Die Kulturen waren reif, um abgeerntet zu werden. ERNTEZEIT von Hal Clement Keiner wußte, woher es kam, aber es war da ...
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Die Kulturen waren reif, um abgeerntet zu werden. ERNTEZEIT von Hal Clement Keiner wußte, woher es kam, aber es war da und wuchs ... DAS UNGEZEUGTE KIND von Winston Marks Das Raumschiff des Fremden war wie verhext. Was man berührte, wurde zur tödlichen Falle ... HÄNDE WEG! von Robert Sheckley Was Zivilisation ist, bestimmt der Eroberer ... WIR SIND KEINE WILDEN von Mark Clifton und Alex Apostolides In Eis und Kälte wuchs eine neue Menschheit heran, während die alte ins Chaos taumelte ... FERN DER WÄRMENDEN SONNE von R. D. Nicholson Er hatte Gott spielen und der gesamten Menschheit einen Bären aufbinden wollen. Aber die Geister, die er rief, hatten ganz andere Pläne ... EXODUS von Wyman Guin
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2,11,12, 53–73
Ullstein Buch Nr. 3544 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lothar Heinecke Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus GALAXY SCIENCE FICTION MAGAZINE Copyright © by Galaxy Publishing Corporation Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Augsburger Druckund Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03544-2
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-Fiction-Stories / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 74. / Mit Beitr. von Hal Clement ... [Aus d. Amerik. übers. von Lothar Heinecke]. – 1978. (Ullstein-Bücher; Nr. 3544: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03544-2 NE: Clement, Hal [Mitarb.] VW: Stubbs, Harry Clement (Wirkl. Name) –› Clement, Hal
Science-FictionStories 74 Herausgegeben von Walter Spiegl Mit Beiträgen von Hal Clement Winston Marks Robert Sheckley Mark Clifton und Alex Apostolides R. D. Nicholson Wyman Guin
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Erntezeit Hal Clement .......................................................
6
Das nichtgezeugte Kind Winston Marks ...................................................
32
Hände weg! Robert Sheckley ..................................................
47
Wir sind keine Wilden Mark Clifton und Alex Apostolides .................
89
Fern der wärmenden Sonne R. D. Nicholson .................................................. 108 Exodus Wyman Guin ...................................................... 147
Hal Clement ERNTEZEIT »Ich muß sagen, Sie haben mich arg enttäuscht«, sagte der Klassenaufseher mit scharfem Tadel in der Stimme. »Rein persönlich wie auch vom beruflichen Standpunkt aus sind mir schlecht bewirtschaftete Felder ein Greuel, und leider, leider haben Sie dafür ein Musterbeispiel geliefert.« Er schwieg einen Augenblick, während er zerstreut den Weg der Kugelbeete verfolgte, die langsam um den Zentralstrahler kreisten. »Natürlich würde ich mehr Nachsicht üben können, wenn nicht Ihr eigenes Unvermögen dafür verantwortlich zu machen wäre. Nein, nein –« der Protest seines jungen Zuhörers wurde im Keim erstickt, »ich sehe vollkommen ein, daß junge Leute erst Erfahrungen sammeln müssen, und das kann man nur, wenn man experimentiert. Aber warum nicht von den Ergebnissen der Experimente anderer Leute Gebrauch machen? Sie werden finden, daß ähnliche Dinge schon früher passiert sind.« »Das habe ich nicht gewußt.« Die Antwort kam trotzig, was der respektvolle Ton nicht ganz verbergen konnte. »Woher denn auch?« »Haben Sie eine Schule besucht oder nicht?« Die Frage verriet eine gewisse Hitze. »Ich möchte bloß wissen, was heutzutage die Lehrer ihren Schülern eigentlich beibringen. Sie sind noch jung, aber ich hatte – nach dem, was mir über Sie gesagt worden war – angenommen, daß Sie gerade für die Landwirtschaft
gewisse Qualifikationen mitbringen würden. Das war der eigentliche Grund, warum ich dachte, man könnte es mit Ihnen für einige Jahre einmal ohne Aufsicht versuchen. Nun, und jetzt das! Waren Sie etwa mit dem Ernteertrag unzufrieden?« »Ja sicher. Wozu studiert man denn sonst Landwirtschaft?« »Wenn Sie sich diese Frage nicht selber beantworten können, dann will ich es auch nicht versuchen. Berichten Sie mir jetzt bitte in allen Einzelheiten, was Sie getan haben. Haben Sie etwa versucht, die Arbeitsleistung des Zentralstrahlers zu erhöhen?« »Für was halten Sie mich denn!« flammte der junge Student auf. Der andere behielt seine Gelassenheit. Er schien über die Empörung des jungen Mannes eine gewisse Belustigung zu spüren, was in seiner Entgegnung mehr zum Ausdruck kam, als die Höflichkeit das eigentlich erlaubte. »Passen Sie nur auf, daß Ihre Kruste nicht platzt! Sie werden sie bei der nächsten Erntezeit noch brauchen können, wenn Sie sich dem Zentralstrahler nähern. Nun, Sie werden es nicht glauben, aber manche Leute probieren es immer wieder. Ab und zu hat jemand damit sogar Erfolg; deshalb glauben die anderen, daß der Versuch sich lohnt. Also wenn es das nicht war, was haben Sie dann gemacht? Übrigens, wenn ich mich an dieses Sonnensystem recht erinnere, so fehlt Ihnen eine Parzelle, oder?« Der Student brauchte einige Augenblicke, um die richtigen Worte zu finden. »Eine der Parzellen schien praktisch ideal zu sein. Als sie anfing, zu erstarren, war sie gerade weit genug vom Zentralstrahler ent-
fernt und gerade groß genug, um noch eine dünne Oberflächenschicht leichter Elemente zu behalten, und ihre Reaktion auf eine Kultivierung mit Gewächsen auf Wassergrundlage war einfach großartig. Auf den kälteren konnte ich übrigens gute Resultate mit Ammoniakkulturen verzeichnen.« »In dieser Bodenart nicht unmöglich. Ich habe allerdings bemerkt, daß einige dieser Parzellen kahl sind. Hat sich Ihr Experiment auch darauf ausgewirkt?« »Im gewissen Sinne, ja.« Der junge Agronom schaute ein wenig verlegen drein. »Ich hatte noch eine zweite Parzelle, die ein gutes Stück weiter draußen lag und deshalb kälter war als die vorher erwähnte. Für Ammoniakkulturen war sie allerdings immer noch zu heiß und auch zu klein für den hierzu nötigen Druck – wenigstens für die Arten, die mir bekannt sind«, fügte er hastig hinzu. »Sie schien meiner Ansicht nach jedoch ausreichend mit Mineralstoffen versorgt zu sein, um einen guten Ernteertrag zu ermöglichen, und weil sie auf ihrer augenblicklichen Bahn dahinzukümmern schien, dachte ich, es wäre eine gute Idee, sie weiter nach innen zu verlegen.« Das Gesicht des Zuhörers verlor etwas von seinem belustigten Ausdruck. »Ja, können Sie mir vielleicht verraten, auf welche Weise Sie das fertigbringen wollten? Die dafür benötigte Energie beträgt ein Mehrfaches Ihrer Körpermasse, selbst bei völliger Umwandlung – und ich kann mir nicht denken, daß Sie die schon beherrschen.« »Das tue ich auch noch nicht. Ich dachte mir, daß die Parzelle selber die nötige Masse für die Ener-
gieumwandlung liefern könnte.« »Ich verstehe.« Der Kommentar klang nicht sehr heiter. »Fahren Sie fort.« »Ja, also, ich machte mich auf und brachte den Umwandlungsprozeß in Gang. Ich wählte dafür die Vorderseite der Kultur, obwohl dabei einige Schwierigkeiten zu überwinden waren – das Ding drehte sich wie verrückt, so wie die meisten von ihnen. Vielleicht war das der Grund, warum ein größeres Gebiet der Parzelle in den Prozeß hineingezogen wurde, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Vielleicht war auch die Kugel nicht ganz so massiv, wie ich dachte.« »Wollen Sie damit sagen, Sie wußten nicht genau, welche Masse sie besaß? Sind etwa nicht nur Ihr Urteilsvermögen, sondern auch Ihre Wahrnehmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen? Wie alt sind Sie übrigens?« »Fünfzehn.« Der eigensinnige Ton, der, während er sich allmählich für seinen Bericht erwärmte, sich aus seiner Stimme verloren hatte, klang wieder durch seine Worte. Der Frager bemerkte es und sah ein, daß er vielleicht nicht so viel Takt gezeigt hatte, wie es angebracht schien, aber unter den gegebenen Umständen fühlte er eine gewisse Berechtigung, seinen Ärger durchscheinen zu lassen. »Fünfzehn auf welcher Zeitskala?« »Lokal – ein Umlauf des Zentralstrahlers um das Massenzentrum des Systems.« »Hm, fahren Sie fort.« »Der überwiegende Teil des Kugelbeetes löste sich auf, und ein anderer Teil wurde geradewegs aus dem System geblasen. Der Rest – nun, er umkreist immer
noch den Zentralstrahler, und zwar auf sehr unterschiedlichen Umlaufbahnen, aber er ist nicht mehr zu gebrauchen.« Eine Pause trat ein. Unter ihnen schwang die fast nutzlose äußerste Parzelle im weiten Bogen vorbei und wieder zurück auf die andere Seite des glühenden Gasballes, der sie mit unsichtbaren Schwerkraftfingern an sich band. Man konnte nicht direkt behaupten, daß es im Innern des Aufsehers kochte – bei einer Temperatur von einem halben Grad über dem absoluten Gefrierpunkt wäre das selbst für einen Körper, der hauptsächlich aus Sauerstoff, Methan und ähnlichen Elementen bestand, schwierig gewesen – wohl aber war sein Temperament über die Ungeschicktheit des jungen Studenten in Wallung geraten. Nach einem Augenblick brach er wieder das Schweigen. »Um also noch einmal zu rekapitulieren: Sie sandten mir einen Sklaven mit der Botschaft, daß Sie mit Ihrer Farm Schwierigkeiten hätten und meinen Rat brauchten. Wollten Sie damit etwa andeuten, daß Sie mit der einen von Ihnen zerstörten Parzelle so viel Zeit vergeudet haben, daß die anderen inzwischen Kulturen entwickelt haben, die Ihnen nicht gefielen? Ich fürchte, Sie sind auf dem besten Weg, sich auch noch den Rest meiner Sympathie zu verscherzen.« »Es ist nicht so, daß ich das Zeug nicht nur nicht mag, ich kann es einfach nicht essen.« Der Jüngling mußte durch den sarkastischen Ton des Aufsehers ziemlich durcheinander geraten sein, sonst hätte er nicht eine so verwirrende Erklärung gegeben. »Sie können es also nicht essen«, entgegnete der Aufseher voller Ironie. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich das bedauere. Sie entschuldigen
mich wohl einen Augenblick, während ich mir eine Kostprobe von diesem so abscheulich schmeckenden Resultat Ihrer Bemühungen besorge – oder vielleicht möchten Sie lieber mitkommen, um mir zu zeigen, wovon Sie sich nun eigentlich die ganze Zeit über ernährt haben? Das interstellare Plankton in diesem Sektor reicht wohl kaum aus, um Ihren Hunger zu stillen – besonders, da Sie noch für die Bedürfnisse einer Horde Sklaven zu sorgen haben. Vielleicht täten Sie klüger daran, eine Planstelle in der Planktonforschung zu übernehmen und diese Farm einem anderen zu überlassen, der für Landwirtschaft begabter ist. Vielleicht täte es Ihnen ganz gut, wenn Sie einmal für ein paar Jährchen Ihre Nahrung aus einem dünnen Schleier freier Atome ziehen müssen, der zehn Parsek breit ist. Ach, diese jungen Leute!« »Ich habe mich von den Ammoniakkulturen ernährt. Die Sklaven ebenfalls.« »Nun gut, dann werde ich mir einmal Ihre Wasserkulturen ansehen, die offenbar diejenigen sind, die Ihnen Schwierigkeiten bereiten. Wenn ich es mir recht überlege, dann ist es wohl besser, Sie bleiben hier. Es ist die dritte Parzelle vom Zentralstrahler aus gerechnet, nicht wahr? Ich finde schon meinen Weg.« Und der Student – ohne den geringsten Entschuldigungsgrund außer dem seiner kindischen Verärgerung – ließ ihn ohne Warnung gehen. Möglich, daß es nichts genützt hätte, wenn er etwas gesagt hätte. Der Aufseher wäre nicht minder verärgert gewesen und hätte deshalb – was verständlich genug gewesen wäre – die Warnungen seines Schülers einfach in den Wind geschlagen. Seine Gedanken jedenfalls waren – während er sich auf den Zentral-
strahler zufallen ließ – gleichermaßen in Anspruch genommen von seinem Zorn auf den Studenten und von dem Zustand der einzelnen Parzellen der Farm. Nur allmählich gewann das Interesse an den Parzellen die Oberhand. Er war gezwungen zuzugeben, daß die äußerste tatsächlich zu kalt war für chemische Reaktionen, außer vielleicht für einige Lebensprozesse, die allerdings zu langsam vor sich gingen, um rentabel zu sein. Die Tatsache, daß der junge Student dort trotzdem etwas angepflanzt hatte, war ein Punkt, der zu seinen Gunsten sprach. Er warf nur einen kurzen Blick auf sie, während er ihre Bahn überquerte. Obwohl seine Fallgeschwindigkeit nicht sehr groß war, bewegte sich die Parzelle noch viel langsamer – und sie hatte einen weiteren Weg. Die nächsten zwei waren – wie er schon vorher festgestellt hatte – kahl. Er erinnerte sich, daß der Student zugegeben hatte, daß dies einer Nebenwirkung seines Experiments zuzuschreiben war. Der Aufseher konnte allerdings nicht verstehen, wieso. Die Parzellen selbst schienen völlig in Ordnung zu sein. Er vermochte jedenfalls keine Schäden festzustellen. Auf der anderen Seite war es unmöglich, daß der Student sie ratzekahl abgeerntet hatte. Natürlich, einer Horde Sklaven würde das keine Schwierigkeiten bereiten – aber bis auf weiteres wollte er niemanden auch nur in Gedanken vorwerfen, daß er seinen Sklaven so etwas durchgehen ließ. Sklaven durften sich nicht einmal einer Parzelle nähern, geschweige denn von ihr essen. Sie bekamen das, was ihre Herren ihnen zuwarfen. Die Parzellen selbst waren groß, wenn auch nicht
die größten der Farm. Ihr fester Boden lag unter kilometerdicken Schichten von Wasserstoffverbindungen verborgen. Vergeblich suchten die Sinnesorgane des Aufsehers nach den viel komplexeren Verbindungen, die die Lieblingsnahrung seiner Rasse bildeten. Eine Anzahl kleinerer Körper umkreiste als Subkulturen jede einzelne dieser Parzellen, doch war keiner davon groß genug, um die für eine Nahrungskultur unerläßlichen leichteren Elemente entweder in flüssigem oder gasförmigem Zustand bei sich behalten zu können. Die nächste Parzelle zeigte eine interessante Besonderheit, wenn auch sonst über sie nicht viel zu sagen war. Zusätzlich zu der mehr oder minder normalen Anzahl von Subkulturen, die ein jedes dieser Kugelbeete als Trabanten umkreisten, besaß sie einen regelmäßig geformten Ring aus winzigen Partikelchen. Die Kulturen auf der Oberfläche und auch in der Atmosphäre gediehen allem Anschein nach prächtig. Der Aufseher unterbrach seinen Fall, um eine kleine Kostprobe zu entnehmen, und mußte sich gestehen, daß der Junge sich hier auf dieser Parzelle nicht so übel angestellt hatte. Sein Zorn verrauchte immer mehr, während er auf der Parzelle saß, ab und zu einen kleinen Bissen zu sich nahm und sich von ihr entlangtragen ließ. Als er endlich seinen Weg fortsetzte, hatte er sich völlig beruhigt. Das Kugelbeet mit seinem merkwürdigen Ring lag schon weit hinter ihm, als ein anderer, viel kleinerer Gegenstand seine Aufmerksamkeit auf sich zog, der in einiger Entfernung von seinem Weg dahintrieb. Auf den ersten Blick war dieser unbekannte Körper
nicht weiter auffällig. Er war lange nicht so massiv wie die Parzellen, obwohl er – wie der Aufseher nach kurzer Beobachtung feststellen konnte – genauso wie sie um den Zentralstrahler kreiste. Manchmal hoben sich seine Umrisse vor dem dunklen Hintergrund klar und deutlich ab, manchmal waren sie seltsam verschwommen. Auch seine Helligkeit wechselte. Was seine äußere Erscheinung betraf, so war dieser Körper also wirklich nichts Bemerkenswertes. Trotzdem machte er den Aufseher neugierig, und obwohl sein Weg ihn an diesem Gegenstand in einiger Entfernung vorbeigeführt hätte, beschloß er den Umweg nicht zu scheuen und ihn näher zu untersuchen. Der Student hatte keine Freunde oder Mitarbeiter erwähnt. Allmählich konnte er Einzelheiten unterscheiden, und sein Zorn kehrte zurück. Kaum glaubte er seinen Augen trauen zu können, aber die Anzeichen waren unverkennbar. »Hilfe, Herr, Hilfe! Bitte hilf mir!« Mit einem aus Zorn und Abscheu vermischten Gefühl kam er näher. Dieses Ding war ein Sklave. Ein Sklave mitten im Anbaugebiet, wo er ohne Aufsicht absolut nichts zu suchen hatte. Ein Sklave, der es wagte, ihn um Hilfe anzugehen. »Wie kommst du hierher?« fragte der Aufseher über den Leitstrahl, der ihn mit der Kreatur verband, das allem Anschein nach hilflose Geschöpf. »Hast du dieses Gebiet vielleicht ohne Erlaubnis betreten?« »Mein Herr, es wurde mir befohlen.« »Von wem? Und was ist mit dir passiert? Los, erzähle!« »Ich – ich kann nicht, Herr. Hilf mir!« Die unregel-
mäßig gezackte Aurora um den Sklaven flackerte unruhig. Es bereitete ihm offensichtlich Mühe, die Worte zu formen. Gewöhnlich ignorierte der Aufseher solche minderwertigen Geschöpfe wie Sklaven. Sie standen zu tief unter ihm. Aber jetzt sah er ein, daß er – wenn er etwas erfahren wollte – diesem da wohl oder übel helfen mußte. Er unterdrückte das Gefühl des Ekels, das ihn zu überwältigen drohte, und kam näher, um die Verletzungen des Sklaven in Augenschein zu nehmen. Verständlicherweise hatte er erwartet, die Anzeichen einer gefährlichen Ionen-Verbrennung zu finden, eines der vornehmlichsten Berufsrisiken von Sklaven. Was er wirklich sah, ließ ihn seinen Zorn fast völlig vergessen. Die Kruste des unglückseligen Geschöpfes war mit Narben gezeichnet, mit kleinen runden Kraterlöchern direkt übersät. Der Aufseher hatte noch niemals ähnliches gesehen. Er kannte die langen Abschürfungen einer Ionen-Verbrennung und die breiten glasigen Stellen, wo eine Sonne, der man zu nahe gekommen war, Teile der Kruste geschmolzen hatte. Diese Narben sahen jedoch fast so aus, als wäre der Sklave in einen Schauer fester Materieteilchen geraten. Ein lächerlicher Gedanke natürlich. Der dümmste Sklave vermochte die gelegentlichen Fels- und Metallbrocken, die die interstellare Leere bevölkerten, zu entdecken und ihnen auszuweichen. Schließlich besaßen die Sklaven die gleichen Wahrnehmungsorgane und physischen Kräfte wie ihre Herren. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte vielleicht sogar gesagt, daß sie der gleichen Art wie ihre Herren angehörten.
Was immer auch für die Verwundungen des Geschöpfes verantwortlich war, er konnte ihm jedenfalls nicht helfen. Kleine Splitter aus Stein und Metall hatten sich in seine Kruste eingebohrt, hatten das regelmäßige Muster aufgeladener Schwingungsknoten, das für diese Wesen Leben bedeutete, geändert und verzerrt. Einige der Knoten waren anscheinend abgeschlagen worden; andere hatten sich entladen. Der Körper wies nur noch einen Bruchteil seiner früheren normalen Masse auf – die übliche Nahrungsreserve, die in der Regel auch bei Sklaven einen Großteil des Körperumfangs ausmachte, war längst aufgezehrt oder hatte sich sonstwie verflüchtigt. Es bestand kein Zweifel, daß der Sklave im Sterben lag. Immerhin jedoch bestand die Möglichkeit, daß er sich noch einmal etwas erholte, wenn er etwas zu essen bekam – genug erholte, um in der Lage zu sein, dem Aufseher Rede und Antwort zu stehen und ihm zu berichten, wie es zu diesem ominösen Unfall gekommen war. »Was ist mit dir passiert?« wiederholte der Aufseher seine Frage. Der Sklave war einfach nicht fähig, zusammenhängende Worte zu formen, doch ein Leben des Gehorsams brachte etwas Ordnung in seine vom Schmerz betäubten Gedanken. »Ich bekam den Auftrag, die inneren Parzellen abzuernten.« Die Wortsymbole kamen stockend, waren aber trotzdem unmißverständlich. Der Student hatte also einen Sklaven in die Nähe einer Parzelle gelassen. Vielleicht war das die Erklärung für die zwei kahlen, abgeernteten Kugelbeete. »Und du bist gegangen, nur weil ein junger Tu-
nichtgut es dir befohlen hat?« »Er war der Herr, und wir müssen ihm gehorchen. Viele von uns sind gegangen – schon viele Jahre lang – und nur wenige sind zurückgekehrt. Wir wollten es nicht, Herr, aber er hat es uns befohlen. Was konnten wir tun?« »Ihr hättet den ersten Aufseher, der hierher kam, fragen sollen, was besser ist: ein Grundgebot zu übertreten oder einem jungen Herrn, dessen Kruste noch nicht ganz ausgebacken ist, den Gehorsam zu verweigern.« »Du bist der erste, der bis jetzt gekommen ist, Herr, und der junge Herr hat uns extra aufgetragen, ja mit niemand darüber zu reden. Ich erzähle es auch nur, weil du es mir ausdrücklich befohlen hast – und weil er mir jetzt sowieso nicht mehr viel schaden kann.« Der Aufseher überhörte geflissentlich den Nachsatz dieser Entschuldigungsrede. »Er hat es also nicht nur dir befohlen, und nur wenige der anderen sind von ihrer Arbeit zurückgekehrt? Was ist mit ihnen passiert? Und mit dir?« »Sie sind gestorben. Ich weiß nicht wie, aber ich glaube – auf diese Art.« Der Sklave verfiel in Schweigen. Nach einigen Augenblicken sagte der Aufseher in einem sarkastischen Ton: »Ich nehme an, sie wurden von Meteorteilchen getroffen, wie du anscheinend auch. Übernehmen alle Sklaven die Charakterzüge ihrer Herren, wie beispielsweise Dummheit? Hast du den Meteoren nicht ausweichen können?« »Nein. Nicht allen jedenfalls. Es sind zu viele. Die Gegend um den Zentralstrahler wimmelt davon. Einige sind aus Eisen, andere aus Stein und anderen
Stoffen, aber man kann ihnen nicht ausweichen. Sie fliegen sehr schnell und sie treffen sehr hart auf. Deshalb können sie auch nicht auf normale Weise absorbiert werden. Unter dem Aufschlag ist meine Körpermasse einfach verdampft. Der Schock war so groß, daß ich nichts tun konnte, um sie wieder zurückzuholen, bis es zu spät war. Das ist auch der Grund, warum ich so zusammengeschrumpft bin. Nicht nur, weil ich lange nichts gegessen habe.« »Hm«, sagte der Aufseher. »Und die anderen Sklaven?« »Einige hatten mehr Glück als ich. Einige sind zurückgekommen. Aber andere hatten ein noch schlimmeres Schicksal.« »Und trotzdem schickt der junge Herr noch immer Sklaven in dieses Gebiet, damit sie für ihn ernten sollen?« »Ja. Die Erträge auf den größeren Parzellen waren ganz gut. Aber dann verlangte er nach denen weiter drinnen. Schließlich sind sie heißer. Er hat sich selber fast bis zu der Bahn der zerstörten Parzelle vorgewagt – wußtest du das, Herr? –, aber er kam dann sehr schnell zurück und hat danach immer uns geschickt. Wir – das heißt meine Vorgänger – haben dann die vierte Parzelle, vom Zentralstrahler aus gerechnet, fast vollständig abgeerntet, obwohl der Verlust an Sklaven hoch war. Dann wollte er mit der dritten beginnen. Ich war der erste, der damit anfangen sollte. Ich hatte natürlich mit meinem Leben abgeschlossen, nach all dem, was ich von den anderen gehört hatte. Aber Befehl ist Befehl, und so machte ich mich auf den Weg.
Als ich durch das Gebiet der zerstörten Parzelle kam, wurden die Schwebeteilchen immer zahlreicher. Zuerst war es nicht so schwierig, ihnen auszuweichen. Aber dann kamen sie zu zweit und zu dritt, und manchmal war ich gezwungen, ein Ausweichmanöver mitten in der Ausführung zu unterbrechen, um einem vierten zu entkommen. Dann kamen sie zu Dutzenden und noch dichteren Haufen, und ich konnte ihnen nicht länger mehr entgehen. Ich wurde ein paarmal schnell hintereinander getroffen. Einen Augenblick lang fühlte ich mich fast versucht, wieder umzukehren – ich hatte nicht gedacht, daß etwas so weh tun könnte –, aber dann dachte ich an meinen Auftrag und flog weiter. Aber wieder und wieder wurde ich getroffen, und nach jedem Mal trat der Befehl des jungen Herrn immer mehr in den Hintergrund. Ich langte an der Bahn der vierten Parzelle an, überquerte sie – und kehrte um. Es schien nicht zu helfen. Die Meteore fielen so dicht wie vorher. Eine Zeitlang muß ich die Orientierung verloren haben, aber schließlich konnte ich mich bis zu der Bahn des Riesenplaneten durchkämpfen. Ich war gerettet, aber jetzt fiel mir wieder mein Auftrag ein. Ich hatte noch niemals den Befehl eines Herrn nicht ausgeführt, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich brach wieder auf, dann dachte ich an das Trommelfeuer und kehrte wieder um. Dort fiel mir wieder mein Auftrag ein, und ich flog wieder los. Ich wagte nicht völlig umzukehren, weil ich wußte, daß der junge Herr draußen auf mich warten würde. Aber ich traute mich auch nicht, zurück in diese Hölle aus Stein und Metall zu tauchen, die der fünfte Planet nach seiner Zerstörung zurückgelassen hat. Aber ich
mußte etwas tun. Schließlich konnte ich mich nicht für immer auf der Bahn des Riesenplaneten verstekken. Früher oder später würde er mich finden, und das würde für mich schlimmer sein, als wenn ich mit leeren Händen zurückkäme. Ich dachte nach.« Dieser letzte Satz schockierte den Aufseher mehr als alles andere, was er bis jetzt gehört hatte. Der bloße Gedanke, daß ein Sklave dachte – über den Wert oder Unwert eines gegebenen Befehls zu entscheiden versuchte –, war für einen Angehörigen der herrschenden Rasse widerwärtig und unerträglich. Sklaven waren geistlose Geschöpfe, die in allen Bedürfnissen des Lebens von ihren Herren abhängig waren und weder für sich selbst sorgen noch für sich selber denken konnten. Dem Aufseher war schon vorher der Argwohn gekommen, daß dieser Sklave ein unnatürlicher Vertreter seiner Spezies war. Jetzt war er sich dessen sicher. Der Aufseher schwieg; der Schock war zu groß gewesen. Und auch der Sklave hatte in seinem Bericht innegehalten, um neue Energien zu schöpfen. Endlich nahm er den Faden seiner Erzählung wieder auf. »Schließlich glaubte ich, eine Antwort gefunden zu haben. Alle diese Teilchen waren früher einmal Teil der zerstörten Parzelle gewesen, und deshalb schien es mir wahrscheinlich, daß ihre Umlaufbahnen mehr oder weniger mit der ehemaligen Bahn dieser Parzelle übereinstimmen mußten. Wenn ich also meine Flugbahn und Geschwindigkeit dieser Bahn anpassen würde, mußte es auf diese Weise möglich sein, wenigstens die schlimmsten der Einschläge zu vermeiden.«
Über den zerschundenen Körper der armseligen Kreatur lief ein leichtes Zittern. Der Sklave unterbrach erneut seinen Bericht, um Kräfte zu sammeln. »Soweit war ich mit meinen Überlegungen gekommen, als ich einen anderen Sklaven entdeckte, der sich auf seinem Weg systemeinwärts befand. Ich sagte mir, zwei vermögen mehr zu tun als einer, und wenn einer von uns unterwegs starb, so konnte der andere vielleicht aus der Art seines Todes neue Erkenntnisse gewinnen. Ich flog hinter ihm her und holte ihn auch sehr schnell ein, weil er sich frei fallen ließ, und erklärte ihm meine Idee. Er war bereit, auf meine Vorschläge einzugehen, und wir flogen zusammen weiter. Eine Weile lang ging alles gut. Wir überquerten die Umlaufbahn des vierten Planeten, ohne mehr als ein paarmal getroffen zu werden. Ich hatte allerdings mehr darunter zu leiden als mein Begleiter, weil mir vorher schon so hart mitgespielt worden war. Bis jetzt waren wir auch nur hauptsächlich kompakteren Brocken begegnet, die man ohne größere Schwierigkeiten erkennen und umgehen konnte. Weiter nach innen zu, wo vermutlich alle gröbere Materie während einiger Millionen Umdrehungen durch Zusammenstoß mit den Planeten aus dem Weg geräumt worden ist, stößt man jedoch auf viel feiner verteilte Partikelchen. Je weiter man sich dem dritten Planeten nähert, desto dichter scheint ihre Konzentration zu sein. Sie formen im wahrsten Sinne des Wortes um die Sonne eine Art Staubwolke, die fast undurchdringlich ist. Vielleicht hat auch der Strahlungsdruck der Sonne damit etwas zu tun. Jedenfalls gelangten wir in einen regelrechten Ha-
gelsturm. Es war jedoch nicht ganz so schlimm wie vorher – meine Idee mußte also etwas für sich gehabt haben –, obwohl es schlimm genug war. Der andere Sklave wurde davon genauso überrascht wie ich auf meinem ersten Flug durch dieses Gebiet und verlor seine Selbstkontrolle. Wir waren mittlerweile fast an der dritten Parzelle angelangt, aber seine Schmerzen mußten ihn völlig durcheinandergebracht haben. Offensichtlich hatte er überhaupt keine Ahnung, wie nahe er einer unerschöpflichen Nahrungsquelle war – diese Parzelle ist unglaublich fruchtbar. Er taumelte ein Stück des Wegs entlang und stieß mit einer kleinen Nebenparzelle zusammen, die die dritte auf ihrem Umlauf begleitet. Sie ist zu klein, um eine Bepflanzung zu erlauben, aber immer noch Hunderte von Malen größer als mein Körper. Er rammte sie genau von vorn, und durch die Gewalt des Aufschlags platzte sein Körper auseinander. Die Parzelle war schon vorher mit vielen Kratern übersät, aber er ließ einen der größten zurück. Ich schwebte jetzt nahe genug an der dritten Parzelle, um mit der Ernte beginnen zu können – hätte das wenigstens unter normalen Umständen versucht. Aber es ging nicht. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Das Meteorbombardement hörte und hörte nicht auf. Mir fehlen einfach die Worte, um seine Wirkung richtig zu beschreiben. Ich befand mich kaum zwanzig Radien von der fruchtbarsten Parzelle entfernt, die ich je gesehen hatte, und ich war nicht in der Lage, mir auch nur einen einzigen Bissen zu holen. Es mußte schon eine lange Zeit hergewesen sein, seit sie zum letzten Male abgeerntet worden war,
denn in den oberen Schichten ihrer Oberfläche hatten sich Substanzen gebildet, die mir völlig unbekannt waren. Natürlich wuchsen die üblichen Kohlehydrate und die Oxyde leichterer Elemente und verschiedene Karbonate. Das war nicht anders zu erwarten. Aber darüber hinaus konnte ich Proteine feststellen, die so komplex waren, wie man sie sich nicht einmal in seiner wildesten Phantasie vorstellen kann. Ihre Ausstrahlungen machten mich fast verrückt. Bei dieser Temperatur mußten sie sich mit unglaublicher Geschwindigkeit aufbauen und wieder auflösen – die dritte Parzelle besitzt eine überraschend dichte Atmosphäre; die Bedingungen auf der Oberfläche ähneln einem Treibhaus – und sie hatten sich bis zu einem kaum vorstellbaren Grad entwickelt. Und es gelang mir nicht, auch nur eine einzige Kostprobe zu bekommen! Aber ich konnte sie spüren, und trotz der Schmerzen, die mir der Meteorhagel bereitete, blieb ich in ihrer Nähe. Ein paar hundert Sonnenumläufe lang schwankte ich unschlüssig, ob ich bleiben oder mich zurückziehen sollte. Das scheint nur eine kurze Zeit zu sein, aber sie reichte aus, um meinen Körper rettungslos zu ruinieren. Erst als meine Sinne endgültig zu versagen drohten, entschloß ich mich zur Flucht. Es blieb mir gerade noch soviel Kraft, um eine stabile Bahn außerhalb dieses höllischen Kranzes aus Überresten der ehemals fünften Parzelle einnehmen und ab und zu um Hilfe rufen zu können, aber ich wußte, daß mein Schicksal besiegelt war. Selbst wenn du früher gekommen wärst, Herr, wäre es doch für mich zu spät gewesen. Aber zumindest kann ich dich warnen. Wage dich
nicht über die Bahn des alten fünften Planeten hinaus! Schaue nicht einmal hinein, denn wenn du spürst, was auf dieser noch nicht abgeernteten dritten Welt auf dich wartet, dann wirst du so sicher in dein Verderben gezogen werden wie ich in das meine geschickt worden bin.« Der Sklave verfiel in Schweigen, und der Aufseher überdachte das eben gehörte, während beide langsam um den Zentralstrahler kreisten. Im Moment schien es ihm unmöglich, an eine angemessene Strafe zu denken, die er dem Studenten zudiktieren konnte, dessen jugendlicher Leichtsinn eine solch scheußliche Situation heraufbeschworen hatte. Die bloße Grausamkeit an sich, endlose Reihen von Sklaven in ihren sicheren Tod zu schicken, berührte ihn nicht allzusehr, doch die dadurch bedingte Vergeudung erregte seinen Zorn. Der Gedanke an Hunderte lebloser Körper, die nun für alle Zeiten um die Sonne kreisen würden, um bei jedem Perihelion-Vorübergang ein wenig mehr von ihrer Masse zu verdampfen, bis nur noch eine lose Ansammlung von Körnchen übrigblieb, vermittelte ihm das Bild eines unerträglichen wirtschaftlichen Verlustes. Außerdem mußte er in Betracht ziehen, daß allem Anschein nach die ertragreichste Parzelle des ganzen Systems nicht mehr zugänglich war, und genauso schwer wog der Vorwurf, daß der Student infolge seiner unverantwortlichen Handlungsweise einen der Sklaven zu selbständigem Denken angeregt hatte. Natürlich mußte er noch einmal alles mit eigenen Augen überprüfen, bevor er dem Studenten mit solch schwerwiegenden Anschuldigungen gegenübertrat. Nur der letzte Punkt stand schon fest.
Der Aufseher setzte sich unvermittelt in Bewegung – in Richtung auf die Sonne zu! Der sterbende Sklave, der es sah, rief noch einmal um Hilfe und wurde im gleichen Augenblick von einem peitschenden Ionenstrahl für immer zum Schweigen gebracht. Einen flüchtigen Moment lang bedauerte der Aufseher seine Voreiligkeit – nicht aus Dankbarkeit für die Warnung, der er wenig Gewicht beilegte und zu der ein Sklave sowieso verpflichtet war, sondern einfach, weil sie impulsiv und nicht überlegt ausgeführt worden war. Doch dann beschwichtigte er sich selbst mit dem Gedanken, daß das Geschöpf ihm vermutlich auf jeden Fall nicht mehr viel hätte erzählen können, selbst wenn er es bei seiner Rückkehr noch lebend angetroffen hätte. Er hatte keine Eile. Langsam ließ er sich von der Anziehungskraft des Zentralofens bis zu der Umlaufbahn des Riesenplaneten tragen, während seine Sinnesorgane den Raum vor ihm abtasteten, wo – den Worten des Sklaven nach – der Tod lauern sollte. Aus dieser Entfernung gesehen sah alles ganz harmlos aus. Er musterte prüfend die inneren Planeten, die hurtig die Sonne umkreisten – selbst der Riesenplanet vollführte fast einen ganzen Umlauf, während er auf ihn zutrieb – und mußte zugeben, daß der Sklave die Wahrheit gesprochen hatte, als er von einem Begleiter der dritten Parzelle berichtete. Aber davon abgesehen schien der Weltraum völlig leer zu sein. Er gab jedoch nicht alle Vorsicht auf. Was sich für Sklaven als todbringend erwiesen hatte, konnte sich für Herren zumindest als lästig, wenn nicht gefährlich herausstellen.
Auf der Bahn des fünften Planeten unterbrach er seinen Fall und begann mit einer noch eingehenderen Überprüfung des verdächtigen Gebietes. Die kleinen Gesteins- und Metallbrocken, die der Sklave in seinem Bericht erwähnt hatte, waren tatsächlich vorhanden – Tausende von ihnen, obwohl er gar nicht erst versuchte, diejenigen unter einem Zwanzigstel seines Körperumfangs zu registrieren. Sie alle zeigten bei ihrem Umlauf um die Sonne – wie der Sklave angedeutet hatte – eine Vorliebe für die Bahn des ehemaligen fünften Planeten. Ein sichtbarer Grund, warum es nicht möglich sein sollte, sich ihrer Geschwindigkeit anzupassen und ihnen auf diese Weise auszuweichen, war allerdings nicht zu erkennen. Trotzdem schien es nicht sehr klug, sich ohne triftigen Grund in eine mögliche Gefahr zu begeben. Ratsamer war es auf alle Fälle, erst einmal aus seinem augenblicklichen sicheren Hort heraus näher zu untersuchen, ob ein solcher Grund vorhanden war. Seine feinabgestimmten Sinne hatten es nicht schwer, die halbe Milliarde Kilometer zu überwinden, die ihn von dem nächsten Punkt der Umlaufbahn der dritten Parzelle trennten. Er blieb also, wo er war, und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf jenes geheimnisvolle Kugelbeet. Weil es dem Zentralstrahler ziemlich nahe war, umkreiste es ihn mit erheblicher Geschwindigkeit. Das Problem, das sich ihm bei der Beobachtung deshalb stellte, ähnelte in ungefähr dem eines Mannes, der einen Freund zu erkennen versucht, der auf einem Karussell fährt und sich dabei gleichzeitig auf seinem Sitz wie ein Kreisel um die eigene Achse dreht.
Der Aufseher benötigte jedoch nur die Zeit von wenigen Umläufen des Körpers, um sich der neuen Lage anzupassen. Allmählich konnte er mehr und mehr Einzelheiten unterscheiden, und er mußte widerwillig zugeben, daß der Sklave bei seiner Beschreibung dieser Parzelle nicht übertrieben hatte. Sie war unglaublich fruchtbar. Substanzen, für die er keinen Namen besaß, waren in überreicher Fülle vorhanden und hinterließen ihren Eindruck auf seinem analytischen Sinn, der bei den Angehörigen seiner Rasse das Gegenstück zu Geschmack und Geruch bildete. So unbekannt sie ihm auch waren, so konnte er doch ohne große Schwierigkeiten erkennen, daß sie eßbar waren – energiereich und voll faszinierender Geschmacksrichtungen. Es waren Gewächse einer Art und eines komplizierten Aufbaus, die auf einer der regelmäßig abgeernteten Welten der Galaxis einfach keine Möglichkeit zur Entwicklung hatten. Der Aufseher spielte mit dem Gedanken, ob es nicht angebracht wäre, auch andere Parzellen ein paar Jahre lang wild wuchern zu lassen. Sein Hauptlaster – ein verzeihliches Laster nach den Moralbegriffen seiner Rasse – war Gefräßigkeit, aber er war davon überzeugt, auch der asketischste seiner Spezies würde beim Anblick eines solchen Feldes in Versuchung geraten. Fast bedauerte er, sich vorhin auf dem Ringplaneten sattgegessen zu haben, obwohl – wie er sich zu seiner eigenen Beruhigung ins Gedächtnis zurückrief – er einen Teil der Nahrung wieder abgegeben hatte, um dem Sklaven zu helfen und einen weiteren Teil noch verlieren würde, wenn er sich wirklich ent-
schloß, in die Zone hoher Temperaturen in Sonnennähe vorzudringen. Seine Körpermasse war bemerkenswert groß, doch besaß sie eine so niedrige Temperatur, daß alle Kreislaufprozesse in seinem Körperinnern unvorstellbar langsam abliefen. Eine chemische Reaktion, die für ihren Ablauf nur wenige irdische Jahre benötigte, war für ihn wie eine Dynamitexplosion. Nur wenige Pfunde organischer Verbindungen reichten aus, um seinen meilendicken Körper für eine Zeitspanne zu sättigen, die viele geschäftige Menschenleben umspannte. Alles in allem: der Sklave hatte die Wahrheit gesagt. Zögernd, beinahe willenlos – wobei er krampfhaft nach Vernunftgründen suchte, mit denen er seinen Appetit entschuldigen konnte – trieb er auf den Asteroidengürtel zu. Vielleicht hatte er, als er so intensiv auf die dritte Parzelle starrte, mit einer Willenskraft gerechnet, die von Natur aus der eines Sklaven überlegen war. Wenn ja, so hatte er die Wirkung einer gleichermaßen ausgeprägteren Vorstellungskraft außer acht gelassen. Die Anziehungskraft der dritten Parzelle verstärkte sich merkbar, und sein Tempo erhöhte sich etwas. Während er wie hypnotisiert die sich drehende Kugel im Auge behielt, wurde er aus seinem fast tranceähnlichen Zustand durch den ersten Zusammenstoß aufgeschreckt. Der Aufschlag und der ihn durchzuckende Schmerz zeigten ihm deutlich, daß seine natürliche Überlegenheit über die Sklavenrasse vielleicht nicht genügen würde, um ihn aus ernsthafter Gefahr herauszuhalten.
Der Raum um ihn – er befand sich jetzt schon weit innerhalb der Bahn des vierten Planeten – war buchstäblich mit Kleinstmeteoren übersät, von denen jeder in der Lage war, auf dem Körper eines Lebewesens einen Einschlagkrater zu hinterlassen, der um ein Vielfaches größer war als sein eigener Umfang. Davon hatte er sich an der zerschundenen Haut des Sklaven selbst überzeugen können. Einzeln genommen waren sie unbedeutend, zusammen unbedingt tödlich. Nachdem er auf diese abrupte Weise gezwungen worden war, seine Aufmerksamkeit dem unmittelbaren Problem des Überlebens zuzuwenden, versuchte der Aufseher seinen Fall zu bremsen und wieder in Richtung auf die Sicherheit bietende kalte Leere des interstellaren Raumes auszuweichen. Aber der Zauberbann des Schlaraffenlandes, unter dem er stand, ließ sich nicht so leicht lösen. Lange Augenblicke, in denen der Planet seine Sonne zweimal umkreiste, hing er bewegungslos im Raum, während in dem Kampf um eine Willensentscheidung Gefräßigkeit und Todesfurcht abwechselnd die Oberhand gewannen. Vermutlich wäre er in diesem Kampf unterlegen, wenn nicht dem Studenten das Gewissen geschlagen hätte. »Herr!« Die Stimme drang schwach, aber deutlich an sein Hörzentrum. »Kommen Sie hierher! Sie dürfen dort nicht länger bleiben. Ich hätte nie zulassen sollen, daß Sie sich so weit vorwagen – aber ich war so wütend. Ich bin ein Narr. Warum habe ich Ihnen nicht alles gesagt?« »Ich habe inzwischen alles erfahren. Es war mein eigener Fehler.« Der Aufseher stellte überrascht fest,
daß das Sprechen ihm Mühe bereitete. »Es war mein eigener freier Wille, und ich bin immer noch der Meinung, daß es sich lohnen würde, diesen Planeten näher zu untersuchen.« »Nein, es ist nicht Ihr freier Wille. Kein Wille kann frei bleiben, nachdem er den Lockungen dieses Planeten erlegen ist. Ich wußte es und erwartete, daß Sie sterben würden – aber ich konnte nicht hart bleiben. Kommen Sie schnell! Ich werde Ihnen helfen, das hier zu überstehen.« Der Student lag auf einer Bahn, die mit der des Aufsehers fast identisch war, wenn auch ein gutes Stück weiter draußen. Vielleicht war das der Grund, weil er zu dem Studenten hinüberblickte und so den Planeten aus dem Auge verlor, daß der Ältere schwankend wurde. Der Student jedenfalls bemerkte es und nutzte die Gelegenheit. »Schauen Sie nicht mehr zurück, Herr! Schauen Sie mich an und folgen Sie mir – oder wenn Ihnen mein Anblick unerträglich ist, dann schauen Sie das dort an.« Er deutete unmißverständlich in eine bestimmte Richtung, und der Blick seines Zuhörers folgte ihm wie hypnotisiert. Das Ding, das der Aufseher erblickte, war nicht schwer zu erkennen. Es bestand aus einem kleinen Kern, den seine Sinne fast automatisch als aus Methan, Kohlenstoff und freiem Sauerstoff bestehend analysierten. Einige Körner schwerer Elemente lagen darin verstreut wie Rosinen in einem Pudding. Um es herum erstreckte sich auf Tausende von Kilometern ein zarter Schleier aus den flüchtigeren Teilen seiner Körpersubstanz. Das Ding bewegte sich auf einer el-
liptischen Bahn von der Sonne fort und zeigte keinerlei Anzeichen einer intelligenten Führung. Ein Teil seiner gasförmigen Hülle wurde vom Strahlungsdruck der Sonne vor ihm her getrieben. Es war ein toter Sklave, aber genausogut konnte es ein toter Herr sein! Ein toter Sklave war bedeutungslos, aber was ihn getötet hatte, konnte genauso leicht ihn selber töten! Es war das erstemal in seinem so unglaublich langen Leben, daß die Möglichkeit des Todes ihm deutlich vor Augen geführt wurde, und vermutlich hätte auch nichts anderes als die daraus resultierende Furcht sein Leben retten können. Mit dem Studenten an seiner Seite folgte er dem geisterhaft leuchtenden Leichnam hinaus bis zum äußersten Punkt seiner Bahn, und während dieser Anstalten machte, wieder in den Todesschleier zurückzukehren, der den so harmlos aussehenden dritten Planeten umgab, strebte der Aufseher tiefer in die freundliche Dunkelheit des interstellaren Raums. Vielleicht würde eines Tages auch jener dritte Planet einmal abgeerntet werden, aber das würde wohl nicht durch einen seiner Rasse geschehen. Jedenfalls nicht, bevor nicht dieser schützende Schleier verschwunden war. Die Menschen nennen ihn Zodiakallicht und Gegenschein.
Originaltitel: HALO. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 10/52
Winston Marks DAS NICHTGEZEUGTE KIND »Was«, sagte sie und richtete sich kerzengerade in ihrem Bett auf, »ist eigentlich mit euch Medizinern los? In Italien wird mir gesagt, es sei ein Magengeschwür, in Paris ist es Krebs, und jetzt wollen Sie mir weismachen, ich bekomme ein Kind.« Ich steckte mein Stethoskop in die Tasche und tätschelte beruhigend ihre Hand. »Nur nicht aufregen, Mrs. Caffey.« »Miss Caffey, zum Teufel noch mal!« sagte sie und entzog sie mir. »Und am gescheitesten wäre es, ich ginge zu einem Astrologen.« »Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte ich und versuchte dabei meiner Stimme einen ernsten Klang zu geben, »Sie kamen zu uns und wollten wissen, ob das Gewächs in Ihrem Körper bösartig oder gutartig sei. Daß es sich als sechs Monate alter Foetus herausgestellt hat, ist eine Tatsache, aber kein Vorwurf.« »Und jetzt hören Sie mir mal gut zu, mein Lieber. Ich bin eine sechsunddreißig Jahre alte Jungfer, wie man so schön sagt – ich war weder verheiratet noch sonst etwas. Außerdem wußte ich schon über die Sache mit den Vögeln und Bienen Bescheid, als Sie noch Bettschüsseln leerten. Wollen Sie also jetzt so nett sein und mich mit diesem Baby-Blödsinn in Ruhe lassen und mir lieber sagen, ob ich es mir leisten kann, noch ein paar neue Reportagen vorzubereiten.« Derartige Proteste von unverheirateten Müttern waren mir nicht neu, aber Sara Caffeys Überzeugung
von ihrer Unschuld schien in Stein einzementiert. Sie sank zurück auf ihre sieben Kissen und ließ einen tiefen Seufzer vernehmen. Ihre eine Kleinigkeit zu weit auseinanderstehenden intelligenten Augen blitzten mich aus einem anmutigen, wenn auch etwas herben Gesicht an. Cremigweiße Schultern verloren sich in sanftem Bogen in einem gutgeformten gebräunten Hals. Darüber frische Wangen und eine breite Stirn. Ihre schmale gerade Nase war sonnenverbrannt. Ich war jetzt schon fünfzehn Jahre Oberarzt und hatte gelernt, in solchen Angelegenheiten Geduld zu haben. Aber daß dieses reizende Geschöpf von mir verlangte, ich solle glauben, sie wäre eine unerlöste alte Jungfer – besonders unter diesen Umständen –, ging mir über die Hutschnur. »Miss Caffey, ich bin Arzt, kein Philosoph. Erlauben Sie mir trotzdem, Ihnen zu Ihrer Jungfräulichkeit zu gratulieren.« »Danke«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht ganz frei von Stolz war. »Jedoch«, fuhr ich fort, »trotz gewisser gegenteiliger Anzeichen und dem Fehlen einiger sonst normaler Symptome – wie beispielsweise morgendlichem Unwohlsein – möchte ich nicht versäumen, mich Ihrer Mithilfe zu versichern, wenn Sie in drei Monaten ein Kind entbinden werden.« »Lieber Dr. Foley, bitte verstehen Sie doch!« Sie breitete mit einer Geste der Verzweiflung ihre Hände aus. »Ich liebe Kinder. Ich würde einen ganzen Wagen voll haben, wenn ich verheiratet wäre. Oder auch nur in Laune für irgendeine andere Verbindung. Aber ich kann nun mal in meinem Beruf mit Männern nichts anfangen. Und gleichgültig, was ich in Zukunft
noch für Dummheiten machen werde, bis jetzt habe ich einfach noch keine begangen. Doktor, diese Art von Mitarbeit, die Sie verlangen, ist seit den letzten zweitausend Jahren nicht mehr nötig gewesen.« Ich versuchte einen Vorstoß in anderer Richtung. »Weil Sie ohne Ihre Krankengeschichte zu uns gekommen sind, würden Sie uns wohl den Namen Ihres letzten Arztes sagen, damit wir sie von ihm anfordern können?« »Philippe Sansome, in Paris.« »Der Chirurg?« Sie nickte. »Und versuchen Sie mir nicht einzureden, daß er eine falsche Diagnose gestellt hat, weil er auf das Honorar aus war. Er hatte gar nicht die Absicht zu operieren. Tatsächlich ist das der Grund, warum ich dort wegging. Er versuchte es mit einer neuen Therapie, die er sich selbst ausgedacht hatte, und mit der seine Kollegen nicht ganz einverstanden schienen. Sie gerieten sich darüber so schrecklich in die Haare, daß ich dachte, es wäre besser, die Streitursache so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen, bevor der liebe alte Kerl noch seiner Zulassung verlustig geht.« Während sie sprach, zog ich langsam die Bettdecke zurück und entblößte ihren leicht geschwollenen Leib. Auch er war erstaunlich gebräunt. Ich holte mein Stethoskop wieder heraus und schob es so lange hin und her, bis ich gefunden hatte, was ich suchte. »Ja, ich kenne Dr. Sansome«, sagte ich. »Wir werden ihm sofort kabeln und um Ihre Krankengeschichte bitten. So etwas kann von großer Hilfe sein, wissen Sie. Wenn Sie das hier jetzt mal in Ihre Ohren stecken würden.«
Sie ließ es zu, daß ich ihr das Stethoskop um den Hals legte, und strich sich sogar selbst ihr glänzendes schwarzes Haar zurück, damit ich die Bügel für sie einstellen konnte. »Wenn Dr. Sansome das gehört hätte«, sagte ich, »würde er seine Ansicht bestimmt geändert haben.« Über eine Minute lang lauschte sie angespannt den schnellen, leichten Herzschlägen ihres noch ungeborenen Kindes, und langsam kam ein fernes Leuchten in ihre schönen Augen. »Oh, wenn Sie nur recht hätten«, sagte sie leise. »Ich jage fast mein halbes Leben lang über die ganze Welt, immer auf der Suche nach Geschichten, und die größte Geschichte seit der Sintflut existiert hier in meinem Leib.« Sie legte sich wieder zurück. »Aber natürlich irren Sie sich.« »Und als was würden Sie die Geräusche bezeichnen, die Sie eben gehört haben?« sagte ich aufgebracht. »Magenknurren«, antwortete sie. »Und jetzt seien Sie nett und laufen Sie und holen Sie mir ein paar Chirurgen, damit wir diesem Tumor, Krebs, BubbleGum oder was weiß ich zu Leibe gehen können. Ich will hier so schnell wie möglich wieder raus.« Es gab keinen Grund, daß die Journalistin im Bett blieb, aber sie dachte nicht daran, sich zu rühren. Sie war davon überzeugt, daß Philippe Sansomes Diagnose uns eines Besseren belehren wurde. Drei Tage vergingen, ohne daß wir aus Paris Nachricht bekamen. Dann – am vierten Tag – traf ihre Krankengeschichte endlich ein – in der Aktenmappe des berühmten Chirurgen höchstpersönlich.
»Ich bin geflogen«, entschuldigte er sich, »aber es hat zwei Tage gedauert, bis ich mich habe freimachen können. Erfreut, Sie kennenzulernen, Dr. Foley. Ihr Telegramm erwähnte eine Miss Sara Caffey, Patientin in Ihrer Frauenabteilung. Ist es möglich?« Er war groß für einen Franzosen, und seine Hagerkeit wurde noch durch offensichtlichen Mangel an Schlaf unterstrichen. Seine schwarzen Augen bohrten sich in die meinen, als wollten sie mir ein sehr weltliches Zugeständnis entreißen. »Wir glauben es jedenfalls, und was ihren Zustand betrifft, so können Sie sie ja jederzeit selbst untersuchen.« »Sacre bleu!« Seine Augen rollten in ihren Höhlen wie zwei blutunterlaufene Billardkugeln. »Es war ihr eigener Wille, daß sie uns verlassen hat. Abgesehen von der ethischen Seite, möchte ich sie durch mein Wiederauftauchen nicht unnötig beunruhigen. Aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Doktor. Einen riesengroßen Gefallen. Jetzt, wo ich sie wieder gefunden habe, darf ich sie nicht mehr verlieren. Ganz gewiß nicht, bis –« Er holte Feder und Papier aus seiner Tasche und rückte seinen Stuhl näher an meinen Tisch. »Ein paar einfache Diätvorschriften und ein paar ganz winzige Injektionen. Und darf ich mich hier im Hintergrund aufhalten? Inkognito? Ich werde Ihnen mit anderer Arbeit aushelfen – kostenlos, natürlich. Wenn Sie wollen, als Pfleger. Aber ich muß in ihrer Nähe bleiben. In allernächster Nähe.« Ich war, gelinde gesagt, sprachlos. Ein Mann von Sansomes Ruf! Das klang genauso, als wenn ein General um Erlaubnis bittet, die Latrine seiner Soldaten
putzen zu dürfen. Nun, ich war entschlossen, weder eine Voreiligkeit zu begehen noch in Ehrfurcht zu erstarren. Ein paar mögliche Erklärungen für diese verblüffende Anteilnahme des französischen Arztes fielen mir ein: War er vielleicht der heimliche Vater von Saras ungeborenem Kind? Oder stellte er Versuche mit künstlicher Befruchtung an, und es war ihm ein Fehler unterlaufen? »Ihre Bitte ist ungewöhnlich«, sagte ich vorsichtig, »aber nicht völlig unvernünftig. Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich durch eine nähere Erläuterung Ihres Interesses an diesem Fall rechtfertigen können, nicht wahr, Doktor?« Er runzelte die Stirn. »Ich nehme an, es bleibt mir nichts anderes übrig. Aber Sie werden mir wenig Glauben schenken. Meine eigenen Leute haben sich zwar meiner Diagnose angeschlossen, aber meine Theorie heftig abgelehnt. Warten Sie, bis sie die Diagnose hören, Doktor.« Er öffnete seine Aktentasche. »Vermutlich protestiert sie und behauptet, sie hätte eine bösartige Geschwulst, aber kein Baby, wie?« bemerkte er, während er einen Stapel Papiere auf meinem Tisch ausbreitete. »Damit haben Sie recht«, sagte ich. »Mademoiselle ist bewundernswert«, sagte er und fuhr mit seiner schlanken, schon etwas faltigen Hand durch sein schütteres graues Haar. »Aber ihre Widerspenstigkeit wird gegen die Evolution nichts ausrichten können – genausowenig wie die monumentale Unwissenheit von uns Ärzten.« »Evolution? Bitte erklären Sie sich näher.« »Hier ist die Geschichte des Falles.« Er trommelte darauf mit kurzgeschnittenen Nägeln. »Sie werden
daraus ersehen können, daß Miss Caffey vor ungefähr drei Monaten zu uns kam. In ihrer Bauchhöhle stellten wir ein sich strahlenförmig nach allen Seiten verbreitendes weiches Karzinom fest. Die Ausdehnung des Schmerzes reichte vom Becken bis zur Brust.« »Unglaublich!« rief ich aus. Sansome spreizte seine Hände und schlug auf die Papiere. »Tatsachen sind niemals unglaublich«, rief er mir sanft in Erinnerung. »Was jedoch folgt, wird Ihre Gutgläubigkeit noch mehr auf die Probe stellen, und ich möchte Sie hiermit um die Erlaubnis bitten, Ihnen eine ausgesprochen verrückt klingende Theorie zu unterbreiten, für die nur eines spricht, nämlich daß ich für ihre Richtigkeit einige Beweise anführen kann.« »Fahren Sie fort.« »Ich schneide jetzt schon vierzig Jahre lang an Gewächsen aller Art herum, und allmählich wurde mir direkt übel, wenn ich daran dachte, wie oft man sie findet und wie groß die Sterblichkeitsrate dabei ist. Trotz all unserer Techniken haben sich diese Krebse vermehrt mit einer Hartnäckigkeit, die nur die Natur selbst aufbringen kann. In einem Anfall seelischer Depressionen, verursacht durch ausgedehnte Nachforschungen über die historische Entwicklung beschäftigte ich mich wieder und wieder mit ein paar isolierten Fällen exogener Schwangerschaft. Einer davon, der mich ausgesprochen faszinierte, war der Fall eines siebzehnjährigen jungen Mannes, aus dessen Lunge ein Chirurg einen drei Monate alten intakten Foetus herausoperierte. Irgendwie stellte mich die offensichtliche Erklärung nicht zufrieden. Man nahm natürlich an, daß der
Foetus ein unentwickelter Zwillingsbruder des Jungen war. Das konnte so sein; aber auf welchen Tatsachen gründete diese Annahme? Auf keinen. Nur das Fehlen einer anderen Theorie rechtfertigte diese Auffassung. Der Chirurg hatte erwartet, ein hartes Karzinom zu finden. Und plötzlich kam es mir, daß er auch tatsächlich seinen Krebs gefunden hatte! Meine Erklärung lief darauf hinaus: Die Menschheit macht augenblicklich eine evolutionäre Veränderung durch, was die Art und Weise ihrer Fortpflanzung betrifft. Das häufige Vorkommen der verschiedensten Tumore beweist, daß die Natur experimentiert, um eine neue Fortpflanzungsmethode zu finden.« Sansomes Erklärung verblüffte mich so, daß ich bei ihm nach Anzeichen suchte, ob er scherzte oder geistesgestört war. Daß er todmüde war, sah man ihm an – aber seine Ruhe und die Klarheit, mit der er sich in einer fremden Sprache ausdrückte, deuteten nicht auf einen verwirrten Geist. Ein Jux dieser Größenordnung lag außerdem für einen Chirurgen seiner Bedeutung völlig außerhalb des Bereichs des Denkbaren. Die Gedankengänge des Mannes waren einfach in eine Sackgasse geraten, aus der sie keinen Ausweg mehr fanden, und dahin geführt hatte ihn seine lebenslange Enttäuschung im Kampf gegen den Krebs. Ich zwang mich zur Geduld und versuchte Näheres aus ihm herauszuholen, in der Hoffnung, ihn vielleicht auf einen Widerspruch in seiner eigenen Theorie hinweisen zu können. »Das ist allerdings ein etwas phantastischer Ge-
danke, Dr. Sansome«, sagte ich. »Ist es Ihnen gelungen, Ihre Theorie mit zusätzlichen Beweisen zu untermauern?« »Bis Miss Caffey zu mir kam«, sagte er, »offen gesagt, nein. Keine Beweise jedenfalls, die akzeptabel sind. Aber die Theorie hat vieles, was für sie spricht. In ihrem eigenen Journal of the A.M.A., Ausgabe vom 7. Mai 1932, hat Dr. Maud Slye das erste unbestreitbare Beweismaterial publiziert, daß die Prädisposition für den sogenannten bösartigen Tumor erblich ist. Klingt das nicht eher wie das Charakteristikum einer richtigen Mutation, als wie das einer Krankheit?« »Vielleicht«, sagte ich. »Aber auf welche Weise rechtfertigt Mutter Natur das Wünschenswerte eines solchen Wechsels unseres augenblicklich doch immerhin erfolgreichen bisexuellen Systems? Und geht sie, was ihre Methoden betrifft, dabei nicht ziemlich grausam vor? Denken Sie doch an die Millionen, die unter ihren Experimenten haben leiden müssen.« »Mutter Natur«, sagte Sansome mit Betonung, »ist weder gütig noch grausam. Sie kennt nur ein Ziel, nämlich daß die Spezies überlebt. Alles andere ist ihr gleichgültig. Unsere Zivilisation versucht, ihr mit immer mehr verfeinerten Methoden der Geburtenkontrolle ins Handwerk zu pfuschen. So gesehen, hat die Natur jedes Recht. Millionen enttäuschten kinderlosen Menschen zur Elternschaft zu verhelfen. Inzwischen«, fuhr er fort und blätterte in der Krankengeschichte der Sara Caffey, »wollen wir doch einmal die vorhandenen Beweise näher untersuchen. Unser Patient kam nach Paris eindeutig krebskrank. Nachdem sich die Diagnose bestätigt hatte, schlug ich eine bis jetzt noch nie angewandte Behandlung vor,
die auf meiner eigenen Theorie basiert. Wir kennen verschiedene Reaktionslagen im Körper, die der schnellen Entwicklung von Karzinomen förderlich sind, so zum Beispiel Alkalose, hoher Blutzuckergehalt und so weiter. Anstatt zu versuchen, diese zu reduzieren und damit den Krebs zum Absterben zu bringen, kehrte ich die Behandlung um und half Miss Caffeys Körper, den Tumor zu unterstützen und sein Wachstum zu fördern.« »Und was geschah?« Er warf seine Hände mit einer ausdruckslosen Geste in die Luft. »In zwei Monaten hatten sich die Ausbreitungswege des Tumors zurückgebildet. Der Tendenz, sich auf der Suche nach zusätzlicher Nahrung durch den Körper zu verbreiten, wurde durch die Behandlung ein Ende gesetzt. Das allein wäre schon ein Fortschritt gewesen, denn in kurzer Zeit wäre das Gewächs operabel geworden. Unglücklicherweise hörte einer meiner eifersüchtigen Kollegen von meiner so unorthodoxen Behandlungsmethode und machte einen solchen Wirbel im Institut, daß Miss Caffey ihre Koffer packte und uns verließ, wobei sie dem wohlmeinenden Irrtum unterlag, mich dadurch vor Schwierigkeiten zu bewahren. Ich hatte keine Gelegenheit, ihr zu versichern, daß das Krebsinstitut sich letzten Endes auf meine Seite stellen würde, was es unzweifelhaft tun wird, wenn ich mit der Fotokopie einer gewissen Geburtsurkunde zurückkehre.« Er lächelte zum erstenmal, und sein Charme war so überwältigend, daß ich aufrichtig wünschte, ihm Glauben schenken zu können. Ich konnte keinen Grund sehen, ihm seine Bitte abzuschlagen, denn die
Verordnungen, die er für mich niedergeschrieben hatte, waren für eine normal schwangere Frau wie Sara Caffey völlig harmlos. Ich vertraute darauf, daß die normale Geburt eines Babys ihn eines Besseren belehren würde. Ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Ich möchte Sie noch einmal willkommen heißen, Doktor. Selbstverständlich können Sie bei uns bleiben. Die Behandlung, die Sie empfehlen, klingt nicht unvernünftig, und ich bewundere die Art und Weise, wie Sie zu Ihrer Theorie stehen. Ich hoffe, Sie werden mir jedoch verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihre Beweise dafür nur für sehr dürftig halte. Ich glaube bestimmt, daß wir einer sehr normalen Geburt entgegensehen können, und sicher wird Miss Caffey sich schließlich zu einer geheimen Eheschließung bekennen oder meinetwegen zu einer Verbindung, der sie sich augenblicklich noch schämt.« Sansome packte begeistert meine Hand. »Bien! Très bien!« rief er. »Sie sind großzügiger, als ich erwartet hatte. Selbstverständlich erwarte ich nicht von einem Wissenschaftler in Ihrer Position, daß er meine Theorie unbesehen schluckt, Dr. Foley. Ich gebe gern zu, daß meine Hartnäckigkeit mehr, als sie es vielleicht tun sollte, auf Intuition beruht. Aber wir werden sehen. Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Das Studium der von Sansome sorgfältig geführten Krankengeschichte von Sara Caffey beunruhigte mich ein wenig. Ich ordnete eine gründliche Untersuchung an und blieb zurück mit ein paar verwirrenden Schlußfolgerungen, was die offensichtliche Abwesenheit eines karzinomatösen Gewächses betraf. Sara litt unter den meisten der klassischen Sym-
ptome einer Schwangerschaft, und Dr. Sansomes Behandlungsmethode gefiel ihr großartig. Sie trank die alkalisierenden, mit Kohlensäure versetzten Fruchtsäfte, die mit sorgfältig zugeteilten Mengen von Gin verstärkt waren. Sie knabberte zufrieden die Pralinen, die der Franzose ihr anonym zukommen ließ. Und sie machte uns die Hölle heiß, weil wir uns zu operieren weigerten. Nach zwei Wochen drohte sie damit, uns wieder zu verlassen. Ich wurde geholt und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie ihre Bluse zuknöpfte. Sie warf mir einen unwilligen Blick zu und sah dann auf ihren Bauch. »Das verdammte Ding wird immer größer.« Sie hatte ein teures Tweedkostüm an, und der elegante blaue Kaschmirmantel, in den ich ihr half, paßte großartig zu ihrer Rolle der distinguierten Weltreisenden und berühmten Journalistin. Sie bewegte ihre Schultern leicht nach vorn, so daß die losen Falten ihres Mantels ihre geschwollene Körpermitte verbargen. »Danke«, sagte sie unverbindlich. »Ich schreibe Ihnen einen Scheck aus und verschwinde.« »Dr. Sansome wird enttäuscht sein«, sagte ich in dem gleichen unverbindlichen Ton. »Er hat von sich hören lassen?« fragte sie voller Interesse. Ich nickte. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. »Und Sie bestehen immer noch auf dieser dummen Idee, daß ich ein Baby bekommen werde?« »Sagen wir«, wich ich aus, »daß wir Dr. Sansomes Behandlungsmethode übernommen haben und noch
abwarten wollen. Sie sagten selbst, daß auch er sich geweigert hätte, zu operieren. Wir sind momentan der gleichen Meinung. Ihr Zustand ist immer noch inoperabel, aber Sie machen Fortschritte.« »Hm, na ja, warum haben Sie das nicht gleich gesagt.« Sie zog ihren Mantel aus und setzte sich wieder hin. »Jetzt reden Sie endlich vernünftig. Besorgen Sie mir einen neuen Roman von Mickey Spillane. Damit erkläre ich mich einverstanden. Aber kein Wort mehr von diesem Blödsinn, mich in die Entbindungsstation zu verlegen Verstanden?« Zehn Tage später war sie anderer Meinung. Es war spät nachts, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam. Die Tür stand offen, und ich hörte sie leise vor sich hinweinen. Ich trat ein. Die Nachttischlampe brannte, und in diesem Moment sah Sara wirklich sehr fraulich aus. Ich fühlte ihren Puls und fragte: »Was ist los, Sara?« »Ich bekomme ein Baby«, schluchzte sie. »Ich hab schon die ganze Zeit so komische Dinge gespürt, aber heute nacht hat es mich wie verrückt gestoßen.« »Wollen Sie mir nicht davon erzählen?« fragte ich. Sie schaute mich mit echtem Erstaunen an. Ihr Gesicht sah aus wie das eines gescholtenen Kindes. »Aber es ist so unmöglich, Doktor. Es tut mir leid, daß ich so mit Ihnen gesprochen habe, aber der Himmel ist mein Zeuge, ich bin ein braves Mädchen.« Ich sagte fast, Nun, so etwas kann vorkommen, aber das hätte ziemlich töricht geklungen. Es bestand kein Zweifel, daß sie es noch immer nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben wollte, wie und wann es passiert war.
»Jemals so richtig versumpft?« fragte ich. »Nicht, seit ich sechzehn war«, sagte sie. »Aber ich könnte es jetzt gebrauchen. Nein, das könnte dem Baby schaden.« Sie faltete ihre Arme schützend über ihrer Mitte. »Ich begreife es nicht. Ich begreife es einfach nicht.« Ein verzerrtes frohes Lächeln ließ die Tränen von ihren Wangen rollen. »Überlassen Sie es nur Sara, die Dinge auf eine neue ungewöhnliche Art zu tun.« Sie schaute zu mir auf. »Wußten Sie, daß ich die erste weiße Frau war, die den Haremseunuchen eines Rajahs interviewt hat?« »Sieht aus, als ob Sie diesmal einen richtigen Knüller hätten«, sagte ich. »Ja. Aber wer, zum Teufel, wird ihn schreiben?« Philippe Sansome machte sich außerordentlich nützlich. Er assistierte jeden Morgen bei den Operationen, weigerte sich, ein Honorar anzunehmen, und beschwor jedermann, seine Anonymität zu bewahren. Ärzte und Schwestern waren in die Verschwörung eingeweiht, und die Schwestern lächelten nachsichtig hinter seinem Rücken. Aber Sansome war ein zu großer Mann, als daß man sich über ihn lustig machen konnte. Jedermann hatte ungefähr das gleiche Gefühl wie ich. Er war älter als er dachte. Nicht körperlich, sondern geistig. Die Anforderungen eines langen, anstrengenden Lebens an Nerven und Geist waren zuviel für ihn gewesen. Keiner konnte so geschickt mit dem Skalpell umgehen wie er, aber keiner gab auch nur zehn Cents für die Glaubwürdigkeit seiner verschrobenen Evolutionstheorie. Während Saras Zustand sich gemäß meinen Er-
wartungen entwickelte, dachte ich, Sansome würde das Vertrauen in seine Ansichten allmählich verlieren – aber nichts dergleichen. Er bestand auf seiner Gegenwart im Kreißsaal mit einer solchen Hartnäckigkeit und einem solchen Interesse, als ob wir die Geburt eines zweiköpfigen Pandas erwarteten. In letzter Minute wurde ich dummerweise nach Baltimore abberufen. Ich flog zurück, so schnell es ging, aber ich hatte mich vergeblich beeilt. Sara gebar ihr Kind, während ich noch in der Luft war. Ich betrat die Klinik mit mehr Erregung, als ich für möglich gehalten hatte. Ich fragte unten: »Wie geht es Caffey?« »Großartig. Hat vor einer Stunde entbunden. Prächtiges kleines Mädchen.« Ich wartete keine näheren Erläuterungen ab. Ich stürzte die Treppe hinauf zur Entbindungsstation, in die man Sara endlich mit ihrer Zustimmung verlegt hatte, und schlüpfte leise in ihr Krankenzimmer. Sie war müde, aber bei Bewußtsein. Sie lächelte mir auf eine merkwürdige Weise entgegen. »Es ist also ein Mädchen!« rief ich. »Warten Sie nur, bis ich Sansome gesehen habe. Ein gesundes, normales Baby!« Eine Hand klopfte mir sanft auf die Schulter, und ich wandte mich um und blickte in Sansomes triumphierende Augen. »Aber ohne Nabel«, sagte er.
Originaltitel: UNBEGOTTEN CHILD. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 11/3
Robert Sheckley HÄNDE WEG! Der Massenanzeiger des Raumschiffes flackerte auf. Agee hatte schläfrig vor seinen Instrumenten gesessen und darauf gewartet, daß Viktor mit dem Essen fertig würde. Jetzt blickte er auf. »Planet voraus!« rief er über das Zischen entweichender Luft hinweg. Barnett, der Kapitän, nickte kurz. Er beendete seine Arbeit, ein rotglühendes Stück Stahlblech passend zu formen, und preßte den Flicken auf die alte verbrauchte Wand der »Endeavor«. Das Pfeifen der entweichenden Luft wurde zu einem leisen, fast unhörbaren Stöhnen, aber es hörte nicht ganz auf. Es hörte nie ganz auf. Als Barnett endlich herüberkam, war der Planet vor dem Rand einer kleinen roten Sonne eben sichtbar geworden. Er schimmerte grün gegen die schwarze Nacht des Alls. Und beide Männer hatten den gleichen Gedanken. Barnett sprach ihn aus. »Möchte wissen, ob da was drauf ist, was lohnt, mitgenommen zu werden«, sagte er und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. Agee hob hoffnungsvoll die Augenbrauen. Sie sahen aufmerksam zu, als die Zeiger der Instrumente zu spielen begannen. Sie hätten diesen Planeten niemals entdeckt, wenn sie den Südgalaktischen Handelsweg eingeschlagen hätten.
Aber die Polizei der Konföderation zeigte sich entlang dieser Route immer häufiger, und Barnett zog es vor, ihr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Ihr Schiff, die »Endeavor«, wurde in den Listen als Frachter geführt. Aber die einzige Fracht an Bord bestand aus mehreren Flaschen einer hochprozentigen Säure, die man gewöhnlich zum Öffnen von Tresoren benutzte, und drei Atombomben mittlerer Größe. Die Behörden blickten in der Regel mit Mißfallen auf derartige Güter und versuchten dann immer, die Mannschaft eines solchen Schiffes auf Grund eines alten Vergehens festzusetzen – Mord auf Luna, Raub auf Omega, Einbruch auf Samia II. Alte, längst vergessene Dummheiten, die immer wieder von neuem hervorzukramen die Polizei stumpfsinnigerweise niemals müde wurde. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, waren die neuen Polizeischiffe weit schneller und wendiger als die alte »Endeavor«. So hatten sie also, um nach Neu-Athen zu gelangen, wo kürzlich unglaublich ergiebige Uranvorkommen entdeckt worden waren, die ziemlich unbekannte Außenroute eingeschlagen. »Sieht nicht besonders vielversprechend aus«, sagte Agee und betrachtete mißbilligend die Instrumente. »Wir könnten ruhig weiterfahren«, entgegnete Barnett. Was die Instrumente anzeigten, war uninteressant genug. Das da war ein unbedeutender Planet, kleiner als die Erde, in keiner Karte verzeichnet und mit keinem anderen sichtbaren Handelswert als dem einer Sauerstoffatmosphäre. Als das Schiff an dem Planeten vorbeischwang,
fing die Nadel des Schwermetall-Detektors zu tanzen an. »Da ist was«, sagte Agee und verglich aufgeregt die verschiedenen Zeigerangaben miteinander. »Rein – sehr rein – und auf der Oberfläche.« Er sah zu Barnett hinüber, der ihm zunickte. Das Schiff hielt auf den Planeten zu. Viktor kam nach vorn. Eine kleine Wollmütze bedeckte nur unvollkommen seinen großen glattrasierten Schädel. Er starrte über Barnetts Schulter, während Agee das Schiff in einer engen Spirale sinken ließ. Als sie nur noch einen knappen Kilometer über der Oberfläche schwebten, sahen sie den Grund, warum die Zeiger angeschlagen hatten. Es war ein Raumschiff. »Also, was sagt ihr jetzt dazu!« rief Barnett. Er bedeutete Agee, die Fallgeschwindigkeit zu verlangsamen und noch näher heranzugehen. Agee brachte das Schiff mit großer Fertigkeit noch weiter herunter. Er hatte zwar die vorgeschriebene Pensionierungsgrenze für Chefpiloten schon weit überschritten, aber diese Tatsache tat seiner Geschicklichkeit keinen Abbruch. Barnett, der ihn, gestrandet und ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, aufgelesen hatte, hatte sofort eine gute Chance gewittert und ihn angeheuert. Der Kapitän war immer bereit, einem Mitmenschen zu helfen, wenn es erstens bequem war und zweitens einen Gewinn versprach. Die beiden Männer hatten dieselbe Einstellung gegenüber Privateigentum, doch manchmal nicht dieselbe Meinung über die Wege, es zu erwerben. Agee zog eine sichere Sache vor. Barnett hingegen zeigte dabei oft mehr Wagemut, als es für einen Vertreter
der relativ gebrechlichen und schwachen Gattung Homo sapiens zuträglich war. Nur noch wenige hundert Meter trennten sie von der Oberfläche des Planeten, als sie endlich das fremde Schiff genauer ausmachen konnten. Es war größer als die »Endeavor« – blank und glänzend neu. Die Form des Rumpfes war ihnen unbekannt, ebenso die Kennzeichen. »Jemals so was gesehen?« fragte Barnett. Agee durchforschte sein ausgezeichnetes Gedächtnis. »Sieht nach cepheanischer Arbeit aus, nur bauen sie nicht so gedrungen. Wir sind ziemlich weit draußen. Das Schiff braucht nicht von der Konföderation zu sein.« Viktor starrte das Schiff an. Seine breiten Lippen öffneten sich vor Erstaunen. Er seufzte geräuschvoll. »Wir könnten gewiß so ein Schiff gebrauchen, was Käpt'n?« Barnetts lächelnder Mund glich einem Spalt, der unerwartet in einem Granitfelsen aufklafft. »Viktor«, sagte er, »in deiner Einfalt hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Wir könnten wirklich so ein Schiff brauchen. Gehen wir also runter und sprechen mit dem Kapitän.« Bevor sie sich festschnallten, vergewisserte sich Viktor, daß ihre Vereisungspistolen geladen waren. Nach der Landung schossen sie ein orange-grünes Leuchtsignal ab, aber in dem fremden Schiff rührte sich nichts. Sie prüften die Atmosphäre des Planeten. Sie war atembar. Die Temperatur betrug 19 Grad Celsius. Sie warteten ein paar Minuten, dann gingen sie hinaus, unter ihren Blusen die Vereisungspistolen
schußbereit. Alle drei zeigten ein bedacht freundliches Lächeln, während sie die fünfzig Meter zwischen den Schiffen zurücklegten. Aus der Nähe sah das Schiff einfach großartig aus. Seine glänzende, silbergraue Außenhaut wies fast keine Meteorschäden auf. Die Luftschleuse war offen, und ein tiefes Summen zeigte an, daß die Generatoren aufgeladen wurden. »Jemand zu Hause?« schrie Viktor in den Eingang. Seine Stimme hallte hohl durch das Schiff. Aber es kam keine Antwort. Nur das Summen der Generatoren und das leise Wispern des Grases war zu hören. »Wo, glaubt ihr, sind sie hingegangen?« fragte Agee. »Luftschnappen, vermutlich«, antwortete ihm Barnett. »Ich glaube nicht, daß sie Besuch erwartet haben.« Viktor lies sich geruhsam auf dem Boden nieder. Barnett und Agee trieben sich unter dem Heck des Schiffes herum und bewunderten dessen mächtige Antriebsdüsen. »Glaubst du, daß du damit fertig wirst?« fragte Barnett. »Ich sehe keinen Grund, warum ich es nicht sollte«, sagte Agee. »Was die Hauptsache ist, es hat den üblichen Antrieb. Wie es bedient wird, spielt keine so große Rolle. Alle Sauerstoffatmer benutzen ähnliche Steuersysteme. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich es herausgefunden habe.« »Da kommt einer!« rief Viktor. Sie rannten zurück zur Luftschleuse. Dreihundert
Meter vom Schiff entfernt begann der Wald. Eine Gestalt war gerade zwischen den Bäumen aufgetaucht und kam auf sie zu. Agee und Viktor zogen ihre Pistolen fast gleichzeitig. Durch Barnetts Fernglas war die winzige Gestalt als eine rechteckige Form zu erkennen, ungefähr einen halben Meter hoch und zwanzig, dreißig Zentimeter breit. Der Fremde war weniger als zehn Zentimeter dick und hatte keinen Kopf. Barnett runzelte verblüfft die Stirn. Er hatte noch niemals ein Rechteck über hohem Grase schweben gesehen. Er stellte das Glas noch schärfer ein und sah jetzt, daß der Fremde, wenn auch nur annähernd, doch menschenähnlich war. Das heißt, er hatte vier Gliedmaßen. Zwei davon benutzte er zum Gehen, die anderen zwei ragten rechts und links von seinem Körper steif in die Luft. In der Körpermitte konnte Barnett gerade noch zwei winzige Augen und einen Mund erkennen. Das seltsame Geschöpf trug weder einen Anzug noch einen Helm. »Sieht ja wirklich erstaunlich aus«, sagte Agee und stellte die Düse seiner Pistole nach. »Ob er allein ist?« »Wollen wir's hoffen«, sagte Barnett und zog jetzt ebenfalls seine Waffe. »Entfernung ungefähr zweihundert Meter.« Agee brachte seine Pistole in Anschlag, dann sah er zu Barnett hinüber. »Oder wolltest zu erst noch mit ihm reden?« »Was gibt es da zu reden?« fragte Barnett zurück und lächelte unmerklich. »Laßt ihn aber trotzdem noch ein bißchen näher kommen. Wir wollen ja schließlich treffen.«
Agee nickte und behielt den Fremden im Visier. Kalen hatte auf dieser verlassenen kleinen Welt haltgemacht, in der Hoffnung, hier ein paar Tonnen Erol, eines von den Maboginern hochgeschätzten Minerals, heraussprengen zu können. Er hatte kein Glück gehabt. Die unbenutzte Thetnitbombe befand sich noch immer in seiner Körperfalte zusammen mit einer einzelnen Kerlanuß. Nun gut, dachte er, als er zwischen den Bäumen hervortrat, das nächste Mal mehr Glück. Er war verblüfft und etwas beunruhigt, als er ein schmales, seltsam spitz zulaufendes Raumschiff neben dem seinen stehen sah. Er hatte nicht erwartet, sonst noch jemand auf dieser kleinen Welt vorzufinden. Und die Besatzung wartete vor der Luftschleuse seines Schiffes. Kalen bemerkte sofort, daß ihr Aussehen ungefähr dem seinen glich. Es gab eine Rasse in der Maboginischen Union, an die jene dort sehr erinnerten, aber deren Raumschiffe waren ganz anders. Eine Eingebung sagte ihm, daß diese Fremden möglicherweise Vertreter jener großen Zivilisation sein könnten, die sich dem Gerücht nach an der Peripherie der Milchstraße befand. Eifrig schritt er schneller aus, um sie zu begrüßen. Seltsam – die Fremden rührten sich nicht. Warum kamen sie ihm nicht entgegen? Er sah, daß auch sie ihn bemerkt haben mußten, denn alle drei zeigten auf ihn. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr und machte sich dabei klar, daß er ja nichts von ihren Gebräuchen wußte. Er hoffte nur, daß nicht allzu lang ausgedehnte Zeremonien dabei herauskamen. Schon
eine einzige Stunde auf dieser ihm feindlichen Welt hatte ihn ermüdet. Er war hungrig und benötigte dringend ein wiederbelebendes Bad. Etwas intensiv Kaltes griff nach seinem Körper. Er sah sich forschend um. Zeigte sich hier eine unbekannte Kraft des Planeten? Ein zweiter Strahl traf ihn, und die Außenschicht seiner Haut wurde kalt und brüchig. Jetzt wurde es ernst. Maboginer zählten zu den zähesten Lebensformen in der Milchstraße, aber auch sie kannten ihre Grenzen. Kalen blickte sich suchend nach der Herkunft der Gefahr um. Die Fremden schossen auf ihn! Einen Augenblick weigerte sich sein Verstand, zu akzeptieren, was seine Sinne registrierten. Kalen wußte, was Mord war. Er hatte mit stummem Entsetzen diese Perversität bei gewissen niederen Tieren beobachtet. Und natürlich gab es dann noch die Fachbücher der Psychologen, in denen das Anormale beschrieben wurde und jeder vorsätzliche Mord aufgeführt war, der sich in der Geschichte Mabogs ereignet hatte. Aber daß eine derartige Ungeheuerlichkeit ausgerechnet ihm widerfahren sollte! Kalen war einfach nicht fähig, es zu glauben. Ein weiterer Strahl traf ihn. Kalen stand still und versuchte, sich die Wirklichkeit des Ereignisses klar zu machen. Er konnte einfach nicht verstehen, daß Lebewesen mit genügend Sinn für Zusammenarbeit und Zusammenleben, um ein Raumschiff bauen zu können, eines Mordes fähig waren. Und außerdem – sie kannten ihn ja nicht einmal. Fast zu spät drehte sich Kalen um und rannte in den Wald zurück. Jeder der drei Fremden schoß jetzt,
und das Gras um ihn herum wurde weiß und knisterte vor Frost. Sein Körper war über und über mit Reif bedeckt. Eine solche Kälte auszuhalten, war etwas, wofür die Konstitution eines Maboginers nicht geeignet war, und er fühlte sie langsam in sein Inneres kriechen. Doch er konnte es noch immer nicht recht glauben. Kalen erreichte den Wald, und ein Doppelstrahl traf ihn, gerade als er hinter einen Baum glitt. Er fühlte, wie seine inneren Organe verzweifelt versuchten, seinem Körper wieder die notwendige Wärme zu geben. Aber es war vergeblich. Mit tiefem Bedauern merkte er, wie eine dunkle Hand sein Bewußtsein auslöschte. »Einfältiger Kerl«, sagte Agee und steckte seine Pistole ins Halfter. »Einfältig und stark«, entgegnete Barnett. »Aber kein Sauerstoffatmer kann viel davon vertragen.« Er lächelte breit und tätschelte die silbergraue Haut des Schiffes. »Wir taufen es ›Endeavor II.‹« »Es lebe der Käpt'n!« schrie Viktor begeistert. »Halt die Luft an!« sagte Barnett. »Du wirst sie noch brauchen.« Er blickte in die Höhe. »Ich schätze, es wird noch ungefähr vier Stunden hell sein. Viktor, du bringst unsere Nahrungsmittel, den Sauerstoff und das Werkzeug herüber. Und vergiß nicht, den Antrieb unbrauchbar zu machen. Am besten, du montierst die Verbindungskabel ab und bringst sie mit. Irgendwann werden wir zurückkommen und die alte Kiste holen. Aber heute möchte ich
bei Sonnenuntergang weg sein.« Viktor machte sich auf den Weg. Barnett und Agee stiegen in ihr neues Schiff. Die hintere Hälfte der »Endeavor II« beherbergte die Generatoren, die Umformer, Servos und alle möglichen anderen Maschinen, außerdem die Lufttanks und den Treibstoff. Davor befand sich ein riesiger Frachtraum, der fast die ganze andere Hälfte des Schiffes einnahm. Er war mit Nüssen aller Formen und Farben gefüllt, von denen die kleinste vielleicht fünf Zentimeter Durchmesser hatte, die größte bald doppelt so groß wie ein Männerkopf war. Es blieben also nur noch zwei kleine Abteile im Bug des Schiffes übrig. Der erste hätte wohl der Mannschaftsraum sein müssen, denn nur hier war genügend Platz vorhanden. Er war jedoch völlig leer. Keine Andruckbetten, kein Tisch, kein Stuhl – nichts als glatte Metallwände. An manchen Stellen unterbrachen kleine Öffnungen in Wänden und Decke die Kahlheit des Raumes, aber ihr Zweck war nicht so ohne weiteres ersichtlich. Gleich neben diesem Raum befand sich die Steuerkanzel. Sie war sehr klein – kaum groß genug für einen Mann – und die Wand unter dem Beobachtungsfenster war über und über mit Instrumenten bedeckt. »So, hier kannst du also zeigen, was du gelernt hast«, sagte Barnett. Agee nickte, sah sich vergebens nach irgendeiner Sitzgelegenheit um und kauerte sich dann vor die Instrumententafel. Nachdenklich begann er ihre Anordnung zu studieren. Nach einigen Stunden hatte Viktor alle Vorräte in die »Endeavor II« verstaut. Agee hatte immer noch
nichts berührt. Er versuchte, herauszufinden, was was kontrollierte, mit Hilfe der Größe, Farbe, der Form und der Lage der Instrumente. Es war nicht leicht, sogar wenn man gleiche oder doch ähnliche Nervensysteme und Gedankengänge voraussetzte. Lief die Hilfskontrolle für die Beschleunigung von links nach rechts? Wenn nicht, dann müßte er seine alte Routine vergessen. Bedeutete Rot Gefahr für die, die das Schiff gebaut hatten? Wenn ja, dann konnte dieser große Hebel möglicherweise die Aufgabe haben, den Treibstoff abzulassen. In diesem Fall würde der Hebel überhaupt den Energiezufluß steuern. Nicht ausgeschlossen, daß er genauso gut den Zweck hatte, den Antrieb im Fall eines feindlichen Angriffs zu überladen oder sogar das Schiff in die Luft zu jagen. Agee dachte an alle diese Möglichkeiten, während er noch einmal die Instrumente nachdenklich musterte. Er war allerdings nicht allzu sehr beunruhigt. Einerseits waren alle Raumschiffe robuste Konstruktionen, von innen heraus praktisch unzerstörbar; andererseits glaubte er, Bedeutung und Anordnung der Instrumente doch einigermaßen enträtselt zu haben. Barnett steckte den Kopf durch die Tür, Viktor schaute ihm über die Schulter: »Na, fertig?« Agee überflog ein letztes Mal alle Instrumente. »Glaub schon«, sagte er. Leichthin berührte er einen der Schalter: »Der hier müßte die Luftschleusen betätigen.« Er legte ihn um. Viktor und Barnett warteten angespannt. Sie schwitzten vor Aufregung, trotz der empfindlichen Kühle im Raum. Dann hörten sie das sanfte Schleifen von geöltem
Metall. Die Schleusen schlossen sich. Agee grinste und klopfte mit dem Zeigefinger abergläubisch dreimal an die Wand. »Das hier ist die Luftversorgungsanlage.« Er drückte einen anderen Hebel nieder. Aus der Decke begann gelber Rauch zu quellen. »Unreinheiten in der Anlage«, sagte Agee und machte eine Korrektur. Viktor fing an zu husten. »Stell es ab«, sagte Barnett. Der Rauch ergoß sich jetzt in dichten Schwaden durch die beiden Räume. »Stell es ab!« »Ich kann ja nichts sehen!« Agee streckte auf gut Glück seine Hand nach dem Hebel aus, verfehlte ihn aber und berührte einen Knopf darunter. Sogleich begannen die Generatoren schrill zu heulen. Blaue Funken tanzten über die Instrumententafel und sprangen auf die Wand über. Agee taumelte zurück und brach zusammen. Viktor war bereits an der Tür zum Frachtraum und hämmerte dagegen, um sie aufzukriegen. Barnett preßte eine Hand vor den Mund und stürzte vorwärts. Blindlings tastete er nach dem verhängnisvollen Hebel und fühlte dabei, wie sich der Raum schwindelerregend um ihn drehte. Viktor fiel zu Boden, immer noch schwach gegen die Tür schlagend. Verzweifelt tastete Barnett an den Instrumenten herum. Im gleichen Augenblick hörte das Summen der Generatoren auf. Dann fühlte Barnett einen kalten Luftzug auf seinem Gesicht. Er rieb sich die tränenden Augen und sah auf.
Durch einen glücklichen Zufall hatte er die Luftlöcher in der Decke schließen können. Gleichzeitig hatte er die Schleusen geöffnet, und das Gas im Schiff wurde jetzt von der kalten Abendluft des Planeten verdrängt. Bald war die Atmosphäre wieder atembar. Viktor erhob sich schwankend und unsicher, aber Agee bewegte sich nicht. Barnett versuchte es unter leisem Fluchen mit künstlicher Beatmung. Endlich fingen Agees Augenlider zu flattern an, und seine Brust begann sich zu heben und zu senken. Nach ein paar Minuten setzte er sich auf und schüttelte benommen den Kopf. »Was war das für ein Zeug?« fragte Viktor. »Ich fürchte«, sagte Barnett trocken, »das, was unser fremder Freund als atembare Atmosphäre betrachtet.« Agee schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein, Kapitän. Er war hier auf einer Sauerstoffwelt und ging ohne Helm herum –« »Die Art zu atmen weist unter den einzelnen Lebensformen erhebliche Unterschiede auf. Verschließen wir uns nicht den Tatsachen. Schon allein das körperliche Aussehen unseres Freundes war von dem unseren arg verschieden.« »Das ist schon schlechter«, sagte Agee. Die drei Männer sahen einander vielsagend an. In dem Schweigen, das folgte, hörten sie plötzlich einen schwachen, unheilvollen Laut. »Was war das?« schrie Viktor erschrocken und riß seine Pistole heraus. »Halt's Maul!« brüllte Barnett. Sie lauschten angestrengt. Barnett fühlte, wie sich
seine Haare sträubten, während er versuchte, das Geräusch zu identifizieren. Es kam aus einiger Entfernung. Es klang wie Metall, das auf einen harten nichtmetallischen Gegenstand trifft. Langsam gingen sie zur Schleuse und sahen vorsichtig hinaus. Im Licht der letzten Strahlen der untergehenden Sonne konnten sie gerade noch erkennen, daß die Hauptschleuse der »Endeavor II« offenstand. Das Geräusch kam aus dem Schiff. »Unmöglich«, sagte Agee. »Unsere Vereisungspistolen –« »Haben ihn nicht erledigt«, beendete Barnett den Satz. »Das ist schlimm«, brummte Agee. »Das ist verdammt schlimm.« Viktor hielt noch immer seine Pistole in der Hand. »Käpt'n, angenommen, ich schleiche mich mal vorsichtig rüber –?« Barnett schüttelte den Kopf. »Er würde dich nicht einmal bis auf Schußnähe heranlassen. Nein, laßt mich überlegen. Ist noch irgend etwas an Bord, was er gebrauchen könnte?« »Ich hab ja alles Brauchbare herübergeschafft«, sagte Viktor. »Gut. Dann hat er also nichts, was –« »Die Säureflaschen«, unterbrach ihn Agee. »Verdammt wirksames Zeug. Obwohl ich nicht glaube, daß sie ihm viel nützen können.« »Überhaupt nichts«, antwortete Barnett. »Nein, wir sind nun hier in diesem Schiff, und hier werden wir auch bleiben. Aber bring uns jetzt endlich hoch.« Langsam gingen sie zurück in den Mannschafts-
raum. Agee blickte zu den Instrumenten hinüber. Vor einer halben Stunde noch hatte er geglaubt, sie beinahe verstanden zu haben. Jetzt erschienen sie ihm wie eine raffiniert angelegte Todesfalle – eine Falle, deren unsichtbare Drähte und Leitungen zu seiner Vernichtung führen konnten. Die Fallen waren natürlich nicht absichtlich gestellt. Aber ein Raumschiff war verständlicherweise eine Maschine, die nicht nur die schnelle Zurücklegung von Entfernungen ermöglichte, sondern auch für das Leben der Reisenden garantieren mußte. Die Einrichtungen des Schiffes würden versuchen, eine künstliche Umwelt zu schaffen, die den Lebensbedingungen des Fremden entsprach, und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und das könnte für Menschen manche böse Überraschung geben. »Ich wünschte, ich wüßte, wie der Planet aussieht, von dem er kommt«, sagte Agee unsicher. »Wenn wir davon eine Ahnung hätten, könnten wir besser voraussehen, wie sich das Schiff möglicherweise verhalten wird.« Aber alles, was sie wußten, war, daß der Fremde ein gelbliches Giftgas atmete. »Wir werden es schon schaffen«, sagte Barnett, aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. »Versuche herauszubekommen, wie Antrieb und Steuerung funktionieren. Von allen anderen Sachen werden wir die Finger lassen.« Agee wandte sich wieder den Instrumenten zu. Barnett hätte gern gewußt, was der Fremde jetzt vorhatte. Er starrte hinaus in das Zwielicht des Abends und zu seinem alten Schiff hinüber und
lauschte dem rätselhaften Geräusch, das von dort zu hören war. Kalen war überrascht, als er aufwachte und sich noch am Leben befand. Aber es gab ein Sprichwort unter seinen Landsleuten: »Entweder tötet man einen Mann von Mabog schnell oder überhaupt nicht.« Das letztere schien zuzutreffen – bis jetzt jedenfalls. Taumelnd richtete er sich auf und lehnte sich unsicher gegen einen Baum. Die rote Sonne des Planeten stand schon tief am Horizont. Schwaden des giftigen Sauerstoffs quirlten um ihn herum. Glücklicherweise waren seine Lungen immer noch streng versiegelt. Die kostbare Luft, obwohl vom langen Gebrauch schon etwas schal, hielt ihn noch immer am Leben. Wenige hundert Meter entfernt ruhte sein Schiff friedlich inmitten der Lichtung. Die letzten Strahlen der Sonne glänzten auf seiner Hülle, und für einen Augenblick war Kalen überzeugt, sich den Zwischenfall mit irgendwelchen Fremden nur eingebildet zu haben. Er hatte geträumt, und jetzt würde er zu seinem Schiff zurückkehren und ... Er sah einen der Fremden, schwerbeladen, das Schiff betreten. Nach einer kleinen Weile schlossen sich die Außenluken. Es war also doch wahr. Er zwang sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen, und dachte nach. Er benötigte dringend Nahrung und frische Luft. Seine Außenhaut war trocken und rissig und müßte umgehend behandelt werden. Aber das alles – Nahrung, Luft und Reinigungsmittel für seine Haut – befand sich in seinem Schiff. Alles, was er hatte, waren eine einzige rote Kerlanuß und die Thetnitbombe.
Wenn er die Nuß essen könnte, würde ihn das schon genügend stärken. Aber wie sollte er sie aufbekommen? Mit Erschrecken machte er sich klar, wie sehr er doch von seinen Maschinen abhängig war. Jetzt mußte er einen Weg finden, die einfachsten, gewöhnlichsten und alltäglichsten Dinge selbst zu tun – Dinge, die auf seinem Heimatplaneten ein Kinderspiel waren und die auf Reisen sein Schiff automatisch verrichtet hatte, ohne daß er je einen Gedanken daran verschwendet hatte. Kalen begriff, daß die Fremden offenbar ihr eigenes Schiff verlassen hatten. Warum? Das war nicht wichtig. Hier draußen würde er noch vor dem Morgengrauen tot sein. Die einzige Chance, dieses Schicksal hinauszuschieben, bot ihm das fremde Raumschiff. Langsam und mühselig bahnte er sich seinen Weg durch das hohe Gras. Ab und zu hielt er inne, wenn ein Schwindelanfall ihn niederzuwerfen drohte. Er versuchte, sein Schiff im Auge zu behalten. Wenn die Fremden ihn jetzt entdeckten, würde alles verloren sein. Aber nichts rührte sich. Endlich, nach einer Ewigkeit, erreichte er das fremde Schiff und schlüpfte aufatmend hinein. Draußen dunkelte es allmählich. In dem im Innern des Schiffes herrschenden Zwielicht konnte er gerade noch erkennen, wie alt und verbraucht es war. Die Wände, von vornherein viel zu dünn, waren geflickt und wieder geflickt. Alles deutete auf langen Gebrauch hin. Er verstand jetzt, warum sie sein Schiff haben wollten. Wieder hatte er einen Schwindelanfall. Es war ein
unmißverständlicher Hilfeschrei seines Körpers, mit dem er auf seine Nöte aufmerksam machte. Nahrung schien das vordringlichste Problem. Er nahm die Kerlanuß aus der Körperfalte. Sie war rund, ungefähr zehn Zentimeter dick, die Hälfte davon Schale. Nüsse dieser Art bildeten den Hauptbestandteil der Nahrung eines maboginischen Raumfahrers. Sie waren außergewöhnlich energiereich und fast unbegrenzt haltbar. Er lehnte die Nuß gegen eine Wand, suchte und fand eine Eisenstange und schlug damit auf die Nuß ein. Es gab einen dumpfen, hohlen Ton. Die Nuß aber blieb unbeschädigt. Kalen fragte sich, ob das Geräusch von den Fremden gehört werden konnte. Doch das mußte er in Kauf nehmen. Er stellte sich breitbeinig hin und fing an, auf die Nuß loszudreschen. Nach fünfzehn Minuten war er völlig erschöpft, die Eisenstange unförmig verbogen, die Nuß aber zeigte keinen Kratzer. Es ging einfach nicht, die Nuß ohne einen Knacker aufzubringen – Standardeinrichtung an Bord eines jeden maboginischen Raumschiffes. Niemand dachte je daran, eine Nuß auf andere Art zu öffnen. Niedergeschlagen wurde ihm seine Hilflosigkeit bewußt. Wieder hob er die Stange und merkte mit Schrecken, daß seine Glieder immer steifer wurden. Er ließ die Stange fallen und überlegte fieberhaft. Die immer härter werdende Außenhaut seines Körpers behinderte seine Beweglichkeit. Langsam, aber sicher würde sie zu festem Horn werden. Und sobald dieser Prozeß vollendet war, würde er völlig unbeweglich sein. Festgehalten in der Lage, die er dann zufällig
einnehmen würde, müßte er so lange sitzen oder stehen, bis er erstickt war. Kalen zwang sich, die Verzweiflung zurückzudrängen, die ihn übermannen wollte. Seine vordringlichste Aufgabe war, die Haut zu behandeln. Das war viel wichtiger als Nahrung. An Bord seines Schiffes wäre das einfach gewesen. Er hätte sie waschen und baden und sie wieder geschmeidig machen können. Aber hier? Er zweifelte, ob die Fremden die richtigen Mittel dafür hatten. Der einzige Ausweg, der ihm blieb – die Haut einfach aufschneiden. Die darunterliegende Schicht würde zwar auch nur für ein paar Tage zu gebrauchen sein, aber so lange wenigstens konnte er sich bewegen. Ungelenk und mit immer steifer werdenden Gliedern machte er sich auf die Suche nach einem Trennmesser. Dann fiel ihm ein, daß die Fremden wahrscheinlich nicht einmal diese einfachste aller Hilfen besaßen. Immer noch war er ganz auf sich selbst angewiesen. Er hob die Eisenstange wieder auf, bog sie in die Form eines Hakens und setzte die Spitze unter einer Falte seiner Haut an. Mit seiner ganzen Kraft riß er den improvisierten Haken nach oben. Erfolglos. Verzweifelt zwängte er sich zwischen die Wand und einen der Generatoren und setzte den Haken in einem anderen Winkel an. Aber seine Arme waren nicht lang genug, um die erwünschte Hebelwirkung zu ermöglichen, und die Haut war schon zäh wie altes Leder. Er probierte ein Dutzend verschiedene Stellungen aus, ohne jeden Erfolg. Erschöpft und niedergeschlagen ließ er endlich die Stange zu Boden fallen. Er war hilflos, völlig hilflos. Dann fiel ihm die
Thetnitbombe ein, die er noch immer in seiner Körperfalte mit sich herumtrug. Ein primitiver Teil seines Verstandes, von dessen Existenz er früher nicht einmal etwas geahnt hatte, flüsterte ihm zu, daß hier ein leichter Ausweg aus dem Dilemma wäre. Es würde nicht allzu schwierig sein, die Bombe heimlich und unbemerkt von den Fremden unter sein Schiff zu legen. Die verhältnismäßig schwache Ladung würde das Schiff höchstens ein paar Meter in die Luft werfen, ohne es aber ernsthaft zu beschädigen, denn ein Raumschiff hielt schon etwas aus. Die Fremden dagegen würden zweifellos dabei getötet werden. Kalen war entsetzt. Wie konnte er nur an so etwas denken? Die maboginische Ethik – in jede Fiber seines Seins eingebrannt – verbot das Töten intelligenten Lebens. In jedem Falle. Aber wäre hier eine solche Handlung nicht gerechtfertigt, raunte ihm der Versucher zu. Diese Fremden sind krank und verseucht. Du würdest dem Universum nur einen Gefallen tun, wenn du sie beseitigen würdest, und nur zufällig würdest du dabei auch dir selbst helfen. Nenne es nicht Mord, nenne es Ausrottung eines Übels, Vertilgung von Ungeziefer. Er nahm die Bombe heraus, sah sie lange und zweifelnd an und legte sie dann hastig beiseite. »Nein!« sagte er laut, aber seine Stimme schwankte. Er weigerte sich, sein Hirn noch weiter zu quälen. Mit müden, fast steifen Beinen machte er sich auf, das fremde Schiff nach irgend etwas zu durchsuchen, das vielleicht sein Leben retten könnte.
Agee kauerte mit verkrampften Gliedern in der Enge der Steuerkanzel und markierte müde und abgespannt mit Tintenstift die einzelnen Armaturen. Er hatte die ganze Nacht über gearbeitet und gegrübelt, und er konnte bald nicht mehr. Draußen dämmerte ein kalter grauer Morgen herauf. Ein rauher Wind pfiff um die »Endeavor II«. Im Schiff war es ebenfalls empfindlich kühl, denn Agee wagte es nicht, sich an dem Temperaturregler zu vergreifen. Schwankend unter der Last einer großen Kiste betrat Viktor den Mannschaftsraum. »Barnett?« rief Agee fragend. »Kommt sofort«, antwortete Viktor. Suchend blickte er sich nach einem Platz um, wo er die Kiste niederstellen konnte. Der Kapitän wollte ihre ganze Ausrüstung vorn im Mannschaftsraum haben, wo sie jederzeit leicht erreichbar war. Aber der Raum war klein, und Viktor hatte schon den größten Teil mit Kisten und allen möglichen anderen Dingen vollgestellt. Während er suchend umherblickte, bemerkte Viktor eine kleine Tür in einer der Wände. Er drückte den Türknopf. Die Tür glitt nach oben in die Decke und gab eine kleine Kammer frei. Großartig, dachte Viktor. Ohne sich weiter um die zerbrochenen roten Schalen zu kümmern, die auf dem Boden lagen, schob er die Kiste hinein. Sogleich begann sich die Decke der Kammer zu senken. Viktor schrie vor Erstaunen so laut auf, daß sein Schrei im ganzen Schiff zu hören war. Mit einem wilden Satz sprang er auf – und schlug sich den Kopf an die Decke. Betäubt fiel er zu Boden.
Agee drehte sich erschrocken um. Durch die andere Tür kam Barnett hereingestürzt. Er griff nach Viktors Beinen und versuchte, ihn herauszuziehen. Aber Viktor war ein schwerer Bursche, und der Kapitän fand außerdem keinen festen Halt auf dem glatten Metallfußboden. Geistesgegenwärtig stellte Agee die Kiste auf ihre Schmalseite. Für einen Augenblick genügte dieser Widerstand, die sich unaufhaltsam senkende Decke aufzuhalten. Mit vereinten Kräften zogen nun Barnett und Agee an Viktors Beinen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen, Viktor aus dieser unheimlichen Falle zu befreien. Die schwere Kiste zersplitterte und war im nächsten Augenblick zerquetscht wie eine Pappschachtel. Die Decke der kleinen Kammer, die, wie sie jetzt sahen, wie ein Stempel am Ende eines Schaftes saß, drückte die Kiste bis zu einer Dicke von zwanzig Zentimetern zusammen. Dann glitt sie geräuschlos wieder an ihren alten Platz zurück. Viktor setzte sich auf und rieb sich benommen die Beule auf seinem Kopf. »Kapitän«, sagte er kläglich, »können wir uns nicht unser altes Schiff zurückholen?« Agee kamen jetzt ebenfalls Bedenken. Er blickte zu der kleinen Kammer hinüber, die nun wieder ganz harmlos aussah. »Scheint wirklich ein verhextes Schiff zu sein«, meinte er sorgenvoll. »Vielleicht hat Viktor recht?« »Du willst es also aufgeben?« fragte Barnett. Agee drehte sich unbehaglich hin und her und nickte schließlich. »Die Sache ist die«, sagte er endlich und blickte da-
bei unentwegt zu Boden, »wir wissen wirklich nicht, was als nächste Überraschung auf uns wartet. Es ist einfach zu riskant, Kapitän.« »Bist du dir auch klar darüber, was du aufgeben willst?« fragte Barnett herausfordernd. »Der Rumpf allein ist ein Vermögen wert. Und hast du schon mal die Maschinen angesehen? Es gibt nichts, was dieses Schiff aufhalten könnte. Es könnte sich seinen Weg mitten durch einen Planeten bohren und auf der anderen Seite ohne die kleinste Schramme herauskommen. Und das willst du aufgeben?« »Das Schiff wird aber für uns nicht viel wert sein, wenn es uns vorher erledigt«, widersprach Agee. Viktor nickte nachdrücklich. Barnett starrte die beiden kalt an. »Also jetzt hört mir mal genau zu«, sagte er. »Wir werden das Schiff nicht aufgeben. Es ist uns nur fremd, und seine Einrichtung ist neu und unbekannt. Alles, was wir zu tun haben, ist, die Finger von den Dingen zu lassen, die wir nicht unbedingt brauchen, bis wir einen Raumhafen erreichen. Dann können wir herumprobieren. Verstanden?« Agee wollte etwas über Abstellkammern sagen, die sich in hydraulische Pressen verwandeln. Das schien ihm nicht gerade ein günstiges Omen für die Zukunft zu sein. Aber ein Blick in Barnetts entschlossenes Gesicht belehrte ihn eines Besseren. »Hast du die Instrumente markiert?« fragte Barnett. »Ein paar muß ich noch enträtseln«, antwortete Agee verkniffen. »Gut. Dann kümmere dich darum. Und diese Kontrollen werden die einzigen sein, die wir anfassen
werden. Wenn wir das Schiff in Ruhe lassen, wird es uns auch in Ruhe lassen. Merkt euch das. Für die nächste Zukunft heißt es ganz einfach: Hände weg!« Barnett wischte sich Schweißtropfen von der Stirn und lehnte sich erschöpft gegen eine Wand. Im gleichen Augenblick schossen zwei Metallbänder aus bisher unsichtbaren Öffnungen rechts und links von ihm und umfaßten ihn in der Hüftgegend. Sprachlos starrte Barnett die Bänder einen Moment an, dann warf er sich wie ein Tiger nach vorn. Die Bänder gaben keinen Millimeter nach. Ein seltsames Klacken ertönte in der Wand, und ein Draht kam heraus. Seine Spitze berührte Barnetts Jakke. Dann zog er sich wieder in die Wand zurück. Agee und Viktor starrten Barnett entsetzt und hilflos an. »Schalt das Ding ab«, sagte Barnett mit unnatürlich ruhiger Stimme. Agee rannte in den Kontrollraum. Viktor blieb wie angewurzelt stehen. Aus der Wand kam jetzt ein Metallarm, der vorn an seiner Spitze ein glitzerndes, zehn Zentimeter langes Messer trug. »Abstellen!« Barnett brüllte es heraus. In Viktor kam plötzlich Leben. Er stürzte vor und versuchte, den Metallarm wegzubiegen. Es gab einen Ruck, und Viktor taumelte beiseite. Mit der Präzision eines Chirurgen trennte das Messer Barnetts Jacke vorn in der Mitte auseinander, ohne allerdings das Hemd zu berühren. Dann zog es sich wieder in die Wand zurück. Agee drückte unterdessen verzweifelt alle möglichen Hebel und Knöpfe. Die Generatoren summten
auf. Die Schleusen öffneten sich, Stabilisationskreisel rüttelten das Schiff durcheinander, und alle möglichen Lichter zuckten auf. Der Mechanismus, der Barnett gefangenhielt, wurde von all dem nicht berührt. Der tastende Draht von vorhin zeigte sich wieder. Seine Spitze fuhr jetzt über Barnetts Hemd und verhielt einen Augenblick zögernd. Der Mechanismus in der Wand ratterte verwirrt. Die Spitze berührte das Hemd ein zweites Mal, als ob sie unsicher wäre, wie sie sich in diesem Falle verhalten sollte. Agee rief aus der Steuerkanzel. »Ich kann's nicht abstellen. Scheint vollautomatisch zu sein!« Der Draht verschwand, und das Skalpell kam wieder hervor. Viktor hatte inzwischen einen schweren Schraubenschlüssel gefunden. Er kam mit großen Sprüngen herbeigerannt, holte aus und schmetterte den Schlüssel mit aller Kraft auf den Metallarm, knapp an Barnetts Kopf vorbei. Der Arm, der das Messer hielt, war nicht einmal eingebeult. Unbeirrt machte sich das Messer an die Arbeit, Barnetts Hemd entzweizuschneiden, bis Barnett nackt bis zur Hüfte dastand. Barnett war nicht verletzt, aber seine Augen verdrehten sich schreckenerregend, als der Drahttaster ein drittes Mal aus der Wand glitt. Viktor preßte sich die Hand vor den Mund und machte ein paar stolpernde Schritte rückwärts. Agee schloß die Augen. Ihm wurde übel. Der Draht berührte Barnetts warmes lebendiges Fleisch, ratterte befriedigt und glitt in die Wand zurück. Die Bänder öffneten sich, und Barnett fiel kraftlos auf die Knie.
Für ein paar Minuten sprach keiner der drei. Es gab auch nichts zu reden. Barnett starrte düster ins Leere. Viktor knackte nervös mit seinen Fingern, bis ihm Agee einen Rippenstoß versetzte. Der alte Pilot zerbrach sich den Kopf, warum der Mechanismus nur Barnetts Kleider zerschnitten, aber das lebende Fleisch verschont hatte. War das die Art und Weise, wie der Fremde sich auszog? Nein, das war Unsinn. Andererseits – die hydraulische Presse von vorhin war genauso unverständlich. In gewissem Sinne war er froh, daß es zu diesem neuen Zwischenfall gekommen war. Für Barnett würde das eine Lehre sein. Jetzt würden sie bestimmt dieses verhexte Schiff in Ruhe lassen und sich lieber den Kopf zerbrechen, wie sie ihr altes Schiff wiederbekommen könnten. »Bring mir ein Hemd«, sagte Barnett endlich. Viktor beeilte sich, dem Wunsch nachzukommen. Barnett zog es über, hielt aber dabei vorsichtig Abstand von den Wänden. »Wann also können wir starten?« fragte er Agee ein wenig unsicher. »Was?« »Du hast doch gehört, was ich sagte.« »Hast du noch immer nicht genug?« Agee keuchte und verschluckte sich fast. »Nein. Wann frühestens können wir losfliegen?« »Ungefähr in einer Stunde«, brummte Agee. Was sollte er noch sagen? Dieser Kerl war einfach nicht umzustimmen. Mit schleppenden Schritten kehrte er in den Kontrollraum zurück. Barnett zog einen Pullover über das Hemd und darüber noch eine Jacke. Komisch, plötzlich hatte er
einen entsetzlichen Schüttelfrost. Kalen lag bewegungslos auf dem Deck des fremden Schiffes. Törichterweise hatte er den größten Teil seiner Kraftreserve dazu benützt, seine steife Außenhaut wegreißen zu wollen. Und die Haut wurde immer härter, während er immer schwächer wurde. Jetzt schien es kaum noch der Mühe wert, etwas zu unternehmen und sich unnütz anzustrengen. Es war besser, auszuruhen und ergeben auf den Tod zu warten. Bald träumte er von den sanften Hügeln Mabogs und dem großen Raumhafen von Cathanope, wo die interstellaren Handelsschiffe landeten, ihre Bäuche voll mit unbekannten, fremden Waren. Er stand auf einem Hügel in der Dämmerung und blickte über die flachen Dächer der Stadt und sah, wie die zwei großen Sonnen Mabogs langsam hinter dem Horizont verschwanden. Er riß sich gewaltsam aus seinen Phantasien und starrte hinaus in das graue Licht des anbrechenden Morgens. Das war nicht die Art eines maboginischen Raumfahrers, dem Tod zu begegnen. Er würde sich zusammenreißen. Nach einer halben Stunde beschwerlichen und mühevollen Umhersuchens fand er im Heck des Schiffes eine versiegelte Metallkiste. Die Fremden hatten sie offensichtlich vergessen. Er riß den Deckel ab. In der Kiste befanden sich mehrere Flaschen, sorgfältig befestigt und gegen Stöße mit Polstern abgesichert. Kalen hob eine heraus und untersuchte sie sorgfältig. Die Flasche trug ein großes weißes Zeichen. Eigentlich konnte er nicht erwarten, dieses Zeichen zu
kennen. Trotzdem – es erinnerte ihn vage an etwas, was er schon einmal gesehen hatte. Angestrengt durchforschte er sein Gedächtnis. Dann fiel es ihm ein. Es war das Abbild eines Schädels. Es gab in der Maboginischen Union eine Rasse, die den Fremden glich, und in einem Museum hatte er Nachbildungen ihrer Schädel gesehen. Aber warum das Bild eines Schädels auf der Flasche? Für Kalen bedeutete ein Schädel etwas Verehrungswürdiges. Das mußten wohl auch die Hersteller beabsichtigt haben. Er öffnete die Flasche und schnupperte leicht daran. Der Geruch war äußerst interessant. Er erinnerte an – ein Hautreinigungsmittel. Ohne Zögern schüttete er sich den Inhalt der Flasche über den Körper. Kaum wagte er zu hoffen. Wenn er seine Haut kurieren konnte – Ja, die Flüssigkeit in der Flasche war ein mildes Hautreinigungsmittel. Und wohlriechend obendrein. Er schüttete eine zweite Flasche über seinen Hornpanzer und fühlte angenehm erschauernd, wie die Flüssigkeit langsam einsickerte. Sein Körper, ausgehungert nach dieser Wohltat, verlangte nach mehr. Er leerte noch eine Flasche. Seine Haut enthärtete sich und wurde allmählich geschmeidiger. Geraume Zeit lag Kalen einfach da und ließ seine Haut sich vollsaugen. Er fühlte, wie eine Welle von Energie ihn durchströmte, ein neuer Wille zum Leben. Er würde leben! Nach dem Bad untersuchte er die Kontrollen des Schiffes, mit der schwachen Hoffnung, vielleicht dieses alte Ding zurück nach Mabog steuern zu können.
Sofort zeigten sich Schwierigkeiten. Aus irgendeinem unverständlichen Grund befanden sich die Instrumente nicht in einem einzigen verschließbaren Raum. Er fragte sich, warum nicht. Diese seltsamen Geschöpfe konnten doch nicht gut ihr ganzes Schiff fluten? Nein, unmöglich. Das Schiff war ja nicht einmal groß genug, um die Tanks für das nötige Öl aufzunehmen. Er war verwirrt. Aber eigentlich war alles in diesem Schiff verwirrend und unbegreiflich. Doch diese Schwierigkeiten konnte er überwinden. Als er aber die Antriebsaggregate untersuchte, sah er, daß die wichtigsten Kabel entfernt worden waren. Die Maschinen waren nutzlos. Es blieb ihm also nur ein Ausweg. Er mußte sein eigenes Schiff zurückbekommen. Aber wie das bewerkstelligen? Ruhelos schritt er auf und ab. Die Ethik seiner Rasse verbot das Töten intelligenter Lebewesen, und darüber gab es keine Wenn und Aber. Unter keinen Umständen – nicht einmal, um das eigene Leben zu retten – durfte man töten. Eine weise Regel, und sie zu befolgen, hatte Mabog bisher nur geholfen. Indem sein Volk sich ihr strikt unterworfen hatte, konnte es in den letzten dreitausend Jahren jeden Krieg vermeiden und hatte so seinen hohen Zivilisationsstand erreicht. Und das wäre unmöglich gewesen, wenn sich Ausnahmen hätten einschleichen dürfen. Wenn und Aber konnten das gesündeste Prinzip unterhöhlen. Er durfte einfach nicht in die alte primitive Art zurückfallen. Aber sollte er hier untätig seinen eigenen Tod erwarten? Zufällig blickte er zu Boden und war überrascht zu sehen, daß eine Lache des Reinigungsmittels ein Loch
in den Boden gefressen hatte. Wie schwach und dünn doch dieses Schiff gebaut war – sogar ein mildes Reinigungsmittel konnte es beschädigen. Wie schwach mußten erst die Fremden selbst sein? Eine Thetnitbombe würde genügen. Er ging zur Schleuse. Eine Wache war nicht zu sehen. Er nahm an, daß die Fremden vielleicht zu beschäftigt waren. Es würde leicht sein, sich durch das hohe Gras hinüberzuschleichen ... Und keiner auf Mabog brauchte je davon zu erfahren. Kalen ertappte sich zu seiner Überraschung dabei, schon fast die Hälfte der Strecke zwischen den beiden Schiffen zurückgelegt zu haben. Seltsam, wie sein Körper Dinge tat, von denen sein Verstand anscheinend nichts wußte. Er nahm die Bombe heraus und kroch noch ein paar Meter vorwärts. »Bist du immer noch nicht fertig?« fragte Barnett ungeduldig. »Ich glaube, jetzt hab ich's. Mehr werde ich sowieso nicht herausfinden können.« Barnett nickte. »Viktor und ich werden uns im Mannschaftsraum anschnallen. Starte mit geringer Beschleunigung.« Agee schnallte sich auf dem provisorischen Andrucksessel fest, den er sich selbst zusammengebastelt hatte, und rieb sich nervös die Hände. Soweit er beurteilen konnte, hatte er alle wichtigen Instrumente identifiziert. Es müßte also klappen. Er hoffte es jedenfalls. Denn er konnte einfach nicht die kleine Kammer und das Messer vergessen. Was wußte er, was dieses
verrückte Schiff als nächstes tun würde. »Wir sind fertig«, rief Barnett aus dem Mannschaftsraum herüber. »In Ordnung. Noch ein paar Sekunden.« Er schloß die Schleusen. Die Tür zur Steuerkanzel schloß sich jetzt ebenfalls automatisch. Mit einem unbehaglichen Gefühl ließ Agee die Aggregate an. Bis jetzt klappte ja wirklich alles, aber später – Auf dem Boden sah er einen kleinen Ölfleck. Er sagte sich, daß es irgendwo ein kleines Leck geben müßte, und achtete nicht weiter darauf. Er gab dem automatischen Piloten einen Kurs ein und aktivierte die Flugsteuerung. Er fühlte, wie etwas Nasses um seine Füße schwappte. Er blickte hinunter und sah mit Erstaunen, daß das dickflüssige Öl inzwischen fast zehn Zentimeter hoch den Boden bedeckte. Das konnte kein kleines Leck sein. Er verstand nicht, wie ein so hervorragend gebautes Schiff einen solchen Fabrikationsfehler, oder was es sonst immer war, haben konnte. Er schnallte sich los und tastete nach der Quelle des Öls. Er fand sie. Vier kleine Löcher waren in Fußbodenhöhe in die Wand eingelassen, und aus jedem rann ein steter Strom der übelriechenden Flüssigkeit. Agee drückte auf den Türknopf. Die Tür blieb geschlossen. Er zwang sich zur Ruhe und untersuchte die Tür sorgfältig. Sie sollte sich eigentlich öffnen. Aber sie tat es nicht. Das Öl stand ihm jetzt fast bis zu den Knien. Er grinste verlegen vor sich hin. Wie dumm von ihm. Die Tür wurde ja selbsttätig vom Instrumenten-
brett aus geschlossen. Er drückte den entsprechenden Schalter nieder, aber es rührte sich immer noch nichts. Agee riß mit seiner ganzen Kraft an der Tür, aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Er watete zurück zu den Instrumenten. Als sie das Schiff fanden, war kein Öl zu sehen gewesen. Also mußte es irgendwo einen Ablauf geben. Das Öl stand ihm schon bis zur Hüfte, bevor er ihn fand. Als das Öl ganz abgelaufen war, ließ sich auch die Tür leicht öffnen. »Was ist denn nun schon wieder los? Wie siehst du denn aus?« fragte Barnett ungeduldig. Agee erzählte es ihm. »Also so macht er das«, sagte Barnett mit leiser Stimme. »Ich bin froh, daß wir es jetzt wissen.« »Was?« fragte Agee und hatte das Gefühl, daß Barnett diese Angelegenheit zu sehr auf die leichte Schulter nahm. »Wie er die Beschleunigung beim Start aushält. Das hat mich bis jetzt etwas beunruhigt. Er hatte nichts an Bord, was einem Bett oder einer Liege ähnelte. Keinen Sessel, nichts, wo er sich festschnallen konnte. Er schwebt also in dem Ölbad, das automatisch einläuft, sobald die Startkontrollen betätigt werden.« »Aber warum konnte ich vorhin die Tür nicht öffnen?« fragte Agee. »Dummkopf, ist das nicht klar?« fragte Barnett. »Er will natürlich nicht, daß das Öl durchs ganze Schiff läuft. Und er will natürlich auch nicht, daß das unabsichtlich passiert.« »Also können wir nicht starten«, sagte Agee bokkig.
»Und warum nicht?« »Weil ich ja schließlich nicht gut unter Öl atmen kann. Es läuft automatisch ein, sobald ich die Aggregate anlasse, und ich sehe keinen Weg, das zu verhindern.« »Benutze dein bißchen Verstand«, sagte Barnett. »Wie bist du das Öl denn jetzt losgeworden? Du mußt einfach das Ablaufventil öffnen. Es wird so schnell ablaufen, wie es einläuft.« »Ja. Daran habe ich nicht gedacht«, stimmte ihm Agee etwas verlegen zu. »Also los dann!« »Ich möchte mich erst noch umziehen.« »Nein, zum Teufel. Wir wollen endlich abhauen.« »Aber, Kapitän –« »Flieg los!« befahl Barnett mit zorniger Stimme. »Was wissen wir, was unser Freund da draußen noch vorhat.« Agee zuckte mit den Schultern, kehrte zu seinen Instrumenten zurück und schnallte sich fest. »Fertig?« »Ja. Los endlich!« Er öffnete das Ablaufventil, und das Öl floß ein und aus. Es stieg nicht höher als bis zu seinen Schuhen. Ohne weiteren Zwischenfall aktivierte er die anderen Instrumente. Er stellte die kleinste Beschleunigung ein und klopfte dreimal abergläubisch an die Wand. Dann drückte er auf den Starter. Mit tiefem Bedauern sah Kalen sein Schiff aufsteigen. Er hielt die Thetnitbombe immer noch in der Hand. Er hatte das Schiff schon erreicht gehabt, hatte so-
gar ein paar Sekunden darunter gestanden. Dann war er zurückgekrochen. Er war einfach nicht fähig gewesen, die Bombe zu zünden. Jahrtausendealte Lehren konnten nicht in ein paar Stunden vergessen werden. Erziehung – und etwas anderes. Nur selten mordet jemand zum Vergnügen. Hier und da gibt es allerdings manchmal einen Grund zum Töten, der jeden Philosophen befriedigen würde. Aber ist erst einmal ein Grund akzeptiert, gibt es immer mehr Gründe und immer mehr und immer mehr. Und Mord, einmal anerkannt und in gewissen Fällen sanktioniert, ist nicht mehr aufzuhalten. Die Entwicklung führt unweigerlich zum Krieg und weiter zur Ausrottung ganzer Völker und Rassen. Dumpf hatte Kalen gefühlt, daß dieser Mord irgendwie das Schicksal seiner Rasse beeinflußt hätte. Und sein Verzicht auf diesen Mord war im gewissen Sinne eine Garantie, die das Weiterleben seiner Rasse sicherte. Trotzdem – die Lage, in der er sich befand, wurde dadurch nicht besser. Sein Blick folgte dem Schiff, bis es nur noch ein winziger Punkt auf der unendlichen Himmelsglocke war. Die Fremden flogen mit einer lächerlich geringen Geschwindigkeit. Er konnte sich dafür keinen anderen Grund denken als den, daß sie ihn möglicherweise damit ärgern wollten. Zweifellos waren sie sadistisch genug, gerade das zu tun. Kalen kehrte zu dem fremden Schiff zurück. Sein Lebenswille war ungebrochen, und er hatte nicht die Absicht, aufzugeben. Jetzt erst recht würde er sich ans Leben klammern, solange er nur konnte. Und
vielleicht würde es ein unbegreiflicher Zufall wollen, daß ein anderes Schiff auf diesem Planeten landete. Während er sich im Schiff umsah, spielte er mit dem Gedanken, aus dem Reinigungsmittel vielleicht einen Luftersatz zusammenmixen zu können. Das könnte ihm ein paar zusätzliche Tage geben. Und dann – wenn er nur die Kerlanuß öffnen könnte. Er glaubte, draußen ein Geräusch zu hören. Er rannte zur Schleuse. Der Himmel war leer. Sein Schiff war und blieb verschwunden. Er war allein. Er kehrte in das Schiff zurück und machte sich an die schwere Aufgabe, am Leben zu bleiben. Als Agee wieder zu sich kam, sah er, daß er die Beschleunigung noch weiter verringert haben mußte – offenbar bevor er bewußtlos geworden war. Nur das war es wohl, was ihm das Leben gerettet hatte. Und obwohl der Zeiger des Beschleunigungsmessers dicht über Null stand, war der Andruck kaum auszuhalten. Agee öffnete die Tür und kroch hinaus. Barnetts und Viktors Haltegurte waren beim Start gerissen. Viktor kam gerade wieder zum Bewußtsein. Barnett kroch aus einem Stapel zerbrochener Kisten. »Glaubst du, du fliegst einen Zirkus?« beschwerte er sich. »Hab ich dir nicht gesagt, mit kleiner Beschleunigung zu starten?« »Hab ich ja getan. Du kannst auf dem Lochstreifen für den Autopiloten selbst nachsehen«, sagte Agee. Barnett ging schwerfällig in den Kontrollraum. Sehr schnell kam er zurück. »Das ist unangenehm. Unser Freund startet mit der dreifachen Beschleunigung, die wir gewöhnt sind.« »So sieht es aus.«
»Daran habe ich nicht gedacht«, sagte Barnett nachdenklich. »Er muß von einem ziemlich großen Planeten kommen, wo man mit unheimlicher Geschwindigkeit beschleunigen muß, wenn man die Schwerkraft überwinden will.« Das Schiff war jetzt völlig aufgewacht. Irgendwo schnatterten verborgene Relais, und die Klimaanlage und die anderen Servos kamen automatisch zu vollem Leben. »O mein Gott«, stöhnte Viktor und rieb sich seinen dicken Schädel. »Es wird warm, findet ihr nicht auch?« »Ja, warm, und der Druck scheint auch zuzunehmen«, antwortete ihm Agee. Er ging in den Kontrollraum zurück. Barnett und Viktor standen besorgt in der Tür und warteten. »Kann es nicht abschalten«, sagte Agee und wischte sich dicke Schweißtropfen von der Stirn. »Temperatur und atmosphärischer Druck werden anscheinend automatisch geregelt. Sie erreichen offenbar den Normalzustand, sobald das Schiff fliegt.« »Aber irgend etwas muß sich doch machen lassen. Wir werden hier ja sonst gesotten und gebraten«, sagte Barnett kleinlaut. »Ich sehe keine Möglichkeit.« »Ist denn kein Temperaturregler zu finden?« »Klar – hier«, sagte Agee und wies auf einen Zeiger. »Er ist aber schon auf die niedrigste Temperatur eingestellt.« »Und was ist wohl für unseren Freund die normale Temperatur?« »Ich möchte es lieber nicht wissen«, sagte Agee. »Das Schiff besteht aus einer Metallegierung mit ex-
trem hohem Schmelzpunkt. Soviel glaube ich jedenfalls herausgebracht zu haben. Außerdem ist es so gebaut, daß es bestimmt den zehnfachen Druck der irdischen Atmosphäre aushalten kann. Vielleicht kannst du dir die Antwort auf deine Frage selbst zusammenreimen.« »Es muß doch irgendeinen Weg geben, das Ding abzustellen«, sagte Barnett. Er zog Jacke und Pullover aus. Die Hitze stieg jetzt unheimlich schnell an. Der Boden wurde fast zu heiß, um noch darauf stehen zu können. »Um Himmels willen, stell es ab!« brüllte Viktor. »Immer mit der Ruhe«, sagte Agee. »Schließlich habe ja nicht ich diesen Kasten gebaut. Wie soll ich denn wissen –« »Stell das Ding ab!« Erregt schüttelte Viktor Agee hin und her wie einen alten Lappen. »Laß mich los, verdammt!« Agee hatte seine Pistole schon halb gezogen. Dann – einer plötzlichen Eingebung folgend – stellte er den Antrieb ab. Das Schnattern in den Wänden hörte auf. Der Raum wurde allmählich merklich kühler. »Was ist jetzt los?« fragten Barnett und Viktor wie aus einem Munde. »Temperatur und Druck fallen, sobald der Antrieb abgestellt ist. Wir haben also nichts zu befürchten, solange wir die Aggregate nicht laufen lassen.« »Wie lange werden wir auf diese Weise brauchen, bis wir den nächsten Raumhafen erreichen können?« fragte Barnett. Agee überlegte einen Augenblick. »Ungefähr drei Jahre, denke ich. Wir sind ziemlich weit draußen.« »Können wir denn die entsprechenden Servos nicht
einfach kurzschließen oder herausreißen?« »Da kommen wir nicht ran. Die befinden sich irgendwo im Bauch des Schiffes. Wir benötigen eine gut eingerichtete Werkstatt und die entsprechenden Mechaniker. Sogar dann würde es nicht leicht sein.« Barnett schwieg eine lange Zeit. Schließlich sagte er: »Also gut.« »Also gut – was?« »Wir sind ausgeschmiert. Wir müssen zurück und unser eigenes Schiff holen.« Agee seufzte erleichtert auf. »Glaubst du, der Fremde wird unser Schiff zurückgeben?« fragte Viktor. »Natürlich wird er«, sagte Barnett. »Wenn er nicht schon tot ist. Und wenn er noch am Leben ist, wird er heilfroh sein, wenn er sein Schiff wiederbekommt. Und dazu muß er unseres aufgeben.« »Das stimmt. Aber was passiert, wenn er sein eigenes Schiff wieder hat?« »Wir werden die Kontrollen ein bißchen sabotieren. Das wird ihn eine Weile aufhalten.« »Eine Weile schon«, bemerkte Agee. »Aber früher oder später wird er starten können und darauf brennen, es uns heimzuzahlen. Mit seinem Schiff wird es ihm ein leichtes sein, uns einzuholen.« »Dazu wird er keine Gelegenheit haben«, sagte Barnett und lächelte zynisch. »Wir müssen nur dafür sorgen, daß wir zuerst hochkommen. Sein Schiff ist zwar robust gebaut, aber ich glaube nicht, daß es drei Atombomben aushalten kann.« »Daran habe ich allerdings nicht gedacht«, sagte Agee etwas gedrückt.
»Der einzige logische Weg, der uns offensteht«, sagte Barnett selbstgefällig. »Das Metall des Rumpfes wird trotzdem noch einiges wert sein. Aber jetzt bring uns erst einmal zurück, ohne daß wir dabei gebraten werden.« Agee schaltete die Aggregate ein. Er drehte das Schiff in einer engen Kurve und mit der größten Beschleunigung, die sie aushalten konnten. Die Servos klickten, und die Temperatur stieg wieder rapide an. Nachdem er die Kurve ausgefahren hatte, richtete er die Nase des Schiffes auf den Planeten, den sie soeben erst verlassen hatten, und stellte den Antrieb wieder ab. Sie legten die verhältnismäßig kurze Strecke im freien Fall zurück. Aber als sie den Planeten erreicht hatten, mußte Agee wohl oder übel den Antrieb wieder anstellen, um die Landung vornehmen zu können. Sie schafften es gerade noch, das Schiff mit einigermaßen heiler Haut zu verlassen. Zeit, die Instrumente zu sabotieren, hatten sie nicht mehr. Sie zogen sich in den Wald zurück, kühlten die Brandblasen auf ihrer Haut und warteten. »Vielleicht ist er tot«, sagte Agee hoffnungsvoll. Sie sahen, wie eine kleine Gestalt die »Endeavor I« verließ. Der Fremde bewegte sich nur langsam vorwärts, aber er bewegte sich. Sie blickten ihm nach. »Angenommen«, sagte Viktor, »er hat eine Waffe. Angenommen, er geht jetzt auf uns los?« »Angenommen, du hältst dein Maul«, sagte Barnett.
Der Fremde ging schnurstracks zu seinem Schiff. Er stieg ein, und gleich darauf schloß sich die Schleuse. »Gut«, sagte Barnett. »Beeilen wir uns. Agee, du gehst sofort an die Instrumente. Viktor und ich, wir kümmern uns um die Motoren.« Sie rannten auf das Schiff zu und standen in wenigen Sekunden vor der offenen Schleuse der »Endeavor I«. Selbst wenn er in Eile gewesen wäre, hätte Kalen doch nicht die nötige Kraft gehabt, das Schiff sofort zu starten. Aber er wußte, daß er – einmal in seinem Schiff – in Sicherheit war. Kein Fremder würde durch die verschlossenen Türen eindringen können. Er fand einen Reserveluftbehälter und öffnete ihn. Sein Schiff füllte sich mit lebenspendender Luft. Lange Minuten stand Kalen nur da und atmete tief und kräftig. Dann holte er sich drei der dicksten Kerlanüsse, die er finden konnte, und ließ sie knacken. Nachdem er gegessen hatte, fühlte er sich schon bedeutend wohler. Das Trennmesser löste die äußerste Schicht seiner Haut. Die zweite Schicht war ebenfalls tot, und auch diese ließ er zerschneiden. Als er die Steuerkanzel betrat, fühlte er sich wie neugeboren. Alles ließ darauf schließen, daß die Fremden vorübergehend den Verstand verloren haben mußten. Er fand keine andere Erklärung für ihr seltsames Verhalten, erst sein Schiff zu nehmen und es dann wieder zurückzubringen. Deshalb würde er ihre Behörden aufsuchen und
die Lage des Planeten melden. Sie konnten abgeholt und geheilt werden – ein für allemal. Kalen war glücklich. Er hatte nicht gegen die Ethik seines Volkes verstoßen, und das war das Wichtigste. Er hätte so leicht die Thetnitbombe in ihrem Schiff zurücklassen können – mit einem Zeitzünder versehen. Er hätte ihre Maschinen ruinieren können. Und er hatte die Versuchung dazu verspürt. Aber er hatte ihr nicht nachgegeben. Er hatte nichts dergleichen getan. Er hatte nichts anderes getan, als ein paar Hilfen zu konstruieren, die sein Leben retten sollten. Kalen ließ den Antrieb an und fand, daß alles in perfekter Ordnung war. Sein Ölbad lief ein, als er dem Autopiloten den Startbefehl gab. Viktor erreichte die Schleuse als erster und wollte sich hineinstürzen. Im selben Moment wurde er zurückgeschleudert. »Was ist los?« rief Barnett. »Etwas gab mir einen Schlag«, sagte Viktor. Vorsichtig sahen sie hinein. Es war eine sehr niedliche Falle. Von den Akkumulatoren aus war ein Gewirr von Drähten über die Schleusenöffnung gespannt. Hätte Viktor zufällig die Schiffswand berührt, hätte er einen tödlichen Schlag bekommen. Sie schlossen die Anlage kurz und betraten das Schiff. Es sah furchtbar aus. Jedes bewegliche Teil war beschädigt und umhergestreut. In einer Ecke lag eine verbogene Eisenstange. Der hochkonzentrierte Inhalt der Säureflaschen war vergossen worden und hatte
an mehreren Stellen Löcher in den Boden gefressen. Die Hülle der »Endeavor I« war hoffnungslos ruiniert. »Hätte nie gedacht, daß er uns eines auswischen würde«, sagte Agee. Sie sahen sich weiter um. Am Heck fanden sie eine zweite Falle. Die Tür zum Frachtraum war raffiniert mit einem kleinen Motor verbunden. Wenn jemand den Motor einschaltete, würde die Tür gegen die Wand geschleudert werden. Ein Mann, der zufällig hinter der Tür stand, würde einfach zerquetscht werden. Den Zweck ein paar anderer Vorrichtungen konnten sie nicht erraten. »Können wir es reparieren?« Agee zuckte mit den Schultern. »Fast unser ganzes Werkzeug ist noch in der ›Endeavor II‹. Ich nehme schon an, daß wir das Schiff in ein paar Monaten geflickt haben können. Aber garantieren kann ich nicht.« Sie gingen hinaus. Das fremde Schiff erhob sich gerade vom Boden. »Was für ein Scheusal«, sagte Barnett und blickte auf den säurezerfressenen Rumpf seines Schiffes. »Man kann doch vorher nie wissen, was so ein fremdes Ungeheuer tut«, sagte Agee. Die »Endeavor I« war nun genauso gefährlich und wertlos wie die »Endeavor II«. Und die »Endeavor II« war weg.
Originaltitel: HANDS OFF. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 4/4
Mark Clifton und Alex Apostolides WIR SIND KEINE WILDEN Die Frauen und Kinder arbeiteten in den Flechtenfeldern. Sie pflückten die fettesten und reifsten Blätter nach Nahrungsgehalt und Grad der Feuchtigkeit und trugen so bei zu ihrem Teil der Symbiose. Die Männer arbeiteten an den Kanälen und in offenen Schächten. Ihre breiten mutierten Hände gruben sich in den steinharten Lehm, schufen einen neuen Kanal, der dann mit Sand gefüllt und ringsum mit Lehm versiegelt werden würde, damit das kostbare Wasser ohne zu verdunsten durch den Sand sickern und die Flechtenpflanzen eines jeden erreichen könnte – von den Polen bis zu dem Äquator des Mars – und keiner zu hungern und dürsten brauchte. Das Wasser muß fließen. Noch nie hat das in fernste Zeiten zurückreichende Gedächtnis der Rasse von einem Fall berichtet, wo einer mehr genommen hatte als seinen Anteil, denn das würde genauso gewesen sein, als hätten die Finger der einen Hand die der anderen um ihr Blut bestohlen. Die Marsrasse kannte viele Wörter für Zufriedenheit und Glück, oder für die Verwandtschaft eines jeden mit dem anderen. Es gab Wörter, um die Ekstase zu beschreiben, die man verspürte, wenn man die ewigen Sterne beobachtete, die bei Tag und Nacht durch die dünne schwärzliche Atmosphäre funkelten. Es gab Wörter, die von den Freuden berichteten, wenn man an jenen geschützten Stellen, zu denen der wirbelnde Sand nicht hindrang, geschlitzte Nasenlö-
cher öffnen und tief einatmen konnte; wenn man die Falten einer gummiartigen Haut weit ausbreitete, um sich an den schwachen Strahlen einer fernen Sonne zu wärmen. Aber es gab kein Wort für mein als Gegensatz zu dein, und es gab auch keine Wörter für nie gestellte Fragen: Warum bin ich hier? Was ist der Sinn meines Daseins? Jeder hatte seine bestimmte Aufgabe. Jeder half bei der Reparatur oder bei der Vergrößerung der Sickerkanäle, auf daß den noch ungeborenen Generationen dieselben Freuden und Ekstasen widerfahren könnten wie ihm. Die Arbeit in sich war Teil dieser allumfassenden Freude, und jeder widersetzte sich ihr nicht mehr, als sich gesunde Lungen klarer kühler Luft widersetzen. Seit urdenklichen Zeiten existierte dieses ineinander verwobene Gefüge ihrer symbiotischen Abhängigkeit voneinander. So lange schon, daß selbst der Begriff für einen Anfang aus ihrem Bewußtsein entschwunden war, waren sie zivilisiert. Auf ihre Weise zivilisiert. Captain Griswold starrte mit unbeweglichem Gesicht auf den Sichtschirm und das rote Land, das unter dem Schiff vorbeihuschte. Unwillkürlich richtete er sich zu seiner ganzen Größe auf und genoß das männliche Gefühl, wie die Uniform sich über seiner sich ausdehnenden Brust spannte. Entschlossen verdrängte er dabei aus seinen Gedanken das Bild unzähliger Generationen von Schulkindern, die gehorsam ihre Lektion auswendig lernten: Am 14. Juni des Jahres 2018 ergriff Captain Thomas
Griswold Besitz vom Mars. Nein, er durfte nicht zulassen, daß persönliche Eitelkeit seine eigenen Erinnerungen an diesen Augenblick beschmutzte. Es gehörte momentan nicht hierher, daß später sein Name zusammen mit den größten Namen der Geschichte aufgezählt werden würde. Trotzdem – das Historische des Augenblicks ließ sich nicht leugnen. Leutnant Atkinsons störte ihn in seinen Betrachtungen und rettete ihn vor der Spekulation, ob er seine Mütze nicht doch noch etwas verwegener aufsetzen sollte. Er müßte einen neuen Brauch ins Leben rufen – etwas, das alle auszeichnete, die mit ihm auf dem Mars gewesen waren ... »Ein neuer Kanal, Sir.« Unter ihnen erstreckte sich eine graugrüne Linie bis zum Horizont. Sie stand im scharfen Gegensatz zu dem roten Eisenoxyd der übrigen Landschaft. Ein ganzer Planet aus Eisenoxyd – Eisen – Stahl für die Hochöfen der Westlichen Allianz. Der Captain fühlte einen schwachen Ärger in sich hochsteigen über diesen Kanal, der das kostbare Eisenerz verdrängte. Offensichtlich dienten diese Kanäle überhaupt keinem Zweck. Das Schiff hatte den Planeten i n Äquatorhöhe umkreist und dann wieder von Pol zu Pol. Überall Kanäle, aber das war auch alles. Genug Zeit und Treibstoff waren jetzt vergeudet worden. Es war an der Zeit zu landen. Und augenscheinlich gab es auch kein intelligentes Leben. Aber er durfte nicht zulassen, daß ungebührliche Hast dem Historischen des Augenblicks Abbruch tat. In dem Buch, das einmal geschrieben werden würde, durfte kein Fragezeichen stehen, durfte sich keine Stimme der Kritik erheben.
»Meine Empfehlung an Mr. Berkeley«, sagte er zu Leutnant Atkinson, »und würde er bitte so freundlich sein und in den Kontrollraum kommen.« Er zögerte und fügte dann noch hinzu: »Sobald es ihm möglich ist.« Mister Berkeley, wahrhaftig! Wie nannte man doch gleich sein Fachgebiet? Ethnologie. Ein Bursche, der ein Experte für Rassen und Zivilisationen sein sollte, für die Sitten und Gebräuche intelligenter Wesen. Nun, der Mann war nur unnötiger Ballast. Hier gab es keine Rassen, mit denen man Verbindung aufnehmen konnte. Und das war gut so. Diese Wissenschaftler mit ihren Ideen – zeige ihnen einen Zahn, und sie träumen sich ein ganzes Ungeheuer zusammen. Zeige ihnen eine mit dem Fingernagel eingekratzte Linie, und sie schließen auf eine ganze Zivilisation. Unsinn! »Sie wollten mich sprechen, Captain?« Die Stimme war jung, ruhig, beherrscht. Ohne ungebührliche Hast drehte sich Captain Griswold um und blickte Berkeley entgegen. Nicht nur ein Theoretiker, sondern auch noch ein junger Theoretiker. Diese neunmalklugen jungen Männer mit ihren durchdringenden blauen Augen. Eine Menge Auswendiggelerntes und keine Erfahrung, eine Menge Weisheit und kein gesunder Menschenverstand. Sorgfältig kontrollierte er den Klang seiner Stimme, um den Zivilisten nichts von seinem mangelnden Respekt merken zu lassen. »Nun, Mr. Berkeley, wir haben den Planeten völlig umflogen. Wir haben keinerlei Anzeichen einer Zivilisation entdecken können.« »Sie zählen die Kanäle nicht dazu, Captain?« fragte
Berkeley – mehr aus Neugierde, als um die Worte des Captains zu widerlegen. »Ich kann sie nicht dazu zählen«, sagte der Captain mit Endgültigkeit in der Stimme. »Wir haben weder Gebäude noch Ruinen entdecken können, noch sonst irgendwelche Anzeichen, die für die Existenz einer Zivilisation sprechen.« »Ich betrachte gerade Linien, die über den halben Planeten laufen, immerhin als Beweis für etwas, Sir.« Es war ein leidenschaftslos hingeworfener Satz. Argumente! Argumente! Kleine Leute, die sich aufblasen müssen – die Heiligkeit des Augenblicks zerstören. Aber ruhig jetzt! Es darf zu keiner Erinnerung an kleinliche Streitereien kommen. »Wo sind ihre Gebäude, Mr. Berkeley?« fragte er mit geduldiger Stimme. »Wo sind ihre Fabriken, ihre Autostraßen, ihre Transportwege? Wo sind ihre Flugzeuge. Selbst diese dünne Marsluft würde ein schnelles Düsenflugzeug tragen können. Ich verlange nicht, daß sie Raumschiffe vorweisen müssen, um ihnen Intelligenz zuzugestehen, Mr. Berkeley. Ich verlange nicht, daß sie uns Menschen ebenbürtig sind. Auch ich besitze gewisse wissenschaftliche Kenntnisse. Und diese Kenntnisse sagen mir, daß ich unmöglich die Existenz von etwas anerkennen kann, für das keinerlei Anzeichen vorhanden sind.« »Die Kanäle«, sagte Berkeley. Auch er sprach ruhig und beherrscht, denn auch er war sich des Historischen des Augenblicks bewußt. Aber seine Sorge galt nicht so sehr seinem eigenen Platz in den Geschichtsbüchern. Er wußte, was deren Verfasser der Zweckmäßigkeit und Vereinfachung zuliebe dem Individuum antaten. Er sorgte sich vielmehr darum, daß die-
ser Augenblick niemals zu einer tiefen Scham für die Menschheit werden sollte. »Vielleicht haben sie keine Gebäude, keinen Rauch aus den Schloten der Fabriken, weil sie keinen Gebrauch dafür haben. Vielleicht haben sie keine Straßen, weil sie nirgends hingehen wollen. Vielleicht ist ihr Begriff vom Leben ganz anders als der unsere.« Griswold hob seine Schultern und ließ sie wieder sinken. »Wir sprechen zwei völlig verschiedene Sprachen, Mr. Berkeley.« »Ich fürchte, damit haben sie recht, Captain«, seufzte der Wissenschaftler. »Und es könnte sehr tragisch werden, daß wir das tun. Vergessen Sie nicht, auch die Europäer sprachen eine andere Sprache als die amerikanischen Indianer, die Mayas, die Polynesier, die Neger, die Indonesier –« Er brach ab, als ob die Aufzählung zu lange dauern würde. »Ich bitte nur um eines, daß wir uns durch überstürzte Hast nicht zu denselben Fehlern verleiten lassen.« »Wir können nicht ewig den Planeten umfliegen«, sagte Griswold verärgert. »Wir haben ihn nach allen Richtungen hin überquert. Die anderen Wissenschaftler drängen zur Landung, damit sie mit ihrer Arbeit beginnen können. Wir haben nach Zivilisation gesucht und sie nicht gefunden.« »Ich ziehe alle Einwände gegen eine Landung zurück, Captain. Sie haben völlig recht. Wir müssen landen.« Die Bordsprechanlage fing an zu quäken. »Beobachtung an Kontrolle. Beobachtung an Kontrolle. Verschiedene Kanäle vor uns, die in einem
Knotenpunkt zusammenlaufen.« »Bereiten Sie alles für eine Landung vor, Leutnant Atkinson«, befahl Griswold. »Auf diesem Knotenpunkt.« Er wandte sich um und beobachtete von neuem den Schirm. »Dort, Mr. Berkeley, genau vor uns. Ein Dutzend – mindestens ein Dutzend Kanäle, die alle in einem Punkt zusammenlaufen. Wenn es überhaupt eine Zivilisation gibt, dann wäre sie zweifellos an einer solchen Stelle zu finden.« Langsam und sorgfältig konstruierte er an den Seiten des Geschichtsbuches. »Ich möchte nicht, daß jemals der Eindruck erweckt wird, der Kommandeur des Schiffes oder einer seiner Männer haben es je daran mangeln lassen, in jeder Weise mit den wissenschaftlichen Experten an Bord des Schiffes zusammenzuarbeiten.« »Ich weiß das, Captain«, antwortete Berkeley. »Und ich gebe Ihnen recht. Der Knotenpunkt also.« Zischen von Servomaschinen, dann der Strahl einer unerträglich heißen blauen Flamme, und das Schiff stand unbeweglich über dem Knotenpunkt, an dem die einzelnen Kanäle zusammenliefen. Langsam und schwerfällig senkte es sich zu Boden – hochgehalten von den Flammensäulen, die den Sand in den Kanälen zu glasigem Fluß zerschmolzen und ihre Wände unter dem Dampfdruck kochenden Wassers explodieren ließen. In den warmen und geschützten Höhlen direkt neben den Kanälen schlossen sich geschlitzte Nasenlöcher, zogen sich Pupillen zusammen, öffneten sich faltige Hautlappen, wickelten sich fester um den Körper und öffneten sich dann zuk-
kend von neuem in der Agonie des Todes. Eine leichte Erschütterung lief durch den Boden, als das Schiff endlich inmitten des aufschießenden Flammenpilzes zur Ruhe kam. »Eine gute Landung, Leutnant«, gratulierte Captain Griswold. »Wirklich eine gute Landung.« Er blickte auf den Schirm. Allmählich verzog sich der Staub und Dampf, und das Bild der Landschaft erschien wieder. »Ausschiffung in sechs Stunden, Leutnant. Bis dahin wird die Hitze genügend nachgelassen haben. Die Offiziere, die Ziv – äh, die Wissenschaftler, eine Gruppe unserer Männer. Ich werde sie anführen. Sie, Leutnant, werden die Flagge tragen und die anderen für die Zeremonie notwendigen Dinge.« Auch Berkeley beobachtete den Schirm. Er fragte sich, wie sehr die Hitze wohl den Kanälen geschadet hatte. Er fragte sich, warum man es für nötig gehalten hatte, ausgerechnet mitten auf dem Knotenpunkt zu landen. Warum mußte der Mensch rein instinktiv immer den größtmöglichen Schaden anrichten? Er zuckte die Achseln. Jede Stelle konnte die falsche gewesen sein. Weiter entlang den Kanälen, dort, wohin die Hitze nicht gereicht hatte, begann die Marsrasse, aus ihren schützenden Höhlen herauszukommen. Sie hatten den Meteor fallen gesehen, und es war Teil ihrer Erfahrung, bei einer solchen Gefahr ihre Höhlen aufzusuchen. Flammende Meteore hatte es auch früher schon gegeben, aber noch niemals war einer direkt auf eine Kreuzung gefallen. Ihre Nerven spürten den zer-
schmolzenen Sand, die geborstenen Lehmwände, das Wasser, das dampfend durch die zerstörten Wände verrann. Der Drang kam über sie – über alle in diesem Gebiet –, diesen Meteor zu entfernen, die Kanäle auszubessern, sobald die Hitze des Bodens nachgelassen hatte. Sie begannen sich zu versammeln, den Meteor zu umkreisen. Der innere Zwang, ihn zu erreichen, bevor zuviel Wasser verloren ging, trieb sie auf den heißen Grund. Die ungewohnte Hitze ließ sie zögern. Unentschlossen wanderten sie in immer größerer Zahl um den Meteor herum. Weil Captain Griswold ihm nicht ausdrücklich gesagt hatte, den Kontrollraum während des Landemanövers zu verlassen, stand Berkeley immer noch da und beobachtete den Schirm. Als er die ersten der Marsrasse aus ihren Höhlen auftauchen sah, rief er aufgeregt aus: »Da sind sie, da sind sie, Captain!« Griswold kam und stellte sich neben ihn. Seine Augen wurden groß. »Entsetzlich«, murmelte er voller Abscheu. Einen Augenblick war seine Kehle wie zugeschnürt, und er brachte nichts weiter hervor. Aber die Geschichte verlangte ihr Recht. »Ich nehme an, mit der Zeit werden wir uns an ihr Aussehen gewöhnen können«, räumte er ein. »Sie sind die Erbauer, Captain. Wundervoll!« frohlockte Berkeley. »Diese schaufelförmigen Vorderglieder – sie sind die Erbauer.« »Vielleicht«, gab ihm Griswold recht. »Aber in der
Art eines Maulwurfs oder eines Erdhörnchens. Trotzdem, wenn sie intelligent genug sind, um für Arbeiten in Bergwerken abgerichtet zu werden – aber was sage ich, fraglos können Sie diese Wesen nicht als intelligent bezeichnen, Mr. Berkeley?« »Wie können wir das wissen. Captain?« Aber der Captain hielt vergebens Ausschau nach Gebäuden, Fabrikrauch und Autostraßen. »Leutnant Atkinson!« rief er dann. »Ja, Sir.« »Lassen Sie sofort einen Befehl im Schiff herumgehen. Die Marsdinger dürfen nicht belästigt werden.« Er warf Berkeley bei diesen Worten einen schnellen Blick zu. Dann fuhr er fort: »Verstärken Sie das Landekommando und sorgen Sie dafür, daß die Leute bewaffnet sind.« Dann wieder zu Berkeley: »Ein guter Führer sorgt für alle Zufälligkeiten vor. Aber es wird zu keinem wahllosen Morden kommen, dessen dürfen Sie versichert sein. Auch ich bin bestrebt, daß der Mensch –« »Danke, Captain«, antwortete Berkeley. »Und das Aufpflanzen der Flagge, die Besitzergreifung?« »Aber, Mr. Berkeley, was sollen wir tun, jetzt, wo wir ein paar Lebewesen gesehen haben? Wieder gehen? Und einen ganzen Planeten voll Eisenerz im Stich lassen?« Er erwärmte sich an seinem Thema. Sein Kopf richtete sich hoch auf, seine Brust wölbte sich vor. »Nehmen wir an, diese Dinger sind wirklich intelligent, haben Gefühle irgendwelcher Art. Wir werden ihnen helfen. Wir werden ihnen Reservate zuteilen, wo sie in Frieden leben können. Offenbar hausen sie in Höhlen, denn ich kann keine Bauwerke sehen. Ihre ganze Nahrung muß aus diesen armseligen Pflanzen
bestehen. Was für ein erbärmliches Leben sie jetzt führen müssen. Wir werden das ändern. Wir werden sie mit Nahrung versorgen, damit sie ihre leeren Mägen füllen können – wenn sie überhaupt Mägen haben. Wir werden ihre widerliche Blöße mit Kleidern bedecken. Und wenn sie genügend Verstand haben, um lernen zu können, werden wir ihnen das befriedigende Gefühl einer Arbeit in unseren Bergwerken und Fabriken geben. Wir würden keine Menschen sein, wenn wir die Augen vor unserer Pflicht verschließen würden.« Der Widerschein edler Absichten lag auf seinem Gesicht. Er berauschte sich an seinen eigenen Worten. »Tun wir unsere Pflicht«, schloß er, »und das Schicksal wird alles übrige tun.« Das war sehr gut. Er hoffte, man würde diesen Satz zitieren. Er zeichnete ein treffendes Bild von seinem Charakter. Berkeley lächelte kläglich. Man konnte das Schicksal nicht aufhalten. Es ging nicht mehr um die Frage, ob man die Flagge hissen sollte oder nicht. Der Captain hatte recht. Es ging auch nicht um den Captain oder um die Pflicht. Der Ausgang des ganzen Unternehmens war schon längst entschieden worden – d a mals, als der erste Affenmensch in das Baumnest eines anderen kletterte, um dessen Weibchen zu stehlen. Der Mensch nimmt sich, was er haben will. Ob mit barbarischer Gewalt oder in williger Ausführung einer selbstauferlegten Pflicht. Der Mensch nimmt sich in jedem Fall, was er haben will. Berkeley wandte sich um und verließ den Kontrollraum.
Draußen um das Schiff knisterte der Boden, während er sich allmählich wieder abkühlte. Der Wind wisperte trocken über das rote Land, trieb den Sand vor sich her und ließ ihn in kleinen Wirbeln von einem Ort zum andern tanzen. Der Boden war jetzt nicht mehr so heiß, und die Marsrasse drängte immer näher. Etwas zwang sie, so schnell wie möglich an diesen Meteor heranzukommen, ihn zu entfernen, das Wasser wieder fließen zu lassen. »Beobachtung meldet Boden kühl genug für Landung.« »Landekommando fertigmachen!« befahl Captain Griswold ohne Zögern. Die Alarmklingeln schrillten durch das Schiff. Zusammen mit den anderen Wissenschaftlern zog auch Berkeley seinen Schutzanzug an, setzte den durchsichtigen Sauerstoffhelm auf. Zusammen mit den anderen stand er im Gang vor der Schleuse und wartete auf den Captain. Captain Griswold ließ nicht auf sich warten. Mit nur einem flüchtigen Seitenblick auf die Fotoausrüstung, die einer der Männer bei sich trug, trat er vor seinen Offizieren als erster zur Tür. Die luftdichten Schottentüren im Gange fielen zu und machten den Gang mit dem Landekommando zu einer einzigen großen Luftschleuse. Ein langer Seufzer, dann bewegten sich die großen Riegel der eigentlichen Schleusentür schwerfällig. Die Luft aus dem Gang strömte hinaus und vermischte sich mit der viel dünneren Luft der Marsatmosphäre. Mit ihr wurden Sporen, Viren und Mikroben herausgetragen. Die meisten würden in einer fremden Umwelt zugrunde gehen, aber einige würden überleben
– und gedeihen. Das rote Licht über der Schleusentür blinkte. Die Offiziere, die Wissenschaftler, die bewaffneten Soldaten – sie alle beobachteten gespannt das Lämpchen. Dann plötzlich verlosch es. Die Schleuse war offen. Die große Rampe senkte sich langsam auf den Marsboden hinab. In geordneter Reihe – mit dem Captain an der Spitze – schritt das Landekommando den Gang entlang, durch die Schleuse, die Rampe hinunter auf den roten Marsboden. Captain Griswold war der erste Mensch, der seinen Fuß auf den Mars setzte. Es war der 14. Juni 2018. Der Fotograph kam als zweiter. Die Marsrasse drängte näher zum Schiff. Aber der Boden war immer noch zu heiß für ihre ungeschützten Füße. Daß Männer herausgekommen waren, bedeutete für sie nicht mehr als nur einen anderen unbegreiflichen Aspekt dieses unglaublichen Meteors. Der Klang einer Trompete stach durch die dünne Luft. Er wurde von den Lautsprechern im Schiff aufgenommen und verstärkt und vibrierte in den Helmen der Männer. Sie bildeten einen Halbkreis am Fuß der Rampe. Captain Griswold, dessen Gesicht so steinern war wie die Marmorstatue, die später von ihm errichtet werden sollte, streckte seine Hand aus und nahm die Flagge entgegen, die Leutnant Atkinson ihm entgegenhielt. Er steckte sie in das vorbereitete Gestell, das einer der Männer auf dem Boden abgesetzt hatte. Dann zeigte er nach Norden, Süden, Osten und Westen. Er brachte seine Hände wieder zusammen und breitete dann die Arme aus in einer weiten, fließenden Bewegung, die den ganzen Planeten um-
schloß. Er streckte seine rechte Hand aus und empfing die Dokumentenrolle von Leutnant Atkinson. Mit einer entschlossenen – ein wenig theatralischen – Geste zog er sie auseinander. Er las mit einer festen Stimme – fest genug, um die Nachwelt für immer zu beeindrucken: »Kraft der mir von dem Obersten Rat der Westlichen Allianz, der einzig rechtmäßigen Vertretung der Erde und der Menschen, verliehenen Befugnisse, ergreife ich hiermit Besitz von diesem Planeten im Namen unseres Präsidenten, des Obersten Rats, der Westlichen Allianzen, der Erde und der Menschheit und im Namen Gottes.« Der Boden war jetzt kühl genug, daß sie sich näherwagen konnten. Der Schmerz war groß, aber er wurde verdrängt von der größeren Pein, die der Fall dieses Meteors ihnen angetan hatte. Die Marsrasse begann sich vorwärtszuschieben – unerbittlich, unaufhaltsam. Es war in der Ernüchterung nach der Besitzergreifung, während die Männer unschlüssig umherwanderten, daß Leutnant Atkinson bemerkte, wie die Marsrasse näher gekommen war und immer noch näher kam. »Die Ungeheuer!« rief er erschrocken aus. »Sie greifen an!« Berkeley schaute auf. An den kleinen Nebenerscheinungen ihres Benehmens erkannte er ihre wahre Absicht. »Nicht uns!« schrie er. »Das Schiff!« Vielleicht hatten seine Worte eine unglücklichere Wirkung, als es sein Schweigen gehabt hätte. Denn das Schiff war für Captain Griswold wichtiger als
seine eigene Person. »Halt!« schrie Griswold der näherrückenden Marsrasse entgegen. »Halt, oder ich lasse schießen!« Die Marsrasse beachtete ihn nicht. Langsam kamen sie näher. Jeder Schritt auf dem heißen Boden war eine Qual, aber das war zu ertragen. Die größere Qual, die sich nicht ertragen ließ, lebte in ihrem Innern. Es war der Zwang, gegen diesen Meteor zu drücken, ihn wegzuschieben, damit sie die Kreuzung wieder freigraben konnten. Wie ein Mann, der am Ersticken ist und verzweifelt nach Luft kämpft und deshalb für nichts anderes Gedanken hat, so fühlten auch sie in ihren Körpern die Verzweiflung des trocknenden Sandes. Sie kamen näher. »Zum letzten Male!« rief Griswold. »Halt!« Er machte eine Bewegung mit seinen Händen, als wolle er sie zurückschieben, als wolle er den Sinn seiner Worte durch Zeichen untermalen. Unwillkürlich suchten seine Augen die Berkeleys. Es war ein Blick flehender Hilflosigkeit. Berkeley sah diesen Blick und las die Angst, die in ihm stand, den gequälten Widerwillen des Mannes, durch seine Handlung den Zorn und die Verachtung der Nachwelt auf sich zu ziehen. Es war nur ein sehr kurzer Blickwechsel, und dann war er vorbei. Captain Griswold richtete sich auf. Seine Brust wölbte sich herausfordernd vor dem Ansturm der vorwärtsdrängenden Ungeheuer. Sie waren jetzt sehr nahe und kamen immer näher. Wie immer waren die Experten freigebig mit ihrem Rat, wenn er nicht gebraucht wurde. Aber wenn wirklich etwas auf dem Spiele stand, konnten sie nur
verlegen lächeln und hilflos mit den Schultern zukken. Er gab den Befehl, und aus seiner Stimme war jede Unentschlossenheit verschwunden. »Feuer!« Die Feier wurde in dem Großen Stadion abgehalten, dem größten und kostspieligsten Bauwerk, das der Mensch jemals errichtet hatte. Es war der geeignete Schauplatz für die großen Fußballspiele und wurde gelegentlich auch für Staatsakte hergenommen. Jetzt war das Stadion überfüllt, der Rasen in seiner Mitte zertreten von den Füßen der Tausende und aber Tausende, die glücklich genug gewesen waren, Einlaß zu finden. Von den dreihundert Meter hohen Tribünen und von der Mitte des Stadions stiegen die Hochrufe auf, brandeten gegen das Podium, das an seinem Nordende errichtet worden war. »Griswold! Griswold!« Noch war es nicht an der Zeit für die Geschichte, über die Berechtigung des Massakers auf dem Mars zu urteilen. Der Präsident hob eine Hand. Eine Batterie von Fernsehkameras folgte jeder seiner Bewegungen. »Unsere Hoffnungen, unsere Ängste, unsere Herzen und unsere Gebete begleiteten diese mit Ruhm bedeckt zurückgekehrten Pioniere auf jedem nachtschwarzen sternfunkelnden Kilometer ihrer langen Reise.« Er wandte sich an den Captain. »Von den Völkern der Erde, Admiral Griswold, dieser Orden. Ein neuer Orden für einen Lenker des Schicksals, Erbauer von
Imperien, Sohn der Menschen.« Seine Stimme schwankte und brach ab. Die Menge in der Mitte des Stadions drängte nach außen, schrie vor Schmerz und Entsetzen. In einem Augenblick, wo die Leute still sein und vor Ehrfurcht erschauern sollten, leerte sich plötzlich der Boden des Stadions. Aber das geschah nicht freiwillig. Die Menschen wurden zurück gepreßt von einem unsichtbaren Gewicht, das sich auf sie hinabsenkte und sie zur Seite drängte, so wie ein großes Gewicht seinen Weg durch Wasser bahnt. Jene, die nicht weiter flüchten konnten, wurden zerquetscht, wo sie standen. Und dann erschien das Schiff. Seine Umrisse waren nebelhaft verschwommen und schimmerten in unmöglichen Linien. Es erschien, und konnte eher an dem glänzenden Lichtschein erahnt werden, der es einhüllte, als an seiner festen Form – als befände es sich in Wirklichkeit in einer anderen Dimension, und dies wäre nur ein projiziertes Bild. Die Hand des Präsidenten streckte sich vor und ergriff Griswolds Schulter, um sich daran zu stützen, während er sich weit nach hinten beugte, um die riesige Höhe abzuschätzen. Schweigen senkte sich über die Menge – ein entsetztes Schweigen. Eine volle Minute verging so. Selbst auf dem Podium, wo alle Marspioniere standen und die Würdenträger der Erde, selbst hier duckten sich die Menschen vor diesem unbekannten, nicht zu fassenden Schrecken. Nur ein Mann lehnte sich vor und studierte mit wachen Blicken die schimmernden Linien des Schiffes. Ein Mann – Berkeley.
Mit dem scharfen Blick des Ethnologen, der gewöhnt ist, allein mit Hilfe einiger weniger geheimnisvoller Hinweise sich ein Bild von einer ganzen Zivilisation zu machen, erkannte er die fürchterliche Wahrheit. Am Ende dieser Minute schwebte plötzlich eine Gruppe von Gestalten nahe am Boden in der Luft. Berkeley musterte ihre Form, ihre Farbe, die Körperlichkeit der Humanoiden. Es gibt einige Gesten, die allen intelligenten Wesen gemeinsam sind – das Zögern, der Entschluß, die Tat. »Nein!« schrie er auf und machte einen Schritt vorwärts. »O nein! Wir sind zivilisiert! Wir sind keine Wilden! Wir sind intelligent!« Er wurde zurückgerissen, als er in seinem großen Entsetzen vom Podium springen wollte, um zu den Humanoiden zu gelangen. In ohnmächtiger Wut starrte er hinüber zu der neben dem Schiff schwebenden Gruppe. Eines der Wesen wedelte mit einem glänzenden Tentakel im Kreis herum, als zeige er auf das Stadion, das armselige kleine Raumschiff, das da ausgestellt war, und die Menschenmenge. Der Anführer schenkte ihm keine Beachtung. Er schwebte einen Meter weiter vor. Sein eiförmiger glatter Kopf war hochaufgerichtet in Stolz und Arroganz. Er zeigte mit dem Tentakel auf das südliche Ende des Stadions, und eine Flammensäule stieg auf – das Symbol der Besitzergreifung. Er wies mit einem Fühlarm gegen Norden, gegen Süden, gegen Osten und Westen. Dann bewegte er beide Glieder, als wolle er die ganze Welt in dieser einen Geste einschließen.
Er zog eine Rolle auseinander und begann laut zu lesen ...
Originaltitel: WE 'RE CIVILIZED. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 8/3
R. D. Nicholson FERN DER WÄRMENDEN SONNE Während der letzten fünfhundert Flugstunden konnten wir die Ringe schon mit bloßem Auge ausmachen. Als wir durch die Fensterluken des Schiffes den Saturn betrachteten, der strahlend vor dem schwarzen Samtvorhang des Raumes hing, wurde uns erst so recht bewußt, daß wir uns jetzt dem entferntesten Wohnort der Menschheit näherten – ihrer äußersten Kolonie am Rand der interstellaren Leere. Greenvilles Stimmung stieg zusehends, weil die lange und unbequeme Reise in der Enge unseres Schiffes nun bald vorüber sein würde. Noch bevor Titan als erkennbare Scheibe am Himmel stand, ruderte er gutgelaunt in der Kabine umher und sang vor sich hin. Dagmar dagegen war immer noch so mürrisch und unausstehlich, wie sie es während der ganzen Fahrt gewesen war. Nur ab und zu zeigte sie sich jetzt von der heiteren Seite. Natürlich sehnte sie sich danach, unser kleines enges Raumschiff verlassen zu können, mehr vielleicht, als Greenville und ich es taten. Sie hatte mir wegen der Enge und Unbequemlichkeit unserer Kabine schon mehr als genug bittere Vorwürfe gemacht, und auch die sanitären Einrichtungen in solch einem kleinen Fahrzeug sind notwendigerweise etwas primitiv, aber ich konnte das nicht ändern. Wir befanden uns schon innerhalb der Umlaufbahn des Titan, als Greenville mir sagte, daß wir bei der Landung vermutlich Schwierigkeiten haben würden.
»Das bedeutet, daß wir eine Bremsspirale durch die Atmosphäre ziehen müssen, Mr. Clemmenceton. Unsere Ausweichmanöver haben uns leider etwas zu viel Treibstoff gekostet. Es sieht so aus, als ob wir zum Schluß noch daran glauben müßten. Jedenfalls steht uns ein harter Aufschlag bevor.« »Nun ja«, sagte ich. »Tun Sie Ihr Bestes.« »Ich glaube schon, daß wir es schaffen, ohne uns dabei den Hals zu brechen. Aber wir müssen unbedingt unsere Raumanzüge anlegen und uns festschnallen.« »Aber Sie werden nicht steuern können, wenn Sie festgeschnallt sind«, gab ich zu bedenken. Er grinste mich aufmunternd an und sagte: »Ich schnalle Kopf und Rumpf fest und lasse Arme und Beine frei. Das genügt.« Es blieb uns nichts anderes übrig, als Greenvilles Vorschläge in die Tat umzusetzen. Dagmar jammerte und klagte natürlich, wie zu erwarten war, aber sie war zu besorgt, daß ihrem eigenen schönen Körper etwas passieren könnte, so daß sie alle Anordnungen genauestens befolgte. Es würde ein verdammtes Pech sein, überlegte ich, diese weite Strecke von der Erde glücklich zurückgelegt zu haben, nur um jetzt auf Titan abzustürzen. Aber wenn uns einer sicher herunterbekommen würde, dann war es Greenville. Er war ein ausgezeichneter Pilot. Ganz bestimmt hätten nur wenige so geschickt den beiden Kreuzern ausweichen können, die uns kurz hinter der Marsbahn entern wollten. Die folgenden zwei Wochen, in denen wir durch gelegentliche Beschleunigungen und Kursänderungen zu entkommen versuchten, hatten uns zwar den größten
Teil unseres Reservetreibstoffes gekostet, aber schließlich hatten wir glücklich den Asteroidengürtel erreicht, wo die Suchgeräte der Kreuzer nutzlos waren. Jetzt allerdings – ohne genügend Treibstoff für die Landung – wurde uns die Rechnung präsentiert. Wir streiften die äußeren Schichten von Titans Methanatmosphäre immer noch mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern in der Sekunde. Unsere kleine Jacht erhitzte sich wie ein Reaktor. Glücklicherweise betrug die Außentemperatur so um die einhundertfünfzig Minusgrade, und die Hitze wurde so schnell abgestrahlt, daß unsere Außenhaut über ein schmutziges Rot nicht hinauskam. Die Kühlpumpen, die die Innentemperatur regelten, waren allerdings bald überlastet, doch weil wir inzwischen unsere Raumanzüge anhatten, machten wir uns deswegen keine großen Sorgen. Greenville ging mit dem Treibstoff äußerst sparsam um und versuchte, uns hauptsächlich mit Hilfe des Luftwiderstandes abzubremsen. Er leistete hervorragende Arbeit, aber trotzdem reichten seine Bemühungen nicht aus, uns eine Bruchlandung zu ersparen. Die Treibstoffmesser standen auf »Leer«, als wir uns noch ungefähr zwei Kilometer über der Oberfläche befanden, doch Gott sei Dank erloschen die Bremsstrahlen erst, als wir bis auf dreihundert Meter herunter gegangen waren. Dann fielen wir ungebremst und schlugen mit einem harten Schlag auf. Mir war zuerst von der Erschütterung etwas wirr im Kopf, aber ich war unverletzt. Dagmar war offensichtlich ohnmächtig geworden. Sie hing bewegungslos in ihren Gurten. Ich sah mich nach Green-
ville um. Seine Sicherheitsgurte hatten sich losgerissen und waren gegen die Instrumententafel geflogen. Ich wartete noch einen Augenblick, bis ich mich wieder stark genug fühlte, dann drückte ich auf den Knopf unter meinem Sitz, der die Halterung ausklinkte, erhob mich noch etwas schwankend und stieg vorsichtig nach vorn zu Greenville ins Cockpit. Ich hatte gerade seinen Sitz erreicht, als ich Dagmar stöhnen hörte. Ich drehte mich um und sah, wie sie die Augen öffnete. Sie äußerte ein paar wenig gewählte Worte über Greenville und mich und tastete nach ihrem Ausklinker. Ich erkannte daran, daß ihr anscheinend nichts weiter passiert war, und wandte mich wieder Greenville zu. Sein Gesicht war so weiß wie ein Bettuch. Der Sprechfunk seines Anzugs war noch eingeschaltet, und ich versuchte, ihn aufzuwecken, indem ich seinen Namen rief. Vergebens. Dagmar ignorierte uns beide. Sie zitterte unbeherrscht. Dann ließ sie ihren behelmten Kopf in die Hände fallen und begann hemmungslos zu schluchzen. Greenvilles Lippen bewegten sich schwach. Ich rief von neuem seinen Namen, und diesmal blinzelte er und öffnete die Augen. »O Gott, mein Bein!« stöhnte er. Der Aufprall hatte ihn halb über die untere Reihe der Triebwerkregulierungshebel geworfen, und sein linkes Bein lag eingeklemmt zwischen einem der Hebel und der Unterkante des Instrumentenbrettes. Sein Raumanzug war heil, aber das Bein schien gebrochen zu sein. »Es blutet«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Das ganze Bein ist warm und klebrig.« »Dagmar, schau nach, ob die Schleuse noch dicht
ist!« rief ich. Sie rührte sich nicht. Sie weinte immer noch. Ich stieg vorsichtig über die eingebeulten, teilweise aus den Fugen geplatzten Bodenplatten zur Schleuse. Sie war zwar etwas eingedrückt, wie ich sah, aber nicht defekt. Sie würde wohl noch luftdicht sein. Ich ging zu Greenville zurück, legte ihn mir über die Schulter und schleppte ihn zur Schleuse. Es war eine anstrengende Arbeit für einen Mann, der die fünfzig schon überschritten hat – selbst bei Titans um ein Drittel geringerer Schwerkraft. Ich setzte Greenville in der Schleuse ab und öffnete das kleine Testventil an meinem Helm, um die Luft zu prüfen. Sie war kalt und roch etwas nach Methan. Irgendwo mußte also doch ein Leck sein, aber sicher nur ein kleines. Dann schloß ich die innere Schleusentür. »Wir haben genügend Zeit, um uns Ihr Bein anzusehen, bevor die Luft ungenießbar wird«, sagte ich zu Greenville. »Ich helfe Ihnen beim Ausziehen.« Er saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Metallfußboden der Schleuse und rollte sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite, so daß ich seinen Anzug herunterstreifen konnte. Dann riß ich seine Uniformhose herunter. Ich bekam einen bösen Schreck, als ich den Bruch sah. Es war ein schlimmer komplizierter Doppelbruch. Er hatte schon eine Menge Blut verloren, und wir durften keine Zeit verlieren, das Bein abzubinden. Er mußte das selber tun, denn die Panzerhandschuhe meines Anzuges waren viel zu plump für diese Arbeit. Er drehte einen Streifen aus seiner Hose zusammen und band ihn oberhalb der Wunde um sein Bein. Der rhythmisch hervorquellende Blutstrom ver-
siegte zu einem schwachen Rinnsal. Ein Hustenanfall erschütterte seinen Körper, und er fing an, sich die Augen zu reiben. »Gerade noch rechtzeitig fertig geworden«, keuchte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Methan ist schon schlimm genug, aber jetzt habe ich ein paar Atemzüge voll Ammoniak abbekommen. Brennt auch in der Wunde wie verrückt. Helfen Sie mir beim Anziehen.« Ein heftiges Hämmern gegen die geschlossene Innentür sagte uns, daß Dagmar inzwischen ihre Tränen getrocknet hatte und für eine neue Szene bereit war. Die Sprechanlage des Schiffes war kaputt, und ihr Helmradio hinter der Stahltür war nutzlos; aber als ich das Handrad aufgedreht hatte und die Tür aufdrückte, klang mir schon ihr wütendes Schimpfen in den Ohren. »– allein hier draußen. Das schwöre ich dir, Wolseley. Eines Tages werde ich es dir heimzahlen, daß du mich auf diese idiotische Fahrt mitgeschleppt hast.« »Ruhig, Kind!« sagte ich. »Wir befinden uns jetzt außer Gefahr, und ich mußte Greenville helfen.« Ich versuchte, so sanft wie möglich zu sprechen. »Komm, wir gehen jetzt hinaus und sehen einmal nach, ob wir die Siedlung entdecken können.« Ich hob Greenville wieder auf, während er ärgerlich protestierte, daß in der geringen Schwerkraft des Titan ein Bein zum Fortbewegen völlig genügte. »Es hat wohl sowieso keinen Zweck, wenn wir ins Freie gehen«, fügte er hinzu. »Der Horizont ist so nahe, daß wir höchstens zwei Kilometer weit sehen können. Es bleibt uns nichts übrig, als zu warten, bis
sie uns holen kommen. Wir haben nicht die geringste Chance, die Siedlung allein zu finden.« Inzwischen hatte Dagmar die äußere Schleusentür geöffnet. Alle Raumschiffschleusen gehen nach innen auf. Das hat zwei Gründe. Erstens preßt der innere Luftdruck die Tür fest gegen die Außenwand und schließt sie so fest ab. Zweitens – und das hier war solch ein Fall – wird dadurch in Notlagen ein Entkommen erleichtert. Titans Oberfläche besteht hauptsächlich aus Eis mit freiem und gebundenem Ammoniak. Das Ammoniak ist natürlich auch gefroren. Unser rotglühendes Schiff hatte sich, wie zu erwarten war, in dieses Eis gebohrt. Ich schätze, daß wir ungefähr drei Meter eingesunken waren, so daß ich mich, hätte ich die Schleuse nach außen geöffnet, unmöglich hätte hinaus drängen können. Ich schob Greenville zur Oberfläche hinauf, dann streckte ich Dagmar meine Hand entgegen. Sie nahm sie, rannte an mir vorbei und lächelte mir zu. Wir schauten uns eifrig nach irgendeinem Zeichen von Leben um. Ich zog mich auf den Rumpf des Schiffes hinauf, aber ich konnte immer noch nichts sehen außer zerklüfteten Eisgebirgen, deren Kristalle im kalten Licht der fernen Sonne glitzerten. Ich rutsche wieder herunter zu den anderen. Dagmar räusperte sich. Möglicherweise wollte sie gerade eine drastische Bemerkung über meine Wahl des Landeplatzes oder Greenvilles Begabung als Pilot machen, als unsere Helmradios zum Leben erwachten. »Hallo, Raumschiff! Hören Sie mich? Alles in Ordnung?«
Ich bedeutete den anderen, ruhig zu sein, und antwortete. »Raumschiff Ether Master hier. Wir hören Sie. Wir stecken im Eis. Das Schiff mußte notlanden, und der Pilot ist verletzt, aber wir sind alle am Leben. Können Sie uns holen?« »Ich höre Sie, Ether Master. Wir kommen mit einem Raupenschlepper. Wir werden in ungefähr einer Viertelstunde bei Ihnen sein.« »Gott sei Dank!« rief Dagmar. »Zivilisation.« Wir hörten eine verblüffte Stimme: »Eine Frau?« und dann setzten wir uns nieder, um auf unsere Retter zu warten. Der Lärm, den die alte Maschine machte, klang weithin durch die dünne klare Luft, und wir konnten sie kommen hören – sogar durch unsere Helme hindurch –, lange, bevor wir sie sahen. Endlich tauchte sie hinter einem der Eishügel auf. Sie bahnte sich ihren Weg durch die unwirtliche Gegend, in eine Wolke von Eiskristallen gehüllt. Der Schlepper war ein ausgesprochenes Monstrum, offensichtlich Eigenbau. Die einzelnen Kettenglieder waren fast einen Meter breit. Sein grob zusammengenieteter Rumpf konnte nicht unter fünfzig Erdtonnen wiegen, und er hinterließ, während er auf uns zurumpelte, ölige Treibstoff-Flecken auf seiner Spur. Ein paar Meter vor uns blieb er stehen, und über seinem senkrecht stehenden Auspuffrohr bildete sich eine dichte weiße Wolke. Mit einem gewaltigen Krachen klappte die Vorderluke nach vorn auf den Boden, und eine Gestalt in einem altmodischen Raumanzug kletterte heraus und kam auf uns zu.
»Willkommen an der Grenze, Freunde!« dröhnte eine tiefe Stimme in unseren Helmen. »Berichten Sie, was Sie zu dieser vergessenen Kolonie bringt. Wen haben Sie umgebracht? Oder sind Sie auf der Suche nach dem einfachen Leben?« »Ich bin Wolseley Clemmenceton, Präsident der Triplanetarischen Republik. In meiner Begleitung befinden sich Lady Dagmar Educe und Major Greenville. Der Major ist verletzt«, erwiderte ich förmlich. Eine zweite, etwas kleinere Gestalt hatte sich inzwischen zu der ersten gesellt. Dieser Mann rief jetzt: »Ah, welche Überraschung. Wir hoffen, daß Sie sich hier wohlfühlen werden. Vermutlich wird man Sie jetzt zum Präsidenten unseres Klubs politischer Emigranten wählen, falls nicht vorher ein Schiff der Raummarine aufkreuzt.« Diese spöttische Stimme kam mir bekannt vor. Ich spähte hinüber zu dem behelmten Gesicht und versuchte, mich zu erinnern, wo ich sie schon einmal gehört hatte. Dann fiel es mir ein. »Carter. Direktor der Venus?« »Es ehrt mich außerordentlich, daß sich mein – äh – Nachfolger meiner noch erinnert.« Dagmar stieß ein kurzes, böses Lachen aus. Carter sprach weiter. »Wenn Sie erst wie ich einige Jahre auf Titan verbracht haben, dann werden Sie merken, wie unwichtig all die Beweggründe von hier aus erscheinen, die das Leben auf den inneren Planeten bestimmen, Clemmenceton. Hier draußen besitzen wir nicht mehr riesige Imperien und Millionen von Untertanen, um die wir uns streiten können. Ich nehme an, wir werden ganz gut miteinander auskommen.«
»Wie nett«, sagte Dagmar. »Jetzt, wo wir alle unseren Spaß gehabt haben«, sagte ich, »würde ich es begrüßen, wenn mein Pilot so schnell wie möglich zu einem Arzt gebracht werden könnte.« »In Ordnung«, sagte Carters Gefährte. »Also alle Mann einsteigen!« Er trat näher und half mir, Greenville hinüberzutragen! Wir stiegen ein und setzten Greenville auf dem einzigen freien Platz ab, den es auf dem Boden des Schleppers gab – direkt hinter dem Fahrersitz. Carter ließ den Servomotor an, der die heruntergeklappte Lukentür wieder einholte. Mein Helfer stellte sich vor: »Mein Name ist Joe Gunn, Leute. Wenn Sie es für richtiger halten, Ihren Freund hier aus seinem Anzug herauszuholen, dann können wir die Kabine versiegeln und mit Luft füllen. Wir tun es zwar gewöhnlich nicht. SauerstoffMethan-Gemisch ist eine heikle Sache, und es ist praktischer, das ganze Fahrzeug unter Methan zu lassen und Anzüge zu tragen. Aber wenn es notwendig ist, bereitet es keine Schwierigkeiten. Wir blasen das Methan vorher mit Stickstoff hinaus, bevor wir Sauerstoff einlassen. Das macht eine explosive Mischung in der Kabine unmöglich.« Ich sah mir Greenville an. Sein Gesicht war bleich unter seiner Käseglocke, und obwohl er offenbar bei Bewußtsein war – er hatte sogar mitgeholfen, als wir ihn in den Schlepper getragen hatten –, hatte er doch seitdem kein Wort mehr gesprochen. »Ich glaube, wir sollten uns noch einmal die Wunde ansehen, alter Junge«, sagte ich. Greenville nickte, und ich sah, daß seine Lippen
fest aufeinander gepreßt waren. Ich wandte mich an Gunn: »Also dann versuchen Sie mal, ob Sie die Kiste wieder von der Stelle bekommen und blasen Sie das Methan hinaus. Haben Sie Notverbandszeug an Bord?« Die plumpe Maschine ruckte an und rumpelte langsam los. Carter steuerte. Ein schrilles Pfeifen sagte mir, daß Gunn schon begonnen hatte, die Luft auszutauschen. Er hatte allerdings nichts, was ich für Greenville gebrauchen konnte. »Unsere Notausrüstung besteht eigentlich nur aus ein paar Streifen Heftpflaster, um Lecks in den Anzügen abzudichten«, erklärte Gunn. Ich zog behutsam Greenvilles Bein aus seiner Hose und lockerte einen Augenblick die Kompresse. Dagmar schaute schnell weg. Gunn kauerte sich neben mir nieder. »Sie werden vielleicht das Bein verlieren, mein Junge«, sagte er leise. »Im Augenblick wäre ich nur froh darüber«, antwortete Greenville mit zusammengebissenen Zähnen. Ich war erleichtert, als ich ihn sprechen hörte. Ich merkte plötzlich, was für einen treuen Freund und was für eine große Stütze ich in ihm seit dem Aufstand gefunden hatte. Ich schaute mir seinen Schenkel näher an. Er war wirklich fürchterlich zugerichtet. Je schneller sich jemand darum kümmern würde, desto lieber war mir das. Gunn rumorte hinter mir herum, und ich blickte auf. »Jetzt, wo wir unterwegs sind«, sagte er, »dachte ich, es wäre ganz gut, wenn ich ein paar Rationen aufmachen würde. Sagen Sie mir, was Sie von unse-
rem Ersatz für Kaffee und Kuchen halten.« »Wie sah denn die Lage aus, als Sie abhauten, Clemmenceton?« fragte mich Carter über die Schulter. »Ein unvorstellbares Chaos. Haben Sie denn darüber noch nichts gehört?« »Seit den letzten sechs Erdmonaten sind keine Nachrichten mehr zu uns durchgekommen. Luna Station hörte Ende Februar auf zu senden.« »Das war gerade um die Zeit, als der Schlamassel erst richtig los ging. Auf Mars und Venus konnten wir uns bis zum bitteren Ende behaupten, aber Terra war ein wahrer Hexenkessel. Ungefähr Mitte des letzten Jahres löste die Emindale Gruppe die große Protein-Krise aus. Die Folge waren die JockatraAufstände. Das ermöglichte es wiederum Grellet, über seinen Strohmann McCardle die Weltpolizei unter seine Kontrolle zu bringen. Er baute sie in wenigen Wochen zu einem persönlichen Machtinstrument aus, immer unter dem Vorwand, der Drohung neuer Unruhen begegnen zu müssen, die allerdings von seinen Agenten erst geschürt worden waren. Um diese Zeit wurde es offensichtlich, daß hier mehr als die gewöhnlichen Machtkämpfe unter Interessengruppen ausgetragen wurden. Während allerdings meine Aufmerksamkeit von dieser Seite der Verschwörung in Anspruch genommen war, konnte die Gordinester-Familie die Raumschifflinien an sich reißen. Endlich erkannte ich, um was es ging. Ich verhängte das Kriegsrecht über den ganzen Planeten und versuchte, mich mit Gewalt durchzusetzen. Aber sie hatten alles zu gründlich vorbereitet. Es wurde unmöglich, Terra noch länger unter Kontrolle zu
halten und der Würgegriff, in dem sie die Transportunternehmen hielten, hinderte uns daran, Entsatz von Mars oder Venus heranzuholen. Unsere Verwaltung brach zusammen, und meine treuen Beamten zerstreuten sich in alle Winde.« »Sie haben gedacht, Sie wären ein Cäsar des 23. Jahrhunderts«, sagte Carter, »der eine von Bürgerkriegen zerrissene und von einem korrupten Beamtentum beherrschte Republik einigen und wieder gesunden lassen könnte. Wir auf der Venus aber besaßen eine wirtschaftlich unabhängige, hochmechanisierte und hochentwikkelte Kultur. Wir hatten alle Verbindungen zur dekadenten Erde zerschnitten, einer Erde, die unfähig war, in ihrem eigenen Haus für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und wir hätten unsere Errungenschaften wohl unbegrenzt aufrechterhalten können, wenn Sie uns nicht mit Gewalt zurück in die Republik geholt hätten. Ich sehe aber, daß Ihre Politik der starken Hand fehlgeschlagen ist. Augenscheinlich haben Sie das Sonnensystem nur geeint, damit es gemeinsam vor die Hunde gehen kann.« Ich schüttelte eigensinnig den Kopf. »Irgend jemand mußte den Versuch unternehmen, eine zentrale Führung wiederherzustellen, Carter. Wenn eine Regierung schwach ist, leidet das Volk, wie Anatole France einmal sagte. Ihre hochentwikkelte Kultur auf der Venus war völlig statisch. Und Erde und Mars, wo das Leben leicht war, verfielen immer mehr. Elf Jahre lang ist es mir gelungen, die Republik zusammenzuhalten, indem ich die Interessen der einzelnen Gruppen gegeneinander ausspielte, und ich habe es außerdem geschafft, alle Privatar-
meen allein durch die Drohung mit meinen Bombengeschwadern aufzulösen. Das politische Gleichgewicht war natürlich immer sehr labil, aber solange es anhielt, verkehrten die interplanetarischen Raketen wieder regelmäßig, und Luna Station sendete. Hätte ich damals nicht die Zügel an mich gerissen, hätte es in ein paar Jahren überhaupt keinen Weltraumverkehr mehr gegeben.« Carter grinste. »Sie glauben also, daß die Tage von Pfeil und Bogen und des Handpflugs zurückkehren werden, jetzt, wo die Republik Ihrer lenkenden Hand entglitten ist?« »Wir werden sehen. Der alte Grellet ist ein schlauer Fuchs, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich die Präsidentschaft auf längere Zeit hin sichern kann. Die gleichen Kräfte, die er benützte, um meine Verwaltung zu beseitigen, werden sich unweigerlich über kurz oder lang gegen ihn selbst kehren. Die mächtigen Familien hatten sich mit ihm gegen mich verbündet, aber sie werden sich seiner Herrschaft genauso ungern beugen wie der meinen, genauso wenig wie die Volksmassen, die er mit der Versprechung aufgewiegelt hat, die alten Freiheiten und das angenehme Leben des letzten Jahrhunderts wiederherstellen zu wollen. Seine Anhängerschaft rekrutierte sich aus vielen und oft einander direkt entgegengesetzten Lagern. Sie waren sich nur einig in ihrem Haß gegen meine Herrschaft. Aber jetzt, nachdem sie mich davongejagt haben, haben sie sich wahrscheinlich schon wieder ineinander verbissen. Selbst wenn die Republik stark genug ist, den über sie hinwegtobenden Sturm zu überdauern, wird nicht viel von ihr übrig bleiben. Es
wird eine schwache und von inneren Zwistigkeiten zerrissene Republik sein, über die er herrscht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er einen Kreuzer entbehren kann, um mich bis hierher zu verfolgen.« »Schließlich konnten Sie für mich ja auch keinen erübrigen«, sagte Carter milde und lachte. Ich gab ihm keine Antwort. Plötzlich kamen die Erinnerungen. »Mr. Gunn, würden Sie mir bitte helfen, diese Stiefel auszuziehen?« Dagmar natürlich. Das war ihre typische Reaktion, wenn sie sich unbeachtet fühlte. Joe Gunn beugte sich hinunter, löste die Riemen und hielt die Stiefel fest, während sie ihre Füße herauszog. Das Ausziehen von Raumstiefeln ist eine Arbeit, die man auch allein schafft. Ich sah mit dem schwachen Interesse eines Mannes zu, dem nur eine neue Variation eines altvertrauten Themas vorgespielt wird. Carter drehte sich um, um zu sehen, was los war, und lachte lauthals. Gunn funkelte ihn zornig an. »Wie weit ist es noch bis Morgan?« fragte ich Carter. »Wenn Sie zu uns nach vorn kommen, können Sie schon zwei Kuppeln sehen«, antwortete er mir. »Großartig. Können Sie vielleicht anrufen und bitten, daß ein Arzt für Greenville bereitsteht?« »Schon erledigt. Auch für Sie wird ein Begrüßungskomitee da sein.« Seine Stimme war ausdruckslos, und es war mir unmöglich, herauszufinden, was er damit meinte. Dagmar, die gerade ihr Haar ordnete, hielt inne und schaute mich fragend an. Ich zuckte mit den
Schultern und lächelte leicht. Gunn, der ihr Taschentuch in der Hand hielt, fuhr fort mit der Arbeit, die er von ihr bekommen hatte, nämlich die Schmutzflecken aus ihrem Gesicht zu tupfen. Ein paar Minuten später waren wir an der Luftschleuse der größten Kuppel angelangt. Wir drei Leute von den Inneren Planeten schauten uns neugierig um. Morgan bestand aus acht Kuppeln, deren Durchmesser zwischen zweihundert und fünfhundert Meter betrug, und die mit niedrigen, überdachten Gängen miteinander verbunden waren. Zwischen jeder Kuppel und dem sie umgebenden Eis befand sich ein dicker Wall aus irgendeinem nichtmetallischen Stoff, bis zu einem Meter hoch. Rampen führten darüber hinweg zu den Luftschleusen. Unser schwerfälliges Fahrzeug rollte eine dieser Rampen hinauf und blieb vor der inneren Tür der gewaltigen Schleuse stehen. Es dauerte einige Minuten, das Methan aus der Schleuse herauszupumpen und sie mit Luft zu füllen. Dann schwang die innere Tür auf, und wir fuhren in die eigentliche Kuppel. »Gewöhnlich lassen wir die Dinger draußen«, erklärte Carter. »Sie nehmen zu viel Platz weg. Aber im Augenblick ist das die beste Möglichkeit, Ihren Piloten gleich in die richtigen Hände zu bringen.« »Ich verstehe. Danke für das Entgegenkommen, Carter.« Als wir die Vorderluke des Schleppers heruntergelassen hatten, empfing uns der Arzt und die Abordnung, von der Carter gesprochen hatte. Kein Wort fiel, bis der Arzt, ein kräftiger Mann in mittleren Jahren und mit einem kantigen und geröteten Gesicht, Greenville auf eine Krankenbahre geladen und da-
vongekarrt hatte. Dann blickte ich die drei Männer an, die die ganze Zeit über schweigend dagestanden waren. »Sie möchten mit mir sprechen, meine Herren?« »Ja, Clemmenceton«, sagte der erste. »Es gibt gewisse Formalitäten, die erledigt werden müssen. Sie kennen Mr. Carter. Das hier ist Mr. Pelotti und das Mr. Brown. Mein Name ist Rodericks. Ich bin hier Bürgermeister. Wir vier und Mr. Velez und Mr. Goth, die momentan unabkömmlich sind, bilden den Rat, der Morgan verwaltet. An uns also müssen Sie und ihre Gefährten die Bitte richten, in die Gemeinschaft dieser unabhängigen Kolonie aufgenommen zu werden.« »Wie lautet der korrekte Antrag? Wir, Wolseley Clemmenceton, Dagmar Educe, Martin Greenville, bitten hiermit –« »Ja, das genügt. Nun, was für eine Gegenleistung können Sie den Mitgliedern unserer Kolonie dafür bieten, daß sie bereit sind, Sie aufzunehmen?« »Wie? Was nützt Ihnen denn republikanisches Geld, wenn Sie mit der Republik nicht mehr in Verbindung stehen? Oder meinen Sie, was für Fertigkeiten wir der Kolonie zur Verfügung stellen können?« »Keines von beiden. Sie kamen in einem Raumschiff, das nun etwas angeschlagen ein paar Kilometer von hier entfernt dort draußen liegt.« Er machte eine Handbewegung in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Für uns bedeutet dieses Schiff ein Vermögen. Es besitzt Maschinen, die selbst herzustellen wir leider nicht in der Lage sind. Für Sie ist das Schiff ein Wrack, sonst nichts. Hinzu kommt, daß Sie schwer-
lich in der Lage sind, zu feilschen, und Sie müssen zugeben, daß dieses Schiff kein zu hoher Preis für Ihre Bürgerrechte ist.« Der Mann, der uns als Brown vorgestellt worden war, ein großer dunkler Mann in den Vierzigern, nickte mir zu und führte die Unterhaltung fort. »Ich kann es Ihnen nicht verargen, wenn Sie das krasse Freibeuterei nennen; aber Freibeuterei in der einen oder andern Form war schon immer eines der Vorrechte von Regierungen. Wenn Sie erst einmal einen kleinen Einblick in unser Leben hier gewonnen haben, werden Sie verstehen, daß wir solche Geschäfte machen müssen, wenn wir einen erträglichen Lebensstandard für alle aufrechterhalten wollen. Nun, wie lautet Ihre Antwort?« Ich glaube, ich lächelte ziemlich bitter. »Ich nehme Ihren Preis an. Ich habe zu meiner Zeit selbst solche Geschäfte gemacht, und ich erwarte keine Wohltätigkeit. Das Schiff gehört Ihnen. Können Sie uns nun etwas über unsere Rechte und Pflichten als Bürger des Titan erzählen?« Carter antwortete mir. »Es ist alles ziemlich einfach. Jeder arbeitet. Viele von uns haben zwei Arbeitsgebiete, manche noch mehr. Unser Lebensstandard ist jedoch höher, als man auf den Inneren Planeten vielleicht denkt. Sie sind sich natürlich im klaren, daß wir keinen Versuch machen werden, Sie zu beschützen oder zu verstecken, falls ein bewaffnetes Schiff der Republik Sie holen kommt. In Ordnung?« »In Ordnung«, antwortete ich. »Jetzt, nachdem wir das erledigt haben, möchte ich gern sehen, wie es Greenville geht. Hat man ihn in ein Krankenhaus gebracht, oder gibt es hier keines?«
»Einen Augenblick. Wir müssen über Ihre Aufnahme abstimmen. Alle dafür? Beschlossen, Carter, bringen Sie Clemmenceton in die Klinik. Ich mache bei Gelegenheit die Papiere fertig. Das eilt ja nicht. Gunn, wo wollen Sie mit der Dame hin?« »Ich will ihr die Siedlung zeigen«, sagte Gunn. »Hat jemand etwas dagegen?« »Das kommt auf Mr. Clemmenceton an«, antwortete Rodericks. »Das ist wohl seine Angelegenheit.« Sie warteten auf meine Antwort. Dagmar sah mich herausfordernd an. »Ich habe nichts dagegen«, sagte ich. »Gehen wir, Mr. Carter.« Carter führte mich über eine Art Hauptstraße zwischen den Reihen kastenförmiger Häuser, Fabriken, Lagerhallen und Büros hindurch. Der gesamte Boden der Kuppel war mit dem gleichen braungesprenkelten Material bedeckt, das ich schon zwischen den Kuppeln und dem Eis bemerkt hatte. »Die beste Isolierung, die wir haben«, erklärte Carter. »Wir könnten noch einen viel höheren Wärmeverlust vertragen, als wir augenblicklich haben; aber wenn wir mehr Wärme durch die Fundamente und Wände abstrahlen ließen, bestünde die Gefahr, daß die ganze Anlage einfach durch das Eis hindurchschmilzt und das Eis sich darüber wieder schließt.« »Oh«, sagte ich. »Verstehe. Die verschwundene Kolonie, was?« »Das nächste Haus ist die Klinik. Doc Hawthorn, seine Frau und ihre drei Töchter wohnen dort und kümmern sich um den Laden. Der Arzt hat übrigens seinen Beruf hier gelernt. In seinem ganzen Leben ist
er noch nie vom Titan weggekommen.« »Was soll das heißen? Gibt es hier eine Universität?« »Himmel, natürlich nicht. Wir haben ein Lehrlingssystem. Es funktioniert mittlerweile überraschend gut, wissen Sie. Medizin ist natürlich am schlimmsten dran. Es gibt kaum Bücher, überhaupt keine Versuchstiere und nur beschränkte Labormöglichkeiten. Ein junger Mann kann es nur lernen, indem er jahrelang unter dem alten Doktor arbeitet. Manchmal nicht besonders angenehm für die Patienten, aber im großen und ganzen klappt es gut. Die beiden Jungen, die augenblicklich unter Hawthorn studieren, sind zwei vielversprechende Burschen. Wahrscheinlich erhalten sie gerade eine Lektion über Knochenbrüche und Arterienblutung.« Ich muß sagen, ich hatte ein komisches Gefühl, als ich an die Behandlung dachte, die Greenville widerfuhr. »Noch etwas ist mir aufgefallen«, sagte ich. »Sie erwähnten, daß die drei Töchter des Arztes bei ihm wohnen. Man sollte doch annehmen, daß hier immer noch ein hoher Männerüberschuß herrscht. Wie kommt es, daß die drei noch ledig sind?« »Eine etwas voreilige Schlußfolgerung, mein Alter. Die Töchter sind alle verheiratet, und es laufen auch schon ein paar Kinder herum. Die Männer gehen zur Arbeit, und die Frauen verbinden ihre Hausfrauenpflichten mit der Krankenpflege. Eine Familiengemeinschaft wie in diesem Fall ist bei uns die natürliche ökonomische und soziologische Einheit. Und die Wohnraumknappheit halt die Gruppe zusammen, selbst wenn sie größer wird.« Ich hatte inzwischen die Aufregung der Landung
und die holprige Fahrt zur Siedlung vergessen, und ich begann jetzt wirklich neugierig zu werden, wie diese Leute hier lebten. Ich fragte mich, welche Vorstellungen sie sich wohl von der Zukunft machten, und richtete diese Frage an Carter. »Wir glauben an die Zukunft. Mehr als Sie vielleicht denken. Wenn unsere Bevölkerung größer wäre, könnten wir mehr schaffen, und das Leben würde für alle besser werden. Sie werden diesen Zukunftsglauben an der Haltung der Kolonisten merken. Daß Sie Ihre Geliebte mitgebracht haben, zum Beispiel, wird ganz bestimmt auf Mißfallen stoßen.« »Kleinstadtmoral, wie?« »Nein, in keiner Weise. Für uns sind Kinder wichtiger als alles andere, und Verbindungen wie die Ihre sind gewöhnlich in dieser Hinsicht nicht sehr produktiv. Das ist der einzige Grund.« »Hm; ich habe mir immer Kinder gewünscht, aber es gab so viele Dinge, die dagegen sprachen. Jetzt werde ich wahrscheinlich ganz verzichten müssen. Dagmar will keine Kinder. Ich habe noch andere Frauen gekannt. Ich hätte heiraten können, einen Erben hinterlassen –« »Ich glaube nicht, daß Lady Dagmar die Kolonie gefallen wird, und ich bezweifle, daß sie der Kolonie gefallen wird.« Ich lächelte ihn an. »Sie werden alt, mein lieber Carter. Offenbar schneller als ich. Haben Sie nicht bemerkt, wie Gunn reagiert hat? Möglich, daß ihr die Kolonie nicht besonders gefällt, aber ihre Reize wirken hier genauso wie anderswo. Ich frage mich, wie weit sie schon in diesem Augenblick dem armen Gunn den Kopf verdreht hat.«
Er sah mich einen Augenblick durchdringend an. Er fragt sich, wie eifersüchtig ich bin, dachte ich. Dann senkte er den Blick und ging weiter. Das Krankenhaus war ein gedrungener Bau und hatte zwei Stockwerke. Das untere beherbergte die Krankenzimmer, einen Operationssaal und die Apotheke. Die Wohnung der Hawthorns lag im ersten Stock. Carter klopfte an, und wir traten ein. »Der Krankensaal«, erklärte Carter über die Schulter. »Zur Chirurgie geht es dort entlang.« In dem Raum standen ungefähr ein halbes Dutzend Betten. In zweien lagen Männer, die uns neugierig betrachteten, während wir durchgingen. Ein anderes Bett stand hinter einem Vorhang. Der Raum war sauber, und alles war ordentlich und aufgeräumt. Als ich die einfachen eisernen Bettgestelle und das grobe weiße Bettzeug sah, wurde mir erst so recht bewußt, wie abgeschnitten von der Außenwelt doch diese Kolonie war, die einen ständigen Kampf mit ihrer feindlichen Umwelt führen mußte. Aber sie hatte sich wenigstens von dem geistigen Verfall freigehalten, der den Unternehmungsgeist und die Ehrfurcht vor ethischen Maßstäben bei den Bewohnern der Inneren Planeten zerstört hatte. Wir klopften an die Tür der chirurgischen Abteilung, einer dünnen Kunststoffplatte in einem Metallrahmen – wie die meisten Türen auf dieser Welt ohne jedes Holz hergestellt. »Carter und der Freund Ihres Patienten. Wir wollen mal sehen, wie es dem verletzten Piloten geht«, antwortete Carter auf eine unverständliche Frage von drinnen. »Kommen Sie rein! Er wird leben.«
Wir traten ein und erblickten Greenville mit einem dick bandagierten Bein, Hawthorn, der ein zufriedenes Lächeln zeigte, zwei junge Männer – beide etwa zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt –, die offensichtlich die Lernärzte waren, und ein Mädchen in Weiß, wie ich annahm, eine von Hawthorns Töchtern. »Die scheußlichste Fraktur, die mir seit Jahren untergekommen ist«, sagte der Arzt. »Es besteht jetzt zwar keine Gefahr mehr, daß er sein Bein verliert, aber so ganz richtig wird es wohl nicht mehr heilen. Die Knochensplitter haben eine Menge Schaden an den Nerven des Oberschenkels angerichtet. Aber ich denke, wir werden ihn schon wieder gut genug zusammenflicken können, um einen nützlichen Bürger aus ihm zu machen.« Greenville lächelte etwas gezwungen. »Wie nützlich kann ein Raumpilot schon sein, der nur ein gesundes Bein hat?« Hawthorn funkelte ihn an: »Junger Mann, zweifeln Sie gefälligst nicht an meinen Fähigkeiten. Sie werden zwei gesunde Beine haben. Eines davon wird allerdings nicht mehr für Hundert-Meter-Spurts und dergleichen zu gebrauchen sein. Und von jetzt an werden Sie nur noch die Frauen fangen können, die sich von Ihnen fangen lassen wollen.« »Nun, Greenville«, sagte ich, »also passen Sie gut auf sich auf und tun Sie, was der Doktor sagt! Dagmar und ich werden sehen, wo wir unterkommen – ich glaube, auf ihre Weise kümmert sie sich im Augenblick sowieso schon darum, wo sie bleiben kann –, und wenn wir herausgefunden haben, was von uns hier erwartet wird, dann kommen wir Sie besuchen. Ihnen wird man vermutlich Arbeit in einer Fabrik ge-
ben. Was ich machen werde, weiß ich noch nicht. Mein Beruf ist die Politik, aber ich nehme an, man würde etwas dagegen haben, wenn ich ihn hier ausüben würde.« Mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck sah Carter mich einen Augenblick an. »So«, sagte der Arzt, »jetzt raus mit euch! Wir müssen wieder an die Arbeit. Die Besuchszeit ist vorbei.« »Schön«, sagte ich. »Also auf Wiedersehen, Greenville! Es dauert bestimmt nicht lange, bis Sie wieder auf dem Damm sind.« Nachdem wir gegangen waren, fragte ich Carter, wie es mit unserer Unterbringung stünde. »Ich denke, Bürgermeister Rodericks ist dabei, Ihnen etwas zu besorgen, obgleich es den Anschein hat, daß Lady Dagmar in dieser Angelegenheit ihre eigenen Pläne hat. Vermutlich versucht sie, Joe Gunn zu überreden, sie aufzunehmen.« Er sah mich prüfend an, um festzustellen, wie ich darauf reagieren würde. Ich knurrte etwas Unverständliches. Dagmars Benehmen war für jemand, der sie so gut kannte wie ich, keine ausgesprochene Überraschung. Im Augenblick war sie gründlich verärgert, daß sie sich in mein Unglück hatte mit hineinziehen lassen, und sie suchte bei einem jungen und gutaussehenden Verehrer Trost. Was jedoch ihr nächster Zug sein würde – ich bezweifelte, ob sie das selbst wußte. Carter und ich bogen um eine Ecke und liefen dem Ratsmitglied Pelotzi in die Arme. »Ah!« rief er aus. »Ich wollte Sie gerade suchen gehen. Wir haben uns um Wohnraum für Sie geküm-
mert. Wir können Sie im Haus Vier in der AaronKuppel unterbringen. Das ist die kleine dort drüben.« »Vielen Dank, Mr. Pelotzi«, sagte ich. »Es wird zwar noch einige Zeit dauern, bis Major Greenville die Klinik verlassen kann, aber ich werde unser neues Quartier so bald wie möglich aufsuchen. Ob Lady Dagmar allerdings diese Lösung begrüßen wird, kann ich nicht sagen.« Er hustete entschuldigend. »Ich fürchte, es wird ihr nichts anderes übrig bleiben. Etwas anderes haben wir nicht.« Carter und ich lächelten. »Kann ich vielleicht jetzt schon hinübergehen und mich umsehen?« fragte ich. »Selbstverständlich, Mr. Clemmenceton. Mr. Carter wird Sie sicher gern begleiten.« »Wird Ihre Zeit eigentlich von jedem Neuankömmling derart beansprucht? Ich meine, ist es die Regel, daß er vom Sekretär für Einwanderungsfragen, oder was Sie sind, persönlich zu seiner neuen Wohnung gebracht wird?« »Nun, es ist immerhin schon drei Erdjahre her, daß das letzte Schiff zu uns gekommen ist. Die Arbeit ist also nicht zu anstrengend«, antwortete Carter. Pelotzi verabschiedete sich von uns, und Carter nahm seine Führerrolle wieder auf. Wir gingen durch den Verbindungsgang, der an beiden Enden mit luftdichten Schleusen verschlossen war, und betraten die Aaron-Kuppel. »Aaron besteht hauptsächlich aus Wohnhäusern«, sagte Carter, »mit Ausnahme von ein paar Gebäuden dort drüben, wo wir Luft herstellen. Hier ist Haus Vier.«
Er drückte eine der mir nun schon vertrauten Kunststofftüren auf, und wir traten in einen kleinen Vorraum, in dem ein Meldetisch stand, der jedoch im Augenblick unbesetzt war. Carter zog ein Buch heran und blätterte darin, um die Nummern der freien Zimmer zu finden. »Zweiter Stock«, sagte er dann und schrieb mit Bleistift irgend etwas in das Buch. »Je ein Schlafzimmer. Dazu ein Bad und ein Wohnzimmer, die Sie allerdings mit einem andern Paar im gleichen Stockwerk teilen müssen. Wir können es uns zwar nicht leisten, mit Wohnraum verschwenderisch umzugehen, aber wir sind auch nicht direkt überbelegt.« »Nun, nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, möchte ich sagen, daß Sie hier draußen anscheinend recht komfortabel leben.« »Wir können nicht klagen. Konsumgüter sind zwar knapp – alle die Dinge, die in Massenproduktion auf den Inneren Planeten billig hergestellt werden können –, und wir könnten bessere Schulen und bessere medizinische Einrichtungen gebrauchen. Nichtsdestoweniger, was wir zum Leben brauchen, haben wir. Wir können uns auch in beschränktem Umfang Freizeit leisten und ab und zu ein paar Vergnügungen.« »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich von der Art und Weise beeindruckt bin, wie Sie mit den technischen Schwierigkeiten hier draußen fertiggeworden sind. Als ich noch auf der Erde war, wußte ich zwar, daß während der letzten Jahre kein Versorgungsschiff mehr zu Ihnen durchgekommen ist. Aber ich habe mir nicht recht ausmalen können, was das bedeutet. Ich glaube, ich habe mir Titan als eine Kolonie von bärtigen Hinterwäldlern vorgestellt, die
langsam auf ihrer rauhen und unfreundlichen Welt in die Barbarei zurücksinken.« »Ja, da haben Sie die Hauptsache übersehen. In einer wirklich feindlichen Umgebung wie dieser hält man entweder seine Technik auf dem höchsten Stand, oder man geht zugrunde. Deshalb wird auch unsere Kolonie nie der Dekadenz verfallen, selbst wenn das gesamte übrige Sonnensystem es tut. Und es gibt noch einen anderen Grund: Die Leute, die sich dem Leben auf Titan anpassen konnten, sind nicht von der Art, die untätig zuschauen werden, wie ihre Welt vor die Hunde geht. Pioniere, Generationen von politischen Flüchtlingen und Leute, die sich gegen das verweichlichende Leben auf den Inneren Planeten auflehnten, sie haben sich hier eine Zivilisation geschaffen, der die Zukunft gehört, auch wenn sonst überall Zerfall und Fäulnis herrschen. Ich sagte Ihnen schon, welch großen Wert wir auf Kinder legen. Je größer unsere Bevölkerung wird, desto mehr Spezialisierung ist möglich und desto mehr hebt sich der allgemeine Lebensstandard. Nun, hier sind wir vor dem Appartement unseres Präsidenten angelangt. Ich schenke mir also den Rest meiner Propaganda.« Ich schluckte seine Ironie wortlos hinunter. Er suchte einen Schlüssel heraus, öffnete die Tür, und wir traten ein. »Hier sind Ihre Schlüssel«, sagte er und gab sie mir. »Unsere Raupenschlepper sind schon dabei, Ihr Schiff hereinzuholen, damit man es zerlegen kann. Binnen kurzem wird Ihnen also Ihre persönliche Habe wieder zur Verfügung stehen.« Ich blickte mich in der Wohnung um und war an-
genehm überrascht von der unleugbar einfachen, aber dennoch sehr gemütlich aussehenden Einrichtung. Fast alles war aus dem einen oder anderen Kunststoff hergestellt. Carter erzählte mir jetzt einiges über die Industrie der Siedlung. »Mit Energie – mehr, als wir zur Zeit brauchen – werden wir von großen mit Wasserstoff angetriebenen Raumschiffmotoren versorgt. Eis, Ammoniak und Methan sind unsere wichtigsten Rohstoffe. Die darin vorkommenden Metalle sind eine willkommene Ergänzung. Manche Nahrungsmittel werden synthetisch hergestellt, natürlich auch alle Kunststoffe und Textilien. Aber die meisten unserer organischen Stoffe züchten wir in unseren Kulturtanks. Im Augenblick bemühen wir uns, eine neue Sorte –« Die Tür wurde heftig aufgerissen und herein kam ein durch Blicke um Entschuldigung bittender Pelotzi, getrieben von einem der furchtbarsten Wutanfälle, die ich bei Dagmar bisher erlebt hatte. Als sie mich sah, stürzte sie sich auf mich. »Du, du wandelndes Überbleibsel aus dem Altertum, du zerrst mich aus einem angenehmen Leben auf einer zivilisierten Welt und setzt mich zwischen ein paar Hütten auf einem Eisbrocken ab, Millionen von Kilometern von irgendwo! Und Gunn, dieses Vieh! Und dann haben sie nicht mal eine Wohnung für mich und erwarten, daß ich bei dir wohnen soll! Ich muß verrückt gewesen sein, jemals –« »Aber, aber, mein Mädchen, du schockierst diese einfachen Leute«, sagte ich. Carter lachte. Dagmar packte eine schwere Plastikfigur und schleuderte sie nach ihm. Sie erwischte ihn
an der Schulter, nachdem er noch einen verspäteten Versuch unternommen hatte, beiseite zu springen. Dann befaßte sie sich wieder mit mir. Sie stürzte auf mich zu mit einem Sprung, der einem Tiger alle Ehre gemacht hätte. Ich packte sie schnell an den Handgelenken, damit sie mir nicht das Gesicht zerkratzen konnte. Sie trat mich dafür gegen das Schienbein. Carter lachte immer noch, während Pelotzi äußerst verlegen dabeistand. Ich war nicht wirklich zornig. Ich hatte in den letzten Monaten eine Menge durchgemacht und hatte dabei, wie ich glaube, wenigstens für einige Zeit die Fähigkeit verloren, mich unnütz aufzuregen und zu ärgern. Ich packte ihre schmalen Handgelenke mit meiner Linken und versetzte ihr ein paar schallende Ohrfeigen. Einen Augenblick lang schrie und schlug sie noch wild um sich. Dann verrauchte ihre Wut, und sie fing an zu schluchzen. Ich versuchte, ihr gut zuzureden. »Du siehst die Dinge im falschen Licht, mein Liebling. Du hast anscheinend schon den rasenden Pöbel vergessen. Diese tobenden Haufen wären mit dir genauso wenig feinfühlig umgesprungen wie mit mir, wenn sie uns hätten erwischen können. Du weißt doch noch, welche Töne Grellets Propaganda anschlug. An allem war der genußsüchtige und verantwortungslose Diktator schuld, also ich, der drei Welten ausplünderte, um seine habgierige Geliebte mit Juwelen und Geschmeide überhäufen zu können, also dich.« Sie hatte sich etwas beruhigt. Ihre Hände schlossen und öffneten sich, und sie zitterte am ganzen Körper, aber sie hielt die Augen geschlossen.
»Ich weiß, was mir bevorgestanden hätte, wenn ich in ihre Hände geraten wäre«, fuhr ich fort, »aber stell dir die Freude des Pöbels vor, wenn er die verhätschelte Geliebte des Tyrannen zwischen die Finger bekommen hätte. Vielleicht hätte man dich am nächsten Laternenpfahl aufgehängt. Aber wahrscheinlich hätte man dich vorher erst einmal gründlich durch den Dreck gezogen, beschimpft, bespuckt, besudelt. Man hätte dir die Kleider vom Leib gerissen, und die Menge hätte an dir ihre Wut ausgelassen, bis man dich endlich auf eine Weise umgebracht hätte, die alle befriedigt haben würde.« Sie versuchte mit einem plötzlichen Ruck ihre Hände meinem Griff zu entreißen. Es gelang ihr nicht, denn ich hatte es erwartet. »Du warst an allem schuld. Du hast die Macht der alten Familien zerstört, die allein in der Lage waren, über die Erde zu herrschen, und du hast damit solchen Verrückten wie Grellet den Weg geebnet. Die alten Familien hatten generationenalte Erfahrung in der Verwaltung. Du hast mich nur zu deiner Geliebten gemacht, damit ich dir helfe, sie zu beseitigen.« »Einen Augenblick mal! Du selber hast dich mit den alten Familien nie verstanden und du hast nur darauf gewartet, dich an einen ehrgeizigen Mann anhängen zu können, der dir an die Macht helfen könnte. Vergiß übrigens nicht, daß es gerade dein Titel und deine Verbindungen zu den Familien waren, die Grellet eine zusätzliche Waffe gegen mich in die Hand gaben. Sie ermöglichten es ihm, den alten Haß des Pöbels gegen die Oligarchie auf mich zu übertragen, während er zur gleichen Zeit mit den Emindales und Gordinesters verhandelte.
Du hast die Wahl. Aus deinem Verhalten zu schließen, kommt Gunn nicht mehr in Frage. Du kannst also wieder deine Intrigen spinnen – und du siehst immer noch gut genug aus, um mit deinen Reizen operieren zu können –, um das an Macht und Luxus zu erringen, was dir diese Welt bieten kann. Wenn du das tust, werden dich allerdings die Frauen der Kolonie wahrscheinlich teeren und federn. Oder wenn du bereit bist, Kinder zu bekommen, dann können wir heiraten.« »Was willst du damit sagen?« Ihre Stimme klang bitter, aber auf ihrem Gesicht standen schon Zweifel und Überraschung. »Glaubst du, du hättest mich jetzt so weit, daß du mich als unbezahlte Pflegerin für deine alten Tage haben kannst? Wer sagt dir denn überhaupt, daß du noch Kinder bekommen kannst?« Sie wollte mich absichtlich verletzen. Trotzdem klangen die Worte nicht so bissig, wie man ihrem Sinn nach hätte erwarten können. Ich zog sie an mich und strich ihr über das Haar. »Wer ist denn alt? Du bist auch kein Teenager mehr. Ich gehe zwar auf die sechzig zu, aber ich habe die besten Ärzte der Republik um mich gehabt und die Verjüngungsbehandlungen mitgemacht. Ich fühle mich noch sehr jung und kräftig. Wahrscheinlich werde ich sogar länger leben als du, weil ich viel ausgeglichener bin. Du dagegen wirst bei deinem Temperament dein Herz zu sehr strapazieren.« Sie klammerte sich an mich. Sie hob ihren Kopf, und ihr aufgelöstes Haar fiel über ihr tränenfeuchtes Gesicht. Sie lächelte, als unsere Blicke sich trafen. »Morgan ist zwar kein tropisches Inselparadies, aber auch keine Strafkolonie. Man könnte die Woh-
nung vielleicht so herrichten –« Dann legte sie den Kopf wieder an meine Brust und weinte unbeherrscht weiter. Carter nahm Pelotzis Arm und begann, ihn zur Tür zu steuern. »Alles nur Theater«, erklärte ich amüsiert. »Machen Sie sich weiter keine Sorgen.« Sie schlossen die Tür. Carter kam am nächsten Morgen gegen halb elf vorbei. Es war wirklich sehr taktvoll, daß er nicht früher kam. Sein Gesicht bewies, daß er von Geschäften reden wollte. »Nun, haben Sie Ihren häuslichen Streit geschlichtet?« fragte er. »Mehr oder weniger, ich hoffe es wenigstens.« »Das freut mich zu hören. Und nun zum Grund meines Besuches. Sie erwähnten gestern etwas von einem Beruf, den Sie hier ausüben könnten. Nun« – er hieß mich mit einer Handbewegung schweigen, als ich ihn unterbrechen wollte – »genau das mochten wir von Ihnen. Sie sollen eine Stellung in unserem Föderativen Rat annehmen. Wir haben übrigens keine Angst, daß Sie vielleicht versuchen werden, sich zum Diktator von Titan aufzuschwingen, um bei passender Gelegenheit Ihr verlorengegangenes Imperium wiederzugewinnen. Auch ich habe nichts dagegen, obwohl wir früher einmal politische Gegner waren. Es gab eine Menge Dinge, die ich an Ihnen nie leiden konnte, und ich will Ihnen auch nicht verhehlen, daß ich es immer noch nicht tue. Aber Sie haben Ihre Ansichten, und ich habe die meinen. Hier sind sie alle unwichtig. Jedenfalls bin ich mir wie die anderen
Ratsmitglieder darüber im klaren, daß wir hier auf Ihr Organisationstalent und Ihre Erfahrungen in der Verwaltung nicht verzichten können. Die fünf Kolonien auf Titan verwalten sich im großen und ganzen selbst. Für manche Dinge ist jedoch der Föderative Rat zuständig. Die Verwaltungsprobleme einer solchen Konföderation sind nicht einfach, wie Sie sich vorstellen können.« »Augenblick mal«, sagte ich, denn ich erinnerte mich plötzlich an eines dieser Probleme – die Nachrichtenverbindungen. »Wenn Funkkontakt hier auf Sichtweite begrenzt ist, wieso haben wir dann Ihren Anruf empfangen?« »Raketenantennen. Alle Kuppeln und Schlepper haben sie, damit sie die hinter dem Horizont liegenden Empfangsstationen anrufen können. Eine Miniatur-Rakete trägt eine Silberantenne in eine Höhe von vielleicht vier Kilometern. Das ergibt einen Funkradius von etwa zweihundert beziehungsweise vierhundert Kilometern, je nachdem, ob nur eine Partei oder beide die Antennen oben haben.« »Hm. Sehr geschickt. Nun, erzählen Sie weiter! Um was muß ich mich noch kümmern?« »Abgesehen von den durch unsere Umwelt bedingten Schwierigkeiten sind es die üblichen kleinen politischen Fehden und Eifersüchteleien zwischen den K olonien, denn jede versucht natürlich, mehr von unseren knappen Rohstoffen zu bekommen als die andere.« »Und wie funktioniert der Rat selbst? Wird er gewählt, ernannt, oder was sonst?« »Den Namen nach gewählt. Jede Kolonie ist vertreten. Aber wenn Sie sich entschließen, unseren Vorschlag anzunehmen, werden wir Sie ohne weitere
Schwierigkeiten hineinbekommen können.« Ich zog die Stirn kraus und tat so, als ob ich es gründlich überdenken würde, aber ich hatte mich natürlich schon entschieden. »Ich nehme an, Carter«, sagte ich dann. »Ich muß gestehen, daß sich alles viel besser entwickelt hat, als ich erwarten konnte. Welchem abgesetzten und davongejagten Alleinherrscher wurde jemals eine respektable politische Stellung in einer Kultur angeboten, die zwar materiell nicht besonders wohlhabend, aber auf jeden Fall gesund und vielversprechend ist. Und welcher Mann konnte außerdem noch eine schöne Frau mit sich nehmen, die bereit ist, sein Exil zu teilen und seine Kinder aufzuziehen?« Carters Antwort bestand in einem dünnen Lächeln. Es war nicht schwer zu erraten, was er dachte. »Oh, ich weiß ziemlich genau, was Sie von Dagmar halten, aber Sie tun ihr Unrecht.« Carter lächelte noch immer, und ich fuhr fort: »Zu der Zeit, als sie meine Geliebte wurde, war sie die größte Schönheit unter dem ganzen Adel. Doch selbst damals schon war sie ein heimlicher Rebell gegen das Kastensystem der wenigen herrschenden Familien. Während der elf Jahre meiner Herrschaft war sie die einzige Vertraute und Verbündete, die ich hatte. Wenn Sie versuchen, sie nach ihrem Benehmen während der letzten vierundzwanzig Stunden einzuschätzen, tun Sie ihr Unrecht. Ihren Eigensinn haben Sie gesehen, aber nicht ihre Charakterstärke und ihre Intelligenz. Als ich noch Präsident der Republik war, hatten wir über Heirat und Kinder gesprochen. Sie wollte zwar die Position und das Prestige einer Gemahlin haben, aber nicht
die Unbequemlichkeiten, die eine Mutter auf sich nehmen muß. Jetzt ist sie dazu bereit, weil auch ihre Jugend sie langsam verläßt. Sie wollen sagen, daß sie um so viel jünger ist? Das ist richtig, aber schließlich –« »Mr. Carter, Mr. Carter! Der Raumhafenturm hat ein sich näherndes Schiff ausgemacht. Ein großes!« Der junge Kolonist, der die Botschaft gebracht hatte, schnaufte und schnappte nach Luft. Mein Magen krampfte sich zusammen. »Clemmenceton, es sieht so aus, als hätten Sie sich geirrt. Jetzt müssen Sie geradestehen«, sagte Carter leise. »Es hat wirklich den Anschein, als ob ich die Lage völlig falsch beurteilt hätte«, sagte ich mit tonloser Stimme halb zu mir selbst. Ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß Grellet mit den ihm zur Verfügung stehenden Streitkräften den Frieden aufrechterhalten konnte, ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß man mir einen Kreuzer nachsenden konnte. Aber offensichtlich konnte er es. »Nun, die Wiederherstellung einer starken Regierung auf den Inneren Planeten sollte mein eigenes Unglück aufwiegen«, murmelte ich. »Ich hatte mir vorgestellt, daß die Planeten von Unruhen und zahllosen Zwistigkeiten zerrissen werden würden. Das zeigt nur, wie sehr man oft seine eigene Wichtigkeit überschätzt.« Dagmar war leise aus dem Schlafzimmer getreten. Ich bemerkte ihre Anwesenheit erst, als sie ihre Hand sanft auf meinen Arm legte. »Und wir hatten noch nicht einmal ausgepackt«, sagte sie. »Wolseley, wir brauchen nichts von Greenville zu sagen. Hinter ihm sind sie ja nicht her, und
schließlich hat er sich seine Finger nie mit Politik beschmutzt.« Carter schaute sie prüfend an. »Wahrscheinlich«, fuhr sie fort, »wird die Fahrt in dem Beiboot des Kreuzers sogar bequemer sein als in der Kabine der Master.« »Der Turm meldet, daß sie etwa in einer Stunde mit dem Schiff Verbindung aufnehmen können«, sagte der Bote. Dagmar wirbelte herum und blitzte ihn an. »Heißt das, Sie haben noch gar nicht mit dem Schiff gesprochen? Sie wissen also gar nicht, was sie hierher führt? Was wollen Sie eigentlich? Wolseley und mir unnötig Angst einjagen?« »Tut mir leid, Mrs. Clemmenceton«, antwortete er ihr, und ich lächelte über die Form der Anrede, die er gebrauchte, »aber seit mehr als einem halben Jahr ist die Verbindung zwischen Titan und den Inneren Planeten unterbrochen, und auch vorher waren Besuche nur sehr selten. Es kann keinen anderen Grund geben, wenn plötzlich ein großes Schiff kommt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ich legte meinen Arm um sie und zog sie an mich. Carter drehte sich nach mir um und sagte: »Ich bedaure das sehr. Wir hätten Sie gut gebrauchen können. Ich wollte, wir könnten Ihnen Asyl gewähren, Clemmenceton, aber wir können es uns einfach nicht leisten, die Militärs der Inneren Planeten zu verärgern. Wir sind hier völlig schutzlos und auf ihren guten Willen angewiesen.« Meine Gefühle befanden sich in einem wilden Aufruhr. Ich fühlte eine hilflose kalte Wut, jetzt plötzlich der Zuflucht wieder beraubt zu werden, in der ich
mich schon so sicher gefühlt hatte. Ich verachtete Carter und diese Titankolonisten, die vor Grellets Schiff den Schwanz einzogen. Und ich fühlte eine tiefe Resignation vor dem Unabwendbaren – und Dankbarkeit gegenüber Dagmar, die die Ankunft des Schiffes so gefaßt hinnahm. »Gehen wir zum Turm«, sagte ich. »Ja, das ist wohl das beste«, sagte sie. »Es würde erniedrigend sein, unter Bewachung zum Schiff gebracht zu werden. Warte, ich will mich nur noch zurecht machen.« Sie war nur einen Augenblick weg. Ich sah sie prüfend an, als sie zurückkam. Sie war so schön wie je zuvor. Der leichte Hosenanzug, den die Frauen der Siedlung trugen, stand ihr gut. Sie hatte ihr blondes Haar zurückgesteckt und sah sehr jung aus. Carters Gesicht zeigte eine Spur von Zynismus und Verlegenheit, als ich ihr einen Kuß gab. Dann gingen wir. Der »Raumhafen« war ein willkürlich abgestecktes Eisgebiet, und der Turm war eine Plastikkonstruktion, die etwa fünfzig Meter hoch in die giftige Atmosphäre ragte. In dem halbkugeligen durchsichtigen Raum an seiner Spitze saßen zwei Männer, von denen einer Kopfhörer trug. Der zweite begrüßte uns. »Bis jetzt haben wir noch keine Verbindung mit ihnen, Mr. Carter, obwohl sie schon innerhalb des Funkbereiches sind. Ich möchte sagen, daß sie sich jetzt sogar schon innerhalb des Sprechbereiches befinden.« »Ruhig, jetzt kriege ich was herein«, unterbrach ihn der Mann mit den Kopfhörern.
Er drückte auf einen Knopf herunter und schaltete den Lautsprecher an der Wand ein. Durch das Knattern und Pfeifen der Statik hörte man die Stimme eines Mannes. »... Siedlung. Hallo Morgan-Siedlung. Hier Raumschiff Pax Republica. Raum – wieder Knistern – Republica bittet um Landeerlaubnis mit einhundertzwanzig Flüchtlingen von der Erde. Wir bitten –« Dagmars Schrei übertönte die Wiederholung der Meldung. Sie begann mich aufgeregt zu schütteln und rief dabei eine Menge unzusammenhängendes Zeug: »Wir brauchen nicht zurück?« und »Ich habe gleich gesagt, daß es kein Kriegsschiff sein kann!« und ähnliches. Die Anspannung meiner Nerven ließ nach. »Sie werden in ungefähr zehn oder zwölf Stunden hier sein, nehme ich an«, sagte der zweite Funker. Dagmar und ich sahen uns einen Augenblick wortlos an. Dann gingen wir die lange Treppe wieder hinunter. Ungefähr auf der Hälfte der Stufen befand sich ein Treppenabsatz mit einem großen Fenster, das über das zerfurchte und zerklüftete Eis hinausblickte. Hier blieben wir stehen. Während ich hinaussah in den Sonnenuntergang auf dieser Eiswelt, kreisten meine Gedanken noch einmal um die Ereignisse der letzten Stunden. Hier würde ich für etwas arbeiten können, an das ich glaubte und das mir teuer war, wenn ich es auch im stillen tun mußte, und nicht unter Fanfarenklängen. Aber ich hatte den Prunk und den Glanz zur Genüge gekannt, und ich würde ihn nicht vermissen Seit ich im Alter von achtzehn Jahren – gerade vor dem Sturz der vierten Monarchie – meine politische
Laufbahn begonnen hatte, hatte ich vielen Parteien angehört und viele Meinungen vertreten. Damals war ich ein Anhänger des Friedens gewesen, der vor Blut und Gewalt zurückgeschreckt war, aber wie die meisten, war ich mir des Verfalls der Zeiten bewußt gewesen, und als sich die Chance bot, den Cäsar zu spielen, hatte ich sie genützt. Mein Imperium aber war eine Totgeburt, und die Planeten fielen zurück in die Barbarei. Aber hier draußen, jenseits des Machtkampfes von Heerführern und Piraten, würde ich einer neuen Zivilisation dienen können. Es war ein isolierter Außenposten, dessen Bewohner jeden Tag um ihr Leben kämpfen mußten, aber das machte sie hart und gesund, und wenn sie eines Tages wieder die Verbindung mit den Inneren Planeten aufnehmen würden, würden sie auch diese gesunden lassen. Dagmar wandte ihren Blick von den glitzernden Eisschründen, die so hell und strahlend unter dem blauschwarzen Himmel lagen, und unsere Blicke trafen sich. Es würde eine karge Welt sein, in der unsere Kinder aufwachsen würden, aber eine Welt, die die Hoffnung kannte und die Befriedigung, die von der Erfüllung einer Aufgabe kommt. Hier würde auch ich meine Erfüllung finden. Hier würde ich meine Kinder aufwachsen sehen, hier auf diesem fernsten Außenposten, fern der wärmenden Sonne. Originaltitel: FAR FROM THE WARMING SUN. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 9/53
Wyman Guin EXODUS Es waren drei. Dutzende der kleinen Mutanten, bei deren bloßem Anblick ein Zoologe wohl einen hysterischen Anfall bekommen hätte, lagen schlaff und regungslos in dem Metabolismusbeschleuniger. Aber da waren drei, die anders waren. Ich jubilierte. Nebenan im Labor hörte ich das eilige Füßetrappeln meiner Tochter und das Klirren ihrer Rollschuhe. Ich machte den Beschleuniger zu und ging zur Tür. Ich hörte, wie sie verzweifelt an dem Türknopf rüttelte und dabei die richtige Kombination zu finden versuchte. Ich schloß die Tür auf, öffnete sie aber nur einen Spalt und schlüpfte hindurch, so daß sie, obwohl sie sich den Hals verrenkte, nichts zu sehen bekam. Duldsam blickte ich auf sie herunter. »Kriegst du deine Rollschuhe wieder mal nicht an?« fragte ich. »Vati, ich hab's versucht und versucht. Aber der dumme Schlüssel geht so schwer.« Ich schaute sie nur an. »Wirklich. Vati.« »Schwer?« »Was?« »Der Schlüssel geht so schwer?« »Das hab' ich doch gesagt«, jammerte sie. »Na, schön, du kleine Kröte. Setz dich dort auf den Stuhl.« Ich kauerte mich hin und steckte ihr die Rollschuhe
an die Schuhe. Dann nahm ich den Schlüssel und schraubte sie fest. Endlich richtige Volplas. Und gleich drei davon. Und doch war ich die ganze Zeit so davon überzeugt gewesen, daß es mir gelingen würde, sie zu erzeugen, daß ich sie schon vor zehn Jahren so getauft hatte. Nein, zwölf. Mein Blick wanderte über die Reihe der Käfige bis zu dem, durch dessen Stäbe der alte Nijinsky seinen Kopf heraussteckte. Ich hatte sie Volplas genannt seit den Tagen, als Nijinskys verlängerte Arme und die seitlichen Hautfalten seiner Vettern mir die Idee eines fliegenden Mutanten eingegeben hatten. Als Nijinsky sah, daß ich in seine Richtung blickte, fing er an, in seinem Käfig herumzutanzen. Ich lächelte wehmütig, als der fünfte Finger seiner Hand, viermal so lang wie die übrigen, sich gerade streckte, während er durch den Käfig hüpfte. Ich zog die Schrauben des zweiten Rollschuhes fest. »Vati?« »Ja.« »Mutter sagt, du bist exzentrisch. Stimmt das?« »Ich werde mit ihr reden.« »Weißt du es denn nicht?« »Weißt du überhaupt, was das Wort bedeutet?« »Nein.« Ich hob sie vom Stuhl und stellte sie auf ihre Rollschuhe. »Sag deiner Mutter, daß ich mich rächen werde.« Etwas unbeholfen glitt sie zwischen den Reihen der Käfige entlang, aus denen Mutanten mit braunem Pelz und blauem Pelz, mit zuviel oder zuwenig Pelz,
mit enorm langen oder lächerlich kurzen Armen ihr aus Affen-, Hunde- oder Nagetiergesichtern neugierig nachstarrten. Vor der Labortür vollführte sie eine gefährlich aussehende Drehung und winkte mir noch einmal zu. Ich ging in den Nebenraum zurück, betrat den Metabolismusbeschleuniger und zog die Injektionskanülen, durch die ich sie intravenös ernährt hatte, aus meinen ersten Volplas. Dann bettete ich ihre schlaffen kleinen Körper auf eine Matratze im Labor. Es waren zwei Mädchen und ein Junge. Der Beschleuniger hatte sie in weniger als einem Monat zur Reife kommen lassen. Jetzt würde es noch einige Stunden dauern, bis sie sich zum ersten Male regen würden, lernen würden zu essen und zu spielen, vielleicht auch zu fliegen. Meine letzten Versuche waren insoweit von Erfolg gekrönt, als jetzt das Monströse verschwunden und an seine Stelle Schönheit getreten war. Das hier waren keine kleinen Ungeheuer mehr, die die radioaktive Bestrahlung zu verkrüppelten Wesen gemacht hatte. Das waren liebenswerte, in ihrer eigenen Art völlig perfekte kleine Geschöpfe. Meine Frau war an der Tür und drehte an dem Knopf, aber so, als hätte sie ihn nur zufällig berührt. »Mittagessen, Schatz.« »Komme sofort.« Auch sie versuchte, einen Blick in die Beschleunigungskammer zu werfen, so wie sie es die letzten fünfzehn Jahre immer wieder versucht hatte, aber ich enttäuschte sie, während ich vorsichtig hinausschlüpfte. »Nun komm schon, du alter Einsiedler. Ich habe
auf der Terrasse gedeckt.« »Unsere Tochter sagt, ich wäre exzentrisch. Möchte wissen, wie sie das herausgefunden hat.« »Von mir natürlich.« »Aber du liebst mich doch trotzdem, oder?« »Ich bete dich an.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um meinen Hals und gab mir einen Kuß. Als wir auf die Terrasse kamen, stellte das Hausmädchen gerade eine Schüssel mit warmen Hamburgern hin. Ich zwickte sie in die Seite und sagte: »Hallo, Baby.« Meine Frau bedachte mich mit einem fragenden Lächeln. »Was in aller Welt, ist in dich gefahren?« Das Mädchen machte, daß es ins Haus kam. Ich nahm mir einen Hamburger, gab Ketchup darauf und sagte: »Ich bin jetzt im gefährlichen Alter.« »Oh, du lieber Himmel!« Ich legte eine Zwiebelscheibe auf den Hamburger und schob alles zwischen zwei Weißbrotscheiben. Ich öffnete eine Flasche Bier und trank einen tüchtigen Schluck. Dann atmete ich tief aus und schaute dabei über die sanften Hügel und die Eichenwäldchen meiner Ranch bis dahin, wo der Pazifik schimmerte. Ich dachte: All das und dazu drei Volplas. Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und sagte laut: »Jawohl, das gefährliche Alter. Und, junge Frau, wie ich mich amüsieren werde!« Meine Frau seufzte. Ich trat zu ihr, legte den Arm mit der Bierflasche um ihre Schulter, faßte ihr mit der anderen Hand unters Kinn und hob es hoch. Die goldene Sonne tanzte in ihren blauen Augen. »Aber du bist die ein-
zige, der ich gefährlich werde.« Ich küßte sie, bis ich aus der einen Richtung Rollschuhe über die Terrasse kommen hörte und aus der anderen Richtung das Galoppieren eines Pferdes. »Du hast einen wunderbaren Mund«, flüsterte ich. »Danke.« Unser Sohn zügelte den neuen Palomino, den ich ihm zu seinem vierzehnten Geburtstag gekauft hatte, und schrie hinüber: »Laß die Dame los, du Wüstling, oder ich spicke dich mit blauen Bohnen.« Ich lachte und nahm meinen Teller und setzte mich wieder hin. Meine Frau brachte mir eine Schüssel mit Salat, und ich beschäftigte mich mit meinen Hamburgern und schaute dabei zu, wie der Junge sein Pferd absattelte und es mit einem Klaps auf die Weide trieb. Ich dachte: Bei Gott, wie der wohl schauen würde, wenn er wüßte, was ich im Laboratorium habe. Alle würden sie schauen! Der Junge brachte den Sattel angeschleppt und ließ ihn auf der Terrasse fallen. »Mutter, ich möchte schnell noch mal ins Wasser, bevor ich esse.« Er begann sich auszuziehen. »Du siehst allerdings auch aus, als ob dir ein bißchen Wasser nicht schaden könnte«, sagte sie. Unsere Tochter war dabei, sich die Rollschuhe von den Füßen zu zerren. »Und ich möchte auch.« »Na, schön. Aber dann geh erst und zieh dir deinen Badeanzug an.« »Oh, Mutter. Warum?« »Nun, Liebchen, weil ich es so möchte.« Der Junge war inzwischen schon über die Terrasse gesprintet und mit einem Hechtsprung im Wasser verschwunden. Mein Töchterchen eilte ins Haus, um
sich ihren Badeanzug zu holen. Ich schaute meine Frau an. »Was soll das bedeuten?« »Es wird nicht mehr lange dauern, und sie wird eine junge Frau sein.« »Ist das ein Grund, um einen Badeanzug anziehen zu müssen? Schau dir doch ihn an. Er ist schon ein junger Mann.« »Nun, wenn du das so siehst, dann müssen eben beide sich in Zukunft was überziehen.« Ich schluckte den letzten Bissen hinunter und trank mein Bier aus. »Das Leben in diesem Haus wird immer unerträglicher«, beschwerte ich mich. »Der Haushaltsvorstand darf das Mädchen nicht kneifen und die Kinder dürfen nicht mehr nackt herumlaufen.« Ich lehnte mich vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Aber das Essen und die Frau des Hauses sind doch noch am besten.« »Hör mal, was ist mit dir los? Seit du aus dem Labor gekommen bist, grinst du schon die ganze Zeit.« »Ich sagte dir doch –« »Ach, hör auf damit. Du warst in jedem Alter gefährlich.« Ich stand auf und stellte meinen Teller ab und beugte mich über sie. »Gleichwohl, ich werde mich königlich amüsieren.« Sie streckte die Hand aus und packte mich am Ohr. Dabei verengte sie ihre Augen und sah mich mit gespieltem Ernst an. »Ich hab was vor – einen Spaß«, beschwichtigte ich sie. »Ich bin dabei, der ganzen Welt einen gigantischen Streich zu spielen. So ein Gefühl wie jetzt habe ich bisher nur einmal gehabt, und da auch nur
schwach, aber ich habe schon immer –« Sie drehte mein Ohrläppchen und machte ihre Augen noch schmaler. »Was für ein Gefühl?« »Na, ja, als mein alter Herr sich sein erstes Vermögen aus ein paar Ölquellen in Oklahoma heraufpumpte, wohnten wir vorübergehend dort. Eines Tages fand ich in der Umgebung unserer Kleinstadt eine Stelle mit flachen Steinen, unter denen lauter junge Blindschleichen lagen. Ich steckte sie alle in einen Eimer und leerte ihn auf dem Bürgersteig vor dem Kino aus, gerade als eine Vorstellung zu Ende war. Das beste an der Sache war, daß keiner mich gesehen hatte. Die Leute konnten einfach nicht begreifen, wo plötzlich die vielen Schlangen herkamen. Ich merkte, was für ein Riesenspaß es sein kann, ruhig dabeizustehen und zuzuschauen, wie die Leute sich über etwas den Kopf zerbrechen, was man für sie vorbereitet hat.« Sie ließ mein Ohr wieder los. »Ist das die Art von Vergnügen, auf die du dich freust?« »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Hab ich nicht gesagt, du wärst exzentrisch?« Ich grinste. »Entschuldige, wenn ich gleich wieder verschwinde. Ich hab da etwas im Labor, das nicht warten kann.« Tatsache war, daß das, was im Labor auf mich wartete, meine kühnsten Hoffnungen übertraf. Ich hatte es eigentlich nur auf ein Flugsäugetier abgesehen gehabt, das vielleicht ein bißchen besser fliegen konnte als der Flughund Australiens, der zu den Beuteltieren gehört. Aber selbst in der Stammkolonie meiner Mutanten waren in den letzten Jahren ganz entschieden affenähnliche Erscheinungsformen auf-
getreten – ein langer Weg von den Ratten, mit denen ich begonnen hatte: Meine ersten Volplas jedoch waren ausgesprochen humanoid. Außerdem gelang es ihnen auch viel schneller als ihren Vorgängern, nach der dämmerschlafähnlichen Wachstumsperiode in dem Beschleuniger ihre Reflexe zu koordinieren. Als ich ins Labor zurückkam, krochen sie schon auf der Matratze herum, und das Männchen versuchte sogar, sich auf die Füße zu stellen. Er war etwas größer als die Mädchen, vielleicht siebzig Zentimeter groß. Abgesehen von Gesicht, Brust und Bauch waren die Körper an allen Stellen von einem weichen, fast goldenen Flaum bedeckt. Ihre Haut schimmerte rosig. Auf ihren Köpfen und auf den Schultern des Männchens wuchs ein dichter Schopf, so weich wie der Pelz eines Chinchillas. Ihre Gesichter wirkten verblüffend menschlich, wenn man davon absah, daß die Augen groß waren wie bei einem Nachttier. Der Schädelumfang stand im gleichen Verhältnis zum Körper wie bei einem Menschen. Wenn das Mädchen seine Arme ausbreitete, betrug die Spannweite an die 120 Zentimeter. Ich bog seine Arme auseinander und versuchte, die Spieren zu öffnen. Die Spieren waren nicht neu. Sie waren schon seit Jahren der ganzen Grundkolonie gemeinsam – das Ergebnis einer Mutationsserie, um den gleichen verlängerten Finger hervorzurufen, wie er sich zum ersten Male bei Nijinsky gezeigt hatte. Jetzt jedoch waren die Spieren nicht länger mehr wie richtige Finger in Gelenke unterteilt. In Ruhestellung lagen sie fest am Arm an und gingen am Handgelenk entlang fast bis zum Ellenbogen. Die kräftig entwickelten Mus-
keln des Handgelenks konnten sie herausschnappen lassen. Und plötzlich, während ich das Wesen neckte, geschah das. Jede Spiere verlängerte die Spannweite um ungefähr zwanzig Zentimeter. Die seitlichen Hautlappen, die bis dahin in Falten herabgehangen hatten, strafften sich jetzt zu zwei goldenen Gleitflügeln, die sich von der Spitze der Spiere bis zur Hüfte erstreckten und dann noch in einem zehn Zentimeter breiten Streifen entlang den Beinen bis zu den Füßen liefen, wo sie an der kleinen Zehe angewachsen waren. Das waren bei weitem die eindrucksvollsten Gleitflügel, die ich bis jetzt hatte züchten können. Und vielleicht nicht nur zum Gleiten, sondern sogar zum Segeln geeignet. Ich spürte, wie es mich überrieselte. Gegen vier Uhr nachmittags gab ich ihnen schon feste Nahrung zu essen. Sie hatten die Spieren zurückgeklappt und hielten mit ihren Fingern kleine Tassen wie richtige Menschen. Sie waren lebhaft, neugierig, verspielt und entschieden liebebedürftig. Ihre humanoiden Eigenschaften traten immer stärker zutage. Sie besaßen Hüfte und Gesäß. Die Schulter- und Brustmuskeln waren zwar überstark entwikkelt und standen in keinem Verhältnis zu dem Rest des Körpers, aber das war nur natürlich. Die Weibchen besaßen jedenfalls nur ein Paar Brüste. Kinn und Kinnbacken waren menschlich anstatt affenartig, und die Zähne entsprechend. Was das bedeutete, wurde mir im nächsten Moment klar. Ich kniete auf der Matratze und knuffte und streichelte das Männchen, so wie man es mit einem kleinen Hund tun würde, als eines der Weibchen mir verspielt auf den Rücken kletterte. Ich langte zurück
und setzte sie mir auf die Schulter. Ich strich ihr über den weichen Pelz auf ihrem Kopf und sagte: »Hallo, meine kleine Hübsche, hallo.« Das Männchen schaute mir zu und grinste. Dann sagte er: »Allo, allo.« Mir war noch ganz schwindlig von dem Gedanken, was für ein Spaß das werden würde, als ich die Küche betrat. Meine Frau sagte: »Guy und Em kommen zum Abendessen. Guys Rakete, die sie vorgestern gestartet haben, war ein Erfolg. Guy schwebt jetzt im siebten Himmel, und er möchte das natürlich feiern.« Ich ahmte den alten Nijinsky nach und vollführte einen Freudentanz. »Oh, wunderbar! Großartig. Der gute alte Guy! Jeder hat Erfolg. Wundervoll Großartig. Erfolg über Erfolg!« Ich tanzte gegen den Tisch und stieß einen Korb mit grünem Mais um. Das Mädchen verließ prompt die Küche, um sich an einen weniger gefährdeten Ort zu verziehen. Meine Frau starrte mich mit offenem Munde an. »Hast du den Laboralkohol probiert?« »Ich habe den Nektar der Götter probiert. Meine Hera, zu Recht bist du mit Zeus verheiratet. Ich habe jetzt meine eigenen kleinen Griechen, direkte Nachfahren des Ikarus.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. »Und mit einem weltlichen Martini wärst du nicht mehr zufrieden?« »Doch, ja. Aber erst noch einen göttlichen Kuß.« Ich nippte an meinem Martini, während ich faul in einem Gartenstuhl auf der Terrasse lag und zusah, wie der goldene Abend sich über die Hügel meiner
Ranch herniedersenkte. Ich träumte. Ich würde eine Reihe wohlklingender Wörter erfinden, ähnlich dem Wortschatz des Basic English, und sie ihnen als eigene Sprache lehren. Sie würden ihr eigenes Handwerkzeug haben und in kleinen Baumhütten hausen. Ich würde ihnen Legenden beibringen: daß sie von den Sternen gekommen wären, daß sie zuerst den roten Männern zugesehen hatten und dann den weißen. Aber immer aus der Ferne, ohne je selbst gesehen zu werden. Sobald sie fähig waren, für sich selbst zu sorgen, würde ich sie freilassen. Überall an der Küste entlang würden Volpla-Kolonien entstehen, bevor jemand Argwohn schöpfte. Und eines Tages dann würde jemand den ersten Volpla entdecken. Die Zeitungen würden sich überschlagen. Dann würde ein namhafter Zoologe kommen und eine Kolonie finden und sie beobachten. Er würde sagen: »Ich bin davon überzeugt, daß sie eine Sprache besitzen und intelligent sind.« Die Regierung würde alles ableugnen. Reporter würden »die Wahrheit enthüllen« und fragen, »Wo stammen diese Fremden her?« Widerwillig würde die Regierung dann nachgeben müssen. Sprachforscher würden kommen und die Sprache der Volplas lernen. Und die Legenden. Volpla-Weisheit würde Mode werden, ein Kult – und von allen Formen des Lächerlichen ist ein Kult, so meine ich, die allerlächerlichste. »Liebling, hörst du mir überhaupt zu?« fragte meine Frau mit Ungeduld in der Stimme. »Wie? Natürlich. Gewiß.«
»Du hast kein einziges Wort gehört. Du sitzt einfach da und grinst vor dich hin.« Sie stand auf und goß mir einen zweiten Martini ein. »Hier, vielleicht wirst du davon nüchterner.« Ich zeigte mit dem Finger. »Das sind vermutlich Guy und Em.« Ein Hubschrauber war hinter dem Hügel aufgetaucht und kam dicht über dem Eichenwald auf uns zu. Guy landete auf der Wiese, und wir gingen ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Ich half Em beim Aussteigen und drückte sie kurz an mich. Guy sprang herunter und fragte: »Habt ihr euren Fernseher an?« »Nein«, sagte ich, »sollten wir?« »Es ist fast Zeit für die Übertragung. Ich hatte schon Angst, wir würden nicht rechtzeitig da sein können.« »Was für eine Übertragung?« »Von der Rakete.« »Mein Gott, Schatz«, beklagte sich meine Frau, »ich habe dir doch von Guys Rakete erzählt. Die Zeitungen sind voll davon und Radio und Fernsehen natürlich auch.« Während wir zur Terrasse gingen, wandte sie sich zu Guy und Em. »Er ist heute schon den ganzen Tag über nicht ganz da. Glaubt, er sei Zeus.« Ich bat unseren Sohn, unser fahrbares Fernsehgerät auf die Terrasse zu bringen, und mixte Martinis für unsere Freunde. Dann setzten wir uns, tranken unsere Cocktails – die Kinder hatten Fruchtsaft – und sahen uns die Sendung an, die Guy eingestellt hatte. Irgend so ein Bursche von Cal Tech erläuterte den Aufbau einer Mehrstufenrakete.
Nach einer Weile stand ich auf und sagte: »Ich hab was im Labor, nach dem ich mal sehen möchte.« »He, warte doch noch«, sagte Guy. »Jetzt kommen gleich die Aufnahmen vom Start.« Meine Frau bedachte mich mit einem vernichtenden Blick; Sie wissen schon, was für einen. Ich setzte mich wieder hin. Dann stand ich auf und schenkte mir noch einen Martini ein und versorgte auch Em. Anschließend setzte ich mich wieder. Die Szene hatte gewechselt und zeigte jetzt einen Raketenstartplatz in der Wüste. Und da stand Guy nun selbst und erklärte uns, daß, wenn er diesen Knopf da niederdrücken würde, die Luke in der dritten Stufe der großen Rakete sich schließen und fünf Minuten später das Triebwerk zünden würde. Guy auf dem Schirm drückte den Knopf nieder, und ich hörte Guy neben mir einen kleinen Seufzer ausstoßen. Wir sahen, wie die Luke langsam zuschwang. »Du wirkst wirklich großartig«, sagte ich. »Wie ein richtiger Raumfahrer. Was willst du denn mit deiner Rakete treffen?« »Darling, sei bitte still.« »Ja, Papa. Hör doch auf. Immer deine faulen Witze.« Auf dem Fernsehschirm erklärte Guy mit ernstem Gesicht weitere Einzelheiten des Unternehmens, und plötzlich dämmerte es mir, daß beabsichtigt war, die Rakete auf dem Mond zu landen. Sie würde von dort senden. Hm, na ja – das konnte sich allerdings wirklich hören lassen! Ich begann mich wegen meines vorlauten Verhaltens direkt ein bißchen zu schämen, und ich lehnte mich hinüber und klopfte Guy aner-
kennend auf die Schulter. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihm von meinen Volplas zu erzählen. Aber nur einen Augenblick. Eine Feuerkugel erschien plötzlich unter dem Heck. Der massige Turm der Rakete begann sich wie durch ein Wunder langsam vom Erdboden zu lösen, schien einen Augenblick lang auf einer Flammensäule zu balancieren und war weg. Die Szene wechselte wieder in das Studio, wo ein Ansager erklärte, daß der gerade gezeigte Film schon vorgestern aufgenommen worden war. Inzwischen war die dritte Stufe der Rakete am Südufer des Mare Serenitatis gelandet. Er zeigte uns die Stelle auf einer großen Mondkarte, die hinter ihm hing. »Von hier aus wird der unter dem Namen RaketenCharlie bekannte automatische Sender mehrere Monate lang wissenschaftliche Meßergebnisse zur Erde funken. Aber nun, meine Damen und Herren, Raketen-Charlies Botschaft an alle Erdbewohner. Hier kommt Raketen-Charlie!« Eine Uhr erschien auf dem Schirm, und einige Sekunden lang herrschte angespanntes Schweigen. Ich hörte, wie mein Junge flüsterte: »Onkel Guy, das ist wirklich toller als toll!« Meine Frau sagte: »Em, ich glaube, ich sterbe vor Aufregung.« Plötzlich stand eine Mondlandschaft auf dem Schirm. Sie sah genauso aus wie auf den Bildern, die ich bis jetzt gesehen hatte. Eine mechanische Stimme kam aus dem Lautsprecher. »Halloh, Erde! Hier ist Raketen-Charlie im Mare Sereniatis. Zuerst werde ich Ihnen fünfzehn Sekunden lang das Menelaus-Gebirge zeigen, dann fünf Se-
kunden die Erde.« Die Kamera begann zu schwenken, und die Berge marschierten vorbei – nackter Fels, unvorstellbar wild. Gegen Ende der fünfzehn Sekunden tauchte der Schatten der dritten Stufe im Vordergrund auf. Dann vollführte die Kamera abrupt eine schnelle Schwenkung, stellte sich scharf ein, und wir schauten auf die Erde. Zu dieser Zeit befand sich der Mond nicht über Kalifornien. Es war Afrika und Europa, auf die wir hinabblickten. »Und jetzt verabschiedet sich Raketen-Charlie von der Erde. Leb wohl, Erde!« Der Schirm erlosch, und auf unserer Terrasse war die Hölle los. Der alte Guy war so glücklich, daß er sich die Augen wischen mußte. Die Frauen küßten ihn und herzten ihn. Und alle schrien durcheinander. Ich benützte den Metabolismusbeschleuniger, um die Trächtigkeitsperiode der Volplas auf eine Woche zu reduzieren. Dann wieder, um die Jungen in einem Monat zur Reife zu bringen. Ich hatte von Anfang an Glück. Purer Zufall wollte es, daß die ersten Kinder größtenteils Weibchen waren, was der Entwicklung der Dinge natürlich sehr förderlich war. Im nächsten Frühjahr hatte ich eine Kolonie von über einhundert Volplas, und ich verzichtete im folgenden darauf, den Beschleuniger zu benützen. Von nun an sollten sie ihre Babies auf normale Art bekommen und aufziehen. Ich hatte für sie eine Sprache erfunden, wozu ich als Modell Basic English herangezogen hatte, und hatte sie während der Monate, in denen die Weibchen im Beschleuniger lagen, den Männchen beigebracht.
Sie sprachen mit weichen hohen Stimmen, und die achthundert Wörter schienen ihnen keine Schwierigkeiten zu machen. Meine Frau und die Kinder gingen auf eine Woche nach Santa Barbara, und ich nahm die Gelegenheit wahr, um das älteste der Männchen und seine zwei Frauen ins Freie zu schmuggeln. Ich setzte sie in meinen Jeep und fuhr sie in ein abgelegenes Tal, das ungefähr anderthalb Kilometer vom Haus entfernt lag. Alle drei starrten mit großen Augen um sich und plapperten aufgeregt, und ich mußte ihnen alle die Gegenstände zeigen, von denen sie bis jetzt nur die Wörter kannten, ohne sie je gesehen zu haben – wie Baum, Strauch, Stein oder Himmel. Jetzt, wo ich sie draußen im Freien hatte, konnte ich erst so recht würdigen, was für reizende kleine Geschöpfe sie doch waren. Sie paßten einfach ideal in die kalifornische Landschaft. Gelegentlich, wenn sie ihre Arme ausbreiteten, klappten die Spieren auseinander und ich konnte die wundervollen Gleitflügel bewundern. Fast zwei Stunden vergingen, bevor das Männchen sich in die Luft wagte. Seine verspielte Neugier war einen Augenblick vergessen, während er hinter einem der Mädchen herjagte. Wie gewöhnlich wollte sie sich gern fangen lassen und blieb in einer kleinen Mulde plötzlich stehen. Vermutlich beabsichtigte er, sich auf sie zu stürzen. Aber als er seine Arme ausbreitete, öffneten sich die Spieren, und seine goldenen Flügel hoben ihn die Luft. In einem überwältigend eleganten Gleitflug segelte er über sie hinweg. Dann stieg er höher und
hing einen Augenblick lang fast zehn Meter über dem Boden bewegungslos in der leichten Luftströmung. Er wandte mir ein klägliches Gesicht zu, kippte nach vorn und flog geradewegs auf einen Dornbusch zu. Er bremste instinktiv, wirbelte herum und stürzte mit einem dumpfen Aufschlag ins Gras. Die zwei Mädchen waren schneller als ich und waren schon dabei, ihn tröstend zu streicheln, als ich hinzutrat. Plötzlich lachte er auf. Danach wurde der Ausflug zum Flugtag. Sie lernten schnell und gründlich. Sie waren natürlich keine richtigen Flieger. Gleiter, ja, und Schweber. Es dauerte nicht lange, und sie stiegen auf die Bäume und warfen sich in die Luft, und die Strecken, die sie zurücklegten, wurden immer länger – dreißig, vierzig, sechzig Meter. Sie kurvten, drehten und spiralten und landeten schließlich mit eleganter Leichtigkeit. Ich lachte laut vor Freude. Wartet nur, bis das erste Paar vor den Sheriff gebracht wird! Wartet nur, bis die Reporter des Chronicle herauskommen, um Zeuge dieser Spiele zu werden! Ich konnte begreifen, daß die Volplas keine Lust verspürten, ins Labor zurückzukehren. Ein Bach plätscherte in der Nähe vorbei, und an einer Stelle bildete er einen kleinen Teich. Sie sprangen hinein und spritzten herum und schrubbten sich gegenseitig ab. Dann stiegen sie wieder heraus und legten sich mit ausgebreiteten Flughäuten zum Trocknen hin. Ich betrachtete sie nun voller Rührung und überlegte dabei, ob es wirklich ratsam wäre, sie hier draußen zu lassen oder noch nicht. Nun, eines Tages würde es sowieso so weit sein. Keine noch so gutgemeinten
Ratschläge würden ihnen mehr helfen, nur noch eigene Erfahrungen. Ich rief das Männchen zu mir. Er kam und kauerte sich vor mich hin. Seine Ellenbogen ruhten auf dem Erdboden, seine Hände waren über der Brust gekreuzt. Er sprach zuerst. »Bevor der rote Mann kam, haben wir da gelebt?« »Ihr habt an Orten wie diesen gelebt – überall entlang der Berge. Jetzt seid ihr nur noch wenige. Weil ihr bei mir gewohnt habt, könnt ihr euch natürlich nicht mehr an das Leben im Freien erinnern.« »Wir können es wieder lernen. Wir möchten hierbleiben.« Der Ausdruck auf seinem kleinen Gesicht war so ernst und gedankenschwer, daß ich unwillkürlich die Hand ausstreckte und ihm beruhigend über den Kopf strich. Wir beide hörten flatternde Flügelschläge über unseren Köpfen. Zwei Tauben flogen über den Bach und landeten in einem Eichenbaum auf dem jenseitigen Hügel. Ich zeigte mit dem Finger. »Dort ist eure Nahrung, wenn ihr sie fangen könnt.« Er schaute mich fragend an. »Wie?« »Ich glaube nicht, daß du sie auf dem Baum fangen kannst. Du mußt versuchen, über sie zu kommen und sie zu erwischen, wenn sie wegfliegen wollen. Glaubst du, daß du so hoch steigen kannst?« Er schaute sich langsam um und prüfte den Wind, der in den Zweigen der Bäume spielte und in dem Gras der Hügel wühlte. Er machte den Eindruck, als wäre er schon tausend Jahre geflogen und könnte aus einem reichen Schatz von Erfahrungen schöpfen. »Ich kann hinauf. Ich kann mich auch eine Weile oben halten. Wie lange werden sie in dem Baum bleiben?«
»Vermutlich nicht lange. Behalte den Baum im Auge, für den Fall, daß sie wegfliegen, während du noch Höhe gewinnst.« Er rannte auf eine nahestehende Eiche zu und kletterte hinauf. Oben warf er sich in die Luft und erwischte einen warmen Aufwind an der Hügelseite. Fast augenblicklich stand er schon sechzig Meter hoch. Er begann zu kreuzen und sich in unsere Richtung vorzuarbeiten. Die zwei Mädchen beobachteten ihn aufmerksam. Sie kamen zu mir herüber, wobei sie ab und zu stehen blieben und zu ihm hinaufschauten. Als sie dann neben mir standen, waren sie mucksmäuschenstill. Sie beschatteten ihre Augen mit ihren kleinen Händen und folgten ihm mit ihren Blicken, als er in fast siebzig Meter Höhe über unseren Köpfen vorbeizog. Eines der Mädchen streckte ihre Hand aus und packte mich am Ärmel, ohne allerdings ein einziges Mal die Augen von ihm abzuwenden. Er überquerte den Bach und hing dann bewegungslos über dem Kamm des Hügels, wo die Eiche mit den Tauben stand. Ich konnte ihr Gurren hören. Dann fiel mir ein, daß sie möglicherweise die Sicherheit ihres Baumes nicht aufgeben würden, solange die raubvogelhafte Silhouette des Volplas den Himmel verdunkelte. Ich löste die Hand des Mädchens von meinem Ärmel und sagte zu ihr, wobei ich meine Worte mit Gesten unterstrich: »Er will einen Vogel fangen. Der Vogel ist in diesem Baum. Du kannst den Vogel aufscheuchen, so daß er ihn fangen kann. Schau her.« Ich stand auf und suchte mir einen Stock. »Kannst du das machen?«
Ich warf den Holzknüppel in einen Baum. Dann suchte ich ihr einen anderen Stecken. Sie warf ihn geschickter, als ich erwartet hatte. »Gut, meine kleine Hübsche. Jetzt lauf über den Bach zu dem Baum dort und wirf einen Stecken hinauf.« Sie kletterte auf den Baum, der neben uns stand, glitt im Gleitflug über den Bach und ließ sich dann den Hügel hinauftragen bis zu dem Baum, wo die Tauben saßen. Die Vögel flatterten auf und stiegen mit kräftigen Flügelschlägen in die Höhe. Ich schaute zurück, ebenso das Mädchen, das noch an meiner Seite stand. Das Männchen in der Luft faltete seine Flughäute zusammen und ließ sich fallen. Er wurde zu einem goldenen Blitz, der über den Himmel zuckte. Die Tauben hatten die Gefahr entdeckt. Sie stiegen nicht mehr, sondern versuchten zu fliehen. Ich sah, wie sich eine der Flughäute des Volplas ein wenig öffnete. Er schwenkte in die neue Richtung ein und stürzte wie ein Pfeil in die Tiefe. Die Tauben trennten sich und begannen im Zickzack das Tal entlang zu fliegen. Der Volpla tat etwas, was ich nicht erwartet hatte – er öffnete seine Flügel und schoß unter dem einen seiner Opfer hindurch und vor ihm wieder hinauf. Seine Flughäute schlossen sich einen Augenblick, und als sie sich wieder öffneten, fiel die Taube wie ein Stein zu Boden. Der Volpla landete daneben. Das Volplamädchen neben mir hüpfte von einem Fuß auf den anderen und stieß dabei schrille Freu-
denschreie aus. Das zweite Mädchen, das die Vögel aufgescheucht hatte, kam im Gleitflug zu uns herüber und plapperte ebenfalls aufgeregt. Sie bereiteten ihm den Empfang eines Helden. Er war gezwungen, zu uns zurückzulaufen – für einen Flug war eine solche Last zu schwer. Die Mädchen flogen ihm entgegen. Ihre verschwenderischen Gunstbezeigungen hielten ihn etwas auf, aber schließlich trat er doch zu mir wie jeder andere erfolgreiche Jäger. Sie waren ganz außer sich über den Vogel. Sie untersuchten ihn mit spitzen Fingern, bewunderten seine Federn und tanzten um ihn herum. Endlich wandte sich das Männchen an mich. »Wir essen das?« Ich lachte und nahm seine winzige, vierfingrige Hand in die meine und zog ihn mit mir. An einer sandigen Stelle unter einem großen Baum, dessen Krone sich über den Bach neigte, machte ich für sie ein kleines Feuer. Das war ein neues Wunder, aber zuerst wollte ich ihnen beibringen, wie sie den Vogel auszunehmen hatten. Ich zeigte ihnen, wie man ihn rupft und dann über dem Feuer brät. Als ich sie endlich verließ, war es schon dunkel. Ich schärfte ihnen ein, Wache zu halten, dafür zu sorgen, daß das Feuer nicht ausging, und sich in die Bäume zu flüchten, wenn irgend jemand kommen sollte. Das Männchen begleitete mich noch ein Stück, als ich ging. Ich sagte noch einmal: »Versprich mir, daß ihr diesen Ort nicht verlaßt, bevor ich es euch erlaube.« »Es gefällt uns hier. Wir werden bleiben. Morgen bringst du noch mehr von uns?«
»Ja. Ich werde noch viel mehr von euch bringen, wenn du dafür sorgst, daß sie alle hier im Wald bleiben.« »Ich verspreche es.« Er blickte empor zum Nachthimmel, und im Lichtschein des Feuers sah ich die Verwunderung in seinen Augen. »Du sagst, wir kamen von dort?« »Die Alten deiner Rasse haben es mir so erzählt. Dir nicht?« »Ich kann mich an keine Alten erinnern. Sag du es mir.« »Die Alten erzählten mir, daß ihr lange vor den roten Männern in Schiffen von den Sternen kamt.« Ich mußte heimlich grinsen, als ich mir die Zeitungsberichte vorstellte, die in einem Jahr, vielleicht sogar in noch kürzerer Zeit, darüber geschrieben werden würden. Eine lange Zeit schaute er zum Himmel empor. »Diese Lichter sind die Sterne?« »Ja. Das ist richtig.« »Welcher Stern?« Ich musterte den Himmel und deutete dann über einen Baum. »Von der Venus.« Dann fiel mir siedendheiß ein, daß ich, indem ich ihm den menschlichen Namen für diesen Stern genannt hatte, einen Bock geschossen hatte. »In eurer Sprache – Pohtah.« Er schaute den Planeten lange an und murmelte: »Venus. Pohtah.« Im Laufe der nächsten Woche schaffte ich alle meine Volplas in das Eichenwäldchen. Insgesamt waren es einhundertundsieben – Männer, Frauen und Kinder. Ohne daß ich mich hätte einmischen müssen, bildeten
sie kleine Gruppen – vier bis acht Pärchen mit den dazugehörigen Kindern der Weibchen. Die Gruppe bekam auf diese Weise den Charakter einer Großfamilie, und die Männchen sorgten und kümmerten sich um alle Kinder, gleichgültig wer nun tatsächlich der Vater war. Am Ende dieser Woche hatten sich die einzelnen Familien über das ganze Gelände der Ranch verteilt. Sie hatten eine neue Delikatesse entdeckt – Sperlinge –, und sie machten auf sie Jagd, wenn sie sich nachts zum Schlafen auf den Bäumen niederließen. Ich hatte den Volplas die Anwendung des Feuerbohrers beigebracht, und sie machten von den vorhandenen Gräsern, Ranken und Büschen Gebrauch, um daraus erstaunlich gut konstruierte Baumhäuser zu bauen, in denen die Jungen und manchmal auch die Erwachsenen den Mittag und die Nacht verbrachten. An dem Nachmittag, an dem meine Familie zurückkehrte, war eine Gruppe Arbeiter dabei, das Labor niederzureißen. Die experimentellen Mutanten waren betäubt und getötet worden, und der Metabolismusbeschleuniger und alle anderen Laboreinrichtungen wurden abmontiert und auseinandergenommen. Ich wollte nichts in der Nähe haben, das das plötzliche Auftauchen der Volplas mit mir und der Ranch in Verbindung bringen könnte. Ich war mir inzwischen klar darüber geworden, daß nur wenige weitere Wochen vergehen würden, bis die Volplas sich selbst erhalten konnten und die Anfänge einer eigenen Kultur entwickelt haben würden. Dann stand ihnen nichts mehr im Wege, wenn sie die Ranch verlassen wollten. Meine Frau stieg aus dem Auto, schaute sich um
und musterte erstaunt die Arbeiter, die geschäftig hin- und herliefen, und sagte: »Was in aller Welt geht hier vor?« »Ich habe meine Arbeiten abgeschlossen, und ich brauche die Gebäude jetzt nicht länger. Ich werde über die Ergebnisse eine wissenschaftliche Arbeit schreiben.« Meine Frau taxierte mich mit einem Blick und schüttelte den Kopf. »Ich glaube bald, du hast tatsächlich die Absicht. Es wäre deine erste.« Mein Sohn fragte: »Und was hast du mit den Tieren gemacht?« »Habe sie der Universität überlassen«, log ich. »Nun«, sagte er zu ihr, »du kannst nicht sagen, daß Papa kein Mann schneller Entschlüsse ist.« Vierundzwanzig Stunden später gab es nichts mehr, was auf meine Tierexperimente hätte schließen lassen. Außer natürlich der Tatsache, daß die Wälder voller Volplas steckten. Nachts, wenn ich auf der Terrasse saß, konnte ich sie in der Ferne hören. Während sie über mir durch das Dunkel segelten, plapperten sie und lachten, und manchmal stöhnten sie auch aus wilder Liebeslust. Eines Nachts schwebten einige von ihnen langsam über die helle Scheibe des Vollmondes, aber ich war der einzige, der es bemerkte. Täglich stattete ich dem ursprünglichen Lagerplatz einen Besuch ab, um mit dem ältesten der Männchen zu sprechen, der sich offensichtlich als Oberhaupt aller Volplafamilien etabliert und durchgesetzt hatte. Er versicherte mir, daß die Volplas auf dem Gebiet der Ranch bleiben würden, beklagte sich aber, daß die Vögel immer rarer wurden. Ansonsten ließ sich alles
zufriedenstellend an. Die Männchen waren jetzt mit kleinen Speeren mit Steinspitzen und gefiederten Schäften ausgerüstet, die sie im Fluge warfen. Sie benützten sie in der Nacht, um schlafende Sperlinge aufzuspießen, und am Tage gegen das größere Wild – die Kaninchen. Die Frauen trugen die Federn des Eichelhähers in dem Pelz ihres Kopfes, die Männer Federbüsche aus Taubenfedern und einige auch kleine Hemden aus Kaninchenfell. Ich frischte mein Wissen aus Büchern auf und zeigte ihnen, wie sie die Kaninchen und Eichhörnchenfelle gerben konnten. Ihre Baumhäuser wurden immer sorgfältiger ausgestattet. Wände und Fußböden waren aus Ranken und dünnen Zweigen geflochten, die Dächer mit Gras gedeckt. Sie waren meinem Vorschlag gefolgt und hatten sie so gut getarnt, daß sie von unten kaum entdeckt werden konnten. Die kleinen Geschöpfe machten mir mehr und mehr Spaß. Stundenlang konnte ich den Erwachsenen zusehen, wie sie mit ihren Kindern spielten und ihnen das Fliegen beibrachten. Ganze Nachmittage verbrachte ich damit, zuzuschauen, wie sie ihre Hütten bauten. Eines Tages fragte mich meine Frau: »Nun, wie geht es unserem großen Jäger, der wieder mal mit leeren Händen aus dem Wald zurückkehrt?« »Oh, wunderbar. Ich hab mich mit der heimischen Fauna unterhalten.« »Wie unsere Tochter.« »Was heißt das?« »Sie hat zwei davon oben in ihrem Zimmer.« »Zwei was?« »Ich weiß nicht. Wie nennst du sie denn?«
Ich nahm drei Stufen auf einmal und stürzte in das Zimmer meiner Tochter. Sie saß auf ihrem Bett und las zwei Volplas aus einem Buch vor. Einer der Volplas grinste mir zu und sagte: »Hallo, König Arthur.« »Was geht hier vor?« verlangte ich zu wissen. »Nichts, Vati. Wir lesen nur wie sonst auch.« »Wie sonst auch? Wie lange geht das schon so?« »Ach, Wochen und Wochen. Wie lange ist es her, seit du mich zum erstenmal besucht hast, Fussel?« Der unhöfliche Volpla, der mich mit König Arthur angesprochen hatte, grinste ihr zu und rechnete nach. »Oh, Wochen und Wochen.« »Aber du bringst ihnen ja bei, Englisch zu lesen?« »Natürlich. Sie sind gute Schüler und so dankbar. Vati, du schickst sie doch nicht fort, oder? Wir lieben uns so, nicht wahr?« Die beiden Volplas nickten eifrig. Sie wandte sich wieder zu mir. »Vati, wußtest du, daß sie fliegen können? Sie fliegen geradewegs aus dem Fenster in den Himmel hinein.« »So, wirklich?« sagte ich gereizt. Ich warf den beiden Volplas einen frostigen Blick zu. »Ich werde mit eurem Häuptling sprechen.« Wieder unten im Wohnzimmer, machte ich meiner Frau heftige Vorwürfe. »Warum hast du mir nie etwas von dieser Sache gesagt. Wie konntest du so etwas erlauben, ohne es mit mir zu besprechen?« Meine Frau schaute mich mit einem Ausdruck an, den ich – Gottlob! – nicht oft zu sehen bekomme. »Jetzt hör mir mal gut zu, Mister. Dein ganzes Leben ist für uns ein einziges Geheimnis. Warum darf dann
deine Tochter nicht auch einmal ein kleines Geheimnis haben?« Sie trat ganz nahe an mich heran, und ihre blauen Augen schleuderten Blitze. »Tatsache ist, daß es schon unrecht von mir war, es dir überhaupt zu sagen. Ich versprach ihr, es niemandem zu verraten. Du siehst ja selbst, was passiert ist, nachdem ich es dir gesagt habe. Du rennst hier herum wie ein Tollwütiger, nur weil ein kleines Mädchen ein Geheimnis hat.« »Ein schönes Geheimnis!« schrie ich. »Ist dir noch nie die Idee gekommen, daß es gefährlich sein könnte? Diese Biester sind geschlechtlich überreizt und –« Ich stockte und verfiel in ein verlegenes Schweigen, während sie mich mit dem niederträchtigsten Lächeln seit den Tagen der Malatestas bedachte. »Wie kommt es, daß jetzt ausgerechnet du den Palast-Eunuchen spielst? Das sind süße, liebenswerte kleine Geschöpfe ohne einen einzigen bösen Gedanken unter ihrem Pelzschopf. Aber glaube nur nicht, daß ich nicht weiß, was hier vor sich geht. Du selber hast sie geschaffen. Wenn sie also irgendwelche schmutzigen Gedanken haben sollten, dann weiß ich, wo die herstammen.« Ich stürmte aus dem Haus, holte den Jeep aus dem Hof und preschte durch den Wald. Ich traf den Häuptling zu Hause an. Er saß faul an den Baum gelehnt, auf dessen Ästen seine Hütte stand. Vor ihm brannte ein kleines Feuer, und eine seiner Frauen briet einen Sperling. Er begrüßte mich in der Volplasprache. »Weißt du eigentlich«, platzte ich wütend heraus, »daß zwei deiner Volplas sich im Zimmer meiner Tochter aufhalten?«
»Aber gewiß«, antwortete er gelassen. »Sie gehen dort jeden Tag hin. War das unrecht von ihnen?« »Sie lehrt ihnen die Sprache der Menschen.« »Du hast uns gesagt, daß einige der Menschen vielleicht Feinde sein könnten. Wir möchten ihre Sprache lernen, um uns besser schützen zu können.« Er langte mit einer Hand hinter den Baum und zog – kaum wollte ich meinen Augen trauen – eine Ausgabe des San Francisco Chronicle aus ihrem Versteck. Er hielt sie mir entschuldigend entgegen. »Wir haben sie aus dem Briefkasten vor deinem Haus genommen.« Er breitete die Zeitung am Boden aus. Ich sah am Datum, daß es die gestrige Ausgabe war. Er sagte stolz: »Von den zweien, die dein Haus besuchen, habe ich die Menschensprache gelernt. Ich kann das meiste lesen, was hier steht.« Ich stand stocksteif da und starrte ihn mit offenem Mund an. Wie konnte ich die Lage zu meinen Gunsten ändern, damit der Spaß mit den Volplas nicht ins Wasser fiel? Klang es wahrscheinlich, daß die Volplas, indem sie die Menschen aus der Ferne beobachteten und belauschten, ihre Sprache hätten lernen können? Oder hatte sie ihnen ein menschlicher Freund beigebracht? Das war es – ich mußte eben auf meine Anonymität verzichten. Meine Familie und ich hatten auf unserer Ranch eine Volplafamilie gefunden und ihnen Englisch beigebracht. Das klang einleuchtend. Schließlich war es ja auch die Wahrheit. Der Volpla deutete mit seinem langen dünnen Arm auf die Zeitung. »Die Menschen sind gefährlich. Sie werden mit ihren Gewehren auf uns schießen, wenn wir hier weggehen.«
Ich beeilte mich, ihm das auszureden. »Nichts dergleichen wird geschehen. Wenn die Menschen euch erst einmal kennengelernt haben, werden sie euch in Ruhe lassen.« Ich sagte das mit Nachdruck in der Stimme, aber zum ersten Male kam mir der Gedanke, daß es möglicherweise für die Volplas gar nicht so spaßig sein würde, wie ich es mir vorgestellt hatte. Trotzdem fuhr ich fort: »Du mußt die einzelnen Familien unverzüglich über das Land verteilen. Du bleibst mit deiner Familie hier, damit wir in Verbindung bleiben können, aber die anderen Familien mußt du wegschicken.« Er schüttelte den Kopf. »Wir können hier nicht weg. Im Wald sind wir sicher. Die Menschen würden auf uns schießen.« Dann stand er auf und schaute mich prüfend mit seinen großen Augen an. »Vielleicht bist du gar kein guter Freund. Vielleicht hast du uns belogen. Warum willst du, daß wir unser sicheres Versteck verlassen?« »Ihr werdet glücklicher sein. Ihr werdet mehr Wild finden.« »Wir werden Menschen finden. Einer hat schon auf uns geschossen. Wir haben ihm vergeben und sind jetzt Freunde. Aber einer von uns ist tot.« »Ihr habt noch einen anderen Menschen zum Freund?« fragte ich wie vor den Kopf geschlagen. Er nickte und zeigte das Tal entlang. »Er ist dort oben bei einer anderen Familie.« »Gehen wir hin.« Er hatte den Vorteil, gelegentlich ein paar Meter im Geleitflug zurücklegen zu können. Trotzdem konnte der Häuptling nicht mit mir Schritt halten. Im Trab
legte ich die Strecke zurück und hatte bald einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen. Mein keuchender Atem war zu gleichen Teilen der Anstrengung als auch meiner Angst zuzuschreiben, was für ein Fremder das wohl sein würde und wie ich mit ihm fertig werden könnte. Ich kam um eine Windung des Baches, und dort saß mein Sohn neben einem Kochfeuer. Er spielte mit einem Volplababy und einer der Erwachsenen stand daneben und unterhielt sich mit ihm auf Englisch. Während ich näherkam, warf mein Sohn das Baby in die Luft. Die winzigen Fluthäute öffneten sich, und das Baby schwebte herunter in seine wartenden Hände. Er sagte zu dem Volpla neben ihm: »Nein, ich bin nicht davon überzeugt, daß ihr von den Sternen kamt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, daß mein Vater –« Ich schrie hinter ihm: »Was fällt dir ein, ihnen das zu sagen?« Der männliche Volpla sprang fast einen halben Meter in die Höhe. Mein Sohn wandte langsam seinen Kopf und blickte mich an. Dann reichte er dem Volpla das Baby und stand auf. »Du hast hier überhaupt nichts zu suchen!« Ich kochte vor Wut. Mit einem einzigen kleinen Zweifel hatte er alle meine Volplalegenden zerstört. Er wischte ein paar Grashalme von seiner Hose und richtete sich zu voller Höhe auf. Unter seinem Blick verflog mein Ärger, und die Knie wurden mir weich. »Vater, ich habe gestern eines dieser kleinen Geschöpfe getötet. Ich dachte, es wäre ein Falke, und ich schoß nach ihm. Es wäre nie dazu gekommen, wenn du mir von ihnen erzählt hättest.«
Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ich starrte auf das Gras zu meinen Füßen, und mein Gesicht wurde heiß. »Der Häuptling sagte mir, du willst, daß sie in Kürze die Ranch verlassen. Du glaubst sicher, es wird ein großer Spaß werden, nicht wahr?« Ich hörte, wie der Häuptling näherkam und schweigend hinter mir stehen blieb. Mein Sohn sagte leise: »Ich glaub nicht, daß es so lustig werden wird. Ich hab den einen schreien gehört, als ich ihn getroffen habe.« Dicke schwarze Ameisen krochen durch das Gras. Von irgendwo kam ein fernes Rauschen. Ich hob den Kopf und blickte ihn an. »Junge, komm, wir fahren zurück. Auf dem Rückweg können wir alles in Ruhe besprechen.« »Ich laufe lieber.« Er winkte dem Volpla, mit dem er sich unterhalten hatte, und dem Häuptling flüchtig zu. Dann sprang er über den Bach und verschwand zwischen den Bäumen des nahen Gehölzes. Der Volpla mit dem Baby starrte mich an. Weiter oben im Tal krächzte eine Krähe. Ohne den Häuptling anzusehen, wandte ich mich um und ging zurück zu meinem Jeep. Zu Hause öffnete ich eine Flasche Bier und setzte mich auf die Terrasse, um auf meinen Sohn zu warten. Meine Frau kam mit ein paar Schnittblumen aus dem Garten, aber sie sagte kein Wort. Sie klappte die Schere auf und zu, während sie vorbeiging. Ein Volpla flog über die Terrasse und landete auf der Fensterbank des Schlafzimmerfensters meiner Tochter. Er stand nur eine kurze Weile da und flog dann wieder weg. Die zwei Volplas, die ich etwas
früher am Nachmittag bei meiner Tochter gesehen hatte, tauchten im Fenster auf und folgten ihm. Ich sah ihnen mit leichtem Unbehagen nach, während sie nach Osten einbogen und mühelos an Höhe gewannen. Als ich schließlich einen Schluck aus der Flasche nahm, war das Bier schon warm. Ich stellte die Flasche hin. Kurz darauf kam meine Tochter auf die Terrasse gelaufen. »Vati, meine Volplas sind weg. Sie sagten ›Auf Wiedersehen‹, und wir waren noch nicht mal mit der Fernsehsendung fertig. Sie sagten, sie würden nicht wiederkommen. Hast du sie weggeschickt?« »Nein, ich nicht.« Sie starrte mich mit heißen Augen an. Ihre Unterlippe schob sich vor und zitterte. »Vati, du hast es doch getan.« Sie rannte schluchzend ins Haus. Mein Gott! Während eines einzigen Nachmittags hatte ich es fertiggebracht, ein PalastEunuche, ein Mörder und ein Lügner zu werden! Der Nachmittag war schon fast vorüber, als ich endlich meinen Sohn heimkommen hörte. Ich rief ihn, und er kam und stellte sich vor mich. Ich stand auf. »Junge, ich kann dir nicht sagen, wie leid mir das alles tut. Es war mein Fehler, nicht deiner. Ich kann nur hoffen, daß du den Schock bald vergessen wirst. Ich verstehe selber nicht, warum ich nicht daran gedacht habe, daß so etwas passieren könnte. Ich war so verbohrt in den Gedanken, die ganze Welt hinters Licht zu führen, daß ich –« Ich brach ab. Was konnte ich noch sagen? »Wirst du sie also von der Ranch wegschicken?« fragte er.
Ich war entsetzt. »Nach allem, was passiert ist?« »Himmel, aber was wirst du denn nun wirklich mit ihnen anfangen, Papa.« »Ich habe mir darüber schon den Kopf zerbrochen. Ich bin mir noch nicht schlüssig geworden, was für sie wohl am besten wäre.« Ich schaute auf meine Uhr. »Komm, wir fahren noch mal zurück und sprechen mit dem Häuptling.« Seine Augen leuchteten auf, und er schlug mir auf die Schulter – von Mann zu Mann. Wir liefen los, sprangen in den Jeep und fuhren zurück ins Tal. Wir sprachen kaum ein Wort, während wir zwischen den dunkelnden Bäumen des Tales hielten. Das Unbehagen, das ich gefühlt hatte, als ich die drei Volplas so zielbewußt nach Osten fliegen sah, steigerte sich immer mehr. Wir erreichten das Lager des Häuptlings, konnten aber keine Volplas entdecken. Das Feuer war heruntergebrannt und schwelte nur noch. Ich rief in der Volpla-Sprache, aber niemand antwortete. Wir gingen von Lager zu Lager und fanden überall erloschene Feuer. Wir kletterten in ihre Baumhütten. Sie waren leer. Mir war hundeelend vor Angst. Ich rief und rief, bis ich ganz heiser war. Schließlich legte mein Sohn eine Hand auf meinen Arm. »Was wirst du nun tun, Papa?« Ich stand da in diesem schrecklich stillen Wald und zitterte. »Ich werde die Polizei informieren müssen und die Zeitungen! Wir müssen alle warnen.« »Wo, glaubst du, sind sie hin?« Ich schaute nach Osten, wo die Sterne zwischen dem breiten Gebirgspaß langsam aufgingen. Sie schimmerten wie eine Schale voll Glühwürmchen.
»Die letzten drei, die ich sah, flogen in diese Richtung.« Wir waren wohl Stunden weg gewesen. Als ich auf die erleuchtete Terrasse trat, sah ich unten auf der Wiese die Schattengestalt eines Hubschraubers. Dann entdeckte ich Guy in einem Stuhl. Er hielt den Kopf zwischen den Händen. Em sagte gerade zu meiner Frau: »Er war nicht mehr bei sich, und ich konnte überhaupt nichts machen. Ich mußte ihn einfach von dort wegbekommen, und ich dachte, ihr würdet schon nichts dagegen haben, wenn wir eine Weile bei euch bleiben würden, bis sie sich geeinigt haben, was gemacht werden soll.« Ich trat näher und sagte: »Hallo, Guy. Was ist denn los?« Er hob seinen Kopf und stand dann auf und gab mir die Hand. »Es ist furchtbar. Alles ist verpatzt. Das ganze Projekt ist ruiniert, und wir trauen uns nicht heran.« »Was ist passiert?« »Gerade als wir sie abfeuern wollten ...« »Was abfeuern wollten?« »Die Rakete.« »Rakete?« Guy stöhnte. »Die Venus-Rakete. Rakete Harold.« Meine Frau mischte sich ein. »Ich habe Guy schon erzählt, daß wir völlig ahnungslos wären, weil wir schon wochenlang keine Zeitung mehr bekommen haben. Ich habe mich beschwert –« Ich bedeutete ihr, still zu sein. »Weiter«, sagte ich zu Guy.
»Gerade als ich auf den Knopf drückte, der die Automatik auslöst, und die Luke sich zu schließen begann, kam ein Schwarm Eulen und umkreiste das Schiff. Sie flogen durch die Luke und klemmten sich irgendwie fest, daß sie nicht weiter zuging.« Em sagte zu meiner Frau: »Es müssen wohl fast an die hundert gewesen sein. Immer neue kamen und flogen durch die Luke. Dann fingen sie an, alle Meßinstrumente hinauszuwerfen. Die Männer versuchten, eine Motorleiter aufzurichten, aber die Eulen kamen und warfen mit Steinen nach ihnen.« Guy wandte mir sein schmerzzerfurchtes Gesicht zu. »Dann schloß sich die Luke, und jetzt trauen wir uns nicht mehr in die Nähe des Schiffes. Es sollte nach fünf Minuten zünden, aber bis jetzt hat es das noch nicht getan. Diese verdammten Eulen –« Ein heller Lichtschein glühte im Osten. Wir alle drehten uns um und sahen einen goldenen Streifen, der sich über den schwarzen Samt des Nachthimmels jenseits der Berge zog. »Das ist sie!« rief Guy. »Das ist die Rakete!« Dann stöhnte er. »Ein Totalverlust.« Ich packte ihn an der Schulter. »Heißt das, daß sie die Venus nicht erreichen wird?« Er riß sich los. »Natürlich wird sie das. Die automatischen Kontrollen und die Steuerung sind völlig narrensicher. Da kommt keiner ran. Aber die Rakete hat kein einziges Meßinstrument mehr an Bord. Nur eine Ladung Eulen.« Mein Sohn lachte. »Eulen! Mein Vater könnte dir darüber einiges erzählen.« Ich brachte ihn mit einer Grimasse zum Schweigen. Er klappte den Mund zu, tanzte dann über die Ter-
rasse, wobei er schrie: »Mann, Mann, das ist das allertollste! Das größte – das beste – die Masche!« Das Telefon klingelte. Während ich zum Anschluß auf der Terrasse ging, zupfte ich meinen Sohn am Ärmel. »Daß du ja nichts sagst!« Er kicherte. »Jetzt bist du der Blamierte, Papa. Ich werde nichts sagen. Ich werde nur ab und zu mal heimlich vor mich hingrinsen.« »Jetzt laß die dummen Scherze.« Er faßte mich am Arm und begleitete mich zum Telefon, wobei er immer wieder von neuem kicherte. »Wart nur, bis die ersten Menschen auf der Venus landen und dort Venusianer vorfinden mit einer Legende über ihren Großen Weißen Vater in Kalifornien. Bis dahin sag ich keinen Ton.« Der Anruf kam von einem schreienden Nervenbündel, das Guy sprechen wollte. Ich stand daneben, während Guy den aufgeregten Reden zuhörte. Plötzlich sagte Guy: »Nein, nein. Die Automatik korrigiert die Zündverzögerung. Das ist es nicht. Es ist nur, daß keine Instrumente mehr an Bord sind – Was? Was ist eben passiert? Beruhigen Sie sich doch. Ich verstehe kein Wort.« Ich hörte wie Em zu meiner Frau sagte: »Weißt du, etwas ganz komisches ist da draußen passiert. Mir kam es so vor, als ob die Eulen auf ihren Rücken Gegenstände trugen. Eine von ihnen ließ versehentlich etwas fallen, und ich sah, wie die Männer ein in Blätter gewickeltes Päckchen öffneten. Du wirst es nicht glauben, was sie darin fanden – drei kleine gebratene Vögel.« Mein Sohn stieß mich an. »Kluge Eulen. Lange Reise.«
Ich legte meine Hand über seinen Mund. Dann sah ich, daß Guy den Hörer hatte sinken lassen. Er sprudelte die letzte Neuigkeit heraus. »Sie haben gerade eine Funkmeldung von der Rakete empfangen. Es stimmt, das Funkgerät wurde nicht mit hinausgeworfen. Aber so ein Band hatten wir nie besprochen.« Er schrie ins Telefon: »Lassen Sie es noch mal laufen.« Dann drückte er mir den Hörer in die Hand. Einen Augenblick lang hörte ich nur ein Summen. Dann lief das Band, und ich hörte eine weiche hohe Stimme. Rakete Harold meldet: »Alles in Ordnung. Rakete Harold sagt: Leb wohl, Erde.« Dann eine Pause und dann eine andere Stimme in der VolplaSprache: »Mensch, der uns geschaffen hat, wir vergeben dir. Wir wissen, daß wir nicht von den Sternen kamen, aber wir gehen jetzt dorthin. Ich, der Häuptling, heiße dich willkommen, wenn du uns besuchen willst. Leb wohl.« Wir alle waren von der Aufregung viel zu erschöpft, um noch viel reden zu können. Ich fühlte plötzlich eine große Traurigkeit. Eine lange Zeit stand ich da und schaute nach Osten, wo die breite Kette der Berge eine Schale tanzender Glühwürmchen zwischen ihren schwarzen Brüsten hielt. Später sagte ich zu Guy: »Wie lange, glaubst du, wird es wohl dauern, bis die erste bemannte Venusrakete startbereit ist?« Originaltitel: VOLPLA. Aus GALAXY SCIENCE FICTION 5/56