Alexander Mette
Der Weg zum Traum EIN BEITRAG ZU SEINER PSYCHOLOGIE
Copyright by Dion-Verlag Liebmann & Mette Berlin-S...
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Alexander Mette
Der Weg zum Traum EIN BEITRAG ZU SEINER PSYCHOLOGIE
Copyright by Dion-Verlag Liebmann & Mette Berlin-Steglitz 1939
1. Die wissenschaftliche Erforschung seelischer Gebilde hat bereits in der Wahl ihrer Stoffe ein erstes Hindernis zu überwinden. Diese bleibt nämlich in zwiefacher Hinsicht einer nicht gerade glücklichen Abhängigkeit unterworfen. Auf der einen Seite üben die Gipfel des psychologischen Massivs, die großen Niederschläge seelisch-schöpferischer Leistung, eine betörende Anziehungskraft auf uns alle aus. An ihnen sucht der Geist – eigentlich natürlicherweise – nach Maßen, Gesetzen und Gründen. Aus ihnen möchte er aufschließend entnehmen, was der erlebten Erschütterung und Erbauung als Urbestand innewohnt. Gelten sie dem Gefühl als Spiegelung von Zuständen, in denen das seelische Leben sich selber vorübergehend ganz gegenwärtig war, so drängt es den suchenden Spürsinn eben hier als an der entscheidenden Stelle das Letzte, Vollgültige zu erfassen. Die großen Werke der Kunst sind für den denkenden Menschen – aus dem umfassenden Bedürfnis nach Erkenntnis seines immanenten Wesens – ein Pol, aus dessen Kraftbereich er sich nicht leicht zu lösen vermag. Sie sind im richtigen, natürlichen Bestand stetes Objekt seines psychologischen Verlangens. Um es so auszudrücken: der lebensmäßig gegebene Gegenstand innerlich bedingten seelenkundlichen Erörterns und Forschens. Sehen wir ab von der Frage, wieweit es bisher mit einzelnen klärenden Auskünften bedeutender Entdecker gelungen ist, diesem Drange gemäß bleibende Erkenntnisse zu zeitigen, so ist andererseits etwas wie eine Abwehr gegen sein inneres Walten in der wissenschaftlich geschulten Psychologie wahrzunehmen. Die Wendung gegen dieses Stück lebendigen Strebens und Regens muß ihrem Sinne nach verstanden und gewürdigt werden. Der Wissenschaft gilt das Wollen im eigenen Haushalt immer als etwas Unliebsames, Störendes und sogar Anrüchiges. Sie hält es mit den kühlen, vom forschenden Ich nicht angefachten Gegebenheiten und sucht sich ihrer zu bemächtigen. Das hat seinen guten Grund und fußt auf der Erfahrung, daß sehr viel von dem, was aus starker innerer Neigung und Leidenschaft in die Erkenntniswelt hineingefördert wurde, den Nachprüfungen mit nüchternen Maßstäben nicht standgehalten hat. Aus dieser Vorsicht und Skepsis erwächst jedoch die zweite Abhängigkeit, von der die Rede war. Ginge im Bereich der geistigen Wechselwirkungen Manches mehr nach dem Schema physikalischer Gesetze vonstatten, so könnte sich aus dem Nebeneinander dieser beiden Kräfte vielleicht die richtige Resultante ergeben, in der sich die Gegensätze ausglichen und aufhöben. Es hieße der Psychologie der Gegenwart ein schlechtes und [3 | 4]
ungerechtes Zeugnis ausstellen, wenn man nicht wenigstens einen Teil ihrer Untersuchungen in diesem Lichte sehen und auffassen wollte. Birgt sie doch in einer Reihe völkerpsychologischer und tiefenpsychologischer Studien einen Schatz an Sichten und Funden, die unter dem Zügel jener einschränkenden Grundsätze Neues und vielfach höchst Verbindliches über das große Thema auszusagen wissen. Allein, die allgemeinere, in der durchschnittlichen Einstellung zutagetretende Zielrichtung der maßgeblichen Wissenschaft ist eine andre. Sie verrät sich in der überwiegenden Bearbeitung von Phänomenen, die mit dem höchsten Gegenstand des Forschungszweiges nur dürftige und oft auch garkeine Berührungspunkte mehr aufweisen. Der Stoff der Psychologie als Wissenschaft vom Seelischen ist je nach dem Standort, von dem man ausgeht, enger oder weiter. Sachlich hat jede Untersuchung Anspruch, in den Rahmen des Gesamtbegriffs aufgenommen zu werden, die überhaupt Ermittlungen über seelisches Geschehen anstellt. Der innere Ring, um den sich alles andere herumgruppiert, bleibt indessen die Aufrollung von Fragen, die an Gebilden entstehen, in denen sich das Seelische in ungespaltener Seinsfülle Zeugnisse seiner selbst geschaffen hat. Durch diese Bezogenheit auf einen nicht wegzudenkenden Hauptkomplex hat die Psychologie abgestufte Aufgabenkreise, deren Bedeutungsgrad sich aus dem Abstand vom Mittelpunkt von selbst bestimmt. Vieles, vielleicht das Meiste, was berechtigtermaßen zur heutigen psychologischen Wissenschaft gehört, liegt hier im weitesten Randabschnitt. Diese Einordnung mindert nicht seinen nach den allgemeinen Forschungszielen zu bemessenden Wert. Sie läßt aber folgern, daß die vorbehaltlose Gleichsetzung von Stoffen ohne Rücksicht darauf, ob diese zentraler oder peripherer einzugliedern wären, wo immer wir sie antreffen, zu Verzeichnungen und Mißverständnissen führen muß. Um näher zu schildern, welchen seelischen Kräften wir als guten und anspornenden Begleitern das Wort reden, und welchen Maßnahmen andererseits, die den Lauf in der richtigen Bahn sichern sollen, sei an die Unruhe und Aufgeschlossenheit des Menschen während des Kunstgenusses und an das prüfende, wachäugige Verhalten des Arztes bei der Krankenheilung erinnert. Wir bedürfen zur gedanklichen Erfassung seelischen Gutes jener bewegten Weite wie andererseits der sicheren Verankerung unserer Wahrnehmungen und Ideenreihen im Bereich des verantwortlich Kontrollierbaren. Im Altertum hätte die Seelenforschung Dionysos und Apoll – daneben vielleicht auch Aesculap – Weihopfer dargebracht. Wenn nicht beide ihr Gevatter gestanden haben, verliert sie die Auffassungsgabe für die [4 | 5]
Dimension des Raumes, in dem sie Umschau hält, oder aber die Maßbegriffe für die Anwendungsrechte ihres Werkzeugs. Ein Stoff, der unserer Untersuchung fast entgegenfällt, wenn wir die zu weite Entfernung ebenso meiden wollen wie die Enge eines beliebigen Ausschnitts, ist der Traum. Er ist dem kunstverbundenen Menschen kein fremdes Gebiet, dazu gibt es hin und her zuviel Brücken und Kanäle. Dem Arzt ist er von seiner Seite her ein vielbeschrittenes Gelände. Dem Träumer selber – und das trifft uns alle – mag er ungangbar, eine Landschaft voller Irr- und Abwege, erscheinen. Wir sind alle im Innern unserer Seele an die Kunst, und wir sind alle an den ewigen Schatz der Heiltaten gebunden. Traum, Märchen, Mythen, Kunstwerk, ... sie sind unsere ständigen Schöpfungen, notwendige, unerläßliche Leistungen, mit denen die Seele einen Teil ihrer Aufgaben, Wünsche und Nöte bewältigt. Trotzdem ist es dem bewußten Wissen der meisten Menschen unserer Zeit unvorstellbar, welche Regungen unaufhörlich bei der Hervorbringung dieser Gebilde in ihrem Innern wirken. Vielen mag ein dunkles Verständnis dafür eigen sein. Zwischen dem, was die Wissenschaft unserer Tage ins Licht gerückt hat, und dem als Allgemeingut davon übernommenen Begriff besteht eine Kluft von erstaunlicher Breite. Nehmen wir Träume, so wie sie uns in guten Niederschriften zur Verfügung stehn, und nähern wir uns dem Verständnis ihres Inhalts möglichst unbefangen. Wir werden manchmal des wissenschaftlichen Rüstzeugs nicht entbehren können und sichergestellte Funde an geeigneter Stelle zu erwähnen haben, um das Tor nicht zuzulassen, wo ein bereits fertiger Schlüssel es bequem zu öffnen erlaubt. Die eigentliche Aufgabe der kleinen Abhandlung sei jedoch, die Welt des Traumes, ihren lebensgesetzlichen Raum, im Großen abzustecken, sodaß der Leser aus der Darstellung einige, wenn auch nicht unbedingt endgültige Stützpunkte für die eigene Orientierung erhält. 2. In einer soeben erscheinenden Arbeit über das Märchen* beschäftigt sich Bruno Jockei mit einigen Träumen, die auffällige Uebereinstimmungen mit Märchen aufweisen. Von diesen sind mehrere einer * Bruno Jöckel „Der Weg zum Märchen” Dion-Verlag Berlin Steglitz 1939 [5 | 6]
Veröffentlichung von Hilde Doepp* entnommen, die neben Bildern von Tanzgebärden Traumaufzeichnungen enthält. Ich gebe nachfolgend einen dieser Träume wieder und stelle ihn einem zweiten gegenüber, der aus dem Traumbuch einer anderen Verfasserin** stammt. 1) Ich bin abends auf der Straße. Allein. In einem dunklen winkligen Stadtviertel, dessen Straßen mir seltsam fremd und öde erscheinen, obwohl sie mir seit langem bekannt sind. Mehrmals werde ich von Männern angesprochen, die mich mitnehmen wollen, denen ich mich aber immer wieder zu entwinden weiß. Plötzlich tritt ein Mann auf mich zu, der äußerlich kaum nennenwert vom Gewöhnlichen abweicht, dessen Anblick mich aber trotzdem in besonderer Weise erregt und erschreckt und mir das ängstliche Gefühl auferlegt, daß ich ihm ohne jede Hoffnung auf Rettung oder Widerstand folgen muß. Der Fremde faßt mich wortlos bei der Hand und zieht mich durch einen Torweg in den finsteren Hof eines anscheinend unbewohnten Gebäudekomplexes. Ich habe den Eindruck, daß hier bei Tage ziemlich lebhafter Geschäftsverkehr sein wird. Jetzt ist alles leer und dunkel. Durch eine offene Tür gelangen wir in ein unangenehm hohes Treppenhaus und gehen Stufe um Stufe an vielen Stockwerken vorbei, bis wir uns vor dem Eingang der letzten Dachetage befinden. Ich vermute dahinter die ganze Summe von Grauenhaftem, vor dem ich mich schon auf der Straße – und wie ich jetzt glaube, überhaupt so lange ich denken kann – gefürchtet habe. Einen Augenblick lang habe ich trotzdem stärker als zuvor die Hoffnung, daß meine Angst unbegründet ist, wobei ich mich der Zuversicht hingebe, daß ich den Mann durch entsprechendes Zureden dazu bringen werde, mich wieder herauszulassen. Ohne daß auch jetzt von einem von uns ein Wort gesprochen wird, schließt mein Begleiter die Tür auf und schiebt mich mit sich zugleich in einen kleinen dunklen Raum, in dem ich nun endgültig und unwiderruflich an ihn ausgeliefert zu sein scheine. Das Merkwürdige ist, daß mir alles so selbstverständlich erscheint, daß ich garnicht den Versuch mache, irgendwelchen Widerstand zu leisten. Der Mann öffnet jetzt die Tür zu einem Zimmer, das offenbar der eigentliche Wohnraum ist. Schon während er sie aufstößt, sehe ich zwei weibliche Gestalten in eigentümlicher Bewegungslosigkeit, die eine auf einem altmodischen Sofa hinter dem Tisch, die andere daneben auf einem hart an die Wand gerückten Stuhl sitzen. Hinter der offen gelassenen Tür brennt, wie ich jetzt feststelle, ein Weihnachtsbaum. Beim ersten Anblick berühren mich diese Eindrücke nicht unbedingt erschreckend. Ich verspreche mir von der Gegenwart der beiden * Hilde Doepp „Träume und Masken” Dion-Verlag Dessau 1926 ** Paula Ludwig „Traumlandschaft” L. Staackmann Verlag Leipzig 1935 [6 | 7]
Mädchen zumindest die Möglichkeit einer zu irgendwelchen Erklärungen führenden Unterhaltung. Schon das gespenstische Bild des mit zahlreichen Lichtern brennenden Baumes nimmt mir allerdings einen Teil meiner Hoffnungen, denn ich erkenne mit dem Gefühl einer unbeschreiblich sich steigernden Lähmung, daß diese Kerzen brennen, ohne verzehrt zu werden, und daran knüpft sich unwillkürlich die Vorstellung, daß die gleiche starre Leblosigkeit auch den beiden Frauen anhängt. Ich stürze auf sie zu und befühle sie mit den Händen. Es ist, als wenn ich Gebilde berührte, die nur noch ihrer äußeren Erscheinung nach Menschen sind, deren eigentliches Leben aber erloschen oder durch irgendeinen Zauber in etwas Anderes umgewandelt ist. Es ist mir klar, daß dieses alles von dem Fremden ausgeht, und daß es in seiner Macht steht, seine Opfer nach Belieben auch wieder aufleben zu lassen. Das Angstgefühl, das mich überwältigt, bringt mich selbst bereits an die Grenze einer ähnlichen Erstarrung. Dem Mann genügt es vorläufig, sich an meiner Verzweiflung zu weiden. Er steht ruhig da und beobachtet, wie ich mich vergeblich bemühe, die anderen zu einer Aeußerung zu bringen. Mit derselben lässigen Ruhe kommt er dann auf mich zu und versucht, mich auf das Sofa zu drängen, wobei er vermeidet mich anzufassen. Als ich ihm ausweiche, läßt er mich zum Fenster treten, offenbar überzeugt, daß an Flucht nicht zu denken ist. Ich sehe aus schwindelnder Höhe hinunter und erkenne unten in mattem Laternenlicht den Marktplatz meiner Heimatstadt. Das Fenster ist offen. Ich zwänge mich mit steifen, zitternden Gliedern in seinen Rahmen. In dem Augenblick, als ich mich schon in die schräge Linie des Falles hereingleiten fühle, hat mich der Fremde an den Fußgelenken umklammert und zieht mich mit überlegenem Hohn in den schaurigen Bann des Zimmers zurück. 2) Ich wurde von einem sonderbaren Summen aufgeweckt. Ich hielt es für das Summen von Insekten, als ich mich aber umwandte, da saßen neben mir auf einem Teppich unzählige Frauen, die unablässig ein und dieselbe Melodie summten; dazu wiegten sie sich in den Hüften, und am auffälligsten war, daß sie alle ihre Augen starr zu Boden gesenkt hielten. Ich wußte: es sind Gefangene, und auch ich bin eine Gefangene. Ich betrachtete unser Gefängnis; es war ein großer Saal, und es war hell darin wie am hellsten Tag. Doch wie ich auch suchte, ich konnte weder Fenster noch Lampen entdecken. Ich überlege: dass diese Wände wohl aus jenem berühmten Stein bestehen müssen, von dem man sagt, daß er aus eigener Kraft leuchte. Mitten im Licht aber schritt der Fürst, der uns gefangen hielt: in seiner Rechten schwingt er ein Zepter über den geduckten Köpfen der Frauen. [7 | 8]
Jetzt weiß ich auch, was das sonderbare Summen bedeutet. Aber zu spät kam die Warnung: ich habe den Fürsten bereits gesehen und muß nun auf jede Gefahr hin unwiderstehlich zu ihm hinüberblicken! Zu schön ist sein Anzug, ist die Farbe, die Form, der Faltenwurf seines Gewandes! Die Blumen in dem seidenen Ueberrock, die Zeichnung in den Säumen, der Gürtel um die Leibesmitte, in dem die Linien zusammenfließen wie die Strahlen zur Sonnenmitte. Der Fürst schreitet: da rauschen die Blumen in der starren Seide, und die roten Ornamente tanzen wie Flammen um seine Knie! Nie vorher sah ich eine so wunderbare Einheit von Gewand und Gesicht: angefangen vom untersten Saume bis zum Ansatz des Haares, ja, sogar die Edelsteine in der Spange des Gürtels harmonieren in Schnitt und Farbe mit Mund und Augen. Einem vollkommenen Kunstwerk gleicht die Erscheinung des Fürsten! Seltsamerweise aber durchdrang mich bei seinem Anblick eine unerklärliche Traurigkeit: je länger ich hinblickte, umso trauriger wurde ich, und doch war es mir unmöglich, meine Augen abzuwenden. Plötzlich kam der Fürst auf mich zu und sagte drohend: „Du liebst mich – da ich so böse bin!” Zugleich verstummten die Frauen und starrten aus der Entfernung, in die sie gerückt waren, entsetzt zu uns herüber. Ich wußte: etwas Schreckliches steht mir bevor – aber mein Herz war durch die große Traurigkeit, die es ganz erfüllte, so zu jedem Tode bereit, daß ich furchtlos meine Blicke weiter auf den Fürsten, ja, in seine Augen zu richten wagte. Da erzitterte seine Gestalt, eine jähe Erschütterung, ein wilder Schmerz zerriß seine Züge, er wankte, er kniete zu mir: er umarmte mich und weinte laut ... Oh wie umfing ich da sein Haupt mit beiden Händen, wie wiegte ich es beruhigend über meinem Schooße hin und her. Langsam wich der Schmerz aus seinen Zügen, und wie aus tiefstem Innern emporsteigend erschien ein wunderbares Licht in seinem Antlitz, das Licht und Lächeln zugleich war ... Da ich aber – ganz versunken und selig über dieses Lächeln – zu ihm mich neigte – da geschah es, daß meine Finger zufällig eine Stelle an seiner Schläfe berührten: diese Stelle gibt plötzlich nach, wie der Knopf eines geheimen Mechanismus nachgibt, und ich halte statt des Fürsten eine leere Hülle in den Armen: eine flache, bemalte Larve statt des Gesichtes und statt des Körpers die eingesunkenen Gewänder. Da begreife ich: er ist ein Zauberer und wird eine Möglichkeit finden, in seine Gestalt zurückzukehren, niemals aber wird er mir verzeihen, daß ich sein Geheimnis entdeckt, daß ich seine Maske und seine leeren Gewänder in den Armen gehalten habe! Kaum hatte ich dies gedacht, da stand er bereits wieder vor mir in seiner alten vollkommenen Gestalt. Doch schrecklich ist der Ausdruck seines Gesichts! Er fragt [8 | 9]
mich nur: „Willst Du ein kriechendes oder ein fliegendes Tier werden?” Ich überlege: das Verderben ist mir gewiß, so will ich lieber ein fliegendes werden. Laut sage ich: „Ein fliegendes!” Da bin ich ein weißer Schmetterling. Durch einen Spalt, den ich in der Decke finde, fliege ich in den Tag hinaus. Ich bemerkte aber gleich, daß mir zwei summende Insektenweibchen folgten. Sie haben schmale, blitzende Flügel und auffallend hübsche Frauengesichter. Noch auffälliger sind die langen goldenen Fühler, mit denen sie sich geschmückt haben: sie erinnern an lange, glänzende Speere. Schmeichelnd umschwärmen sie mich, aber plötzlich spüre ich, wie einer dieser Fühler sich in meinen Kopf bohrt und Gift hineintropft, das mir einen tiefen, stechenden Schmerz verursacht. Ich bin so traurig, daß ich sterben muß, und ich schaue hinab auf die Welt unter mir: da ist das Ufer eines Flusses, und viele fröhliche Menschen baden in der Sonne. Ich denke: vielleicht gelingt es mir, mich in dieser Menge vor den Augen meiner Verfolgerinnen zu verbergen. Ich ließ mich nieder in den feuchten Sand und rieb meinen schmerzenden Kopf in der wohltuenden Kühle. Als ich mich wieder erhob, konnte ich tatsächlich meine Feindinnen nicht mehr erblicken. Sollte ich wirklich gerettet sein? Mit neuer Hoffnung beeilte ich mich nun, die nächste Stadt zu erreichen, denn mich quälte ganz plötzlich ein heftiger Hunger. Es war eine sehr alte Stadt, in die ich geflogen kam: mit vielen Türmen und schmalen, winkligen Gassen. Auf den Plätzen aber war ein breites Gelage von schmausenden und saufenden Leuten. Ich beobachte, wo sie ihre Speisen herhaben, und sehe ein Wirtshaus: durch die Schanköffnung reicht eine Magd Riesenstücke von Fleisch und Brot. Zu dieser Schanköffnung taumle ich mit erschöpften Flügelschlägen und bitte die Magd um ein wenig Nahrung. Sie schiebt mir auch gleich ein Stück zu, das ist aber so groß, daß ich garnicht an das Stück herankommen kann. Ich bitte die Magd um ein kleineres, sehr kleines Stückchen. Aber das kleinste Stückchen, das die Magd hat, ist immer noch zu groß für mich! Nun weiß ich: ich muß verhungern. Und doch denke ich in meinem elenden Zustand noch immer an das wunderbare Lächeln des schönen Fürsten ... Das Uebereinstimmende an diesen beiden Träumen ist das Grundgerüst ihres Inhalts: Die Träumerin ist beidemal dem Manne unentrinnbar ausgeliefert. Sie teilt dieses Geschick mit anderen in der Gewalt des Mächtigen verharrenden Frauen. Endlich ist das Erlebnis mit ihm unheimlich, angstvoll und verderbenbringend. [9 | 10]
Die Ausgestaltung im Einzelnen weist sehr erhebliche Unterschiede auf. Der erste Traum spielt sich in der düsteren Atmosphäre einer abendlich öden Großstadtgegenwart ab. Der zweite hat die farbenprächtige Palastwelt orientalischer Märchen nachgebildet. Der innere Vorgang ist jedoch derselbe. Der Traum hat das Thema Liebe hier wie dort in einer Sicht dargestellt, die das schicksalhaft Elementare eines unwiderstehlichen Verfallenseins in einen lebensvernichtenden Abschluß ausmünden läßt. Die Liebe wird als dämonisches Geschehen erlebt. Sie hat die Plötzlichkeit, die jähe Vollständigkeit und Schonungslosigkeit des Zaubers. Dabei erhält der Mann Züge des Verbrecherischen, Bösen, Allmächtigen, die die Anziehungskraft, die er ausübt, nicht mindern. Die Träumerin ihrerseits ist sein Opfer, das zwischen Hingabebereitschaft und aussichtslosen Fluchtimpulsen hin- und herschwankt. Im zweiten Traum scheint ihr vorübergehend die Aufgabe zuzufallen, den Mann aus seiner dämonischen Sphäre herauszuziehen. Dies scheitert jedoch, und so erwartet die zweite Träumerin wie die erste in ihrer Ankettung an den grausamen Partner die unabwendbare Zerstörung. Diese wird im ersten Traum nicht mehr geschildert. Im zweiten spielt sie sich im Rahmen einer Zauberwirkung ab, die eine Verwandlung herbeigeführt hat. Wir lassen die beiden Träume nach dieser groben Zusammenfassung vorläufig hinter uns und wenden uns vier weiteren Träumen aus denselben Quellen zu. Paula Ludwig, unsere zweite Autorin, hat ihr kleines Werk „Traumlandschaft” betitelt und den einzelnen Träumen Ueberschriften verliehen. Der soeben behandelte, trägt bei ihr die Bezeichnung „Der schöne Fürst”, der jetzt folgende ist „Das Floß” benannt. 3) Wir sind in einem Gebirgsdorf, und unsere Knaben sind in die Schneeberge hinaufgestiegen. Gegen Mittag kehren sie heim, aber ich merke gleich, daß etwas geschehen ist. Sie rufen mir zu: „Wir haben Deinen Sohn nicht mehr bei uns!” Alle Menschen des Dorfes gehen mit mir auf die Suche. Tausende sind schon auf den Hügeln. Da komme ich an eine Steinplatte, sie öffnet sich vor mir, und mein Sohn steigt hervor mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht. Ich taste ihn ab, ob er nicht verletzt sei – er aber wehrt sich dagegen und sagt: „Ich bin es nicht mehr. Der Neue kommt auf einem Floß den Strom herabgefahren. Ich will ihn dir retten helfen” Gemeinsam eilen wir ans Ufer, tausend Menschen schauen von den Hügeln zu: da kommt inmitten des Stromes ein Floß geschwommen, darauf liegt schlafend mein Sohn. [10 | 11]
Aus den Doeppschen Aufzeichnungen entnehmen wir dazu folgende Parallele: 4) Ich stehe an einem breiten reißenden Fluß. Es soll eigentlich eine angenehme Landschaft sein. Ich glaube, man soll baden. Aber das Wasser ist unheimlich, obwohl es besonders hell, farbig und sauber ist. Plötzlich schreit jemand, „es kommt ein Boot”. Gleichzeitig sehen wir es auch schon einen Wasserfall herunterstürzen und erkennen mit demselben Blick, daß es kein Boot ist, sondern ein ineinander verschlungenes Menschenpaar. Die beiden Gestalten heben sich deutlich voneinander ab. Beide leben noch. Das Mädchen versucht, dem schon schwächeren Mann den Kopf über Wasser zu halten. Es sind zwei sympathische junge Leute, Wandervögel. Ich laufe ins Haus – es ist ein Amtshaus in der Nähe – und schreie die Beamten an, daß man telefonieren soll, um die Gefährdeten an einem unterhalb gelegenen Wehr aufzufangen und zu retten. Die Aufregung ist groß. Wie ich unklar erwartet habe, bedeutet die Nachricht in dem Haus jedoch nichts Außergewöhnliches. Ich eile zurück. Am Ufer ist inzwischen wirres Hin und Her entstanden. Ich bemerke aber zu meiner Freude einen langen Schleppzug, der sich durch die Wellen heranarbeitet, gleich darauf schon anlegt und die Ertrinkenden gerettet hat. Die beiden jetzt einzeln, in weiße Laken gehüllt. Sie werden ins Haus gebracht, das nun ein Krankenhaus ist. Wir wissen, daß sie kaum noch leben und in wenigen Stunden sterben werden. Während man sie hereinträgt, bringen die Schwestern einen Toten heraus, der nun auf den Schleppdampfer soll, um von dort in die Wellen geworfen zu werden. Wir erfahren, daß die beiden arme Wandervögel waren, die auf einer Wanderung durch die Welt den Strom durchqueren wollten und verunglückten. Auch diese beiden Träume handeln von einer Gefährdung des Lebens. Nur ist es diesmal nicht die Träumerin selbst, die dem Tode ausgeliefert ist sondern in der einen Fassung der Sohn der Träumerin, in der anderen ein jugendliches Paar. Der Träumerin ist eine jenem Ereignis entgegenwirkende Funktion zugefallen. Sie steht in beiden Träumen im Mittelpunkt der Rettungsaktion. Wir bemerken, daß diese nur im ersten Traum von der Umwelt unterstützt wird. In der zweiten Fassung ist man der Gefühlsaufwallung der Träumerin gegenüber zugeknöpft und wertet das Ereignis als etwas Unabänderliches und garnicht Ungewöhnliches. In beiden Fassungen begegnet uns das Motiv eines An-die-Stelle-einesAndern-Tretens, eines Austausches. In 3 wird der verschwundene Sohn durch den „Neuen” ersetzt. In 4 hat offenbar die Hereinbringung des Toten ins Wasser den Sinn eines Austausches mit den zunächst einmal geborgenen Jungen. Wir übergehen auch diesmal alle weiteren Erörterungen, die erst sehr viel später folgen sollen, und widmen uns den beiden nächsten [11 | 12]
Stoffen, um diese allerdings gleich etwas ausführlicher zu behandeln. Der Traum von Paula Ludwig, den wir zuerst wiedergeben, hat von ihr die Ueberschrift „Die Gefährten” erhalten. 5) Ich bin ein Jäger und trage ein grünes Kleid. Ich gehe durch einen Winterwald und suche meine Gefährten, die ich verloren habe. Da sehe ich unter einem Dornenstrauch das abgeschlagene Häuptlein eines Mädchens liegen. Rotbraune Haare umrahmen es, ein bißchen Schnee liegt auf dem offenen Mäulchen. Ich nehme das zarte Haupt auf meinen Arm und schreite mit ihm weiter durch den weißen Wald, spähend, ob ich nirgends den Leib des Mädchens fände – aber ich finde ihn nicht Endlich treffe ich vier meiner Gefährten, und gemeinsam mit ihnen suche ich weiter nach den übrigen noch fehlenden Freunden. Wir gehen immerzu, bis wir vor die Mauern einer Stadt kommen. Da stürzt plötzlich Schnee vom blauen Himmel und bedeckt unsere grünen Mäntel, bis sie weiß werden. In den weißen Mänteln treten wir durch das Tor der Stadt. Kein Wind regt sich, es ist weder kalt noch warm, und der Schnee knirscht nicht unter unsern Schritten. Auf einmal fällt vor unsere Füße ein Strohhalm in den Schnee. Freudig blicken wir uns an: erkennend, daß noch Leben in der Stadt sein müsse. Wir wehren uns gegen die Stille und rufen mit lauter Stimme: „Wo seid ihr, Freunde – sagt uns – wo seid ihr hingegangen ...?” Da fliegt ein Vogel vorüber, der baut sein Nest in dem starren Efeu. Aber niemand antwortet uns. Der entsprechende Traum in der Doeppschen Fassung ist etwas länger. 6) Ich stehe in der Landschaft. Es ist eine unheimliche Gegend, hauptsächlich deshalb, weil es ein Grenzgebiet ist. Daß es Grenze ist, ist wichtig. Felsen und ein öder kalter See. Auf der einen Seite ich mit einem Begleiter. Wer das ist, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht Du*. Auf der andern hoch auf den Felsen drei Menschen. Zwei Männer, elegante Jäger, und eine ungewöhnlich schöne Frau * Die Verfasser der Traumaufzeichnungen – auch Friedrich Huch, aus dessen Büchlein „Träume” wir späterhin ausgiebig schöpfen werden – unterstreichen nachdrücklich, daß sie bei der Niederschrift streng ohne jede Entstellung des Erinnerungsgehaltes verfahren sind und nichts wieder verändert haben. Das hier mehrfach vertretene „Du” erklärt sich aus der genauen Einhaltung dieser selbstgestellten Vorschrift. Die Träume des Doeppschen Bändchens waren, wie das Vorwort bekannt gibt, zuerst im Rahmen eines Briefwechsels mitgeteilt worden, der das Du verständlich macht, und sind dann absichtlich in der Textform dieser ursprünglichen Fassung belassen worden. [12 | 13]
von einer mir durchaus unsympathischen Schönheit. Diese Frau glücklich, gut gestellt, zufrieden. Alle drei: beneidenswert, mit Schlössern und großen Besitzungen begütert. Die Frau strahlend lebensfroh. Ich habe das Gefühl, sie ist eine Südländerin, vielleicht auch aus dem Osten: schwarz, lebhaft, eng mit den beiden Männern verbunden. Der eine der beiden Männer – dies ist der Höhepunkt strahlender Freude und Erregung auf der andern Seite – legt jetzt an und schießt einen Hirsch. Die Frau, im Ausdruck ihres Glücksgefühles noch gesteigerter als bisher, sieht zu ihm hin. Ich fühle, es ist irgendeine Spannung da. In diesem Augenblick zielt mein Begleiter: Die Frau fällt ohne Laut in sich zusammen und schlägt über die Felsabhänge in den See. Ich schwanke zwischen Entsetzen, Freude und Stolz. Es ist selbstverständlich, daß sie jetzt uns gehört, da sie über die Grenze gefallen ist und auf unserm Gebiet liegt. Es macht sich auch sogleich von unserer Seite ein Jägergehilfe mit dem Boot auf und holt sie ans Ufer. Gleich darauf ist alles verändert. Die tote Frau ist in ein Asyl gebracht, das uns gehört und liegt dort mit andern Leichen zusammen in einer besonderen Kammer. Ich habe den Kopf der Frau in meiner Tasche, bewahre ihn ängstlich und weiß, daß ich ihn unbedingt loswerden muß. Ich spreche deshalb mit dem Pförtner, möchte in jene Kammern geführt werden, muß aber verheimlichen, was ich da vorhabe. Plötzlich sehe ich Dich auf einer dunklen Treppe, die auf halber Höhe durch eine Tür führt. Will Dich sprechen. Du gibst mir zu verstehen, daß Du keine Zeit hast. Da ich trotzdem nicht locker lasse, rufst Du mich höher hinauf, weil uns dort niemand sehen kann. Eine Zeitlang ist alles beängstigend unwirklich. Kurz darauf sind wir irgendwo auf der Straße. Ich trage immer noch den Kopf mit mir herum. Plötzlich sehen wir neben uns auf einer Straßenbahn die drei Menschen wieder. In den beiden Männern erkenne ich zu meiner Überraschung nähere Bekannte. Die Frau steht aufrecht neben ihnen. Ich weiß, daß sie tot ist, und wundere mich, daß die Beiden es nicht merken. Bei genauerem Hinsehen glaube ich wahrzunehmen, daß es nur eine ihr nachgebildete Wachspuppe ist. In ihrem Gesicht steht starr das strahlende Lachen, das die Tote im Höhepunkt triumphierender Freude zur Schau trug. Ich begreife jetzt, daß sie sterben mußte, weil dieser Ausdruck ihres Glücks zu rücksichtslos und offen war. Trotzdem werde ich nicht eines Ungewissen Entsetzens Herr, das an der Wirklichkeit ihres Todes zweifelt. Ich starre die unheimliche Gruppe an und erwarte mit der Angst des schuldgehetzten Verbrechers, daß die Maske plötzlich fällt und aus der wächsernen Leblosigkeit das alte Leben hervortritt, das sie mit ihren Begleitern verbindet. Die beiden ersten Träume waren von Angst um die eigene Vernichtung beherrscht. Das zweite Traumpaar ließ uns an der angstvollen Sorge [13 | 14]
um die Katastrophe der Schützlinge teilnehmen. Was wir nun miterlebt haben, scheint dieser Regungen hingegen zu entraten. Es kommt uns etwas ganz Anderes zu Gesicht, das die härtere Vorstellungswelt des Traumes 6 allerdings unmißverständlicher enthüllt als die weicher verkleidende Art der Ludwigschen Gestaltung. Der Tod ist hier – im Gegensatz zum Früheren – nicht das drohende Verhängnis, das die Träumerin an sich selbst oder den von ihr mit heftiger Gemütsbeteiligung Betreuten erleiden muß. Sie nimmt vielmehr als Jäger oder Jagdgefährtin die Rolle der Todesvermittlerin ein. Das Opfer ist ein fremdes, gleichgültiges oder – in der Doeppschen Fassung – ein wegen seines Glücks- und Herrschaftsgefühls beneidetes und gehaßtes Wesen. An die Stelle des impulsiven Mitgefühls und Rettungsdranges ist daher begreiflicherweise eine kühle, unbeteiligte – in 6 vorübergehend eine triumphierende – Einstellung getreten, die im weiteren Verlauf von Vergeltungsangst überwuchert wird. In Traum 5 ist der Vorgang so erheblich gemildert, daß er ohne den Vergleich mit 6 gewiß nicht für jeden Leser kenntlich würde. Es ist hier weder ausgesprochen, daß die Enthauptung unmittelbar mit dem Jagen zusammenhängt, noch gibt der Traum in Worten zu verstehen, daß die Träumerin sich einer Schuld bewußt ist und Vergeltung erwartet. Die Umwandlung des grünen Jägerkleides in das weiße Gewand der Unschuld und das beklommene Tasten nach jedem noch so bescheidenen Zeichen des Lebens in der ausgestorben wirkenden Stadt am Schluß sprechen das Ungesagte jedoch in bildlicher Sprache deutlich genug aus. Es ist unseren Träumen eigen, so zu verfahren. Das indirekt und bildlich Eingestandene weicht oft vollinhaltlich vom Uebrigen ab, muß aber immer als das Wichtigere, Echtere betrachtet werden. Die Ausdrucksform des Traumes leistet sich, wie jeder Bewanderte weiß, außerdem ganz allgemein Erstaunliches an Verkehrungen, Umstellungen, Andeutungen und Ueberdeckungen. Wir werden uns mehrfach ausführlich damit zu beschäftigen haben. Die größere Offenheit der Doeppschen Fassung lädt uns zunächst zu einem Einblick in die Beweggründe und den Ablauf des Geschehens, wie wir sie hier verzeichnet finden, ein. Wir behalten dabei weiter auch Fühlung mit Traum 5. In beiden Darstellungen handelt es sich, das ist unser oberster Gesichtspunkt, um ein Jagdabenteuer. Traum 6 gibt dem damit festgelegten Umriß eine besondere Färbung durch die stark unterstrichene Bemerkung, daß der Schauplatz ein Grenzgebiet war. Die entsprechende eigene Note des Ludwigschen Traumes liegt in der Winterlichkeit der Landschaft, von der hier die Rede ist. Winter und Grenzland [14 | 15]
haben nun ja eins gemein: die inbegriffene Todesnähe, den Todesschatten, der ihnen anhängt. Ist doch das Grenzgebiet ein Bereich der Gewaltsamkeiten, in welchem nicht allein die Absicht, Wild zu erlegen, sondern auch der Kugelwechsel mit dem Grenznachbarn der Flinte zu tun geben kann. Der Winter aber gilt als ein Töter und Würger schlechthin, der die Flora größtenteils vernichtet oder in Schlaf versenkt und für Mensch und Tier draußen harte, oft kaum erträgliche Lebensbedingungen mitbringt. Hören wir nun in 6 bei der Schilderung der jenseits der Grenze erblickten Frau, diese sei von einer zwar vollendeten, aber unsympathischen, fremdländisch anmutenden Schönheit, so muß uns dies als äußerst belangvoll für den Zusammenhang des Ganzen erscheinen. Ist diese Frau nämlich Verkörperung des Fremden, der Lebenssphäre jenseits der Grenze, so erhält für uns die spätere Aeußerung der Träumerin einen Sinn, daß sie sterben mußte, „weil der Ausdruck ihres Glücks zu rücksichtslos und offen war”. Glücksäußerungen sagen uns, daß der Mitmensch eine Hochstimmung durchmacht, daß er mit sich und seiner Lage momentan in vollem Einvernehmen steht und daß er diese Verfassung daher aus gutem Grunde aufrechtzuerhalten wünscht. In die Glücksäußerung ist durch diesen selbstverständlichen Anspruch deshalb tatsächlich der Faktor „Rücksichtslosigkeit” – in jeweils verschieden fühlbarem Grade – mit eingeschlossen. Dadurch wohnt ihr nun unter Umständen geradezu etwas Verletzendes inne. Ist der im Glücksgenuß befindliche Mitmensch ein Mensch wie ich und Du, so wird dies allerdings durch die Möglichkeit der inneren Beteiligung auf dem Wege der Einfühlung und Identifizierung wieder wettgemacht, und der Ausdruck des Glückes kann dann etwas Mitreißendes haben. Liegt es dagegen so wie hier, wo jeder Zug den Stempel des Fremdländischen und Unsympathischen trägt, so ist das Gegenteil bewirkt. Die zur Schau getragene Hochspannung der Gefühle und wie sie so auch die übrigen Attribute höchsten Wohlstandes rufen den Eindruck des Unerträglichen hervor. Der Zuschauer fühlt sich nicht nur verletzt, unberücksichtigt und übergangen; er kommt zu dem dunklen Begriff einer Benachteiligung zugunsten der Welt dort drüben. Sie muß ihm als eine Bedrängung des eigenen Lebensraumes, der eigenen expansiven Regungen, die gerade durch den Anblick wachgerufen werden, erscheinen. Jene Welt ruft somit nicht nur eine neidische Einstellung sondern die stärkere Macht des Hasses und der Feindseligkeit in ihm wach. So gesehen wird die Zuspitzung des jägerischen Elements in den Affekt zur Tötung eines Mitmenschen nun für uns zu einem bruchlos weitergetriebenen Ablauf, dessen Grundmotiv wir in der Tendenz zur [15 | 16]
Behauptung eigenen Wesens und eigener Lebensart erblicken müssen. In Urzeiten hat der Mensch den gefährlichen Widerpart gegen sein eigenes Fußfassen und Entfalten auf der Scholle in der Tierwelt erlebt. Seinen Kampf mit ihr, dessen Abkömmling ihrem tieferen Sinne nach die Jagd immer noch ist, hat er siegreich bestanden. Aber damit ist die alte Unruhe um die Selbstbehauptung nicht etwa geschwunden. Der Kampf mit dem andersgearteten Nachbarn, der Streit der Stämme und Völker, ist an die Stelle des großen Urzeitthemas getreten. Er ist, in diese Beleuchtung gerückt, dessen neuzeitliche Fortsetzung. Wird die Tötung der fremden Frau in unserem Traum im Rahmen der Jagd vollzogen, so bekennt sich die Träumende damit, um es mit einem schönen Wort aus der Einleitung des Ludwigschen Buches zu sagen, tiefer, als wir es in unseren bewußten Vorstellungskreisen tun, zum Erbe der alten Erde. Dies ist Traumes Art. Er läßt, wir werden das immer wieder beobachten können, die Einzeichnungen, die das menschliche Seelische im Laufe seiner Entwicklung aus Affekten und Wahrnehmungen der Frühzeit mitgebracht hat, und die dem Bewußtsein fernliegen, in seinen Begebenheiten mit anklingen und verleiht ihnen in seinen flüchtigen Bildern zur Ueberraschung der heutigen Welt wieder Leben und Gestalt. Wir brauchen es nicht als Widerspruch hierzu zu empfinden, daß trotz solcher Einswerdung mit Regungen aus urzeitlichen Schichten doch im Traume selbst Angst vor einem strafenden und sühnenden Ausgang des Abenteuers fühlbar wird. Die Tötung eines menschlichen Geschöpfes ist für die Träger unserer heutigen Gesittung, die wir alle sind, ein ungeheuerliches Tun, und diese Auffassung wurzelt, wie sich gerade an Hand von Tötungsträumen zeigen läßt, bereits im tieferen Gefüge unseres Seelischen. Sie kann nur durch besondere Verhältnisse, wie Notwehr oder Krieg sie schaffen, oder durch Zerstörung dieses Gefüges aufgewogen oder ausgeschaltet werden. Da die beiden Träume von Frauen geträumt wurden, denen ihrer Natur nach die männliche Art der Verknüpfung mit der Waffe als Eroberungsoder Verteidigungswerkzeug fehlt, ist es umso selbstverständlicher, daß die Bejahung der affektiv bedingten Tat sich nicht aufrechterhalten kann. Ganz abgesehen davon, ist aber auch daran zu erinnern, daß bereits in der Seele des Primitiven als Vorform der späteren Schuld- und Sühnegefühle Vergeltungsangst herrscht. Sie besteht im Allgemeinen in der Erwartung, daß der Getötete als Geist wiederkehrt und Rache nimmt. Das Verhalten der beiden „Jägerinnen” verrät uns, daß sie am Schluß des Traumes von eben diesen Befürchtungen heimgesucht werden. Was sie hier beseelt, ist Gespensterangst. In Traum 5 kommt sie in der Stadt ohne Leben zum Ausdruck, in [16 | 17]
der die Gefährten sich gegen die Stille wehren. „Stille”, die Gegenwart ohne Leben, ist seit altersher der Sitz der Geister, die sich im Leblosen verborgen halten. In 6 fällt der Begegnung mit der unheimlichen Gruppe, in deren Mitte sich die der Toten nachgebildete Wachspuppe befindet, die gleiche Bedeutung zu. Traum 5 ließe sich, wir sagten es schon, aus seinen Figuren und ihren äußeren Beziehungen zueinander weit weniger leicht durchschauen. Zum Vorgang ist zu sagen, daß im Traume oft eine als bereits vollzogen geschilderte Tat als Tat des Träumers gedeutet werden muß. Dies ist meist einfühlbarer als die Ersetzung einer Person durch eine ganz andre. Der Leser wird denn auch Mißbehagen empfinden, wenn wir ihm eingestehen, daß wir in dem enthaupteten kleinen Mädchen den Inbegriff Desselben erblicken, das drüben in der Gestalt der schönen, begüterten und glücklichen Fremdländerin zum Ausdruck gebracht wurde. An die Stelle der beneideten, kraftvollen Gegnerin wäre dann ja, so hören wir seinen Einwand lauten, in dem hilflosen, im Winterwald verlassenen, armen Ding das schiere, garnicht krasser mögliche Gegenteil getreten. Kennern der Traumpsychologie ist der Vorgang der Vertauschung einer gemeinten Vorstellung mit einer mehr oder weniger beliebigen andern als eine der bekanntesten Eigenheiten des Traumschaffens geläufig. Als besonders eindrucksvoller Sonderfall davon ist aber jedem geschulten Traumdeuter auch der Ersatz einer Person oder Sache durch ihr ausgesprochenes Gegenteil vertraut. Wir wissen, daß unsere Traumgestaltung sich dieser eigentümlichen Mittel bedient, um uns im Traum vor den krassen und heftigen Erschütterungen zu bewahren, die die Einwirkungen der Tiefenschichten sonst oft heraufbeschwören müßten. Dieser Grundsatz hat sich fraglos auch hier betätigt und die für die Sinnermittlung schwierige Umwandlung vollzogen. Wir nehmen an, daß eine offenere Darstellung für das Gesamtseelische der Träumerin das Maß des Erträglichen gerade an dieser Stelle überschritten haben würde. Vielleicht klingt in der Tatsache, daß die braune Haarfarbe des kleinen Mädchens eigens erwähnt wird, eine kleine restliche Nüanzierung an, die auch hier auf anderes Wesen, andere Art, hinweisen soll. Wir können das nicht entscheiden. Der ganze übrige Vorstellungskomplex ist jedenfalls geschwunden; er ist nicht nur abgeschwächt sondern auf den Kopf gestellt. Sonst ist der Traum 5 in Allem lediglich gemildert, nicht geradezu ins Gegenteilige verdreht. Wir haben das Wesentlichste schon hervorgehoben. Schuldgefühl und Vergeltungsangst werden sinnbildlich statt gedanklich vergegenwärtigt. Die Tötung als solche ebenfalls. An die Stelle des mit aktiven, dramatischen Spannungen angefüllten [17 | 18]
Begriffes Grenze ist das tonlose unpersönliche Element Winter getreten. Das Umgehen mit dem „abgeschlagenen Häuptlein” endlich ist eine außerordentlich abgeschwächte Fassung des brutalen Geschehens in Traum 6. Gerade dieses Motiv kann uns noch einmal in die Bedeutung der Sinnverschiebung Einblick nehmen lassen, deren Anerkennung und Verständnis für die Traumpsychologie von kaum vergleichbarem Nutzen ist. Während es sich im Doeppschen Traum bei der Aneignung des Kopfes deutlich um die Besitzergreifung von der Toten handelt, kommt dies in 5 mit keinem Wort zum Ausdruck. Die Träumerin überläßt es uns, ob wir ihr Tun aus dem Gewohnheitsrecht des Jägers, der in seinem Revier aufsammeln darf, was er will, oder aus einem charitativen Bedürfnis ableiten wollen. Wir haben daher in dieser Szene greifbar die doppelte Moral vor uns, welche manchen Traumepisoden ihre eben traumhafte Eigenart verleiht. Das Ansichnehmen eines abgeschlagenen Kopfes gilt uns heutigen Menschen als eine Handlung, zu der sich niemand aus freien Stücken bereit erklären würde. Früher einmal, in den Zeiten der Vorgeschichte, war der abgeschlagene Kopf Trophäe, deren Besitz dem Sieger zur Ehre gereichte. Diese alte Bedeutung lebt in dem Vorgang in jedem Falle noch nach und verschafft ihm den Beiton des Grauenhaften, der seine nochmalige Verwirklichung unmöglich macht. Die Träumerin nun hält, während sie zugleich der Bahn des alten Impulses folgt, an den Forderungen jener jüngeren Instanzen unseres Innern fest, indem sie ihr Tun zu einem Teil in die Beleuchtung rückt, als diene es dem Auffinden des Körpers der Getöteten. Die beiden Schichten sind, wie man sieht, so ineinander verwoben, daß es trotz der Einhelligkeit der Grundthematik eines feinen Werkzeugs bedarf, um ihre Fäden zu lösen. Damit nicht genug, müssen wir dem Leser in Aussicht stellen, daß wir in einem späteren Abschnitt der Darlegung, in dem uns diese ersten sechs Träume eingehender beschäftigen sollen, weitere wesentliche Motive zu dem bisher Gesagten hinzugewinnen werden. 3. Unsere bisherige Darlegung verdankte, wie besonders die Untersuchung des 5. Traumes gezeigt hat, viel dem Verfahren des Vergleichs. Nebeneinanderstellung inhaltsgleicher Stoffe verschiedener Herkunft rückt immer das Wesentliche in die Mitte des Blickfeldes, während das Nebensächliche entfällt. Wenn dies beim Traume zu[18 | 19]
trifft wie überall sonst, so beruht das auf der Tatsache, daß auch hier zwischen Hauptsächlichem, das mehr oder weniger gleichbleibend wiederkehrt, und zufälligem Rankenwerk, das deshalb nicht bedeutungslos zu sein braucht, unterschieden werden kann. Die Anerkennung dieses Sachverhaltes stößt gemeinhin auf Unglauben, da die Meisten nach dem Charakter gelegentlicher Erinnerungsspuren eher zu der Auffassung neigen, im Traume herrsche wie kaum irgendwo die Willkür namen- und richtungsloser zersplitterter Augenblicksregungen. Unser Einwand gegen dieses Vorurteil ist keine Neuigkeit. Die moderne Traumpsychologie hat genügend Nachweise dafür erbracht, daß wir im Zustand des Träumens tiefverwurzelten seelischen Antrieben und Anschauungen eröffnet sind und daß es Träume gibt, die wie Märchen und Mythen in abgewandelten Fassungen mit einer erstaunlichen inneren Einförmigkeit immer wieder in uns auftauchen. Die Geringschätzung des Traumes beruht zum großen Teil auf der Unverbindlichkeit, mit der der heutige Mensch mit seinen Gedächtnisresten umzugehen pflegt. Diese Einstellung hat zur Folge, daß nur verhältnismäßig selten ein Traum in seiner wahren Ausprägung erzählt oder niedergeschrieben wird. Ein behutsameres Vorgehen würde zweifellos weit häufiger Material von der Art unserer Beispiele zutagefördern. Doch dazu gehört wohl nicht nur wissenschaftliches Interesse, sondern die Liebe und Leidenschaft der bewegten Seele, die aus innerer Nötigung nach der Reichweite und Herkunft der in ihr Ereignis werdenden Erschütterungen fragt. Nun gibt es Träume, deren Inhalt nichtig ist wie das Tastenanschlagen eines zufällig an die große Orgel geratenen Kindes. Das Register der Seele wird gelegentlich von den kleinen Erregungen des Augenblicks kurz zum Auf- und Mittönen gebracht, ohne daß eine tiefere Gewalt dabei entfacht wird. Wir alle kennen diese Träume, die ein krauses Gemisch von Bildern und Gefühlen sind, und denen der überzeugende Grundton wirklich fehlt. Ihre psychologische Bearbeitung kann trotzdem zu beachtlichen wissenschaftlichen Ergebnissen führen, zum Beispiel im Bereich des Studiums der Darstellungsphänomene des Traumes. Häufiger als man glaubt, hängen sie überdies mit Vorstellungsgebilden zusammen, die bei der Anwendung des Assoziationsverfahrens zu den belangvollen Inhalten der Vollträume – wenn wir diesen Ausdruck einmal verwenden mögen – überleiten. Doch wir würden eine wichtige Voraussetzung unerwähnt lassen, wenn wir die grobe Mißachtung des Traumes allein auf eine Art Mangel an besserer Kenntnis zurückführen wollten. Er teilt vielmehr [19 | 20]
in mancher Hinsicht das Schicksal des Märchens. Es bedarf einer bestimmten Atmosphäre für seine Wertschätzung, und diese ist mancherorts gegeben, während sie anderswo fehlt. Man wende nicht ein, der Traum sei garnicht dazu da, das Gemüt nach seinem Ablauf noch weiter zu beschäftigen. Oder aber, er habe mindestens keinen Anspruch darauf, Anderen vorgestellt zu werden. Es geht dem Träumer darin wohl nicht anders als dem Dichter: der Grad der Ergriffenheit und des Mitteilungsdranges hängen von der Inhaltsfülle der selbständig aus dem Unbekannten entstandenen Bilder ab. Paula Ludwig meint mit Recht: gerade die Erregung darüber, daß man dieses geträumt und nicht ausgedacht habe, dränge den Träumer am Entscheidendsten zur Mitteilung. Sie vergleicht den Traum der wilden Blume, die nicht gepflanzt und nicht gesät, von draußen in den Garten hineingetragen wurde, und die der Gärtner selbst wie ein Geschenk bewundert. „Er beschneidet sie nicht, er bindet ihre ungestümen Blätter nicht, er lädt seine Freunde ein, daß sie den seltsamen Fremdling beschauen, so wie er wuchs, wie er ihn selber fand an einem holden Morgen.” In dem „er lädt seine Freunde ein”, ist das richtige Stichwort gegeben. Der Traumerzähler rechnet mit einem Kreis freudiger Zuhörer, erwartet aber keineswegs, daß ihm das hier begegnende Interesse etwa ganz allgemein entgegenschlüge. Achtung und Mißachtung des Märchens sind in der eingangs erwähnten Jöckelschen Arbeit auf ihre Wurzeln untersucht worden. Wir wissen, wie es darum bestellt ist. Nur diejenigen sind dem Zauber der Märchenwelt ergeben, deren Lebensvorgänge durch ihre Inhalte genährt oder wieder angereichert werden: die Noch-Werdenden und die in der Spätphase des Lebens aus einem, tiefen Bedürfnis in die Zeit des Werdens Zurückschauenden. Jöckels Ausführungen machen in anschaulicher Weise klar, wie das zu verstehen ist. Die Mehrzahl unserer Märchen – der Hauptbestand des Märchenschatzes – sind Darstellungen der typischen Übergangs- und Reifekrisen des Menschen. Ihre Bilderwelt behandelt in mannigfaltigen Spielarten das Thema der Trennung vom Kindsein und die Wiedererstehung im Reich der Erwachsenen. Für das menschliche Individuum ist dieser Entwicklungsabschnitt nach allem, was wir aus dem Studium der Bräuche und Weihen entnehmen können, die große Umschlagszone des Lebens. Das Ende der Kindheit, als Abschluß einer nach dem nun erfolgenden Übertritt nicht wiederbelebbaren Vergangenheit, gilt in der Sprache der Seele als der erste Tod, der Eintritt in die Gemeinschaft der Reifen und Zeugenden als die zweite Geburt des Einzelwesens. Die Thematik [20 | 21]
von Tod und Geburt umkreist daher ihren Bereich in vielfachen, zum Teil einander durchkreuzenden Vorstellungsreihen. Sie kehrt in unzähligen Sinnbildern wieder, mit denen die Riten und Mythen des Ueberganges den Untersucher förmlich überschütten. Wer den Sinn dieser Bilder verstehen gelernt hat, findet sie, wie Jöckel nachweisen konnte, überall als verborgen wirkenden Bestandteil unserer Märchen. Sie sind, wie sich weiter zeigen ließ, nicht als freie Beigabe sondern als das eigentlich bedeutsamste Element des Märchens anzusehen, nach dessen gebührender Würdigung uns übrigens seine scheinbaren Ungereimtheiten ihren althergebrachten Tiefsinn verraten. Märchenfreund und etwa auch Märchenerzähler ist, wie wir diesen Einsichten entlehnen, wer jenen lebensgesetzlichen Umwandlungen entgegengeht, wer die Schutzbefohlenen darauf zuführt, oder wer sich am Ende der Lebensbahn in der Rast und Sehnsucht des Rückblicks mit diesen identifiziert: die Kinder, die Mütter, die Alten. Der in der Übergangszeit stehende Halberwachsene hat für das Märchen kein Gehör. Die Aktualität des Geschehens entrückt ihn der Sprache des Symbols in dieser Fassung. Und ohne Beziehung zu ihnen ist auch der Mann im tätigen Mittelabschnitt seiner Lebensfrist. Was den Traum anbelangt, so träfe eine Übertragung dieser Gruppierung auf seinen Geltungsbereich ganz sicher an der Wirklichkeit vorbei. Wir können auch sogleich gefühlsmäßig andeuten, woran das liegen muß. Träume sind – von seltenen Ausnahmen abgesehen – härter, roher, man ist versucht zu sagen „naturalistischer” als Märchen. Dem Märchen haftet immer, auch wo es krasse und grauenerregende Ereignisse schildert, etwas Kleidsames, Schonendes, Legendär-Entrückendes an. Beim Traume sind wir hingegen selbst in idyllischen Episoden nicht vor der Nachbarschaft des Wüsten, Schrankenlosen und Abgeschmackten sicher, das sich in schwerzubezeichnender Weise stofflicher und unmittelbarer als in der Märchenwelt in ihm entlädt. Man mache es sich an dieser Stelle nicht zu leicht mit flüchtigen Erklärungen, wie etwa, der Traum sei im Gegensatz zum Märchen „formlos”, „poesielos”, „unkünstlerisch”! Solche Behauptungen zielen nicht auf das Erörterungswerte des Gegenstandes. Sie schalten mit Begriffen, ohne etwas ermittelt zu haben. Es gibt sehr „poetische” Träume und sehr kunstferne Märchen, die sich zwar zufällig einander nähern können, die aber doch das bleiben, was sie sind. Wir kommen nicht darum herum, anzuerkennen, daß die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den seelischen Niederschlägen unseres Seins durch etwas Anderes als den Grad der Stoffbearbeitung, der künstlerischen Leistung, wenn man so will, bestimmt werden. Was sie ent[21 | 22]
stehen läßt, ist nicht der Rang einer Leistung, sondern die ihnen zukommende lebensgesetzliche Funktion. Märchen sind etwas aus funktionellen Bedingungen heraus Anderes als Sagen, als Mythen, als tragische Spiele, als – Träume. Es gibt in jedem Zweig mehr oder weniger wohlgeformte, mehr oder weniger „dichterische” und künstlerische Ausprägungen des Einzelfalles. Wesentlich ist, daß der Mensch dieser Vielfalt seelischen Bildens bedarf, daß die eine wie die andere Kategorie ihre feste biologische Bestimmung hat. Wenn die Märchenstube nicht der Ort für Traumerzählungen ist, so sagt uns das etwas über das Verhältnis des Kindes zum Traum überhaupt, nämlich daß es ihm mit eingegebener Fremdheit gegenübersteht. Kinder träumen, das ist erwiesen. Der Arzt und der Erzieher können, was mehr sagt, den Kindertraum wie den Traum des Erwachsenen zur Ausrichtung von Konflikten und Hemmungen nutzbar machen. Die Zeiten, in denen der Traum jene vom eigenen Selbst bestätigte Bedeutung erhält, die sein Bewahren und Nacherzählen veranlaßt, beginnen jedoch erst gegen das Ende der Kindheit. Ihr Beginn fällt ungefähr mit der Ablösung vom Märchen zusammen. Wir übergehen dabei absichtlich nähere Erörterungen darüber, daß sich in diesem Abschnitt auch die Hinwendung zur Sage und Mythe ankündigt oder bereits vollzogen hat. Das Interesse für den Traum erwacht – in Gestalt einer mehr als zufälligen gelegentlichen Einzelbezugnahme – mit dem Schwinden der vorangehenden Märchenseligkeit. Wenn diesem Umstand nicht der Sinn eines Auswechselns der Funktionen beider Bereiche beizumessen sein soll, so fragt man sich, von welcher anderen Augenscheinlichkeit der biologische Forscher sein Denken bestimmen lassen möchte? Wir können zu dieser Auffassung selbstredend nur auf Grund der Überzeugung gelangen, daß der Traum in dieser Lebensphase Inhalte aufweist, die – abgesehen vom Unterschiedlichen – eine Wiederaufnahme des im Märchen vermittelten Bilderschatzes bedeuten. Die schon mehrfach herangezogene Jöckelsche Arbeit dient uns auch hier wieder als Beleg. In ihr wird nämlich in außerordentlich instruktiver Weise an Hand von Träumen einer Vierzehnjärhigen gezeigt, daß zwischen den in Betracht kommenden Träumen und Märchen im großen Ganzen des Gehalts nichts Auseinanderfallendes festzustellen ist. Die betreffenden beiden Träume lassen sich in ihrem Grundgerüst leicht wiedergeben*. * Bruno Jöckel „Der Weg zum Märchen” Traum 1a und 1b. [22 | 23]
7 u. 8) In beiden sieht die Träumerin sich mit einigen Altersgenossinnen zusammen. Beidemal ist sie mit diesen auf dem Weg in eine unbekannte Ferne. Das sie umgebende Land ist schön in Ordnung. Auf der weiteren Wanderung veranlaßt die Unvertrautheit mit der nun durchwanderten Gegend Nachfragen bei anderen Menschen, die aber keine Auskunft geben können. Man kommt dann im ersten Traum (7) an das Ufer eines Flusses, an dessen anderer Seite die Wildnis beginnt, im zweiten (8) an die Meeresküste. Nun folgt im ersten Traum die Durchquerung des Wassers. Über den Fluß führt ein schwankendes Seil und ein weiteres, an dem man sich festhalten kann. Einige Mädchen, die schon einmal drüben waren, kommen glatt über das Seil hinüber. Die Träumerin selbst und eine Andere versuchen es jedoch vergeblich. Sie springen darauf in den Fluß und erreichen das Wildnisufer schwimmend. Drüben fühlen sie alle, daß sie in einem Urwald sind. Es heißt dann plötzlich, es käme ein großer Hund, vor dem man ausreißen müsse. Dementsprechend endet der Traum denn auch: Der Hund kommt, die Mädchen laufen davon und sind wieder auf der anderen Seite. Im zweiten Traum (8) wird der Weg durch das Wasser nicht eigens geschildert. Die Mädchen sind plötzlich auf einer Insel, sich selber überlassen, mitten im Meer. Darauf steigt nun eine auf einen hohen Baum und winkt mit dem Kleid einer Andern, um Menschen herbeizurufen. Die Träumerin fühlt sich währenddessen garnicht sonderlich unruhig, sondern beginnt, sich „häuslich einzurichten”. Es kommen nun, durch das Winken angelockt, „wilde Männer” auf sie zu. Diesen gehen die Mädchen mutig mit einer Pistole entgegen und töten sie bis auf einen. Der wird dann, wie die Träumerin sich ausdrückt, ihr Freund und hilft ihnen. Dem Bericht des ersten dieser beiden Träume schließt Jöckel eine ausführliche Untersuchung an, in welcher er ihn mit einem Ausschnitt aus dem Märchen „De drei Vügelkens”* vergleicht. Wir halten uns an die Fassung seiner Nacherzählung: Ein Mädchen will auf das jenseitige Ufer eines großen Wassers. Da es aber alleine nicht hinüberkommt, sieht es sich nach Hülfe um. Da trifft es eine alte Frau, die damit beschäftigt ist, Fische zu fangen. Der erzählt es seinen Wunsch, aufs andere Ufer zu kommen und, da der Alten die freundliche Art des Mädchens gefällt, trägt sie es auf dem Rücken hinüber. Dort angekommen, gibt sie ihm einige Ratschläge, wie es sich nun verhalten müsse. Es würde ihm auf dem Wege ein großer, schwarzer Hund begegnen. Es solle aber dreist und ohne ihn anzusehen an ihm vorübergehn. Läge dann auf dem Rückweg derselbe Hund wieder da, so solle es ihm mit der Rute, die sie ihm gäbe, ins Gesicht schlagen. Das Mädchen tut, wie die Frau gesagt. Als es den schwarzen Hund trifft, geht es an ihm vorbei, stumm und ohne * Gebrüder Grimms Kinder- und Hausmärchen 96. [23 | 24]
ihn anzusehen. Auf dem Rückweg findet es ihn wieder. Da nimmt es seine Rute und schlägt ihm ins Gesicht. Wie das geschieht, steht plötzlich neben ihm ein schöner Prinz. Da wir uns die typische Lebenssituation der Träumerin bereits vergegenwärtigt haben, fällt uns die Deutung dieser Träume in den Schoß: Die Mädchen sind am Ausgang der ersten Daseinsphase angelangt und werden vom ewigen Gesetz des Lebens dahin gedrängt, das Reich auf der anderen Seite zu betreten. In diesem erwarten sie Unordnung und Gefahren. Im ersten Traum mit dem Ergebnis, daß sie wieder zurückweichen. Im zweiten mit dem eines Kompromisses, indem sie einen Teil der Männer aus Angst töten und nur einen übrig lassen, dem sie sich in ihrer Überzahl gewachsen fühlen. Das Märchen hat einen dritten Ausweg gefunden: hier ist die Alte, die Norne, die mit dem männlichen Prinzip Bescheid weiß, als Beraterin eingeschaltet und verhilft ihrem Schützling dazu, seine Aufgabe richtig zu lösen. Tiefsinniger enthüllen sich die einzelnen Vorstellungen, wenn wir die Bedeutung der Symbole berücksichtigen. Während das Wasser einerseits einfach als die trennende Grenze zwischen den beiden Reichen verstanden werden will, ist es für die träumende Seele zugleich Inbegriff des Todes und der Wiedergeburt. Es nimmt die Stelle ein, die in zahlreichen Märchen und Träumen die Backöfen, Schränke, Kammern, Brunnen oder hohlen Baumstämme behaupten, in denen sich der (oder die) Gefährdete eine Weile verborgen halten muß – oft zuvor schmachvoll verurteilt oder zu vieljährigem Schlaf verdammt –, um endlich zu neuem Leben als nunmehr anerkannter Erwachsener zu erwachen. Das Wasser ist ebenso wie diese engen Gefängnisse, zu denen übrigens auch der Sarg und der Leib eines Tieres gehören, Symbol der Urmutter. Die Jugendliche kehrt in sie zurück. Sie hat die bisher verwirklichte Lebensform als kindliches Wesen zu Ende gelebt und stirbt, um als eine Andere, die nun die endgültige Ausprägung des Einzelwesens angenommen hat, wiedergeboren zu werden. Die Märchenepisode stellt den Vorgang in einer zweiten Sicht gleichzeitig noch einmal dar. Hier tritt neben dem Wasser auch die Figur der Alten als Muttersymbol an das Mädchen heran und zwar, um ihm das nötige Wissen zu vermitteln. Wir sehen darin eine abschwächende, mildernde Tendenz am Werke, die für das Wesen des Märchenhaften kennzeichnend ist. Wie dem Wasser, so wohnen auch den Vorstellungen Wildnis, Hund, gefahrbringende wilde Männer, wie endlich auch den Fischen symbolische Bedeutungen inne. Sie sind alle Sinnbilder der Männlichkeit, deren Bekanntschaft das der Reife entgegengehende Mädchen zugleich [24 | 25]
fürchtet und sucht. Die krasseste Fassung ist diesem Inhalt in der Gestalt des Hundes verliehen, die mildeste in den Fischen. Das Märchen läßt in der Erwähnung des Fischfangs der eigentlichen Berührung mit dem Manne eine schwachdosierte voraufgehen. Das Bestehen der Reifeprobe wird dem Mädchen hier auf diese Weise mit mehreren Mitteln erleichtert. Einmal durch Hilfe beim Durchqueren des Wassers und hilfreiche Ratschläge. Zweitens durch das eben erwähnte Moment, das als ermutigende Vorbereitung auf das Kommende aufgefaßt werden muß. Endlich durch die Rute, die es überreicht erhält, und die ihm selbst ein Stück männlichen Tuns und Schaltens erlaubt. Bei der Mädchengruppe in Traum 8 ist die Rute in der roheren Sprache des Traumes durch die Pistole ersetzt, mit deren Benutzung, wie Jöckel passend bemerkt, die Mädchen aus Angst vor den Männern vorübergehend zu Amazonen werden. Die Parallele, die wir hiermit in enger Anlehnung an das zitierte Buch verfolgt haben, braucht nicht weitergeführt zu werden, wenn wir uns auf die notwendigen Auskünfte beschränken wollen: Die vierzehnjährige Träumerin träumt in der Ausdrucksart des Traumes, was das Märchen in seiner Weise darstellt und schildert. Nehmen wir an, die Träume erlangten von nun an natürlicherweise immer mehr Spielraum im Seelischen, so wird das Erlahmen der Aufnahmebereitschaft für Märchen zu einer durchaus erklärlichen Folgeerscheinung. Für die Berechtigung unserer Voraussetzung dürften aber eigentlich unsere früher wiedergebenen Träume schon eine Art Beweismittel bilden: Sehen wir doch die Erweiterung und Ausdehnung des Phänomens, auf die wir schließen, in ihrer größeren Geladenheit und Anschauungsfülle substantiell verwirklicht. Es handelt sich in ihnen um Träume von Frauen, die die Übergangsphase hinter sich haben. Bei der späterfolgenden Aufrollung der tieferen Schichten ihres Gehalts werden wir erkennen, wie eng sie in ihrer wesentlichen Thematik an die beiden zuletzt behandelten anknüpfen. Unsere Behauptung, der Abneigung weiter Kreise gegen Träume und Traumwiedergaben läge neben oberflächlicheren Hinderungen ein ernstlicheres inneres Motiv zugrunde, kann inzwischen sicherer formuliert werden als zuvor. Nachdem wir uns ein wenig eingehender mit der Wesensart des Märchens beschäftigt haben, werden wir das schon Vorgebrachte wiederholen, nämlich daß die am Märchen eigentlich teilnehmende Lebenssphäre, die des Kindes und seiner geistigen Betreuung – letztere natürlich nur in der Ausübung dieser, allerdings weitreichenden, Funktion –, dem Traume beziehungslos gegenübersteht. Das Märchen soll den aufrührenden Vorgängen, die in der Krisenzeit hereinbrechen, durch vorzeitige symbolische Hinweise zu[25 | 26]
leiten. Es stellt in seiner Bilderwelt die bewegenden Inhalte jener Phase bereits als frühe Wegzeichen zur Verfügung, jedoch im Mantel passender kindertümlicher Verkleidung. Es gibt Märchen – wie das vom Machandelboom* – die darin spröde verfahren; aber auch in ihnen ist der Bestand einer irgendwie noch Lebensschutz gewährenden Natur bejaht. In der großen Mehrzahl sind selbst realistische Verkörperungen des Todes und der Wiederkehr, wie wir sie als Verwünschungen, Verurteilungen, Einsargung, Zerstückelung und Aufgefressenwerden überall ausgebreitet finden, durch abschwächende, mildernde und aufwiegende Bestandteile in einen Rahmen von vertrauensäendem Zubehör eingebettet, der dem Kinde seine Sorglosigkeit beläßt. Das braucht sich nicht in lustigen Elementen auszuprägen. Solche sind nur eine spezielle Form der Gesamterscheinung dieses Bestandes. Der Wolf, der das Rotkäppchen frißt, der Fluch, der Schneewittchen und Dornröschen aus der lebendigen Welt verbannt, der Stall, in dem Hansel und Gretel eingesperrt werden, haben an sich nichts Unwirkliches für das Kind. Doch sie sind in der nach unseren Maßstäben legendär anmutenden Welt beheimatet, in der es als behütetes und geschütztes, werdendes Wesen überhaupt sein Dasein fristet. Das Märchen in seiner typischen Ausformung zerreißt diese nicht, es vertieft sie nur. Wir erraten, warum es beim Traum anders sein muß. Es liegt an seiner anderen Herkunft. Der reifende wie der erwachsene Mensch stehen lebensgesetzlich unter der Herrschaft anderer seelischer Gewalten. Sie sind als zeugende Wesen dem All verhaftet, zugleich als fertige Einzelwesen aber dem alten Urbett des Werdens bereits entstiegen. Ihr geistiges wie ihr sinnliches Register weist daher auf die ewige polare Achse kosmischer Existenz zurück. Die Gewichte, die hier wirken, fußen auf dem Wagebalken, an dem die elementaren Naturkräfte, die Welt in ihrer vermenschlichen und menschlichen Erscheinungsform sich in kreisender Schwebe halten. Der Traum ist, wenn wir ihn richtig entdecken, ein Abkömmling dieses grandiosen Reichs. Hier ist nun auch der Schlüssel zu dem verbreiteten Mißbehagen, zu seiner für Viele abschreckenden Wirkung, zu suchen. Wie die Welt der Mythen, der er darin am meisten gleicht, ist er der Mittler beinah jeder Leidenschaft, jeder Regung, Strebung und Begierde. Seine Vorstellungsweite ist unermeßlich, seine Aufnahmefähigkeit schier grenzenlos. Und – das ist das Andere, das ihn bedrückend und selbst in seinen großen Seiten brüchig machen kann: er saugt nicht nur das * Gebrüder Grimms Kinder- und Hausmärchen 47 [26 | 27]
Fernste sondern auch das Nächste in sich auf, wodurch dann jene Mischung ewiggültiger mit flüchtigsten und ichlichsten Stoffen entsteht, die das harte, rohe, bald barocke, bald naturalistische Gepräge hat, von dem die Rede war. Sagen, Mythen, Tragödien, um noch einmal die Sphäre anderer seelischer Schöpfungen zu berühren, bannen die Gewalten, die in der Seinsform des Erwachsenen wirken, in den Anschauungsraum, den der Mensch sich oberhalb eines urhaften Weltzustandes in der Gemeinschaft als schöpferischer Ordnung zu errichten vermochte. Die Mythen fügen sich seinen Grenzen zwar nicht ein; doch sie bleiben wie schwebende Planeten in seinem weiteren Herrschaftsbezirk. Der Traum untersteht am wenigsten von Allen einer verantwortlichen Regentschaft. Das Seelische ist im Schlaf jener höheren Ordnungshüter zwar nicht völlig ledig, aber ihre Macht ist so gebrochen und abgestumpft, daß auf sie kein Verlaß ist. So ist der Traum denn ein Trabant, der uns oft mit lautem Getöse, nur Nichtiges vermittelnd, in die Quere kommt, um einandermal ohne jede Gebärde eine Fracht von Tiefsinnigkeit vor uns auszuschütten. 4. Der Vater eines kleinen Kindes ist im Traum 9) allein in einem schönen Villenort herumgegangen und dabei immer wieder, sodaß er sich darüber wunderte, an Neubauten mit hellrosa Anstrich vorbeigekommen. Nach der Wiedergabe des Traums fällt ihm ein, daß seine Frau vor längerer Zeit für das Töchterchen ein hellblaues Kleid geschenkt erhielt, während es sonst rosafarbene Kleidchen trug, und daß das Kind sich gegen diese ungewohnte Farbe wehrte. Dann meldet sich ein zweiter Einfall, nämlich daß man eigentlich des Kindes wegen an den Umzug in ein Haus mit Garten gedacht hat, daß er diesen Plan aber aus anderen Gründen fallen lassen mußte. Dies ist einer jener Träume, wie sie der Durchschnittsträumer etwa jede Nacht zu verzeichnen hat, und der die Anfüllung mit naheliegenden privaten Inhalten in instruktiver Weise zum Besten gibt. Wir sind hier auf die Einfälle des Träumers angewiesen, um den Sinn des kleinen Gebildes wenigstens oberflächlich zu verstehen. Weitere Assoziationen würden wahrscheinlich auf eine vielfältigere Verknüpfung mit Erlebnissen jüngeren oder älteren Datums hinauslaufen. Folgt man diesen Einfallsketten, so muß man sich immer wieder über die Weiträumigkeit seelischer Verknüpfungen wundern. [27 | 28]
Ohne diesen Spuren zu folgen, können wir an Hand der beiden Bemerkungen wohl mit einigem Recht vermuten, daß der Träumer von dem Gefühl beherrscht sein mochte, dem Kinde etwas schuldig geblieben zu sein. Im Schlaf wird solch ein lästiges Gefühl, das im wachen Zustand durch andere Regungen zurückgedrängt zu werden pflegt, in die Lage versetzt, sich in Bildvorstellungen Ausdruck zu verschaffen. Dieses Hervortreten verdrängter oder wenigstens meistens mit Erfolg beiseitegestoßener Inhalte ist der Grundvorgang der Traumentstehung. Wenden wir uns drei weiteren Träumen zu, die dem letzten an Knappheit und Kürze kaum nachstehen: 10) Ein kalter, schwarzer Sturm kommt aus der Erde und jagt an den Bäumen empor. Eine frische Blume wird in einen Kasten gelegt und begraben. Dies wiederholt sich fortwährend. 11) Ich bin im Garten des alten Hauses. Alle Bäume stehen in Blüte. Eine sanfte Wärme durchströmt mich; ein leiser Wind hebt an, und da tanzen die Sonnenringe und alle Blätter der Bäume beginnen zu klingen. 12) Ich bin im Garten des alten Hauses. Büsche und Sträucher sind urwaldartig gewachsen. Ein rotes Rhododendrondickicht schlägt über mir zusammen. Im Gegensatz zu dem Traum von den Neubauten sprechen uns diese drei trotz ihrer Kürze so wie die früher wiedergegebenen als Träger eines irgendwie als sinnvoll empfundenen Inhalts an. Wir können ihn vielleicht nicht sofort in Begriffe übersetzen, aber wir fühlen uns doch von etwas Faßlichem, unserem Gemüt Zugänglichem, berührt und festgehalten. Was diesen momentanen Einklang herstellt, ist die Beseeltheit des Geschehens durch seinen Gehalt an naturhaftem Leben. Sturm, leiser Wind, Kälte, Wärme, Blühen und Wachsen der Bäume und Sträucher... das sind die Vorstufen unserer eigenen Vitalität, elementare Erscheinungsformen des Daseins, deren bildlicher Sinn uns unmittelbar eingeht. Wir brauchen uns den nachtastenden Spürkräften, die dadurch wachgerufen werden, nur zu überlassen, um – wenn wir mit diesem beginnen wollen – den Gehalt des ersten der drei Beispiele vor uns treten zu sehen. Es ist ein durchaus schlichter, erstaunlich einfacher Inhalt, der sich uns hier darbietet: Aus der Erde kommt, so heißt es, die urhaft-unmenschliche (kalte, schwarze) Gewalt des Lebens (jagender Sturm) und berührt die Einzelwesen (Bäume). Ihr dadurch entfachter Sproß (frische Blume) stirbt wieder und wird in die Erde zurückversenkt. Dies bleibt ohne Unterlaß das Gleiche. [28 | 29]
Die beiden Träume 11 und 12 sind nicht weniger einfach und schlicht, nur ist der Träumer in beiden als Person vorhanden. Sie sagen nichts Anderes, als daß er in den Daseinskreis, den er bereits verlassen hatte, zurückkehrt, und daß die Umwelt dort mit ihrem alten Sinneszauber wieder auflebt. Die alte Daseinsform, die er wieder annimmt, ist in 11 die Kindheit. In 12 ist noch mehr zum Ausdruck gebracht. Hier sind die Bäume und Sträucher urwaldartig gewachsen. Ein Dickicht schlägt über ihm zusammen. Der Rückweg geht, wie diese Symbolik erkennen läßt, also in die Zeit der vollen Abgeschlossenheit zurück: in die Urvergangenheit, den vorgeburtlichen Zustand im Mutterleib. Die Träume 10, 11, 12 sind den hundert Traumaufzeichnungen Friedrich Huchs* entnommen. Wenden wir auf sie unsere von der modernen Traumpsychologie vielfach gesicherte Behauptung an, daß der Traum Darstellung latenter, meist verdrängter Regungen sei, und gehen wir dabei zunächst wieder auf Traum 10 ein, so werden wir damit zu einer etwas weiter ausholenden Betrachtung genötigt. Der Inhalt unseres Traumes ist in der vollzogenen unmittelbaren Übersetzung das Lebensschicksal des Einzelwesens, sein Sprossen, Entfalten und Wiederschwinden. Wir müßten also, um der Behauptung gerecht zu werden, annehmen, daß der Träumer sich dieses Thema im Traume vergegenwärtigt habe, weil ihm im wachen Bewußtsein nicht der gebührende Platz zugebilligt worden sei. Diese Vermutung sollte eigentlich nur im Augenblick des ersten Hinhörens mit dem üblichen Befremden beantwortet werden, das sie allzuleicht hervorruft! Der Mensch heutiger Prägung mag immer wieder der Meinung sein, daß er das Leben mit Anfang und Abschluß in zahllosen Überlegungen sattsam zum Gegenstand seiner wachen Bewußtseinstätigkeit gemacht habe, sodaß für eine Nacharbeit im Rahmen vorbewußten Denkens nichts Förderndes mehr zu leisten bleibe. Er ist mit dieser Auffassung in einem Grundirrtum befangen, bei dem er sich von der gern zugestandenen Weite der biologischen Kenntnisse und philosophischen Erörterungsmöglichkeiten unserer Tage blenden läßt. Unterliegt man bei der Bearbeitung seelischer Stoffe nicht dem mächtigen Zwange eines praktisch schwer aufhebbaren Vorurteils, so wird man unaufhörlich auf die Tatsache gestoßen, daß die Unruhe über das Unfaßliche unserer Existenz als Einzelgeschöpf das Seelische mit dem Erwachen unserer Denkfähigkeit besetzt, ohne es vor der Agonie je wieder freizulassen. Was wir im Rahmen der Wissenschaften und * Friedrich Huch: „Träume” S. Fischer Verlag Berlin 1917 [29 | 30]
der Philosophie über Werden, Sein und Vergehen des Individuums konkret und abstrakt ermittelt haben, und was uns die Religionen darüber zu sagen wissen, bringt die eingeborene Problematik nicht zum Schweigen. Gründlich und richtig verstanden, ist es der Manie des Lebens, der Entfaltungssucht und Zielsetzungsbereitschaft der menschlichen Vitalität – wenn man diesen einfachen Ausdruck nicht scheut: unserer Lebendigkeit schlechthin – zuzuschreiben, daß diese immanente Beunruhigung und Spannung in einem Lebensmoment nach dem anderen aus dem Bewußtsein fortgedrängt, abgeschoben oder innerhalb seiner verkleidet, verkleinert und überschüttet wird. Der im Wachzustand Augenblick um Augenblick zum Handeln bereite Mensch vergißt den schwankenden Grund, auf dem er fußt, und überläßt sich der Illusion des Sichauskennens im Lebensraum. Er bedarf dieser Verdrängung wahrscheinlich zur Ausführung seiner gesellschaftsgerechten Verpflichtungen, die ihrerseits bereit stehen, sein Bewußtsein mit einer Fülle von Vorstellungen zu speisen. Dieser in sich stabile Anschauungskreis wird durchbrochen durch die Ereignisse der Zeugung, der Geburt und des Todes. So gänzlich unmöglich es für das Bewußtsein wäre, diese Geschehnisse aus der Betrachtung oder Erinnerung auszumerzen, so erstaunlich entwickelt ist andererseits seine Fähigkeit, die weite Perspektive, die sie eröffnen, umzuformen oder zu verwischen. Es sagt den geistigen Errungenschaften auf dem Felde der Wissenschaft und Philosophie nichts Arges nach, wenn wir behaupten zu können glauben, daß all ihr Aufwand, Fleiß und Scharfsinn nur dazu verhelfen kann, das lebensgesetzliche Gefüge in einzelnen Ausnahmefällen aus den Angeln zu heben. Das Seelische schaltet in seinem eigenen Bestand mit seinen Spannungen und Rätseln und gewinnt nur dort in einiger Breite Kontakt mit den Ergebnissen der Geistesarbeit, wo diese seinen Ausdrucksformen und Projektionen formal oder inhaltlich durch eine wiederum seelisch bedingte Angleichung entsprechen. Denn: dies ist die andere Folge jener Verdrängungsvorgänge: das Abgewiesene meldet sich wieder. Es tritt in Sinnbildern, in Mythen, Märchen, Dichtungen und daneben unaufhörlich in Träumen zutage. Die Seele entlädt sich in diesen der Stoffe, die das Bewußtsein als unerwünschten Bestandteil nach Möglichkeit von seiner Schwelle fernhält. Es ist daher durchaus im Sinne eines allgemein erkennbaren Sachverhalts verstanden, wenn wir einen Traum wie Traum 10 als Darstellung einer verdrängten Regung betrachten und seine Herkunft aus der schwebenden, im Bewußtsein ungenügend berücksichtigten Anteilnahme am Schicksal des Ichs, des Einzelwesens, ableiten. [30 | 31]
Für die Träume 11 und 12 wird ein anderer, ebenfalls weitgehend zurückgewiesener Drang zum Entstehungsmotiv, der mit jener Regung, wie wir zeigen werden, einen Zusammenhang erahnen läßt. Es ist der Wunsch zur Rückkehr, der, beim Kinde schon in frühen Spielen nachweisbar, beim Erwachsenen doppelsinnig aufzutreten pflegt: als Verlangen in die Form des kindlichen und in die Form des vorgeburtlichen Seins zurückzutauchen. Dieses Verlangen ist bis zu einem gewissen Grade im Bestande jedes noch so engen Bewußtseins vertreten, nämlich als Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, dem goldenen Zeitalter oder – noch eine Stufe einfacher – der bloßen „guten alten Zeit”. Sein Anliegen ist aber nicht nur dem Grade, sondern auch dem Inhalt nach belangvoller, als solche Spiegelungen durchblicken lassen. Es handelt sich durchaus nicht, wie es in mißverständlicher Übersetzung vielfach aussieht, um das Zurückstreben in einen gemäß seinem soziologischen, sondern in einen seinem biologischen Wesen nach anderen Zustand. Die Welt des Kindes ist selbstredend – wir haben das schon beleuchtet – eine Phase des Geschütztseins, der Betreuung, der Unselbstständigkeit. Neben dieser Eigenart in sozialer Hinsicht ist sie jedoch als der Lebensabschnitt des Werdens etwas Besonderes, und dies gilt nun in noch eindeutigerem Sinne bezüglich der vorgeburtlichen Verfassung, die ja ein einziges Entfalten, Verwandeln und Weiterentfalten ist. In beiden Phasen „wird” das Indviduum, das heißt, es ist aus der Daseinsart der Gestaltbildung noch nicht in die des Ausgestaltetseins hinübergetreten. Diese Sphäre mit ihren ganz anderen Lebensfaktoren, ihrem ganz anderen Wurzeln im Schooße leiblich-physiologischer Dynamik, drängt es unsere Seele wieder und wieder einzunehmen, und sie vermag dies in der Herstellung einer Reihe von Sinnbildern, unter denen das Wasser die komplexe, urhafte Bedeutung am allersinnfälligsten vertritt. Das Wasser ist Symbol der Mutter, des vorgeburtlichen Zustandes und der Urherkunft. Als das Element, das das ungeborene Menschenwesen umgibt, ist es gleichbedeutend mit den reichhaltig variierenden Darstellungen des Umschlossenseins, die uns schon begegnet sind. Außerdem aber wohnt ihm offenbar aus ererbten Erinnerungsresten die Bedeutung des einstigen Lebensraumes unserer tierischen Ahnen inne. Es ist das unserem sinnlichem Erleben uralt eingeprägte Umweltelement schlechthin. Nicht die Erde, wie es der Geist behauptet, – das Wasser ist unsere Heimstätte, der ewige Urgrund, aus dem wir gekommen sind und in den wir nach einem zwangsläufigen Analogieschluß unseres Innern wieder zurückgehen. Dies macht denn auch die [31 | 32]
Bevorzugung des Wassers in der Bildersprache des Traumes begreiflich, in der dem Symbol Erde eine viel untergeordnetere Rolle zufällt. Traum 10 allerdings bedient sich, wie wir sahen, der Erde als Sinnbild der Herkunft und der Rückkehr. Nach unserer Stellungnahme zu seinem Inhalt muß uns das sehr verständlich erscheinen. Hier handelt es sich ja nicht um eine Darstellung des Rückkehrwunsches sondern um die Vergegenwärtigung des Lebensschicksals. Der Träumer ist im Traume selbst nicht anwesend. Dadurch ist das Geschehen, sind die Bilder, der Sphäre der sinnlichen Urwahrnehmungen mehr entrückt. Wiederum trifft dies nicht in einem Grade zu, der von einer Beseitigung dieses Elements zu sprechen erlauben würde. Die Rückbringung in die Erde vollzieht sich unter Mitbeteiligung des Einsargungsmotivs, das wir wie die andern raumumschließenden Symbole wie Schrank, Ofen, Hohlraum überhaupt, aus der Schicht der sinnlichen Ureindrücke ableiten zu können glauben. Sollte die Einschaltung dieses Bildes, so müssen wir uns fragen, etwa zu sagen haben, daß unsere bisherige Deutung dem Traum nicht voll gerecht wird, daß er womöglich nebenher auch dem Rückkehrverlangen des Träumers Rechnung trägt? Wir müssen zugeben, daß dieser Gedanke nichts Unwahrscheinliches vermutet. Die große Mehrzahl unserer Träume ist, wie die Einfallsreihen immer wieder lehren, auf das Zusammenwirken verschiedener Regungen zurückzuführen, die sich in den Traumbildern meist fugenlos verschmelzen. So könnte denn auch unser Traum neben dem Sinn, den wir ihm bisher beigelegt haben, einem oder gar mehreren anderen Inhalten Ausdruck verleihen wollen. Wir neigen zu der Auffassung, daß es sich tatsächlich so verhält, daß nämlich wirklich auch der Rückkehrwunsch eine durch die schon namhaft gemachte andere Tendenz mitgestaltete und daher abgewandelte Manifestation in ihm erfährt. Um diese zweite Bedeutung aus ihm herauszulesen, müssen wir allerdings wissen, daß der Träumer sich selber in sinnbildlicher Fassung, meist in Gestalt eines anderen Lebewesens wie Mitmensch, Tier oder Pflanze, im Traume repräsentieren kann. Setzen wir voraus, daß dies hier geschehen ist, so wird der Traum zu einer inhaltsgleichen Variante des Traumes 12. Der Erwachsene (Baum) kehrt in seine kindliche Verfassung (frische Blume) und dann in die vorgeburtliche Situation (Einsargung und Bestattung) zurück. Angesichts der Bündigkeit und Glätte auch dieser zweiten Deutung ist man versucht, nach der Ursache einer Biegsamkeit und Schmiegsamkeit zu forschen, die solch vollständiges Ineinandertreten zweier Vorstellungsreihen ermöglicht. Der Traum hat die eigentümliche Fähigkeit dieses Vermaschens und Verwebens, das zeigte als einfaches [32 | 33]
gut durchsichtiges Beispiel Traum 9, der durch die Vereinigung des Begriffes Neubau mit dem Attribut rosa zwei in gewisser Verknüpfung stehende Vorstellungen zusammenflocht. In unserem neuerlichen Fall handelt es sich jedoch um mehr als das. Es liegt nicht lediglich eine Kombination vor, die als solche geglückt ist, sondern ein nach beiden Richtungen voll und lückenlos sich darbietender Doppelsinn. Die Ausgestaltung und Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder erlaubt ohne jede Änderung, sei es Wegnahme, Hinzufügung oder Umstellung, die eine wie die andere unserer Lesarten. Solcher vollständigen Kongruenz kommt noch ein Mehr an innerer Bedeutung zu. Es ist nicht allein die unbehelligte Griffigkeit des Traumschaffens dahinter, sondern die tiefe Verwobenheit der vorbewußten Regungen, ihre komplexe Beschaffenheit, für die es dem bewußten Denken an Verständnis mangelt. Der Träumer erlebt vielfach Bezogenheiten, Gleichheiten, Entsprechungen, die das Bewußtsein kaum zu erahnen vermag, deren Gültigkeit sich daher auch nicht beweisen sondern nur erleben läßt. Dies beruht auf der Übermacht der Tiefenschichten im Zustand des Träumens. Der Träumende ist nicht nur den Gegebenheiten der wachen Sphäre etwas ferner, er ist zugleich dem Triebhaften, Unpersönlichen, dem vorindividuellen Sein, näher als der wache Mensch. In dieser Verfassung wird zuweilen ein Zusammenhang oder eine Identität verspürt, die innerlich gegeben, dem Bewußtsein schon nicht mehr faßbar ist. Dies trifft besonders im Bereich des rein oder eigentlichst Seelischen zu, in der Wechselwirkung zwischen unseren Wahrnehmungen und unserem Begehren. Bleiben wir bei unserem Beispiel, um das Gemeinte an ihm verständlich zu machen: Wir setzten in der Psyche des Träumers eine immanente Unruhe voraus, die sich auf das Thema Einzelwesen-Allwesen und die damit zusammenhängenden Vorstellungen Zeugung, Geburt und Tod bezog. Diese Unruhe, aus dem Bewußtsein jeweils durch andere Inhalte verdrängt, kann sich im Zustand des Träumens endlich bildlichen Ausdruck verschaffen und als ein Traum, wie wir ihn fanden, in Erscheinung treten. Sie kann jedoch zugleich die Regung zur Rückkehr in eine Verfassung entstehen lassen, in der diese Kenntnis der Gegensätzlichkeit unseres Seins noch nicht erworben war, die diese, anders ausgedrückt, in ihrem Wahrnehmungsbereich noch garnicht auf wies. Der Drang nach der Wiederherstellung dieser Region, der des schlummernden Werdens, wie man sagen sollte, ist dem Verlangen nach der Vergegenwärtigung des Lebensschicksals dann sehr nah benachbart. Gemessen mit den Maßstäben des Bewußtseins sind sie beide durchaus verschieden. Nicht hingegen nach den Ge[33 | 34]
setzen und Regeln der vorbewußten Schicht. Hier sind sie gleich, allein weil das Motiv dasselbe ist. Der Traum kann daher wirklich ein und dasselbe Gebilde mit dem Doppelsinn, den wir daraus ermittelten, hervorbringen. Er weist an dieser Stelle ein Vermögen auf, mit dem er dem Bewußtsein etwas voraus hat. Es ist dasselbe, was sich ohne die andererseits dem Traume eigenen Verluste und Einbußen an wichtigen Funktionen im Künstler betätigt. Wir geben nach diesen etwas breiteren Ausführungen nun einige weitere Träume aus dem Huchschen Bändchen wieder, die sich ungezwungen anreihen lassen und unser Wissen durch etliche Einzelheiten ergänzen. 13) Wieder dringe ich in das alte Haus, vom Hofe her, in der Morgenfrühe, durch die verwitterte Holztür. Langsam steige ich die alte Holztreppe hinan: da liegt vor mir der lange Gang, durch dessen Endfenster qualmiges Licht der fahlen Dämmerung fällt. Tür liegt an Tür; vor einer jeden steht starr die steinerne Gestalt eines Wächters. Alle schlummern. Den nächsten blicke ich lange an, da öffnen sich seine Augen; und ich, in Furcht vor Entdeckung, gleite langsam, die Blicke starr auf ihn geheftet, die Treppe hinab, um ihm selbst eine versinkende Traumgestalt zu sein. Das Motiv der Rückkehr wird hier durch das der Wächtergestalten bereichert. Der Träumer fühlt sich in dem alten Haus nicht geduldet. Seine Abweisung aber erfolgt durch Männer, welche eine Seite des männlichen Wesens als solchen verkörpern, nämlich die Aufgabe der Ordnung und Sicherung des gesellschaftlichen Bestandes. Ihre bloße Gegenwart genügt, um den beschrittenen Weg zu sperren, den Träumenden selbst „zum Schwinden” zu veranlassen. In dem letzten, recht eigentümlich geschilderten Vorgang ist zweifellos das Hinschwinden des ursprünglichen Wunsches zur Darstellung gebracht. In dem Bilde der Wächter eine innere Instanz, die bisher geschlummert hat, nun aber erwacht, nämlich die Pflicht, in dem hier vorgestellten Sinne als Hüter und Wahrer der Ordnung Mann, das heißt überhaupt erwachsener Mann, zu sein. Dieses Prinzip wäre von der Regung zur Rückkehr beinah zunichte gemacht worden. Nun erwacht es, und der Träumer flieht vor ihm, bevor es sich näher geäußert hat. Er hat die Mahnung verstanden. In diesem Traum begegnet eine Regung der andern. Das Rückkehrverlangen sehen wir dabei unterliegen. Mehr als ein Viertel der hundert Huchschen Träume enthält als Hauptthema Beziehungen zu dem „alten Haus”. Bald handelt es sich – immer wiederholt – um ein Eindringen in das Haus oder seinen Garten, bald um ein Verweilen in seinem Bereich, bei dem sich [34 | 35]
ein kleiner Vorgang abspielt*. Es wäre monoton, dem im Einzelnen nachzugehn. Ein Traum, der uns aus besonderem Grunde näher interessieren muß, ist jedoch der folgende: 14) Ich weiß, daß der Garten des alten Hauses heute vom Boden verschwinden wird, ich will ihn ein letztes Mal sehn. Arbeiter wollen mich abhalten, aber ich dringe hinein und da liegt er vor mir, blaß, zerfetzt, nur in größeren Baummassen kenntlich; kleine, totenhaft blinkende Gewässer zwischen ihnen, und über den ganzen Garten hinweg wölbt sich eine niedrige, schmutziggraue, himmelartige Steinmasse, die ihn von der Welt vollkommen abschließt. Grob gesehen hat dieser Traum den gleichen Inhalt wie der frühere, in dem das Rhododendrondickicht im Garten des alten Hauses über dem Träumer zusammenschlug (12). Auch hier handelt es sich ja am Ende um jene totale Abschließung von der Welt. Aber die Rückkehr in die vorgeburtliche Verfassung hat diesmal eine andere Vorgeschichte als in dem Vergleichstraum. Dort war sie eine Steigerung des voraufgehenden Zustandes im Garten. Hier hingegen sehen wir eine Zerstörung, Zerfetzung, der geliebten Kindheitsumwelt vollzogen. Der Träumer kehrt in die Mutterleibssituation zurück, weil ihm der Aufenthalt im Reich der Kindheit durch dessen Vernichtung unmöglich gemacht worden ist. Der Traum stellt, richtig verstanden, den Rückschritt aus Verzweiflung dar. Der Ausgang des Wächtertraumes (13) wird hier sozusagen ins Gegenteil gekehrt. Das lehrt uns, wie veränderlich der Mensch in der Ausgestaltung der dynamischen Vorgänge verfährt, die unterhalb seiner Bewußtseinsschwelle in Bewegung sind. Äußerlich betrachtet, ist die Darstellung der Mutterleibssituation weit „unpoetischer”, weit mechanischrealistischer als in der Fassung mit dem Rhododendrongebüsch. Das ist ein weiterer Beitrag zu dem Thema Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit der Ausdrucksmöglichkeiten des Traumes. Die Vorstellungen können, wie die Gegenüberstellung zeigt, den unterschiedlichsten, gegensätzlichsten Stoffkreisen entlehnt sein. Der nun herangezogene Traum enthält eine ungewöhnlich elementare Darstellung der Rückkehr in die Symboleinheit Wasser-Erde-Mutter. 15) Ich bin in einer Bucht der See, welche vom Lande eingeschlossen ist; die große See ist nirgends sichtbar; das Wasser hat fast keinen Wellenschlag; ich gehe etwas weiter fernab; hier ist schwarzes Moor; * Bekanntlich ist Friedrich Huchs Roman „Mao” ganz aus der Thematik des „alten Hauses” erstanden. Der Knabe, der die Hauptfigur der Dichtung ist, kehrt zum Schluß in das verlassene und zerstörte Haus zurück und findet dort seinen Tod. [35 | 36]
der Uferboden zeigt dicke, weiße, fettige Absonderungen, und, Ich denke: hier ist der Boden noch urbar und kolkig; ich ziehe mich aus und bade in dem Wasser; es ist lau und ölig. Man glaubt, diese moorig-urige, schlüpfrig-kolkige Erde fast mit den Sinnen wahrzunehmen. Die Bilder sind nicht dazu angetan, der Phantasie viel Spielraum zu gewähren: Der Mensch entkleidet sich seiner üblichen Attribute und steigt in das weiche schmierige Urbett des Lebens zurück, das mit einem Realismus nachgezeichnet ist, dem nur noch eine Steigerung möglich wäre: die Ersetzung des Sinnbildes selbst durch den weiblichen Leib. Enthüllt dieser Traum das Gemeinte in beinah aufdringlicher Härte, so zeigt ein anderer, daß ganz nahebei Instanzen in die traumbildenden Schichten eingelagert sind, die der Entschleierung mit recht großer Empfindlichkeit entgegenwirken können. Es handelt sich anstelle des alten Hauses um das Motiv der alten Stadt. 16) Ich bin mit meiner Mutter in der alten Stadt, nach langer Zeit; wir wollen die alten Straßen wieder besuchen. Wir bleiben stehen, sie fragt mich, wohin wir uns wenden wollen: ich nenne den Namen einer Straße und breche in Tränen aus. Ich sage: Wir wollen die alten Straßen sehen, aber ich will sie nicht mit Namen nennen. Hier ist die Mutter selbst im Traum gegenwärtig, und diesem besonderen Umstand dürfte es zuzuschreiben sein, daß die Dinge nicht „bei Namen genannt” werden. Der vorbewußte Sinn ist trotzdem derselbe geblieben. Wie Wasser, Erde und geschlossene Räume sind das Haus, der Garten, die Straße Symbole des weiblichen Leibes. Rein inhaltlich ist auch dieser Traum ein typischer Rückkehrtraum. Der gemeinsame Weg von Mutter und Sohn durch die alten Straßen ist für das Unbewußte gleichbedeutend mit den verräterischeren Sinnbildern der vorigen Träume. Erinnern wir uns jetzt an die Träume der Vierzehnjährigen (7, 8) so verdanken wir manchem inzwischen Erörterten eine Erweiterung und Abrundung unseres Blickfeldes. Seinerzeit erfuhren wir aus jenen beiden Träumen, daß die im Übergangsabschnitt stehende Jugendliche Geschehnisse träumte, die mit ihrem inneren Ringen um den Weg in das Reich der Erwachsenen in vollem Einklang standen. Selbstverständlich – und dies genug zu betonen wollen wir nicht müde werden – ist die innere Problematik dieser Lebenslage als ein schwebender, vorbewußter Inhalt des Seelischen zu verstehen, nicht als die etwa vom Bewußtsein außerdem ermittelte und irgendwie bearbeitete Kenntnis davon. Die Träume wurden uns, ihren Deutern, verständlich. Dem Bewußtsein der Träumerin blieb ihr Sinn dunkel. Hätten besondere Umstände dazu bewegen, so hätten wir die Assoziationsmethode an[36 | 37]
wenden und ihn ihr günstigenfalls an Hand ihrer Einfälle näherbringen können. Das Wunderbare, für den logischen Verstand kaum Faßliche der Traumfunktion liegt in diesem scheinbaren Widerspruch. Der Träumer träumt etwas Sinnvolles, ohne daß sein eigenes Bewußtsein den Sinn ermittelt. Dessenungeachtet kommt der Entstehung der Bilder die Bedeutung einer momentanen Absättigung der unbewußten Bedürfnisse zu. Für den gesunden Menschen ist der Traum zweifellos ein Entlastungsmittel. Es gibt allerdings Träume, die uns diesen Dienst nur unzureichend leisten, und aus denen wir mit heftiger Gemütsaufwallung erwachen. Hier war die Traumarbeit dann nicht auf der Höhe ihres Leistungsvermögens, oder die zugrundeliegende Regung war so heftig, daß die Abfuhr in eine gestaltende Betätigung der bilderschaffenden Kräfte nicht störungsfrei gelingen konnte. In der Untersuchung der Huchschen Träume sind wir eindeutiger als zuvor auf die latente Beunruhigung des Seelischen durch die Urpole Geburt und Tod zu sprechen gekommen. Wenden wir uns soeben den Übergangsträumen wieder zu, so wird uns nun die Übereinstimmung in Erstaunen setzen, die zwischen ihnen und den Rückkehrträumen nicht weggeleugnet werden kann. Der Vergleich weist auf einen beinah identischen Vorstellungsgehalt hin. Im einen wie im andern Fall tritt uns das Symbol Mutter als unersetzbarer Bestandteil entgegen. In den Übergangsträumen als Sinnbild des Todes und der zweiten Geburt. In den andern als Schooß des vorgeburtlichen Werdens, dahin es den fertigen Menschen wieder und wieder zurückzieht. Wägen wir jetzt beide Bedeutungen aneinander ab, so ergibt sich, daß ihr Unterschied bei der berechtigtermaßen weiten Fassung, die wir ihnen beilegen, fast aufgehoben wird. Es ist im letzten Grunde eins, ob der Zurückkehrende Tod und Wiedergeburt erlebt, oder ob er seine ausgestaltete Individualität mit der vorgeburtlichen Daseinsform vertauscht, schlechthin, um diesen Zustand als solchen wieder einzunehmen. Nicht das Aufgesuchte und Erreichte macht hier die Verschiedenheit aus sondern die vorangehende Verfassung. Für den Jugendlichen in der Reifeperiode ist diese Einkehr gleichbedeutend mit einem Abschluß ... drüben winkt das neue Ufer. Für den Erwachsenen ist sie der Richtung nach entweder Rückschritt oder Vorwegnahme des Todes. Es fehlt die in der Entwicklungskrise mit einbeschlossene Sinngebung eines Sterbens und Geborenwerdens um des lebensgesetzlich bedingten Sprunges willen. Mit anderen Worten: die immanente Unruhe in der Seele des Einzelwesens, die aus dem unüberschaubaren Gegensatz des Einzelwesen- und Teil-des-All-Seins entsteht, wird in der Reifeperiode, die diesen Gegensatz in der natürlichen Weite seiner Erlebbarkeit aufreißt, momentan gesteigert. Sie antwortet darauf mit [37 | 38]
der Prägung von Bildern, die – durchaus sinngemäß – das Motiv Geburt und Tod mit dem des Übergangs selbst vermischen. Die Übergangsträume erscheinen somit nur als ein thematisch differenzierter Sonderfall der traumbildenden Wirksamkeit des Rückkehrmotivs. Es wäre allerdings vergeblich, die besondere, nicht vergleichbare Bedeutung der Reifekrise zu bestreiten oder auch nur abzuschwächen. Hierfür sind außer den Volks- und Stammesbräuchen der Einweihung eine Reihe von Träumen wieder unsere besten Zeugen. Die Gegenüberstellung zweier Huchscher und zweier Doeppscher Träume wird uns dies bestätigen. 17) Ich kehre nach langer Fahrt in das alte Haus zurück. Fremde Menschen begegnen mir. Vor der Türschwelle spielen schmutzige Zigeunerkinder. Ich läute. Man öffnet. Ich sage meinen Namen, den Namen meiner Mutter. Die Leute sehen mich neugierig und mißtrauisch an und sagen, Menschen dieses Namens hätten nie das Haus bewohnt*. 18) Ich bin lange von zu Hause fortgewesen. Ich glaube, ich war weggelaufen, hatte mich jedenfalls verbotenerweise entfernt. Heute abend will ich nun zurück. Ich fühle mich unglücklich und verlassen und empfinde unbezwingliche Sehnsucht. Ich komme auf unsere Straße. Das Haus meiner Eltern liegt merkwürdig tot in der abendlichen Ruhe des Ortes. Alle Fenster sind geschlossen. Ohne Gardinen. Das Glas leuchtet rötlich im Abglanz des Lichtes. Dahinter gähnt eine entsetzliche Leere und Dunkelheit. Ich drücke – schon voller Angst – auf den Klingelknopf. Es schrillt fürchterlich durch das leere Haus. Ich läute ein zweites Mal – und ich begreife, daß niemand mehr da ist und daß ich niemals mehr zurück kann**. 19) Ich fahre auf der Eisenbahn, und zwar sitze ich ganz vorne wie auf dem Bug eines Schiffes. Allmählich wird die Straße breiter, und jetzt befinde ich mich wirklich auf einem Wasser, vorn auf der Spitze eines Schiffes. Hinter mir tönt Gesang von Schülern, welche von einer Fahrt heimkehren. Rechts und links erheben sich dunkle Häuserwände, jetzt fahren wir auf einem Kanal. Links an einer dunklen Wand liegt ein langgestreckter schwarzer Kahn,, in ihm kauert ein kleiner nackter Knabe, der die Hand ins Wasser hält. Jetzt fahren wir an einer Badeanstalt vorbei, und da befinde ich mich,auf dem Lande. Sonderbare Bildwerke aus Wachs stehen dort: Knaben ver* Dieser Traum ist nicht dem Bändchen „Träume”, der Quelle aller andern Huchschen Träume sondern Huchs Roman „Geschwister'', Berlin, S. Fischer Verlag, entnommen, wo er der jugendlichen Cornelia zugeschrieben ist. ** Hilde Doepp „Träume und Masken” [38 | 39]
schiedenen Alters; jeder trägt eine Unterschrift: Bildnis des ertrunkenen Knaben ... Ich bedenke, wie mancher unter ihnen wohl nicht ertrunken, sondern ertränkt sein möchte, und da sehe ich eine Gruppe und trete auf sie zu: Neben einer unbeweglichen eine zweite Wachsfigur, die den Oberkörper hin und her bewegt. Ich erkenne in ihr einen Freund, der sich mit achtzehn Jahren erschoß. Um seinen Hals ist eine Kette geschmiedet. In der unbeweglichen Nebenfigur erkenne ich einen Kameraden, der tröstend aussieht. – Die Figur macht stets dieselben gleichmäßigen, pendelnden Bewegungen; ich suche ihren Blick zu fangen, aber ihre Augen gleiten, wenn sie die meinen treffen, weiter. Da rufe ich seinen Namen. Die Bewegung hört langsam auf, die Figur hebt den Kopf und lauscht. Ich rufe ihn nochmals an, und sein Blick trifft mich wie aus Fernen. Ich frage ihn, ob er mich erkennt, und er nickt mit dem Kopfe. Ich frage ihn nach seinem Dasein nach dem Tode – ob er antwortete, weiß ich nicht mehr –. Plötzlich begannen die Bewegungen des Oberkörpers von neuem; ich rief ihn abermals, aber die Bewegungen wurden schneller und schneller, von Grauen gepackt wollte ich entfliehen, – aber da wurde er mich gewahr: Mit einem Ruck hat er sich die Kette vom Hals gerissen; jetzt stürzt er auf mich zu; ich taumle rücklings ins Wasser, und wie ich emportauche, wirft er mir die Kette um den Hals, wirft sich platt auf die Uferfliesen und zerrt mich dicht, dicht zu sich heran, daß mein Gesicht sein grinsendes, schimmelweißes, schwarzäugiges fast berührt* 20) Wir hatten zu Vielen eine Wanderung durch die Mark gemacht. Heinrich und sein Freund waren dabei, auch sonst nur bewegliche und unternehmungsfreudige Leute. Jetzt bin ich allein in Berlin. Fremd. Erkenne kaum etwas wieder. Bin aber trotzdem von unbändiger Freude erfüllt, wirklich in dieser Stadt zu sein: in Berlin. Ich suche Verwandte auf, die sich inzwischen hier niedergelassen haben. Der Empfang ist unerwartet kühl. Sie schlagen mir vor, mich einem Spaziergang mit ihnen und ihren kleinen Kindern anzuschließen. Gleich darauf sind wir auf einem Jahrmarkt. Dann auf einmal auf einem Friedhof, – hoch und öde und weit – aber doch: mitten in Berlin. Ich stehe in einem Weg und sehe neben mir eine lange Reihe verwahrloster Gräber, überwuchert mit Gras, das struppig, braun und winterlich ist. Es sind Kindergräber, – Gräber von „halberwachsenen” Menschen, und mich packt mit erschütternder Heftigkeit der Gedanke: das waren nun junge Menschen, die in Berlin lebten; was soll es ihnen schwer geworden sein, sterben zu müssen!** Die Träume 17 und 18 sind für uns von Interesse, weil sie einerseits eine Beziehung zu den Träumen 13 und 14 unterhalten und anderer* Friedrich Huch „Träume” ** Hilde Doepp „Träume und Masken” [39 | 40]
seits ein bekanntes Märchenmotiv, nämlich das der vergeblichen Suche nach der ehemals vertrauten Umwelt aufweisen.* Der Gegensatz zu den Träumen 13 und 14 besteht darin, daß die Träumerinnen einerseits nicht durch eine auf ihre Lebenspflichten hinweisende Instanz (Wächtermotiv) ferngehalten, andererseits aber doch nicht der Einkehr in den Urgrund (himmelartiger Steinhohlraum in 14) teilhaftig werden. Hier ist vielmehr die ersehnte Rückkehr schlechthin unmöglich. Das alte Haus ist leer oder fremd, seine Bewohner von einst unauffindbar und unbekannt. Es handelt sich wie in den damit motivgleichen Märchen um die Darstellung des Zustandes unmittelbar nach dem Übergang. Dieser wird als ein kürzlich erst aktuell gewesenes Ereignis erlebt. Die Tatsache der Entfernung von Hause findet daher beidemal Erwähnung. Wir können sinngemäß sagen, die beiden Träumerinnen beleben die Situation wieder, die in ihrem Seelischen entstehen mußte, als sie zum ersten Mal aus der Erwachsenenwelt kurz nach dem Übergang sehnsuchtsvoll ihren Blick zurückwandten. Die Träume 19 und 20 handeln ebenfalls von der Ausfahrt ins Leben und einem Rückblick von dort in die Vergangenheit. Nur reicht der Blick hier nicht bis zu dem verlassenen Ufer zurück, sondern bleibt an den Ereignissen des Übergangsgeschehens selber haften. Die Träumerin wie der Träumer befinden sich in einer aktiven unternehmungsbejahenden Verfassung. Mit ihnen zugleich sind Kinder unterwegs, von deren Lebenskreis sie als Erwachsene aber getrennt sind. Nun ergibt sich beidemal, daß von gewissen Jugendlichen – im Doeppschen Traum heißt es sehr treffend „Halberwachsenen” – berichtet werden muß, die in dem Traum der Frau als Frühverstorbene, in dem Traum des Mannes als qualvoll leidende Halbtote vor uns hintreten. Es ist klar, was es mit diesen Toten, Ertrunkenen, Ertränkten ... auf sich hat. Sie sind Verkörperungen der eigenen Vergangenheit, des Übergangsgeschehens. Die Anteilnahme am Geschick dieser im Zwischenreich Steckengebliebenen trägt deshalb auch Züge besonderer Ergriffenheit, die in 19 sogar die Gefahr heraufbeschwört, daß der Träumer selbst wieder in die Totenwelt hereingezerrt wird. Gewahren wir hier nicht in den beiden unterschiedlichen Fassungen der vier Träume die große nachklingende Bedeutung, die der Übergangszeit als Einschnitt in den Lebenslauf in der Erinnerung erhalten bleibt? Die beiden Erwachsenen, die diese Träume träumten, kehren im Traum an den Rand des Zwischenreiches zurück. In den zwei ersten erleben sie die Unwiederbringlichkeit der Kindheit sozusa* vergl. dazu Bruno Jöckel „Der Weg zum Märchen” [40 | 41]
gen frisch aus der Situation des ersten Rückkehrversuches. Die beiden letzten lassen sie die Schrecken der Durchgangsphase wiedererblicken. Entsprechend der Tatsache, daß die weiblichen Übergangsriten im Allgemeinen milder sind als die männlichen, spricht der Doeppsche Traum nur von Gräbern, allerdings verwahrlosten, verlassenen, auf denen das Gras struppig, braun und winterlich ist. Die elende Existenz der Halbtoten-Halblebenden im Huchschen Traum gemahnt hingegen an die dunkle Schreckenswelt männlicher Übergangszeremonien, die mit Elementen wie Peinigung, Fesselung, Verstümmelung und Geisterspuk einhergehen. Es fällt dem heutigen Menschen nicht ganz leicht, sich einzugestehen, daß alles dies tatsächlich, wie es unsere Träume zeigen, in ihm weiterlebt. Indessen sind wir ja den vorgeschichtlichen Abschnitten, in denen diese Bräuche auch bei uns ein Zubehör des Lebens waren, noch nicht so weit entwachsen, daß nicht sogar in lebenden Resten des Volksbrauchtums noch deutliche Erinnerungsspuren daran wahrzunehmen wären. Von hier aus gelangen wir nun endlich auch zum eigentlichen Verständnis der beiden nah am Anfang wiedergegebenen Träume mit dem Motiv der Rettung aus dem Strom (3, 4). Diese beiden Rettungsträume erschienen uns bei der vorläufigen Behandlung, die sie zunächst erfahren mußten, als Ausdruck weiblicher Sorge um die gefährdeten Schutzbefohlenen. In der Ludwigschen Fassung handelte es sich um die Rettung des Sohnes der Träumerin. Die Doeppsche sprach nur davon, daß das von der Katastrophe bedrohte Paar „sympathische junge Leute” waren, „Wandervögel”, die die Welt durchwandern wollten. Es ist uns bei unserer Rückschau jetzt kein Geheimnis mehr, was diese Träume eigentlich in ihrer durchsichtigen Darstellung ausgestaltet haben. Es ist wieder das Schicksal der Übergangszone, das in einer nochmals anders abgetönten Sicht vor unser Auge tritt. Die Dramatik des Geschehens, die plötzliche heftige Aktivität der Träumerinnen, deutet auf einen besonders stark erregten Affekt hin, dessen Herkunft wir unschwer erraten. Diese beiden Rettungsträume sind von der Funktion des Gebärens und Wiedergebärens her gestaltet und erlebt. Die Träumerinnen handeln als Mütter, die ihre Kinder dem Wasser entreißen oder wiederentreißen wollen. Aus der Psyche der Träumerin entwickelt, ist das so aufzufassen, daß die Bereitschaft, neues Leben zu gebären, sich als innere Regung mit Niederschlägen aus der Überganszeit und dem latenten Seinsproblem zu jenem Komplex ineinanderverschlungener Vorstellungen verknüpft, den das Bewußtsein – wir haben über diesen Mangel seiner Kapazität anläßlich des Traumes 10 das Wesentliche ausge[41 | 42]
führt – nicht zu begreifen und zu verwalten vermag. Seine Vergegenwärtigung obliegt, wie allemal im gleichen Fall, dem Traum. Wir haben schon in der ersten kurzen Interpretation auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß in beiden Träumen ein Austausch stattfindet. In der Ludwigschen Fassung ist dieses Motiv der Floßepisode selbst voraufgeschickt. Der im Grabe wiedergefundene Sohn sagt, er sei es nicht mehr, der Neue käme den Strom herabgefahren und müsse gerettet werden. Die Doeppsche Fassung geht umgekehrt zuwege. Nach der – unvollkommenen – Rettung der Jugendlichen wird ein Toter herausgebracht, um in die Wellen geworfen zu werden. Nachdem wir den Sinn der beiden Träume richtig ermittelt haben, ist dieser Austausch leicht verständlich. Das Seelische hat in Erinnerung behalten, daß in der Reifezeit das alte Ich stirbt und ein neues wiederersteht. In dem Wunsch das Kind – mit dem sich die Träumerinnen im Wiedereingehen in das Erlebnis gleichzeitig auch selber identifizieren – zu retten, wird der einstige Vorgang wiederholt. Das alte Ich wird als Toter der Erde oder dem Wasser wieder eingebettet, damit das Leben des neuen Ichs daraus hervorgehen kann. In einem anderen Traum Paula Ludwigs ist dieses Motiv des Austausches ohne das Wassersymbol zur Darstellung gelangt. Er handelt davon 21) daß ihr fünfjähriger Sohn gestorben ist und daß sie ihn auf der Erde nicht wiederfindet. Sie kommt dann in ein Zwergenreich unter der Erde und findet dort eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm, an deren Seite sie ihren Sohn entdeckt. Die Frau teilt ihr nun mit, daß sie wählen müsse: der Säugling habe die Seele ihres Sohnes, während in seinem eigenen Körper eine fremde Seele wohne. Dieser „Die Wahl” betitelte Traum ist eine Abwandlung der vorigen in der den Ludwigschen Träumen eigenen milden, Märchenluft atmenden Darstellungsart. An die Stelle des Wassersymbols ist das Reich unter der Erde mit einer Norne (= Urmutter) gerückt. Es handelt sich natürlich auch hier um den Tod des alten, die Wiedergeburt des neuen Ichs. Die Aufgabe, zwischen beiden wählen zu sollen, ist eine mehr ins Geistige erhobene Verbildlichung des ewigen Widerspiels der Pole Allwesen–Einzelwesen, das unsere Märchen und Träume der Seele in unerschöpflichen Varianten gegenständlich machen. Das Kind und seine vorgeburtliche Vorform gelten der Psyche noch als Allwesen. Ihr Verhältnis zu diesem Zustand des Seins ist ambivalent. Je nach der Wertbeilegung ist die Geburt ein Tod, der Tod eine Geburt. Die Wahl fällt nur dem in die Aktivität der Gesellschaftsvorgänge hereinbezogenen, geistig festgelegten Individuum leicht. Es [42 | 43]
entscheidet sich, je stärker sich sein Bewußtsein zu einer dominierenden Instanz ausgewachsen hat umso unbeschwerter, für das ausgereifte Einzelwesen. 5. Wir haben bei der Wiedergabe der ersten sechs Träume ihre beiden letzten (5, 6) den übrigen als Träger eines besonderen Inhalts gegenübergestellt, weil uns die Träumerinnen hier selber als Todesvermittlerinnen entgegentraten. Seither ist uns nur an zwei Stellen wieder Ähnliches begegnet. Einmal in dem zweiten Traum der Vierzehnjährigen (8), wo die Mädchen die wilden Männer bis auf einen mit der Pistole niederschießen, und einmal, abgeschwächt, im Märchen, wo die alte Frau Fische fängt und das Mädchen den Hund mit der Rute auf die Schnauze schlägt. In diesen beiden Beispielen ist uns die Deutung des Vorgangs nicht schwer gefallen. Die Mädchen handelten zweifellos aus Angst. Wir fügten – in Parallele zu einer Jöckelschen Bemerkung – hinzu, daß sie damit gleichzeitig eine männliche Einstellung übernahmen. Diese Bemerkung erscheint uns als recht wichtig, da sie auf ein Verhalten hinweist, das wir in den beiden Jägerinträumen in noch beachtlicherem Grade dargestellt sehen. Beidemal ist die Träumerin hier – mit den üblichen kleinen Unterschiedlichkeiten – Teilnehmerin an einem männlichen Geschehen. In der Ludwigschen Fassung bezeichnet sie sich sogar selbst als Mann: Ich bin ein Jäger und trage ein grünes Kleid. Aufmerksam geworden auf diesen wiederkehrenden Zug, halten wir sogleich noch einen zweiten fest, der allerdings dem Märchen abgeht. In den drei restlichen Fällen handelt es sich nämlich jedesmal nicht um ein Unternehmen der Träumerin allein sondern um das einer Gruppe. Paula Ludwig hat auf diese Eigenart selber in der Überschrift hingedeutet, die ja „Die Gefährten” lautete. Im Traum der Vierzehnjährigen ist die Gemeinschaft zu Mehreren von vornherein bekanntgegeben. Der Doeppsche Traum spricht von zwei Parteien. Die Partei, zu der die Träumerin selbst gehört, besteht mindestens aus drei Personen, der Träumerin, dem Mann, der den Schuß abgibt, und dem Jägergehilfen, der die Tote birgt. Wir haben zu den Jagdträumen bisher, kurz zusammengefaßt, in dem Sinne Stellung genommen, daß sie die Vernichtung einer Person zum Inhalt haben, die als Bedrängerin des eigenen Lebensraums empfunden wird. Die getötete Frau (6) erschien uns als Inbegriff des aus[43 | 44]
breitungslüsternen, fremdländischen Nachbarn, das enthauptete Kind als ein durch die entstellende Tendenz der Traumarbeit verwandeltes, inhaltsgleiches, aber äußerlich geradezu ins Gegenteil verdrehtes Abbild davon. Ihre Tötung beziehungsweise die Art des Umgangs mit dem abgeschlagenen Haupt, die uns an die einstige Beziehung zur Jagd- und Kampfestrophäe denken ließ, veranlaßte zu einem Streifblick in die vorgeschichtlichen Zustände, in denen der Mensch seinen Boden noch gegen die Tierwelt zu verteidigen hatte. Gehen wir bis zu diesem Punkt zurück, so vermuten wir jetzt, daß im Grunde der beiden Träume ebenfalls ein Angstmotiv verborgen ist. Die fremdländische Frau und das kleine Mädchen wollen uns als Sinnbilder eines Inhalts erscheinen, auf den die Träumerinnen mit Angst reagieren. Es steht damit nicht anders wie bei dem Zusammentreffen der Mädchen in 8 mit den wilden Männern, nur daß bei unseren beiden Träumen erst mehrere Bedeutungsschichten abgehoben werden müssen, um diesen Sinn endlich freizulegen. Wir sind indessen mit dieser Offenbarung noch kaum über das Zuvorgesagte hinausgekommen. Bedrängung des Lebensraumes durch äußere Gefahr, deren Verkörperung in den Jagdträumen letzten Endes das wilde Tier ist, was sagt uns dies im Vergleich zu den Funden, die sich bei der Bearbeitung unserer anderen Motive ergaben! Wir verstehen, daß diese Träume Gruppenerlebnisse an die Stelle des Einzelerlebnisses gesetzt haben. Begreiflicherweise: unter dem Angstaffekt suchen wir nach Gefährten. Dabei erinnern wir uns nun lebhaft des Umstandes, daß der Ludwigsche Traum vom Anfang bis zum Ende als Begleitmotiv des Übrigen ein nicht voll erfolgreiches Suchen nach den Gefährten mit aufwies. Von hier aus rät es sich, eine Brücke zu unsern beiden allerersten Traumwiedergaben (1, 2) zu schlagen. Auch dort hat die Träumerin nämlich Miterlebende zur Seite, die das Abenteuer in ähnlicher Weise zu bestehen haben wie sie selbst. Ist dies eine immerhin greifbare Parallele, so scheint es sonst doch nur noch eine Übereinstimmung zwischen ihnen und dem zweiten Traumpaar zu geben, nämlich die, daß hüben wie drüben ein Angstkomplex eine Rolle spielt. Die beiden ersten Träume gleichen in gewissen Motiven dem Blaubartmärchen. Frauen sind in der Gewalt eines übermächtigen Mannes, der sich anschickt, sie auf grauenhafte Weise umzubringen. In den Märchen kommt dann schließlich eine Glückliche, die gewisse geheim gestellte Proben richtig löst und dem Spuk durch Entzauberung des Mannes ein Ende macht. Wie Jöckel* nachweisen konnte, gehört * Bruno Jöckel „Der Weg zum Märchen” [44 | 45]
dieses Märchenmotiv zu den Darstellungen der Reifeprüfung des Mädchens. Während diese bei der Mehrzahl der Märchen in der Hand der Frau liegt und sich nach unserem oft erörterten Schema der Einsargung und Wiedergeburt vollzieht, ist es in den Blaubartmärchen einer männlichen Figur überlassen, die Vernichtung der kindlichen Form zu vollstrecken. Sie haben überwiegend grausameren Charakter als die andere Gruppe und erinnern in ihren blut- und jammerreichen Einzelheiten an die Gespenster- und Geistermärchen, in denen männliche Jugendliche ihre Proben bestehen müssen. Wir sind damit wieder auf unser altes Thema zurückgekommen und bleiben noch eine Weile bei dem Blaubartstoff. Was hat es, so müssen wir uns fragen, für eine Bewandtnis damit, daß die Darstellung hier auf einen Teil ihrer sonst üblichen Inhalte verzichtet, während sie andere, die ihrerseits ein typisches Gepräge aufweisen, an deren Stelle rückt? Der Ludwigsche Zauberertraum – wenn wir ihn so bezeichnen wollen – verrät in aller Deutlichkeit die Verliebtheit der Träumerin in ihren Peiniger. Sollte dies ein Schlüssel zu seinem Verständnis sein? Bezüglich des Doeppschen Traumes kann man nicht so sehr von Verliebtheit als von einem Verfallensein sprechen. Wir brauchen diesen Unterschied jedoch nicht sehr herauszukehren, denn für den Verlauf des Geschehens ist die Färbung des erotischen Gefühls nach der einen oder andern Richtung offenbar nicht von besonderer Bedeutung. Hier wie dort ist die Träumerin dem Manne auf Gnade und Ungnade restlos ausgeliefert. Des Hin- und Herwendens noch nicht müde, greifen wir nochmals auf den zweiten Traum der Vierzehnjährigen (8) zurück. Er enthält nicht nur Motive, die mit den Jagdträumen in Verbindung gebracht werden können, sondern in beinah breiterem Ausmaße solche, die einen Vergleich mit dem Blaubartstoff gestatten. Fürchten sich doch die Mädchen hier ebenfalls vor einem Abenteuer mit der Männerwelt, das sie andererseits, wie der Traum in seinen Details zum Besten gibt (Motiv des Herbeiwinkens und des Sich-häuslich-Einrichtens), nicht abzulehnen scheinen. Auch diese Mädchen erwarten etwas Grauenhaftes. Die Männer, die ihnen nahen, werden als „wild” empfunden, was im Grunde gleichbedeutend mit grausam ist. Die Summe dieser Vergleiche führt uns allmählich zu einem gewissen Ertrag. Die beiden Zaubererträume sind Darstellungen des weiblichen Liebesverlangens, bei denen sich dem Verlangen die gleiche Angst beigesellt, die in dem Traum der Vierzehnjährigen zur Tötung der Mehrzahl der wilden Männer den Anlass gibt. Die Träumerin [45 | 46]
befindet sich auch hier nicht ohne Gefährtinnen. Diese sind aber nicht imstande, mit ihr an eine resolute Verteidigung zu denken, wie sie die Mädchen schnell entschlossen unternehmen. Sie befinden sich – besonders deutlich im Doeppschen Traum – in jenem Zustand der Regungslosigkeit, des halben Todes, den wir bei den Träumen 19 und 20 als Kennzeichnung des Zwischenreiches verstanden haben. Nun lichten sich für uns die Zusammenhänge: Die Träumerinnen fürchten, durch ihr Erlebnis mit dem Mann in diesen Zustand zurückversetzt zu werden. Die erotische Regung hat in ihrem Innern die Erlebnissphäre der Übergangskrise mit ihren latenten Spannungen wieder wachgerufen. Das ist vielleicht im Grunde jedem Liebeserlebnis bis zu einem gewissen Grade eigen. Hier erhält es jedoch, da es sich um Träume handelt, also um Darstellungen der vorbewußten Inhalte, die ganze Gewalt, zu der das Erlebnis kraft der dort bereitliegenden Zuströme gesteigert werden kann. In unserer ersten kurzen Stellungnahme zu den beiden Träumen formulierten wir den unmittelbaren Eindruck, den sie hinterließen, mit der Feststellung, die Liebe werde von den Träumerinnen als dämonisches Geschehen erlebt. Wir wissen jetzt, was das besagen will. Das Liebesabenteuer verdankt seinen dämonischen Charakter der Vermengung von Begehren und Todesangst. Der Traum läßt den Partner als magische Person erscheinen, der die Aufgabe der Vernichtung zugefallen ist und die sich anschickt, die Prozedur zu wiederholen, die einst den Inhalt der Reifekrise ausgemacht hat. Die beiden Träumerinnen sind in deren Randzone regrediert, was sich bis in die Symbolik der geschlechtlichen Inhalte, die wir trotz ihres eigentlich anonymen Charakters unerwähnt lassen, zu erkennen gibt. Es ist durchaus verständlich, daß der Traum im Gegensatz zum Märchen gleichen Inhalts die Erlösung des Mannes, das heißt die Durchbrechung dieser Sphäre, nicht gelingen läßt. Ist seine Funktion doch darauf beschränkt, die vorhandene seelische Spannung, die im Bewußtsein nicht zum Ausdruck gelangen kann, in einer Bilderfolge, die dieses vermag, Gestalt gewinnen zu lassen. – Die beiden „Jägerinnen aus Angst” gliedern sich dem Rahmen dieser Deutung bisher noch in keiner Hinsicht ein. Es könnte den Eindruck erwecken, als hätten wir sie ganz aus den Augen verloren. Jedoch auch ihnen sind wir bereits etwas näher gekommen. Unser letztes Wort über sie war, daß ihr Auftreten in einer Gruppe von Gefährten auf Angst beruhen müsse, und daß diese sinngemäß als Angst vorm wilden Tier zu deuten sei. Damit war eine Herleitung aus den alten Schichten des Seelischen versucht worden, zu der an sich die natürlichen Voraussetzungen gegeben sind. [46 | 47]
An Hand der beiden Träume der Vierzehnjährigen haben wir uns kurz mit der Bedeutung der Tiersymbolik beschäftigt, die sich wie die sinnbildliche Bedeutung des Wassers selbstverständlich einst aus Erlebnissen der Wirklichkeit in das Seelische eingezeichnet hat. Einst waren die wilden Tiere unsere gefährlichen Gegner. Seit damals lebt in unserm Innern eine instinktive Kenntnis dieser Gefahr weiter, mit der, wie wir erwähnten, das Affektive des heutigen Jagdwesens noch zusammenhängt. In der gleichen Frühphase werden jedoch Sinnbilder im Seelischen entstanden sein, die mit der Vorstellung Tier allmählich immer Bestimmteres wiedergeben wollten, wenn sie von Innen her im Seelischen in Erscheinung traten. Die Mehrzahl der häufiger verwendeten Tiervorstellungen ist dabei zum Symbol für zwei Inhalte geworden: nämlich erstens für das als tierisch Empfundene in unserer Natur und zweitens für das Geschlechtliche, insbesondere seine männliche Ausprägung. Wir haben männliche Sexualsymbole dementsprechend bereits in Gestalt der Vorstellungen Hund und Fisch namhaft gemacht und damals hinzugefügt, daß auch die „wilden Männer” Verkörperungen des Männlichen in diesem Sinne bedeuten. Folgen wir der damit eingeschlagenen Richtung unseres Gedanken-ganges, so blitzt eine Deutungsmöglichkeit auf, die der Verstand sogleich als Absurdität abstempeln möchte, nämlich daß die fremdländische Frau und das enthauptete Mädchen nicht allein traumhafte Vertretungen für das aus Urgründen gefürchtete Tier einer heute fernen Wirklichkeit sind, sondern zugleich Symbole des männlichen Geschlechtsprinzips. Diese Annahme erscheint so ausnähmlich widersinnig, weil es sich dann darum handeln würde, daß weiblichen Personen die Rolle zufiele, ihr Gegenteil, das Männliche, zu verkörpern. Daß der Traum indessen Vertauschungen mit dem Gegenteil aus inneren Gründen vorzunehmen wagt, haben wir früher schon gerade in Bezug auf den Traum 5 auseinandergesetzt. Derselbe Traum erlaubt sich dies im Übrigen an einer Stelle in voller Offenheit – allerdings zu anderem Behuf nämlich dem einer Identifizierung – indem die Träumerin, ohne eigenes Verwundern darüber zu äußern, nicht etwa als Jägerin sondern als Jäger in Erscheinung tritt. Lassen wir uns nach diesem Rechtfertigungsversuch auf die so kühn wirkende Deutung ein, so hat das Ergebnis etwas Bestechendes. Die beiden Jagdträume werden damit nämlich zu wirklichen Parallelen des Amazonenmotivs in unserem Vergleichstraum. Sind die beiden Getöteten wirklich Verkörperinnen des Männlichen, so erhält das Jäger- beziehungsweise Jagdteilnehmerinsein den Sinn „Amazone [47 | 48]
aus Angst vor dem Mann”. Und dieses hat, wie wir uns nicht verhehlen dürfen, in dem Enthauptungsmotiv eine gewichtige Stütze. Die Vorstellung der Enthauptung des Mannes durch die Frau hat für unser Bewußtsein eine tiefverletzende, besonders grauenvolle Gefühlsnote. Im Märchen begegnen wir der Köpfung des kleinen Jungen im „Machandelboom” durch seine Stiefmutter. Aus dem Stoffkreis der Tragödie sind uns die Gestalten Judiths mit dem Haupt des Holofernes, Salomes mit dem des Johannes gegenwärtig. Angrenzend meldet sich der Bereich des Amazonentums, dem jedoch die spezielle Scene der Enthauptung fehlt. Die Verkörperungen weiblicher Kampfeslust und Grausamkeit, Penthesilea, Medea, die Bacchantinnen, die Furien, sind mehr der Ausdruck einer allgemeinen Wildheit, sei es unter dem Auslösehebel der Rache oder der Raserei des Taumels. Es ist also eigentlich ein besonders seltenes Motiv. Dennoch muß den vorbewußten Schichten eine gewisse Bereitschaft zu seiner Manifestation innewohnen, wenn sogar das Märchen sich – wieder in der üblichen Abschwächung des Ersatzes durch einen Knaben anstelle des erwachsenen Mannes – zu seiner Ausgestaltung bereitfindet. Als Traummotiv ist es jedenfalls keine Seltenheit, und hier kommt ihm allerdings eine durchaus spezielle Bedeutung bei, die die Jöckelsche Arbeit bei der Behandlung des „Machandelbooms” nicht übergeht, nämlich die der Entmannung. Wem nunmehr der Geduldsfaden ob der abstrusen Zumutung, die Enthauptung weiblicher Personen als Darstellung der Entmannung auffassen zu sollen, endgültig zu reißen droht, der vergegenwärtige sich noch kurz zuvor die doch sehr abstruse Vorstellungsverknüpfung, die der ungedeutete Traum ihm zumutet. Auf der Jagd befindliche Personen schießen jenseits der Grenze eine Frau nieder. Gut, das wäre der bloßen Logik nach ein annehmbarer Inhalt. Warum aber wird dieser Frau, nachdem sie schon beseitigt ist, der Kopf abgeschlagen? Warum trägt die Träumerin ihn mit sich herum? – Ein Jäger, der seine Gefährten sucht, findet den abgeschlagenen Kopf eines Mädchens. Er nimmt ihn an sich und sieht sich weiter nach dem Verbleib der Jagdgenossen um. – Wir kennen die weiteren Elemente der beiden Träume, die nachfolgende Vergeltungsangst beidemal; das läßt sich jetzt übergehn. – Wenn es sich-um bloße Unsinnigkeiten handeln könnte, so bedürfte es keiner Aufwendungen um irgendeine Erklärung überhaupt. Wir haben unseren früheren Bemühungen jedoch entnommen, daß den scheinbaren Ungereimtheiten sinnvolle Verknüpfungen innewohnen. Und wir sehen das Motiv in unserm knapp gehaltenen Material nicht nur ein- sondern zweimal mit all seinen Fragezeichen vor uns hingestellt. [48 | 49]
Sinnbilder der Entmannung sind dem tiefenpsychologisch geschulten Traumforscher als ein häufiger Bestandteil vieler Träume, mögen sie von männlichen oder weiblichen Personen stammen, bekannt. Neben der Enthauptung sind die Blendung, das Abhacken der Hände, das Ausschlagen der Zähne und ähnliche Verstümmelungen Symbole der Kastration. Es ist, wenn man sich die Voraussetzungen klar macht, durchaus verständlich, daß der Traum in bedeutendem Maße sexuelle Elemente aufnehmen und behandeln muß. Wenn wir ihn als das Gebilde erkennen, das die latenten Inhalte des Vorbewußten momentan durch Produktion einer Bilderfolge aufhebt oder wenigstens in der damit erteilten Anschaubarkeit bindet, so ergibt sich daraus seine allbekannte Einspannung in den Dienst der Triebbefriedigung. Wie es Träume gibt, die das Verlangen nach Reichtum, Erfolg und anderen Glücksgütern durch illusorische Wunscherfüllung befriedigen oder Hunger und Durst in fürstlicher Verschwendung mit Speise und Trank aufwarten, so gibt es entsprechende auf sexuellem Gebiet die Fülle. Daneben aber verflicht die Thematik des Urproblems, das Doppelgesicht der Individuation, ihn immer wieder mit den Spuren jenes Geschehens, das der konkreteste Berührungspunkt des Einzelseins mit dem Allsein bedeutet. Die Funktion der Zeugung ist, von welcher Seite her der Betrachter den Inhalt des individuellen Daseins immer ausschöpfen mag, der Knoten, der es mit dem Strom des Kosmischen nach der Reifung wieder verknüpft. Die Folgerung hieraus für den Bestand der bewegten vorbewußten Seeleninhalte ist leicht zu ziehen. Sie müssen in reichlichem Maße mit geschlechtlichen Vorstellungen geladen sein. Räumt man dies grundsätzlich ein, so ist es, um auf unseren engeren Fragenkreis zurückzukommen, kein großer Schritt mehr bis zur Anerkennung der weiteren Möglichkeit, daß gerade die körperlichen Unterschiede im Bereich des Geschlechtlichen, zumal ihre Vergegenwärtigung unter Umständen die Triebe entfachen kann, im Vorstellungsschatz des Vorbewußten eine besonders wichtige Rolle spielen dürften. Daß dies der Wirklichkeit entspricht, kann jeder Traum-, Mythen- und Märchenkundige, der über den nötigen psychologischen Spürsinn verfügt, falls er nur einmal darauf aufmerksam geworden ist, bestätigen. Und zwar wird die Bedeutung dieses Gebietes dem geschulten Auge durch zwei Umstände praktisch dokumentiert: die außerordentliche Breite seines InErscheinung-Tretens und die lediglich andeutende, sinnbildliche Fassung, in der dieses sich vollzieht. Der Verstand steht diesem Phänomen hilflos gegenüber, solange ihm nicht einleuchtet, daß es sich in ihm wiederum um jene lebenseigentümliche, komplexe Zusammenschließung seelischer Erfahrungsinhalte, [49 | 50]
Regungen und Triebanteile handelt, die das Bewußtsein als solche nicht in sich aufzuweisen hat. Die Entmannung nun ist deshalb ein besonders häufig zutagegeförderter Trauminhalt – wohlgemerkt in sinnbildlicher Form –, weil sie der Ableugnung des Geschlechtsunterschiedes in ganz hervorragender Weise Ausdruck zu geben vermag. Ein entmannter Mann ist kein Mann mehr. Er ist Neutrum geworden. Besteht im Vorbewußten einer weiblichen Heranwachsenden etwa unter der Last der miterregten latenten Gesamtproblematik der vielfältig verwurzelte Wunsch, der Mann möge weniger gefährlich, weniger unheilvoll sein, als sie es in ihrer ins Vorbewußte abgeschobenen Lebensangst befürchtet, so kann es für die rasch schaltende Bilderproduktion des Träumens kaum ein einfacheres Mittel geben, als den im Übrigen bereits ersehnten Partner seiner kennzeichnenden Merkmale zu berauben und diese womöglich der Träumerin selbst zu übertragen. Wie dies im Sinnbild ausgestaltet werden kann, das lehren uns unsere wenigen Beispiele bereits in hinreichendem Maße. Das Mädchen selbst wird männlich, also etwa Jäger, Jägerin, Waffenträgerin; es erhält eine Pistole, eine Rute, einen Stock oder irgendein anderes Schlag, Hieb- oder Stichinstrument. Der Mann aber geht entweder eines solchen Gegenstandes, der vorher sein war, oder eines Körperteils, womöglich des Kopfes, verlustig. Und diesen abgeschlagenen Körperteil kann sich die Träumerin, was dem Traum dann gewiß einen grauenhaften Zug verleihen muß, aneignen, wie es unsere Jägerinnen mit dem Kopf ihrer Opfer tun. In diesem Lichte gesehen wird uns das Maschenwerk der Gestaltungsarbeit in den beiden Träumen nun vollends durchsichtig. Die fremdländische Frau und ihr abgeschwächtes Ebenbild sind von den Träumerinnen weiblich dargestellt worden, einmal weil der Trauminhalt eine entstellende Verkleidung suchte und zweitens weil damit bereits eine erste Entmännlichung des Mannes vollzogen werden konnte. Ihre Enthauptung ist eine nochmalige Entmannung, die völlig unlogisch erscheinen muß, aber tiefen Sinn erhält, wenn wir uns daran erinnern, daß der zuerst ermittelte Inhalt der Träume als nebenherlaufende Komponente, als Teil der Gesamtregung, ein gewisses Eigenleben führt. Die komplexe Art des Traumgeschehens wird gerade an einem solchen Beispiel in ihrem Umfang und ihren Verzweigungs- und Deckungsmöglichkeiten in besonders günstiger Weise sichtbar. Die Bewältigung des Unruheherdes, so können wir sagen, war mit jenem ersten Schritt noch nicht erreicht. Dieses Bild behielt Züge, welche seine Herkunft aus dem Arsenal der Ängste immer noch zusehr verrieten. Das Moment des Fremdländischen und Expansiven blieb bestehen, und [50 | 51]
von hier aus wurde jener elementare Anschluß der zwei Sphären: Grenzland – Jagd, feindlicher Nachbar – Tier herbeigeführt. In ihm aber traf das Psychische erneut mit einem Inbegriff des Männlichen zusammen, der sinnbildlichen Bedeutung des Tieres, auf welchen es nun mit dem Vollstrecken einer nochmaligen Entmannung reagierte. Wir müssen uns darüber klar sein, daß eine derartige Auftrennung in zeitlich Aufeinanderfolgendes nur durch die Erfordernisse der Übersetzung ins „Verständliche” Berechtigung erhält. Der Traum leistet seiner Herkunft entsprechend alles in einer geschlossenen, von vornherein aus dem Ganzen des jeweiligen Erlebens diktierten Bedeutungseinheit. Diese können wir nur umschreiben oder ähnlicher Gestaltung an die Seite stellen. Eine unmittelbare Wiedergabe des Gegenwärtigseins aller Bestandteile zugleich ist im Anschauungsrahmen des Verstandes nicht möglich. Wir kommen zu dem Ergebnis, daß die beiden Jagdträume ebenfalls Träume sind, in denen sich eine rückwärtige Verbindung mit dem Zwischenreich auswirkt. Unmittelbares Symbol dafür ist im einen die Grenze, im anderen die winterliche Jahreszeit, die gleichzeitig Sinnbilder jener Inhalte sind, die wir schon aus ihnen entwickelt haben. Auf die Figur des kleinen Mädchens fällt von hierher noch ein neues Licht. Erinnert es nicht an die im Winterwald sterbenden oder in Schlaf versenkten Mädchen so mancher Märchen, die auf diese Art die Übergangsphase wiedergeben? Gewiß! Und auch der Leichnam der getöteten Frau in der Kammer erinnert uns an entsprechende Sinnbilder. Die Träumerinnen haben sich in einer der vielen Verästelungen des Gewebes mit diesen Sinnbildern selbst als in das Zwischenreich Zurückgekehrte dargestellt. Sie sind hier vorübergehend in ihren Opfern selber gegenwärtig. Wir haben solche Gleichsetzungen ja früher schon kennen gelernt. Trotzdem ist das umfassendste Thema dieser Träume, ihr eigentliches Anliegen, die Beseitigung der Kennzeichen des Männlichen. Am Ende des Ludwigschen Traumes, der wie der Doeppsche unter der Herrschaft der Vergeltungsangst ausklingt, ist dies sinnbildlich noch einmal sehr greifbar angedeutet. Die Gefährten werden dort durch zwei kleine Ereignisse wieder etwas ruhiger gestimmt. Zuerst fällt ein Strohhalm nieder, dann erscheint ein Vogel. Hier werden in einer deutlich erkennbaren Abstufung zwei Symbole des Männlichen herbeigezogen, um die Untat wieder aufzuheben. Erst der leere Strohhalm, der noch nicht zur Sühne genügt. Dann der Vogel, der voll lebendig ist und sein Nest baut. [51 | 52]
Der leitende Gesichtspunkt, der sich bei der Untersuchung der Träume herausstellt, ist oft von uns formuliert worden. Der Traum dient der Objektivierung eines Gehaltes, der im Bewußtsein nicht dem Grade seiner seelischen Bedeutung entsprechend gegenwärtig wird. Die Inhalte, die dieses Schicksal haben, stellt er in Anbetracht seiner Verankerung im Bereich des Vorbewußten sinnbildlich dar. Er kann dabei zum Träger, größter wie auch einfachster seelischer Stoffe werden. Die Träume, auf die wir in dieser Abhandlung eingegangen sind, sind, wie die trotz ihrer verschiedenen Herkunft bestehende enge Übereinstimmung, oft bis ins Einzelne hinein, zur Genüge erkennen läßt, durchweg typische Träume. Daß ihre Thematik sich fast immer wieder um dasselbe bewegt, liegt nicht an einer persönlichen Gleichheit der Träumer, sondern an der Allgemeingültigkeit des hier wie in den Mythen und Märchen ewig wiederkehrenden Grundkomplexes. Wir haben nicht ohne Absicht mehrmals gleichsinnige Träume einander gegenübergestellt, deren persönlich bedingte Ausdrucksart stark voneinander abwich, wie die von Paula Ludwig und Hilde Doepp. Gerade dies wird dem Leser ein Fingerzeig dafür sein, wie kennzeichnend für unsere Seele das unter so verschiedenem Kleide als gleichartig zu erkennende Gerüst sein muß. Es ist in Wahrheit nicht viel anders damit bestellt als beim Körper, der, solange seine Funktionen nicht durch einen Krankheitsprozeß verändert sind, in den Grundvorgängen der Organtätigkeit – trotz aller persönlichen Unterschiede der Menschen – beim Einen nicht viel anders als beim Andern der Erfüllung der Lebensgesetze nachgeht, die ihm in seiner kosmisch-biologischen Bezogenheit auferlegt sind. [52]