09/wp-content/up loads/eu_plakat_spd_julis.jpg; Abruf am 08.05.2010, vgl. auch Albers 2009).
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Verschiedene Ebenen, verschiedene Wirkungen? Eine vergleichende Analyse von Wirkungen der Europa- und Bundestagswahlkampagnen 2009 Harald Schoen & Rebecca Teusch
1 Einleitung Im Jahr 2009 erlebten die Deutschen zwei nationale Wahlkämpfe, einen zur Europawahl, einen zur Bundestagswahl. Beide scheinen den Geschmack der Bürger nicht allzu gut getroffen zu haben. Für ihre Kampagnen zur Europawahl mussten sich die Parteien zum Teil herbe Kritik gefallen lassen. So wurde die Plakatwerbung als „krampfhaft originell“ (Brössler/Höll 2009) kritisiert, bei der stellenweise nicht einmal einfachste Werberegeln beachtet worden wären (vgl. Wölk 2009). Insgesamt sollten sich die Parteien etwas Neues einfallen lassen (vgl. Spiegel-online 2009). Wenige Wochen später folgte der Bundestagswahlkampf, der allerdings auch nur wenige Bürger ansprach. In Bevölkerungsumfragen gaben viele an, sie fänden den Wahlkampf weder interessant noch spannend (vgl. Süddeutsche.de 2009). Akademische Beobachter teilten diesen Befund und deuteten ihn als eine Konsequenz des politischen Wettbewerbs unter den Bedingungen einer Großen Koalition (vgl. Korte 2009). Ähnliche Einschätzungen eines Europa- und eines Bundestagswahlkampfes mögen dem zeitgenössischen Beobachter naheliegend erscheinen, im Lichte von Erkenntnissen der Wahl(kampf)forschung betrachtet, erstaunt die Ähnlichkeit der Urteile jedoch. Denn Europawahlen gelten traditionell als Nebenwahlen oder zweitrangige Wahlen, die deutlich im Schatten nationaler Hauptwahlen stehen (vgl. Reif/Schmitt 1980). Da weniger auf dem Spiel stehe, würden politische Akteure weniger Ressourcen einsetzen, weshalb Europawahlkampagnen vergleichsweise farblos – und in der Folge wenig wählerwirksam sein müssten. Im Unterschied dazu könnten Bundestagswahlkämpfe wesentlich aufwendiger geführt werden, weshalb sie auch in der Lage seien, mehr Aufmerksamkeit und Interesse in der Öffentlichkeit zu wecken und Bürger stärker in ihrem Stimmverhalten zu beeinflussen. In Anbetracht der gleichermaßen kritischen Urteile über die Kampagnen vor der Europa- und der Bundestagswahl 2009 stellt sich allerdings die Frage, ob und inwieweit sich in diesem sogenannten „SuperwahlJ. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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jahr“ Haupt- und Nebenwahlkampagnen im Hinblick auf Reichweite und Wählerwirksamkeit tatsächlich unterschieden. Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag auf empirischer Basis nach. Im Folgenden wird dazu zunächst kurz der Forschungsstand zu Wahlkämpfen und ihren Wirkungen auf das Wahlverhalten skizziert (Kap. 2). Hieraus leiten sich die untersuchungsleitenden Hypothesen ab (Kap. 3). Diese werden empirisch mit Hilfe von Daten aus drei Befragungen zur Europawahl und zur Bundestagswahl 2009 geprüft (Kap. 4). Abschließend werden die zentralen Befunde der Analyse zusammengefasst und diskutiert (Kap. 5). 2 Forschungsstand und Hypothesen Als Wegbereiter etlicher Entwicklungen in der Forschung zu Wahlkämpfen und deren Wirkungen kann die klassische Untersuchung „The People’s Choice“ (Lazarsfeld et al. 1944) gelten. Die Autoren entwickelten darin wichtige Konzepte und beeinflussten mit ihren Befunden die Forschung nachhaltig. Sie unterschieden drei Typen von Wahlkampfwirkungen: Verstärkung, Aktivierung und Konversion. Während die Verstärkungseffekte dazu führen, dass Personen ihre Verhaltensabsicht beibehalten, aber ihre Präferenz intensivieren, implizieren die beiden anderen Wirkungen Verhaltensänderungen. Aktivierungseffekte führen dazu, dass Personen ihre Unentschlossenheit zugunsten einer klaren Parteipräferenz ablegen. Konversionseffekte resultieren in einem Wechsel der Parteipräferenz. Gerade letzteren galt das besondere Interesse der Forscher, doch traten sie empirisch seltener auf als die anderen Wirkungen. Demnach wirkten Wahlkämpfe vorwiegend bestätigend, woraus die Annahme minimaler Wahlkampfeffekte abgeleitet wurde. Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse ließ die Forschung zu Wahlkampfwirkungen anfangs eher erlahmen, als dass sie diese angeregt hätte. Erst in jüngerer Zeit hat die Forschung Effekte von Wahlkampagnen als wichtigen Gegenstand wiederentdeckt und nahm sich ihnen umso intensiver an. Diese Forschung kann an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt und gewürdigt werden (vgl. Schoen 2005), sondern nur skizziert werden. Zum einen ist der Frage nachgegangen worden, inwieweit die konservative, bestätigende Tendenz von Wahlkampfwirkungen auch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von „The People’s Choice“ gelte (vgl. u.a. Gelman/King 1993; Finkel 1993; Finkel/Schrott 1995). Andere Arbeiten haben sich der (relativen) Wirksamkeit verschiedener Wahlkampfinstrumente gewidmet (vgl. u.a. Gerber/Green 2000, 2008; Hillygus 2005; Imai 2005; Nickerson 2007). Ein weiterer Forschungszweig ist der Frage nach-
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gegangen, inwieweit in einzelnen Segmenten des Elektorats unterschiedlich geartete oder starke Wirkungen auftreten (vgl. u.a. Hillygus/Jackman 2003; Fournier et al. 2004). Schließlich haben sich einige Forscher der individuellen Informationsverarbeitungsprozesse angenommen, die bei Bürgern während politischer Kampagnen ablaufen (vgl. Lau/Redlawsk 2006). Die Forschung hat zweifelsohne erhebliche Fortschritte gemacht, doch können diese nicht über verbliebene Lücken hinwegtäuschen. Bislang dominieren weithin Einzelfallstudien zu Wirkungen von Wahlkampagnen oder einzelnen Kampagnenelementen bei einem spezifischen Urnengang. Derartige Analysen erlauben es, Effekte im konkreten Fall en detail zu studieren, doch verstellt diese Perspektive gelegentlich den Blick darauf, dass die Ergebnisse unter spezifischen Bedingungen gewonnen wurden. Um sich dessen bewusst zu werden und die Kontextabhängigkeit von Ergebnissen zu untersuchen, sind vergleichende Analysen gut geeignet. Allerdings sind komparative Analysen in der Wirkungsforschung eher dünn gesät. Bereits vergleichende Analysen über Kampagnen zu verschiedenen Wahlen desselben Typs sind eher selten zu finden (vgl. z.B. Gelman/King 1993; Schoen 2007). Ein mindestens ebenso großer Mangel herrscht an Arbeiten, die systematisch Kampagnenwirkungen bei Wahlen unterschiedlichen Typs miteinander vergleichen (vgl. aber Lau/Redlawsk 2006). Insbesondere liegt, soweit bekannt, bislang keine Arbeit vor, die Wirkungen von Kampagnen zu Europa- und Bundestagswahlen in Deutschland untersuchen würde. Einen Beitrag, diese Lücke zu schließen, will die vorliegende Analyse leisten. Bundestagswahlen gelten als Haupt-, Europawahlen als Nebenwahlen (vgl. Reif/Schmitt 1980). Da es für politische Akteure bei Bundestagswahlen um erheblich mehr gehe – nämlich um die Macht in der politischen Hauptarena – als bei Europawahlen, würden sie ihre knappen Ressourcen im Zweifelsfall in die Bundestags- anstelle der Europawahlkampagne stecken (vgl. Tenscher 2005: 13; Niedermayer 2005: 40). Dies habe Konsequenzen unter anderem für die Dauer und Gestaltung der Kampagnen sowie die Zahl und Art der genutzten Kampagnenkanäle und -instrumente (vgl. etwa Gerstlé et al. 2002; Esser et al. 2005 sowie den Beitrag von Tenscher in diesem Band). Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass die Bürger Wahlen zum Europaparlament eine vergleichsweise geringe Bedeutung zuschreiben (vgl. Kornelius/Roth 2005) und die Medienberichterstattung – gemessen an nationalen Wahlkämpfen – sehr gering ausfällt (vgl. Brettschneider/Rettich 2005: 138; Zeh/Holtz-Bacha 2005: 252 sowie die Beiträge von Boomgarden et al. und Wilke et al. in diesem Band). Diese Skizze der Unterschiede in der Wahlkampfführung legt zwei Vermutungen in Bezug auf die Kampagnen vor der Europa- und der Bundestagswahl
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im Jahr 2009 nahe. Zum einen sollte der Bundestagswahlkampf wesentlich mehr Bürger erreichen als der Europawahlkampf, da in ersteren deutlich mehr Ressourcen flossen als in letzteren (vgl. den Beitrag von Tenscher in diesem Band). Zum anderen ist anzunehmen, dass Bundestagskampagnen größere Wirkungen auf die Wahlberechtigten entfalten. Nimmt man an, dass nur Personen, die von einer Kampagne erreicht werden, von dieser auch beeinflusst werden können, scheint dieses Ergebnis auf der Hand zu liegen. Diese Annahme lässt sich zusätzlich unterstützen, wenn man annimmt, dass der größere Ressourceneinsatz in Bundestagswahlkampagnen nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Wahlkampfführung und damit deren Wirksamkeit beeinflusst. Im Hinblick auf die zweite Erwartung gilt es jedoch einige Gegenargumente zu bedenken. Erstens können sich ressourcenintensive Kampagnen wechselseitig neutralisieren, so dass mit dem hohen Aufwand kein sichtbarer Erfolg korrespondieren muss. Zweitens ist nicht auszuschließen, dass gerade die generell geringe Kampagnenintensität es einzelnen Parteien erlauben könnte, in Europawahlkämpfen große Erfolge zu erzielen (vgl. Tenscher 2005). Drittens weist die eingangs angeführte Kritik an den Wahlkämpfen vor der Europa- und der Bundestagswahl 2009 auf die Möglichkeit hin, dass Kampagnen – unabhängig vom Ressourceneinsatz – bei den Adressaten auf geringes Interesse oder gar Ablehnung stoßen und daher nicht die von den Parteien intendierten Wirkungen entfalten. Folglich könnten sich Europa- und Bundestagswahlkampagnen 2009 in ihrer Wirkung stärker ähneln, als es das traditionelle Argument annimmt. Ob das zutrifft oder die klassische Annahme Unterstützung findet, wird in den folgenden Abschnitten untersucht. 3 Daten und Methoden Die empirische Analyse stützt sich auf Daten aus drei Erhebungen, die im Rahmen der German Longitudinal Election Study (vgl. DGfW 2009) durchgeführt wurden.1 Darunter befinden sich zwei Befragungen von Personen aus einem 1
Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, wurden von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften zugänglich gemacht. Die Daten der Umfragen wurden im Vorfeld der German Longitudinal Election Study (Komponente I: Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt, Komponente VIII: Langfrist-Online-Tracking und Komponente X: Vorwahl-Online-Tracking) erhoben von Prof. Dr. Hans Rattinger (Universität Mannheim), Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und PD Dr. Bernhard Weßels (Wissenschaftszentrum Berlin). Sie wurden von GESIS für die Analyse aufbereitet und dokumentiert. Weder die genannten Personen noch die Institute tragen Verantwortung für die Analyse oder Interpretation der Daten in diesem Beitrag.
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Online-Access-Panel zum Wahlkampf der Bundestagswahl (1.153 Befragte; Feldzeit: 18. bis 27. September) und zur Europawahl (1.072 Befragte; Feldzeit: 27. Mai bis 5. Juni). Bei der Auswahl der Befragten wurde darauf geachtet, dass sich die Zusammensetzung der Stichprobe im Hinblick auf Geschlecht, Alter und formale Bildung nicht wesentlich von der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Dennoch ist bei der Auswertung der Daten besondere Vorsicht geboten, da die Stichproben nur bestimmte, mittels des Access-Panels erreichbare Gruppen enthalten. Diese unterschieden sich durchaus von den anderen Teilen der Gesellschaft, etwa in ihren politischen Orientierungen (vgl. u.a. Faas/Rattinger 2004; Schoen 2004), was nur zum Teil durch eine entsprechende Quotenauswahl und Gewichtung ausgeglichen werden konnte. Der dritte Datensatz stammt aus einer Vorwahluntersuchung2 zur Bundestagswahl 2009. Mittels mündlicher Interviews wurde eine Zufallsstichprobe von 2.173 Personen vom 12. August bis zum 26. September zu ihren Einstellungen und ihrer Wahlabsicht bei der Bundestagswahl 2009 befragt. Die drei Datensätze erfüllen in der Analyse unterschiedliche Funktionen. Die Daten aus der persönlichen Befragung des (annähernd) repräsentativen Querschnitts dienen als bestmögliche Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse im Elektorat vor der Bundestagswahl. Die Daten aus der Onlinebefragung zur Bundestagswahl sollen im Vergleich mit den Repräsentativdaten Aufschluss darüber geben, inwieweit die Unterschiede in Stichprobenziehung und Befragungsmodus zu systematischen Verzerrungen führen.3 Diese Informationen sollen anschließend helfen, die Befunde zur Europawahl sinnvoll zu interpretieren, da zu dieser ausschließlich Daten aus einer Onlinebefragung vorliegen. Um die Wahlkampfrezeption zu messen, wurden die Respondenten zunächst gefragt, ob sie von einer Partei Informationen zu der jeweils bevorstehenden Wahl erhalten hätten und in welcher Form dieser Parteikontakt zustande kam. Dabei wurde zwischen mehreren Wahlkampfinstrumenten (Plakaten, Informationsmaterial wie Flugblätter und Wurfsendungen, Presseanzeigen, Fernsehspots, Besuch von Wahlveranstaltungen, Besuch von Wahlkampfständen, SMS und E-Mails) unterschieden. Aus diesen Informationen wurde ein Kontaktmaß entwickelt, das Auskunft über die Anzahl der Kampagnenkontakte mit einer bestimmten Partei gibt. Die Wahlentscheidung wurde jeweils dichotom gemessen. Um Konversions- und Mobilisierungseffekte messen zu können, sind zwei Wahlvariablen 2 3
Es werden nur die Daten aus der Vorwahlkomponente der Querschnittbefragung genutzt, um Vergleiche zur Onlineerhebung zu erleichtern. Leider sind die Feldzeiten beider Befragungen nicht identisch, so dass der Vergleich nicht vollkommen zuverlässige Schlussfolgerungen erlaubt.
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gebildet worden. In der ersten Variante wird die Entscheidung für die jeweilige Partei einem Votum für andere Parteien gegenübergestellt. Effekte in diesem Modell deuten auf Konversionseffekte hin. In der zweiten Variante wurde das Votum für die betrachtete Partei mit der Entscheidung für eine andere Partei sowie der Wahlenthaltung (einschließlich „weiß nicht“) kontrastiert. Effekte auf diese Variable umfassen Konversions- und Mobilisierungseffekte, so dass ein Vergleich der Modellschätzungen Anhaltspunkte für das Auftreten des letzteren Wirkungstyps liefern kann. Um zu vermeiden, dass der Effekt der Wahlkampfrezeption überschätzt wird, sind weitere potentielle Einflussgrößen in die Analyse aufgenommen worden. In Anlehnung an etablierte Modelle des Wahlverhaltens werden eine Reihe soziodemographischer Merkmale einbezogen (Kirchenbindung, Konfession, subjektive Schichtzugehörigkeit, Gewerkschaftsmitgliedschaft, Alter), die Kampagnenrezeption und Wahlverhalten beeinflussen können. Darüber hinaus werden die drei zentralen Bestimmungsgründe der Wahlentscheidung aus dem Michigan-Modell – Parteiidentifikation, Kandidatenorientierung und Sachfragenorientierung – als Kontrollvariablen mit ins Modell aufgenommen (vgl. Campbell et al. 1960). Hier wird stufenweise vorgegangen. Zunächst wird nur die Parteiidentifikation berücksichtigt.4 Im zweiten Schritt werden Kandidaten- und Sachfragenorientierungen als zusätzliche Kontrollvariablen aufgenommen.5 Diese beiden Modelle gehen von zwei gegensätzlichen Annahmen über das Verhältnis von Kampagnenrezeption einerseits und Kandidaten- und Sachfragenorientierungen andererseits aus. Das erste, weniger konservative Modell, nimmt an, die Kampagnenrezeption beeinflusse die Einstellungen, ohne von diesen beeinflusst zu werden, das zweite, konservative Modell sieht gerade umgekehrt die Einstellungen als Determinanten der Kampagnenrezeption, die von dieser nicht beeinflusst werden. Die tatsächliche Beziehung zwischen Einstellungen und Kampagnenrezeption dürfte sich zwischen beiden Idealvorstellungen bewegen. Mit Hilfe von Querschnittdaten lässt sich dies jedoch nicht empirisch klären (vgl. zu empirischen Befunden u.a. Finkel/Schrott 1995; Maurer et al. 2007). Aus diesem Grund werden beide Modelle geschätzt, von denen das erste die obere Grenze des Kampagneneffekts, das zweite die untere Grenze markiert.
4 5
Diese Modellierung abstrahiert von Aktivierungs- und Verstärkungseffekten der Kampagnenrezeption auf Parteibindungen. In Analysen zur Europawahl werden die Einstellungen zu den Spitzenkandidaten nicht berücksichtigt, da diese vielen Bürgern unbekannt waren und daher kaum das Rezeptionsverhalten von Wahlberechtigten erheblich beeinflusst haben dürften.
Verschiedene Ebenen, verschiedene Wirkungen?
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Da die Wahlentscheidung als abhängige Variable nominal skaliert ist, werden verschiedene logistische Regressionsmodelle gerechnet, in denen die unterschiedliche Modellierung der abhängigen Variable und der unabhängigen Kontrollvariablen berücksichtigt wird. 4 Empirische Ergebnisse In der empirischen Analyse werden Reichweite und Wirkung von Wahlkampfaktivitäten vor der Europa- und der Bundestagswahl 2009 verglichen. Die erste Erwartung, die es zu prüfen gilt, bezieht sich auf die Frage, wie viele Stimmberechtigte die beiden Kampagnen erreichten. Da Parteien und Kandidaten weniger Kommunikationsangebote offerieren und Bürger eine schwächere Motivation haben, sich solchen zuzuwenden, sollte die Europawahlkampagne eine geringere Reichweite erzielt haben als der Bundestagswahlkampf. Tabelle 1:
Reichweite des Europa- und des Bundestagswahlkampfes 2009 (Angaben in Prozent) Europa – online
Keine 1 2 3 4 5 6 7 N
67,2 8,5 6,9 9,2 7,7 0,4 0,2 0 1.072
Bund – online 25,2 18,5 13,7 18,1 16,5 5,5 2,0 0,6 1.153
Bund – mündlich 18,3 19,8 23,7 20,0 11,3 4,1 2,3 0,4 2.173
Erhoben wurden Kontakte zu den folgenden Kampagneninstrumenten: Plakate, Informationsmaterial wie Flugblätter und Wurfsendungen, Presseanzeigen, Fernsehspots, Besuch von Wahlveranstaltungen, Besuch von Wahlkampfständen, SMS und E-Mails.
Die Ergebnisse, die in Tabelle 1 zusammengestellt sind, stehen in Einklang mit dieser Erwartung. Die Repräsentativbefragung zur Bundestagswahl zeigt, dass knapp 20 Prozent der Respondenten keinerlei Kontakt mit Parteienkampagnen angeben. Jeweils rund 20 Prozent geben einen, zwei oder drei Kontakte an, weitere rund zehn Prozent geben vier Kontakte an, weniger als zehn Prozent fünf und mehr Kontakte. Ein ähnliches Bild zeichnet die Onlinebefragung zur
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Bundestagswahl, wenngleich sich hier etwas größere Anteile vollkommen kampagnenabstinenter sowie vergleichsweise stark in den Wahlkampf involvierter Personen erkennen lassen. Unabhängig davon, ob man die Online- oder die mündliche Befragung heranzieht, scheint der Bundestagswahlkampf wesentlich mehr Personen erreicht zu haben als die Europawahlkampagne. Denn in der Onlinebefragung zur Europawahl gaben zwei Drittel der Befragten an, sie hätten keinerlei Informationen von politischen Parteien erhalten. Das restliche Drittel der Respondenten nannte zwischen einem und vier Kontakten. Mehr als vier Parteikontakte hatte praktisch kein Befragter. Tabelle 2:
Durchschnittliche Zahl der Wahlkampfkontakte
CDU/CSU SPD FDP Grüne Die Linke N
Europa – online 0,65 0,61 0,44 0,37 0,33 1072
Bund – online 1,64 1,71 1,17 0,99 0,91 1153
Bund – mündlich 1,66 1,58 1,07 1,05 0,89 2173
Minimum: 0, Maximum: 7
Um zu prüfen, ob diese Regelmäßigkeit für alle Parteien in gleichem Maße gilt, ist die durchschnittliche Zahl der Kampagnenkontakte pro Befragtem in den drei Erhebungen nach Parteien aufgeschlüsselt worden (vgl. Tabelle 2). Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Bürger bei der Bundestagswahl im Durchschnitt mehr Kampagnenkontakte angaben, und zwar für alle Parteien. Generell scheint die Reichweite der Bundestagskampagne größer als jene des Europawahlkampfes. Allerdings fällt diese Differenz bei Union und SPD mit rund einem Kontakt etwas größer aus als bei FDP, Grünen und der Linkspartei, bei denen der Bundestagswahlkampf durchschnittlich 0,6 bis 0,7 Kontakte mehr erzielte als die Europawahlkampagne. Anders formuliert, bei der Bundestagswahl erzielten Union und SPD einen etwas größeren Reichweitenvorteil als bei der Europawahl.6 Angesichts der Tatsache, dass der Europawahlkampf von deutlich weniger Bürgern rezipiert wurde als die Kampagne zur Bundestagswahl, bleibt die Wir6
Weiterführende Analysen deuten darauf hin, dass die Angaben der online und mündlich Befragten zur Rezeption von Kampagnenbotschaften instrumentenspezifisch variieren. Beispielsweise geben online Befragte merklich seltener die Rezeption von Plakaten und Presseanzeigen an.
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kung der rezipierten Kampagneninhalte zu untersuchen. Dabei ist zu klären, ob überhaupt Wirkungen auftreten. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob sich Europaund Bundestagswahlkampagne in ihrer Wirkung unterscheiden. Schließlich soll wiederum nach Unterschieden zwischen Parteien gefragt werden. In der folgenden Wirkungsanalyse gilt es zudem, Konversions- von Mobilisierungseffekten zu trennen. Dies geschieht mithilfe eines konservativen und eines weniger konservativen Analysedesigns. Diese Unterscheidungen machen schließlich sechzig logistische Regressionsmodelle erforderlich, die im vorliegenden Aufsatz nicht allesamt ausführlich dargestellt werden können. Daher werden in Tabelle 3 und 4 lediglich jene logistischen Regressionskoeffizienten dargestellt, die in den verschiedenen Modellschätzungen dem Indikator für die Kampagnenrezeption zugewiesen wurden. Die Ergebnisse in der letzten Spalte in Tabelle 3 zeigen deutlich, dass die Rezeption von Kampagneninhalten von Union, SPD und FDP vor der Bundestagswahl 2009 keine Konversionseffekte erzielte. Zu derselben Schlussfolgerung führen die Befunde auf der Basis der Onlinebefragung zur Bundestagswahl. Deshalb kann man annehmen, dass dieser Befragungstyp nicht zu systematischen Verzerrungen bei der Effektschätzung führt. Folglich kann aus den negativen Befunden zur Europawahl in Tabelle 3 auf das Ausbleiben von Konversionseffekten der Kampagnenkontakte zu diesen Parteien geschlossen werden. Ein wenig anders stellt sich die Evidenz zu Konversions- und Mobilisierungseffekten dar (vgl. Tabelle 4). Legt man das konservative Analysedesign zugrunde, lassen sich in den Daten aus den persönlichen Interviews zur Bundestagswahl keine Hinweise auf Effekte finden. Wählt man das weniger konservative Design, resultieren für SPD und FDP statistisch signifikante Regressionskoeffizienten. Dies kann man als Hinweis auf Kampagnenwirkungen werten. Allerdings sollte man bei der Interpretation von Ergebnissen logistischer Regressionsanalysen nicht dabei stehenbleiben, die statistische Signifikanz von Koeffizienten zu betrachten. Diese sagt wenig über die substantielle Bedeutsamkeit von Effekten aus. Um diese zu beurteilen, empfiehlt es sich, auf der Basis statistisch signifikanter Regressionskoeffizienten Änderungen von Wahlwahrscheinlichkeiten zu berechnen. Daher wurde in einem nächsten Schritt in Simulationen ermittelt, wie sich die Wahrscheinlichkeit, für die jeweilige Partei zu stimmen, in Abhängigkeit von der Kampagnenrezeption entwickelt, wenn man die anderen Variablen in der Schätzgleichung auf den dem jeweiligen Skalenniveau angemessenen Mittelwert setzt. Die Simulationen führen in Bezug auf die beiden Parteien zu unterschiedlich nuancierten Ergebnissen. Im Hinblick auf die Wahlentscheidung für die
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FDP zeigen sie, dass unter Berücksichtigung des Stichprobenfehlers selbst die Rezeption von sieben Kampagneninstrumenten ein Votum im Vergleich zu vollkommener Rezeptionsabstinenz nicht wahrscheinlicher werden lässt (nicht tabellarisch oder graphisch ausgewiesen). Tabelle 3:
Wirkung der Wahlkampfrezeption auf die Wahlentscheidung bei der Europa- und Bundestagswahl 2009 (binäre logistische Regression) Europa – online
Ohne Kandidaten- und Sachfragenorientierung ,12 CDU/CSU (,10) -,01 SPD (,11) ,03 FDP (,18) -,03 Grüne (,26) ,41 Die Linke (,22) N 695 Mit Kandidaten- und Sachfragenorientierung ,13 CDU/CSU (,11) ,02 SPD (,10) -,09 FDP (,21) -,09 Grüne (,29) ,42* Die Linke (,20) N 695
Bund – online
Bund – mündlich
,08 (,08) ,07 (,08) -,00 (,10) -,02 (,11) ,22* (,11) 903
,00 (,07) ,05 (,07) ,11 (,10) ,25* (,10) ,50** (,09) 1.483
,03 (,10) -,01 (,09) -,10 (,11) -,07 (,12) ,27* (,14) 875-898
-,10 (,08) -,04 (,08) ,11 (,11) ,20 (,11) ,30** (,11) 1.422-1.482
Angegeben sind unstandardisierte logistische Regressionskoeffizienten mit robusten Standardfehlern in Klammern. Signifikanzniveaus: * p < 0,05; ** p < 0,01. In den Bundestagswahlanalysen mit Kandidaten- und Sachfragenorientierungen ergeben sich für die einzelnen Parteien unterschiedliche Fallzahlen, weil die jeweils betrachteten Spitzenpolitiker von unterschiedlich vielen Befragten bewertet wurden.
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Tabelle 4:
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Wirkung der Wahlkampfrezeption auf die Wahlentscheidung bei der Europa- und Bundestagswahl 2009 (binäre logistische Regression) Europa – online
Ohne Kandidaten- und Sachfragenorientierung ,12 CDU/CSU (,09) ,06 SPD (,10) -,05 FDP (,18) ,10 Grüne (,21) ,28 Die Linke (,20) N 1.003 Mit Kandidaten- und Sachfragenorientierung ,11 CDU/CSU (,11) ,07 SPD (,10) -,18 FDP (,21) ,05 Grüne (,23) ,26 Die Linke (,18) N 1.003
Bund – online
Bund – mündlich
,17* (,08) ,12 (,07) ,10 (,09) ,07 (,11) ,27** (,10) 1.145
,10 (,06) ,19** (,06) ,22* (,09) ,38** (,09) ,60** (,08) 2.144
,10 (,09) ,02 (,08) -,02 (,11) -,00 (,12) ,30* (,12) 1.090-1.132
,01 (,07) ,11 (,07) ,20 (,11) ,33** (,10) ,44** (,09) 1.966-2.122
Angegeben sind unstandardisierte logistische Regressionskoeffizienten mit robusten Standardfehlern in Klammern. Signifikanzniveaus: * p < 0,05; ** p < 0,01. In den Bundestagswahlanalysen mit Kandidaten- und Sachfragenorientierungen resultieren für die einzelnen Parteien unterschiedliche Fallzahlen, weil die jeweils betrachteten Spitzenpolitiker von unterschiedlich vielen Befragten bewertet wurden.
Die Rezeption von SPD-Kampagneninhalten vor der Bundestagswahl blieb unter Personen, die sich nicht an die SPD gebunden fühlten, ohne jegliche Wirkung. Bei den SPD-Anhängern sorgt die Rezeption von sechs oder sieben Kampagneninstrumenten für einen signifikanten Anstieg der Wahlwahrscheinlichkeit (nicht tabellarisch oder graphisch ausgewiesen). Dies sollte man jedoch nicht überbewerten, da weniger als fünf Prozent der SPD-Anhänger mindestens sechs
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Kampagnenkontakte angaben. Selbst wenn man es für plausibel hält, dass Einstellungen zum Kanzlerkandidaten und der Lösungskompetenz der SPD ohne jegliche Wirkung auf die Rezeption der SPD-Kampagne blieben, fällt es daher schwer, einen substantiell relevanten Effekt bei der Bundestagswahl festzustellen. Die Ergebnisse auf der Grundlage der online gewonnenen Daten führen in Bezug auf die Bundestagswahlkampagnen von Union, SPD und FDP zu den gleichen Schlussfolgerungen wie die Repräsentativdaten. Deshalb ist nicht von systematischen Verzerrungen infolge der Stichprobenziehung oder der Befragungsmethode auszugehen. Vor dem Hintergrund dieses Validierungsschrittes erscheint es somit gerechtfertigt, aus den negativen Befunden zu den Europawahlkampagnen der drei Partei(formation)en zu folgern, dass die entsprechenden Kampagnenkontakte vor der Europawahl weder Konversions- noch Mobilisierungseffekte erzielten. Im Ergebnis erwiesen sich Kampagnenkontakte zu Union, SPD und FDP bei Europa-und Bundestagswahl somit als weitgehend wirkungslos. Kampagenkontakte zu den Grünen erzielten keine Konversionseffekte. Zwar wird ein statistisch signifikanter Koeffizient geschätzt, dem jedoch keine bedeutsame Wirkung auf die Wahlwahrscheinlichkeit entspricht. Werden jedoch Konversions- und Mobilisierungseffekte betrachtet, zeichnen sich erhebliche Wirkungen ab. In beiden Analysedesigns resultieren signifikante Regressionskoeffizienten. Wie Abbildung 1 veranschaulicht, steigern im weniger konservativen Design vier und mehr grüne Kampagnenkontakte bei Anhängern der Grünen die Wahrscheinlichkeit, für die Grünen zu votieren, auch unter Berücksichtigung des Stichprobenfehlers in bedeutsamem Umfang. Da immerhin rund 15 Prozent der Grünen-Anhänger mindestens vier Kampagnenkontakte nannten, liegt ein praktisch relevanter Effekt vor. Im konservativen Design resultiert keine relevante Wirkung, da sich die Wahlwahrscheinlichkeit erst bei mindestens sechs Kontakten nennenswert ändert, so viele Kontakte aber praktisch kein Grünen-Anhänger angab. Sofern man es als plausibel erachtet, dass Einstellungen zur grünen Spitzenkandidatin und der Problemlösungskompetenz der Partei die Kampagnenrezeption allenfalls unwesentlich steuerten, kann man daher von bedeutenden Kampagneneffekten bei der Bundestagswahl sprechen. Zu dieser Aussage über die Wirkung der Bundestagswahlkampagne gelangt man allerdings nur dann, wenn man die Daten aus der mündlichen Befragung zugrunde legt. Die online gesammelten Informationen geben nicht den kleinsten Hinweis auf irgendwelche Wirkungen. Diese Diskrepanz zwischen beiden Analysen impliziert, dass man aus den negativen Befunden zur grünen Kampagne bei der Europawahl nicht ohne weiteres folgern kann, dass die Rezeption grüner
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Kampagnenbotschaften tatsächlich ohne Wirkung auf das Stimmverhalten blieb. Präzisere Aussagen erlauben die vorliegenden Daten leider nicht. Abbildung 1:
Wirkung der Rezeption der Grünen-Kampagne auf die Wahrscheinlichkeit, für die Grünen zu stimmen (mündliche Befragung zur Bundestagswahl; Angaben: Wahrscheinlichkeit mit 95%-Konfidenzintervall)
100
Grüne-Anhänger
90 80 70 60 50 40 30 20
andere Personen
10 0 0
1
2
3
4
5
6
7
Zahl der Kontakte
Kontakte mit Kampagneninhalten der Linkspartei erwiesen sich bei der Bundestagswahl als wirkungsvoll. Auf der Basis der Daten aus der mündlichen Befragung resultieren für das Konversionsmodell wie auch für das Modell, das Konversions- und Mobilisierungseffekte betrachtet, statistisch signifikante Koeffizienten, und zwar unabhängig davon, ob man das konservativere oder das weniger konservative Analysedesign verwendet. Wie Abbildung 2 veranschaulicht, steigerten im reinen Konversionsmodell bei weniger konservativem Design unter Anhängern der Linken vier Kontakte, unter anderen Personen bereits drei Kontakte die Wahrscheinlichkeit, die Linkspartei zu wählen, beträchtlich. Da fünfzehn bzw. zehn Prozent der beiden Gruppen mindestens so viele Kampagnenkontakte zur Linkspartei angaben, kann man von praktisch relevanten Effekten sprechen, wenngleich die Wirkung unter den Linken-Anhängern von begrenztem Ausmaß ist. Führt man die zusätzlichen Kontrollvariablen ein, lassen sich allerdings keine relevanten Konversionseffekte feststellen.
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Abbildung 2:
Wirkung der Rezeption der Linkspartei-Kampagne auf die Wahrscheinlichkeit, für Die Linke zu stimmen (Konversionsmodell; mündliche Befragung zur Bundestagswahl; Angaben: Wahrscheinlichkeit mit 95%Konfidenzintervall)
100 90 80
Linke-Anhänger
70 60 50 40 30
andere Personen
20 10 0 0
1
2
3
4
5
6
7
Zahl der Kontakte
Betrachtet man Konversions- und Mobilisierungseffekte, fallen die Belege für Kampagneneffekte noch deutlicher aus. Wie Abbildung 3 zeigt, ergeben sich im weniger konservativen Analysedesign deutliche Wirkungen. Demnach genügten bei Anhängern der Linkspartei drei Kampagnenkontakte, um ein Votum für diese Partei deutlich wahrscheinlicher werden zu lassen, was auf immerhin ein Drittel der Anhänger zutraf. Bei anderen Personen erzielten bereits zwei Kontakte eine merkliche Wirkung auf die Wahlentscheidung zugunsten der Linkspartei. Da rund ein Viertel dieser Gruppe mindestens zwei Kontakte mit der Linkspartei-Kampagne angaben, kann man auch hier von relevanten Effekten sprechen. Selbst wenn man das konservativere Analysedesign zugrundelegt und damit annimmt, dass Kandidaten- und Sachfragenorientierungen die Kampagnenrezeption steuern, resultieren nicht nur statistisch signifikante Koeffizienten, sondern auch merkliche Wirkungen auf die Wahlwahrscheinlichkeiten (nicht graphisch ausgewiesen). Allerdings beziehen sich diese Effekte auf kleine Segmente des Elektorats und sollten daher nicht überbewertet werden.
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Abbildung 3:
100
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Wirkung der Rezeption der Linkspartei-Kampagne auf die Wahrscheinlichkeit, für Die Linke zu stimmen (Konversions- und Mobilisierungsmodell; mündliche Befragung zur Bundestagswahl; Angaben: Wahrscheinlichkeit mit 95%-Konfidenzintervall)
Linke-Anhänger
90 80 70 60 50 40 30
andere Personen
20 10 0
0
1
2
3
4
5
6
7
Zahl der Kontakte
Die Analyse hat somit gezeigt, dass bei konservativer Schätzung schwache, bei weniger konservativer Schätzung starke Kampagnenwirkungen nachgewiesen werden können. Unklar ist, ob die obere oder die untere Grenze der tatsächlichen Wirkung näherkommt. Jedoch dürfte letztere die Realität kaum vollkommen zutreffend abbilden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es nicht sehr plausibel ist anzunehmen, dass Kampagnenkontakte zwar ein Votum für die Linkspartei wahrscheinlicher werden ließen, aber Einstellungen zur Problemlösungskompetenz der Partei und zu Oskar Lafontaine nicht beeinflussten. Folglich kann mit guten Gründen angenommen werden, dass von Kampagnenkontakten zur Linkspartei durchaus beträchtliche Wirkungen auf das Stimmverhalten bei der Bundestagswahl 2009 ausgingen. Die Daten aus der Onlinebefragung zur Bundestagswahl stützen diese Schlussfolgerung allerdings nicht. Es resultieren zwar statistisch signifikante Regressionskoeffizienten, doch entsprechen ihnen keine bedeutsamen Wirkungen auf die Wahrscheinlichkeit, für die Linkspartei zu votieren. Das liegt nicht allein daran, dass in dieser Umfrage weniger Personen befragt wurden, sondern
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auch daran, dass merklich kleinere Koeffizienten als in der mündlichen Befragung geschätzt werden. Insofern deutet die Evidenz darauf hin, dass die Onlinebefragung die Wirkung der Kampagnenkontakte systematisch unterschätzt. Dieser methodische Befund berührt auch die Interpretation der Ergebnisse zur Europawahlkampagne. Für die Europawahl resultieren beträchtliche Regressionskoeffizienten, die jedoch wegen großer Standardfehler nicht übliche Niveaus statistischer Signifikanz erreichen oder, falls doch, nicht bedeutsame Einflüsse auf die Wahlwahrscheinlichkeit anzeigen. Diese Befunde legen die Folgerung nahe, die Europawahlkampagne sei wirkungslos. Da diese Analysen jedoch auf Informationen aus einer Onlinebefragung beruhen, ist nicht auszuschließen, dass das Ausbleiben deutlicher Effekte wenigstens zum Teil mit dem Erhebungsverfahren zusammenhängt. Daher kann der negative Befund nicht als verlässlicher Beleg für das Ausbleiben jeglicher Wirkung interpretiert werden. Folglich könnten die Kampagnen der Linkspartei zur Europa- und zur Bundestagswahl das Stimmverhalten durchaus beeinflusst haben. 5 Schluss Ziel dieses Beitrags war es, Reichweite und Wirkungen der Wahlkämpfe zur Europa- und zur Bundestagswahl 2009 vergleichend zu untersuchen. Dabei hat die Analyse zunächst gezeigt, dass die Europawahlkampagnen der Parteien deutlich weniger Personen erreichten als die Bundestagswahlkampagnen. Dieses Muster, das im Jahr 2009 für alle Bundestagsparteien in ähnlichem Maße galt, steht in Einklang mit der Vorstellung von Europawahlen als zweitrangigen Wahlen. Allerdings konnten an dieser Stelle die Ursachen für diese Unterschiede nicht untersucht werden. So muss offenbleiben, inwieweit ein vermindertes Angebot an Kontaktmöglichkeiten seitens der Parteien und eine generell geringere Rezeptionsbereitschaft der Bürger zur geringeren Reichweite der Europawahlkampagnen beitrugen. Im zweiten Schritt ist untersucht worden, ob die Rezeption von Parteibotschaften das Wahlverhalten beeinflusste und inwieweit sich in dieser Hinsicht Europa- und Bundestagswahl unterscheiden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Rezeption der Kampagnen vor der Bundestagswahl 2009 das Wahlverhalten selektiv beeinflusste. Kampagnenbotschaften der Linkspartei, die Bürger erreichten, scheinen deren Stimmverhalten durchaus beeinflusst zu haben: Anhänger der Linken wurden vorwiegend mobilisiert, während Anhänger anderer Parteien und Parteiungebundene zu einem Wechsel der Wahlabsicht veranlasst wurden. Bei der Wahlentscheidung zugunsten der Grünen konnten weniger
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deutliche Effekte nachgewiesen werden. Dagegen scheinen Kampagnenkontakte zu Union, FDP und SPD praktisch wirkungslos geblieben zu sein. Die Wirkungslosigkeit direkter Kampagnenkontakte zu diesen drei Partei(formation)en konnte für Europa- und Bundestagswahl belegt werden. Für Linkspartei und Grünen konnten in Bezug auf die Europawahl zwar keine überzeugenden Belege für Kampagneneffekte gefunden werden, jedoch können solche Wirkungen auch nicht ausgeschlossen werden. Somit deuten die Ergebnisse darauf hin, dass im Jahr 2009 Unterschiede in der Wirksamkeit von Kampagnenkontakten zwischen Parteien mindestens so deutlich hervortraten wie zwischen Europa- und Bundestagswahl. Diese Folgerung beruht unter anderem auf Ergebnissen eines Methodenvergleichs. Die Ergebnisse der Analysen zur Bundestagswahl unterscheiden sich deutlich, je nachdem, ob Daten aus einer Online- oder einer persönlich-mündlichen Befragung verwendet wurden. Während letztere auf einige Kampagneneffekte hindeuten, sprechen erstere eindeutig gegen das Vorliegen solcher Wirkungen. Dieser Unterschied beruht nicht allein auf Fallzahlunterschieden, sondern deutet darauf hin, dass die Onlinedaten infolge von Selbstselektionseffekten weniger gut geeignet sind, Kampagneneffekte nachzuweisen, als Daten aus mündlichen Interviews einer (annähernd) repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. Da die vorliegenden Daten keine ideale Vergleichsbasis bieten, sind diese Ergebnisse mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Daher sollte diese methodische Frage künftig genauer untersucht werden, nicht zuletzt wegen der Entwicklungen in der Umfrageforschung. Die Aussagekraft der vorliegenden Analyse unterliegt in weiteren Hinsichten Einschränkungen. Die Ergebnisse erlauben Aussagen über lediglich zwei Wahlen in einem Land im Jahr 2009. Auf dieser Grundlage sind weiterreichende Schlussfolgerungen problematisch, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil offen bleiben muss, inwieweit die Befunde von Spezifika der Untersuchungsperiode, z.B. der Existenz einer Großen Koalition, beeinflusst sind. Die Analysen beziehen sich auf die Wirkung der direkten Rezeption von Parteibotschaften, können aber nicht erfassen, inwieweit die Wahlkampagnen indirekte Wirkungen auf das Wahlverhalten erzielten. Darüber hinaus ist nur eine Auswahl von Kampagneninstrumenten berücksichtigt und die Möglichkeit ausgeblendet worden, dass Kampagnenbotschaften einer Partei das Wahlverhalten zugunsten einer anderen Partei beeinflussen. Insofern unterschätzen die hier präsentierten Befunde die tatsächlichen Wirkungen. Zudem konnte die Wahlkampfrezeption nicht sehr differenziert und nur mit Selbstauskünften von Befragten gemessen werden, was beides zu Messfehlern führen kann (vgl. Vavreck 2007). Auch konnte die kausale Anordnung verschiedener Einflussfaktoren nicht empirisch untersucht wer-
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den, was künftig mit Daten aus Wiederholungsbefragungen nachgeholt werden sollte. Schließlich sind nur in sehr begrenztem Umfang unterschiedliche Wirkungsmuster in verschiedenen Segmenten des Elektorats untersucht worden. Folglich sollte die vorliegende Analyse vor allem auch als ein Schritt zu einer stärker vergleichend angelegten Erforschung der Rezeption und Wirkungen von Wahlkämpfen verstanden werden. 6 Literatur Brettschneider, Frank/Rettich, Markus (2005): Europa – (k)ein Thema für die Medien. In Tenscher, Jens (Hg.): Wahl-Kampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament. Wiesbaden: VS, 136-156. Brössler, Daniel/Höll, Susanne (2009): Ohne Bayern aber mit Wums. In: Süddeutsche Zeitung, http://www.sueddeutsche.de/politik/plakate-zur-europawahl-ohne-bayernaber-mit-wums-1.466643; Abruf am: 18.06.2010. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York: Wiley. Esser, Frank/Holtz-Bacha, Christina/Lessinger, Eva-Maria (2005): Sparsam in jeder Hinsicht. Die Fernsehwerbung der Parteien im Europawahlkampf 2004. In: HoltzBacha, Christina (Hg.): Europawahl 2004. Die Massenmedien im Europawahlkampf. Wiesbaden: VS, 65-89. Faas, Thorsten/Rattinger, Hans (2004): Drei Umfragen, ein Ergebnis? Ergebnisse von Offline- und Online-Umfragen anlässlich der Bundestagswahl 2002 im Vergleich. In: Brettschneider, Frank/van Deth, Jan/Roller, Edeltraud (Hg.): Die Bundestagswahl 2002. Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes. Wiesbaden: VS, 277-299. Finkel, Steven. E. (1993): Reexamining the „Minimal Effects“ Model in Recent Presidential Campaigns. In: Journal of Politics 55, 1-21. Finkel, Steven E./Schrott, Peter (1995): Campaign Effects on Voter Choice in the German Election of 1990. In: British Journal of Political Science 25, 349-377. Fournier, Patrick/Nadeau, Richard/Blais, André/Gidengil, Elisabeth/Nevitte, Neil (2004): Time-of-voting Decision and Susceptibility to Campaign Effects. In: Electoral Studies 23, 661-681. Gelman, Andrew/King, Gary (1993): Why Are American Presidential Election Campaign Polls So Variable When Votes Are So Predictable? In: British Journal of Political Science 23, 409-451. Gerber, Alan S./Green, Donald P. (2000): The Effects of Canvassing, Telephone Calls, and Direct Mail on Voter Turnout. A Field Experiment. In: American Political Science Review 94, 653-663. Gerstlé, Jacques/Semetko, Holli A./Schönbach, Klaus/Villa, Marina (2002): The Faltering Europeanization of National Campaigns. In: Perrineau, Pascal/Grunberg,
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Harald Schoen & Rebecca Teusch
Schoen, Harald (2007): Campaigns, Candidate Evaluations, and Vote Choice. Evidence from German Federal Election Campaigns, 1980-2002. In: Electoral Studies 26, 324-337. Tenscher, Jens (2005): Mit halber Kraft voraus! Parteikampagnen im Europawahlkampf 2004. In: Tenscher, Jens (Hg.): Wahl-Kampf um Europa. Analysen aus Anlass der Wahlen zum Europäischen Parlament. Wiesbaden: VS, 30-55. Vavreck, Lynn (2007): The Exaggerated Effects of Advertising on Turnout. The Dangers of Self-Reports. In: Quarterly Journal of Political Science 2, 287-305. Wölk, Angelika (2009): Negativ-Kampagne der SPD hat nicht funktioniert. In: Der Westen, http://www.derwesten.de/waz/politik/Negativ-Kampagne-der-SPD-hatnicht-funktioniert-id369796.html; Abruf am: 26.07.2010. Zeh, Reimar/Holtz-Bacha, Christina (2005): Die Europawahl in den Hauptabendnachrichten des Fernsehens. In: Holtz-Bacha, Christina (Hg.): Europawahl 2004. Die Massenmedien im Europawahlkampf. Wiesbaden: VS, 252-269.
Verschiedene Ebenen, verschiedene Wirkungen?
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Anhang: Operationalisierungen Häufigkeit der Kampagnenkontakte: „Haben sie in der letzten Zeit von den Parteien Informationen über die bevorstehende Europawahl/Bundestagswahl erhalten? Wo bzw. in welcher Form haben Sie die Informationen erhalten? Und von welcher Partei?“ (Zählindex: 0 bis 7). Wahlabsicht:
„Was werden Sie bei dieser Europawahl/Bundestagswahl auf Ihrem Stimmzettel ankreuzen?“ (Dummyvariablen für die fünf Parteien: 1: jeweilige Partei; 0: keine/andere Partei).
Parteibindung:
„In Deutschland neigen viele Leute längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie - ganz allgemein - einer bestimmten Partei zu? Und wenn ja, welcher?“ (Dummyvariablen für die fünf Parteien: 1: jeweilige Partei; 0: keine/andere Partei).
Kandidatenorientierung:
„Was halten Sie von den folgenden Personen? Bitte beschreiben Sie dies wieder mit Hilfe der Skala von -5 bis +5.“ (elfstufige Skala von 0 (halte überhaupt nichts von der Person) bis 1 (halte sehr viel von der Person). Betrachtete Personen: Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle, Renate Künast, Oskar Lafontaine.
Themenorientierung:
„Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste politische Problem in Deutschland? Und welche Partei ist Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage, dieses Problem zu lösen?“ (Dummyvariablen für die fünf Parteien: 1: jeweilige Partei; 0: keine/andere Partei).
Kirchenbindung:
1: Christen, die mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen; 0: andere.
Protestant:
1: entsprechende Konfession; 0: andere.
Katholik:
1: entsprechende Konfession; 0: andere.
Arbeiterschicht:
1: entsprechende subjektive Schichtzuordnung; 0: andere.
Untere Mittelschicht:
1: entsprechende subjektive Schichtzuordnung; 0: andere.
Mittelschicht:
1: entsprechende subjektive Schichtzuordnung; 0: andere.
Gewerkschaftsmitgliedschaft: 1: ja; 0: nein. Alter:
in Jahren
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bachl, Marko, Master of Arts, *1983 Studium der Kommunikationswissenschaft (Bachelor of Arts) an der Universität Augsburg, danach Studium in Medienmanagement (Master of Arts) an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim. Publikationen u.a.: Machen Medien Kluge klüger? Der Zusammenhang zwischen Expertenstatus, Mediennutzung und Fachwissen. In: Trepte, Sabine/ Verbeet, Markus (Hrsg.): Allgemeinbildung in Deutschland. Erkenntnisse aus dem SPIEGEL-Studentenpisa-Test. Wiesbaden 2010, S. 289-305; Die Bundestagswahl 2009 und die Medien. In: Politische Studien, 2009, Jg. 60, H. 6, S. 4655 (zus. mit Frank Brettschneider). Bieber, Christoph, Dr., *1970 Studium der Politikwissenschaft und Germanistik an der Justus-LiebigUniversität Gießen und der Freien Universität Berlin; 1999 Promotion an der Universität Gießen. Seit 2003 Wissenschaftlicher Assistent am dortigen Institut für Politikwissenschaft. Gründungsmitglied des interdisziplinären Zentrums für Medien und Interaktivität an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Publikationen u.a.: Soziale Netze in der digitalen Welt. Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht. Frankfurt a.M./New York 2009 (hrsg. zus. mit Martin Eifert, Thomas Groß und Jörn Lamla); Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff. Frankfurt a.M./New York 2004 (hrsg. zus. mit Claus Leggewie); Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. New York 1999. Boomgaarden, Hajo, Dr., *1977 Studium der Kommunikationswissenschaft an der Universität Amsterdam; 2007 Promotion zum Thema „Medien und Zuwanderung“ an der Universität Amsterdam. Seit 2007 zunächst Assistant Professor, seit 2010 Associate Professor für Politische Kommunikation am Institut für Kommunikationswissenschaft und der Amsterdam School of Communication Research (ASCoR) sowie Board Member des Center for Media and Politics. Publikationen u.a. in folgenden Fachzeit-
J. Tenscher (Hrsg.), Superwahljahr 2009, DOI 10.1007/978-3-531-93220-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
schriften: European Union Politics, Communication Research, European Journal of Political Research. Brettschneider, Frank, Prof. Dr., *1965 Studium der Politikwissenschaft, Publizistik und Jura an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 1995 Promotion, 2002 Habilitation, jeweils an der Universität Stuttgart. Zwischen 1990 und 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und an der Universität Stuttgart. 2000 bis 2001 Vertretung der Professur „Öffentliche Kommunikation und Journalismus“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2001 bis 2006 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Augsburg. Seit 2006 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim. Publikationen u.a.: Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden 2007 (hrsg. zus. mit Oskar Niedermayer und Bernhard Weßels); Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden 2002; Öffentliche Meinung und Politik. Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages zwischen 1949 und 1990. Opladen 1995. Brunsbach, Sandra, Dipl.-Pol., 1982 Studium der Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. 2007 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Politikwissenschaft/Politisches System Deutschlands“ an der Ruhr-Universität Bochum. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Politikwissenschaft I“ an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Publikation u.a.: Germany. In: Gagatek, Wojciech (Hrsg.): The 2009 Elections to the European Parliament. Country Reports. Florence 2010, S. 89-93 (zus. mit Stefanie John und Annika Werner). de Vreese, Claes, Prof. Dr., *1974 Studium der European Communication Studies und im Jahr 2003 Promotion an der Universität Amsterdam zum Thema „Framing Europe“. Seit 2005 Professor and Chair of Political Communication und Direktor der Amsterdam School of Communication Research (ASCoR) an der Universität Amsterdam sowie Adjunct Professor for Political Science and Journalism an der University of Southern Denmark. Direktor des Center for Media and Politics sowie der Netherlands School of Communication Research (NESCoR). Publikationen: mehr als 60 Artikel in internationalen Zeitschriften zu den Themenbereichen „politische Kommunikation“, „Europäische Union“, „Journalismus“, „Wahlkampagnen“ und „Wahlverhalten“.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Dörner, Andreas, Prof. Dr., *1960 Studium der Sozialwissenschaften und Germanistik. 1994 Promotion, 1999 Habilitation an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Zwischen 2000 und 2004 Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Wuppertal, Duisburg und Dresden. Seit 2004 Professor für Medienwissenschaft an der PhilippsUniversität Marburg. Publikationen u.a.: Politik im Spot-Format. Zur Semantik, Pragmatik und Ästhetik politischer Werbung in Deutschland. Wiesbaden 2007 (hrsg. zus. mit Christian Schicha). Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual. Frankfurt 2002 (hrsg. zus. mit Ludgera Vogt). Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt 2001. Giebler, Heiko, M.A., *1979 Studium der Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen der 2009 European Election Study (PIREDEU) und der German Longitudinal Election Study (GLES) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Publikation u.a.: Measuring Social Justice and Sustainable Governance in the OECD. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Sustainable Governance Indicators 2009. Policy Performance and Executive Capacity in the OECD. Gütersloh 2009, S. 187-215 (zus. mit Wolfgang Merkel). John, Stefanie, Dipl.-Pol. 1977 Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Politikwissenschaft/Politisches System Deutschlands“ an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen u.a.: Party Patronage in Germany. The Strategic Use of Appointments. In: Kopecký, Petr/Mair, Peter/Spirova, Maria (Hrsg.): Party Government and Party Patronage. Public Appointments and Political Control in European Democracies. Oxford 2011, S. 95-117 (zus. mit Thomas Poguntke). Germany. In: Gagatek, Wojciech (Hrsg.): The 2009 Elections to the European Parliament. Country Reports. Florence 2010, S. 89-93 (zus. mit Sandra Brunsbach und Annika Werner); Föderalstaaten und der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt. Institutionelle Arrangements zur Umsetzung der Stabilitätskriterien. Saarbrücken 2007. Leidecker, Melanie, M.A., *1983 Studium der Publizistikwissenschaft, Deutschen Philologie und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Institut für Publizistik. Publikationen u.a.: Angreifende
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Plakatwerbung im Wahlkampf – effektiv oder riskant? Ein Experiment aus Anlass der SPD-Europawahlplakate 2009. In: Holtz-Bacha, Christina (Hrsg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Das Wahljahr 2009. Wiesbaden 2010, S. 117139; Ein Wahlkampf, der keiner war? Die Presseberichterstattung zur Bundestagswahl 2009 im Langzeitvergleich. In: Holtz-Bacha, Christina (Hrsg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Das Wahljahr 2009. Wiesbaden 2010, S. 339372 (zus. mit Jürgen Wilke); Öffentliche Meinung im mittelhochdeutschen Minnesang. Sozialwissenschaftliche Theorie trifft mittelalterliche Lyrik – eine interdisziplinäre Literaturstudie. Saarbrücken 2008. Rußmann, Uta, Mag. Dr., *1977 Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Tampere (Finnland). 2007 Promotion an der Universität Wien. Seit 2009 Postdoc Researcher im Rahmen der Österreichischen Nationalen Wahlstudie an der Universität Innsbruck. Publikationen u.a.: Journalism, Democracy and the Role of Doubts. An Analysis of Political Campaign Communication in Austria. In: Studies in Communication Sciences 2010, Jg. 10, H. 1, S. 11-27 (zus. mit Roland Burkart); Wirkungen der Onlinenutzung auf die persönliche Themenagenda und die politische Diskussion in sozialen Netzwerken. In: Wolling, Jens/Seifert, Markus/Emmer, Martin (Hrsg.): 2010, Politik 2.0? Die Wirkung computervermittelter Kommunikation auf den politischen Prozess. München 2010, S. 169-186; Agenda Building in österreichischen Nationalratswahlkämpfen, 1970-2008. In: Plasser, Fritz (Hrsg.): Politik in der Medienarena. Praxis politischer Kommunikation in Österreich. Wien 2010, S. 101-143 (zus. mit Gabriele Melischek und Josef Seethaler). Schäfer, Christian, M.A., *1983 Studium der Publizistik- und Politikwissenschaft an der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Publizistik. Publikation u.a.: Die „Causa Brender“. Vom öffentlichen Streit um die Vertragsverlängerung des ZDF-Chefredakteurs zur Diskussion um den politischen Einfluss auf den Rundfunk. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 2010, Jg. 59, H. 1, S. 111-119. Scheufele, Bertram, Prof. Dr., *1969 Studium der Publizistik, Soziologie und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2003 Promotion an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Von 1997 bis 2006 Mitarbeiter in DFG-Projekten, wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie wissenschaftlicher Assistent ebenda. Zwi-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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schen 2006 und 2010 Professor für Empirische Methoden der Kommunikationswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2010 Professor für Kommunikationswissenschaft insbesondere Medienpolitik an der Universität Hohenheim. Publikationen u.a.: Verknüpfen und Urteilen. Ein Experiment zur Wirkung medialer Value-Frames. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 2010, Jg. 58, H. 1, S. 26-45; Das Erklärungsdilemma der Medienwirkungsforschung. Eine Logik zur theoretischen und methodischen Modellierung von Medienwirkungen auf die Meso- und Makro-Ebene. In: Publizistik, 2008, Jg. 53, H. 3, S. 339-361; Medien und Aktien. Theoretische und empirische Modellierung der Rolle der Berichterstattung für das Börsengeschehen. Wiesbaden 2008 (zus. mit Alexander Haas). Schoen, Harald, Prof. Dr., *1972 Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft und des Privatrechts an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 2003 Promotion, 2008 Habilitation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 1997 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter ebenda. Seit 2009 Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Soziologie, an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Publikationen u.a.: Der mediale Attraktivitätsbonus. Zum Einfluss der Attraktivität von Wahlkreiskandidaten auf die Medienberichterstattung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2010, Jg. 62, H. 2, S. 277298 (zus. mit Marcus Maurer); Ein Bericht von der Heimatfront. Bürger, Politiker und der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. In: Politische Vierteljahresschrift, 2010, Jg. 51, H. 3, S. 395-408; Wahlforschung. In: Gerlach, Irene/Jesse, Eckhard/Kneuer, Marianne/Werz, Nikolaus (Hrsg.): Politikwissenschaft in Deutschland. Baden Baden 2010, S. 223-238. Schwöbel, Christian, M.A., *1984 Studium der Politikwissenschaft, Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der University of Leicester (Großbritannien). Seit 2010 wissenschaftliche Hilfskraft am Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen und Projektmitarbeiter im Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Publikation u.a.: Europaparteien. Der verhinderte integrative Akteur. 2011. Zum Downloaden unter www.boell.de. Semetko, Holli A., Prof. Dr. Studium der Politischen Soziologie und Promotion in Politikwissenschaften an der London School of Economics & Political Science, London (Großbritannien).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Seit 2003 Zwischen 1995 und 2003 Professor of Audience and Public Opinion Research und Mitbegründering der Amsterdam School of Communication Research (ASCoR) an der Universität Amsterdam. Seit 2003 Vice Provost for International Affairs, Direktor des Halle Institute und Professor für Politikwissenschaft an der Emory University in Atlanta, Georgia (USA). Publikationen u.a.: The Sage Handbook of Political Communication. London 2011 (Hrsg.); American Behavioral Scientist, Sonderheft 52 „Media and Public Diplomacy in Times of War and Crisis“ 2009 (Hrsg.). Tenscher, Jens, Dr. phil., *1969 Studium der Politischen Wissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie der Deutschen Philologie an den Universitäten Mannheim und Windsor. 2003 Promotion an der Universität Koblenz-Landau. Zwischen 1997 und 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Hohenheim und Koblenz-Landau, 2003 bis 2009 Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Soziologie in Landau; Vertretungen von Professuren für Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Mannheim (2006-2007) und Augsburg (2011) sowie für Politische Soziologie an der Universität Mannheim (2009). Seit 2009 Senior Post Doc Researcher im Rahmen der Österreichischen Nationalen Wahlstudie und Dozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Seit 2006 Sprecher des Arbeitskreises „Politik und Kommunikation“ der DVPW. Publikationen u.a.: Salto mediale? Medialisierung aus der Perspektive deutscher Landtagsabgeordneter. In: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 44 „Politik als Beruf“, 2010, S. 375-395; Internationale Politische Kommunikation. Annäherungen an eine transdisziplinäre Forschungsperspektive. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2009, Jg. 19, H. 4, S. 551-578 (zus. mit Henrike Viehrig); 100 Tage Schonfrist. Bundespolitik und Landtagswahlen im Schatten der Großen Koalition. Wiesbaden 2008 (hrsg. zus. mit Helge Batt). Teusch, Rebecca, Dipl.-Pol., *1986 Studium der Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich Universität Bamberg. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Universität Bamberg. Vogt, Ludgera, Prof. Dr., *1962 Studium der Sozialwissenschaften, Pädagogik, Germanistik und Kunstpädagogik an der Universität Essen. 1996 Promotion an der Universität Regensburg, 2003 Habilitation an der Universität Dortmund. Zwischen 1993 und 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. wissenschaftliche Assistentin an den Universi-
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täten Bayreuth und Regensburg. Seit 2004 Professorin für Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Publikationen u.a.: Das Geflecht aktiver Bürger. ‚Kohlen’ – eine Stadtstudie zur Zivilgesellschaft im Ruhrgebiet. Wiesbaden 2009 (zus. mit Andreas Dörner); Das Kapital der Bürger. Eine Studie zur Funktionsweise von Bürgergesellschaft. Frankfurt a.M./New York 2005; WahlKämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual. Frankfurt a.M. 2002 (hrsg. zus. mit Andreas Dörner). Volkens, Andrea, Dr., 1956 Studium der Soziologie, Psychologie und Volkskunde an der ChristianAlbrechts-Universität Kiel. 1994 Promotion an der Freien Universität Berlin. Zwischen 1975 und 1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Gastwissenschaftlerin ebenda; seit 1984 Mitglied des Manifesto Projektes; seit 1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB); seit 2009 Leiterin des DFG-Projektes „MARPOR – Manifesto Research on Political Representation“. Publikationen u.a.: Strengths and Weaknesses of Approaches to Measuring Policy Positions of Parties. In: Electoral Studies, Special Symposium „Comparing Measures of Party Positioning“, 2007, Jg. 26, H. 1, S. 108-120; Mapping Policy Preferences II: Estimates for Parties, Electors and Governments in Eastern Europe, the European Union and the OECD, 1990-2003. Oxford 2006 (zus. mit Hans-Dieter Klingemann, Judith Bara, Ian Budge und Michael McDonald); Mapping Policy Preferences. Estimates for Parties, Electors, and Governments 1945-1998. Oxford 2001 (zus. mit Ian Budge, Hans-Dieter Klingemann, Judith Bara, Eric Tanenbaum, Richard C. Fording, Derek J. Hearl, Hee Min Kim, Michael McDonald und Silvia Mendez). Werner, Annika, Dipl.-Pol., *1983 Studium der Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Zwischen 2007 und 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „The Politics of Time: The Temporality of EU Enlargement and Europeanisation“ an der Universität Potsdam. Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „MARPOR – Manifesto Research on Political Representation“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Publikationen u.a.: Germany. In: Gagatek, Wojciech (Hrsg.): The 2009 Elections to the European Parliament. Country Reports. Florence 2010, S. 89-93 (zus. mit Sandra Brunsbach und Stefanie John); Policies, Institutions and Time. How the European Commission Managed the Temporal Challenge of Eastern Enlargement. In: Journal of European Public Policies, Special Issue „The EU Timescape“, 2009, Jg. 16, H. 2, S. 270-285 (zus. mit Katja Lass-Lennecke).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Wilke, Jürgen, Prof. Dr., *1943 Studium der Germanistik, Publizistik und Kunstgeschichte in Mainz und Münster. 1971 Promotion, 1983 Habilitation. Von 1984 bis 1988 Professor (Lehrstuhl Journalistik I) an der Katholischen Universität Eichstätt. Seit 1988 Professor am Institut für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u.a.: Massenmedien und Journalismus in Geschichte und Gegenwart. Gesammelte Studien. Bremen 2009; Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. 2. Auflage. Köln/Weimar/Wien 2008; Kanzlerkandidaten in der Wahlkampfberichterstattung. Eine vergleichende Studie zu den Bundestagswahlen 1949-1998. Köln/Weimar/Wien 2000 (zus. mit C. Reinemann). Wüst, Andreas M., Dr., *1969 Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Geographie an den Universitäten Heidelberg und Delaware (USA). 2002 Promotion an der Universität Heidelberg. Seit 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES), seit 2006 als Fellow der VolkswagenStiftung. Vertretungen des Lehrstuhls für Vergleichende Verhaltensforschung an der Universität Mannheim (2009-2010) und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Heidelberg (2010-2011). Publikationen u.a.: Abgeordnete mit Migrationshintergrund im Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland und Schweden. Opportunitäten und Politikschwerpunkte. In: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 44 „Politik als Beruf“, 2010, S. 312-333 (zus. mit Thomas Saalfeld); Parties in European Parliament Elections. Issues, Framing, the EU and the Question of Supply and Demand. In: German Politics, 2009, Jg. 18, H. 3, S. 446-440; Bundestagskandidaten und Einwanderungspolitik. Eine Analyse zentraler Policy-Aspekte. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2009, Jg. 19, H. 1, S. 77-105.