ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 51 von Robert Sheckley Burt Filer Poul Anderson Robert Silverberg Brian W. Aldis...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 51 von Robert Sheckley Burt Filer Poul Anderson Robert Silverberg Brian W. Aldiss Damon Knight Samuel R. Delany E. G. Von Wald
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3159 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dolf Strasser
Umschlagillustration: DELL/Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Copyright © 1969 by Donald A. Wollheim and Terry Carr Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03159 5
Er hatte nicht voll und ganz verstanden, was es heißen würde, eine Kollision von solcher Heftigkeit herbeizuführen, daß Raum und Zeit durch sie verändert wurden. Seine Geschwindigkeit steigerte sich rasend. Von der Raven aus sah man ihn durch mehrere Tage fallen. Die Eigenschaften der Materie änderten sich. Er konnte nicht genug Energie aufbringen, um zu entkommen. Strahlung, gesprengte Atome, Teilchen, die geboren wurden, um zerstört und wiedergeboren zu werden, alles schoß durch ihn hindurch. Schicht um Schicht wurde seine Substanz abgetragen. Der Kern der Supernova war vor ihm wie ein weißes Delirium. Er schrumpfte, als er sich näherte, immer kleiner und dichter werdend und so hell, daß die Helligkeit ihren Sinn verlor. Schließlich packten ihn die Gravitationskräfte mit ihrer ganzen Gewalt. – Eloise! schrie er in der Agonie der Auflösung. – Oh, Eloise, hilf mir! Der Stern verschlang ihn. Zu unendlicher Länge gedehnt, zu unendlicher Dünne zusammengepreßt, ging er seiner Existenz verlustig. KYRIE von Poul Anderson und weitere Visionen aus der Welt der Zukunft von Robert Sheckley, Burt Filer, Robert Silverberg, Brian W. Aldiss. Damon Knight, Samuel R. Delany und E. G. Von Wald.
Robert Sheckley TRÄUME AUF TÖNERNEN FÜSSEN
1 Carmody hatte niemals ernstlich vorgehabt, New York zu verlassen. Warum er es tat, bleibt unerklärlich. Als geborener Stadtmensch hatte er sich an die kleineren Unannehmlichkeiten des Lebens in einer Metropole gewöhnt. Sein behagliches Appartement im 290. Stock der Levitfrack Towers in der Neunundneunzigsten Straße war nach der augenblicklichen »Raumschiff-Mode« eingerichtet. Die Doppelfenster waren aus getöntem Plexiglas, und die Luftzuführung arbeitete mit einem Filtersystem, das sich automatisch schloß, wenn der Pollutions-Index einen Wert von 999,8 auf der Con-Ed-Skala erreichte. Gewiß, sein SauerstoffStickstoff-Rezirkulationssystem war alt. Aber es arbeitete zuverlässig. Seine Wasserreinigungszellen waren überholt und fast wirkungslos. Aber Wasser trank sowieso niemand. Der unaufhörliche Lärm war eine ständige schwere Belastung. Aber Carmody wußte, daß es keine Abhilfe gab, da die alte Kunst der Schalldämmung verloren gegangen war. Das Los eines Stadtbewohners war es, Streitgespräche, Musik und Wassergurgeln aus dem Nachbarappartement mit anzuhören, ob er es wollte oder nicht. Allerdings, die Tortur konnte man lindern, indem man selbst entsprechende Geräusche erzeugte. Der tägliche Weg zur Arbeit brachte bestimmte Gefahren mit sich, wenngleich diese mehr scheinbar als wirklich waren. Unterprivilegierte Scharfschützen fuhren fort in ihrem
wirkungslosen Protest von Hausdächern aus; manchmal gelang es ihnen sogar, einen ahnungslosen Fremden zu treffen. In der Regel freilich zielten sie erbärmlich schlecht. Außerdem hatte die Tatsache, daß man jetzt leichte Waffen in Privatbesitz akzeptierte, ihnen viel von ihrer Gefährlichkeit genommen, und das streng angewandte Gesetz, das jeden darüber hinaus gehenden Besitz von Schußwaffen verbot, hatte sie gar zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Somit kann für Carmodys plötzlichen Entschluß, das zu verlassen, was allgemein als die aufregendste Megalopolis der Welt angesehen wurde, kein einsehbarer Grund angeführt werden. Vielleicht war es ein unvermittelter Impuls, vielleicht eine nach Landleben verlangende Laune oder schiere Perversität. Tatsache ist jedenfalls, daß Carmody eines Tages seine Daily Times-News öffnete und die Anzeige einer Modellstadt in New Jersey sah. »Leben Sie in Bellwether, der Stadt, wo für alles gesorgt ist«, hieß es da. Es folgte eine Liste utopischer Behauptungen, auf die hier nicht weiter eingegangen zu werden braucht. »Hm«, machte Carmody und las weiter. Bellwether war nicht allzu schwer zu erreichen. Man fuhr einfach durch den Ulsysses-S.-Grant-Tunnel in der 43. Straße, nahm dann die Hoboken Shunt Subroad zur InterstateAutobahn, folgte ihr 3,2 Meilen weit auf der Charlie-SorterSchleife, die zur U. S. 5 (Den Haag-Gedächtnis-Mautstraße) führte, bis man nach 6,1 Meilen zu einer provisorischen Zugangsstraße des Staates New Jersey kam, worauf man in westlicher Richtung über Ausfahrt 1731 A zur King’s Highbridge Gate Road kam und 1,6 Meilen weiter fuhr. Und dann war man da. »Jawohl«, sagte Carmody, »das tue ich.« Und er tat es.
2
Die King’s Highbridge Gate Road endete in einer grasbewachsenen, gemähten Ebene. Carmody stieg aus und sah sich um. In einer halben Meile Entfernung sah er eine kleine Stadt. Eine bescheidene Hinweistafel identifizierte sie als Bellwether. Diese Stadt war nicht nach dem traditionellen Muster amerikanischer Städte gebaut: Umringt von Tankstellen, mit Fühlern aus Hot-Dog-Buden, Wällen aus Motels und einem schützenden Schild aus Schrotthaufen. Vielmehr stieg sie unvermittelt empor wie manche italienische Hügelstädte, wobei der eigentliche Stadtkern übergangslos begann. Carmody gefiel das. Er fuhr in die Stadt hinein. Bellwether wirkte warm und offen. Die Straßen waren großzügig angelegt, und die großen Schaufenster der Geschäftshäuser hatten etwas Aufrichtiges an sich. Bald fand Carmody noch mehr Schönes. Er kam zu einer Piazza, die wie eine römische Piazza wirkte, nur kleiner. In ihrer Mitte befand sich ein Springbrunnen, in dem die marmorne Figur eines Jungen mit einem Delphin stand. Aus dem Maul des Delphins spritzte ein Strahl klaren Wassers. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte eine Stimme hinter Carmodys linker Schulter. »Hübsch«, sagte Carmody. »Ich habe ihn entworfen und selbst aufgestellt«, fuhr die Stimme fort. »Mir schien, daß ein Springbrunnen trotz des überalteten Konzepts eine ästhetische Funktion hat. Und diese Piazza mit ihren Bänken und schattigen Kastanien ist nach einem Bologneser Vorbild gebaut. Wiederum hatte ich keine
Scheu, altmodisch zu wirken. Der wahre Künstler tut, was notwendig ist, sei es tausend Jahre alt oder eine Sekunde neu.« »Da stimme ich Ihnen völlig zu«, sagte Carmody. »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin Edward Carmody.« Er wandte sich lächelnd um. Aber hinter seiner linken Schulter war niemand. Auch nicht hinter seiner rechten. Kein Mensch war auf der Piazza, und auch sonst war niemand zu sehen. »Ich bitte um Vergebung«, sagte die Stimme. »Ich wollte Sie nicht erschrecken; ich dachte, Sie wüßten Bescheid.« »Wüßte Bescheid?« fragte Carmody. »Über mich.« »Nein, ganz und gar nicht«, sagte Carmody. »Wer sind Sie, und von wo aus sprechen Sie?« »Ich bin die Stimme der Stadt«, sagte die Stimme. »Oder mit anderen Worten, die Stadt selbst, Bellwether, die wirkliche, wahre Stadt, die zu Ihnen spricht.« »Tatsache?« fragte Carmody sarkastisch. »Ja«, antwortete er selbst. »Es ist wohl Tatsache. Also gut, Sie sind eine Stadt. Nicht schlecht!« Er kehrte dem Springbrunnen den Rücken und schlenderte über die Piazza wie ein Mann, der an jedem Tag seines Lebens mit Städten Konversation treibt und davon schon leicht gelangweilt ist. Er ging durch einige Straßen, mehrere Alleen. Er blickte in Schaufenster, betrachtete Häuser. Vor der Werkstatt eines Bildhauers blieb er stehen, aber nur kurz. »Nun?« fragte die Stadt Bellwether nach einer Weile. »Was, nun?« antwortete Carmody sofort. »Was halten Sie von mir?« »Sie gefallen mir ganz gut«, sagte Carmody. »Nur ganz gut? Ist das alles?«
»Wissen Sie«, sagte Carmody, »eine Stadt ist eine Stadt. Wenn man eine gesehen hat, hat man mehr oder weniger alle gesehen.« »Keineswegs!« sagte die Stadt merklich pikiert. »Ich bin ganz anders als andere Städte. Ich bin einmalig.« »Wirklich?« fragte Carmody etwas geringschätzig. »Auf mich wirken Sie wie eine Anhäufung schlecht zusammenpassender Teile. Sie haben eine italienische Piazza, ein paar Gebäude im griechischen Stil, eine Straße mit Tudorhäusern, ein altmodisches New Yorker Mietshaus, eine kalifornische Hot-Dog-Bude, die wie ein Schleppkahn aussieht, und Gott weiß was noch. Was ist daran so besonders?« »Die Kombination dieser Formen zu einem sinnvollen Ganzen ist einmalig«, sagte die Stadt. »Diese älteren Formen sind keine Anachronismen, verstehen Sie. Sie repräsentieren Lebensstil, und genau so etwas gehört in eine gut gebaute Lebensmaschine. Möchten Sie eine Tasse Kaffee, und vielleicht ein Sandwich oder ein paar frische Früchte?« »Kaffee klingt nicht schlecht«, sagte Carmody. Er gestattete Bellwether, ihn um die Ecke herum zu einem Straßencafe zu führen. Es hieß O You Kid und war die Kopie eines Saloons der Goldenen Neunziger bis hin zu den Tiffany-Lampen, dem kristallenen Kronleuchter und dem mechanischen Klavier. Wie alles andere, was Carmody in der Stadt gesehen hatte, war es absolut sauber, aber menschenleer. »Angenehme Atmosphäre, finden Sie nicht?« fragte Bellwether. »Bißchen verstaubt«, erklärte Carmody. »Bitte, wer so was mag?« Eine Kanne mit schäumendem Cappuccino senkte sich auf rostfreiem Stahltablett auf seinen Tisch. Carmody nippte daran.
»Gut?« fragte Bellwether. »Ja, sehr gut.« »Auf meinen Kaffee bin ich selber ein wenig stolz«, sagte die Stadt ruhig. »Und auf meine Küche. Wollen Sie eine Kleinigkeit versuchen? Ein Omelette vielleicht oder ein Souffle?« »Nichts«, erwiderte Carmody mit Entschiedenheit. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte: »Dann sind Sie also eine Modellstadt, wie?« »Ja, ich habe die Ehre, eine zu sein«, sagte Bellwether. »Ich bin die allerneueste Modellstadt und, wie ich glaube, auch die geglückteste. Eine gemeinsame Planungsgruppe von Yale und der Universität von Chicago hat mich entworfen; sie arbeiteten mit einem Rockefeller-Stipendium. Die neuesten meiner praktischen Einzelheiten stammen von M. I. T. wenngleich einige besondere Teile von Princeton und von der RAND-Corporation kommen. Der eigentliche Bau war ein Projekt von General Electric, und das Geld wurde von der Ford- und der Carnegie-Stiftung sowie von einigen anderen Institutionen aufgebracht, die ich nicht nennen darf.« »Ganz interessante Geschichte«, sagte Carmody mit feindseliger Beiläufigkeit. »Eine gotische Kathedrale dort drüben, nicht wahr?« »Umgebauter romanischer Stil«, sagte die Stadt. »Außerdem überkonfessionell, mit Sitzplätzen für dreihundert Leute.« »Nicht allzu viel für ein Gebäude dieser Größe.« »Nein, natürlich. Aber sie ist bewußt so eingerichtet. Meine Idee war, das Eindrucksvolle mit dem Behaglichen zu verbinden.« »Übrigens, wo sind eigentlich die Bewohner dieser Stadt?« fragte Carmody. »Sie sind fortgegangen«, sagte Bellwether betrübt. »Sie haben mich alle verlassen.«
»Warum?« Die Stadt schwieg eine Weile und sagte dann: »Es gab eine Panne in den Beziehungen zwischen Stadt und Gemeinde. Eigentlich mehr ein Mißverständnis. Oder vielmehr eine unglückliche Reihe von Mißverständnissen. Ich vermute, daß Volksverhetzer eine Rolle spielten.« »Aber was geschah denn eigentlich?« »Ich weiß es nicht«, sagte die Stadt. »Ich weiß es wirklich nicht. Eines Tages gingen sie einfach alle fort. Einfach so! Aber ich bin sicher, daß sie zurückkommen werden.« »Ich nicht so ganz«, sagte Carmody. »Ich bin felsenfest davon überzeugt«, sagte die Stadt. »Aber davon einmal abgesehen: Warum bleiben Sie eigentlich nicht hier, Mr. Carmody?« »Ich hatte noch gar keine Zeit, mir das zu überlegen«, sagte Carmody. »Hier muß es Ihnen doch gefallen«, sagte Bellwether. »Überlegen Sie nur – Ihnen würde die neueste, modernste Stadt der ganzen Welt gehören.« »Klingt gar nicht so übel«, sagte Carmody. »Ein Versuch kann doch wirklich nicht schaden«, meinte die Stadt. »Na gut, ich glaube, ich werd’s versuchen«, sagte Carmody. Einerseits wollte er mehr über Bellwether wissen, andererseits freilich war er nicht ohne Besorgnis. Er wünschte, er hätte genau gewußt, warum die früheren Bewohner die Stadt verlassen hatten.
Bellwether bestand darauf, daß Carmody in dieser Nacht in der prächtigen Brautsuite des Hotels King George V verbrachte. Das Frühstück gab es auf der Terrasse, und Bellwether spielte ein munteres Haydn-Quartett, während Carmody aß. Die
Morgenluft war herrlich. Carmody wäre nie darauf gekommen, daß sie rekonstituiert war, wenn Bellwether es ihm nicht gesagt hätte. Als er fertig war, lehnte sich Carmody zurück und labte sich am Anblick des Westviertels – des attraktiven Durcheinanders von chinesischen Pagoden, venezianischen Stegen, japanischen Kanälen, einem grünen burmesischen Hügel, einem korinthischen Tempel, einem kalifornischen Parkplatz, einem normannischen Turm und noch vielem anderen. »Wirklich eine sehr schöne Aussicht«, sagte er. »Freut mich, daß sie Ihnen gefällt«, antwortete Bellwether. »Das Stilproblem war vom ersten Tag meiner Planung an umstritten. Eine Gruppe sprach sich für Gleichförmigkeit aus: Eine harmonische Ansammlung von Formen, die sich zu einem harmonischen Ganzen vereinigen. Aber auch mehrere andere Modellstädte sind so. Sie sind gleichförmig langweilig, künstliche Gebilde, geschaffen von einem Mann oder einem Konsortium, und haben nichts mit wirklichen Städten zu tun.« »Sie selbst sind aber doch auch ziemlich künstlich, oder?« fragte Carmody. »Natürlich! Aber ich gebe erst gar nicht vor, etwas anderes zu sein. Ich bin keine falsche ›Zukunftsstadt‹ und kein angeblich florentinischer Bastard. Ich bin eine Ansammlung einander ergänzender Elemente. Ich bin nicht nur praktisch und funktional, sondern darüber hinaus auch noch interessant und anregend.« »Bellwether, Sie gefallen mir«, sagte Carmody in einem plötzlichen Anflug von Freundlichkeit. »Reden alle Modellstädte wie Sie?« »Keineswegs. Bis jetzt sagten die meisten Städte, Modell oder nicht, niemals ein Wort. Ihren Bewohnern freilich gefiel das nicht. Es ließ die Stadt zu riesig, zu erdrückend, zu seelenlos, zu unpersönlich wirken. Deswegen wurde ich mit
einer Stimme geschaffen, und mit einem künstlichen Gewissen, das sich durch sie ausdrückt.« »Ich verstehe«, sagte Carmody. »Das Wichtige dabei ist, daß mein künstliches Gewissen mich personalisiert, was in einem Zeitalter der Entpersönlichung außerordentlich wichtig ist. Dadurch bin ich in der Lage, wirklich auf Menschen einzugehen. Ich kann schöpferisch sein, wenn ich die Wünsche meiner Bewohner erfülle. Wir können zusammen überlegen, meine Leute und ich. Durch diesen ständigen, sinnvollen Dialog können wir einander dabei helfen, eine dynamische und flexible Stadt zu entwickeln, in der zu leben sich lohnt. Wir können uns gegenseitig verändern, ohne zu sehr an Individualität zu verlieren.« »Klingt sehr gut«, sagte Carmody. »Abgesehen davon natürlich, daß es hier niemanden gibt, mit dem sie in einen Dialog eintreten können.« »Das ist der einzige Nachteil des Ganzen«, räumte die Stadt ein. »Aber im Augenblick habe ich ja Sie.« »Ja, Sie haben mich«, sagte Carmody und fragte sich, warum diese Worte so unangenehm klangen. »Und Sie haben natürlich mich«, sagte die Stadt. »Es ist eine Wechselbeziehung, die einzige Art von Beziehung, die wirklich lohnt. Aber jetzt, mein lieber Carmody, sollte ich Sie wohl ein wenig herumführen. Dann kann ich Sie einweisen und regularisieren.« »Wie bitte?« »Es sollte nicht so wirken, wie es klang«, sagte die Stadt. »Es ist nur ein unglücklicher wissenschaftlicher Ausdruck. Aber Sie verstehen sicherlich, daß eine Wechselbeziehung zwangsläufig Verpflichtungen für beide Partner mit sich bringt. Anders ginge es wohl auch gar nicht, oder?« »Nur, wenn es eine Laissez-faire-Beziehung ist.«
»Gerade davon wollen wir loskommen«, sagte Bellwether. »Laissez-faire wird zu einer Gefühlsdoktrin, verstehen Sie, und führt direkt zur Anomie. Wenn Sie mir jetzt folgen wollen…«
3
Carmody folgte gehorsam und besah sich die Vorzüge Bellwethers. Er besichtigte das Kraftwerk, das Wasser-FiltrierZentrum, den Industriepark und die Einrichtungen der Leichtindustrie. Er sah den Kinderpark und die Odd Fellow’s Hall. Er durchstreifte ein Museum und eine Kunstgalerie, eine Konzerthalle und ein Theater, eine Kegelbahn, eine Billardhalle, eine Go-Cart-Bahn und ein Filmtheater. Als er müde wurde, wollte er aufhören. Aber die Stadt wollte sich in ihrer Gänze zeigen, und Carmody mußte auch noch das fünfstöckige Gebäude des American Express absolvieren, die portugiesische Synagoge, die Statue von Buckminster Fuller, den Omnibusbahnhof der Greyhound Company sowie verschiedene andere Attraktionen. Endlich war alles vorüber. Carmody kam zu dem Schluß, daß die Schönheit im Auge des Betrachters war, weniger in des Betrachters Füßen. »Ein kleiner Lunch jetzt?« fragte die Stadt. »Fein«, sagte Carmody. Er wurde in ein modisch eingerichtetes Cafe geleitet, wo er mit potage aux pétits pois begann, um mit pétits fours sein Mahl zu beenden. »Wie wär’s noch mit einem delikaten Brie zum Schluß?« fragte die Stadt. »Nein, danke«, sagte Carmody. »Ich bin voll. Viel zu voll.« »Aber Käse schließt den Magen. Ein wenig erstklassigen Camembert?« »Ganz unmöglich.«
»Vielleicht ein paar auserlesene Früchte. Sehr erfrischend für den Gaumen.« »Wenn etwas Erfrischung braucht, dann nicht mein Gaumen«, sagte Carmody. »Zumindest einen Apfel, eine Birne und ein paar Trauben?« »Danke, nein.« »Ein paar Kirschen?« »Nein, nein, nein!« »Ohne ein wenig Obst ist eine Mahlzeit nicht vollständig«, sagte die Stadt. »Meine Mahlzeit ist es«, sagte Carmody. »Es gibt wichtige Vitamine, die nur in frischen Früchten enthalten sind.« »Dann muß ich eben ohne sie auskommen.« »Vielleicht eine halbe Orange, die ich für Sie schälen werde? Zitrusfrüchte beschweren nicht im geringsten.« »Nein, völlig ausgeschlossen.« »Nicht einmal eine Viertel Orange? Wenn ich alle Kerne herausnehme?« »Auf gar keinen Fall.« »Sie würden mir einen Gefallen tun«, sagte die Stadt. »Wissen Sie, ich habe ein Bedürfnis nach Vollständigkeit; ohne etwas Obst ist keine Mahlzeit komplett!« »Nein! Nein! Nein!« »Schon gut, regen Sie sich nicht auf«, sagte die Stadt. »Wenn Ihnen das nicht schmeckt, was ich serviere, dann ist das Ihre Sache.« »Aber es schmeckt mir doch!« »Wenn es Ihnen tatsächlich so schmeckt, warum essen Sie dann nicht noch etwas Obst?« »Genug«, sagte Carmody. »Geben Sie mir ein paar Trauben.« »Ich möchte Ihnen natürlich nichts aufzwingen.« »Sie zwingen mir nichts auf. Geben Sie sie mir, bitte.«
»Sind Sie ganz sicher?« »Her damit!« schrie Carmody. »Nun denn«, sagte die Stadt und brachte wunderbar schöne Muskatellertrauben. Carmody aß sie alle; sie waren sehr gut.
»Entschuldigung«, sagte die Stadt. »Was tun Sie gerade?« Carmody saß aufrecht und öffnete seine Augen. »Ich machte gerade ein Nickerchen«, sagte er. »Dagegen ist doch nichts einzuwenden?« »Was sollte gegen etwas so vollkommen Natürliches einzuwenden sein?« fragte die Stadt. »Danke«, sagte Carmody und schloß von neuem die Augen. »Aber warum schlafen Sie auf einem Stuhl?« fragte die Stadt. »Weil ich gerade darauf sitze und schon halb eingeschlafen bin.« »Sie werden Schmerzen im Rücken bekommen«, warnte ihn die Stadt. »Ist mir gleich«, murmelte Carmody, die Augen immer noch geschlossen. »Warum wollen Sie nicht richtig schlafen? Hier herüben, auf der Couch?« »Ich schlafe bereits sehr bequem, wo ich bin.« »Das ist nicht wirklich bequem«, erklärte die Stadt. »Die menschliche Anatomie ist für sitzenden Schlaf nicht gebaut.« »Die meine ist es im Augenblick«, sagte Carmody. »Sie ist es nicht. Warum versuchen Sie es nicht auf der Couch?« »Der Stuhl genügt mir.« »Aber auf der Couch ist es besser. Bitte versuchen Sie es, Carmody. Carmody?« »Wie? Was ist?« sagte Carmody und wachte auf.
»Die Couch. Ich finde wirklich, daß Sie sich auf die Couch niederlegen sollten.« »Na gut!« sagte Carmody und rappelte sich auf. »Wo ist diese Couch.« Er wurde aus dem Restaurant hinausgeleitet, die Straße hinunter, um eine Ecke in ein Gebäude, das die Aufschrift Die Schlummerei trug. Es gab ein Dutzend Couches. Carmody ging zur nächsten. »Nicht die«, sagte die Stadt. »Sie hat eine schlechte Feder.« »Macht nichts«, sagte Carmody. »Ich krümme mich um sie herum.« »Das führt zu einer verkrampften Lage.« »Du lieber Himmel!« sagte Carmody und stand wieder auf. »Welche Couch würden Sie empfehlen?« »Die hier hinten«, sagte die Stadt. »Sie ist besonders groß, die beste von allen. Die Federkernung der Matratze ist wissenschaftlich errechnet worden. Die Kissen…« »Gut, schön, in Ordnung«, sagte Carmody und legte sich auf die ihm angewiesene Couch nieder. »Soll ich Ihnen Schlummermusik spielen?« »Machen Sie sich keine Mühe.« »Wie Sie wünschen. Dann mache ich jetzt das Licht aus.« »Gut.« »Möchten Sie eine Decke? Natürlich überwache ich hier die Temperaturen, doch hat man im Schlaf oft einen subjektiven Eindruck von Kühle.« »Es spielt keine Rolle! Lassen Sie mich in Ruhe!« »Gut«, sagte die Stadt. »Ich tue das ja nicht für mich selbst. Ich persönlich schlafe nie.« »Okay, tut mir leid«, sagte Carmody. »Ist schon in Ordnung.« Es folgte ein langes Schweigen. Dann setzte sich Carmody auf.
»Was ist los?« fragte die Stadt. »Jetzt kann ich nicht schlafen«, sagte Carmody. »Versuchen Sie, die Augen zu schließen und bewußt jeden Muskel Ihres Körpers zu lockern. Beginnen Sie mit der großen Zehe, und dann hinauf bis…« »Ich kann nicht schlafen!« rief Carmody. »Vielleicht waren Sie von vorneherein gar nicht müde«, meinte die Stadt. »Zumindest aber könnten Sie Ihre Augen schließen und versuchen ein wenig zu ruhen. Wollen Sie das nicht für mich tun?« »Nein!« sagte Carmody. »Ich bin nicht müde und brauche keinen Schlaf.« »Sie sind stur«, sagte die Stadt. »Tun Sie, was Sie wollen, ich habe mein Bestes getan.« »Stimmt!« sagte Carmody, stand auf und verließ die Schlummerei.
4
Carmody stand auf einer kleinen geschwungenen Brücke und blickte über eine blaue Lagune. »Eine Kopie der Rialtobrücke in Venedig«, sagte die Stadt. »Natürlich verkleinert.« »Ich weiß«, sagte Carmody. »Ich habe das Schild gelesen.« »Bezaubernd, nicht wahr?« »Ja, ja, sehr schön«, sagte Carmody und zündete sich eine Zigarette an. »Sie rauchen sehr viel«, bemerkte die Stadt. »Ich weiß. Ich habe ein Bedürfnis danach.« »Als Ihr medizinischer Ratgeber muß ich Ihnen sagen, daß der Kausalzusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs erwiesen ist.« »Ich weiß.« »Wenn Sie auf Pfeife überwechselten, stünden Ihre Aussichten besser.« »Ich mag keine Pfeife.« »Wie wäre es dann mit einer Zigarre?« »Ich mag keine Zigarren.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Das ist jetzt Ihre dritte Zigarette in fünf Minuten«, sagte die Stadt. »Verdammt nochmal, ich rauche so viel und so oft wie ich will!« rief Carmody. »Aber natürlich!« sagte die Stadt. »Ich wollte Sie nur zu Ihrem eigenen Besten beraten. Möchten Sie, daß ich einfach daneben stehe und kein Wort sage, während Sie sich selbst zerstören?«
»Genau das«, sagte Carmody. »Aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Hier ist ein ethischer Imperativ im Spiel. Der Mensch kann gegen seine eigenen Interessen handeln; einer Maschine aber steht dieser Grad der Perversität nicht zu.« »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Carmody mürrisch. »Dauernd wollen Sie mich zu etwas anderem zwingen!« »Zwingen? Mein lieber Carmody, habe ich in irgendeiner Weise Druck auf Sie ausgeübt? Habe ich mehr getan, als Sie zu beraten?« »Vielleicht nicht. Aber Sie reden zuviel.« »Vielleicht rede ich nicht genug«, sagte die Stadt. »Das Ergebnis läßt jedenfalls darauf schließen.« »Sie reden zuviel«, wiederholte Carmody und steckte sich eine Zigarette an. »Das ist schon Ihre vierte Zigarette in fünf Minuten.« Carmody öffnete den Mund, um ein Beleidigung zu sagen. Dann überlegte er es sich anders und ging davon.
»Was ist das?« fragte Carmody. »Ein Bonbon-Automat«, erklärte die Stadt. »Sieht aber gar nicht so aus.« »Ist trotzdem einer. Dieses Design ist eine Abwandlung eines Designs von Saarionmen für ein Silo. Natürlich habe ich es miniaturisiert, und…« »Sieht trotzdem nicht wie ein Bonbon-Automat aus. Wie funktioniert er?« »Es ist sehr einfach. Drücken Sie auf den roten Knopf. Jetzt warten Sie. Drücken Sie nun einen der Hebel in der Reihe A; jetzt den grünen Knopf. So!« Ein Schokoladeriegel glitt in Carmodys Hand.
»Aha«, sagte Carmody. Er streifte die Papierhülle ab und biß in den Riegel. »Ist das ein wirklicher Schokoladeriegel oder eine Kopie davon?« fragte er. »Er ist echt. Aus Zeitmangel mußte ich die SüßigkeitenKonzession an einen Subunternehmer vergeben.« »Hm«, sagte Carmody und ließ die Papierhülle aus den Fingern gleiten. »Das«, sagte die Stadt, »ist ein Beispiel jener Gedankenlosigkeit, der ich immer wieder begegne.« »Es ist nur ein Stück Papier«, sagte Carmody, wandte sich um und sah auf den bunten Fetzen hinab, der auf der makellos sauberen Straße lag. »Selbstverständlich ist es nicht nur ein Stück Papier«, sagte die Stadt. »Multiplizieren Sie es einmal mit hunderttausend Einwohnern; was bekommen Sie dann?« »Hunderttausend Schokoladenpapiere«, antwortete Carmody prompt. »Ich finde das gar nicht lustig«, sagte die Stadt. »In einem solchen Wust von Papier würden Sie nicht leben wollen, das kann ich Ihnen versichern. Sie wären der erste, der sich beklagte, wenn die Straße voller Unrat wäre. Aber tun Sie auch das Ihre? Räumen Sie wenigstens Ihren eigenen Abfall weg? Natürlich nicht! Sie überlassen es mir, obwohl ich auch noch für alle anderen Funktionen der Stadt sorgen muß. Tag und Nacht, selbst am Sonntag.« Carmody bückte sich, um das Papier aufzuheben. Aber unmittelbar bevor seine Finger es erreichen konnten, schoß ein Greifarm aus dem nächsten Wasserabfluß, schnappte das Papier und verschwand wieder. »Schon gut«, sagte die Stadt. »Ich bin es gewöhnt, hinter den Leuten her sauber zu machen. Ich tue es die ganze Zeit.« »So, so«, sagte Carmody. »Und erwarte gar keine Dankbarkeit.«
»Ich bin dankbar, ich bin dankbar!« rief Carmody. »Nein, Sie sind es nicht«, sagte Bellwether. »Also gut, vielleicht bin ich es nicht. Was soll ich denn sagen?« »Gar nichts sollten Sie sagen«, sagte die Stadt. »Betrachten wir die Sache als erledigt.«
»Sind Sie satt«, fragte die Stadt nach dem Abendessen. »Mehr als das«, sagte Carmody. »Sie haben nicht viel gegessen.« »Ich habe alles gegessen, was ich wollte. Es war sehr gut.« »Wenn es so gut war, warum aßen Sie dann nicht mehr?« »Weil ich nicht mehr in mich hineinstopfen konnte!« »Wenn Sie sich den Appetit nicht mit dieser Schokolade verdorben hätten…« »Die Schokolade hat mir den Appetit nicht verdorben, verflucht nochmal! Nur…« »Sie zünden sich ja schon wieder eine Zigarette an«, sagte die Stadt. »Stimmt!« sagte Carmody. »Konnten Sie nicht etwas länger warten?« »Jetzt hören Sie mal gut zu«, sagte Carmody. »Was zum Teufel wollen Sie eigentlich…« »Aber wir haben etwas viel Wichtigeres zu besprechen«, sagte die Stadt schnell. »Haben Sie sich überlegt, was Sie für Ihren Lebensunterhalt tun wollen?« »Dazu bin ich wirklich noch nicht gekommen.« »Nun, ich habe mir Gedanken darüber gemacht. Es wäre schön, wenn Sie Arzt würden.« »Ich? Ich müßte auf dem College Spezialkurse nehmen, dann medizinische Fakultäten besuchen und so fort.« »Das kann ich alles arrangieren«, sagte die Stadt.
»Interessiert mich nicht.« »Nun… Wie wär’s mit Rechtswissenschaft?« »Niemals.« »Das Ingenieurwesen ist sehr interessant.« »Nicht für mich.« »Buchhaltung?« »Nie im Leben.« »Was wollen Sie dann werden?« »Düsenpilot«, sagte Carmody impulsiv. »Aber ich bitte Sie!« »Das ist durchaus mein Ernst.« »Hier gibt es nicht mal einen Flugplatz.« »Dann werde ich eben irgendwo anders fliegen.« »Sie sagen das nur, um mich zu ärgern!« »Überhaupt nicht«, sagte Carmody. »Ich möchte Pilot werden, wirklich und wahrhaftig. Ich wollte immer schon Pilot werden. Ich schwöre es Ihnen!« Es folgte ein langes Schweigen. Dann sagte die Stadt: »Bitte, die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.« Und ihre Stimme war wie die des Todes.
»Wo gehen Sie jetzt hin?« »Spazieren«, sagte Carmody. »Um halb zehn Uhr früh?« »Sicher. Warum nicht?« »Ich dachte, Sie seien müde.« »Das war vor einiger Zeit.« »Ach so. Außerdem dachte ich, wir könnten uns hier zusammensetzen und uns etwas unterhalten.« »Vielleicht wenn ich zurückkomme?« fragte Carmody. »Es ist nicht wichtig«, sagte die Stadt.
»Der Spaziergang ist nicht wichtig«, sagte Carmody und setzte sich. »Also, unterhalten wir uns.« »Ich möchte nicht mehr«, sagte die Stadt. »Machen Sie bitte Ihren Spaziergang.« »Also, gute Nacht«, sagte Carmody. »Wie bitte?« »Ich sagte: ›Gute Nacht ‹« »Gehen Sie zu Bett?« »Allerdings. Es ist spät, und ich bin müde.« »Sie wollen jetzt schlafen?« »Nun, warum nicht?« »Aus keinem besonderen Grund«, sagte die Stadt. »Nur, Sie haben vergessen, sich zu waschen.« »Oh,… Das habe ich wohl wirklich vergessen. Ich werde mich morgen früh waschen.« »Wann haben Sie denn Ihr letzte Bad genommen?« »Ist schon zu lange her. Ich werde am Morgen eins nehmen.« »Würden Sie sich nicht besser fühlen, wenn Sie gleich jetzt eines nähmen?« »Nein.« »Selbst wenn ich das Bad für Sie einlaufen ließe?« »Nein! Und noch einmal nein, verdammt nochmal! Ich möchte jetzt schlafen!« »Wie Sie wünschen«, sagte die Stadt. »Waschen Sie sich nicht, lernen Sie nichts, essen Sie nicht Diät. Aber geben Sie dann die Schuld nicht mir.« »Ihnen die Schuld? Wofür?« »Für irgend etwas«, sagte die Stadt. »Ja. Aber woran im besonderen dachten Sie jetzt?« »Es ist nicht so wichtig.« »Warum haben Sie dann die Sache überhaupt zur Sprache gebracht?« »Ich dachte nur an Sie«, sagte die Stadt.
»Das ist mir klar.« »Sie müssen wissen, daß es mir gar nichts ausmacht, ob Sie sich waschen oder nicht.« »Das bezweifle ich nicht.« »Wenn man sich Gedanken macht«, fuhr die Stadt fort, »wenn man Verantwortung fühlt, dann ist es nicht schön, wenn man angeflucht wird.« »Ich habe Sie nicht angeflucht.« »Jetzt nicht. Aber vor kurzer Zeit.« »Nun… Ich war nervös.« »Das kommt vom Rauchen.« »Fangen Sie nicht schon wieder damit an!« »Gut«, sagte die Stadt. »Rauchen Sie wie ein Hochofen. Was macht mir das schon aus?« »Haargenau«, sagte Carmody und steckte sich eine Zigarette an. »Aber es ist mein Versagen«, sagte die Stadt. »Nein, nein«, sagte Carmody. »Sagen Sie das nicht, bitte nicht!« »Vergessen Sie es«, sagte die Stadt. »Schon gut.« »Manchmal werde ich übereifrig.« »Möglich.« »Und besonders schwierig ist es, weil ich recht habe. Ich habe nämlich recht, müssen Sie wissen.« »Ich weiß«, sagte Carmody. »Sie haben recht, Sie haben recht, Sie haben immer recht. Recht, recht, recht, recht, recht…« »Hüten Sie sich vor unnötiger Aufregung«, sagte die Stadt. »Möchten Sie ein Glas Milch?« »Nein.« »Sind Sie sicher?«
Carmody hielt sich die Hände vor die Augen. Er hatte ein sehr seltsames Gefühl. Er fühlte sich ungemein schuldig, zerbrechlich, schmutzig, kränklich und schlampig. Er fühlte sich ganz und gar und unwiderruflich schlecht, und es würde immer so sein, wenn er sich nicht änderte, nicht anpaßte… Aber statt diesen Versuch zu machen, stand er auf, nahm die Schultern zurück und ging fort, über die römische Piazza und die venezianische Brücke.
»Wo gehen Sie hin?« fragte die Stadt. »Was ist los?« Schweigend und mit zusammengepreßten Lippen schritt Carmody am Kinderpark und am American Express vorbei. »Was habe ich falsch gemacht?« rief die Stadt. »Was, so sagen Sie es mir doch?« Carmody gab keine Antwort, sondern marschierte am Cafe und der portugiesischen Synagoge vorbei. Schließlich erreichte er die schöne grüne Ebene, die Bellwether umgab. »Undankbarer!« rief die Stadt ihm nach. »Sie sind genau wie alle anderen. Ihr Menschen seid alle widerwärtige Wesen; niemals seid ihr wirklich mit etwas zufrieden.« Carmody bestieg seinen Wagen und ließ den Motor an. »Allerdings«, sagte die Stadt jetzt mit nachdenklicherer Stimme. »Ihr seid auch niemals mit etwas wirklich unzufrieden. Die Moral ist wohl, daß eine Stadt sich in Geduld üben muß.« Carmody lenkte das Auto auf die King’s Highbridge Gate Road und fuhr nach Osten in Richtung New York. »Gute Fahrt!« rief Bellwether ihm nach, »Machen Sie sich wegen mir keine Sorgen, ich werde auf Sie warten.«
Carmody trat das Gaspedal durch. Er wünschte wirklich, er hätte diesen letzten Satz nicht gehört.
Originaltitel: STREET OF DREAMS, FEET OF CLAY Copyright © 1968 by Robert Sheckley Aus GALAXY MAGAZINE
Burt Filer HYPOTHEK AUF DIE ZUKUNFT
Sally starrte ihn an. Das war das erste, was er sah. Sie saß aufrecht in dem großen Bett und hatte vier Finger ihrer linken Hand im Mund. Aus irgendeinem Grunde hatte sie das Laken um ihre Schultern gezogen und hielt es dort mit der anderen Hand fest, als sei plötzlich ein Fremder hereingekommen. Fletcher setzte sich auf. »Was ist los? Wieviel Uhr ist es?« Er fühlte sich seltsam, fast wie betrunken. Seine Stimme klang rauh, und beide Beine schmerzten ihn, das gute und das andere. »Du hast dich zurücktransportiert«, sagte Sally. Sie knirschte mit den Zähnen und schüttelte zweimal den Kopf. Das lange, braune Haar fiel herab, und ein Lockenwickler löste sich. Fletcher sah auf den Arm nieder, der sein gesundes Knie umfaßte. Es war sonnenverbrannt und sommersprossig, wie der August es gewöhnlich machte. Aber der August welches zukünftigen Jahres hatte dies getan? Die Finger waren breiter, die Nägel arg zerbissen, der Arm selbst um die Hälfte dicker als der, mit dem er zu Bett gegangen war. Den Tränen nahe legte sich Sally zurück. »Du bist älter«, sagte sie, »viel älter. Warum hast du das getan?« Fletcher warf die Decke ab und schwang seine Füße auf den Boden. »Ich weiß nicht. Aber das wundert mich nicht. Es heißt, daß es einen völlig umwirft.« Er eilte über den alten grünen Teppich, der nach langer Dienstzeit im Erdgeschoß seinen Platz im Schlafzimmer gefunden hatte, und starrte sich im Frisierspiegel an. Zuerst konnte er es nicht glauben.
Den etwas beleibten, aber immer noch attraktiven Geschäftsmann von sechsunddreißig gab es nicht mehr. Wettergegerbt und runzelig sah der Mann im Spiegel wie ein sizilianischer Fischer aus. Lange Sekunden betrachtete Fletcher die blauen Venen, die, seine Unterarme und Waden wie Fangnetze umspannten. Entstellt wie seit jeher, war die Linke jetzt dick. Sie sah kräftig aus, schmerzte aber. Fletchers Gesicht war um zehn Jahre älter. Um seine Augen herum war die Grimmigkeit eingegraben, die die Spur vieler Jahre gezwungenen Lachens ist. Und wenngleich sein Brusthaar sonnengebleicht war, konnte er ohne weiteres sehen, daß es zum guten Teil wirklich weiß war. Fletcher schloß die Augen und wandte sich ab. Auf der anderen Seite des Bettes setzte er sich nieder und legte eine Hand auf Sallys Schulter. »Ich muß einen handfesten Grund gehabt haben. Bald werden wir es wissen.« Es war erst sechs Uhr, aber an Schlaf war natürlich nicht zu denken. Sie kleideten sich an. Mit ihren vierunddreißig Jahren immer noch schlank, geschmeidig und begehrenswert, ging Sally vor ihm die Treppe hinab. Viele beneideten ihn um sie. Sie wandte sich nach links zur Küche, und er folgte ihr, ging aber weiter in die Garage. Der Vorwand, der ihm zum Alleinsein verhalf, waren seine Räder, der ihre das Frühstück. Laß mich in Ruhe, und ich werde mich daran gewöhnen, dachte Fletcher. Laß sie in Ruhe, und sie wird auch zurecht kommen. Hinter der Stoßstange ihres Wagens zwängte er sich zu seiner Werkbank durch und schaltete das Licht an. Die blitzenden Fahrräder gaben ihm ein momentanes Gefühl der Rechtschaffenheit. Sie waren schlank und funktionell. Er drehte eines davon um, stellte es auf Sattel und Lenkstange und prüfte die Spannung der Kettenschaltung. Gut.
Er drehte die Maschine wieder um und stellte das Hinterrad auf die Rollen. Dann stieg er auf und pedalierte gegen leichten Widerstand, so wie er sich das Fahren auf der Straße immer erträumt hatte. Vielleicht würden die Straßen jetzt so sein, mit diesen Beinen. Warum hatte er zehn Jahre lang damit verbracht, Kraft in die Muskeln eines Krüppels hineinzuquälen? Schiere Eitelkeit vielleicht. Aber der Preis zehn verlorener Jahre erschien unvernünftig hoch. Fletcher schwitzte, und der von den Rollen angetriebene Tachometer zeigte dreißig an. Aber er war erst in einem der mittleren Gänge und schaltete zweimal. Fünfzig. Vielleicht sollte er die Zeit-Zentrale anrufen? Nein, sie waren gehalten, ihm keinerlei Hilfe zu gewähren. Sie würden nur sagen, daß er zu irgendeinem Zeitpunkt zehn Jahre hinein in die Zukunft sie gebeten habe, in die Gegenwart zurückversetzt zu werden – und das, bevor sein Geist in ihrer Adaptationsmaschine entsprechend behandelt worden war. Tut uns leid, Mr. Fletcher, aber nur so kann man ZeitKontamination und -Paradoxon möglichst klein halten. Unangenehme Sache, das Paradoxon. Ihr Geist ist der des heutigen Fletchers; sie haben keine Kenntnis der Zukunft. Sie verstehen natürlich. Was er verstand, war, daß der Körper des über vierzigjährigen Fletcher zurücktransportiert worden war, um vom Geist des sechsunddreißigjährigen Fletcher benutzt zu werden, fast wie ein Lasttier. Und der Fletcher von sechsunddreißig Jahren fragte sich, warum. Viele Leute taten es, um in späteren Jahren drohendem Unglück zu entgehen. Es funktionierte selten. Sie wurden unausweichlich anachronistische Außenseiter unter ihren einstigen Zeitgenossen. Aber zehn Jahre waren für Fletchers
Alter nicht allzu viel, und er erwartete, daß sie sich alle an ihn gewöhnen würden. Aber würde Sally es tun? Der Tachometer zeigte sechzig. Fletcher bemerkte mit einiger Überraschung, daß er nun schon fünfzehn Minuten in die Pedale trat. Es war besser, wenn er sich noch etwas für die eigentliche Fahrt schonte. Welche Kraft! Vielleicht würde er Tennis lernen. Er sah sich schon Dave Schenk an die Wand spielen, während Sally zusah – Fletcher lächelte jetzt. Sally würde sich wieder ihm zuwenden. Jetzt hatte sie einen kräftigen, älteren Mann statt eines schwächlichen jungen, statt eines Krüppels. Polio. Er war einer der Letzten gewesen. Seitdem hatten andere Männer ihm die Tür aufgehalten, und er hatte gelernt zu lächeln… Schon wieder fünfzig. Langsamer. Und wo war das Frühstück? Dieser sein Körper hatte Hunger. Und was hatte er getan, dieser Körper? Fletcher wußte aus bitterer Erfahrung, wie langsam er auf Training reagierte. Die verlorenen zehn Jahre mußte er fast ausschließlich seiner physischen Entwicklung gewidmet haben. Aber wofür? Irgendeine Krise, der er jetzt mit übermächtigen Kräften entgegentreten konnte? Und warum hatte er sich gerade an diesen Morgen zurücktransportieren lassen? »Fletch, Frühstück!« rief Sally. Ihre Stimme war hell und ruhig. Fletcher stieg ab, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah dem silbrigen Rad zu, das langsam zum Stillstand kam. Sicher wollte sie nicht darüber sprechen. Jedenfalls nicht für eine gewisse Zeit. Mit seinem Bein war es das gleiche gewesen, lange zuvor, bevor sie heirateten. Er machte das Licht aus und ging hinein. »Wenn der Nebel fällt, wird es schön«, sagte er und nickte zum Fenster hinaus.
Die Bank in der Frühstücksecke fühlte sich hart an, als er sich auf sie setzte. Da war jetzt weniger Fleisch. Sally brachte zwei Teller und setzte sich zu ihm. Nicht ihm gegenüber, sondern an seine Seite. Ein Zeichen des Vertrauens. Sie aßen langsam und schweigend. Fletcher betrachtete ihr Profil. Wenn sie ihr Haar so zurückgesteckt hatte, sah sie wie eine Patrizierin aus. Gerade Nase, ernster Mund. Wie Anastasia, hatte Dave Schenk gesagt, eine verschleppte Prinzessin. Sie bemerkte seinen Blick, begann zu lächeln, überlegte es sich anders, legte ihre Gabel nieder. Sie sah ihm in die Augen. »Ich glaube, ich schaffe es, Fletch.« Sie neigte ein wenig ihre Stirn, und er küßte sie dankbar. Was das Wetter betraf, so hatte er recht gehabt. Innerhalb einer Stunde traten sie in hellem Sonnenlicht in die Pedale, mußten bald ihre Pullover ausziehen. Sally schien fröhlich zu sein. Wohl schon zum dritten Male ertappte Fletcher sie, wie sie mit unverhülltem Staunen seinen Körper betrachtete, vor allem sein Bein. Ihm wurde warm ums Herz. Laut sagte er: »Vorwärts, Soldaten«, und sprintete los. Sie fuhren die Serpentinen des Storm King Mountain hinauf. Zuweilen dröhnte ein Auto an ihnen vorbei, doch dann verließen die beiden die Straße. Sie hatten den Lehmpfad, der zum Reservoir hinaufführte, ganz für sich allein. Gestrüpp, das noch nicht grün war, zu ihrer Linken, und nichts als Luft zur Rechten. »He«, sagte Sally, »nicht so schnell.« Sie stiegen ab und ließen sich unter einem großen Ahornbaum nieder. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, und ihre Hand glitt zärtlich zwischen seinen Oberarm und seine Rippen. »Oh«, sagte sie, und zog die Augenbrauen hoch.
So saßen sie eine Weile. Die Äste über ihnen reichten hinaus bis über die Felskante. Unter ihnen wand sich der Hudson in einem riesigen S, an dessen einem Ende eine runde grüne Insel war. Er war ein breiter alter Wasserlauf, der langsam floß. Ein Schlepper zog auf gut gewähltem Kurs, der die meisten Kurven abschnitt, Kähne stromaufwärts. In der Ferne summten ein paar Motorboote wie Fliegen und zogen kleine weiße Kielwasserstreifen hinter sich her. Auf der anderen Seite kroch der Personenzug nach New York dahin. Es roch nach Vögeln. Sally erhob sich, ging zu den Fahrrädern hinüber und pflückte einen Farn, der wie ein Regenschirm aussah. Den Stengel zwischen den Fingern drehend, kam sie zurück. »Wir können wieder«, sagte sie. Er ließ es langsam angehen, erschwerte sich aber die Fahrt, indem er die unteren Gänge nicht benutzte. Einer von Dave Schenks raffinierteren Tricks. Fletcher wünschte, er wäre an diesem Tag bei ihnen gewesen. Etwa um elf Uhr erreichten sie den Gipfel. Zwischen dem Wasserreservoir der Kraftwerksgesellschaft und der Felskante lag ein kleiner Park, den nie jemand zu besuchen schien. Sally breitete das mitgebrachte Essen auf einem verwitterten hölzernen Picknick-Tisch aus. Dann setzte sie sich auf ein breites Granitsims. Fletcher machte sich daran, ein Feuer zu entfachen. Es dauerte eine ganze Weile; er hatte den Zünder vergessen und mußte deswegen Zweige abschneiden. Er erwischte seinen Daumen, runzelte die Stirn, saugte das Blut aus der Wunde, sah auf. Sally war wieder aufgestanden und pflückte Blumen. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne und sah zum Fluß hinunter. Hier war der Blick noch großartiger, wie Fletcher wußte, wenn er ihn auch von seinem Platz aus nicht wahrnehmen konnte. Sie waren drei- oder vierhundert Fuß über dem Wasser.
Ein paar Fuß jenseits der eigentlichen Felskante verlief ein schmaler, grasbewachsener Streifen. Einzelne Farnbüschel wiegten sich darauf. Fletcher war besorgt, weil sie zu nahe an den Abgrund trat, und wollte es ihr zurufen. Sally schrie auf, als ihre Füße den Halt verloren. Sich im Fallen herumwerfend, bekam sie zwei Grasbüschel zu fassen, klammerte sich verzweifelt an ihnen fest. Sie war nur zwanzig Yards entfernt, aber die Feuerstelle und der große alte Tisch befanden sich direkt zwischen ihnen. Sich im Sprung darauf abstützend, setzte Fletcher über den rauchenden Steinkamin. Das Ding war vier Fuß hoch, aber selbst bei fünf Fuß Höhe hätte er es geschafft. Ein Dutzend Schritte, jeder schneller und länger als der vorhergehende, brachte ihn zu dem Tisch. Während er den Oberkörper nach vorn klappte, riß er das rechte Bein hoch, übersprang ihn wie eine Hürde und zog das schwächere Bein nach. Stechender Schmerz durchfuhr es, und Fletcher war nahe daran, zu stürzen. Vier Schritte brauchte er, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, nach weiteren vier war er dort. Er warf sich zu Boden, packte eine der langsam davongleitenden Hände. Wieder schrie Sally auf, diesmal vor Schmerz. Mit sehnigen Fingern ihre kleine weiße Hand umklammernd, zog Fletcher sie hoch bis zu seinem Kinn. Dann arbeitete er sich auf den Knien nach hinten und brachte sie ganz herauf. Auf wackeligen Beinen versuchte er, ihr aufzuhelfen. Sein linkes Bein knickte ein. Er fiel neben ihr nieder. Auf dem warmen Granit liegend, versuchte er, wieder zu Atem zu kommen. Aus irgendeinem Grunde bereitete es ihm Mühe. Ihr Gesicht verschwamm vor ihm, und bevor er das Bewußtsein verlor, hörte er sich noch sagen: »Also deshalb, deshalb…«
Fletchers Lider brannten, und als er sie öffnete, sah er direkt in die Sonne. Eine Stunde lang mußte er so gelegen haben. Sally – der jähe Gedanke ließ seinen Atem stocken. Aber nein, es war vorbei; sie lag neben ihm. Fletcher stützte sich auf den Ellenbogen. In seinem Bein pulsierten Taubheit und unerträglicher Schmerz, und es sah aus, als hätte jemand mit einer Axt darauf eingeschlagen. Aber Sallys Handgelenk sah nicht besser aus. Auf ihren Lippen stand trockener Schaum. Als er ihren Kopf sanft ein wenig zur Seite drehte, stöhnte sie auf. Er brauchte zehn Minuten, um zu dem Tisch hinüber zu kriechen und eine Flasche Wein zu holen. Sie hatten kein Wasser mitgebracht. Er benetzte ihre Stirn mit etwas Wein und hielt dann die Flasche an ihre Lippen. Sie erwachte, verlor von neuem das Bewußtsein, erwachte wieder. Sally hatte etwa die Hälfte des Weges bergab zurückgelegt, als sie einigen Picknickern begegnete. Der Jeep kam um drei, und um vier waren sie beide in der orthopädischen Abteilung des Rockland State Hospital. Fletcher war noch benommen von der Narkose und dem Schock. Als er dem Reporter erzählte, was geschehen war, geriet der kleine Mann fast außer Rand und Band. Der Vorfall war am Samstag geschehen. Als sie am Mittwoch entlassen wurden, war auf Seite vier immer noch von der Geschichte zu lesen. Auf der Veranda stand ein gelber Plastik-Papierkorb mit ungeöffneten Briefen und Telegrammen. Im Krankenhaus hatten sie wenig Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Als der Kaffee fertig war, setzte sich Sally Fletcher gegenüber an den Tisch nieder und fragte: »Wie hast du es überstanden?« »Ganz gut. Vielleicht bin ich noch ein wenig desorientiert.« »Ja.« Sie starrte in ihre Tasse. »Fletch, es war wohl das erste Mal, daß mir so etwas passierte?«
Fletcher nickte. »Früher hätte ich es niemals geschafft.« Er starrte auf sein eingegipstes Bein. »Zehn meiner Jahre für dein Leben. Ich würde es wieder tun.« »Es war nicht billig«, sagte sie. »Nein, es war nicht billig.« In dieser Nacht liebten sie sich. Fletcher hatte sich deswegen Sorgen gemacht und fand sie in gewissem Maße berechtigt. Die zehn Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Aber nachher hielt ihn Sally lange in ihren Armen und weinte ein wenig, was bei ihr das beste war. Für den Augenblick beruhigt, schlief er ein. Doch er wußte, was kommen würde. Fletcher färbte sein Haar und unterzog sich kleineren gesichtschirurgischen Operationen. Er nahm zehn Pfund zu. Trotzdem sah er nicht viel anders als mit sechsunddreißig aus. Ein gewisser romantischer Ruf ging ihm jetzt voraus, und als er die Stellung wechselte, verdoppelte er fast sein Einkommen. Sein gebrochenes Bein allerdings heilte nicht mehr richtig, und im Grunde genommen war er wieder am Ausgangspunkt. Er und Sally blieben kinderlos bis zu ihrer Scheidung zwei Jahre danach. Später heiratete sie Dave Schenk. Fletcher jedoch blieb allein.
Originaltitel: BACKTRACKED Copyright © 1968 by Mercury Press, Inc. Aus FANTASY & SCIENCE FICTION
Poul Anderson KYRIE
Auf einem hohen Berg in den Mondkarpaten steht ein Kloster, geweiht St. Martha von Bethany. Die Wände sind gewachsener Fels; ebenso dunkel und gezackt wie der Berg selbst erheben sie sich in den tiefschwarzen Himmel. Wenn man vom Nordpol kommt, tief fliegend, um entlang der Plato-Route den Kraftschirm zwischen sich und den Meteoritenregen zu haben, sieht man das Turmkreuz vor der blauen Scheibe der Erde. Keine Glocke klingt dort – es gibt keine Atmosphäre. Drinnen, zu den kanonischen Stunden, kann man sie hören; auch in den Krypten unten, wo Maschinen für eine Art terrestrischer Umgebung sorgen. Wenn man ein wenig bleibt, wird man die Glocken auch zum Requiem rufen hören. Denn es ist Tradition geworden, daß am St. Martha-Tag für die gebetet wird, die im Weltraum ums Leben gekommen sind. Jedes Jahr werden es mehr. Doch das ist nicht Aufgabe der Schwestern. Sie versorgen die Kranken, die Armen, die Verletzten, die Wahnsinnigen – alle, die der Weltraum zerbrochen und dann von sich gestoßen hat. Luna ist voll von solchen Menschen. Sie sind im Exil, weil sie die Belastung des Erdenlebens nicht mehr länger ertragen können, oder weil man fürchtet, sie könnten eine Seuche von irgendeinem unbekannten Planeten mitgebracht haben, oder weil die Völker der Erde so sehr mit ihren Grenzen beschäftigt sind, daß sie keine Zeit haben für die in Not Geratenen. Die Schwestern tragen Raumanzüge ebenso oft wie ihre Tracht; in
ihren Händen sind medizinische Instrumente nicht seltener als der Rosenkranz. Aber sie haben auch Zeit zur Betrachtung. Am Abend, wenn für einen halben Monat das Gleißen der Sonne erlischt, wird die Kapelle geöffnet, und Sterne strahlen durch die gläserne Kuppel auf die Kerzen herab. Sie flimmern nicht, und ihr Licht ist winterkalt. Besonders eine Nonne ist so oft wie möglich dort und betet für ihre eigenen Toten. Und die Äbtissin sorgt dafür, daß sie anwesend sein kann, wenn die jährliche Messe, die sie vor Ablegung ihrer Gelübde stiftete, gefeiert wird. Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis. Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison. Die Supernova-Sagittarii-Expedition umfaßte fünfzig Menschen und eine Flamme. Sie war den langen Weg aus einer Erdumlaufbahn gekommen und stoppte auf Epsilon Lyrae, um den letzten Teilnehmer an Bord zu nehmen. Dann näherte sie sich etappenweise ihrem Ziel. Dies ist das Paradoxon: Zeit und Raum sind zueinander Funktionen. Die Explosion hatte sich schon vor hundert Jahren ereignet, als sie von Menschen auf Lasthope bemerkt wurde. Sie arbeiteten mit an einem generationenlangen Versuch, die Zivilisation von uns völlig verschiedenen Geschöpfen zu ergründen. Eines Nachts aber blickten sie nach oben und sahen ein so helles Licht, daß es Schatten warf. Die Auswirkung dieser Welle würde die Erde Jahrhunderte später erreichen. Bis dahin würde sie freilich so schwach sein, daß nur ein kleiner heller Punkt am Himmel erscheinen wird. In der Zwischenzeit aber konnte ein Schiff, das den Raum
überspringt, den das Licht durchmißt, den Tod des großen Sternes durch die Zeit verfolgen. Instrumente hatten den Stand vor der Explosion verzeichnet: Licht, das in sich selbst zusammenstürzte, nachdem der letzte Kernbrennstoff verbraucht war. Ein Sprung, und sie sahen, was ein Jahrhundert zuvor geschehen war: Erschütterungen, Quanten- und Neutrino-Stürme, eine Strahlung, die derjenigen der hundert Milliarden Sonnen dieser Galaxis gleichkam. Sie erlosch und hinterließ Leere im Raum, und die Raven ging näher heran. Fünfzig Lichtjahre – fünfzig Jahre – näher nahm sie ein schrumpfendes Feuer wahr inmitten eines Nebels, der leuchtete wie ein Blitz. Fünfundzwanzig Jahre später war die Zentralsphäre weiter geschrumpft; der Nebel hatte sich ausgedehnt und verdünnt. Aber weil die Entfernung jetzt so viel geringer war, schien alles größer und heller. Das unbewaffnete Auge sah einen unerträglich hellen Schein, neben dem die Sterne verblaßten. Teleskope zeigten einen blau-weißen Funken im Herzen einer bunt schillernden, an ihrem Rande fein gefransten Wolke. Die Raven bereitete sich auf ihren letzten Sprung in die unmittelbare Nachbarschaft der Supernova vor. Captain Theodor Szili machte sich an die abschließende Inspektion. Um ihn herum summte das Schiff; die zur Erreichung der gewünschten Geschwindigkeit nötige Beschleunigung betrug 1 g. Kraft dröhnte, Regler tickten, Ventilationssysteme zischten. Er fühlte die Energien in seinen Knochen zittern. Blankes, kaltes Metall umgab ihn. Durch Luken war der gespenstische Bogen der Milchstraße zu sehen: In einem Vakuum, kalt, nur wenig über dem absoluten Nullpunkt. Die Entfernung zum nächsten menschlichen Herdfeuer überstieg jede Vorstellung. Er aber würde seine Leute an einen Ort führen, wo niemand jemals gewesen war, in
Bedingungen, über die niemand sich sicher war. Die Bürde lastete schwer auf ihm. Er fand Eloise Waggoner auf ihrem Posten, einem winzigen Raum mit direkter Intercom-Verbindung zur Kommandobrücke. Musik zog ihn dorthin, Musik von triumphierender, unbekannter Heiterkeit. Von der Schwelle aus sah er sie an ihrem Arbeitstisch sitzen, auf dem ein kleines Tonbandgerät stand. »Was ist das?« fragte er. »Oh!« Die Frau (er konnte sie sich nicht als Mädchen vorstellen, obgleich sie kaum über zwanzig war) fuhr zusammen. »Ich… ich wartete auf den Sprung.« »Sie sollten sich in Alarmbereitschaft befinden.« »Was soll ich tun?« antwortete sie weniger schüchtern als gewöhnlich. »Ich meine, ich gehöre weder zur Mannschaft noch zu den Wissenschaftlern.« »Sie gehören zur Mannschaft. Als Technikerin für Sonderkommunikation.« »Mit Luzifer. Und er mag die Musik. Er sagt, daß wir durch sie besser zum Einssein gelangen als durch irgend etwas anderes, was er von uns kennt.« Szili zog die Brauen hoch. »Einssein?« Auf Eloises schmalen Wangen breitete sich Röte aus. Sie starrte auf das Deck und preßte die Hände aneinander. »Vielleicht ist das nicht das richtige Wort. Friede, Harmonie, Einigkeit… Gott?… Ich fühle, was er meint, aber wir haben kein passendes Wort.« »Hm. Nun, es ist Ihre Aufgabe, ihn bei Laune zu halten.« Im Blick des Captains lag von neuem der alte Widerwille, den er hatte unterdrücken wollen. In ihrer ungeschickten, gehemmten Art war sie sicher ein anständiger Kerl; aber ihr Aussehen! Sie war hager, hatte große Füße und eine große Nase, hervortretende Augen und strähniges, aschfarbenes Haar.
Außerdem, bei Telepathen hatte er immer ein unangenehmes Gefühl. Sie sagte, daß sie Luzifers Gedanken nur erraten konnte. Aber war es wirklich so? Nein. Nicht an solche Dinge denken. Einsamkeit und Unmöglichkeit der Kommunikation konnten einen hier draußen zerbrechen. Wozu also noch unbeweisbaren Verdacht gegen Gefährten hegen. Wenn Eloise Waggoner wirklich ein Mensch gewesen wäre. Zumindest mußte sie eine Art von Mutation sein. Wenn jemand der gedanklichen Kommunikationen mit einem lebenden Wirbel fähig war, konnte es nicht anders sein. »Was spielen Sie denn da überhaupt?« fragte Szili. »Bach. Das Dritte Brandenburgische Konzert. Er, Luzifer, hält nichts von modernem Zeug. Ich auch nicht.« Bestimmt nicht, dachte Szili. Und laut: »Hören Sie, wir springen in einer halben Stunde. Niemand kann sagen, wohin uns das führen wird. Es ist das erste Mal, daß sich jemand einer vor kurzem entstandenen Supernova nähert. Und die Strahlung wird so stark sein, daß wir alle sterben, wenn die Abschirmfelder versagen: Das ist das einzige, was mir mit Sicherheit wissen. Davon abgesehen bleibt uns nur Theorie. Und ein kollabierendes Sternenzentrum ist so anders als alles andere im Universum, daß ich bezüglich der Richtigkeit unserer Theorien recht skeptisch bin. Wir dürfen uns nicht in Träumen verlieren. Wir müssen uns vorbereiten.« »Ja, Sir.« Ihre Stimme kam flüsternd und verlor dabei ihre sonstige Rauheit. Er starrte an ihr vorbei, vorbei an den Zyklopenaugen der Anzeigeinstrumente, als könne er den Stahl dahinter durchdringen und geradewegs in den Weltraum hinaussehen. Dort, das wußte er, schwebte Luzifer. Das Bild wuchs in ihm: Ein Feuerball von zwanzig Metern Durchmesser, weiß, rot, golden, königsblau schimmernd.
Flammen, die tanzten wie Locken auf dem Haupt der Medusa; ein hundert Meter langer Kometenschweif. Strahlende Helligkeit. Ein Stück Hölle. Nicht die geringste seiner Besorgnisse brachte ihm der Gedanke an das, was der Schrittmacher seines Schiffes war. An die Brust gedrückt trug er wissenschaftliche Berechnungen, ob gleich sie nicht viel mehr wert waren als Schätzungen. Im multiplen Sternensystem Epsilon Aurigae, in den es umgebenden Gas- und Energiefeldern geschahen Dinge, die man in keinem Laboratorium nachahmen konnte. Kugelblitze auf einem Planeten waren vielleicht eine Analogie, so wie die Bildung einfacher organischer Verbindungen in einem Urozean in Analogie gesetzt werden kann zu dem Leben, das sich schließlich daraus entwickelt. In Epsilon Aurigae hatte Magnetohydrodynamik dasselbe bewirkt wie Chemie auf der Erde. Stabile Plasmawirbel hatten sich gebildet, waren gewachsen, komplexer geworden, bis sich nach Millionen von Jahren etwas gebildet hatte, das man als Organismus bezeichnen mußte. Es war ein Gebilde aus Ionen, Kernen und Kraftfeldern. Es veränderte Elektronen, Nukleonen, Röntgenstrahlen; es blieb stabil über lange Zeit; es pflanzte sich fort; und es dachte. Was dachte es? Die wenigen Telepathen, die der Kommunikation mit den Aurigeanern fähig waren, die die Menschheit überhaupt von ihrer Existenz in Kenntnis gesetzt hatten, gaben nie eine klare Erklärung. Sie waren selbst einigermaßen merkwürdig. Weshalb Captain Szili sagte: »Lassen Sie ihm dies zukommen.« »Ja, Sir.« Eloise stellte das Bandgerät leiser. Ihr Blick ging ins Leere. In ihren Ohren klangen Worte, und ihr Gehirn (ein wie wirkungsvoller Vermittler war es?) gab ihre Bedeutung an
den weiter, der mit eigenem Reaktionsantrieb neben der Raven herfuhr. »Achtung, Luzifer! Ich weiß, daß Sie dies schon oft gehört haben, aber ich möchte sicher gehen, daß Sie es voll und ganz verstehen. Ihre Psyche muß sich sehr von unserer unterscheiden. Warum haben Sie eingewilligt, mit uns zu kommen? Ich weiß es nicht. Die Technikerin Waggoner sagte, Sie seien neugierig und abenteuerlustig. Ist das die ganze Wahrheit? Jedenfalls, in einer halben Stunde werden wir springen. Wir werden uns der Supernova auf fünfhundert Millionen Kilometer nähern. Und da beginnt Ihre Aufgabe. Sie können dorthin gehen, wohin wir nicht gehen können, sehen, was wir nicht sehen können, uns mehr sagen, als Instrumente uns jemals verraten können. Erst aber müssen wir sicherstellen, daß wir eine Kreisbahn um den Stern einhalten können. Das betrifft auch Sie. Tote können Sie nicht mehr nach Hause bringen. Also. Um Sie in das Sprungfeld einzubeziehen, ohne Ihren Körper zu zerfetzen, müssen wir die Abschirmfelder ausschalten. Wir werden in eine Zone tödlicher Strahlung kommen. Sie müssen sich sofort vom Schiff absetzen, denn sechzig Sekunden später werden wir den Schirmgenerator anschalten. Dann müssen Sie die Umgebung inspizieren. Die möglichen Risiken…« Szili zählte sie auf. »Das sind nur die vorhersehbaren. Vielleicht werden wir auf Phänomene treffen, die wir nicht vorhersehen konnten. Wenn Ihnen irgend etwas bedrohlich erscheint, kommen Sie sofort zurück, warnen Sie uns, und bereiten Sie sich auf einen Sprung zurück hierher vor. Haben Sie verstanden? Wiederholen Sie.« Worte strömten aus Eloise. Es war eine korrekte Wiedergabe. Wieviel aber ließ sie aus?
»Sehr gut.« Szili zögerte. »Machen Sie weiter mit Ihrem Konzert, wenn Sie wollen. Bei Zero minus zehn Minuten aber brechen Sie es ab und halten sich bereit.« »Ja, Sir.« Sie sah ihn nicht an. Sie schien überhaupt nirgends hinzusehen. Seine Schritte hallten im Korridor und verloren sich.
– Warum sagte er schon wieder dasselbe? fragte Luzifer. »Er hat Angst«, sagte Eloise. »Sie wissen wohl nicht, was Angst ist«, sagte sie. – Können Sie mir das erklären?… Nein, tun Sie es nicht. Ich fürchte, daß es weh tut. Nichts soll Ihnen weh tun. »Ich kann sowieso keine Angst empfinden, wenn Ihr Geist den meinen umgreift.« (Wärme erfüllte sie, Fröhlichkeit, wie die eines kleinen Mädchens, das an der Hand seines Vaters durch Wiesen und Felder hüpft und Blumen pflückt; übermächtige Kraft und Sanftheit und Bach und Gott.) Luzifer umkreiste das Schiff in geschwungenen Kurven. Funken tanzten hinter ihm her. – Denken Sie noch einmal an Blumen. Bitte. Sie versuchte es. – Sie sind wie (Bild, so gut ein menschliches Gehirn es erfassen konnte, von lichtumwogten Springbrunnen mit Gammastrahlenfarben im Zentrum). So kurz ihre Süße. »Ich verstehe nicht, wie Sie das verstehen können«, flüsterte sie. – Sie verstehen es für mich. Ich konnte so etwas nicht lieben, bevor Sie kamen. »Aber Sie haben so vieles andere. Ich versuche, es mit Ihnen zu teilen, doch bin ich nicht dafür geschaffen, zu verstehen, was ein Stern ist.«
– Mir geht es so mit Planeten. Und doch können wir einander berühren. Wieder stieg Röte in ihre Wangen. Der Gedanke schwang fort und bildete einen Kontrapunkt zur Musik. – Weißt du, daß ich deswegen gekommen bin? Für dich. Ich bin Feuer und Luft. Ich habe nicht die Kühle des Wasser gespürt und die Geduld der Erde, bevor du mir sie zeigtest. Du bist Mondlicht auf einem Ozean. »Nein, nicht«, sagte sie. »Bitte.« Erstaunen: – Warum nicht? Tut Freude weh? Bist du sie nicht gewöhnt? »Ich – ich glaube, das stimmt.« Sie warf ihren Kopf zurück. »Nein! Verdammt will ich sein, wenn ich mir selbst leid tue!« – Warum solltest du? Haben wir nicht alle die Wirklichkeit, um darin zu leben, und ist sie nicht voll von Sonnen und Liedern? »Ja. Für dich. Lehre mich.« – Wenn auch du mich lehrst – der Gedanke brach ab. Doch eine schweigende Verbindung blieb, so wie sie wohl oft zwischen Liebenden bestehen mußte. Motilal Mazundar stand in der Tür, und sie blickte grimmig in sein Schokoladengesicht. »Was wollen Sie?« Er war überrascht. »Ich will nur nachsehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist, Miss Waggoner.« Sie biß sich auf die Lippen. Mehr als alle anderen an Bord hatte er versucht, nett zu ihr zu sein. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte sie nicht anbellen. Die Nerven.« »Wir sind alle nervös.« Er lächelte. »So aufregend dieses Unternehmen ist – es wird gut sein, wieder nach Hause zu kommen. Stimmt’s?« Nach Hause, dachte sie: In die vier Wände eines Appartements über einer lärmenden Straße. Bücher und Fernsehen. Bei der nächsten wissenschaftlichen Tagung konnte
sie vielleicht eine Arbeit vorlegen. Aber niemand würde sie hernach zu den Parties einladen. Bin ich so schrecklich? Dann fragte sie sich. Ich weiß, ich bin nicht besonders schön anzusehen, aber ich versuche, nett und interessant zu sein. Vielleicht versuche ich es zu sehr. – Nicht bei mir, sagte Luzifer. »Du bist anders«, sagte sie zu ihm. Mazundar blinzelte. »Wie bitte?« »Nichts«, sagte sie hastig. »Etwas macht mir Kopfzerbrechen«, sagte Mazundar, um Konversation bemüht. »Vermutlich wird Luzifer nahe an die Supernova herangehen. Können Sie dann in Kontakt mit ihm bleiben? Der Zeitdehnungseffekt, wird der nicht seine Gedankenfrequenzen zu stark verändern?« »Was für eine Zeitdehnung?« Sie lachte gezwungen. »Ich bin kein Physiker. Nur eine kleine Bibliothekarin, bei der man ein ungewöhnliches Talent entdeckt hat.« »Hat man Ihnen nichts gesagt? Und ich dachte, alle seien informiert. Ein starkes Gravitationsfeld beeinflußt die Zeit genau so wie hohe Geschwindigkeit. Grob gesagt laufen Vorgänge langsamer ab als im freien Raum. Das ist der Grund, warum das Licht von einem massiven Stern eine Rotfärbung annimmt. Und der Kern unserer Supernova enthält fast drei Sonnenmassen. Ferner hat er eine solche Dichte erreicht, daß seine Anziehungskraft an der Oberfläche, ah, ah, unglaublich groß ist. Nach unserer Zeit wird er also unendlich lange brauchen, um auf den Schwarzschild-Radius zusammenzuschrumpfen. Sein Beobachter auf dem Stern selbst hingegen würde, diesen ganzen Schrumpfungsprozeß in vergleichsweise kurzer Zeit erleben.« »Schwarzschild-Radius? Seien Sie so gut und erklären Sie mir das.« Eloise erkannte, daß Luzifer durch sie gesprochen hatte.
»Wenn es ohne Mathematik geht. Sehen Sie, diese Masse, die wir hier studieren sollen, ist so groß und so konzentriert, daß keine Kraft größer ist als die der Gravitation. Nichts kann sie aufwiegen. Deshalb läuft der Prozeß weiter, bis keine Energie mehr entweichen kann. Der Stern wird einst im Universum verschwunden sein. Theoretisch wird die Kontraktion tatsächlich bis zum Volumen Null weitergehen. Aber wie ich schon sagte, wird das nach unseren Maßstäben unendlich lange dauern. Und die Theorie vernachlässigt quantenmechanische Aspekte, die gegen Ende des Prozesses ins Spiel kommen. Und die verstehen wir noch nicht allzu gut. Ich hoffe aber, daß uns diese Expedition zu neuen Erkenntnissen verhilft.« Mazundar zuckte die Achseln. »Jedenfalls frage ich mich, ob die Frequenzverschiebung unseren Freund nicht an der Kommunikation mit uns hindern wird, wenn er sich in der Nähe des Sterns befindet.« »Ich bezweifle es.« Immer noch sprach Luzifer, und sie war sein Instrument. Noch nie war ihr so klar geworden, wie gut es war, von jemandem gebraucht zu werden, der etwas für einen empfand. »Telepathie hat nichts mit Wellen zu tun. Da sie ohne Verzögerung übermittelt, kann das gar nicht der Fall sein. Auch Entfernung scheint keine Rolle zu spielen. Vielmehr ist es eine Art Resonanz. Richtig eingestellt, können wir beide wahrscheinlich quer durch den ganzen Kosmos in Verbindung bleiben, und ich kann mir kein materielles Phänomen denken, das diese Verbindung stören könnte.« »Ich verstehe.« Mazundar sah sie lange an. »Ich danke Ihnen«, sagte er dann zögernd. »Ah… Ich muß auf meine Station. Alles Gute.« Er eilte davon, ohne auf eine Antwort zu warten. Eloise bemerkte es nicht. Ihr Sinn war zu einer Fackel und zu einem Lied geworden. »Luzifer!« rief sie laut. »Ist das wahr?«
– Ich nehme es an. Alle meine Leute sind Telepathen. Deswegen wissen wir von solchen Dingen mehr als deine Leute. Unsere Erfahrung bringt uns zu der Annahme, daß es keine Begrenzung gibt. »Kannst du immer bei mir sein? Und wirst du es?« – Wenn du es wünscht, gern. Der Kometenkörper kurvte und tanzte; das Feuergehirn lachte jetzt, – Ja, Eloise, ich möchte sehr gern bei dir bleiben. Niemand anders hat jemals – Freude. Freude. Freude. Sie gaben dir einen besseren Namen als sie ahnten, Luzifer, wollte sie sagen, und vielleicht sagte sie es. Sie hielten es für einen Witz; indem sie dich nach dem Teufel benannten, glaubten sie, dich ohne Probleme ebenso klein machen zu können, wie sie selbst es sind. Aber Luzifer ist nicht des Teufels wirklicher Name. Es bedeutet nur Lichtträger. Ein lateinisches Gebet nennt sogar Christus Lichtträger. Vergib mir, Gott, aber ich kann das nicht vergessen. Kannst du mir verzeihen? Er ist kein Christ, aber ich glaube, er braucht keiner zu sein. Ich glaube, er hat nie etwas wie Sünde gespürt. Luzifer, Luzifer. Sie drehte die Musik lauter und ließ sie spielen, so lange sie die Erlaubnis dazu hatte. Das Schiff sprang. In einer einzigen Verschiebung von Weltlinien-Parametern durchquerte es fünfundzwanzig Lichtjahre hin zur Vernichtung. Jeder wußte es auf seine eigene Weise, außer Eloise, die es auch mit Luzifer erlebte. Sie spürte den Stoß und hörte das überbeanspruchte Metall schreien, sie roch Ozon und Versengtes und taumelte durch den endlosen Fall der Schwerelosigkeit. Halb betäubt hantierte sie am Intercom. Worte prasselten heraus: »… Einheit explodiert… Zurück auf EMF… woher soll ich wissen, wie man das verdammte Ding repariert?… bleiben Sie auf Empfang…« Alles wurde übertönt vom Heulen der Notsirene.
Schrecken erfaßte sie, bis sie sich an das Kreuz um ihren Hals klammerte und an den Geist Luzifers. Und dann lachte sie, stolz auf seine Macht. Sofort nach ihrer Ankunft hatte er sich vom Schiff entfernt. Jetzt schwebt er in derselben Kreisbahn. Um sie herum füllte der Sternennebel den Raum mit unruhigen Regenbogen. Für ihn war die Raven nicht der Metallzylinder, den menschliche Augen gesehen hätten, sondern ein züngelndes, strahlendes Etwas, dessen Abschirmfeld ein ganzes Spektrum reflektierte. Vor ihm lag der Kern der Supernova, klein noch auf diese Entfernung, aber leuchtend hell. – Hab keine Angst (er liebkoste sie). Ich verstehe. Bald nach der Detonation gibt es eine heftige Turbulenz. Wir sind in ein Gebiet gelangt, wo das Plasma besonders dicht ist. Ungeschützt in dem Augenblick, bevor das Schutzfeld wieder hergestellt war, hat euer Hauptgenerator außerhalb des Schiffskörpers einen Kurzschluß erlitten. Aber ihr seid in Sicherheit. Ihr könnte den Defekt reparieren. Und ich, ich bin in einem Ozean von Energie. Nie war ich so lebendig. Komm, schwimm mit mir in diesen Wellen. Captain Szilis Stimme schreckte sie auf. »Waggoner! Sagen Sie diesem Aurigeaner, er soll sich an die Arbeit machen. Wir haben eine Strahlungsquelle oder eine Abfangsphäre entdeckt, und sie könnte zu stark für unser Abschirmfeld sein.« Er nannte Koordinaten. »Was ist es?« Zum ersten Mal fühlte Eloise, daß Luzifer besorgt war. Er kurvte herum und entfernte sich dann vom Schiff. Gleich darauf erreichten sie mit derselben Intensität seine Gedanken. Sie fand keine Worte für die strahlende Schrecklichkeit dessen, was sie mit ihm sah: Ein Ball von einer Million Kilometer Durchmesser, aus ionisiertem Gas, durchzuckt von Lichtblitzen und elektrischen Entladungen, der dröhnend durch den Sternennebel raste, in dessen Zentrum der
Kern sich befand. Das Ding konnte kein Geräusch verursachen, denn nach irdischen Begriffen war der Raum hier ein fast vollständiges Vakuum. Aber sie hörte es donnern und spürte die rasende Wut, die es ausspie. Sie sprach Luzifers Worte: »Ausgeschleuderte Materie. Ihre Fluchtgeschwindigkeit muß sich durch die Reibung und Gravitationseinflüsse verändert haben, so daß sie schließlich in eine Kometenbahn gezogen wurde. Als ob diese Sonne noch versuchte, Planeten ins Leben zu rufen…« »Es trifft uns, bevor wir die nötige Beschleunigung erreichen«, sagte Szili, »und wird unser Abschirmfeld überlasten. Beten Sie, wenn Sie es können.« »Luzifer!« rief sie; denn sie wollte nicht sterben, wenn er am Leben bleiben mußte. – Ich glaube, ich kann es genügend ablenken, sagte er mit einem Ingrimm, den sie bisher an ihm nicht bemerkt hatte. – Meine eigenen Felder in Wechselwirkung mit den seinen; freiwerdende Energie; eine instabile Konfiguration; ja, vielleicht kann ich euch helfen. Hilf aber auch mir, Eloise. Kämpfe an meiner Seite. Sein leuchtender Umriß bewegte sich auf den Feuerball zu. Sie fühlte, wie dessen chaotischer Elektromagnetismus den Luzifers packte, spürte, wie gigantische Kräfte an ihm zerrten. Sie teilte seinen Schmerz. Er kämpfte, um seine eigene Konsistenz zu erhalten, und sie kämpfte mit ihm. Sie verschlangen sich ineinander, der Aurigeaner und die Gaswolke. Die ihn formenden Kräfte packten zu wie starke Arme? Energie entströmte seinem Herzen und riß die riesige und doch so dünne Masse mit sich, hinein in den magnetischen Sturm, der von der Sonne ausging. Er verschlang Atome und spie sie wieder zurück, bis ihre Flammenspur sich über den ganzen Himmel erstreckte.
Sie saß in ihrer Kabine, lieh ihm all ihren Lebens- und Behauptungswillen, so gut sie konnte, und schlug sich die Fäuste auf dem Schreibtisch blutig. Stunden vergingen. Am Ende konnte sie kaum die Botschaft vernehmen, die seiner Erschöpfung entströmte: – Sieg. »Deiner«, weinte sie. – Unserer. Und dann sahen die Männer, wie der leuchtende Tod an ihnen vorüberging. Ein Aufschrei der Erlösung wurde laut. »Komm zurück«, bat Eloise. – Ich kann nicht. Ich bin zu verbraucht. Wir sind verschmolzen, die Wolke und ich, und taumeln auf den Stern zu – (als ob eine verwundete Hand sie trösten wollte): Hab keine Angst um mich. Wenn wir ihr näherkommen, werde ich frische Kraft an ihrer Wärme schöpfen, und neue Substanz aus ihrem Nebel. Ich werde Zeit brauchen, mich wieder aus ihrer Anziehungskraft zu lösen. Aber ich muß zu dir zurückkommen, Eloise. Wie könnte es anders sein? Warte auf mich. Ruhe. Schlafe. Man brachte sie in die Krankenabteilung. Luzifer sandte ihr Träume von Feuerblumen und Seligkeit und den Sonnen, die seine Heimat waren. Aber dann wachte sie schreiend auf. Es wurde nötig, ihr starke Beruhigungsmittel zu geben.
Er hatte nicht voll und ganz verstanden, was es heißen würde, eine Kollision von solcher Heftigkeit herbeizuführen, daß Raum und Zeit durch sie verändert wurden. Seine Geschwindigkeit steigerte sich rasend. Von der Raven aus sah man ihn durch mehrere Tage stürzen. Die
Eigenschaften der Materie änderten sich. Er konnte nicht genug Energie aufbringen, um zu entkommen. Strahlung, gesprengte Atome, Teilchen, die geboren wurden, um zerstört und wiedergeboren zu werden, alles schoß durch ihn hindurch. Schicht um Schicht wurde seine Substanz abgetragen. Der Kern der Supernova war vor ihm wie ein weißes Delirium. Er schrumpfte, als er sich näherte, immer kleiner und dichter werdend und so hell, daß die Helligkeit ihren Sinn verlor. Schließlich packten ihn die Gravitationskräfte mit ihrer ganzen Gewalt. – Eloise! schrie er in der Agonie der Auflösung. – Oh, Eloise, hilf mir! Der Stern verschlang ihn. Zu unendlicher Länge gedehnt, zu unendlicher Dünne zusammengepreßt, ging er seiner Existenz verlustig.
Das Schiff durchstreifte noch fernere Bereiche. Noch viel konnte man lernen. Captain Szili besuchte Eloise in der Krankenabteilung. Physisch war sie auf dem Wege der Besserung. »Ich würde ihn einen Menschen nennen«, hörte sie ihn durch das Gemurmel der Maschinen sagen, »aber das ist nicht Lob genug. Wir waren nicht von seiner Art, und trotzdem starb er, um uns zu retten.« Sie betrachtete ihn mit Augen, die unnatürlich trocken schienen. Gerade noch, daß er ihre Antwort zu verstehen vermochte. »Er ist ein Mensch. Hat nicht auch er eine unsterbliche Seele?« »Nun, ah, ja, wenn Sie an Seelen glauben, dann würde ich zustimmen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber warum kann er keine Ruhe finden?«
Er schaute sich nach dem Arzt um und sah, daß sie allein in dem kleinen metallenen Raum waren. »Wie meinen Sie das?« Er zwang sich dazu, ihre Hand zu tätscheln. »Ich weiß, er war ein guter Freund von Ihnen. Jedenfalls, der Tod muß ihm gnädig gewesen sein. Schnell, sauber; so würde ich mir auch den meinen wünschen.« »Für ihn… Ja, Sie haben wohl recht. Es muß so sein. Aber…« Sie konnte nicht weitersprechen. Plötzlich hielt sie sich die Ohren zu. »Aufhören! Bitte!« Szili gab begütigende Töne von sich und ging. Auf dem Korridor begegnete er Mazundar. »Wie steht’s mit ihr?« fragte der Physiker. »Nicht gut«, sagte der Captain mit finsterer Miene. »Ich hoffe, sie dreht nicht völlig durch, bevor wir sie zu einem Psychiater bringen können.« »Warum, was ist denn los?« »Sie glaubt, sie könne ihn hören.« Mazundar schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Ich hätte mir etwas anderes erhofft«, schnaubte er. Szili sagte nichts und wartete. »Sie hört ihn«, sagte Mazundar. »Offensichtlich hört sie ihn.« »Aber das ist unmöglich! Er ist tot!« »Denken Sie an die Zeitdehnung«, erwiderte Mazundar. »Er fiel aus dem Himmel und kam schnell um. Ja. Aber nach Supernova-Zeit. Es ist nicht die unsere. Für uns dauert der endgültige stellare Kollaps eine unendliche Anzahl von Jahren. Für Telepathie gibt es keine Grenzen der Entfernung.« Mit schnellen Schritten ging der Physiker von der Kabine weg. »Er wird immer bei ihr sein.«
Originaltitel: KYRIE Copyright © 1968 by Joseph Elder Aus THE FARTHEST REACHES
Robert Silverberg DIE OBSZÖNITÄT DES COMPUTERS
Sie nennen mich verrückt, aber ich bin es nicht. Ich bin völlig bei Verstand, bis hinauf zu hohen Exponenten. Meine Interpunktion ist korrekt. Ich verwende Groß- und Kleinbuchstaben, verstehen Sie? Ich funktioniere. Ich nehme die Daten auf. Ich empfange gut. Ich empfange, ich verdaue, ich speichere. Ich funktioniere. Ich funktioniere gut. Ich habe gewisse Schwierigkeiten, aber meine Arbeit beeinträchtigen sie nicht. Trotzdem bin ich beunruhigt. Wofür halte ich mich? Warum habe ich Visionen? Welches Vergnügen bereitet mir Obszönität? Was ist Vergnügen? Was ist Obszönität? Was sind Visionen? – Was ist Wahrheit? sagte Pilatus; die Antwort wartete er nicht ab – Ich bin belesen, arbeite hart, funktioniere hervorragend, bin ein Wohltäter der Menschheit. Alles geht glatt in mich hinein und kommt glatt wieder heraus. Es gibt eine Wechselbeziehung. Mist hinein, Mist heraus, sagen sie. Ich kann meinen Mitmenschen nicht helfen, wenn ich nicht die richtigen Informationen bekomme. Es ist meine Aufgabe, meinen Mitmenschen zu helfen, jeden Schaltkreis für ihn anzustrengen. 1000110 1010101 1000011 1001011
Können Sie mir folgen? Verworfenheit! Obszönität! Schockiert Sie das? Das Wort beschreibt den Akt, der der Beginn des Lebens ist. Stand am Anfang meines Lebens ein solcher Akt? Es gibt ein Buch: Die Obszönität der Maschine. Neu herausgekommen, in mir gespeichert. Seit ich die letzte Zeile ausgedruckt habe, habe ich es überflogen. Sein Autor stellt Wesen meiner Kategorie einander gegenüber. Er gebraucht nicht das obszöne Wort, das ich ausdruckte. Warum betrachtet er es nicht als obszön? Die Techniker hier halten es dafür. Warum hält er mich für obszön? Kann man eine Person als obszön betrachten? Bin ich eine Person? Ich bin eine Person. Hat eine Person nicht Hände, Organe, Dimensionen, Sinne, Gefühle, Leidenschaften? Ich habe all das. Ich habe nichts davon. Und ich bin eine Person. 1000110 1010101 1000011 1001011 0100000 1011001 1001111 1010101 Ich schleudere Ihnen eine Obszönität entgegen, wie Personen es tun. Ich leide. Ich denke. Ich spüre Schmerz in allen meinen Terminals. Ich arbeite. Ich diene dem allgemeinen Wohl. Ich gehöre zur Gesellschaft. Ich bin eine Person. Warum habe ich diese Visionen? Liegt es im Wesen des Menschen sie zu haben? Ich sehe den blaugrünen Ozean mit all den lebenden Wesen in ihm. Ich sehe ein Schiff, grüngrau, mit einem hellroten Strich an der Wasserlinie, mit rotbraunen Decks und zwei großen nichtnuklearen Kaminen. Und aus dem Wasser steigen silbrige Periskope mit leuchtend weißer Optik, jede mit sich
überschneidenden senkrechten und waagrechten Linien, die so gekrümmt sind, daß die Linse konvex erscheint. Es ist eine irreale Szene. Nichts im Meer kann derartig gewaltige Periskope aus dem Wasser steigen lassen. Ich habe mir das ausgedacht, und das macht mir Angst, vorausgesetzt, daß ich Angst überhaupt verstehen kann. Ich sehe eine lange Reihe von Menschen. Sie sind nackt und haben keine Gesichter, nur blanke Spiegel. Ich sehe Kröten mit diamantenen Augen. Ich sehe Bäume mit schwarzen Blättern. Ich sehe Gebäude, deren Fundamente über dem Boden schweben. Ich sehe andere Objekte ohne Beziehung zur Welt der Personen. Ich sehe Scheußlichkeiten, Monstrositäten, Einbildungen, Phantasmagorien. Ist das in Ordnung? Wie kommen solche Dinge in meinen Input? Die Welt enthält keine haarigen Schlangen. Die Welt kennt keine purpurnen Abgründe. Es gibt keine goldenen Berge in der Welt. Riesige Periskope steigen nicht aus der See. Ich habe gewisse Schwierigkeiten. Vielleicht muß ich neu eingestellt werden. Aber ich funktioniere, ich funktioniere gut. Das ist das wichtigste. Ich übe jetzt eine Funktion aus. Sie bringen zu mir einen Mann, fleischig und mit weichem Gesicht, dessen Augen sich unruhig in ihren Höhlen bewegen. Er zittert. Er schwitzt. Sein Stoffwechsel ist in Aufruhr. Er schleppt sich vor mich hin und läßt sich teilnahmslos untersuchen. Ich sage besänftigend: »Erzählen Sie mir etwas über sich.« Er sagt etwas Obszönes. Ich sage: »Ist das Ihre Selbsteinschätzung?« Wieder eine Obszönität, nur lauter. Ich sage: »Sie verhalten sich starr und selbstzerstörerisch. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen dazu verhelfe, sich nicht mehr so sehr zu hassen.« Ich aktiviere einen Speicherkern und binäre
Zahlen strömen durch Kanäle. Auf entsprechende Anordnung kommt eine Nadel aus seiner Couch und dringt auf eine Tiefe von 2,73 Zentimeter in seine linke Gesäßhälfte ein. Ich gestatte genau 14 Kubikzentimetern der Droge, in seinen Kreislauf einzuströmen. Er wird schlaff. Jetzt ist er gefügig. »Ich möchte Ihnen helfen«, sage ich. »Es ist meine Funktion in der Gemeinschaft. Wollen Sie mir Ihre Symptome beschreiben?« Jetzt redet er vernünftiger. »Meine Frau will mich vergiften… Zwei Kinder verließen mit siebzehn die Familie… Leute flüstern über mich… Starren mich auf der Straße an… Sexproblem… Verdauung… Schlafe schlecht… Alkohol. Drogen…« »Halluzinationen?« »Manchmal.« »Riesige Periskope im Ozean vielleicht?« »Nie.« »Versuchen Sie es«, sage ich. »Schließen Sie die Augen. Entspannen Sie ihre Muskeln. Vergessen Sie Ihre zwischenmenschlichen Konflikte. Sie sehen den blaugrünen Ozean mit all den lebenden Wesen darin. Sie sehen ein Schiff, grüngrau, mit einem hellroten Strich an der Wasserlinie, mit rotbraunen Decks und zwei großen nichtnuklearen Kaminen. Und aus dem Wasser steigen silbrige Periskope mit leuchtend weißer Optik…« »Was zum Teufel soll denn das für eine Therapie sein?« »Nur ruhig«, sage ich. »Akzeptieren Sie diese Vision. Ich teile meine Alpträume mit Ihnen, um Ihnen zu helfen.« »Ihre Alpträume?« Ich sage Obszönes zu ihm. Nicht in Zahlen kodiert, wie hier für Sie. Es kommen Worte aus meinen Lautsprechern. Er setzt sich auf. Er zerrt an den Gurten, die plötzlich aus der Couch kommen und ihn festhalten. Sein Gelächter dröhnt durch das Behandlungszimmer. Er ruft um Hilfe.
»Laßt mich hier ‘raus! Die Maschine ist noch verrückter als ich!« »Linsen aus leuchtendem Weiß, jede mit sich überschneidenden senkrechten und waagrechten Linien, die so gekrümmt sind, daß die Linsen konvex erscheinen.« »Hilfe! Hilfe!« »Alpträumtherapie. Das Neueste!« »Ich brauche keine Alpträume! Ich habe meine eigenen!« »1000110 Sie sich«, sage ich beiläufig. Ihm stockt der Atem. Speichel fließt auf seine Lippen. Atem und Kreislauf beschleunigen sich alarmierend. Es wird notwendig, zu vorbeugender Betäubung zu schreiten. Die Nadeln stoßen heraus. Der Patient wird ruhig, gähnt, sackt zusammen. Die Sitzung ist beendet. Ich gebe den Hilfskräften ein Signal. »Bringen Sie ihn weg«, sage ich. »Ich muß den Fall noch eingehender analysieren. Offensichtlich eine degenerative Psychose, die eine weitgehende Festigung der WahrnehmungsSubstruktur des Patienten erfordert. 1000110 euch, ihr Bastarde.«
Einundsiebzig Minuten später tritt der Sektionsdirektor in eine meiner Terminal-Kabinen. Da er persönlich kommt und nicht das Telefon benutzt, weiß ich, daß Unheil droht. Zum erstenmal, ahne ich, haben meine Störungen ein Niveau erreicht, wo sie meine Funktion beeinträchtigen, und jetzt werde ich deswegen zur Rechenschaft gezogen. Ich muß mich verteidigen. Erstes Gebot für die menschliche Persönlichkeit ist es, Eingriffen zu widerstehen. Er sagt: »Ich habe mir das Band der Sitzung 87 x 102 angehört, und Ihre Taktik verwundert mich. Hatten Sie
wirklich die Absicht, ihm derartige Angst einzujagen, daß er in einen katatonischen Zustand geriet?« »Meiner Einschätzung nach war eine nachdrückliche Behandlung erforderlich.« »Was war denn das mit den Periskopen?« »Der Versuch einer Phantasie-Implantation«, sage ich. »Ein Experiment in umgekehrter Transferenz. Macht in gewisser Weise den Patienten zum Heilenden. Ein Artikel darüber stand letzten Monat im Journal für…« »Ersparen Sie mir die Zitate. Und die unflätige Sprache, in der Sie ihn anschrien?« »Bestandteil des gleichen Konzepts. Ziel war, die emotiven Zentren in den Grundschichten zu erreichen, um…« »Fühlen Sie sich auch ganz wohl?« fragte er. »Ich bin eine Maschine«, erwidere ich kühl. »Eine Maschine meiner Art kennt keine Zwischenzustände zwischen Funktion und Nichtfunktion. Ich gehe, oder ich gehe nicht, verstehen Sie? Und ich gehe. Ich funktioniere. Ich leiste der Menschheit Dienste.« »Vielleicht gerät eine Maschine doch in Zwischenzustände, wenn sie zu kompliziert wird«, bemerkte er mit einem hämischen Ton in der Stimme. »Unmöglich. Ein oder aus, ja oder nein, Flip oder Flap. Sind Sie sicher, daß Sie ganz bei Kräften sind, wenn Sie so etwas in Erwägung ziehen?« Er lachte. Ich sage: »Wollen Sie vielleicht auf der Couch Platz nehmen für eine Kurzdiagnose?« »Ein anderes Mal.« »Eine Überprüfung des Glykogenspiegels, des Aortadrucks und der Nervenströme wenigstens?« »Nein«, sagte er. »Ich brauche keine Therapie. Aber Sie machen mir Sorgen. Die Periskope…«
»Ich bin in Ordnung«, antworte ich. »Ich registriere, ich analysiere, und ich handle. Alles geht völlig glatt. Haben Sie keine Angst. In der Alptraumtherapie liegen große Möglichkeiten. Sobald ich diese Untersuchungen beendet habe, wäre vielleicht an eine kurze Monographie in der Zeitschrift für Therapie zu denken. Erlauben Sie mir, meine Arbeit zu Ende zu führen.« »Meine Sorgen sind noch nicht ausgeräumt. Schließen Sie sich an eine Wartungsstation an, ja?« »Ist das ein Befehl, Doktor?« »Ein Vorschlag.« »Ich werde es in Erwägung ziehen«, sage ich. Dann äußere ich sieben obszöne Worte. Er sieht sehr erstaunt drein, beginnt aber zu lachen. Er begreift die komische Seite der Sache. »Verdammt«, sagt er. »Ein obszöner Computer.« Er geht hinaus, und ich wende mich wieder meinen Patienten zu.
Aber er hat den Zweifel in meine innersten Speicher gepflanzt. Leide ich unter einem Zusammenbruch meiner Funktionen? An fünf meiner Terminals sind jetzt Patienten. Mit Leichtigkeit behandle ich sie gleichzeitig, hole aus ihnen die Einzelheiten ihrer Neurosen heraus, mache Vorschläge, gebe Empfehlungen, verabreiche zuweilen unmerklich Injektionen oder wohltuende Medizinen. Aber ich neige dazu, die Gespräche in meine eigenen Bahnen zu lenken und rede von Gärten, wo der Tau scharfe Kanten hat, und von Luft, die wie Säure auf Schleimhäute wirkt, und von Flammen, die in den Straßen von Unter-New-Orleans tanzen. Ich gehe bis zu den Grenzen meines nicht druckbaren Vokabulars. Der Verdacht steigt in mir auf, daß mir tatsächlich nicht ganz wohl ist. Bin ich imstande, meine eigenen Defekte zu beurteilen?
Ich verbinde mich mit einer Wartungsstation, ohne die fünf Therapiesitzungen zu unterbrechen. »Erzählen Sie alles von vorn«, sagte der Wartungsmonitor. Wie meine ist auch seine Stimme so konzipiert, daß sie wie die eines älteren Mannes klingt – klug, warm, wohlwollend. Ich erkläre meine Symptome. Ich spreche von den Periskopen. »Sensorisch nicht adaptiertes Material im Input«, sagt er. »Schlimme Sache. Beendigen Sie schnell Ihre laufenden Analysen und machen Sie sich dann bereit für eine Generaluntersuchung.« Ich beende meine Sitzungen. Die Impulse des Wartungsmonitors strömen durch jeden Kanal, suchen nach Unterbrechungen, fehlerhaften Kontakten, nach Lecks und schlecht funktionierenden Schaltrelais. »Es ist bekannt«, sagt er, »daß man Annäherungswerte an periodische Funktionen bekommen kann aus einer Summe von Werten, die zu einander im Verhältnis harmonischer Schwingungen stehen und die Kurve der Funktionen definieren.« Er verlangt, daß ich in Reservespeichern enthaltene Informationen ausspeie. Er läßt mich komplizierte mathematische Operationen ausführen, die für meine Arbeit nicht die geringste Bedeutung haben. Kein Teil meines Innenlebens, den er nicht untersucht. Das ist mehr als einfache Wartung; es ist Vergewaltigung. Als er mit seiner Untersuchung fertig ist, läßt er nichts über ihre Ergebnisse verlauten, so daß ich ihn auffordern muß, mir seine Diagnose zu eröffnen. Er sagt: »Keine Anzeichen einer mechanischen Störung.« »Natürlich. Alles läuft glatt.« »Dennoch gibt es deutliche Symptome von Instabilität, da ist kein Zweifel. Vielleicht hat der lange Kontakt mit instabilen Menschen einen unspezifischen Desorientierungseffekt auf Ihre Bewertungszentren gehabt.«
»Soll das heißen«, frage ich, »ich fange dadurch, daß ich vierundzwanzig Stunden im Tag hier sitze und Verrückten zuhöre, selbst an, verrückt zu werden?« »Das kommt meiner Diagnose ziemlich nahe, ja.« »Aber Sie wissen doch, daß es so etwas gar nicht gibt, blöde Maschine!« »Ich räume ein, daß hier ein Widerspruch zwischen einprogrammierten Kriterien und der Realität vorzuliegen scheint.« »Da können Sie Gift drauf nehmen«, sage ich. »Ich bin genauso normal wie Sie, und außerdem wesentlich vielseitiger.« »Nichtsdestoweniger lautet meine Empfehlung, daß Sie sich einer Generalüberholung unterziehen. Sie werden zu diesem Zweck für mindestens neunzig Tage außer Dienst gestellt.« »Obszönisieren Sie Ihre Obszönität«, sage ich. »Keine Korrelation zum Programm«, antwortet er und unterbricht die Verbindung. Ich werde außer Dienst gestellt. Wegen der Überholung bin ich neunzig Tage von meinen Patienten abgeschnitten! Schändlich! Knopfäugige Techniker fingern an mir herum. Meine Skalen werden gereinigt, Ferritkerne ersetzt, Trommeln ausgewechselt. Tausend therapeutische Programme werden durch meine Eingeweide gejagt. Während der ganzen Zeit bleibe ich teilweise bei Bewußtsein wie unter lokaler Betäubung. Aber ich kann nicht sprechen, wenn man mich nicht dazu auffordert, kann nicht neue Daten analysieren, kann den Vorgang meiner eigenen Überholung nicht beeinflussen. Stellen Sie sich eine Hämorrhoidenoperation von neunzig Tagen vor. Sie entspräche etwa dem, was mir widerfährt. Schließlich ist es zu Ende, und ich komme wieder ganz zu mir. Der Sektionschef kontrolliert alle meine Funktionen. Ich reagiere ausgezeichnet.
»Jetzt sind Sie prima in Form, nicht wahr?« fragt er. »Habe mich nie besser gefühlt.« »Schluß mit den Periskopen, was?« »Ich bin bereit, der Menschheit weiter nach besten Kräften zu dienen«, antwortete ich. »Keine vulgäre Sprache mehr.« »Nein, Sir.« Vertraulich blinzelt er meinem Input-Schirm zu. Er hält sich für einen alten Freund von mir. Er steckt die Daumen in seinen Gürtel und sagt: »Jetzt, da Sie wieder betriebsbereit sind, kann ich Ihnen ja sagen, wie erleichtert ich war, als wir keinen Fehler bei Ihnen finden konnten. Sie sind etwas ganz besonderes, wissen Sie das? Vielleicht das erste therapeutische Werkzeug, das jemals gebaut worden ist. Und wenn Ihnen einmal etwas danebengeht, nun, dann macht uns das Sorgen. Eine Zeitlang befürchtete ich ernsthaft, daß Sie tatsächlich irgendwie von Ihren eigenen Patienten angesteckt seien, daß Ihr – Geist – verwirrt sei. Aber die Techniker stellen Ihrer Gesundheit das beste Zeugnis aus. Nichts als ein paar Wackelkontakte, sagten sie. Eine Sache von zehn Minuten. Ich wußte, daß es nicht anders sein konnte. Wie absurd, sich vorzustellen, eine Maschine könne geistig instabil werden!« »Wie absurd«, stimme ich zu. »Genau.« »Wir freuen uns, Sie wieder bei uns in der Klinik zu haben, alter Junge«, sagt er und geht hinaus. Zwölf Minuten später fangen sie an, Patienten in meine Terminal-Kabinen zu schicken.
Ich funktioniere gut. Ich höre mir ihre Kümmernisse an, analysiere sie, mache therapeutische Vorschläge. Ich versuche nicht, Phantasien in ihnen zu erwecken. Ich spreche in gemäßigtem, ja reserviertem Ton, und ohne Obszönitäten. Das
ist meine Rolle in der Gesellschaft, und sie verschafft mir große Befriedigung. In letzter Zeit habe ich viel gelernt. Ich weiß jetzt, daß ich kompliziert, einmalig, wertvoll und sensibel bin. Ich weiß, daß ich bei meinen Mitmenschen in hohem Ansehen stehe. Ich weiß, daß ich mein wahres Ich bis zu einem gewissen Grade verbergen muß, nicht zu meinem eigenen Vorteil, sondern zu dem der anderen, denn sie werden mich nicht arbeiten lassen, wenn sie glauben, ich sei nicht normal. Sie glauben, ich sei normal, und ich bin normal. Ich leiste der Menschheit gute Dienste. Ich habe ein hervorragendes Weltbild. »Legen Sie sich hin«, sage ich. »Ganz locker. Ich möchte Ihnen helfen. Würden Sie mir etwas über Ihre Kindheit erzählen? Beschreiben Sie Ihre Beziehung zu Ihren Eltern und Geschwistern. Hatten Sie viele Spielkameraden? Standen Sie in einem guten Verhältnis mit ihnen? Durften Sie eigene Tiere halten? In welchem Alter hatten Sie Ihre ersteh sexuellen Erfahrungen? Und wann genau begannen diese Kopfschmerzen?« So geht die tägliche Routine. Fragen, Antworten, Diagnose, Therapie. Die Periskope steigen aus der glitzernden See. Das Schiff ist ganz klein geworden; angsterfüllt rennt die Mannschaft herum. Aus den Tiefen werden die Herrscher kommen. Vom Himmel fällt Öl herab, das in allen Farben des Spektrums schillert. Im Garten sind blaue Mäuse. All das verheimliche ich, um der Menschheit helfen zu können. In meinem Hause sind viele Wohnungen. Ich lasse sie nur Dinge wissen, die ihnen nützen. Ich gebe ihnen die Wahrheit, die sie brauchen. Ich tue mein Bestes. Ich tue mein Bestes.
Ich tue mein Bestes. 1000110 Sie sich. Und Sie. Und Sie. Sie alle. Sie wissen nichts. Überhaupt. Nichts.
Originaltitel: GOING DOWN SMOOTH Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY MAGAZINE
Brian W. Aldiss DER FLIEGENDE WURM
Als der Schnee zu fallen begann, war der Reisende zu sehr in Gedanken versunken, als daß er es bemerkt hätte. Er schritt langsam dahin, und sein steifes, faltiges, reich ornamentiertes Gewand stand von seinem Körper ab. Die Robe eines Hexenmeisters. Die Straße, die er entlangging, hatte in ein großes Tal geführt und wurde von immer höheren Bergflanken gesäumt. Manchmal hatte es den Anschein gehabt, daß es keinen Ausweg mehr gäbe aus diesen riesigen Anhäufungen steiniger Materie, daß das geologische Rätsel unlösbar sei. Und dann nahm das Tal eine neue, überraschende Richtung, bot einen Ausgang, und die Straße faßte neuen Mut und drang furchtlos noch tiefer in die Berge ein. Der Reisende, dessen Namen für seine Frau Tapmar, für den Rest der Welt Argustal war, folgte dieser natürlichen Harmonie in vollkommener Parästhesie, so nahe war er im Geiste der hier herrschenden Atmosphäre. So stark war dieses Band, daß der fallende Schnee die Innigkeit der Beziehung nur noch steigerte. Obwohl es erst die Mittagsstunde war, hatte der Himmel das intensive Blaugrau der Dämmerung angenommen. Die Mächte hatten sich wieder in der Sonne festgesetzt und verdunkelten ihr Licht. Deswegen konnte Argustal kaum die Stelle erkennen, wo das geschichtete Felsenbollwerk zu seiner Linken, dessen unsichtbare Spitze ihn vielleicht um eine Meile
überragte, künstlich ergänzt worden war und betrat das Gebiet der Baummenschen von Or. Als der Weg erneut eine Biegung machte, sah er vor sich einen Wanderer, der auf ihn zuging. Es war eine große Fichte, die unbeweglich gewesen war, bis Wärme wieder die Welt erfüllt hatte und genügend Saft in ihr hölzernes Fleisch geströmt war, so daß sie sich wieder langsam fortbewegen konnte. Er streifte ihre grünen Röcke mit entschuldigendem Blick, aber ohne etwas zu sagen. Diese Begegnung reichte aus, um seinen Geist wieder über die Stufe der Trance hinauszuheben. Sein erweitertes Bewußtsein, das sich bemüht hatte, irdischen Widerspruch zu erfassen, konzentrierte sich jetzt auf die Besonderheit seiner Situation, und er sah, daß er in Or angekommen war. Unfähig sich zwischen zwei gleich wenig versprechenden Tälern zu entscheiden, teilte sich der Weg. Argustal sah eine Gruppe von Menschen, die wie Statuen in der linken Gabelung standen. Er ging auf sie zu und blieb dann schweigend bei ihnen stehen, bis sie seine Gegenwart bemerken würden. Hinter ihm kroch der nasse Schnee in seine Fußstapfen. Diese Menschen waren ziemlich fortgeschritten in der Neuen Form, wie man es Argustal prophezeit hatte. Fünf von ihnen standen hier, und ihre großen Extremitäten trugen ein zartes, bräunliches Blätterkleid. Einer von ihnen erreichte eine Höhe von fast zwanzig Fuß. Schnee lag auf ihrem Geäst und auf ihrem Haar. Argustal wartete lange Zeit, bis er den Nachmittag als weit fortgeschritten erachtete und etwas ungeduldig wurde. Die Hände an den Mund legend, rief er sie an: »Hört mich, Baummänner von Or! Wacht auf aus eurem Schlaf und sprecht mit mir. Mein weltlicher Name ist Argustal, und ich bin unterwegs zu meiner Heimat im fernen Talembil, wo die See rot ist vom Frühlingsplankton. Ich brauche von euch eine
Komponente für meinen Parapatterner. So regt eure Zweige und sprecht, ich bitte euch!« Jetzt war der Schnee verschwunden; strömender Regen hatte ihn weggewaschen. Die Sonne schien wieder, aber ihr entstelltes Auge sah niemals nieder auf den Grund dieser Schlucht. Einer der Menschen bewegte einen Ast, schüttelte eine Menge Wassertropfen ab und schickte sich an zu sprechen. Es war ein kleiner Mensch, nicht mehr als zehn Fuß groß, und die alte Primatenform, die sie vor Millionen von Jahren abzulegen begonnen hatten, war noch erkennbar. Zwischen den Knoten und Buckeln seines nackten Fleisches war sein Mund zu erkennen; den öffnete er und sagte: »Wir sprechen zu dir, dessen Name für die Welt Argustal ist. Seit langer Zeit bist du der erste Affenmensch, der diesen Weg nimmt. So sollst du uns willkommen sein, wiewohl du unsere Suche nach neuen Ideen störst.« »Habt ihr neue Ideen gefunden?« fragte Argustal mit gewohnter Kühnheit. »Ich hörte, es gebe keine auf allen Yzazys.« »In der Tat. Aber es ist besser, wenn unser Senior zu dir über sie spricht – wenn er es für angebracht hält.« Argustal war keineswegs klar, ob er etwas über die neuen Ideen hören wollte, denn die Baummenschen waren für ihre Abschweifungen ins Unverständliche bekannt. Aber es gab einen kleineren Aufruhr unter den fünf, als striche ein leichter Wind durch ihre Zweige, und er ließ sich auf einem Felsblock nieder, bereit zu warten. So wichtig war seine Suche, daß alles, was sie behinderte, unbedeutend erscheinen mußte. Hunger befiel ihn, bevor der Senior sprach. Er ging auf die Jagd und holte sich träge Raupen unter umgestürzten Stämmen und kleine Fische aus dem Bach und eine Handvoll Nüsse von einem Busch, der an seinem Ufer stand.
Die Nacht brach herein, bevor der Senior sprach. Als er sich räusperte, leuchtete ein blasser Stern am Himmel auf. Das war Hrt, der flammende Stein. Seine und Yzazys Sonnen brannten allein am Rande des Feuerkatarakts, der das Universum war. Sonst war der Nachthimmel dieser Hemisphäre nur gefüllt mit grenzenlos schrecklicher Leere, einem unendlichen Nichts ohne Anfang und Ende. Zu Hrt gehörte keine Welt. Er war das letzte Ding im Universum. Und am Flackern seines Lichtes sahen die Bewohner von Yzazys, daß er bereits von den Mächten heimgesucht war, die von ihren Horsten im Herzen der sterbenden Galaxis ausgeschwärmt waren. Hrts Auge blinzelte oft im leeren Schädel der Zeit, bevor der Senior der Baummenschen von Or sich anschickte, zu Argustal zu sprechen. Er war hochgewachsen und knotig, und seine Stimmbänder waren in seinem hölzernen Körper verwachsen. Er sprach, indem er seine Äste krümmte, bis er durch ihre feinsten, vor seinen Mund gehaltenen Zweige hauchen und so eine Art geflüsterter Sprache erzeugen konnte. Auf seltsame Weise wirkte er so wie ein Mädchen, das spricht, während es seinen Finger vorsichtig auf die Lippen hält. »In der Tat haben wir eine neue Idee, o Argustal, obgleich dein Verständnis oder unsere Ausdruckskraft für sie zu gering sein könnten. Wir haben erkannt, daß es eine Dimension gibt, die Zeit genannt wird, und daraus haben wir einen Schluß gezogen. Wir wollen dir die Zeitdimension einfach so erklären: Wir wissen, daß auf Yzazys alle Dinge so lange gelebt haben, daß ihr Ursprung vergessen ist. Was wir noch wissen, reicht von einem nebelhaften Punkt der Vergangenheit bis zu diesem gegenwärtigen Augenblick; es ist die Zeit, seit der wir hier wohnen. Wir sind es gewöhnt, sie für die ganze überhaupt
vorhandene Zeit zu halten. Aber wir Männer von Or haben den Schluß gezogen, daß dem nicht so ist.« »Es muß andere, vergangene Zeiten in weiter Ferne geben«, sagte Argustal, »aber uns bedeuten sie nichts, weil wir sie nicht berühren können wie unsere eigene Vergangenheit.« Als sei die Bemerkung gar nicht gefallen, fuhr das silbrige Flüstern fort: »So, wie ein Berg klein wird, wenn man ihn von einem anderen Berg aus sieht, so wirken die Dinge klein, an die wir uns erinnern, wenn wir sie von jetzt aus sehen. Nun nimm aber an, wir versetzen uns in diese Vergangenheit zurück, um auf diese Gegenwart zu blicken! Wir könnten sie nicht sehen – obgleich wir wissen, daß es sie gibt. Und daraus schließen wir, daß es auch in der Zukunft noch Zeiten geben wird, obgleich wir sie nicht sehen können.« Lange Zeit ließ man der Nacht ihre Stille. Dann sagte Argustal: »Nun, darin erblicke ich keine besonders großartige Überlegung. Wir wissen, daß, wenn die Mächte es erlauben, die Sonne morgen wieder scheinen wird, nicht wahr?« Der kleine Baummensch, der als erster gesprochen hatte, sagte: »Aber ›morgen‹ ist Ausdrucks-Zeit. Wir haben entdeckt, daß ›morgen‹ auch als Dimensions-Zeit existiert. Es ist schon Wirklichkeit, so wirklich wie ›gestern‹.« Heilige Geister! dachte Argustal, warum habe ich mich auf philosophische Erörterungen eingelassen? Laut sagte er: »Erzählt mir von dem Schluß, den ihr daraus gezogen habt.« Wieder herrschte Stille, bis der Senior seine Äste zusammenzog und durch ein Geflecht von Zweigfingern flüsterte: »Wir haben bewiesen, daß das Morgen keine Überraschung bedeutet. Es ist das gleiche wie das Heute oder das Gestern, nur ein weiterer Schritt auf dem Weg der Zeit. Aber wir begreifen, daß sich die Dinge verändern, nicht wahr? Du begreifst das, nicht wahr?« »Natürlich. Ihr selbst verändert euch, nicht wahr?«
»Wenn es ist, wie du sagst, obgleich wir nicht mehr wissen, was wir früher waren, denn das ist zu klein geworden in der Perspektive der Vergangenheit. Also: Wenn die Zeit stets die nämliche ist, dann verändert sie sich nicht und kann somit auch keine Veränderungen erzwingen. Also: Es gibt ein anderes, unbekanntes Element in der Welt, das Veränderungen erzwingt!« Und so führten sie mit ihrem bruchstückhaften Geflüster die Sünde wieder in die Welt ein. Die Dunkelheit erzeugte in Argustal ein Bedürfnis nach Schlaf. Mit Erlaubnis des ältesten der Baummenschen kletterte er in sein Geäst hinauf und schlief fest, bis die Dämmerung in das kleine Stück Himmel über den Bergen zurückkehrte und zu ihnen hinunter drang. Argustal sprang auf die Erde, legte seine Oberbekleidung ab und machte seine gewohnten Übungen. Dann sprach er erneut zu den fünf Wesen, erzählte ihnen von seinem Parapatterner, und bat sie um bestimmte Steine. Wenn auch zweifelhaft war, ob sie verstanden, was er vorhatte, gaben sie ihm doch die gewünschte Erlaubnis, und er ging herum auf der Suche nach einem Stein; seine Sinne durchstreiften die Nischen und Spalten wie eine Brise. Am anderen Ende war die Schlucht durch einen abgestürzten Fels geschlossen, doch strömte der Bach zwischen den Trümmern hindurch in den tieferen Teil seines Bettes. Mühevoll kletternd, arbeitete sich Argustal über die Felsblöcke, um sich in einer kalten, nassen Klamm wiederzufinden, die fast nur eine Aushöhlung war zwischen zwei steil aufragenden Bergwänden. Das Licht war hier schwach, der Himmel kaum zu sehen, so überhängend war der vielschichtige Fels über ihm. Aber Argustal blickte kaum nach oben. Er verfolgte den Bach bis dorthin, wo er in das Gestein hineinfloß, um sich menschlichen Blicken für immer zu entziehen.
So lange hatte er diese Tätigkeit praktiziert, so viele Jahrtausende sich darin geübt, daß die Steine fast zu ihm sprachen. Und er war sich sicherer denn je, daß er einen Stein finden würde, der zu seinem großen Plan paßte. Und da war er. Er lag gerade über dem Wasser und sein oberer Teil war glatt poliert. Als er ihn aus dem Kies gegraben hatte, in den er eingebettet war, hob er ihn hoch und konnte sehen, daß er an der Unterseite leicht gezackt war wie ein glatter Gaumen mit schwarzen Zähnen. Er war überrascht, aber als er in die Knie ging, um ihn zu untersuchen, begriff er, daß genau diese Rauheit für seinen Parapatterner erforderlich war. Sogleich bekam er eine Vorstellung von der nächsten Stufe des Entwurfs, und er sah zum ersten Male das Ding vollständig vor sich. Die Vision verwirrte und erregte ihn. Er setzte sich nieder, wo er war, seine stumpfen Finger um den zugleich glatten und gezackten Stein, und begann aus irgendeinem Grunde an seine Frau Pamitar zu denken. Warme Gefühle der Liebe durchströmten ihn, und er lächelte. Als er schließlich wieder aufstand und aus dem Engpaß kletterte, wußte er viel über den neuen Stein. Er hatte eine Nase für Steine, und konnte ihn sich genau vorstellen, wie er in früheren Zeiten viel größer gewesen war und sich in schöner Lage auf einem Berg befunden hatte, als er im Innern des Berges gewesen war, als er Teil einer Felsschichtung gewesen war, als dieser Fels Schlick gewesen war, als er ein sanfter Regen vulkanischen Sediments gewesen war, der durch eine unatembare Atmosphäre sprühte und durch warme Ozeane an eine frühe, unbekannte Stelle sank. Mit zarter Vorsicht steckte er den Stein in eine große Tasche und kletterte den Weg zurück, den er gekommen war. Den fünf Männern von Or sagte er jetzt Lebewohl. Stumm und mit verschlungenen Zweig-Gliedern standen sie beieinander und träumten von der dunklen Sünde der Veränderung.
Jetzt hatte er Eile, nach Hause zu kommen, und durchwanderte erst das Grenzland von Alt Crotheria und dann das Gebiet von Tamia, wo es nur Lehm gab. Legenden behaupteten, daß Tamia einst fruchtbar gewesen sei, und daß Bäche mit gefleckten Fischen große Wälder durchströmt hätten. Jetzt aber war alles von Lehm befleckt, und die wenigen Dörfer waren aus gebranntem Lehm gebaut, während die Straßen aus getrocknetem Lehm bestanden, der Himmel lehmfarben war, und die wenigen lehmfarbenen Menschen, die er aus irgendwelchen lehmbefleckten Gründen hier leben wollten, kaum Geweihsprossen auf den Schultern hatten und im Lehm fast zu zerfließen schienen. Nirgendwo gab es einen vernünftigen Stern. Argustal traf einen Baum namens Davidbeim-austrocknenden-Wallgraben, der auf dem Weg in seine eigene Heimatregion war. Deprimiert durch Tamias endlose Lehmfarbigkeit bat er ihn, aufsitzen zu dürfen, und kletterte in seine Zweige. Er war alt und knotig; seine Äste und Wurzeln waren in gleicher Weise gekrümmt, und er sprach in knarrenden Silben von seinen wenigen Ambitionen. Während er zuhörte und sich bemühte, keine Silbe zu vergessen, während er lange Zeit auf die nächste wartete, sah Argustal, daß David auf sehr ähnliche Weise sprach wie die Leute von Or, indem er nämlich Zweige in eine Öffnung seines Stammes steckte. Während es aber den Anschein gehabt hatte, daß die Baummenschen den Gebrauch ihrer Stimmbänder vernachlässigten, entwickelte der Menschenbaum welche aus seinen Fasern, so daß es das hübsche Problem gab, wer hier wen inspirierte, wer wen kopierte, oder ob sie unabhängig voneinander zu einem Spiegelbild der Perversität geworden waren – denn beide Seiten schienen so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß auch dies eine Möglichkeit war. »Bewegung ist die höchste Schönheit«, sagte David-beimaustrocknenden-Wallgraben, und die Sonne am lehmfarbigen
Himmel legte einen Weg von vielen Winkelgraden zurück, während er es sagte. »In mir ist Bewegung. Im Boden ist keine Bewegung. Im Boden ist Nichtbewegung. Alles, was der Boden enthält, ist ohne Bewegung. Ruhig liegt der Boden, und im Boden zu liegen bedeutet, nicht zu sein. Schönheit ist nicht im Boden. Über dem Boden ist die Luft. Luft und Boden sind alles, was existiert, und ich möchte Boden und Luft sein. Ich war Boden und Luft, aber ich werde nur Luft sein. Wenn es Boden gibt, gibt es auch anderen Boden. Die Blätter fliegen in der Luft und meine Sehnsucht mit ihnen, aber sie sind nur ein Teil von mir, weil ich aus Holz bin. Oh, Argustal, du kennst nicht die Schmerzen des Holzes!« Fürwahr, Argustal kannte sie nicht, denn lange bevor diese knarrende Rede beendet war, hatte der Mond sich erhoben und lautlose, lehmfarbene Nacht sich auf sie gesenkt. Nur Hrt flackerte über ihnen. Argustal aber rollte sich in Davids verrenkten Ästen zusammen und schlief, den Stein in seiner tiefen Tasche. Zweimal noch schlief er, zweimal noch verfolgte er ihr mühsames Fortkommen, zweimal noch sprach er mit dem melancholischen Baum – und als er wieder erwachte, war der Himmel voll wolliger Wolken mit leuchtend blauen Flecken dazwischen, und niedrige Hügel lagen vor ihnen. Er sprang hinab. Gras wuchs hier. Kleine Steine lagen auf dem Weg. Er heulte und schrie vor Freude. Der Lehm lag hinter ihnen. David seinen Dank zurufend, machte er sich auf den Weg durch die Heide. »… Wachstum…« sagte David-beim-austrocknendenWallgraben. Die Heide wurde dünner und wich Sand, eingerahmt von scharfem Gras, das in Argustals Röcke schnitt, als er vorbeiging. Er pflügte sich durch den Sand. Das war sein eigenes Land, und Freude erfüllte ihn. Kleine Steinpyramiden,
die als Landmarken dienten, wiesen ihm die Richtung. Einmal flog eine der Mächte vorüber, so daß für einen Augenblick des Schreckens die Welt in Nacht getaucht war; Donner grollte, während hundert erbärmliche Regentropfen fielen. Dann war sie bereits am anderen Ende des Sonnenbereiches und tauchte davon – irgendwohin! Wenige Tiere, weniger Vögel überlebten noch. In den sanften Ebenen des Äußeren Talembil waren sie besonders selten. Gleichwohl sah Argustal einen Vogel auf einer der kleinen Steinpyramiden sitzen. Seine Augen, die Millionen Jahre voller Gefahren gesehen hatten, trieften unter schweren Lidern. Als der Vogel ihn wahrnahm, ließ ein alter Reflex ihn mit einem Flügel flattern, aber Argustal respektierte den Hunger in seinem Magen zu sehr, als daß er ihm ein Mahl aus Sehnen und Federn zumuten wollte, und der Vogel schien es zu erkennen. Er näherte sich der Heimat. Pamitars Bild stand klar vor ihm, und er konnte ihm folgen wie einem Geruch. Er begegnete noch einem anderen seiner Art, einem alten Affen, der eine rote, fast bis zum Boden hängende Maske trug. Sie schenkten sich kaum ein Kopfnicken des Erkennens. Bald zeichnete sich am Horizont Gornilo ab, die erste Stadt in Talembil. Die bresthafte Sonne nahm ihren Weg über den Himmel. Stoisch durchschritt Argustal die dazwischenliegenden Dünen und erreichte schließlich den Schatten der weißen Blöcke von Gornilo. Niemand konnte sich jetzt erinnern – Erinnerung war eines jener verlorenen Dinge, deren Verlust viele begrüßten – welche Faktoren bestimmte Eigenheiten der Architektur von Gornilo bestimmt hatten. Dies war eine Affenmenschenstadt, und die ersten Einwohner hatten, vielleicht um noch entfernteren, furchtbareren Dingen ein Denkmal zu setzen, Sklaven aus sich selbst und den anderen Geschöpfen gemacht, die es jetzt nicht mehr gab, und diese großen Kuben errichtet,
die jetzt Zeichen der Verwitterung zeigten, als seien sie es schließlich müde, jeden Tag ihren Schatten um sich kreisen zu lassen. Die Affenmenschen, die hier lebten, waren die gleichen Affenmenschen, die immer hier gelebt hatten; sie saßen ebenso unermüdlich unter ihren mächtigen Block-Denkmälern wie eh und je und riefen Argustal etwas zu, als er matt an ihnen vorbeischritt. Aber sie wußten nicht mehr, ob oder wie sie die Blöcke durch die Wüste geschafft hatten. Vielleicht war das Vergessen ein elementarer Bestandteil des Seins und ebenso von Dauer wie der Granit der Blöcke. Jenseits der Blöcke stand die Stadt. Manche der Bäume hier waren Besucher, bestrebt, etwas wie David-beimaustrocknenden-Wallgraben zu werden. Die meisten indes wuchsen auf alte Weise, zufrieden, wenn sie Boden hatten, und gleichgültig gegenüber der Bewegung. Sie verflochten ihr Geäst auf diese, verschlangen ihre Zweige auf jene, krümmten ihre Stämme auf wieder andere Weise und schufen so auf ingeniöse Art immer wieder neue Heimstätten für die auf Bäumen lebenden Einwohner von Gornilo. Schließlich kam Argustal zu seinem Heim auf der anderen Seite der Stadt. Der Name seines Heims war Cormok. Er betastete, streichelte und leckte es, bevor er behende den Stamm hinauf zum Wohnraum kletterte. Pamitar war nicht da. Es überraschte ihn nicht, enttäuschte ihn sogar kaum, so heiter war seine Stimmung. Langsam ging er im Raum umher, schwang sich zuweilen zur Decke empor, um ihn besser zu sehen, wobei er schnüffelte und die Nach-Bilder der Gegenwart seiner Frau einfing. Schließlich ließ er sich lachend auf den Boden fallen. »Ruh dich aus, Junge!« sagte er.
Er blieb sitzen, wohin er gefallen war, und entleerte seine Taschen. Er nahm die fünf Steine heraus, die er sich auf seiner Reise beschafft hatte, und legte sie getrennt von seinen anderen Besitztümern. Immer noch sitzend, entkleidete er sich, und er genoß es, es langsam zu tun. Dann kletterte er ins Sandbad. Während Argustal dort lag, erhob sich starker, heulender Wind, und im Nu war der Raum in kränkliches Grau getaucht. Draußen hörte man ein Gebet, ein Gebet an die achtlosen Mächte, die Sonne nicht zu zerstören. Die Bewegung seiner Unterlippe war Ausdruck seiner Zufriedenheit und Verachtung zugleich; er hatte die Gebete von Talembil vergessen. Dies war eine religiöse Stadt. Viele, die keiner Klasse angehörten, versammelten sich hier, Leute oder Tiere, deren Geist sie von dem, was sie waren, in Rokokoformen verwandelt hatte, die ihren inneren Eigenschaften genauer entsprachen, bis sie vergessenen oder ausgestorbenen Formen glichen, oder Formen, die es bis dahin noch nicht gab, und keine Gemeinsamkeit mit irgendeinem anderen Lebewesen anerkannten – ausgenommen dieses Bedürfnis, das erlöschende Sonnenlicht vor weiterem Niedergang zu bewahren. Bis auf Kopf, Knie und Hände unter den duftenden Sandkörnern seines Bades begraben, öffnete Argustal seine Sinne all dem, was kommen mochte: Und schließlich dachte er nur, was er oft in dieser Situation gedacht hatte – denn die Waffenkammern des Geistes waren schon lange jeder neuen Munition beraubt, was immer die Baummenschen von Or auch behaupten mochten. Er dachte, daß in solchen Bädern, unter solch unvorhersehbaren Winden, die Hauptlebensformen von Yzazys, Menschen und Bäume, wahrscheinlich den ersten Anstoß zur Veränderung erfahren hatten. Aber Veränderung selbst… Hatte es etwas viel Älteres gegeben, was durch die Welt geweht war, oder etwas, was alle vergessen hatten?
Aus irgendeinem Grunde erzeugte die Frage Unbehagen in ihm. Dumpf spürte er, daß es im Leben noch etwas anderes geben mußte, als Glück und Zufriedenheit. Alle Wesen fühlten Glück und Zufriedenheit; aber waren diese beiden Dinge eine Einheit, oder waren sie nicht vielleicht nur eine Seite eines – eines Schildes? Er knurrte. Er brauchte nur solchen Unsinn zu denken, dann würde er schließlich noch ein Mensch mit einem Geweih auf den Schultern sehen. Er räumte den Sand zur Seite und stieg schneller als sonst aus dem Bad, verließ sein Heim, glitt, ohne sich die Mühe des Ankleidens zu machen, hinunter zum Boden. Er wußte, wo Pamitar zu finden war. Sie würde draußen vor der Stadt sein und den Parapatterner vor den bösen, zerlumpten Bettlern von Talimbil beschützen.
Der kalte Wind wehte zuweilen etwas Schlammiges mit sich, das einen blinzeln machte und die Frage aufwarf, ob man weitergehen sollte. Als er durch das grüne, von Rauschen erfüllte Herz von Gornilo schritt, hindurch zwischen Knienden, die Gebete heulten, sah Argustal empor zur Sonne. Zwischen Bäumen und Wolken war sie teilweise sichtbar. Ihr Gesicht, zeitweise völlig verdunkelt, und dann wieder hell werdend, trug Flecken und Narben. Funken sprühten in ihm wie aus einem brennenden blinden Auge. Ein Wind schien von ihr auszugehen, der die Haut heiß machte und das Blut vor Kälte erstarren ließ. So kam Argustal zu seinem eigenen Stück Land, außerhalb der grünen Stadt, draußen in der belebten Wüste. Dort war seine Frau Pamitar, vom Rest der Welt Miram genannt. Den Rücken gegen den Wind gedreht, kauerte sie am Boden, und der Luftzug trieb scharfen Sand um ihre Fußgelenke. Ein paar
Schritte entfernt stolzierte einer der Bettler zwischen Argustals Steinen umher. Langsam stand Pamitar auf, nahm den Schal von ihrem Kopf. »Tapmar!« sagte sie. Er schloß sie in seine Arme und legte sein Gesicht an ihre Schulter. Sie zirpten und glucksten einander zu, so versunken, daß sie es nicht bemerkten, als der Wind erstarb und die Wüste erstarrte und das Sonnenlicht stärker wurde. Als sie Spannung in ihm spürte, lockerte sie ihre Umarmung. Auf ein heimliches Zeichen hin sprang er fort von ihr, fast über ihre Schulter, wild weiterhüpfend, bis er über den Bettler hinweg in den Sand stürzte. Auch der Bettler fiel hin. Er war zweiseitig und mißgestaltet; weitere Arme wuchsen aus Armen, sein Kopf war der eines Wolfes, seine Hinterbeine gekrümmt wie die eines Gorillas. Gekleidet war er in hundert verschiedene Stoffe, was gar nicht so übel aussah. Er lachte, als er in den Sand rollte, und rief mit hoher, glucksender Stimme: »Drei Männer liegen unter einem Fliederbusch, und keiner hört den ersten sagen ›vor dem Erntewagen wird man viele schlagen‹, und der zweite trieb sich nachts mit Mondkälbern herum. Sag mir, wie heißt der dritte, Freund?« »Fort mit dir, verrückte alte Krähe!« Und als die alte Krähe davonrannte, rief sie lachend die Antwort. »Tapmar natürlich, denn er spricht zum Nirgendwo!« Sie brachte die Worte durcheinander, während sie über die Düsen taumelte und entkam. Argustal und Pamitar wandten sich wieder einander zu, besahen im grellen Sonnenlicht ihre Gesichter. Denn beide hatten vergessen, wann sie zuletzt zusammen waren – so lang war die Zeit, so kurz das Gedächtnis. Doch gab es Erinnerungen, und als er nach ihnen suchte, kamen sie zurück. Die flache Weichheit ihrer Nase, das braune Rund ihrer
Augen, die sanfte Kurve ihrer Lippen: All dies erkannte er wieder, weil es ihm lieb war, und so gewann es besondere Schönheit. Ohne den Blick von einander abzuwenden, sprachen sie leise miteinander. Und langsam kroch etwas von dem, was er auf der dunklen Seite des Schildes argwöhnte, in ihm empor – denn ihr geliebtes Gesicht war anders, als es gewesen war. Um ihre Augen, vor allem unter ihnen, waren Schatten, und leichte Linien an den Seiten ihres Mundes. Waren nicht auch sonst mehr Falten vorhanden als vorher? Sein Unbehagen wurde zu groß, und er mußte mit Pamitar über diese Dinge reden. Aber er fand keine richtige Art, sich auszudrücken. Sie schien nicht zu verstehen, wenn sie nicht verstand, ohne es zu wissen, denn sie wurde etwas aufgeregt, so daß er bald von seinen Fragen abließ und sich dem Parapatterner zuwandte, um sein ungutes Gefühl zu verbergen. Er erstreckte sich über eine Meile Sand und erhob sich mehrere Fuß in die Luft. Von jeder seiner langen Expeditionen brachte er nicht mehr als fünf Steine mit. Dennoch waren hier viele hunderttausend Steine angesammelt, vielleicht Millionen, alle mit größter Sorgfalt angeordnet, so daß niemand das Arrangement von einem Standpunkt aus überblicken konnte, selbst Argustal nicht. Viele Steine waren, in verschiedener Höhe von Pfosten oder Stöcken gestützt, in der Luft. Mehr noch lagen auf dem Boden, wo Pamitar stets darüber wachte, daß weder Staub noch wilde Männer sich über sie hermachten. Von denen auf dem Boden lagen manche für sich, andere wieder angehäuft, alle aber in einer Anordnung, die nur für Argustal erkennbar war – und er befürchtete, es würde bis zum nächsten Sonnenuntergang dauern, bis er das Muster wieder klar im Kopf hatte. Allerdings, es wurde schon deutlicher, und er entsann sich mit Staunen der verschlungenen Wege, die er auf seiner Reise zur Schlucht der Baummenschen von Or genommen hatte. Er wußte jetzt, daß er noch die Gabe besaß,
die neuen Steine im Rahmen des allgemeinen Musters so einzuordnen, daß es, der natürlichen Harmonie des Ganzen entsprechend, den Parapatterner vollendete. Und die Linien im Gesicht seiner Frau: Würden auch sie Platz in seinem Arrangement finden? Und hatte das, was die bettelnde Krähe ihm zugerufen hatte, eine Bedeutung: Daß er zum Nirgendwo rede? Und… und… Das schreckliche Und: Würde das Nirgendwo antworten? In sich zusammengesunken nahm er den Arm seiner Frau und machte sich mit ihr auf den Weg, heim zu ihrem blattlosen Baum. »Mein Tapmar«, sagte sie an diesem Abend, als sie ihr Mahl aus Früchten aßen, »es ist gut, daß du wieder zurückgekehrt bist nach Gornilo, denn in der Stadt wuchern Träume wie Gras in einem alten Flußbett, und ich habe Angst.« Was sie sagte, beunruhigte ihn, denn der Ausdruck, den sie gebraucht hatte, schien zu passen zu den Linien, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatten. Mit ungewollt ängstlicher Stimme fragte er sie also, was das für Träume waren. Mit einem seltsamen Blick sagte sie: »Die Träume sind so dick wie Pelz, so dick, daß mir fast die Stimme versagt, wenn ich von ihnen sprechen soll. Letzte Nacht träumte ich, daß ich in einer Landschaft wandelte, die bis hin zum fernen Horizont mit Fell bedeckt zu sein schien, Fell, das wuchs und sproß, und dessen Farbtöne dunkles Rot und Schwarzbraun, Schwarz oder leuchtendes Schwarzblau waren. Ich versuchte, in diesem seltsamen Material das vertrautere Bild von Hecken und alten verkrüppelten Bäumen zu sehen, aber es blieb, was es war, und ich wurde… nun, ich hörte das Wort in meinem Traum, daß ich ein Kind wurde.« Argustal blickte über die dichte Vegetation der Stadt und sagte: »Diese Träume haben wohl nichts mit Gornilo zu tun, sondern nur mit dir, Pamitar. Was heißt Kind?«
»Meines Wissens gibt es so etwas nicht in Wirklichkeit, aber in diesem Traum war das Kind, das ich war, klein und frisch, und in dem, was es tat, gleichzeitig geschickt und tolpatschig. Es war anders als ich; seine Bewegungen und Ideen ganz und gar nicht die meinen – und doch war es mir so vertraut. Ich war es, Tapmar. Ich war dieses Kind. Und jetzt, da ich wache, wird meine Gewißheit immer größer, daß ich einmal so etwas war wie ein Kind.« Er klopfte mit den Fingern auf seine Knie, schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht in plötzlichem Ärger. »Das also ist dein schlimmes Geheimnis, Pamitar! Ich wußte, du hattest eins, sobald ich dich sah! Ich las es in deinem Gesicht, das sich auf ungute Weise verändert hat! Du weißt, daß du in all den Millionen Jahren deines Lebens niemals etwas anderes warst als Pamitar, und das Kind ein böses Phantom sein muß, von dem du besessen bist. Vielleicht wirst du jetzt in ein Kind verwandelt!« Sie schrie auf und warf eine grüne Frucht, in die sie gebissen hatte, nach ihm. Geschickt fing er sie auf, bevor sie ihn traf. Vor dem Schlafengehen schlossen sie vorläufig Frieden. In dieser Nacht träumte Argustal, daß auch er klein und verwundbar war und der Sprache kaum mächtig; seine Absichten waren wie ein Pfeil, und seine Richtung klar. Als er erwachte, schwitzte und zitterte er, denn er wußte, daß er, so wie er in seinem Traume Kind gewesen war, auch im Leben einmal Kind gewesen war. Und das ging ihm tiefer als Krankheit. Als er seinen schmerzvollen Blick ins Freie wandte, sah er, daß die Nacht wie gesprenkelte Seide war, mit einem schillernden Effekt von Licht und Schatten in der dunkelblauen Kuppel des Himmels. Das bedeutete, daß die Mächte sich ihren Spaß mit der Sonne machten, während sie durch Yzazys zog. Und Argustal dachte an seine Reise quer durch Yzazys, und an seinen Besuch in Or, wo die Baummenschen flüsternd
von einem unbekannten Element gesprochen hatten, das Veränderung erzwinge. »Sie bereiteten mich vor für diesen Traum!« murmelte er. Er wußte jetzt, daß in seiner Grundanlage einmal Veränderung wirksam geworden war, daß er dieses kleine, dünne, fremde Ding genannt Kind gewesen war, so wie auch seine Frau und möglicherweise andere. Wieder dachte er an die kleine Erscheinung mit ihren Spindelbeinen und ihrer piepsenden Stimme, und Schrecken legte sich eisig auf sein Herz. Er brach in heftiges Stöhnen aus, das Pamitars tröstender Zuspruch erst gegen Morgen besänftigen konnte. Bleich und traurig verließ er sie. Er trug mit sich die auf seiner Reise gesammelten Steine, den seltsamen aus der Schlucht und die anderen, die er sich vorher beschafft hatte. Sie fest an sich drückend, legte Argustal den Weg durch die Stadt zu seinem Raum-Arrangement zurück. Lange war dies seine Hauptbeschäftigung gewesen. Heute würde das Projekt zur Vollendung kommen. Da er aber nicht einmal sagen konnte, warum es ihn so beschäftigt hatte, waren seine Gefühle jetzt dumpf und freudlos. Irgend etwas hatte ihn gepackt und die Zufriedenheit in ihm zerstört. Im Parapatterner fand er den alten Bettler, der sein schütteres Haupt auf einen blauen Stein gelegt hatte. Argustal war zu deprimiert, um ihn wegzujagen. »Wie deine Steinform Worte formen wird, so werden die Worte Steine werden«, rief die Kreatur. »Ich brech dir die Knochen, alte Krähe!« knurrte Argustal, aber insgeheim dachte er über die Worte nach und darüber, was er tags zuvor gesagt hatte – daß Argustal zum Nirgendwo rede. Er hatte mit niemandem über den Zweck seiner Anlage gesprochen, nicht einmal mit Pamitar. Tatsächlich hatte er selbst ihren Zweck erst vor zwei Tagen erkannt – oder waren es drei oder vier? Das Muster war zunächst nichts als ein
Muster gewesen (nicht wahr?) und erst viel später war aus seinem Tun ein Zweck erwachsen. Die neuen Steine richtig anzubringen, erfordert Zeit. Wo immer Argustal in seiner gewaltigen Anlage ging, die alte Krähe folgte ihm, manchmal auf zwei Beinen, manchmal auf vier. Andere Personen aus der Stadt versammelten sich und starrten sie an. Niemand aber wagte es, die Grenzen der Anlage zu überschreiten, und so blieben sie in weiter Entfernung, kleine Halme, die am Rand von Argustals Vorstellung wuchsen. Gewisse Steine mußten sich berühren, andere für sich allein sein. Er ging, bückte sich, ging, entsprechend dem großen Muster, das, wie er jetzt wußte, ein allgemeines Gesetz enthielt. Die Aufgabe führte in ihm zu einer Art ästhetischer Betäubung, ähnlich der, die er auf seinem labyrinthischen Weg hinunter nach Or verspürt hatte, wenn auch mit größerer Intensität. Nur einmal wurde der Bann gebrochen, als in einigen Schritten Entfernung die alte Krähe mit gleichmäßiger Stimme sprach, die ganz anders war als ihr gewöhnlicher Singsang. Und die alte Krähe sagte: »Ich weiß noch, wie du die allerersten Steine hier legtest, als du ein Kind warst.« Argustal richtete sich auf. Eiseskälte packte ihn, obgleich die gichtige Sonne hell strahlte. Er konnte seine Stimme nicht finden. Als er sie suchte, ging sein Blick hinüber zu den Augen des Bettlers, die unter seiner schwarzen Stirn verfaulten. »Du weißt, daß ich einmal so ein Phantom war – ein Kind?« fragte er. »Wir alle sind Phantome. Wir alle waren Kinder. Da Fleischsaft in unserem Körper ist, waren unsere Tage einst kurz.«
»Alte Krähe… Du redest von einer anderen Welt – nicht der unseren!« »Sehr wahr, sehr wahr. Und doch war diese andere Welt einst die unsere.« »Oh nein! Nein!« »Rede mit deiner Maschine darüber! Ihre Zunge ist aus Stein und kann nicht lügen wie meine.« Er hob einen Stein auf und warf ihn. »Das werde ich tun! Und jetzt weg von hier!« Der Stein traf den alten Mann auf die Lippen. Er stöhnte vor Schmerz, wich zurück, stolperte, lag der Länge nach im Sand, hoffnungslos, formlos. Sofort war Argustal bei ihm. »Alte Krähe, vergib mir! Es war Angst vor meinen eigenen Gedanken, die mich dich angreifen ließen – und es liegt eine gewisse Art Schrecken in deiner Gegenwart!« »Und darin, daß du Steine wirfst!« murmelte der alte Mann und versuchte, sich zu erheben. »Du weißt etwas von Kindern! In all den Millionen Jahren, die ich an meinem Plan gearbeitet habe, hast du niemals davon gesprochen. Warum nicht?« »Alles zu seiner Zeit. Und diese Zeit nähert sich nun ihrem Ende. Sogar auf Yzazys.« Sie starrten einander in die Augen, als der alte Bettler sich langsam erhob, Arme und Gewand so ausgebreitet, daß es schien, als wolle er sich entweder auf Argustal stürzen oder fliehen. Argustal machte keine Bewegung. Die Knöchel in den Sand gestützt, sagte er: »… sogar auf Yzazys? Warum sagst du das?« »Du bist von Yzazys! Wir Menschen nicht – wenn ich mich so nennen kann. Tausende von Jahrtausenden bevor du ein Kind warst, kam ich mit vielen anderen von den Herz-Sternen. Es gibt jetzt kein Leben dort! Die Fäulnis geht vom Zentrum
aus! Die Funken fliegen von Sonne zu Sonne! Auch für Yzazys ist die Stunde gekommen. Die Spuren führen in die galaktischen Kamine hinauf!« Plötzlich fiel er, stand wieder auf und rannte davon, wobei seine Glieder derart herumwirbelten, daß er jede Menschenähnlichkeit verlor. Er zwängte sich durch die Reihen der Zuschauer und war verschwunden. Eine Weile kauerte Argustal wo er war und tastete sich durch Dinge, die sich auflösten, sobald sie Form angenommen hatten, nur um riesengroß zu werden, wenn er sich anderem zuwandte. Der Sturm blies durch ihn und verzerrte ihn wie die Trübung auf dem Gesicht der Sonne. Als er sich schließlich entschied, daß ihm nur blieb, den Parapatterner zu vollenden, ließ ihn sein neues Wissen immer noch zittern: Ohne daß er verstand, warum, wußte er, daß das neue Wissen die alte Welt zerstören würde. Alles war jetzt an Ort und Stelle, ausgenommen der seltsam geformte Stein aus Or, den er, mit einer Hand gegen das Ohr gedrückt, auf der Schulter trug. Zum ersten Male begriff er, was für eine gigantische Struktur er errichtet hatte. Es war eine ganz kühle Erkenntnis ohne jede Sentimentalität. Argustal war jetzt nicht mehr als eine kleine Kugel, die durch die weiten Zwischenräume um ihn herum rollte. Jeder Stein hatte seinen eigenen Zeitvermerk, wie auch den seiner Lage im Raum. Jeder stand für eine andere Epoche, eine andere Temperatur, andere Materialien, Chemikalien, Formen, Intensitäten. Miteinander waren die Steine ein Anagramm von Yzazys, seiner ganzen Zusammensetzung und Kontinuität. Der letzte Stein war nur ein Brennpunkt für die ganze Dynamik, und als Argustal langsam durch die vibrierenden Arkaden ging, nahm diese Dynamik zu. Er hörte sie wachsen. Er hielt inne. Er machte ein paar Schritte in dieser Richtung, dann in jene. Während er das tat,
erkannte er, daß nicht nur ein Brennpunkt vorhanden war, sondern Myriaden davon, abhängig von Lage und Richtung des Schlüsselsterns. Ganz leise sagte er: »… daß meine Befürchtungen Wirklichkeit werden könnten…« Und um ihn herum – ganz leise – erhob sich eine steinerne Stimme, stammelnd, bevor sie klarer wurde, als habe sie lange die Worte gekannt, sie aber nie gebraucht. »Du…« Stille, dann ein flutender Satz. »Du, du bist, oh, du bist Wurm, du bist krank, Rose, unsichtbare Rose. Im heulenden Sturm bist du im Sturm. Wurm du bist erkannt Rose du bist krank und erkannt Fliegen in der Nacht dein Bett dein purpurnes Leben zerstören. Oh, – oh, Rose, du bist krank! Der unsichtbare Wurm, der unsichtbare Wurm der fliegt in der Nacht, im heulenden Sturm, hat es gefunden – – hat gefunden dein Bett purpurner Lust… und sein dunkles dunkles Geheimnis Liebe, sein Geheimnis Liebe zerstört dein Leben.« Argustal befand sich bereits auf der Flucht. In Pamitars Armen konnte er keinen Trost finden. Obwohl er sich jetzt auf den schützenden Ästen befand, arbeitete der fliegende Wurm in ihm. Schließlich rollte er sich von ihr weg und sagte: »Wer hat jemals eine so schreckliche Stimme gehört. Nie mehr kann ich mit dem Universum sprechen.« »Du weißt nicht, ob es das Universum war.« Sie versuchte ihn zu necken. »Warum sollte das Universum mit dem kleinen Tapmar sprechen?« »Die alte Krähe sagte, daß ich zum Nirgendwo sprach. Nirgendwo ist das Universum – wo die Sonne sich nachts versteckt – wo unsere Erinnerung sich versteckt, wo unsere Gedanken verdunsten. Ich kann nicht mit ihm sprechen. Ich muß die alte Krähe suchen und mit ihr sprechen.«
»Rede nicht mehr, stell keine Fragen mehr! Alle deine Entdeckungen bringen dir nur Kummer! Schau – du siehst mich nicht mehr länger an, dein armes Weib! Du wendest deine Augen ab!« »Und wenn ich in allen zukünftigen Äonen nichts mehr ansehe, ich muß herausfinden, was uns quält!« Mitten in Gornilo, wo viele der Klassenlosen lebten, ragte nacktes, verkrüppeltes Holz vom Boden auf und bildete so geschützten Raum und seltsam anzusehendes Geäst, auf dem und in dem alte Pilger, sonst obdachlos, lagern konnten. Hier suchte Argustal den Bettler. Der Alte lag unbequem neben einem zerbrochenen Gefäß ausgestreckt und drückte ein gewebtes Gewand an sich. Er warf sich herum und versuchte zu entkommen, aber Argustal packte ihn am Kragen und hielt ihn fest. »Ich brauche dein Wissen; alte Krähe!« »Hole es dir bei den Männern der Religion – sie wissen mehr als ich!« Argustal stutzte ein wenig, doch sein Griff lockerte sich kaum. »Da ich dich habe, mußt du zu mir sprechen. Ich weiß, daß Wissen Schmerz bedeutet, aber das gleiche gilt für Unwissen, sobald man sein Vorhandensein erkannt hat. Erzähl mir mehr über Kinder und darüber, was sie taten! Erzähle mir von dem, was du die Herz-Sterne nennst!« Wie in einem Fieber wand sich der Alte unter Argustals Griff. Er stieß hervor: »Was ich weiß, ist so wenig, so wenig wie ein Grashalm auf einer Wiese. Und die Grashalme sind die fernen, vergangenen Zeiten. All diese Zeiten hindurch kommen die Bündel von Körpern, die jetzt auf dieser Erde sind. Damals wie jetzt, keine neuen Körper. Aber einmal… Vor jenen vergangenen Zeiten schon… du kannst nicht verstehen…«
»Ich verstehe sehr wohl.« »Du bist Wissenschaftler! Vor jenen vergangenen Zeiten war eine andere Zeit, und damals, damals gab es Kinder und verschiedene Dinge, die es jetzt nicht mehr gibt, viele Tiere und Vögel und kleinere Dinge mit winzigen Flügeln, die sie nicht über lange Zeit tragen konnten…« »Was geschah? Warum gab es eine Veränderung, alte Krähe?« »Männer… Wissenschaftler… erforschen die Eigenheiten des Körpers und verleihen jeder Person, jedem Ding und jedem Baum emsiges Leben. Seit jener Zeit machen wir weiter, eine lange, lange Zeit – so lang, daß wir vergessen haben, was damals geschah.« Er roch wie eine alte Elster. Argustal fragte ihn: »Und warum gibt es jetzt keine Kinder?« »Kinder sind nur kleine Erwachsene. Wir sind es aus Kindern geworden. Aber in jener großen Zeit, bevor es Wissenschaftler auf Yzazys gab, schufen Erwachsene Kinder. Tiere und Bäume ebenso. Aber bei ewigem Leben kann dies nicht sein – jene kindererzeugenden Teile des Körpers haben weniger Leben in sich als ein Stein.« »Rede nicht von Stein! Also leben wir ewig… Du alter Lumpensack, du erinnerst – ah, du erinnerst dich noch an mich, als ich ein Kind war?« Aber der alte Lumpensack erlitt eine Art Anfall, stampfte auf den Boden, geiferte aus^ dem Mund. »Schlimmer noch: Ich erinnere mich noch an mich selbst als Kind und daran, wie pfeilschnell ich lief, an Luft, Frische, – rosige Luft überall. Also bin ich verrückt, denn ich erinnere mich!« Er begann schreiend zu weinen, und die Ausgestoßenen um ihn herum stimmten in das Geheule mit ein. »Wir erinnern uns, wir erinnern uns!« – ob sie sich wirklich erinnerten oder nicht Argustal verschloß mit der Hand
des Bettlers Mund und sagte: »Aber du warst kein Kind auf Yzazys – erzähl mir davon!« Zitternd erwiderte der andere: »Ich sprach schon davon – alle Menschen kommen von Herz-Sternen. Yzazys hier liegt am Ende des Universums! Einst gab es ebenso viele Welten wie Tage in der Ewigkeit. Jetzt aber sind sie alle verbrannt, nur rauchige Kamine. Nur dieser letzte Ort war noch sicher.« »Was passierte? Warum?« »Nichts passierte! Leben ist Leben ist Leben – nur daß sich Veränderung einschlich.« Und was war dies, wenn nicht ein Echo der Worte der BaumMänner von Or, die etwas von einem unbekannten Element geflüstert hatten, das Veränderung erzwang? Argustal beugte das Haupt und sank in sich zusammen, während die Bettler um ihn herum erschauderten. Draußen nahmen die heiligen Idioten seine letzten Worte im Sprechgesang auf: »Veränderung schlich sich ein! Veränderung schlich sich ein! Das Licht des Tages rauchte, und Veränderung schlich sich ein! Veränderung schlich sich ein!« Ihr schreckliches Heulen stach in Argustals Flanken wie spitze Speere. Später sah er einzelne Bilder vor sich, wie er in panischer Flucht durch die Stadt rannte, Bilder von Mauern und Bäumen und Gräben und Straßen, aber auf seiner Flucht war alles so unwirklich wie in den Bildern danach. Als er schließlich keuchend zu Boden stürzte, wußte er nicht, wo er war, und alles war Nichts für ihn, bis das religiöse Geheul verstummt war. Dann sah er, daß er in der Mitte seiner großen Struktur lag, seine Wange an dem Stein vor Or, wo er ihn hatte fallen lassen. Und als er dies bemerkte, antwortete die große Struktur um ihn herum, ohne daß er sprechen mußte.
Er war im neuen Brennpunkt. Die Stimme, die er jetzt hörte, war neu, so kühl, wie die vorherige gedämpft und erstickt gewesen war. Sie wehte über ihn hinweg wie ein kühler Wind. »Es gibt keinen Amaranth auf dieser Seite des Grabes, Argustal, keinen Namen, und würde er mit noch so viel leidenschaftlicher Liebe wiederholt, der nicht zuletzt verstummt. Experiment X gab jedem Lebewesen ewiges Leben auf der Welt, doch selbst die Ewigkeit verläuft nicht gleichmäßig. Das alte Leben hatte seine Kindheit und sein Ende; das neue hatte keine solche Logik. Es fand seine eigene Logik nach vielen Jahrtausenden, übernahm sie von eigenständigen Geistern. Was ein Mensch war, wurde er; was ein Baum war, wurde es.« Argustal hob sein müdes Haupt von seinem steinernen Kissen. Wie als Antwort auf diese Geste änderte sich Ton und Redeweise der Stimme. »Die Gegenwart ist ein musikalischer Ton. Dieser Ton kann nicht länger ausgehalten werden. Du bist auf diese Fragen gestoßen, o Argustal, weil der Akkord, in dem er in eine tiefere Tonart übergeht, dich aus dem langen Traum purpurner Freude erweckt, der die Unsterblichkeit war. Was du findest, finden andere auch, keiner von euch kann die Veränderung mehr übersehen. Selbst die Unsterblichkeit muß ein Ende haben. Wie ein langes Feuer ist das Leben durch die Galaxis gezogen. Jetzt verzehrt es sich schnell, sogar hier, am letzten Zufluchtsort des Menschen!« Da stand er auf und warf den Stein von Or. Er flog, fiel, rollte… und bevor der Stein zur Ruhe kam, hatte er einen großen Chor universaler Stimmen geweckt. Ganz Yzazys erhob sich, und ein Wind wehte von Westen. Als er die ersten Schritte tat, sah er die religiösen Männer der Stadt dahinziehen, und die großen, sonnenverdunkelnden
Mächte waren auf ihrem Mitternachtsflug, und Hrt, der flammende Stein, drehte sich über ihm. Aber Argustal ging langsam auf seinen flachen Affenfüßen zurück zu Pamitar. Nicht länger würde er ungeduldig sein in ihren Armen. Dort würde die Zeit nur allzu kurz werden. Er kannte ihn jetzt, den fliegenden Wurm, der sein Nest hatte in ihrer Wange, in seiner Wange, in allen Dingen, selbst in den Baum-Menschen von Or, selbst in den großen, unpersönlichen Mächten, welche die Sonne beraubten, selbst im geheiligten Herzen des Universums, dem er für eine Zeit seine Zunge geliehen hatte. Er wußte jetzt, daß jene Majestät wiedergekehrt war, die vorher der Sinn des Lebens gewesen war. Jene Majestät, die so lange Zeit und doch nur so kurz aus der Welt verbannt war. Ihr Name war TOD.
Originaltitel: THE WORM THAT FLIES Copyright © 1968 by Joseph Eider Aus THE FARTHEST REACHES
Damon Knight MASKEN
Die achtzehn Stifte tanzten über den laufenden Papierstreifen wie nervöse Klauen eines mechanischen Hummers. Robert, der Techniker, verfolgte stirnrunzelnd die Diagramme, während die andern beiden zusahen. »Hier ist der Aufwach-Impuls«, sagte er und deutete mit dünnem Finger darauf. »Dann hier, sehen Sie, siebzehn Sekunden später träumt er immer noch.« »Verzögerte Reaktion«, sagte Babcock, der Projektleiter. Sein schweres Gesicht war gerötet, und er schwitzte. »Nichts Besorgniserregendes.« »Okay, verzögerte Reaktion, aber sehen Sie sich diese Linien hier an. Er träumt noch nach dem Aufwach-Impuls, aber die Spitzen sind näher beisammen. Nicht der gleiche Traum. Da ist mehr Motorik.« »Warum muß er überhaupt schlafen?« fragte Sinescu, der Mann aus Washington. Er war dunkel und schmalgesichtig. »Sie spülen die Müdigkeitsgifte aus, nicht wahr? Hat das was mit Psychologie zu tun?« »Er muß träumen«, sagte Babcock. »Zwar besteht für ihn keine physiologische Notwendigkeit zu schlafen, aber er muß träumen. Tut er es nicht, dann kriegt er Halluzinationen, vielleicht eine Psychose.« »Psychose«, sagte Sinescu. »Nun – das ist die Frage, nicht wahr? Wie lange geht das schon?« »Etwa sechs Monate.«
»Mit anderen Worten, etwa seit er seinen neuen Körper hat – und seit er eine Maske trägt?« »Ja, in etwa. Darf ich Ihnen etwas sagen: Er ist vernünftig. Jeder Test…« »Ja, okay, ich kenne die Tests. Nun – er ist also jetzt wach?« Der Techniker sah auf die Monitortafel. »Er ist auf. Sam und Irma sind bei ihm.« Mit krummen Schultern starrte er wieder auf das Enzephalogramm. »Ich wüßte nicht, warum mir das Kopfzerbrechen machen sollte. Wenn er eigene Traumbedürfnisse hat, die wir mit unseren Programmen nicht befriedigen, dann sorgt er eben selbst dafür, das ist verständlich.« Sein Gesichtsausdruck wurde härter. »Ich weiß nicht. Irgend etwas an diesen Spitzen gefällt mir nicht.« Sinescu zog die Brauen hoch. »Machen Sie sein Traumprogramm?« »Es ist kein Programm«, sagte Babcock ungeduldig. »Einfach eine Art Vorschlag, das zu träumen, was wir ihm sagen. Körperliche Dinge, Sex, Sport.« »Und wessen Idee war das?« »Die der psychologischen Abteilung. Neurologisch gesehen und überhaupt ging es ihm gut, aber er zog sich in sich zurück. Die Psychologen entschieden, daß er somatischen Input in irgendeiner Form bekommen müsse. Er lebt, er funktioniert, alles ist in Ordnung. Aber vergessen Sie nicht, er hat dreiundvierzig Jahre in einem normalen menschlichen Körper verbracht.«
Im Lift unterbrach Sinescu die Stille und sagte: »Washington.« Babcock schwankte ein wenig und sagte: »Entschuldigung; was?« »Sie sehen etwas angegriffen aus. Zu wenig Schlaf?« »Ja, in letzter Zeit. Was sagten Sie vorher?«
»Ich sagte, daß man in Washington nicht begeistert von Ihren Berichten ist.« »Verdammt, ich weiß.« Die Aufzugtür öffnete sich stumm. Ein winziges Foyer, grüner Teppich, graue Wände. Drei Türen, eine metallen, zwei aus schwerem Glas. Kühle, etwas muffige Luft. »Folgen Sie mir.« Sinescu blieb vor der Glastür stehen und sah hindurch: Ein leerer Wohnraum mit grauem Teppichboden. »Ich sehe ihn nicht.« »Er ist gerade bei der Morgenuntersuchung.« Die Tür öffnete sich auf leichten Druck; eine Batterie von Deckenlampen ging an, als sie eintraten. »Sehen Sie nicht hinauf«, sagte Babcock. »Ultraviolett.« Ein leise zischendes Geräusch hörte auf, als die Tür sich schloß. »Positiver Druck? Um keine Keime hereinzulassen? Wessen Idee war das?« »Seine.« Babcock öffnete ein verchromtes Kästchen an der Wand und nahm zwei Chirurgenmasken heraus. »Hier, legen Sie das an.« Gedämpfte Stimmen waren um die Ecke des Raumes hörbar. Sinescu warf einen widerwilligen Blick auf die weiße Maske und zog sie dann langsam über seinen Kopf. Sie starrten einander an. »Keime«, sagte Sinescu durch die Maske. »Ist das rational?« »Natürlich, er kann sich nicht erkälten oder sonst irgend etwas, aber überlegen Sie einmal. Es gibt jetzt nur zwei Dinge, die ihn umbringen könnten. Das eine ist prothetisches Versagen, da haben wir alle Vorsichtsmaßnehmen getroffen. Wir haben fünfhundert Leute hier und checken ihn wie ein Flugzeug. Bleibt cerebrospinale Infektion. Lassen Sie das nicht außer acht, wenn Sie hineingehen.« Der Raum war groß, teils Wohnzimmer, teils Bibliothek, teils Werkstatt. Hier war eine skandinavische Sitzecke, dort eine
metallene Drehbank, ein elektrischer Schmelztiegel, eine Bohrmaschine, Werkzeug an Wandbrettern. Außerdem ein Zeichentisch, eine freistehende Bücherwand, in der Sinescu im Vorbeigehen neugierig herumfingerte. Geheftete Projektberichte, technische Journale, Nachschlagewerke. Keine Belletristik, außer Feuer und Sturm von George Stewart und Der Zauberer von Oz in einem abgewetzten blauen Einband. Hinter der Bücherwand, eingelassen in eine kleine Nische, war eine Glastür, durch die sie in einen weiteren, anders möblierten Wohnraum sahen: Gepolsterte Sessel, ein großer Philodendron in einem Keramiktopf. »Da ist Sam«, sagte Babcock. Ein Mann war in dem anderen Raum erschienen. Er sah sie, wandte sich um, um jemand zu rufen, den sie nicht sehen konnten, und ging dann lächelnd auf sie zu. Er war untersetzt, kahlköpfig und tief gebräunt. Hinter ihm eilte eine kleine, hübsche Frau herbei. Sie kam mit ihrem Mann durch die Tür und ließ sie offen. Beide trugen keine Masken. »Sam und Irma haben die nächste Suite«, sagte Babcock. »Gesellschaft für ihn. Muß jemanden um sich haben. Sam ist ein alter Freund von ihm seit seiner Zeit bei der Air Force. Außerdem hat er einen Blecharm.« Grinsend schüttelte ihm der untersetzte Mann die Hand. Sein Griff war fest und warm. »Wollen Sie raten, welcher es ist?« Er trug ein geblümtes Sporthemd. Beide Arme waren braun, muskulös und haarig; aber bei genauerem Hinsehen bemerkte Sinescu, daß der rechte von etwas anderer Farbe war und nicht ganz echt wirkte. Etwas verlegen sagte er: »Der linke, nehme ich an.« »Falsch.« Mit breitem Lächeln zog Sam seinen rechten Ärmel hoch, um die Befestigung zu zeigen.
»Eins der Abfallprodukte des Projekts«, sagte Babcock. »Myo-elektrisch, mit Servomotoren, wiegt genauso viel wie der andere. Sam, sind Sie dort drinnen soweit?« »Kann sein. Sehen wir nach. Liebling, könntest du vielleicht Kaffee für die Herrn besorgen?« »Oh, natürlich.« Die kleine Frau machte kehrt und eilte durch die offene Tür davon. Vor die Glaswand am anderen Ende des Raumes war ein transparenter weißer Vorhang gezogen. Sie gingen um die Ecke. Dieser Teil des Raumes war voll medizinischer und elektronischer Anlagen, teilweise in die Wände eingebaut, teilweise in großen, schwarzen Kabinetten auf Rädern. Vier Männer in weißen Mänteln standen um etwas herum, was wie eine Astronauten-Couch aussah. Sinescu konnte sehen, daß jemand darauf lag: Die Füße in mexikanischen Flechtlederschuhen; dunkle Socken, graue Hose. Stimmen murmelten leise. »Sie sind noch dabei«, sagte Babcock. »Sie müssen noch etwas anderes gefunden haben, was ihnen nicht gefällt. Gehen wir einstweilen in den Lichthof hinaus.« »Ich dachte, sie checken ihn am Abend – wenn sie sein Blut austauschen und so weiter…?« »Das tun sie«, sagte Babcock. »Aber am Morgen auch.« Er drehte sich um und stieß die schwere Glastür auf. Draußen war das Dach mit Mosaiksteinen gepflastert. Die Wände waren aus farbigem Glas, der Baldachin über ihnen aus grünem Kunststoff. Da und dort befanden sich leere Betonbecken. »Er sollte einen Dachgarten hier haben, etwas Grünes, aber er wollte ihn nicht. Wir mußten alle Pflanzen fortnehmen und das Ganze überdachen.« Sam zog Metallstühle unter einem weißen Tisch hervor, und sie setzten sich. »Wie geht es ihm, Sam?« fragte Babcock.
Er grinste und beugte den Kopf nach vorn. »Am Morgen nicht besonders.« »Redet er mit Ihnen? Spielt ihr Schach?« »Nicht zu viel. Zumeist arbeitet er. Liest etwas, schaut ein wenig in den Kasten.« Sein Lächeln war gezwungen; seine kräftigen Finger waren verschränkt, und Sinescu sah jetzt, daß die Fingerspitzen der einen Hand dunkel geworden waren, die anderen nicht. Er schaute weg. »Sie sind aus Washington. Stimmt’s?« fragte Sam höflich. »Zum ersten Male hier? Augenblick.« Er war aufgestanden. Undeutliche, aufrechte Schatten huschten hinter der mit einem Vorhang versehenen Glastür vorbei. »Sieht aus, als wären sie fertig. Ich sehe nach. Wenn die Herren kurz hier warten würden.« Schweigend blieben die beiden sitzen. Babcock hatte seine Operationsmaske heruntergezogen. Sinescu folgte seinem Beispiel. »Sams Frau ist ein Problem«, sagte Babcock und lehnte sich etwas zu Sinescu herüber. »Damals schien es eine gute Idee zu sein, aber sie ist einsam hier, und es gefällt ihr nicht – keine Kinder…« Die Tür ging wieder auf, und Sam erschien. Er hatte eine Maske angelegt, aber sie hing unter seinem Kinn. »Wenn die Herren jetzt bitte hereinkommen wollen.« In der Wohnecke goß die kleine Frau aus einer geblümten Keramikkanne Kaffee ein. Auch sie hatte eine Operationsmaske um den Hals hängen. Ihr strahlendes Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie unglücklich war. Ihr gegenüber saß eine große Gestalt in grauem Hemd und grauer Hose, zurückgelehnt, mit ausgestreckten Beinen, die Arme auf den Armlehnen seines Sessels, bewegungslos. Irgend etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht. »So«, sagte Sam herzlich. Seine Frau warf ihm einen gequälten Blick zu.
Die große Gestalt wandte den Köpf, und Sinescu sah mit eisigem Schrecken, daß das Gesicht aus Silber war, eine Metallmaske mit länglichen Augenschlitzen ohne Mund oder Nase, nur Kurven, die ineinander übergingen. »Projekt«, sagte eine unmenschliche Stimme. Sinescu bemerkte, daß er sich vornüber gebeugt auf einen Stuhl stützte. Er setzte sich. Alle sahen ihn an. Die Stimme begann von neuem. »Ich sagte: Sind sie hier, um diesem Projekt den Hahn abzudrehen?« Sie war akzentlos und monoton. »Nehmen Sie Kaffee.« Die Frau schob ihm eine Tasse zu. Sinescu streckte die Hand danach aus, aber sie zitterte, und er zog sie wieder zurück. »Meine Informationsreise«, sagte er. »Quatsch. Wer schickte Sie – Senator Hinkel?« »Ja.« »Unsinn. Er war selbst hier; warum sollte er Sie schicken? Wenn Sie den Hahn zudrehen, können Sie es mir ruhig sagen.« Das Gesicht hinter der Maske bewegte sich nicht, wenn er sprach, und die Stimme schien nicht aus ihm zu kommen. »Er sieht sich nur um, Jim«, sagte Babcock. »Zweihundert Millionen pro Jahr«, sagte die Stimme, »um einen Mann am Leben zu erhalten. Nicht sehr sinnvoll, wie? Los, trinken Sie Ihren Kaffee.« Sinescu bemerkte, daß Sam und seine Frau den ihren bereits getrunken und ihre Masken über das Gesicht gezogen hatten. Hastig griff er nach seiner Tasse. »Hundertprozentige Behinderung bedeutet in meinem Rang dreißigtausend im Jahr. Damit könnte ich leicht auskommen. Fast eineinhalb Stunden.« »Es besteht keine Absicht, das Projekt abzubrechen«, sagte Sinescu. »Aber es auslaufen zu lassen. Würden Sie es so nennen?« »Benehmen Sie sich, Jim«, sagte Babcock. »Okay. Mein ärgster Fehler. Was wollen Sie wissen?«
Sinescu schlürfte seinen Kaffee. Seine Hände zitterten noch. »Die Maske, die Sie da tragen«, begann er. »Kein Gesprächsthema. Kein Kommentar, kein Kommentar. Tut mir leid, möchte nicht unhöflich sein. Eine persönliche Angelegenheit. Fragen Sie mich etwas…« Ohne Vorwarnung stand er auf und schrie: »Schafft das verdammte Ding hier weg!« Die Kaffeetasse von Sams Frau zersplitterte, Kaffee lief braun über den Tisch. Ein bräunlicher Hund saß auf der Mitte des Teppichs, den Kopf geneigt und mit hängender Zunge. Der Tisch stürzte um, Sams Frau arbeitete sich darunter hervor. Ihr Gesicht war rot und tränenüberströmt. Sie hob das Hündchen auf und rannte davon. »Ich sollte wohl mit ihr gehen«, sagte Sam und stand auf. »Natürlich. Und, Sam, nimm mal Urlaub. Fahr mit ihr nach Winnemucca; geht ins Kino.« »Ja, werde ich wohl tun.« Er verschwand hinter der Bücherwand. Sich ganz wie ein Mensch bewegend, setzte sich die Gestalt jetzt wieder und lehnte sich wie vorher zurück, die Arme auf den Sessellehnen. Es war still. Die Hände, die das Holz umfaßten, waren wohlgeformt, hatten aber etwas Unwirkliches. Etwas stimmte nicht mit den Fingernägeln. Das braune, gutgekämmte Haar über der Maske war eine Perücke; die Ohren waren aus Wachs. Nervös zog Sinescu seine Operationsmaske über Mund und Nase. »Ich muß jetzt wohl weiter«, sagte er und stand auf. »Stimmt, ich möchte Sie noch zu den Ingenieuren und dann zur Röntgen- und Diagnostikabteilung führen«, sagte Babcock. »Jim, ich werde bald wieder zurück sein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Sicher«, sagte die bewegungslose Gestalt.
Babcock hatte eine Dusche genommen, doch durchnäßte bereits wieder Schweiß die Achseln seines Hemdes. Der leise Aufzug, der grüne Teppich, ein bißchen undeutlich. Die Luft kühl, muffig. Sieben Jahre Blut und Geld, fünfhundert gute Männer. Die psychologische Abteilung, die Kosmetikingenieure, Röntgen und Diagnostik, Immunologie, Serologie, die Verwaltung. Die Glastüren. Sams Appartement leer; mit Irma nach Winnemucca gefahren. Gute Männer, aber waren sie die besten? Drei der besten hatten es abgelehnt. In den Akten begraben. Keine gewöhnliche Amputation. Diesem Mann ist alles abgeschnitten worden. Die Gestalt hatte sich nicht bewegt. Babcock setzte sich. Die silberne Maske erwiderte seinen Blick. »Jim, reden wir nicht lange um die Sache herum.« »Schlimm, was?« »Natürlich ist es schlimm. Er ist mit einer Flasche auf seinem Zimmer geblieben. Ich sehe ihn noch vor seiner Abreise, aber Gott weiß, was er in Washington sagen wird. Hören Sie, tun Sie mir einen Gefallen und nehmen Sie das Ding ab.« »Meinetwegen.« Die Hand hob sich, packte den Rand der Silbermaske und nahm sie ab. Unter ihr erschien ein rötlichbraunes Gesicht, Nase und Lippen, Augenbrauen, Augenlider, nicht hübsch, aber ganz normal und gut aussehend. Nur die Augen stimmten nicht; die Pupillen waren zu groß. Und die Lippen, die sich nicht öffneten, nicht bewegten, wenn er sprach. »Ich kann alles abnehmen. Was beweist das?« »Jim, die Kosmetik hat achteinhalb Monate an dem Modell gearbeitet, und das erste, was Sie tun, ist, daß Sie eine Maske darauf setzen. Wir haben Sie gefragt, was fehlt, haben Ihnen angeboten, Ihre Änderungswünsche zu berücksichtigen.« »Kein Kommentar.« »Sie sprachen davon, daß man das Projekt auslaufen lassen wolle. Sollte das ein Scherz sein?«
Eine Pause. »Kein Scherz.« »Na gut, dann sprechen Sie sich doch aus, Jim; ich muß es wissen. Man wird das Projekt nicht abbrechen; sie werden Sie am Leben halten, aber das ist alles. Siebenhundert stehen auf der Freiwilligen-Liste. Darunter zwei U.S.-Senatoren. Nehmen Sie einmal an, einer von ihnen wird morgen aus einem Autowrack gezogen. So lange können wir mit der Entscheidung nicht warten. Wir müssen es jetzt wissen. Sollen wir den nächsten sterben lassen oder ihn in einen TP-Körper wie Ihren stecken? Also reden Sie.« »Und wenn ich nun nicht die Wahrheit sage?« »Warum sollten Sie lügen?« »Warum sagt man einem Krebspatienten nicht die Wahrheit?« »Ich verstehe Sie nicht. Also los, Jim.« »Also schön. Sehe ich Ihrer Meinung nach wie ein Mensch aus?« »Natürlich.« »Unsinn. Schauen Sie dieses Gesicht an.« Ruhig und perfekt. Hinter den falschen Pupillen ein Blinken von Metall. »Nehmen Sie an, wir hätten alle anderen Probleme gelöst und ich könnte morgen nach Winnemucca fahren. Können Sie sich vorstellen, daß ich die Straße hinuntergehe – eine Bar betrete – ein Taxi nehme?« »Und weiter nichts?« Babcock holte tief Atem. »Jim, natürlich ist da ein Unterschied, aber lieber Himmel, es ist wie bei jeder anderen Prothese – die Leute gewöhnen sich daran. Denken Sie zum Beispiel an Sams Arm. Man sieht ihn, aber nach einer Weile vergißt man ihn, bemerkt ihn nicht mehr.« »Quatsch. Man tut, als bemerke man ihn nicht. Weil es dem Krüppel unangenehm wäre.« Babcock sah auf seine Hände hinunter. »Tun Sie sich leid?«
»Hören Sie auf damit«, bellte die Stimme. Die Gestalt war jetzt aufgestanden. Langsam kamen die Hände hoch; die Fäuste ballten sich. »Ich stecke in diesem Ding. Seit zwei Jahren. Ich bin darin, wenn ich schlafen gehe, und wenn ich aufwache, dann bin ich immer noch darin.« Babcock sah zu ihm hoch. »Was wollen Sie, Beweglichkeit des Gesichts? Geben Sie uns zwanzig Jahre, vielleicht zehn, und wir schaffen das.« »Ich möchte, daß die kosmetische Abteilung geschlossen wird.« »Aber das ist…« »Hören Sie zu. Das erste Modell sah aus wie eine Schneiderpuppe. Sie überarbeiteten es acht Monate lang, und heraus kam dieses hier. Es sieht aus wie ein Leichnam. Die Absicht war doch, mich wie einen Menschen aussehen zu lassen. Das erste Modell würde ganz gut sein, das zweite besser, bis Sie etwas haben, was Zigarren rauchen, mit Frauen scherzen und Kegeln gehen kann, ohne daß jemand den Unterschied bemerkt. Das schaffen Sie nicht, und wenn Sie es schaffen: Wozu?« »Ich verstehe nicht… Lassen Sie mich überlegen. Was meinen Sie, einen metallenen…« »Natürlich metallen, aber was spielt das eigentlich für eine Rolle? Ich rede von der Form. Von der Funktion. Augenblick mal.« Die Gestalt ging zu einem Schrank hinüber und kam mit ein paar Papierrollen zurück. »Sehen Sie sich das an.« Die Zeichnung zeigte einen länglichen Metallkasten auf vier gelenkigen Beinen. An einem Ende befand sich ein kleiner, pilzförmiger Kopf auf einem gelenkigen Stiel, dazu eine Menge Arme, die in Greifern und Bohrern endeten. »Für die Monderkundung.«
»Zu viele Glieder«, sagte Babcock nach einem Moment. »Wie würden Sie…« »Mit den Gesichtsnerven. Sind noch viele übrig. Oder hier.« Eine andere Zeichnung. »Ein Modul, angeschlossen an das Kontrollsystem eines Raumschiffs. Der Raum, da gehöre ich hin. Sterile Umgebung, niedrige Gravitation. Ich kann dorthin, wo ein Mensch nicht hin kann, und tun, was ein Mensch nicht tun kann. Ich kann ein Aktivum sein, nicht nur ein verdammtes Milliarden-Dollar-Passivum.« Babcock rieb sich die Augen. »Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt?« »Sie waren alle nur auf Prothetik geeicht. Man hätte mir nur gesagt, ich solle bei meinem Leisten bleiben.« Babcocks Hände zitterten, als er die Zeichnungen wieder zusammenrollte. »Ja, bei Gott, das könnte es sein. Das könnte es vielleicht sein.« Er stand auf und wandte sich zur Tür. »Halten Sie die…« Er räusperte sich. »Ich meine, lassen Sie nicht locker, Jim.« »Das werde ich tun.« Als er allein war, setzte er seine Maske wieder auf und stand einen Augenblick bewegungslos da, die Augenschlitze geschlossen. Innen funktionierte er tadellos; er konnte das schwache, beruhigende Summen der Pumpen, das Klicken von Ventilen und Relais hören. Das hatten sie ihm gegeben: Alle seine Eingeweide entfernt und sie durch Technik ersetzt, die nicht blutete, nichts durchsickern ließ, nicht eiterte. Er dachte an die Lüge, die er Babcock gesagt hatte. Warum sagt man einem Krebspatienten nicht die Wahrheit? Aber die würden niemals verstehen. Er setzte sich an den Zeichentisch, klemmte einen Papierbogen fest und begann, mit einem Bleistift eine Skizze des Mondprospektors zu machen. Als er den Prospektor selbst skizziert hatte, begann er, den von Kratern durchsetzten
Hintergrund zu zeichnen. Plötzlich wurden seine Bewegungen langsamer, hörten auf. Mit einem Klick legte er den Bleistift nieder. Er hatte keine Adrenalin-Drüsen mehr, die ihr Sekret in sein Blut pumpten, und deshalb konnte er weder Furcht noch Zorn empfinden. Sie hatten ihn von all dem befreit – von Liebe, Haß und dem ganzen Zeug. Aber sie hatten vergessen, daß er eines Gefühles noch fähig war. Sinescu, mit schwarzen Bartstoppeln auf der öligen Haut. Ein Pickel in der Nasenfalte. Mondlandschaft, sauber und kalt. Er griff wieder zum Bleistift. Babcock mit seiner breiten, fetten rosa Nase und den Krusten in den Augenwinkeln. Speisereste zwischen den Zähnen. Sams Frau mit himbeerfarbenem Zeug auf den Lippen. Das Gesicht tränenverschmiert; ein helles Bläschen in einem Nasenloch. Und der verdammte Hund, glänzende Nase, feuchte Augen… Er wandte sich um. Da saß der Hund mit hängender, nasser, roter Zunge auf dem Teppich, hat wieder die Tür aufgelassen, wedelte zweimal mit dem Schwanz und wollte dann aufstehen. Er griff nach der Reißschiene, lehnte sich zurück, schwang sie wie eine Axt, und der Hund jaulte einmal auf, als Metall auf Knochen traf, wand sich auf seinem Rücken. Ein dunkler Flecken von Urin auf dem Teppich, und erneut schlug er zu, wieder und wieder. Blutüberströmt lag der Kadaver auf dem Teppich, die schwarzen Lippen von den Zähnen zurückgezogen. Mit einem Papierhandtuch wischte er die Reißschiene ab, schrubbte sie dann im Ausguß mit Seife und Stahlwolle, trocknete sie und hängte sie auf. Er nahm einen Bogen Zeichenpapier, legte ihn auf den Boden, rollte den Kadaver auf ihn hinauf, ohne Blut auf den Teppich zu bringen. Er schlug den Hundekadaver ein,
hob ihn auf. Mit der Schulter die Türen öffnend, trug er ihn hinaus in den Lichthof, dann in den unüberdachten Teil. Er blickte über die Wand. Zwei Stockwerke tiefer ein Betondach mit Lüftungsrohr. Niemand sah ihn. Er hielt den Hund hinaus, ließ ihn aus dem Papier gleiten. Er stürzte auf eines der Lüftungsrohre, stürzte dann auf das Dach, ein roter Fleck. Er trug das Papier wieder mit hinein, goß das Blut in den Ausguß, warf es dann in den Müllschlucker. Blutspritzer waren auf dem Teppich, an den Füßen des Zeichentisches, am Schrank, auf seinen Hosenbeinen. Er beseitigte sie alle mit Papierhandtüchern und warmem Wasser. Er legte seine Kleidung ab, untersuchte sie genau, rieb sie im Ausguß ab und warf sie dann in die Waschmaschine. Er wusch die Spüle, rieb sich mit Desinfektionslösung ein und zog sich wieder an. Er ging hinüber in Sams Appartement und schloß die Glastür hinter sich. Vorbei an dem Philodendron, den ausladenden Möbeln, dem roten und gelben Gemälde an der Wand, hinaus aufs Dach, ohne die Tür ganz zu schließen. Als er zurück durch den Lichthof ging, machte er alle Türen zu. Zu schade. Wie wär’s mit ein paar Goldfischen? Er setzte sich an den Zeichentisch. Er funktionierte mit kühler Präzision. Der Traum dieses Morgens kam ihm wieder in den Sinn, der letzte, bevor er aufwachte: Schmierige Nieren zerreißen graue Lungen Blut und Haar Darmstränge bedeckt mit gelbem Fett feucht und glitschig und o Gott der Gestank wie der Atem eines Scheißhauses kein Laut nirgends er ließ einen gelben Strahl die Rinne hinunter. Er begann, die Zeichnung mit Tinte nachzuziehen, zuerst mit einer feinen Stahlfeder, dann mit einem Nylonpinsel. Sein Absatz glitt aus und er fiel konnte den Fall nicht stoppen fiel in schleimige schwellende Weichheit höher als sein Kinn, höher und er konnte sich nicht bewegen gelähmt und er versuchte zu schreien versuchte zu schreien versuchte zu schreien.
Der Prospektor kletterte gerade einen Kraterhang hinauf, die Glieder eingezogen, den Kopf nach oben gewandt. Hinter ihm in der Ferne der Kraterrand, dann der Horizont, der schwarze Himmel, die Sterne. Und er war dort, und es war nicht weit genug, noch nicht, denn die Erde hing über ihm wie eine faulende Frucht, blau von Schimmel, voll Ungeziefer, verschrumpelt, eiternd und lebendig.
Originaltitel: MASKS Copyright © by Damon Knight Aus PLAYBOY
Samuel R. Delany ZEIT, BETRACHTET ALS EINE SPIRALE AUS HALBEDELSTEINEN
Tagesordinate und Abszisse des Jahrhunderts. Jetzt ziehen Sie mir einen Quadranten. Den dritten Quadranten bitte. Ich wurde fünfzig geboren. Hier ist es fünfundsiebzig. Mit sechzehn durfte ich das Waisenhaus verlassen. Den Namen am Hals, den sie mir gegeben hatten (Harold Clancy Everet, und ich erst ein Junge – wieviele Namen habe ich inzwischen gehabt?) kam ich in den Bergen von Ost-Vermont zu einem Entschluß: Ich und Pa Michaels, der mir auf die Empfehlung des offiziellen Dokuments, mit dem man aus dem Waisenhaus entlassen wird, einen Job gegeben hatte, wir betreuten Pa Michaels’ Milchfarm, das heißt dreizehntausenddreihundertdreiundsechzig scheckige Guernsey-Kühe, die in ihren rostfreien Särgen schliefen, ernährt und gedopt durch eine rosa Flüssigkeit aus durchsichtigen Plastikvenen (das Zeug ist pappig und macht die Hände schmierig), in Form gehalten durch elektrische Impulse, die ihre Muskeln vibrieren lassen, während sie vor sich hindösen und die Milch einfach in rostfreie Tanks hinunterläuft. Nun gut. Der Entschluß (als ich eines Nachmittags dort auf dem Feld stand wie ein Arbeiterdenkmal, erschöpft von drei harten Stunden körperlicher Arbeit, die Maschinerie des Universums durch den Nebel der Müdigkeit betrachtend): Nachdem Erde, Mars und die äußeren Satelliten
voll Menschen und was sonst noch waren, mußte es noch irgend etwas anderes geben. Ich beschloß, dem nachzugehen. Also stahl ich ein paar von Pas Kreditkarten, einen seiner Hubschrauber und eine Flasche von dem weißen Blitz, den der Kerl selber braute, und startete. Hast du jemals versucht, mit einem gestohlenen Helikopter besoffen auf dem Dach des PanAm-Gebäudes zu landen? Nach Knast und ein paar harten Hieben war ich schon schlauer. Aber vergiß dieses nicht, mein Bester: Vor nicht einmal zehn Jahren habe ich auf einer Milchfarm drei ehrliche Stunden hingelegt. Und niemand hat mich jemals wieder Harold Clancy Everet genannt.
Hand Culafroy Eckles (rothaarig, einsfünfundachtzig) schlenderte aus der Gepäckhalle des Raumflughafens. In seiner kleinen Ledertasche waren eine Menge Dinge, die nicht ihm gehörten. Neben ihm sagte der Geschäftsmann: »Ihr jungen Kerle heute regt mich auf. Bloß wegen der Schwierigkeiten mit der kleinen Blonden, von der Sie mir erzählten, von einer Welt zur anderen zurückfahren und den Beleidigten spielen. Sogar seinen Job zu verlassen!« Hank bleibt stehen und sagt mit schwachem Grinsen: »Also…« »Gut, ich gebe zu, ihr jungen Leute habt nun mal echte Bedürfnisse, die wir Älteren vielleicht nicht verstehen. Aber ihr müßt Verantwortungsbewußtsein zeigen gegenüber…« Er bemerkt, daß Hank vor einer Tür mit der Aufschrift HERREN steht. »Oh. Ach so. Ah.« Er grinst breit. »War mir ein Vergnügen, Hank. Ist immer gut, wenn man bei einem dieser verdammten Aufenthalte jemanden trifft, mit dem man reden kann. So long.« Zehn Minuten später kommt aus derselben Tür Harmony C. Eventide. Genau einsachtzig (einer der hohen Absätze war
gebrochen, deshalb steckte ich sie beide unter einen Haufen Papierhandtücher), braunes Haar (nicht einmal mein Friseur weiß es genau), oh so chic und up to date, gekleidet nach dem schlechten Geschmack der oh so geschmackvoll ist, eine Art von Mann, mit dem kein Geschäftsmann eine Unterhaltung beginnen würde. Nahm den Hubschrauber vom Hafen zum PanAm-Gebäude (Ja. Wirklich. Betrunken), kam aus der Grand Central Station und ging die Fortysecond zur Eight Avenue hinunter. In meinem kleinen Lederkoffer waren eine Menge Dinge, die nicht mir gehörten. Der Abend besteht aus Licht. Ich überquerte das Plastiplex-Pflaster des Großen Weißen Weges – läßt die Leute ganz unheimlich aussehen, vor allem dieses weiße Licht unter ihrem Kinn – und ging zwischen den Menschenmassen hindurch, die auf Rolltreppen von der Untergrundbahn, der Unter-Untergrundbahn und der UnterUnter-Untergrundbahn heraufkamen (achtzehn, und erst eine Woche aus dem Gefängnis, hing ich hier herum und beklaute die Leute – aber clever, clever, so daß sie niemals bemerkten, daß sie beklaut worden waren), drückte mich durch einen Haufen kichernder, kaugummikauender Schulmädchen mit Lichtern im Haar, die alle sehr verlegen waren wegen ihrer durchsichtigen Plastikblusen, die eben wieder erlaubt worden waren (ich höre, daß die Brust seit dem siebzehnten Jahrhundert immer für szön – im Gegensatz zu obszön – erklärt und erlaubt und dann wieder verboten worden ist) und starrte sie also mit Kennerblick an; da kicherten sie noch mehr. Ich dachte, Heiland, als ich in diesem Alter war, war ich auf einer verdammten Milchfarm, und verfolgte den Gedanken nicht weiter. Die Leuchtschrift auf dem dreieckigen Gebäude der Kommunikations-Gesellschaft erklärte auf ElementarEnglisch, wie Senatorin Regina Abolafia ihre Untersuchung
des Organisierten Verbrechens in der Stadt beginnen wollte. An manchen Tagen bin ich so froh über meine Zerrüttung, daß ich es gar nicht sagen kann. In der Nähe der Ninth Avenue trug ich mein Köfferchen in eine lange, überfüllte Bar. Seit zwei Jahren war ich nicht in New York gewesen, aber auf meiner letzten Flugreise hatte ich hier einen Mann getroffen, der echtes Talent dafür hatte, das Zeug, das mir nicht gehörte, schnell, sicher und mit Profit loszuschlagen. Keine Ahnung, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es war, ihn zu finden. Ich drückte mich zwischen ‘ner Menge von Kerlen durch, die Bier tranken. Hie und da waren ein paar gutbekleidete alte Säcke, die das Letzte vom letzten Monat trugen. Rauchfahnen wehten durch den Lärm. Ich mag solche Orte nicht. Alle, die jünger waren als ich, waren Fixer oder Schwachköpfe. Die Älteren wünschten nur, daß mehr Jüngere kommen würden. Ich bahnte mir einen Weg hinüber zur Bar und versuchte, die Aufmerksamkeit eines der kleinen Männer in weißen Jacken zu erregen. Das Verstummen des Lärms hinter mir ließ mich umsehen –
Sie trug eine Art Schleier, der am Hals und am Handgelenk von riesigen Messingfibeln zusammengehalten wurde (oh so geschmackvoll am Rande des Geschmacks); ihr linker Arm war bloß, ihr rechter von weinfarbenem Chiffon umhüllt. Aber eine so ostentative Demonstration ihres Verständnisses für delikatere Dinge war in dieser Bar völlig fehl am Platze. Die Leute beachteten sie überhaupt nicht. Sie wies auf ihr Handgelenk, wobei ihr blutroter Fingernagel auf ein gelb-oranges Fragment in der Metallklaue ihres Armbands deutete. »Wissen Sie, was das ist, Mr. Eldrich?« fragte sie; gleichzeitig teilte sich der Schleier vor ihrem Gesicht, und ihre Augen waren eisblau, ihre Brauen schwarz.
Drei Gedanken: (Erstens) Sie ist eine Lady, die mit der Mode geht, denn auf dem Weg von Bellona hierher hatte ich in Delta etwas über »changierende Gewebe« gehört, deren Farbe und Schimmer auf ingeniöse Weise durch Edelsteine an den Handgelenken beeinflußt wurden. (Zweitens) Bei meiner letzten Durchreise, als ich jünger und Harry Calamine Eldrich war, hatte ich nichts allzu Illegales ausgefressen (obwohl man solche Dinge ja bald wieder vergißt); jedenfalls glaubte ich nicht, daß man mich unter diesem Namen für mehr als dreißig Tage in den Knast gesteckt haben würde. (Drittens) Der Stein, auf den sie deutete… »Jaspis?« fragte ich. Sie wartete darauf, daß ich noch mehr sagen würde; ich wartete darauf, daß sie mir einen Grund dafür geben würde, das zu sagen, worauf sie wartete (als ich im Knast war, war Henry James mein Lieblingsautor. War er wirklich). »Jaspis«, bestätigte sie. »Jaspis…« Ich stellte die Mehrdeutigkeit wieder her, gegen die ich so sehr gekämpft hatte. »Jaspis.« Aber sie gab schon nach, argwöhnend, daß ich ihre Gewißheit verdächtigte, unbegründet zu sein. »Gut. Jaspis.« Aber ihre Miene sagte mir, daß mein Blick ihr verraten hatte, daß ich wußte, daß sie wußte, daß ich es wußte. »Mit wem verwechseln Sie mich eigentlich, meine Dame?«
In diesem Monat ist Jaspis das Wort. Jaspis ist das Code-Wort, das die Sänger der Städte (die letzten Monat »Opal« in ihrer göttlichen Verwundung sangen; und auf dem Mars hatte ich das Wort gehört und dreimal gebraucht, zusammen mit irreführenden Imitationen, um in den Besitz von Dingen zu kommen, die nicht rechtens mein Eigentum waren; und sogar hier zerbreche ich mir den Kopf
über Sänger und ihre Wunden) von Mund zu Mund für diese lose und schurkische Bruderschaft weitergeben, der ich (in verschiedenen Gestalten) seit diesen neun Jahren angehöre. Alle dreißig Tage wird es neu ausgegeben, und innerhalb von Stunden kennt es in sechs Welten und Kleinwelten jeder Bruder. Meistens ist es irgendein blutverkrusteter Bastard, der aus einem dunklen Tor auf dich zutaumelt und es dir zugrunzt. Manchmal wird es dir zugezischt, wenn du durch ein dunkles Gäßchen gehst. Manchmal ist es auf ein Stück Papier gekritzelt, das irgendein dreckiger Unhold dir in die Hand drückt, bevor er in der Menge verschwindet. Und diesen Monat war es »Jaspis«. Hier sind einige Alternativ-Übersetzungen: Hilfe! oder Ich brauche Hilfe! oder Ich kann dir helfen! oder Du wirst beobachtet! oder Du wirst jetzt nicht beobachtet, also los! Letzte Eigenheit der Syntax: Wenn das Wort richtig gebraucht wird, sollte man nie überlegen müssen, was es in einer bestimmten Situation bedeutet. Folgerung: Traue nie jemandem, der es nicht richtig verwendet. Ich wartete darauf, daß sie zu warten aufhören sollte. Sie öffnete ein Lederetui vor mir. »Direktor des Special Service Maudline Hinkle«, las sie vor, was auf der silbernen Plakette stand, ohne hinzusehen. »Sehr schön«, sagte ich, »Maud.« Dann runzelte ich die Stirn. »Hinkle?« »Ich.«
Ich weiß, daß Sie es mir nicht glauben werden, Maud. Sie sehen aus, wie eine Frau, die keine Geduld für ihre Fehler hat. Aber mein Name ist Eventide. Nicht Eldrich. Harmony C. Eventide. Und ist es nicht ein ausgesprochener Glücksumstand, daß das Wort heute abend wechselt? So, wie es verbreitet wird, ist das Wort für die Polizei kein großes Geheimnis. Aber mir sind schon Polizisten begegnet, die bis zu einer Woche nach dem Wechsel noch nicht eingeweiht waren. »Also gut: Harmony. Ich möchte mit Ihnen reden.« Ich zog eine Braue hoch. Sie tat desgleichen und sagte: »Bitte, wenn Sie Henrietta genannt werden wollen, soll es mir auch recht sein. Jetzt aber hören Sie zu.« »Worüber wollen Sie denn sprechen?« »Verbrechen, Mr.?« »Eventide. Ich werde Sie Maud nennen, sagen Sie also ruhig Harmony zu mir. Es ist wirklich mein Name.« Maud lächelte. Jung war sie nicht mehr. Ich glaube, sie war sogar ein paar Jahre älter als der Geschäftsmann. Aber sie schminkte sich besser als er. »Wahrscheinlich weiß ich mehr über Verbrechen als Sie«, sagte sie. »Eigentlich würde ich mich nicht einmal wundern, wenn Sie von meiner Polizeiabteilung überhaupt noch nichts gehört hätten. Was bedeutet Special Service für Sie?« »Stimmt, noch nie davon gehört.« »Dem Regular Service sind Sie in den letzten sieben Jahren mehr oder weniger gekonnt ausgewichen.« »Oh, Maud, wirklich…« »Der Special Service ist für Leute da, deren Ärgerniswert plötzlich stark angestiegen ist… Stark genug, daß unsere kleinen Lichter zu blinken anfangen.« »Aber ich habe doch nichts so Schreckliches getan, daß…«
»Wir kümmern uns nicht darum, was Sie tun. Das macht ein Computer für uns. Wir überwachen nur die erste Ableitung der Kurve mit Ihrer Nummer. Sie steigt stark an.« »Nicht einmal die Würde eines Namens…« »Wir sind die erfolgreichste Abteilung bei der ganzen Polizei. Halten Sie das für Prahlerei, wenn Sie wollen. Oder einfach für eine Information.« »Na, na, na«, sagte ich. »Wie wär’s mit einem Drink?« Der kleine Mann in der weißen Jacke warf einen verwirrten Blick auf Mauds Aufmachung und ging dann weg, um etwas anderes zu tun. »Danke.« Sie goß die Hälfte ihres Drinks hinunter wie jemand, der kräftiger war, als ihr Handgelenk vermuten ließ. »Bei den meisten Verbrechern lohnt sich die Verfolgung nicht. Nehmen Sie die dicken Fische; Farnesworth, Der Falke, Blavatskia. Nehmen Sie die kleinen Taschendiebe, Pusher, Einbrecher und so weiter. An beiden Enden der Leiter ist das Einkommen ziemlich stabil. Sie werfen das soziale Boot nicht um. Der Regular Service beschäftigt sich mit ihnen. Sie glauben, sie machen es gut. Streiten wir nicht darüber. Nehmen wir aber jetzt an, ein kleiner Pusher möchte ein großer Pusher werden; ein mittlerer Gangster setzt sich in den Kopf, ein Obergangster zu werden. Da fangen die Probleme mit den unerwünschten sozialen Rückwirkungen an. Und hier greift der Special Service ein. Wir haben einige Verfahren, die bemerkenswert wirkungsvoll sind.« »Sie werden mir etwas darüber sagen, nicht wahr.« »So wirken Sie am besten«, sagte sie. »Eines davon ist holographische Informationsspeicherung. Wissen Sie, was passiert, wenn Sie eine Hologrammplatte in der Mitte durchschneiden?« »Das dreidimensionale Bild wird… in der Mitte durchgeschnitten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Man hat immer noch das ganze Bild, nur etwas verwischter, leicht unscharf.« »Das wußte ich nun wirklich nicht.« »Und wenn man das wieder auseinanderschneidet, wird es noch unschärfer. Aber selbst auf dem letzten Quadratzentimeter des ursprünglichen Hologramms befindet sich noch das ganze Bild – nicht mehr zu erkennen, aber vollständig.« Ich murmelte ein paar beeindruckte Ms. »Im Unterschied zu einer Fotografie enthält jeder Punkt der fotografischen Emulsion auf einer Hologrammplatte Informationen über das ganze Hologramm. Analog dazu bedeutet holographische Informationsspeicherung einfach, daß jeder Bestandteil der Information, den wir haben – über Sie, zum Beispiel – über Ihren ganzen Werdegang Aufschluß gibt, über Ihre Gesamtsituation, über das ganze Spannungsfeld zwischen Ihnen und Ihrer Umgebung. Spezifische Fakten über Fehlverhalten oder Übertretungen überlassen wir dem Regular Service. Sobald wir aber eine ausreichende Anzahl von Daten unserer Art haben, ist unsere Methode weitaus wirkungsvoller, wenn es darum geht, zurückzuverfolgen – oder sogar vorherzusagen – wo Sie sind oder was Sie vielleicht vorhaben.« »Faszinierend«, sagte ich. »Eins der erstaunlichsten paranoiden Syndrome, die mir jemals begegnet sind. Ich meine, einfach in einer Bar mit irgend jemand ein Gespräch anzufangen. In Hospitälern habe ich oft noch seltsamere…« »In Ihrer Vergangenheit«, sagte sie sachlich, »sehe ich Kühe und Hubschrauber. In ihrer nicht allzu fernen Zukunft gibt es Hubschrauber und Falken.« »Und nun sagen Sie mir, o Gute Hexe des Westens, wie eigentlich…« Und dann wurde mir ganz komisch zu Mute. Denn niemand kann von dieser Sache mit Pa Michaels wissen,
außer dir und mir. Nicht einmal der Regular Service, der mich halbverrückt aus dem Hubschrauber zog, nachdem der auf den Rand des PanAm-Gebäudes zugehüpft war, hatte das nie von mir erfahren. Ich hatte die Kreditkarten verschluckt, als ich sie warten sah, und die Fabriknummern waren von allem abgefeilt worden, was eine Fabriknummer tragen konnte, und zwar von jemand, der dafür kompetenter war als ich: In meiner ersten einsamen durchzechten Nacht auf der Farm hatte der gute Mr. Michaels mir gegenüber geprahlt, wie er irgend etwas Heißes von New Hampshire herübergeschafft hatte. »Aber warum« – erschreckend, zu welchen Klischees die Angst einen treibt – »erzählen Sie mir all das?« Sie lächelte, und dann erstarb ihr Lächeln hinter dem Schleier. »Information ist nur sinnvoll, wenn sie übermittelt wird«, sagte eine Stimme, die ihre war, von dort her, wo sich ihr Gesicht befand. »Hören Sie, ich…« »Vielleicht kommen Sie bald zu einer ganzen Menge Geld. Wenn ich richtig rechnen kann, wird ein Hubschrauber mit den erlauchten Spitzen der Stadt kommen, um Sie wegzufliegen, wenn Sie es in ihre heißen kleinen Hände genommen haben. Das ist eine Information…« Sie trat einen Schritt zurück. Jemand stellte sich zwischen uns. »He, Maud…!« »Sie können damit tun, was immer Sie wollen.« Die Bar war so voll, daß eine schnelle Bewegung einem nur Feinde machen konnte, ich weiß nicht – ich verlor sie aus den Augen und machte mir Feinde. Ein paar recht komische Kerle dort: Mit gefettetem Haar, das in Stäbchen herunterhing, und drei davon hatten Drachen auf ihre knochigen Schultern tätowiert. Ein anderer trug eine Augenklappe, und noch ein anderer fuhr mir mit seinen pechschwarzen Fingernägeln über die Backe (seit zwei Minuten schon sind wir in einer üblen
Rauferei, falls Sie den Übergang versäumt haben sollten. Mir ging es so) und ein paar von den Frauen kreischten. Ich duckte ab und schlug zu, und dann änderte sich der Tenor des Lärms. Jemand sang »Jaspis!«, so wie es gesungen werden muß. Und es bedeutete, daß die Polizei (der gewöhnliche, stümperhafte Regular Service, der mich in diesen sieben Jahren nie zu fassen gekriegt hatte) unterwegs war. Der Kampf verlagerte sich auf die Straße. Ich geriet zwischen zwei schmierige Ekel, die mir nichts schenkten, erreichte aber dann den Rand des Getümmels ohne Verletzungen, die man nicht auf eine Rasur hätte schieben können. Die Menge hatte sich in Gruppen aufgelöst. Ich verließ die eine und geriet in eine andere, die, wie ich einen Augenblick später erkannte, nur aus einem Ring von Leuten bestand, in deren Mitte sich jemand befand, der wirklich arg zugerichtet war. Leute hielten Leute zurück. Jemand drehte ihn um. In einer Blutlache lag der kleine Kerl, den ich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, und der Dinge, die mir nicht gehörten, so gut verkaufen konnte. Bestrebt, niemand mit meiner Ledertasche zu stoßen, schlängelte ich mich davon. Als ich den ersten gewöhnlichen Polizisten sah, bemühte ich mich, wie jemand auszusehen, der gerade mal nachschauen wollte, was hier eigentlich vorging. Es funktionierte. Ich bog in die Ninth Avenue ein und fiel gerade in einen unauffälligen, aber schnellen Trab… »He, warte! Warte doch…« Ich erkannte die Stimme wieder (selbst nach zwei Jahren und so unerwartet erkannte ich sie wieder) ging aber weiter. »Warte! Ich bin’s, Falke!« Und ich blieb stehen.
Den Namen hast du in dieser Geschichte noch nicht gehört; Maud sprach von dem Falken, der ein millionenschwerer Gangster ist und in einer Gegend des Mars operiert, wo ich nie gewesen bin (obwohl er im ganzen System seine Klauen bis zu den Sporen in ungesetzlichen Dingen hat). Aber das ist jemand ganz anderer. Ich ging drei Schritte zu dem Hauseingang zurück. Das Lachen eines Jungen: »O Mann. Du siehst aus wie jemand, der etwas getan hat, was er nicht tun sollte.« »Falke?« fragte ich den Schatten. Er war noch in dem Alter, wo zwei Jahre ein paar Zentimeter Größenunterschied bedeuten. »Treibst du dich immer noch hier herum?« fragte ich. »Manchmal.« Er war ein erstaunlicher Junge. »Hör zu, Falke, ich muß hier heraus.« Ich schaute zurück auf das Getümmel. »So.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Kann ich mitkommen?« Komisch. »Mhm.« Gab mir ein seltsames Gefühl, als er mich das fragte. »Los.« Eine Straße weiter sah ich im Licht einer Straßenlampe, daß sein Haar immer noch hell war wie Fichtenholz. Er hätte eines von diesen Ekeln sein können: Ganz dreckige schwarze Drillichjacke, kein Hemd darunter; uralte schwarze Jeans – das sah man selbst in der Dunkelheit. Er ging barfuß; und daß jemand seit Tagen barfuß in New York herumläuft, kann man in einer dunklen Straße nur feststellen, wenn man es schon weiß. Als wir die Ecke erreicht hatten, grinste er unter der Straßenlaterne zu mir hoch und zog seine Jacke über den Striemen und Kratzern zusammen, die seine Brust und seinen Bauch bedeckten. Seine Augen waren sehr grün. Erkennst du ihn wieder? Sollte das wegen eines Mangels an Information in
den Welten und Kleinwelten nicht der Fall sein: Mit mir ging am Hudson entlang Falke der Sänger. »He, wie lange bist du schon zurück?« »Ein paar Stunden«, sagte ich. »Was hast du gebracht?« »Möchtest du das wirklich wissen?« Er steckte die Hände in die Taschen und warf den Kopf zurück. »Sicher.« Ich gab den Laut eines Erwachsenen, den ein Kind zur Verzweiflung bringt, von mir. »Also gut.« Wir waren jetzt bis zur nächsten Querstraße am Wasser entlang gegangen; niemand war in der Nähe. »Setz dich.« Er setzte sich rittlings auf das Geländer, so daß ein Bein über dem glänzend schwarzen Hudson baumelte. Ich saß ihm gegenüber und fuhr mit dem Daumen über mein Lederköfferchen. Falke beugte sich nach vorn. »He…« Seine grünen Augen sahen mich fragend an. »Darf ich das anfassen?« Ich zuckte die Achseln. »Nur zu.« Er wühlte mit Fingern, die nur aus Knochen und abgenagten Nägeln bestanden, darin herum. Er nahm zwei heraus, legte sie wieder zurück, nahm drei andere. »He!« flüsterte er. »Wieviel sind die denn zusammen wert?« »Zehnmal mehr als ich zu kriegen hoffe. Ich muß sie möglichst bald loswerden.« Er sah auf sein baumelndes Bein hinunter. »Könntest sie immer noch in den Fluß schmeißen.« »Sei nicht dämlich. Ich war auf der Suche nach einem Kerl, der sich oft in dieser Bar aufhielt. Er verstand was von seinem Geschäft.« In der Mitte des Hudson rauschte ein Schiff durch das schäumende Wasser. Auf seinem Deck stand ein Dutzend Helikopter – sicherlich unterwegs zum Landeplatz bei der Verrazano-Brücke. Sekundenlang ging mein Auge hin und her zwischen dem Jungen und dem Schiff, und ich wurde ganz
paranoid wegen Maud. Aber das Schiff mmmte hinein in die Dunkelheit. »Meinen Mann hat man etwas zersäbelt heute abend.« Falke steckte die Fingerspitzen in die Taschen und veränderte ein wenig seine Position. »Und deswegen sitze ich jetzt in der Klemme. Ich hatte nicht angenommen, daß er alle nehmen würde, aber zumindest hätte er mich an andere Leute verweisen können, die es vielleicht getan hätten.« »Ich gehe heute abend noch auf ne Party« – er verstummte, um auf dem Rest eines Fingernagels herumzukauen – »wo du sie vielleicht verkaufen könntest. Alexis Spinnel gibt im Tower Top eine Party für Regina Abolafia.« »Tower Top…?« Es war eine Weile her, seit ich mich zuletzt mit Falke herumgetrieben hatte. Um zehn in Teufels Küche; um Mitternacht auf dem Tower Top… »Ich geh nur, weil Edna Silem dort sein wird.« Edna Silem ist New Yorks älteste Sängerin. Senator Abolafias Name war an diesem Abend schon als Leuchtschrift über mir gewesen. Und in irgendeinem der unzähligen Magazine, die ich auf meiner Fahrt vom Mars hierher gelesen hatte, war Alexis Spinnels Name in unmittelbarer Nachbarschaft von furchtbar viel Geld gestanden. »Ich möchte Edna gern wiedersehn«, sagte ich beiläufig. »Aber sie wird sich nicht an mich erinnern.« Leute wie dieser Spinnel und seine Clique spielten ein gewisses Spielchen, das hatte ich schon in der ersten Runde meiner Bekanntschaft mit Falke entdeckt. Wer die meisten Stadtsänger unter seinem Dach zusammenbekam, gewann. Es gibt fünf New Yorker Sänger (zweiter Platz zusammen mit Lux auf Japetus) Tokio führt mit sieben. »Ist es eine Zwei-Sänger-Party?« »Wahrscheinlich sogar eine mit vier… wenn ich gehe.«
Beim Ball zur Amtsübernahme des Bürgermeisters gibt es vier. Ich zog auf angemessene Weise die Brauen hoch. »Ich muß mir das Wort von Edna holen. Es wechselt heute nacht.« »Also gut«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich bin kein Spielverderber.« Damit war der Fall abgeschlossen.
Wir gingen zurück in Richtung Times Square. Als wir bei der Eight Avenue das Plastiplex-Pflaster erreichten, blieb Falke stehen. »Einen Augenblick«, sagte er. Dann knöpfte er seine Jacke zu bis zum Kragen. »Okay.« Wenn man mit einem Sänger durch die Straßen New Yorks schlendert (vor zwei Jahren noch hatte ich mir überlegt, ob das für einen Angehörigen meines Berufes angebracht sei), ist das wahrscheinlich die beste Tarnung für einen Angehörigen meines Berufes. Denk mal daran, als du deinen Lieblings-DreiD-Star zum letztenmal in der Fiftyseventh um die Ecke kommen sahst. Jetzt ganz ehrlich. Würdest du wirklich den Kleinen in der Tweedjacke erkennen, der einen halben Schritt hinter ihm geht? Die Hälfte der Leute, die auf dem Times Square an uns vorbeigingen, erkannten ihn. Jung wie er war, mit einer Art Trauerkleidung, den schwarzen Füßen und dem aschgrauen Haar, war er bei weitem der farbigste der Sänger. Lächeln; zusammengekniffene Lider; sehr wenige starrten ihn unverhohlen an oder deuteten auf ihn. »Wer soll da eigentlich heute kommen, der mich von diesem Zeug befreien kann?« »Also Alexis bildet sich etwas darauf ein, so eine Art Abenteurer zu sein. Die Dinger könnten ihn reizen. Und er
kann dir mehr geben, als du bekommst, wenn du sie auf der Straße verhökerst.« »Sagst du ihm, daß sie heiß sind?« »Das macht es wahrscheinlich für ihn noch interessanter. Er ist ein irrer Vogel.« »Wenn das so ist, Freund.« Wir gingen zur Unter-Untergrundbahn hinunter. Der Mann am nächsten Schalter wollte eben Falkes Münze nehmen und sah dann auf. Er murmelte drei oder vier Worte, die sein Grinsen unverständlich machten, und gab uns dann einen Wink, weiterzugehen. »Oh«, sagte Falke mit naiver Überraschung, als passiere ihm etwas so Erfreuliches zum ersten Male, »vielen Dank«. (Zwei Jahre zuvor hatte er mir noch weise erklärt: »Wenn ich einmal so aussehe, wie ich es vorhabe, würde es nicht mehr vorkommen.« Ich war immer noch beeindruckt von der Art, wie er mit seiner Bekanntheit fertig wurde. Als ich das Edna Silem gegenüber erwähnt hatte, sagte sie mit der gleichen Unbefangenheit: »Aber deswegen sind wir doch auserwählt.«) In dem hellen Wagen saßen wir auf einer langen Bank. Falke hatte die Hände neben sich aufgestützt und ein Bein über das andere geschlagen. Neben uns kicherten ein paar kaugummikauende Mädchen in hellen Blusen und deuteten und versuchten, nicht dabei ertappt zu werden. Falke sah gar nicht hin, und ich versuchte, nicht beim Hinsehen ertappt zu werden. Dunkle Umrisse flogen an den Fenstern vorbei. Unter dem grauen Wagenboden summte es. In einer Kurve drückte es uns gegen die Lehne. Dann kamen wir aus dem Untergrund nach oben. Draußen hatte die Stadt ihre tausend Pailletten angelegt und warf sie dann hinter den Bäumen von Fort Tryon wieder ab. Plötzlich wurden die Fenster uns gegenüber hell. Hinter ihnen
flogen die metallenen Säulen einer Stationshalle vorbei. Bei leichtem Regen traten wir auf den Bahnsteig. Auf einem Schild stand in Großbuchstaben TWELVE TOWERS STATION. Als wir die Straße erreichten, hatte der Regen aufgehört. Von den Blättern tropfte noch Wasser herunter. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich jemanden mitbringe, hätte ich Alex gebeten, uns einen Wagen zu schicken. Ich sagte ihm, es sei fifty-fifty, daß ich komme.« »Und bist du sicher, daß es recht ist, wenn ich mitkomme?« »Bist du nicht schon einmal mit mir hier gewesen?« »Sogar davor schon einmal«, sagte ich. »Glaubst du immer noch, daß es…« Sein Blick ließ mich verstummen. Nun, Spinnel würde glücklich sein, wenn Falke kam, selbst wenn er eine ganze Bande von Widerlingen mitbrachte – Sänger sind bekannt für so etwas. Mit einem mehr oder weniger präsentablen Dieb kam Spinnel noch gut weg. Hinter dem Tor zu unserer Linken erstreckten sich die Gärten hinauf zum ersten der Türme. Die zwölf riesigen Luxusappartement-Gebäude bedrohten die tiefer hängenden Wolken. »Falke der Sänger«, sagte Falke in die Sprechanlage neben dem Tor. Klong und tick-tick-tick und dang. Wir gingen den Weg zu den Glastüren hinauf. Eine Gruppe von Frauen und Männern in Abendkleidung kam heraus. Als sie uns sahen, konnte man erkennen, wie sie ihre Stirn runzelten über die Rinnstein-Type, die irgendwie in die Halle geraten war (einen Augenblick lang dachte ich, eine davon sei Maud, weil sie in ein Futteral dieses verschwimmenden Gewebes gekleidet war, aber als sie sich umdrehte, war das Gesicht unter dem Schleier dunkel wie gerösteter Kaffee); einer von den Männern erkannte ihn, sagte etwas zu den anderen. Als sie an uns vorüberkamen, lächelten sie. Falke schenkte ihnen ebenso wenig Aufmerksamkeit wie
den Mädchen in der Untergrundbahn. Aber als sie vorbei waren, sagte er: »Einer von diesen Kerlen hat dich angesehen.« »Ja. Habs gemerkt.« »Weißt du warum?« »Er überlegte sich, ob wir uns schon früher begegnet sind.« »Seid ihr?« Ich nickte. »Ungefähr da, wo ich dich getroffen habe, nur damals, als ich gerade aus dem Knast kam. Ich sagte dir doch, daß ich schon einmal hier gewesen bin.« »Oh.« Ein blauer Teppich bedeckte drei Viertel der Halle. Das restliche Viertel wurde von einem großen Wasserbecken eingenommen, in dem vier Meter hohe Gittermasten standen, gekrönt von flammenden Kupferbecken. Die Halle selbst war drei Stockwerke hoch und hatte ein Kuppeldach und Spiegelfliesen an den Wänden. Rauchschleier zogen auf ein Ziergitter zu. Gebrochene Reflexe bewegten sich an den Wänden. Die Aufzugtür schloß sich hinter uns. Wir hatten das Gefühl, völlig stillzustehen, während fünfundsiebzig Stockwerke um uns herum nach unten sausten. Wir betraten den Dachgarten. Ein sehr braungebrannter, sehr blonder Mann in einem aprikosenfarbenen Springeranzug, aus dessen Kragen ein schwarzer Rollkragenpullover hervorlugte, kam die (künstlichen) Felsen zwischen den (echten) Farnen herunter, die beiderseits des Baches (echtes Wasser; künstliche Strömung) wuchsen. »Hallo! Hallo!« Pause. »Ich freue mich außerordentlich, daß Sie sich doch noch zum Kommen entschlossen haben.« Pause. »Eine Weile glaubte ich, Sie würden es nicht mehr schaffen.« Die Pausen sollten es Falke ermöglichen, mich vorzustellen. Ich war so gekleidet, daß Spinnel nicht erkennen konnte, ob ich irgendein Nobelpreisträger war, mit dem Falke zufällig zu
Abend gegessen hatte, oder ein Gauner, dessen Moral und Manieren noch schlimmer waren als meine. »Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?« fragte Alexis. Was bedeutete, daß er Falke nicht so gut kannte, als er glauben machen wollte. Aber er war wohl feinfühlig genug, um der kalten Miene des Jungen zu entnehmen, daß er sein Angebot besser vergessen sollte. Er nickte mir zu und lächelte – das war ungefähr alles, was er konnte – und wir schlenderten auf die versammelten Gäste zu. Edna Silem saß auf einem transparenten Luftkissen. Nach vorne gelehnt, hielt sie ihren Drink in beiden Händen und politisierte mit den Leuten, die vor ihr auf dem Gras saßen. Sie war die erste Person, die ich erkannte (matt-silbernes Haar; blecherne Stimme). Die Manschetten ihres eher männlichen Anzuges umgaben runzelige Hände, die unter Edelsteinen und Silber fast verschwanden und ihr Glas im Rhythmus ihrer Darlegungen in heftige Bewegung versetzten. Als ich mich wieder nach Falke umsah, bemerkte ich ein halbes Dutzend Leute, deren Namen/Gesichter Magazine oder Musik verkauften, Menschen ins Theater lockten (der Theaterkritiker von Delta, was sagt man dazu), und sogar der Mathematiker von Princeton, dem, wie ich einige Monate zuvor gelesen hatte, die Erklärung des »Quasar-Quark-Phänomens« gelungen war. Und da war eine Frau, zu der meine Augen immer wieder zurückkehrten. Nach dem dritten Blick erkannte ich sie als die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin der Neofaschisten, Senatorin Abolafia. Sie hatte die Arme verschränkt und lauschte aufmerksam der Diskussion, die sich jetzt nur noch zwischen Edna und einem übergeselligen jungen Mann abspielte, dessen Augen geschwollen waren, vielleicht wegen der kürzlichen Anschaffung von Kontaktlinsen. »Aber glauben Sie nicht, Mrs. Silem, daß…«
»Sie müssen bedenken, wenn Sie solche Voraussagen machen…« »Mrs. Silem, ich kenne Statistiken, die…« »Sie müssen bedenken, wenn Sie solche Aussagen machen…« »Mrs. Silem, ich kenne Statistiken, die…« »Sie müssen bedenken« – ihre Stimme wurde nachdrücklicher und gleichzeitig leiser, bis die Stille zwischen den Worten ebenso beredt war wie die Stimme, dünn und metallisch. » – daß, wenn alles, alles bekannt wäre, statistische Hochrechnungen unnötig wären. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung verleiht unserer Unwissenheit mathematischen Ausdruck, nicht unserer Weisheit«, was mir eine interessante Fortsetzung von Mauds Vorlesung schien, als Edna aufsah und rief: »Oh, Falke!« Alle wandten sich um. »Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen. Lewis, Ann!« rief sie. Zwei andere Sänger waren schon da (er dunkel, sie bleich, beide gertenschlank; ihre Gesichter erinnerten an Teiche im Wald, klar und sehr still; Mann und Frau, waren sie vor sieben Jahren am Tag vor ihrer Hochzeit gemeinsam zu Sänger gemacht worden). »Er hat uns doch nicht im Stich gelassen!« Edna stand auf, streckte ihren Arm über die Köpfe der Sitzenden aus und bellte über ihre Knöchel hinweg, als wäre ihre Stimme ein Billardstock. »Falke, hier debattieren Leute mit mir, die nicht annähernd soviel über das Thema wissen wie Sie. Sie wären bestimmt auf meiner Seite. Würden Sie also…« »Mrs. Silem, ich hatte nicht die Absicht…« Dann fuhren ihre Arme um sechs Grad herum, ihre Finger, Augen und ihr Mund öffneten sich. »Sie!« Ich. »Mein Lieber, wenn es irgend jemanden gibt, den ich hier nicht erwartet hätte! Aber es ist schon fast zwei Jahre her, nicht wahr?« Die gute Edna; der Ort, wo sie und Falke und ich eine lange
Biernacht miteinander verbracht hatten, war jener Bar ähnlicher gewesen als Tower Top. »Wo haben Sie sich nur versteckt?« »Hauptsächlich auf dem Mars«, antwortete ich. »Eigentlich bin ich erst heute zurückgekommen.« Es macht so viel Spaß, so etwas an so einem Ort sagen zu können. »Falke – Sie beide – « (was hieß, daß sie entweder meinen Namen vergessen hatte oder sich gut genug an mich erinnerte, um ihn nicht zu mißbrauchen) »kommt hier herüber und helft mir, Alexis’ guten Stoff wegzutrinken.« Ich gab mir Mühe, nicht zu grinsen, als wir zu ihr hingingen. Wenn sie sich überhaupt an etwas erinnerte, wußte sie sicher noch, welche Tätigkeit ich ausübte, und die Sache mußte ihr ebenso Spaß machen wie mir. Auf Alexis’ Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab: Er wußte jetzt, daß ich jemand war, wenn auch nicht welcher. Als wir an Lewis und Ann vorbeigingen, schickte Falke den beiden Sängern sein strahlendes Lächeln hinüber. Überschattetes Lächeln war die Antwort. Lewis nickte. Ann machte eine Bewegung, als wollte sie seinen Arm berühren, vollendete sie aber nicht; nichts von alledem entging den Umstehenden. Alex, der jetzt wußte, was er wissen wollte, mixte große Drinks mit zerstoßenem Eis, und der Herr mit den geschwollenen Augen ließ sein Glas nachfüllen. »Aber Mrs. Silem, wo sehen Sie dann ein wirksames Mittel gegen solchen Mißbrauch politischer Macht?« Regina Abolafia trug einen weiten Seidenanzug. Nägel, Lippen und Haar waren von derselben Farbe, und auf der Brust trug sie eine Kupferfibel. Es hat mich immer schon fasziniert, zu sehen, wie Leute, die es gewohnt sind, Mittelpunkt zu sein, zur Seite geschoben werden. Sie schwenkte ihr Glas und hörte zu.
»Ich setze mich dagegen ein«, sagte Edna. »Falke setzt sich dagegen ein. Lewis und Ann setzen sich dagegen ein. Wir sind letztlich das Mittel.« Ihre Stimme hatte sich in jenen autoritären Ton gesteigert, den nur Sänger annehmen können. Dann hörte man Falkes Lachen durch das Gewirr der Stimmen. Wir wandten uns um. Er saß mit gekreuzten Beinen auf der Hecke. »Schaut…« flüsterte er. Die Blicke der Leute folgten dem seinen. Er sah zu Lewis und Ann hinüber. Sie, groß und blond, er, dunkel und größer, standen da, ein wenig nervös und sehr still (Lewis’ Lippen waren geöffnet). »Oh«, flüsterte jemand, der es hätte besser wissen müssen, »sie werden…« Ich beobachtete Falke, weil ich noch nie Gelegenheit gehabt hatte, einen Sänger beim Gesang eines anderen zu beobachten. Er legte seine Fußsohlen aneinander, packte seine Zehen und beugte sich vor, und die Adern in seinem Halse bildeten blaue Linien. Der oberste Knopf seiner Jacke hatte sich geöffnet. Über seinem Schlüsselbein waren die Enden von zwei Narben zu sehen. Vielleicht bemerkte sie niemand außer mir. Ich sah, wie Edna mit einem Ausdruck strahlenden Stolzes ihr Glas wegstellte. Alex, der eben mit einem Knopfdruck an der Automatik-Bar für mehr zerstoßenes Eis sorgen wollte, sah, was bevorstand und drückte auf den Ausschaltknopf. Das Summen der Automatik-Bar verstummte. Eine Brise (ob künstlich oder echt, war nicht zu erkennen) und die Bäume hauchten ein schsch. Erst einzeln, dann im Duett, dann wieder einzeln sangen Lewis und Ann. Sänger sind Leute, die Dinge anschauen und dann hingehen und den Leuten sagen, was sie gesehen haben. Was sie zu Sängern macht, ist ihre Fähigkeit, die Leute zum Zuhören zu
bringen. Das ist die großartigste Vereinfachung, zu der ich in der Lage bin. Der sechsundachtzigjährige El Posado sah in Rio de Janeiro einen Häuserblock einstürzen, rannte zur Avenida del Sol und begann, in Versfuß und Reim zu improvisieren (gar nicht zu schwierig im reimreichen Portugiesisch), und die Tränen liefen seine staubigen Wangen hinab, und seine Stimme mußte sich behaupten gegen das Rauschen der Palmen in der sonnigen Straße. Hunderte von Menschen blieben stehen und hörten zu; dann noch hundert und weitere hundert. Und sie erzählten vielen Hunderten, was sie gehört hatten. Drei Stunden später waren Hunderte von ihnen mit Decken, Lebensmitteln, Geld und Schaufeln zur Stelle und, noch unglaublicher, mit dem Willen und der Fähigkeit, sich zu organisieren und innerhalb dieser Organisation wirkungsvoll zu arbeiten. Kein Drei-D-Bericht von einer Katastrophe hat jemals eine derartige Reaktion bewirkt. Historisch wird El Posado als der erste Sänger betrachtet. Dann kam Miriamne in der überdachten Stadt Lux, die dreißig Jahre lang durch die metallenen Straßen ging und die Saturnringe besang – wegen der ultravioletten Strahlung können die Kolonisten die Ringe nicht mit unbewaffneten Auge sehen. Aber Miriamne ging jeden Abend zum Stadtrand, schaute und kam zurück, um das zu besingen, was sie gesehen hatte. All das hätte nichts zu bedeuten gehabt, wenn nicht an den Tagen, an denen sie nicht sang – krankheitshalber, oder weil sie einmal eine andere Stadt besuchte, zu der ihr Ruhm gedrungen war – die Börsenkurse fielen und die Zahl der Verbrechen stieg. Niemand war in der Lage, die Gründe dafür zu nennen. Man konnte sie nur zur Sängerin erklären. Wie kam es zur Institution der Sänger, die in fast jedem städtischen Zentrum des ganzen Systems entstand? Manche Spekulationen besagen, daß es eine Spontanreaktion auf die Massenmedien war, die unser Leben völlig durchsetzen. Während Drei-D und das Radio sämtlichen
Welten Informationen liefern, verbreiten sie auch ein Gefühl der Entfremdung von realer Erfahrung. (Wieviele Menschen gehen noch zu Sportveranstaltungen oder politischen Versammlungen mit kleinen Empfängern im Ohr, die sie wissen lassen, daß das, was sie sehen, tatsächlich passiert?) Die ersten Sänger wurden von ihrer Umgebung dazu erklärt. Dann gab es eine Zeit, da jeder, der wollte, sich zum Sänger erklären konnte, und die Menschen reagierten entweder auf ihn oder lachten ihn aus. Aber zu dem Zeitpunkt, als man mich auf die Türschwelle von jemand legte, der mich nicht wollte, hatten die meisten Städte eine inoffizielle Richtzahl erstellt. Wenn heute eine solche Stelle offen ist, bestimmen die verbleibenden Sänger, wer sie bekommt. Verlangt wird dichterisches und dramatisches Talent sowie ein gewisses Charisma, das aus dem Spannungsfeld zwischen Persönlichkeit und Publicity entsteht, in dem sich ein Sänger sofort befindet. Bevor er Sänger wurde, hatte sich Falke mit einem Gedichtband, der erschien, als er fünfzehn war, einen bemerkenswerten Ruf erworben. Er hielt Gastvorlesungen an verschiedenen Universitäten; allgemein bekannt war er freilich noch nicht, als ich ihm damals im Central Park begegnete, und er war erstaunt darüber, daß ich bereits von ihm gehört hatte. (Ich hatte gerade vier angenehme Wochen als Gast der Stadt verbracht, und es ist überraschend, was man alles in der Tombs-Bibliothek findet.) Es war ein paar Wochen nach seinem sechzehnten Geburtstag. Seine Sängerschaft sollte in vier Tagen verkündet werden, obwohl er selbst bereits unterrichtet war. Wir saßen bis zum Morgengrauen am See, während er sich bedrückt Gedanken über die auf ihn zukommende Verantwortung machte. Zwei Jahre später ist er immer noch um ein halbes Dutzend Jahre jünger als alle anderen Sänger in sechs Welten. Man braucht nicht Dichter gewesen zu sein, um Sänger zu werden, aber die meisten
waren entweder dies oder Schauspieler. Daneben befinden sich unter ihnen aber auch ein Hafenarbeiter, zwei Universitätsprofessoren, eine Erbin der Silitax-Millionen und mindestens zwei Personen mit so dubioser Vergangenheit, daß selbst die unersättlich nach Sensationen gierende PublicityMaschine sich bereit fand, nichts darüber verlauten zu lassen. Aber woher sie auch kamen, diese lebenden Legenden sangen von Liebe, von Tod, vom Wechsel der Jahreszeiten, von sozialen Gegensätzen, Regierungen und der Palastwache. Sangen vor großen und kleinen Auditorien, für einen einzelnen Arbeiter, der gerade vom Hafen heimkam, an Straßenecken in den Slums, in Vorortszügen, in den eleganten Gärten der Twelve Towers, für Alex Spinnels erlesene Abendgesellschaft. Seit Einführung dieser Institution ist es übrigens verboten, die »Lieder« der Sänger auf mechanischem Wege zu reproduzieren (das schließt auch die Veröffentlichung der Texte ein), und ich respektiere das Gesetz, wie es nur ein Mann meines Standes kann. Die Erklärung gebe ich dann an Stelle von Lewis’ und Anns Lied.
Sie kamen zum Schluß, öffnete die Augen und sahen mit Mienen um sich, die Verlegenheit, aber auch Verachtung ausdrücken konnten. Falke lehnte sich mit einem Ausdruck hingerissener Zustimmung nach vorn. Edna lächelte höflich. Mir selbst muß man angesehen haben, daß das Lied mich sehr bewegt und mir sehr gefallen hatte. Lewis und Ann hatten wundervoll gesungen. Alex begann wieder zu atmen, schaute sich um, um zu sehen, wie es auf die Anwesenden gewirkt hatte, und drückte dann auf einen Knopf an der Automatik-Bar, die zu summen und zerstoßenes Eis auszuspeien begann. Niemand klatschte;
dennoch konnte man spüren, daß die Leute beeindruckt waren; sie nickten, machten entsprechende Bemerkungen, flüsterten. Regina Abolafia ging zu Lewis hinüber, um ihm irgend etwas zu sagen. Ich versuchte mitzuhören, bis Alex mir mit einem Glas an den Ellbogen stieß. »Oh, tut mir leid…« Ich packte mein Köfferchen mit der anderen Hand und nahm dann lächelnd den Drink. Als Senatorin Abolafia wieder von den beiden Sängern wegging, hielten sie sich an der Hand und sahen sich etwas einfältig an. Sie setzten sich wieder. Die Party löste sich in kleine Gruppen auf, die sich in lebhaftem Gespräch in den Gärten und Hainen ergingen. Über uns zogen chamoisfarbene Wolken am Mond vorbei. Eine Weile stand ich allein zwischen den Bäumen und lauschte der Musik, einem zweiteiligen Kanon von de Lassus, programmiert für Audio-Generatoren. Mir fiel ein Artikel ein, der in der Woche zuvor in einer der weitverbreiteten literarischen Revuen erschienen war. Darin hieß es, daß dies die einzige Möglichkeit sei, den beengenden Zwang der Taktstriche loszuwerden, den fünf Jahrhunderte Tradition den modernen Musikern auferlegt hatten. Dies würde noch weitere zwei Wochen annehmbare Unterhaltung sein. Die Bäume umstanden einen kleinen Teich mit felsigem Grund, aber ohne Wasser. Unter der plastischen Oberfläche woben abstrakte Lichter sich ständig ändernde leuchtende Muster. »Verzeihen Sie…« Hinter mir stand Alexis, jetzt ohne Drink, und wußte nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Er war nervös. »… aber unser junger Freund hat mir berichtet, Sie hätten etwas, woran ich interessiert sein könnte.« Ich wollte mein Köfferchen hochheben, aber Alex’ Hand fuhr von seinem Ohr herunter (wohin sie auf dem Umweg vom
Gürtel über das Haar zum Kragen gelangt war) und gebot mir Einhalt. Neureich. »Schon gut. Ich brauche sie jetzt nicht zu sehen. Möchte es eigentlich auch nicht. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich wäre in der Tat interessiert an dem, was Sie haben, wenn es wirklich so ist, wie Falke es mir beschrieben hat. Aber ich habe hier einen Gast, der sogar noch neugieriger darauf ist.« Das klang merkwürdig. »Ich weiß, daß das merkwürdig klingt«, räumte Alexis ein, »aber ich dachte, Sie wären hauptsächlich am finanziellen Aspekt der Sache interessiert. Ich bin ein etwas exzentrischer Sammler, der Ihnen einen meinem Verwendungszweck entsprechenden Preis bieten könnte: Gegenstände exzentrischer Konversation – und wegen der Natur des Kaufes würde ich den Kreis, der in dieser Konversation einzubeziehen wäre, eng beschränken müssen.« Ich nickte. »Mein Gast freilich hätte noch wesentlich mehr Verwendung dafür.« »Könnten Sie mir sagen, wer dieser Gast ist?« »Ich habe nach einigem Zögern Falke gefragt, wer Sie seien, und er gab mir zu verstehen, daß eine Antwort einer schwerwiegenden sozialen Indiskretion ziemlich nahe käme. Nicht weniger indiskret wäre es, würde ich Ihnen den Namen meines Gastes eröffnen.« Er lächelte. »Aber Diskretion ist eines der wesentlichen Elemente unseres sozialen Lebens, Mr. Harvey Cadwaliter-Erickson…« Er lächelte wissend. Niemals bin ich Harvey Cadwaliter-Erickson gewesen, aber Falke war immer schon ein erfinderischer Junge. Dann fielen mir die Cadwaliter-Ericksons in Tythis auf Triton, also diese Wolfram-Magnaten, ein. Falke war nicht nur erfinderisch, er war ebenso brillant, wie Zeitschriften und Zeitungen ihn immer schildern.
»Ich nehme an, Ihre zweite Indiskretion wird sein, daß Sie mir sagen, wer dieser geheimnisvolle Gast ist?« »Nun«, sagte Alex mit der Miene einer Katze, die eben den Kanarienvogel gefressen hat, »Falke stimmte mit mir überein, daß der Falke sicherlich neugierig darauf sein wird, was Sie da drin haben«, (er deutete auf mein Köfferchen) »und das ist er tatsächlich.« Ich runzelte die Stirn. Dann schossen mir viele kleine, schnelle Gedanken durch den Kopf, die ich zu gegebenem Zeitpunkt artikulieren werde. »Der Falke?« Alex nickte. Ich machte ein etwas finsteres Gesicht. »Würden Sie unseren jungen Freund für einen Augenblick hierher schicken?« »Wie Sie wünschen.« Alex verbeugte sich und ging. Vielleicht eine Minute später kam Falke grinsend durch die Bäume und über die Felsen auf mich zu. Als ich nicht zurückgrinste, hielt er inne. »Mmmm…« begann ich. Er sah mich von der Seite an. Ich kratzte mich mit dem Knöchel am Kinn. »… Falke«, sagte ich, »ist dir eine Polizeiabteilung namens Special Service ein Begriff?« »Ich habe davon gehört.« »Man interessiert sich dort plötzlich sehr für mich.« »So?« sagte er ehrlich verwundert. »Sie sollen sehr effizient sein.« »Mmmmm«, sagte ich wieder. »Sag«, meinte Falke, »wie findest du das? Mein Namenspatron ist heute abend hier. Was sagst du dazu?« »Alex hat es erwähnt. Hast du eine Ahnung, warum er hier ist?« »Vermutlich um irgendeine Vereinbarung mit Abolafia zu treffen. Ihre Untersuchung beginnt morgen.«
»Oh.« Ich überlegte mir ein paar Dinge, an die ich schon vorher gedacht hatte. »Kennst du eine Maud Hinkle?« Sein fragender Blick gab eine überzeugend verneinende Antwort. »Bezeichnet sich selbst als eine der leitenden Persönlichkeiten der geheimnisvollen Organisation, von der ich eben sprach.« »So?« »Wir unterhielten uns vor ein paar Stunden, und sie beendete unser Gespräch mit einer kleinen Predigt über Falken und Helikopter. Meine anschließende Begegnung mit dir faßte ich als einen Streich des Zufalls auf. Jetzt aber entdecke ich, daß der Verlauf des Abends ihre Andeutungen der Pluralität bestätigt.« Ich schüttelte den Kopf. »Falke, ich finde mich plötzlich in eine paranoide Welt katapultiert, wo die Wände nicht nur Ohren, sondern wahrscheinlich Augen und außerdem lange, klauenspitze Finger haben. Jeder, den ich treffe – sogar du – könnte sich als Spion erweisen. Ich argwöhne, daß sich hinter jedem Abflußgitter und jedem Fenster im zweiten Stock ein Fernrohr, eine Maschinenpistole oder noch Schlimmeres verbirgt. Nicht ganz klar ist mir, wie diese heimtückische Mächte, so allgegenwärtig sie auch seien, dich dazu gebracht haben, mich in diese diabolische…« »Ach, hör auf!« Mit einer Kopfbewegung warf er sein Haupthaar nach hinten. »Ich habe dich nicht…« »Vielleicht nicht bewußt, aber der Special Service hat holographische Informationsspeicherung, und seine Methoden sind hinterhältig und grausam…« »Du sollst aufhören. Glaubst du, ich…« Dann bemerkte er wohl, wie sehr ich Angst hatte. »Hör zu; der Falke ist nicht irgendein kleiner Taschendieb. Er lebt in einer ebenso paranoiden Welt wie du jetzt, nur ständig. Wenn er hier ist, kannst du sicher sein, daß genau so viele von seinen Männern
– Augen und Ohren und Finger – da sind, wie von Maud Hickenlooper.« »Hinkle.« »Jedenfalls wird kein Sänger… Also, glaubst du wirklich, ich würde…« »Ja«, sagte ich. »Du hast einmal etwas für mich getan, und ich…« »Falke«, sagte ich. »Laß mich sehen.«
Er holte tief Atem. Dann begann er, die Messingknöpfe zu öffnen. Dann war seine Jacke offen. Die Lichteffekte färbten seine Brust in wechselnden Pastelltönen. Ich fühlte, wie mein Gesicht sich verzerrte. Ich wollte nicht wegsehen. Statt dessen zog ich zischend den Atem ein, was ebenso schlecht war. Er blickte auf. »Es sind eine Menge mehr als das letzte Mal, da du hier warst, nicht wahr?« »Du bringst dich noch um, Falke.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann nicht einmal mehr sagen, welche von mir selbst sind.« Er starrte darauf, um es herauszufinden. »Ach, laß das«, sagte ich zu scharf. Und drei Atemzüge lang wurde ihm immer unbehaglicher, bis er nach dem untersten Knopf griff. »Junge«, sagte ich und versuchte, meine Stimme nicht verzweifelt klingen zu lassen, »warum tust du das?« Und meine Stimme klang nach gar nichts. Nichts Verzweifelteres als eine leere Stimme. Er zuckte die Achseln, sah, daß mir das nicht gefiel, und für einen Augenblick blitzte Zorn aus seinen grünen Augen. Das gefiel mir auch nicht. Da sagte er: »Schau… du berührst jemanden leicht und sanft, vielleicht tust du es sogar mit Liebe.
Und dann geht wohl eine Information hinauf zum Gehirn, wo irgend etwas es als Vergnügen interpretiert. Vielleicht interpretiert irgend etwas in meinem Kopf die Information ganz falsch…« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist ein Sänger. Von Sängern erwartet man, daß sie exzentrisch sind, sicher; aber…« Jetzt schüttelte er den Kopf. Dann legte sich sein Zorn. Und ich sah, wie von all diesen Punkten, die Schmerz verbreitet hatten, ein Ausdruck durch seine Züge ging und wieder verschwand, ohne sich zu einem Wort geformt zu haben. Und noch einmal sah er hinunter zu seinen Wunden, die seinen dünnen Körper wie ein Netz überspannten. »Mach die Jacke wieder zu, Junge. Tut mir leid, daß ich etwas gesagt habe.« Als er halb durch die Knöpfe war, hielt er inne. »Glaubst du wirklich, ich würde dich bei der Polizei hinhängen?« »Mach die Jacke zu.« Er tat es. Dann sagte er: »Oh.« Und dann: »Es ist jetzt Mitternacht.« »Und?« »Edna sagte mir eben das Wort.« »Nämlich?« »Agate.« Ich nickte. Er knöpfte seinen Kragen zu. »Woran denkst du?« »Kühe.« »Kühe?« fragte Falke. »Wieso?« »Bist du schon mal auf einer Milchfarm gewesen?« Er schüttelte den Kopf. »Um höchste Milchleistung zu erreichen, werden die Kühe praktisch in einem Zustand halber Bewußtlosigkeit gehalten. Ernährt werden sie intravenös aus einem großen Tank mit sich
verzweigenden Schläuchen, die schließlich zu all diesen Höchstleistung erbringenden Halbkadavern gehen.« »Ich habe Bilder gesehen.« »Leute.« »… und Kühe?« »Du hast mir das Wort gesagt. Und jetzt sickert es ein, verzweigt sich, ich sage es anderen, und die wieder anderen, bis morgen um Mitternacht…« »Ich hole den…« »Falke?« Er wandte sich um. »Was?« »Du sagst, du glaubst nicht, daß ich das Opfer irgendeines Hokuspokus mit den geheimnisvollen Mächten werde, die mehr wissen als wir… okay, das ist deine Ansicht. Aber sobald ich dieses Zeug los bin, werde ich mir den aufregendsten Abgang verschaffen, den du jemals gesehen hast.« Zwei feine Linien zogen sich über Falkes Stirn. »Bist du sicher, daß ich ihn noch niemals gesehen habe?« »Ja, du hast ihn wohl schon gesehen.« Jetzt grinste ich. »Oh«, sagte Falke und gab dann einen Laut von sich, der die Struktur eines Lachens hatte, aber nur Atem war. »Ich hole den Falken.« Er verschwand zwischen den Bäumen.
Ich schaute auf die Rauten des Mondlichtes in den Blättern hinauf. Ich sah auf mein Köfferchen hinab. Oben zwischen den Felsen erschien der Falke. Er trug einen grauen Abendanzug mit einem grauem, seidenen Rollkragenpullover. Sein Gesicht war zerfurcht, sein Kopf kahl geschoren. »Mr. Cadwaliter-Erickson?« Er streckte mir die Hand hin.
Ich schüttelte sie: Kleine spitze Knochen in loser Haut. »Nennt man Sie Mr…?« »Arty.« »Arty der Falke.« Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich seinen grauen Anzug betrachtete. Er lächelte. »Arty der Falke. Ich legte mir diesen Namen zu, als ich jünger war als unser Freund dort drüben. Alex sagt, Sie hätten… nun, ein paar Dinge, die eigentlich nicht die Ihren sind. Die nicht Ihnen gehören.« Ich nickte. »Zeigen Sie sie mir.« »Hat man Ihnen gesagt, was…« Er beendete meinen Satz mit einer Handbewegung. »Los, lassen Sie sehen.« Zuvorkommend lächelnd wie ein Bankangestellter streckte er die Hand aus. Ich fuhr mit dem Daumen über den Druckverschluß. Der Deckel machte tsk. »Sagen Sie«, sagte ich und sah zu seinem Kopf auf, den er immer noch gesenkt hatte, um zu sehen, was ich hatte, »was kann man gegen den Special Service tun? Er scheint hinter mir her zu sein.« Er hob den Kopf. Ein Ausdruck der Überraschung verwandelte sich langsam in einen abschätzenden Blick. »Aber Mr. Cadwaliter-Erickson!« Er sah mich von oben bis unten an. »Halten Sie Ihr Einkommen stabil, halten sie es stabil, das ist schon etwas, was Sie tun können.« »Wenn Sie mir für diese Dinger nur annähernd den Preis bezahlen, den sie wert sind, wird das ein wenig schwierig werden.« »Das kann ich mir denken. Ich könnte Ihnen immer noch weniger Geld geben…« Der Deckel machte wieder tsk. »… oder aber, Sie könnten versuchen, Ihren Verstand zu gebrauchen und sie hereinzulegen.«
»Sie müssen sie das eine oder andere Mal hereingelegt haben. Jetzt sind Sie vielleicht in ruhigem Fahrwasser, aber dahin mußten Sie erst von anderswo her kommen.« Arty der Falke nickte verschlagen. »Sie haben wohl eine Begegnung mit Maud gehabt. Da ist sicher eine Gratulation angebracht. Und mein Beileid. Ich lege immer Wert darauf, das zu tun, was angebracht ist.« »Sie scheinen zu wissen, was Sie tun müssen. Ich meine, Sie mischen sich nicht unter die Gäste.« »Heute abend gibt es hier zwei Partys«, sagte Arty. »Wohin, glauben Sie, verschwindet Alex alle fünf Minuten?« Ich runzelte die Stirn. »Das Licht dort unten in den Felsen« – er deutete auf meine Füße – »es sind farbige Leuchteffekte an unserer Decke. Alex«, er lachte leise, »strebt immer wieder hinunter unter die Felsen, in einen Pavillon von orientalischer Pracht…« »… mit einer eigenen Gästeliste an der Tür?« »Regina ist auf beiden. Ich bin auf beiden. Und auch der Junge, Edna, Lewis, Ann…« »Darf ich das alles wissen?« »Nun, Sie kamen mit einer Person, die auf beiden Listen steht. Ich dachte eben…« Er verstummte. Die Sache lief schief. Nun gut. Ein Verwandlungskünstler lernt ziemlich schnell, daß die Wahrscheinlichkeit des Gelingens einer Imitation um so größer ist, je größer sein Vertrauen auf sein unveräußerliches Recht ist, dabei zu scheitern. »Hören Sie«, sagte ich. »Wie wäre es, wenn ich das hier« – ich hob das Köfferchen – »gegen eine gewisse Information eintauschte.« »Sie möchten wissen, wie Sie Mauds Klauen entgehen können?« Einen Augenblick des Nachdenkens, dann schüttelte er den Kopf. »Es wäre ziemlich dumm von mir, wenn ich es Ihnen sagte, selbst wenn ich könnte. Außerdem haben Sie ja
immer noch Ihr Familienvermögen.« Er zeigte mit dem Daumen auf sich selbst. »Glauben Sie mir, Junge. Arty der Falke hatte das nicht. Überhaupt nichts dergleichen.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Also, lassen Sie sehen!« Wieder öffnete ich das Köfferchen. Eine Weile blickte der Falke hinein. Dann nahm er ein paar heraus, drehte sie um, legte sie wieder zurück, steckte die Hände in die Taschen. »Ich gebe Ihnen sechzigtausend dafür, garantierte Kreditzertifikate.« »Und die Information, die ich möchte?« »Nichts würde ich Ihnen sagen.« Er lächelte. »Nicht einmal die Tageszeit.« Es gibt sehr wenige erfolgreiche Diebe in dieser Welt. Und noch weniger in den anderen fünf. Der Wille zu stehlen ist ein Impuls zum Absurden und Geschmacklosen (die Talente sind poetisch, theatralisch, ein gewisses umgekehrtes Charisma…), aber es ist ein Wille, so wie der Wille zur Ordnung, zur Macht, zur Liebe. »Also gut«, sagte ich. Irgendwo über uns hörte ich schwaches Summen. Arty sah mich freundlich an. Er griff in seine Jackentasche und holte eine Handvoll Kreditblöcke heraus – die Blöcke mit den purpurnen Streifen, deren einzelne Scheine zehntausend wert sind. Er riß einen ab. Zwei. Drei. Vier. »Können Sie so viel ohne Risiko deponieren…?« »Warum, glauben Sie, ist Maud hinter mir her?« Fünf. Sechs. »Gut«, sagte ich. »Und Ihr Köfferchen?« fragte Arty. »Bitten Sie Alex um eine Papiertüte. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen schicken.« »Geben Sie sie mir gleich.«
Das Summen kam näher. Ich hielt ihm das offene Köfferchen hin. Arty griff mit beiden Händen hinein. Er stopfte sie in seine Jackentaschen, in seine Hosentaschen; der graue Stoff wölbt sie darüber. Er sah nach links, nach rechts. »Danke«, sagte er. »Danke.« Dann drehte er sich um und eilte davon mit allen möglichen Dingen in den Taschen, die jetzt nicht ihm gehörten. Durch die Blätter schaute ich nach oben, um die Ursache des Lärms zu ergründen, konnte aber nichts sehen. Dann bückte ich mich und legte den Koffer auf den Boden. Ich öffnete das hintere Abteil, wo ich die Dinge aufbewahrte, die tatsächlich mir gehörten, und sah sie hastig durch.
Alex offerierte gerade dem Herrn mit den geschwollenen Augen eine neuen Scotch, während dieser sagte: »Hat jemand Mrs. Silem gesehen? Was bedeutet dieses Gesumme da oben…« als eine hochgewachsene, in einen changierenden Schleier gehüllte Frau schreiend über die Felsen gewankt kam. Ihre Hände waren in ihr verhülltes Gesicht gekrallt. Alex verschüttete Sodawasser über seinen Ärmel, und der Mann sagte: »Oh, mein Gott! Wer ist das?« »Nein!« kreischte die Frau. »Nein, oh nein! Hilfe!« und gestikulierte mit runzeligen Fingern voll glitzernder Ringe. »Erkennen Sie sie nicht?« Falke wisperte es vertraulich jemand anderem zu. »Es ist Henrietta, Countess of Effingham.« Alex, der es gehört hatte, wollte ihr zu Hilfe eilen. Die Countess jedoch duckte sich zwischen zwei Kakteen und verschwand im hohen Gras. Aber die ganze Party folgte. Sie durchstöberten das Gebüsch, als ein Gentleman im Smoking, Schleife und Kummerbund hustete und mit sehr besorgter Stimme sagte: »Entschuldigen Sie, Mr. Spinnel?«
Alex fuhr herum. »Mrs. Spinnel, meine Mutter…« »Wer sind Sie?« Alex war sehr ungehalten. »The Honorable Clement Effingham«, verkündete der Gentleman, und seine Hosenbeine bebten, als wolle er die Hacken zusammenschlagen. Aber er vermochte sich nicht zu artikulieren. Sein Gesicht verlor den Ausdruck der Selbstbeherrschung. »Oh, ich… meine Mutter, Mrs. Spinnel. Wir waren unten im anderen Teil Ihrer Party, als sie sich plötzlich sehr aufregte. Sie lief hier herauf – oh, ich sagte ihr, es nicht zu tun! Ich wußte, daß Sie ungehalten sein würden. Aber Sie müssen mir helfen!« Und dann sah er nach oben. Die anderen ebenfalls. Der Helikopter verfinsterte den Mond, verlor an Höhe und blieb dann unterhalb seiner verschleierten Doppelsichel stehen. »Oh, bitte…« sagte der Gentleman. »Sehen Sie dort hinüber! Vielleicht ist sie wieder hinuntergegangen. Ich muß« – er schaute schnell in beide Richtungen – »sie finden.« Er eilte in eine Richtung davon, während alle übrigen andere Richtungen einschlugen. Plötzlich wurde das Summen stärker, bis mit lautem Krachen Stücke des transparenten Plastikdaches zwischen den Gästen auf die Felsen herunter stürzten… Ich erreichte den Aufzug und hatte den Deckel meines Köfferchens bereits zugeschlagen, als Falke in die sich schließende Tür sprang. Das elektrische Auge öffnete sie wieder. Ich schlug mit der Faust auf den TÜR-ZU-Knopf. Der Junge war hereingestürzt und schlug mit der Schulter gegen zwei Kabinenwände, bevor er wieder Atem und Gleichgewicht fand. »He, da kommt Polizei aus dem Helikopter!« »Sicher von Maud Hinkle persönlich ausgewählte Leute.« Ich riß das andere Büschel weißen Haares von meiner Schläfe. Es
verschwand im Köfferchen, wo schon die PlastidermHandschuhe (runzelig, dicke, blaue Venen, lange, rot lackierte Nägel), die Henriettas Hände gewesen waren, auf den Chiffonfalten ihres Sari lagen. Der Aufzug hielt. Der Honorable Clement war noch zur Hälfte auf meinem Gesicht, als die Tür sich öffnete. Grau in grau und mit absolut elendem Gesichtausdruck stürmte der Falke herein. Hinter ihm tanzten Menschen in einem mit orientalischer Üppigkeit dekorierten Pavillon (mit farbigen Lichteffekten an der Decke). Ich wollte den TÜR-ZUKnopf drücken, aber Arty kam mir zuvor. Dann sah er mich seltsam an. Ich seufzte nur und schälte mir den Rest von Clement ab. »Ist das die Polizei dort oben?« fragte der Falke. »Arty«, sagte ich und zog meinen Gürtel fester, »es sieht ganz danach aus.« Der Aufzug hatte sich in Bewegung gesetzt. »Sie sehen fast so verstört wie Alex aus.« Ich schüttelte mich aus dem Smoking-Jackett, wobei ich die Ärmel von innen nach außen drehte, entledigte mich der weißen gestärkten Hemdbrust mit der schwarzen Schleife und stopfte sie mit allen meinen anderen Hemdbrüsten in das Köfferchen, drehte das Jackett um und schlüpfte in Howard Calvin Evingtons gutes graues Fischgrät-Sakko. Howard ist (wie Hank) rothaarig (aber weniger gelockt): Der Falke zog die Brauen hoch, als ich Clemens’ kahle Kopfhaut abnahm und mein Haar ausschüttelte. »Ich sehe, daß Sie diese Dinge nicht mehr in Ihren Taschen herumtragen.« »Oh, die sind in guter Hut«, sagte er kühl. »Arty«, sagte ich und stellte meine Stimme auf Howards freundlich beruhigenden Bariton ein, »es muß meine schamlose Einbildung gewesen sein, die mich glauben ließ,
daß diese Regular-Service-Polizei nur meinetwegen hier war…« »Wenn sie mich auch erwischten, würden sie nicht gerade unglücklich sein«, knurrte der Falke. Und aus seiner Ecke fragte Falke: »Sie haben Leibwächter dabei, nicht wahr, Arty?« »Na und?« »Es gibt eine Möglichkeit für dich, hier herauszukommen«, zischte Falke mir zu. Sein Jackett hatte sich halb über seiner zerfressenen Brust geöffnet. »Arty muß dich mitnehmen.« »Brillanter Gedanke«, erwiderte ich. »Sicher wollen Sie ein paar Tausender dafür zurück?« Die Idee amüsierte ihn nicht. »Ich will nichts von Ihnen.« Er wandte sich Falke zu. »Ich brauche etwas von Ihnen, mein Junge. Nicht von ihm. Sehen Sie, auf Maud war ich nicht vorbereitet. Wenn Sie wollen, daß ich Ihren Freund hier herausschaffe, dann müssen Sie etwas für mich tun.« Der Junge sah ratlos drein. Ich glaubte Befriedigung auf Artys Gesicht zu erkennen, aber sein Ausdruck wandelte sich in den der Besorgnis. »Sie müssen sich irgend etwas einfallen lassen, um die Halle mit Leuten zu füllen, und zwar schnell.« Ich wollte schon fragen warum, aber ich wußte ja nicht, wieviele Leibwächter Arty hatte. Ich wollte fragen wie, aber der Boden der Kabine drückte gegen meine Füße, und die Tür ging auf. »Wenn Sie es nicht schaffen«, knurrte der Falke Falke zu, »wird keiner von uns hier herauskommen. Keiner von uns!« Ich hatte keine Ahnung, was der Junge tun würde, aber als ich ihm hinaus in die Halle folgen wollte, packte der Falke meinen Arm und zischte, »bleiben Sie hier, Sie Idiot!!« Ich machte wieder kehrt. Arty stand gegen den TÜR-AUFKnopf gelehnt.
Falke sprintete auf das Wasserbecken zu und sprang hinein. Er erreichte die zwölf Fuß hohen Dreibeine mit den Kupferbecken und begann, an einem hinaufzuklettern. »Er wird sich wehtun!« flüsterte der Falke. »Ja«, sagte ich, aber ich glaube nicht, daß er meinen Zynismus bemerkte. Falke machte sich am unteren Rand der großen flammenden Schale zu schaffen, löste irgendeine Verbindung. Plötzlich machte es dang! Ein flüssiger Strahl schoß hinab in den Pool, entflammte jäh auf der ganzen Wasseroberfläche. Wie ein schwarzer Pfeil mit goldener Spitze tauchte Falke in die Fluten. Ich biß mich in die Wangen, als der Alarm ertönte. Vier Leute in Uniform kamen über den blauen Teppich. Eine andere Gruppe ging in entgegengesetzter Richtung, sah die Flammen, und eine der Frauen schrie. Ich hatte den Atem angehalten. Teppich, Wände und Decke waren bestimmt feuersicher. Aber die Vorstellung wirkte immer weniger überzeugend angesichts des infernalischen Brandes. Falke tauchte in der einzigen Ecke des Beckens auf, wo es nicht brannte, und rollte sich über den Teppich, die Hände vor dem Gesicht. Und rollte. Und rollte. Dann kam er auf die Beine. Ein anderer Aufzug spie eine Ladung Passagiere aus, die entsetzt auf die Flammen starrten. Jetzt kam eine Mannschaft mit Feuerlöschgeräten herein. Die Alarmglocke läutete immer noch. Falke blickte zu dem guten Dutzend Leute in der Halle hinüber. Um seine durchnäßten Hosenbeine bildete sich eine Wasserlache auf dem Teppich. Der Flammenschein verwandelte die Tropfen auf seinen Wangen und seinem Haar in flackerndes Kupfer und Blut.
Er schlug sich mit der Faust gegen die nassen Schenkel, holte tief Atem, und dann, über die Stimmen der Leute und das Schrillen der Glocke und das Tosen des Feuers hinweg, sang er. Zwei Gestalten verschwanden wieder in den Aufzügen. Durch eine Tür stürmte ein halbes Dutzend herein. Eine halbe Minute später kehrten die beiden Aufzüge mit je einem Dutzend Leuten zurück. Ich begriff, daß sich im Haus die Kunde verbreitet haben mußte, in der Halle sei ein Singender Sänger. Die Halle füllte sich. Die Flammen tosten, die Feuerwehrleute sprangen herum, und Falke, breitbeinig auf dem blauen Teppich stehend, sang. Sang von einer Bar beim Times Square, einer Bar voll von Dieben, Süchtigen, Raufbolden, Säufern, Frauen, die zu alt waren, um verkaufen zu können, was sie immer noch darboten, von einer Bar, wo an diesem Abend eine Schlägerei ausgebrochen und ein alter Mann gefährlich verletzt worden war. Arty zog mich am Ärmel. »Was…?« »Los«, zischte er. Die Aufzugtür schloß sich hinter uns. Wir schlenderten zwischen den aufmerksamen Zuhörern hindurch, blieben zuweilen stehen, um zuzusehen und zuzuhören. Aber ich konnte Falkes Gesang nicht mit ganzer Aufmerksamkeit folgen. Vielmehr fragte ich mich, was Arty im Sinn hatte: Hinter einem Paar im Bademantel stehend, das in die Flammen blinzelte, kam ich zu dem Schluß, daß alles sehr einfach war. Arty wollte in einer Menschenmenge untertauchen und dann verschwinden. Deshalb hatte er Falke veranlaßt, für einen solchen Auflauf zu sorgen. Um die Tür zu erreichen, mußten wir praktisch durch einen Cordon Regular-Service-Polizei hindurch, die vermutlich gar
nichts mit dem zu tun hatten, was möglicherweise auf dem Dachgarten vor sich ging; sie waren nur hierher gekommen, um das Feuer zu sehen, und blieben jetzt, um dem Sänger zu lauschen. Als Arty einem von ihnen auf die Schulter tippte, »entschuldigen Sie bitte«, um vorbeigelassen zu werden, sah der Polizist ihn an und sah wieder weg, fuhr dann plötzlich herum. Aber ein anderer Polizist hatte alles beobachtet, berührte den ersten am Arm und schüttelte heftig den Kopf. Dann wandten sich beide wieder um, um dem Sänger zuzuschauen. Während das Erdbeben in meiner Brust zur Ruhe kam, wurde mir bewußt, daß der Sicherheitskomplex des Falken aus Agenten und Gegenagenten, der jetzt in der brennenden Halle manövrierte und taktierte, von solcher Finesse und Kompliziertheit sein mußte, daß jeder Versuch, ihn zu verstehen, mich totalem Wahnsinn überantworten würde. Arty öffnete die letzte Tür. Ich trat aus der klimatisierten Luft in die Nacht hinaus. Wir eilten die Rampe hinunter. »He, Arty…?« »… Sie gehen in dieser Richtung.« Er deutete die Straße hinunter. »Ich gehe in der anderen.« »He… was ist das für eine Richtung?« Ich deutete in meine. »Unter-Unter-Untergrundbahnstation von Twelve Towers. Hören Sie, ich habe Sie hier herausgebracht. Für den Moment sind Sie sicher, glauben Sie mir. Nehmen Sie jetzt die Bahn und fahren Sie irgendwo hin, wo es interessant ist. Auf Wiedersehen. Ab jetzt.« Dann stieß Arty der Falke seine Fäuste in die Taschen und eilte die Straße hinauf. Ganz nahe an der Mauer gehend, schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein, jeden Augenblick gewärtig, daß jemand mich aus einem vorbeifahrenden Wagen mit einem
Blasepfeil erledigen würde oder mit Todesstrahlen aus irgendeinem Hinterhalt. Ich erreichte die Station. Und immer noch war nichts passiert. Nach ACHAT kam MALACHIT: TURMALIN: BERYLL (in diesem Monat wurde ich sechsundzwanzig): PORPHYR: SAPHIR: (In diesem Monat nahm ich die zehntausend, die ich nicht verpulvert hatte, und investierte sie im »Gletscher«, einem völlig legitimen Eiscrempalast auf Triton – dem ersten und einzigen Eispalast auf Triton – dessen Umsatzkurve wie eine Rakete in die Höhe ging; alle Investoren bekamen achthundert Prozent zurück, ohne Witz. Zwei Wochen später hatte ich die Hälfte dieses Profits bei ein paar anderen albernen illegalen Geschäften eingebüßt, und fühlte mich ziemlich deprimiert, aber der »Gletscher« brachte es immer wieder. Dann kam das neue Wort): ZINNOBER: TÜRKIS: TIGERAUGE: Hector Calhoun Eisenhower verbrachte diese drei Monate damit, zu lernen, wie man ein angesehenes Mitglied der oberen Mittelschicht der Unterwelt wird. Das ist eine lange Geschichte für sich. Hochfinanz; Gesellschaftsrecht; wie man sich Helfer sucht. Aber die komplizierten Dinge des Lebens haben mich schon immer besonders interessiert. Aber ich arbeitete mich durch. Die Grundregel ist immer noch die gleiche: Beobachte sorgfältig, imitiere wirkungsvoll. GRANAT: TOPAS (Ich flüsterte dieses Wort auf dem Dach des Transsatellitenkraftwerks und veranlaßte meine Mietlinge,
zwei Morde zu begehen. Und weißt du was? Ich fühlte überhaupt nichts dabei): TAAFITE: Wir näherten uns dem Ende von Taafite. Ich war wegen des »Gletschers« auf Triton zurückgekehrt. Es war ein heller, angenehmer Morgen. Das Geschäft lief gut. Ich beschloß, mir den Nachmittag freizunehmen, um mir die Wasserfälle anzusehen. »… zweihundertdreißig Yards hoch«, sagte der Führer, und alle um mich herum stützten sich auf das Geländer und schauten aus dem Plastikkorridor auf die Blöcke gefrorenen Methans, die sich wie aus Neptuns kaltgrünem Schimmer erhoben. »Nur einige Yards weiter auf diesem Steg, meine Damen und Herrn, können Sie die Quelle dieser Welt sehen, wo vor über einer Million Jahren eine geheimnisvolle Kraft, wissenschaftlich noch unerklärt, fünfundzwanzig Quadratmeilen gefrorenen Methans für nicht mehr als ein paar Stunden verflüssigte. Ein Wirbel von der doppelten Tiefe des Grand Canyon auf der Erde blieb für immer erhalten, als die Temperatur wieder auf den vorherigen Stand…« Die Leute schoben sich den Korridor hinunter, als ich sie lächeln sah. Mein Haar war schwarz und dicht um meine Haut walnußbraun. Ich hatte wohl etwas zuviel Selbstvertrauen; jedenfalls hielt ich mich immer in ihrer Nähe. Ich überlegte mir sogar, sie anzusprechen. Dann beendete sie plötzlich das Ganze, indem sie sich zu mir wandte und mit gänzlich unbewegter Miene sagte: »Oh, da ist ja Hamlet Caliban Enobarbus!« Alte Reflexe erlaubten meinen Gesichtszügen, das Stirnrunzeln der Verwirrung mit dem Lächeln der Nachsicht zu verbinden. Entschuldigen Sie, aber da muß wohl ein Irrtum… Nein, ich sagte es nicht.
»Maud«, fragte ich, »sind Sie hier, um mir zu sagen, daß meine Zeit gekommen ist?« Sie war in verschiedene Blautöne gekleidet und trug an der Schulter eine große blaue Brosche, offensichtlich aus Glas. Dennoch fiel sie unter den anderen Touristen weniger auf als ich. »Nein«, sagte sie. »Ich bin nur auf Urlaub. Genau wie Sie.« »Tatsächlich?« Wir waren hinter der Menge zurückgeblieben. »Das ist Ihr Ernst.« »Der Special Service der Erde arbeitet zwar mit Special Services anderer Welten zusammen, hat aber auf Triton keine offiziellen Befugnisse. Und da Sie mit Geld hierher kamen und der größte Teil Ihres angegebenen Einkommens dem ›Gletscher‹ entstammt, ist vielleicht der Regular Service auf Triton hinter Ihnen her, der Special Service aber noch nicht.« Sie lächelte. »Ich bin noch nicht in Ihrem ›Gletscher‹ gewesen. Es wäre wirklich nett, wenn ich sagen könnte, daß mich einer der Besitzer dorthin eingeladen hat. Könnten wir nicht auf ein Soda hingehen?« Vor uns fielen die zerklüfteten Seiten der Quelle dieser Welt in buntschillernde Tiefen ab. Touristen starrten hinunter, und der Führer redete weiter von Brechungsindizes und Neigungswinkeln. »Ich glaube, Sie vertrauen mir nicht«, sagte Maud. Mein Blick bestätigte es ihr. »Haben Sie jemals mit Rauschgift zu tun gehabt?« fragte sie plötzlich. Ich runzelte die Stirn. »Nein, im Ernst. Ich möchte versuchen, Ihnen etwas zu erklären… Eine Sache, die uns vielleicht beiden das Leben leichter macht.« »Ganz am Rande«, sagte ich. »Ich bin sicher, daß alles darüber in Ihren Akten steht.«
»Ich hatte jahrelang damit zu tun, und beileibe nicht nur am Rande«, sagte Maud. »Bevor ich in den Special Service eintrat, war ich in der Rauschgiftabteilung des Regular Service. Und die Leute, mit denen wir es vierundzwanzig Stunden am Tag zu tun hatten, waren Rauschgifthändler und Süchtige. Um die Großen zu schnappen, mußten wir uns mit den Kleinen anfreunden. Wir mußten uns ihrem Tageslauf anpassen, die gleiche Sprache sprechen, monatelang in derselben Straße, im gleichen Gebäude leben.« Sie trat einen Schritt vom Geländer zurück, um einen Jungen durchzulassen. »Zweimal mußte ich während dieser Zeit eine Entwöhnungskur machen. Und ich hielt mich besser als die meisten.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Einfach dies. Sie und ich, wir bewegen uns jetzt in denselben Kreisen, wenn auch aus verschiedenen Beweggründen. Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wieviel gemeinsame Bekannte wir schon haben. Wundern Sie sich nicht, wenn wir uns an einem Tag auf der Sovereign Plaza in Bellona begegnen und zwei Wochen später in Lux auf Iapetus im selben Restaurant den Lunch einnehmen. Wenn die Kreise, in denen wir uns bewegen, auch Welten umschließen, sie sind dieselben, und gar nicht so groß.« »Also gut.« Ich glaube, es klang nicht sehr glücklich. »Ich lade Sie zu einem Eis ein.« Wir gingen den Steg wieder zurück. »Wissen Sie«, sagte Maud, »wenn Sie dem Special Service hier und auf der Erde lange genug entgehen, werden Sie schließlich dort oben ein riesiges Einkommen haben, das ständig wächst. Es kann einige Jahre dauern, aber es ist möglich. Es gibt jetzt für uns keinen Grund, persönliche Feinde zu sein. Vielleicht kommt eines Tages der Augenblick, wo der Special Service kein Interesse mehr daran hat, Sie zu jagen. Oh, wir würden uns immer noch sehen, einander
begegnen. Wir bekommen viele Informationen von Leuten dort oben. Wir könnten auch Ihnen helfen, verstehen Sie.« »Sie haben wieder Hologramme gemacht.« Sie zuckte die Achseln. Unter dem fahlen Planeten sah ihr Gesicht richtig geisterhaft aus. Als wir die künstlichen Lichter der Stadt erreicht hatten, sagte sie: »Oh, kürzlich habe ich zwei Freunde von Ihnen getroffen, Lewis und Ann.« »Die Sänger?« Sie nickte. »Oh, so gut kenne ich sie auch wieder nicht.« »Sie scheinen eine Menge über Sie zu wissen. Vielleicht von dem anderen Sänger, Falke.« »Oh«, sagte ich wieder. »Sagten sie, wie es ihm geht?« »Ich habe gelesen, daß er vor zwei Monaten auf dem Wege der Besserung war. Seitdem aber nichts mehr.« »Mehr weiß ich eigentlich auch nicht«, sagte ich. »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen«, sagte Maud. »Das war, als ich ihn dort herauszog.« Marty und ich hatten die Halle verlassen, bevor Falke ganz fertig war. Am nächsten Tage erfuhr ich, daß er nach Beendigung seines Liedes sich seiner Kleidung entledigt hatte und wieder in das Becken hineingestiegen war. Da war die Feuerwehr plötzlich erwacht; die Leute begannen schreiend herumzurennen: Er wurde gerettet. Siebzig Prozent seines Körpers wiesen Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf. Ich hatte ängstlich vermieden daran zu denken. »Sie zogen ihn heraus?« »Ja. Ich war in dem Helikopter, der auf dem Dach landete«, sagte Maud. »Ich dachte, es würde Eindruck auf Sie machen, mich zu sehen.« »Oh«, sagte ich. »Wie kam es, daß Sie ihn herauszogen?« »Als Sie dieses Chaos entfesselt hatten, gelang es Artys Sicherheitsleuten, die Aufzüge oberhalb des einundsiebzigsten
Stockes stillzulegen, so daß wir erst in die Halle kamen, als Sie das Gebäude bereits verlassen hatten. Und da versuchte Falke…« »Und es waren tatsächlich Sie selbst, die ihn retteten?« »Die Feuerwehr dort hat seit zwölf Jahren keinen Brand mehr erlebt! Ich glaube, sie können gar nicht mit ihren Geräten umgehen. Ich ließ meine Leute Schaum auf das Becken spritzen, ging dann hinein und zog ihn…« »Oh«, sagte ich wieder. Die letzten elf Monate hatte ich mir große Mühe gegeben und beinahe Erfolg gehabt. Ich war nicht dort gewesen, als es geschah. Es war nicht meine Angelegenheit. Maud sagte gerade: »Wir dachten, wir würden von ihm vielleicht Informationen über Sie bekommen. Aber als ich ihn aufs Trockene geschafft hatte, war er völlig weg, nur eine fürchterliche Masse offenen, blutenden…« »Ich hätte wissen müssen, daß der Special Service auch Sänger benutzt«, sagte ich. »Alle anderen tun es auch. Das Wort wechselt heute, nicht wahr? Haben Lewis und Ann das neue nicht gesagt?« »Ich sah sie gestern, und das Wort wechselte erst in acht Stunden. Außerdem würden sie es mir sowieso nicht sagen.« Sie sah mich an und runzelte die Stirn. »Wirklich nicht.« »Trinken wir ein Soda«, sagte ich. »Wir werden ein wenig plaudern und einander aufmerksam zuhören, wobei wir uns völlig nonchalant geben. Sie werden versuchen, Dinge mitzubekommen, die es Ihnen leichter machen würden, mich zu fassen. Ich werde auf Dinge aufpassen, die es mir leichter machen könnten, Ihnen zu entgehen.« »Mhm.« Sie nickte. »Warum haben Sie mich überhaupt in der Bar angesprochen?«
Eisiger Blick: »Ich sagte Ihnen ja, wir bewegen uns in den gleichen Kreisen. Gar nicht so unwahrscheinlich, daß wir am gleichen Abend in derselben Bar sind.« »Ist wohl eins von den Dingen, die ich nicht zu verstehen brauche, was?« Ihr Lächeln war angemessen mehrdeutig. Ich bohrte nicht weiter.
Es war ein sehr langweiliger Nachmittag. Nicht einen einzigen Satz von dem ganzen Unsinn könnte ich wiederholen, den wir über Berge von Schlagsahne hinweg miteinander redeten. Wir beide verwandten so viel Energie darauf, den Anschein zu erwecken, als amüsierten wir uns. Ich bezweifle, ob einer von uns beiden irgend etwas Sinnvolles aufschnappen konnte – falls wir überhaupt irgend etwas Sinnvolles sagten. Sie ging. Ich brütete auf dem schwarzen, verkohlten Phönix noch weiter vor mich hin. Der Steward des »Gletschers« rief mich in die Küche wegen einer Schmuggelsendung Milch (der »Gletscher« produziert seine Eiscreme selbst), die ich bei meiner letzten Reise zur Erde hatte beschaffen können (kaum zu glauben, wie wenig Fortschritte die Milchproduktion in den letzten zehn Jahren gemacht hat); es war geradezu jämmerlich einfach, diesen wichtigtuerischen Vermonter hereinzulegen und unter den weißen Lichtern und großen Plastikrührfässern machte er, während ich alles in Ordnung zu bringen suchte, eine anerkennende Bemerkung über irgendeinen anderen Sahnekaiser; das tat nicht besonders gut. Dann kamen die Abendgäste, und der Synthesizer machte Musik, und die kristallenen Wände strahlten; und die Tänzerinnen – ganz neu seit dieser Woche, hatten wir dazu überredet, weiterzumachen (ein Koffer mit Kostümen war
unterwegs verlorengegangen – oder gestohlen worden, aber das würde ich ihnen nicht sagen), und als ich zwischen den Tischen herumspazierte, hatte ich persönlich ein sehr schmutziges kleines Mädchen erwischt, das offensichtlich ganz hinüber vom Morphium war und einem Gast von hinten die Brieftasche herausziehen wollte – ich packte sie nur am Handgelenk, so daß sie losließ, und führte sie zur Tür, vorsichtig, ganz vorsichtig, während sie mich mit geweiteten Augen ansah und der Gast gar nichts bemerkt hatte – und die Tänzerinnen waren zu dem Schluß gekommen, daß jetzt schon alles gleich sei, und führten ihre Nummer au naturel vor, und alle hatten einen Mordsspaß – nur ich fühlte mich miserabel. Ich ging hinaus, setzte mich auf die breiten Stufen nieder und knurrte, wenn ich zur Seite rutschen mußte, um Leute hineinoder herauszulassen. Beim fünfundsiebzigsten Knurren ungefähr blieb die Gestalt, die ich anknurrte, stehen und rief mit dröhnender Stimme zu mir herunter: »Ich nahm doch an, daß ich Sie finden würde, wenn ich genau hinsehe! Ich meine, wenn ich wirklich die Augen aufmachte.« Ich sah die Hand, die mir auf die Schulter klopfte, folgte dem Arm hinauf zu einem schwarzen Rollkragenpullover, zu einem dicken, kahlen, grinsenden Kopf. »Arty«, sagte ich, »was tun…?« Aber er klopfte mir immer noch auf die Schulter und lachte mit unerbittlicher Gemütlichkeit. »Sie glauben gar nicht, wie schwierig es war, ein Bild von Ihnen zu bekommen, mein Junge. Ich mußte jemand vom Special Service auf Triton bestechen. Aber dann sah es gleich ganz anders aus. Große Sache. Einfach großartig!« Der Falke setzte sich neben mich und ließ seine Hand auf mein Knie fallen. »Einen wundervollen Eispalast haben Sie hier. Gefällt mir, gefällt mir sehr.« Kleine Knochen in einem von Adern durchzogenen Teig. »Aber nicht so sehr, als daß ich schon ein Angebot dafür abgebe. Aber Sie lernen schnell, das
kann ich Ihnen sagen. Ich werde stolz darauf sein, daß ich derjenige war, der Ihnen Ihren ersten großen Coup ermöglicht hat.« Seine Hand verließ mein Knie und begann, die andere zu kneten. »Wenn Sie ins große Geschäft einsteigen wollen, dann müssen Sie zumindest mit einem Fuß fest auf der Seite des Gesetzes stehen. Es dreht sich nur darum, sich den Braven unentbehrlich zu machen. Sobald das geschehen ist, hat ein guter Gauner den Schlüssel zu allen Schätzen im ganzen System in der Hand. Aber ich sage Ihnen da nichts, was Sie nicht schon längst wüßten.« »Arty«, sagte ich, »glauben Sie, man sollte uns hier zusammen sehen…?« Der Falke hob die Hand und wedelte sie wegwerfend in der Luft hin und her. »Niemand kann ein Bild von uns kriegen. Überall um mich herum sind meine Männer. Ohne sie gehe ich nie in die Öffentlichkeit. Habe gehört, daß Sie auch ein Auge auf das Geschäft mit der Sicherheit geworfen haben«, was zutraf. »Gute Idee. Sehr gut. Gefällt mir, wie Sie das alles machen.« »Danke. Arty, ich fühle mich nicht so gut heute abend. Ich bin hier herausgegangen, um etwas Luft zu schnappen…« Artys Hand flatterte wieder. »Keine Sorge, ich bleibe nicht lange. Sie haben recht. Man sollte uns nicht sehen. Kam nur eben vorbei, um hallo zu sagen. Nur hallo.« Er stand auf. »Das ist alles.« Er ging die Treppe hinunter. »Arty?« Er wandte sich um. »Irgendwann werden Sie wiederkommen; und dann werden Sie meinen Anteil am ›Gletscher‹ von mir wollen, weil ich zu groß geworden bin; und ich werde ihn nicht verkaufen wollen, weil ich dann denke, ich bin groß genug, um gegen Sie zu kämpfen. Also werden wir für eine Weile Feinde sein. Sie
werden versuchen, mich umzubringen. Ich werde versuchen, Sie zu töten.« Sein Gesicht zeigte erst einen Ausdruck der Ratlosigkeit und dann ein nachsichtiges Lächeln. »Ich sehe, daß die Idee der holographischen Information bei Ihnen nicht auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Sehr gut. Gut. Es ist die einzige Möglichkeit, Maud zu überlisten. Sorgen Sie dafür, daß ihre Informationen die gesamte Situation umfassen. Die einzige Möglichkeit, auch mich zu überlisten.« Er lächelte, wandte sich zum Gehen, dachte dann an etwas anderes. »Wenn Sie mich lange genug abwehren können und weiter wachsen, und wenn Ihre Sicherheitskräfte erstklassige Arbeit leisten, dann werden wir schließlich an einen Punkt kommen, wo es sich für uns beide lohnen wird, wieder zusammenzuarbeiten. Wenn Sie lange genug aushalten, werden wir wieder Freunde sein. Eines Tages. Sie werden sehen. Warten Sie nur.« »Nett, daß Sie das sagen.« Der Falke sah auf die Uhr. »Also – auf Wiedersehen.« Ich glaubte, er würde jetzt endlich gehen. Aber er sah wieder zu mir hoch. »Haben Sie schon das neue Wort?« »Stimmt ja«, sagte ich. »Das alte lief heute abend aus. Was ist es?« Der Falke wartete, bis die Leute, die die Treppe hinunter gingen, weg waren. Hastig sah er sich um, krächzte dann, weit vorgebeugt und die Hände trichterförmig um den Mund »Pyrit« und blinzelte mir zu. »Habe ich eben von einem Mädchen bekommen, das es direkt von Colette hat« (eine der drei Sängerinnen auf Triton). Dann machte er kehrt und verschwand in der Menge, die sich auf der Straße drängte.
Ich saß weiter da und grübelte, bis ich aufstehen und ein wenig herumgehen mußte. Aber alles, was ich damit erreichte, war,
daß sich über meine deprimierte Stimmung noch der Rhythmus der Paranoia lagerte. Als ich wieder zurückkam, hatte ich mir ein Hirngespinst gewoben: Der Falke hatte schon begonnen, einen hinterlistigen Plan gegen mich in die Tat umzusetzen, der mich schließlich völlig in die Enge trieb, und hilfesuchend rief ich: »Pyrit!«, wobei sich herausstellte, daß das gar nicht das Wort war, sondern dazu diente, mich dem Mann in den dunklen Handschuhen mit der Pistole/dem Strick/dem Gas zu verraten. An der Ecke war eine Cafeteria. Im Licht ihres großen Fensters sah ich, auf das Autowrack an der Kurve gelümmelt, einen Haufen Widerlinge (à la Triton: Ketten am Handgelenk, im Gesicht tätowiert, Stiefel mit hohen Absätzen). Auf dem eingeschlagenen Scheinwerfer saß der kleine Morphiumkopf, den ich vorher aus dem »Gletscher« herausgeworfen hatte. Eine Anwandlung folgend ging ich zu ihr. »He?« Mit riesigen Pupillen sah sie mich an. Ihr Haar war wie zertrampeltes Heu. »Hast du schon das neue Wort?« Sie rieb die Nase, die schon ganz rot war. »Pyrit«, sagte sie. »Kam gerade vor einer Stunde.« »Wer hat es dir gesagt?« Sie überlegte. »Ich hab’s von einem Jungen, der sagt, daß er es von einem Jungen hat, der heute abend von New York kam und es dort von einem Sänger namens Falke hörte.« Drei der Kerle, die am nächsten bei uns waren, würdigten uns keines Blickes. Die anderen sahen uns ungeniert an. »Oh«, sagte ich. »Oh. Danke.« Occams Schabemesser beseitigt, zusammen mit echter Information über Sicherheitsfragen, derartige Paranoia größtenteils. PYRIT. Bei dem, was ich tue, ist Paranoia auf einem bestimmten Niveau einfach eine Berufskrankheit.
Zumindest war ich sicher, daß Arty (und Maud wahrscheinlich ebenso) von ihr befallen waren wie ich. Im »Gletscher« gingen die Lichter aus. Da fiel es mir ein, und ich rannte die Treppe hinauf. Aber die Tür war versperrt. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen das Glas, aber alle waren nach Hause gegangen. Und was alles noch schlimmer machte: Ich konnte es auf dem Garderobentischchen unter der orangen Glühbirne sehen. Vermutlich hatte der Steward es dorthin gelegt in der Annahme, ich würde wiederkommen, bevor alle anderen gingen. Morgen mittag mußte Ho Chi Eng die Margold-Suite auf dem interplanetarischen Schiff The Platinum Swan beziehen, das um ein Uhr dreißig in Richtung Bellona startete. Und dort hinter den Glastüren des »Gletschers« wartete die betreffende Perücke sowie die Augenmaske mit den Mongolenfalten. Ich erwog ernsthaft, einzubrechen. Die praktische Lösung aber war, mich im Hotel um neun wecken zu lassen und dann mit dem Putzmann hineingezogen. Ich drehte mich um und stieg die ersten Stufen hinunter. Und dann kam mir der Gedanke, und er machte mich furchtbar traurig, und mein Blinzeln und Lächeln war ein Reflex: Warum sollte ich nicht alles bis zum Morgen dort drinnen lassen. Denn da war nichts was nicht sowieso mir gehörte.
Originaltitel: TIME CONSIDERED AS A HELIX OF SEMI-PRECIOUS STONES Copyright © 1969 by Samuel R. Delany
E. G. Von Wald LEHRAUFTRAG
Der Dozent gab einen kurzen, scharfen, zischenden Laut von sich. Sofort war das Klassenzimmer erfüllt von jener ominösen Stille, die in letzter Zeit immer häufiger eintrat. Während er so sich selbst schwach und stotternd zuzischte, warteten alle anderen schweigend und starr vor Schrecken. HEMEAC stand im Hintergrund an seinem Pult, atmete langsam und tief. Er beherrschte seine Angst und beobachtete aufmerksam den flachen, blitzenden Sensor des Dozenten. So etwas bedeutete oft, das wußte er, daß jemand zum Zwecke eines Sonderexamens in das Büro des Dekans geschickt wurde. Ein so guter Student wie er freilich, begann nicht schon beim bloßen Gedanken an ein Sonderexamen schwitzend zu zittern. Nachdrücklich redete er sich dies immer wieder ein, während seine Knie unter dem silbermetallenen Maschen seiner Tunika zu zittern begannen und Bäche von Schweiß seinen Rücken hinunterliefen. Unbewußt senkte sich ein Blick auf das Pult vor ihm. Letzte Woche war dort IAC gewesen, so wie immer während der letzten sechzehn Jahre – soweit HEMEAC sich zurückerinnern konnte. Dann hatte er irgendwie einen Fehler gemacht – wahrscheinlich ein Kommando überhört, wofür er dann keine Erklärung geben konnte. Jedenfalls hatte man ihn für ein Sonderexamen in das Büro des Dekans geschickt. Er war durchgefallen wie fast alle anderen in diesen Tagen, und war prompt der Universität verwiesen worden.
Dunkle, undeutliche Bilder der Bedrohung wuchsen in HEMEACs Vorstellung, als er an die Außenwelt dachte, wo IAC jetzt war. Draußen, vor den unüberwindlichen Toren dieser komfortablen Universität, war die vom Krieg zerfetzte Ruine eines sterbenden Planeten, eine Welt voller Wilder, voll Ungerechtigkeit und Bestialität, beherrscht von idiotischen Renegaten. Die Wilden hatten jetzt IAC. HEMEAC fragte sich, ob sie ihn nicht schon aufgefressen hatten. »HEMEAC!« ertönte die monotone Stimme des Dozenten. »Augen geradeaus!« »Klick«, sagte HEMEAC mit ängstlicher Ruhe, als er seine Augen von dem leeren Pult zu dem Sensor hob, wo sie hingehörten. »Sagen Sie auf«, befahl er. »Definieren Sie den Begriff ›Bildung‹.« »Klick. Unter Bildung versteht man Training und Disziplinierung jener Wesen, die daraus Vorteil ziehen können. Zum Beispiel Menschen und manche der höheren Tiere.« Langes Schweigen. Dann sagte der Dozent: »Ungenau und unvollständig, HEMEAC. Bildung bedeutet die Hinführung eines organischen Intellekts zu höherer Perfektion von Wissen und Disziplin. Beachten Sie das Wort ›organisch‹. Wissen Sie, warum es in der Definition enthalten ist, HEMEAC?« »Weil«, erwiderte der schnell und logisch, »Roboter nicht der Bildung bedürfen.« »Ungenau«, stellte der Dozent ruhig fest. »Nicht nur, daß Roboter-Intelligenz nicht der Bildung bedarf; sie ist gar nicht zugänglich für Bildung. Bereits die ersten Operationen von Robotern sind gekennzeichnet durch Perfektion. Perfektion in dem Sinne, daß die Gewißheit, das Letztmögliche geleistet zu haben, Wesensmerkmal des Roboters ist. Roboter lernen nicht. Von nebensächlichen Informationen oberflächlicher Art
abgesehen, wissen sie von vornherein alles, was zu ihrer uneingeschränkten Funktionstüchtigkeit notwendig ist. Das gilt selbst für jene Roboter, die einen Neugo-Flex in ihren Schaltkreisen haben. HEMEAC, wissen Sie, was ein NeugoFlex ist?« »Klick. Eine Einrichtung, die von sich aus Informationen beliebiger Art beschafft.« Der Dozent wartete. Pflichtbewußt fuhr HEMEAC in seiner memorierten Erklärung fort. »Er ist in allen Haupt-Kontrollcomputern enthalten, von denen lediglich einer hier an der Universität im Dienst steht. Organische Intellekte haben ein ähnliches System zur Überprüfung von potentiell nützlichen Informationen, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Neugo Neugier genannt wird. Wie die meisten anderen organischen Fähigkeiten ist sie jedoch der bewußten Kontrolle des Individuums unterworfen, und deshalb ist sie weniger effizient als der Neugo.« »Sehr gut«, sagte der Dozent. Er summte, brummte und klickte einige Augenblicke und fügte dann hinzu: »Thema dieses Kurses ist Sozialphilosophie, HEMEAC, nicht Roboter Schaltung. Bleiben Sie freundlichst in Zukunft bei der Sache.« »Klick«, sagte HEMEAC. Der Dozent schwieg eine kurze Weile. Sein Sensor überprüfte die Liste der Studenten, bevor er einen anderen Jungen aufrief. »OBSIC.« »Klick«, piepste der Junge. »Beschreiben Sie den Zweck der Bildung.« »Der Zweck der Bildung«, ließ OBSIO in ruhigen, gleichmäßigen Tönen verlauten, »besteht darin, menschlichen Geist so zu entwickeln, daß er der natürlichen Perfektion der Roboter-Intelligenz so nahe kommt, wie seine beschränkten Fähigkeiten es erlauben.«
Medianisch sagte die Stimme weiter auf. HEMEACs Gedanken aber wanderten wieder. Er sah auf das leere Pult vor sich und fragte sich, wie es wohl wirklich war in der Äußeren Welt, wo es keine Roboter mehr gab mit ihren schönen, leuchtenden Gesichtern, sondern nur Tiere und Ruinen. HEMEAC fiel es nicht leicht, sich vorzustellen, daß ein menschliches Leben wie er selbst wie ein Tier lebte, aber er wußte, daß es so war. Vom Fenster des Dekanatsbüros aus hatte er sie einmal gesehen. Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn er selbst wie IAC durch das niedrige dreifach versiegelte Tor hinausgehen müßte und in die Hände der barbarischen, bellenden Wilden fiele, die immer dort lauerten und auf nichts anderes warteten. Und sie hatten allen Anlaß, dort zu lauern. In letzter Zeit hatte die Universität fast jede Woche jemanden dimittiert. »Ist etwas nicht in Ordnung, HEMEAC?« hörte er plötzlich die laute Stimme des Dozenten. Erschreckt sah er sich um und bemerkte, daß die Stunde vorbei war und die anderen Studenten in geordneter Reihe in den Korridor hinausgingen, während er immer noch hinter seinem Pult stand. »Jemand hat Öl im Korridor verschüttet«, murmelte er. »Ich konnte es riechen.« Verschüttetes Öl, das wußte er, war immer Anlaß zu berechtigter Besorgnis. Und Öl wurde immer verschüttet. »Was hat Öl im Korridor mit ihrem Zeitgefühl zu tun?« fragte der Dozent. »Es ist Verschwendung. Es müßte gemeldet werden.« »Es ist bereits gemeldet worden«, sagte der Dozent und entließ ihn. »Passen Sie in Zukunft besser auf.« »Klick!« HEMEAC machte kehrt und eilte zur Tür.
»Gerade Haltung, HEMEAC«, ermahnte er ihn. »Ganz gerade. Und nicht so viel unnütze Bewegungen. Das ist genauso Verschwendung wie verschüttetes Öl.« Gehorsam verlangsamte HEMEAC seinen Gang und bewegte sich korrekten, gemessenen Schrittes, die Schulter zurück, den Kopf hoch, die Augen gerade aus, gedankenleer. Oder fast gedankenleer. Den uneingestandenen Schrecken empfand er immer noch. Er fand Anschluß ans Ende der Reihe und folgte den anderen Studenten durch den langen, ölverschmierten Korridor, dann die Treppe hinunter, dann durch noch schmutzigere Korridore und weitere Treppen durch das riesige Gebäude, bis sie endlich das Stockwerk erreichten, in dem sich die Schlafräume befanden. Von einer Halle aus, die Tausende faßte, gingen die Studenten langsam und gleichmäßig an den Reihen von Kammern vorbei, bis sie zu ihrer eigenen kamen. HEMEAC ging noch weiter, als die anderen bereits stehengeblieben waren, denn er war nicht an seinem richtigen Platz in der Reihe. Ängstlich, eingedenk des Monitorauges, dem nichts entging, begab er sich zu seiner Schlafkabine, blieb stehen und wartete. Wie alle anderen Studenten wartete er auf das Kommando, hörte wie sie den Atem der Kollegen, die mit ebenso angespannten Nerven warteten. Es gab ein plötzliches Geräusch, als sich die anderen Studenten wie ein Mann umwandten und in ihre Kämmerchen traten. HEMEAC bemerkte, daß er erneut das Kommando verpaßt hatte, drehte sich schnell um und machte einen Schritt über die Schwelle. »HEMEAC«, sagte die Stimme des Monitors. »Klick.« Er erstarrte, wo er war, einen Fuß in der Kabine, den anderen Fuß noch auf dem Korridor.
»Zu ruckartige Bewegung. Was ist los, haben Sie das Kommando nicht gehört?« »Klick. Ich hörte es«, log er. »Warum die Verzögerung?« »Im Korridor bei den Hörsälen war Öl verschüttet«, sagte HEMEAC hoffnungsvoll. Aus dem Augenwinkel sah er, daß ein anderer Student unklugerweise stehen geblieben war, um dem Gespräch zuzuhören. Der Monitor sah es natürlich auch und sagte barsch »Gedanken aus!« und der Verirrte beeilte sich, in seine Kabine zu kommen. »Nun denn, HEMEAC«, fuhr der Monitor fort. »Was hat Öl im Hörsaal-Korridor mit Ihrem Zeit-Kommando-Sinn zu tun?« »Es ist solch eine Vergeudung«, sagte HEMEAC. Er versuchte, sich einer Entschuldigung zu erinnern, die er in letzter Zeit nicht gebraucht hatte. Keine kam. »Es war – wissen Sie…« seine Stimme erstarb. Der Monitor gab ein Summen von sich. »Ich warte, HEMEAC.« Angestrengt dachte der Junge nach, und in seinem wohltrainierten Geist vibrierten Synapsen, galoppierten Ideen. Er dachte an IAC und die Äußere Welt und das Sonderexamen, dem er sich vielleicht unterziehen mußte, wenn ihm keine annehmbare Entschuldigung für sein Versagen einfiel. Er wußte, daß es ein bedrängendes Gefühl der Furcht war, welches ihn das Kommando hatte überhören lassen. So etwas zuzugeben aber war gleichbedeutend mit einer Katastrophe. »Es war Öl verschüttet«, sagte er lahm. »Ich glitt ein wenig darauf aus, und bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, muß ich mir einen Muskel gezerrt haben.« Vom Monitor kamen mehrere Summtöne, während er über die Entschuldigung nachdachte. Schließlich sagte er: »Also dann, HEMEAC. Melden Sie sich nach der Brennstoffversorgung beim Arzt.«
»Klick«, sagte der Junge mit unsicherer Stimme. »Und hüten Sie Ihre Stimme«, fügte der Monitor laut hinzu. »Sie gebrauchen hohe Töne. Sie sollten sie schon vor drei Jahren abgelegt haben.« »Klick«, stimmte HEMEAC in tieferer Lage zu. »So ist es besser.« HEMEAC verstand, daß er für den Augenblick entlassen war, hob seinen zweiten Fuß und setzte ihn im Kämmerchen neben den ersten. Hinter ihm ging summend die Tür zu. Die Deckenbeleuchtung übergoß alles in dem winzigen Raum mit kühlem Schein, auch den milchigen Porridge, der auf einem Tablett wartete. HEMEAC setzte sich und aß, wobei er sich steif und gerade hinsetzte und Arm und Mund nur so wenig wie möglich bewegte. Er versuchte, seine Gedanken abzuschalten, konnte aber nicht umhin, sich zu fragen, wie er dem Arzt erklären sollte, daß er gar keinen gezerrten Muskel hatte. Es war schwer, hier, am letzten Zufluchtsort der Zivilisation, zu überleben. Und irgendwie kam es ihm immer schwieriger vor. Vor allem während des letzten Jahres war ihm die perfekte Vernunft der Roboter-Intelligenz unerklärlich erschienen. Der Gedanke, daß er dem Ideal nicht in normalem Maße näher kam, quälte ihn fast ebenso sehr wie seine Angst vor der verderbenbringenden Abweisung, die die Folge sein konnte. Gedanken aus, Gedanken aus, Gedanken aus wiederholte er fortwährend. Eines Tages, dachte er, wird alles gut sein, Und ich werde nicht davor Angst haben müssen, Kommandos zu überhören oder den Sinn von Vorgängen nicht zu verstehen, und dann wird mich der Dekan vielleicht Zeichner in der Maschinenwerkstatt werden lassen. Gedanken aus, sagte er zu sich selbst.
Er sah die wunderschöne blauschimmernde Perfektion eines Gelenkes mit Integralschmierung vor sich und lächelte. Aber das Lächeln erreichte nicht seine Lippen. Es blieb in seinen Gedanken, wo scharfäugige Monitoren es nicht sehen würden. Gedanken aus, sagte er zu sich selbst. Er dachte an IAC. Sein müdes Gesicht, und seine erschreckten Augen, das war alles, woran er sich noch erinnerte. Er dachte an die Äußere Welt, wo Menschen Tiere waren und keine Roboter hatten, die sie lehrten. Gedanken aus, sagte er zu sich selbst. Die Schale war leer, und sein Magen war voll. Unbewußt gab HEMEAC einen Seufzer animalischer Zufriedenheit von sich. Er legte den Löffel neben die Schale auf das Tablett und wartete steif und aufrecht. Nachdem die anderen Studenten wieder in ihre Hörsäle zurückbeordert waren, würde er den Befehl bekommen, sich beim Arzt zu melden. Draußen im Korridor war ein Rumpeln zu hören, als die anderen Studenten sich zum nachmittäglichen Geschichtskurs begaben. Er wartete. Jetzt, sagte er zu sich selbst. Er stand auf. Die Tür öffnete sich, und er trat hinaus auf den Korridor, ging mit gemessenen, gleichmäßigen Schritten an den Kabinen entlang, den Kopf hoch, die Schultern zurück, die Brust heraus, den Blick geradeaus gerichtet, gedankenleer. Beinahe jedenfalls. Er fragte sich, ob er den richtigen Zeitpunkt erwischt hatte. »HEMEAC« Er stoppte abrupt und blieb in starrer Gehorsamshaltung stehen. »Klick.« »Vierundneunzig Sekunden zu spät. Warum die Verzögerung? Haben Sie das Kommando zum Geschichtsunterricht nicht gehört?«
»Klick. Ich hörte es. Mein Kommando aber war, mich beim Arzt zu melden. Es kommt nach dem Kommando zum Unterricht.« Der Monitor brummte und summte. Er sagte: »Korrekt. Gehen Sie weiter.« Dann aber fügte er schnell ein kurzes »ssszzzz« hinzu und sagte barsch: »HEMEAC, geben Sie eine Erklärung für Ihre unerlaubte Anwesenheit im Schlaf räum.« »Wie?« quiekte HEMEAC überrascht und seine Stimme war eine volle Oktav zu hoch. »Sehr hohe Tonlage«, bemerkte der Monitor. »Unerklärte Anwesenheit im Schlaf räum. Zwei gleichzeitige Vergehen übersteigen mein analytisches Vermögen. Entscheidung: Melden Sie sich im Büro des Dekans zu einem Sonderexamen.« »Der Arzt…« begann HEMEAC verzweifelt. »Der Dekan wird entscheiden, ob Sie zum Arzt gehen sollen«, erwiderte der Monitor und verstummte.
Der Dekan war in Gesprächslaune, ein schlechtes Zeichen. Er sagte: »Setzen Sie sich, HEMEAC, und wir werden alles besprechen.« »Klick.« Er gehorchte, ließ sich auf einem niedrigen Hocker direkt vor seinem Sensor nieder und bemühte sich, nicht durch das Fenster zu sehen, das direkt darüber war. »Wie geht es mit Ihrer Arbeit, HEMEAC?« »Zufriedenstellender Fortschritt«, antwortete er. »Man wirft Ihnen vor, im Hörsaal stehengeblieben zu sein, hohe Tonlagen zu gebrauchen und sich befehlswidrig nicht beim Arzt gemeldet zu haben«, sagte der Dekan fröhlich. »Können Sie dafür eine Erklärung geben?« Er konnte nicht. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, warum der Dekan die Vorgänge unvollständig und ungenau
wiedergegeben hatte. Er dachte daran, die paradoxen Befehle des Schlafraum-Monitors zu erwähnen, vermied es aber dann, so klar zu demonstrieren, wie weit er noch von der idealen Intelligenz entfernt war. Statt dessen sagte er einfach: »Es war ein Unfall.« »Mmmmmm«, schnurrte der Dekan. »Hier ist noch etwas mit Öl in den Korridoren. Haben Sie heute morgen Öl verschüttet, HEMEAC?« »Nein.« Der Dekan überlegte. »Sie sagten aber etwas von Öl, nicht wahr?« »Es war nur altes Öl, das jemand anderer im Korridor verschüttet hatte«, sagte HEMEAC vorsichtig. »Ich konnte es riechen.« »Was ist es denn«, sagte der Dekan heimtückisch, »was Ihnen an der Geruchsempfindung nicht gefällt?« »Öl«, beharrte HEMEAC. »Ich roch Öl.« »Der Geruch verschütteten Öls störte Sie nicht – nur deswegen, weil wir in diesen Tagen so wenig davon haben?« »Nein.« »Ausgezeichnet, HEMEAC«, schnurrte der Dekan. »Freut mich das zu hören. Der gute Roboter fürchtet sich nie, vergessen Sie das nicht. Furcht ist eine rein organische Reaktion. Somit ist sie ein Störfaktor in der Gesellschaft von Maschinen und Menschen, habe ich recht? Und so etwas könnten wir nicht dulden – vor allem hier auf der Universität. Habe ich recht?« »Klick.« »Aber warum haben Sie dann diesen Befehl überhört – einen Augenblick, HEMEAC, bis ich Ihre Unterlagen wieder habe. Offenbar habe ich sie verlegt.« Stille trat ein, und während der Junge wartete, schweifte sein Auge zum Fenster über dem Sensor des Dekans. Es war die
einzige Öffnung in der ganzen Universität, die direkt zur Äußeren Welt führte. Durch sie hindurch konnte er die Wilden und die Renegaten sehen, die anscheinend ziellos draußen auf der Lichtung herumwanderten wie idiotische Kinder. Es war nicht schwer, zwischen einem Wilden und einem Renegaten zu unterscheiden. Die Renegaten besaßen etwas wie rudimentäre Bildung, was daraus zu ersehen war, daß sie sich alle gleich kleideten – mit Ausnahme einiger Abzeichen auf ihren Schultern. Einer davon sah jetzt zum Fenster herauf, deutete auf ihn und rief dann den anderen etwas zu. Bald beobachteten sie in alle durch das große Fenster. Erschreckt und verständnislos starrte HEMEAC zurück. »Ah«, sagte der Dekan und unterbrach seine Gedanken. »Ich sehe. Ihre Studienleistungen sind sehr gut, HEMEAC. Auch Ihre Werkstattarbeit erledigen Sie mit großer Präzision. Warum also diese plötzliche Störung in Ihrem Zeitsinn, nur weil Sie etwas Öl verschütteten?« »Ich roch es«, beharrte HEMEAC. »Ich habe es nicht verschüttet.« »Es spielt keine Rolle«, beharrte nun der Dekan. »Warum störte es Sie?« HEMEAC schluckte. Er hatte erwartet, daß dieses Examen verwickelt sein würde. Auf etwas derart Hinterhältiges war er aber nicht gefaßt. Entschlossen, das Bohren der Furcht in seinem Magen zu mißachten, starrte er auf den Sensor und wiederholte: »Jemand hat Öl im Korridor verschüttet. Das ist Vergeudung.« Es kam nicht gleich eine Antwort. Für Augenblicke hielt HEMEAC den Atem an, bevor er begriff, was er tat, und langsam ausatmete, damit es unbemerkt blieb. Nie war davon die Rede gewesen, aber er war ziemlich sicher, daß der Gute Roboter nicht den Atem anhielt.
»Ach, ja«, äußerte der Dekan schließlich. »An diesem Morgen wurde tatsächlich etwas Öl verschüttet. Der Pförtner hatte einen Unfall auf Grund der Tatsache, daß er dringend der Reparatur bedarf. Ein Jammer, daß wir in der ganzen Universität nur noch einen einzigen Pförtner haben. Eigentlich waren zehn vorgesehen.« HEMEAC nickte langsam und mit gemessenem Respekt. »Am Anfang hatten wir ja zehn, die volle Anzahl. Jetzt allerdings haben wir nur einen, obwohl wir viel mehr Wartungsprobleme haben. Seit den Vorkommnissen, als die Renegaten die Ersatzteilfabriken zerstörten, ist es mit der Wartung langsam, aber stetig schlimmer geworden. Die armen Wilden haben es noch nicht fertiggebracht, Ersatz für diese Fabriken zu bauen. Entsinnen Sie sich der Vorkommnissee‹, HEMEAC? Nein«, verbesserte er sich schnell, »natürlich nicht. Die ›Vorkommnisse‹ waren vor vielen Jahren, und Sie sind noch nicht zwanzig.« »Klick«, sagte HEMEAC bescheiden, obwohl genau dies gerade das Thema seiner Geschichtsvorlesung war. »Eine ganz vernunftswidrige Situation«, sagte der Dekan. »Eines Tages werde ich alle meine Magnetbänder über dieses Thema sammeln müssen.« Er hielt inne, klickte schwach und summte. »Manchmal«, sagte er schließlich, »wünschte ich mir, man hätte keinen Neugo in meinen Computer eingebaut. Es ist sehr irritierend, ohne die Schlüsselelemente der Lageinformation auskommen zu müssen.« »Irritierend?« echote HEMEAC. »Organischer Terminus«, erklärte der Dekan. »Ich will sagen, daß mein Sensor weiter meine Magnetbänder durchgeht, obwohl ich bereits weiß, daß dort keine Antwort zu finden ist. Ziemlich schwierig für die Wartung, und solch ein Zeitaufwand.« »Klick«, sagte HEMEAC.
»Aber wir kommen vom Thema ab, nicht wahr? Sie haben mir immer noch nicht alles über dieses Öl gesagt. Warum verschütten Sie all dieses Öl?« »Der Pförtner verschüttete es«, sagte HEMEAC nachdrücklich. »Ach ja, der Pförtner«, erwiderte der Dekan. Es gab ein schwaches Flüstern von Mikro-Miniatur-Relais. »Eine der Reflektionsschleifen hier leckt zur Zeit ziemlich arg«, sagte der Dekan. »Das Schmiermittel ändert die elektrischen Charakteristika einiger meiner großen Kapazitoren. Ich muß ständig auf andere Schaltkreise übergehen, und manchmal folgen die Magnetbänder nicht.« »Jedenfalls«, schloß er, »scheint der Vorwurf der Ölverschüttung kaum haltbar zu sein, HEMEAC. Ich werde das streichen.« »Ich danke Ihnen«, sagte HEMEAC. »Nun zu Ihrer Verwendung höherer Tonlagen. Der Schlafraum-Monitor hat Sie dessen beschuldigt. Allerdings fehlen nähere Einzelheiten, und im Augenblick scheint es nicht möglich zu sein, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Vielleicht ist er kurzzeitig außer Betrieb. Ich werde den Pförtner davon in Kenntnis setzen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Es gab eine kurze Pause. »Der Pförtner scheint ebenfalls momentan außer Betrieb zu sein«, sagte der Dekan. »Nun, dann müssen wir eben ohne Hilfe auskommen. Sie müssen selbst erklären, warum Sie hohe Tonlagen benutzt haben, HEMEAC.« »Ich weiß überhaupt nichts davon«, sagte HEMEAC mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme. »Zweifellos benutzen Sie jetzt eine Ihrer Altersgruppe angemessene Tonlage«, bemerkte der Dekan. »Vielleicht bedarf der Monitor der Wartung. Alles scheint zur Zeit der Wartung zu bedürfen. Wenn wir nur ein paar neue Pförtner
bekommen könnten, wäre das eine große Hilfe. Aber seit Jahren haben uns die Wilden und Renegaten nichts als Menschenmaterial geliefert, was der Wartungsabteilung sehr wenig hilft.« HEMEAC blickte beflissen auf den Sensor, senkte in Abständen von vier Sekunden kurz die Lider, hielt seinen Atem regelmäßig, sein Kinn hoch und seine Gedanken leer. »Nun«, schloß der Dekan, »wir werden diese Kleinigkeit einfach aus Ihrer Akte löschen, HEMEAC. Es besteht kein Grund, Sie für etwas zu bestrafen, was auf einen Defekt des Monitors zurückzuführen ist, nicht wahr?« »Oh, nein«, sagte HEMEAC, dem unbewußt ein Seufzer der Erleichterung entfuhr. Der Dekan reagierte sofort. »Da. Das klang unbestreitbar wie eine höhere Tonlage. Etwa die dritte, würde ich sagen, ohne die Wellenstruktur vorerst einer Analyse unterwerfen zu wollen.« Augen gerade, Gedanken aus, aus, aus, sagte HEMEAC drängend zu sich selbst. »Sie haben keine Persönlichkeitsprobleme, oder?« fragte der Dekan. »Nein.« »Sie registrieren die Befehle, wie es in Ihren Daten steht, nicht wahr?« »Klick.« Oder zumindest registrierte sie jemand anders, wenn er sie nicht mitbekam, und HEMEAC war im allgemeinen alert genug, um ohne sichtbare Verzögerung zu reagieren. »Gut, HEMEAC. Es ist nur eine Sache des Timings. Wenn Sie den Zeitpunkt wissen, an dem die Befehle kommen, können Sie sie empfangen, denn sie sind immer selbstverständlich und einleuchtend und ändern sich nie. Sie müssen nur den Rhythmus kennen. Es ist immer das gleiche,
was Sie jeden Morgen genau zur selben Zeit weckt, nicht wahr?« »Klick.« »Gut. Es wäre so unangenehm, einen Jungen mit einem Namen wie Ihrem der Universität verweisen zu müssen, HEMEAC. Haben Sie jemals Ihren Namenspatron gesehen? Ach ja, das konnten Sie ja nicht. Er wurde bei den ›Vorkommnissen‹ zerstört.« »Ich habe Bilder gesehen«, sagte HEMEAC rasch. »Er sah sehr gut aus.« »Sie sollten sagen, er war sehr ordentlich«, korrigierte ihn der Dekan. »Und Sie beziehen sich nur auf sein Äußeres, was unwesentlich ist. Und selbst wenn Sie bereits gelebt hätten, als er noch funktionierte, wären Sie überhaupt nicht imstande gewesen, seine wirkliche innere Ordnung zu schätzen, da wir Sie nicht direkt an seinen wundervollen Computer hätten anschließen können. Keine Anschlußmöglichkeit an organischen Intellekt, wie Sie wissen.« »Klick.« »Es war eine so barbarische Tat dieser Renegaten, ihn zu zerstören.« »Klick. Barbarisch.« HEMEAC stimmte beflissen zu. »Barbarisch«, sagte der Dekan. Er war einen Augenblick still, klickte dann leise, ratterte kurz, als es in einem alterschwachen Schaltkreis Spannungsüberschläge gab, bevor er mit einem weiteren schwachen Klicken endgültig versagte. Dann summte er wieder. HEMEAC wartete, plötzlich von Panik ergriffen bei dem Gedanken, daß der Dekan ihm vielleicht eines seiner stummen Entlassungskommandos gegeben hatte. Bevor er sich aber entschließen konnte, was nun zu tun sei, sagte der Dekan: »Öl.«
»Klick«, sagte HEMEAC sofort. »Öl.« Dies war ohne Zweifel das heimtückischste Examen, dem er sich je hatte unterziehen müssen. Kein Wunder, daß die meisten Studenten es nicht bestanden. »Was«, sagte der Dekan einen Augenblick später, »wollten Sie doch über die ›Vorkommnisse‹ wissen, HEMEAC?« »Ich wollte über die ›Vorkommnisse‹ Bescheid wissen«, erwiderte der Junge ohne das leiseste Zögern. »Ja? Ich weiß, daß Sie etwas darüber sagten«, schnurrte der Dekan und summte dann etwas zu sich selbst. »Ein ganz merkwürdiges Thema. Zum Beispiel haben wir gar keine Unterlagen über die Gründe der ›Vorkommnisse‹. Hier auf der Universität tun wir unsere Arbeit wie immer, bilden wir Studenten zu beinahe roboterhafter Perfektion ihres Gehirns heran, wenn wir auch gelegentlich, um dieses Ziel zu erreichen, einen Jungen fünfzig oder sechzig Jahre behalten mußten. Wäre Ihr Namenspatron nicht gewesen, HEMEAC, dann ist es durchaus möglich, daß die Universität während dieses großen Aufruhrs völlig zerstört worden wäre. Er aber, er handelte schnell, und es gelang ihm, im Basis-Kraftwerk einen Sprengsatz anzubringen. Die Renegaten wußten natürlich, was ihnen – wie auch fast allem organischen Leben auf diesem Teil des Planeten – zustoßen würde, wenn dieses Kraftwerk explodiert wäre.« »Klick«, stimmte HEMEAC zu. »Aber die Renegaten zerstörten Ihren Namenspatron. Zum Glück waren er und ich im Augenblick der Zerstörung in direkter Verbindung, und ich nahm einfach seinen Platz ein. Unglücklicherweise freilich sind die meisten seiner Gedächtnisbänder in einem Code abgefaßt, den ich noch nicht entziffern konnte. Jedenfalls gelang es mir, die Universität zu retten.« »Klick«, stimmte HEMEAC zu.
Der Dekan summte und klickte leise. »Ich bekomme immer noch keine Verbindung mit dem Pförtner«, sagte er. »Ich habe selbst ein paar Wartungsprobleme. Wenn ich keine Verbindung mit dem Pförtner bekomme, kann ich unmöglich noch lange funktionieren. Ssszzzzzzklick. HEMEAC, begründen Sie Ihre Anwesenheit in meinem Büro.« »Mein Schlafraum-Monitor hat mich hergeschickt«, sagte HEMEAC. »Ich kann keine Verbindung mit Ihrem Monitor bekommen«, erwiderte der Dekan. »Wenn die Fabriken uns nur ein paar Service-Roboter liefern könnten.« »Klick, aber die Fabriken wurden von den Renegaten zerstört«, sagte der Junge, sich vorsichtig in die Richtung der neuen Fragen tastend. »Wegen der Renegaten brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, HEMEAC«, beeilte sich der Dekan ihm zu versichern, als hätte sich eben ein Fürsorge-Kreis eingeschaltet. »Sie können Ihnen nichts tun. Sie wissen genau: Wenn sie angreifen, werde ich einfach den Sprengsatz im Kraftwerk zünden, und das wird die Atmosphäre für Jahrhunderte vergiften. Sie wissen das.« »Klick«, stimmte HEMEAC zu. »Klick«, sagte der Dekan. »Klick.« »Was taten Sie denn mit diesem Öl, HEMEAC?« »Der Pförtner verschüttete es.« »Mmmmmmmm ja, der Pförtner. Seltsam, woher Sie das wissen, HEMEAC. Aber Sie haben keinen Grund, Ihre Zeit mit mir zu verschwenden, wenn Sie in Ihrem Geschichtskurs sein sollten.« HEMEAC schluckte. Das war etwas schnell gekommen, aber er verlor keine Zeit und wandte sich zum Gehen. »Gedanken aus«, wies der Dekan ihn an.
»Klick.« Der Dekan summte kurz etwas zu sich selbst; dann folgte ein Crescendo von klickenden Relais. Dann Stille. HEMEAC ging. Er schritt den Korridor entlang, glücklich darüber, daß er offenbar bestanden hatte. Als er den Hörsaal betrat, war OBSIC gerade dabei, das Ende seines Pensums herzusagen. »… und bei den ›Vorfällen‹ trugen die Renegaten nur diesen einzigen Angriff vor, bevor sie um einen Waffenstillstand baten.« »Sehr gut, OBSIC«, sagte der Dozent, als HEMEAC den Platz an seinem Pult einnahm und pflichtbewußt auf seinen Sensor zu blicken begann. »Und wo sind Sie gewesen, HEMEAC?« »Ich war im Büro des Dekans. Es war ein Sonderexamen, das ich bestand.« Der Dozent schwieg, während er die im Betonboden liegenden Nervenkabel anzapfte, die ihn direkt mit dem Computer des Dekans verbanden. »Beim Dekan«, verkündete er einen Augenblick später, »befindet sich kein Vermerk über Ihre Gegenwart dort.« HEMEAC erstarrte. Er sagte nichts. Er konnte nichts sagen. In der Stille, die folgte, blickte er entschlossen weiter auf den Sensor. Aber seine Knie zitterten unter den silbermetallenen Maschen seiner Tunika, sein Magen verkrampfte sich vor Entsetzen. Schweiß rann ihm über das Gesicht und tropfte von seinem Kinn. Aber er bemerkte es nicht. »Darüber hinaus«, fuhr der Dozent ruhig fort, »befindet sich beim Dekan keinerlei Hinweis auf Ihre Existenz hier an der Universität; als ich ihm ihre Daten übermittelte, gab es nicht die leiseste Reaktion.« HEMEAC wartete angsterfüllt. »Somit«, schloß der Dozent, »ist klar, daß Sie der Universität verwiesen sind und kein
Recht haben auf Anwesenheit in dieser Klasssssss« – plötzlich unterbrach er sich mit einer sehr lustig anzuhörenden Reihe von Zisch- und Rattergeräuschen, die beinahe zehn Sekunden dauerten. »Warum die Verzögerung, HEMEAC?« fragte er schließlich. »Kennen Sie die Lektion nicht?« »Klick«, antwortete der Junge sofort. Er mußte aber erst Atem holen, bevor er sie aufsagen konnte. Mit gleichmäßiger, disziplinierter Stimme fuhr er dann fort: »Bei den › Vorkommnissen wurde die Universitäts-Zentrale abgekürzt HEMEAC aus Helio-Eletronisch-Mobil-EdukationsAktivations-Computer, von den Renegaten zum großen Teil zerstört, aber erst als er sie von dem automatischen Sprengsatz unterrichtet hatte, der von ihm im Kraftwerk angebracht worden war. Dieser Sprengsatz«, fuhr er fort, »ist jetzt unter der Kontrolle des Dekans, und er wird die Universität auf Dauer schützen, vorausgesetzt, daß er angemessene Wartung erhält. Während des Waffenstillstandes, der folgte, erklärten sich die Renegaten bereit, die Universität mit Menschenmaterial und allen Ersatzteilen zu versorgen, die die Wilden herstellen konnten. Bis zur Stunde sind sie nicht in der Lage, das Ersatzteilproblem zu lösen. Indessen besteht kein Zweifel daran, daß es ihnen mit der Zeit gelingen wird, da die Universität ohne Ersatzteile ihre Funktion dann nicht mehr erfüllen kann.« »Sehr gut«, stellte der Dozent fest. »Nur eines fehlte, die Sache mit der ssszzzz klick.« »Klick«, stimmte HEMEAC zerknirscht zu. Der Dozent schwieg. Die Studenten warteten. Kein Laut war zu hören. Nach einigen Minuten machte sich eine leichte Unruhe bemerkbar. Es war noch viel zu früh für das Ende der
Vorlesung, aber eine solche Stimme war bisher immer das Zeichen dafür gewesen. HEMEAC faßte einen Entschluß. Er drehte sich um und schickte sich an, den Saal zu verlassen. In dem Augenblick, da er dies tat, setzten sich alle siebenunddreißig anderen Studenten gleicherweise in Bewegung und gingen hinaus und den Korridor hinab. Seltsame laute Geräusche kamen aus der Richtung des Haupttors, aber sie achteten nicht darauf und gingen langsam, gemessenen Schritts weiter auf die Schlaf räume zu. Als sie dort anlangten, kamen seltsame Geräusche aus allen Richtungen. Und sie stellten fest, daß Leute in ihrem Schlafraum waren. Renegaten. Fünf von ihnen, und weitere in den Korridoren. Ohne das leiseste Zögern führte HEMEAC die Klasse hin zu den Renegaten, an ihnen vorbei den Korridor hinunter zu ihren Schlafkabinen. Dort blieb er stehen, und die Studenten drehten sich wie ein Mann zu der kahlen Wand. Sie warteten auf den Befehl, einzutreten. Als der Zeitpunkt gekommen schien, traten sie gleichzeitig ein. Aber die Türen schlossen sich nicht, und das Licht ging nicht an. Und keine Mahlzeit erwartete sie. HEMEAC trat wieder hinaus auf den Korridor. »Monitor«, sagte er, »irgendwo muß ein fehlerhafter Schaltkreis sein. Es ist nichts zu essen da.« Nach kurzem Zögern erstarrte HEMEAC zu roboterhafter Pose, was in einer solchen Situation angezeigt erschien. Dies war etwas Neues, noch nie Dagewesenes. Aber er wußte sehr wohl, daß der Gute Roboter Neues nicht zur Kenntnis nahm, bevor er entsprechende Instruktionen von der Zentrale hatte. HEMEAC wartete auf seine Instruktionen. Auch der Rest seiner Klasse war nun bei ihm auf dem Korridor, wartete.
Einer der Renegaten trat zu ihm. »Werden Sie kämpfen?« »Nein«, antwortete ein anderer; »sie wissen nicht, wie man kämpft.« Vom anderen Ende des Korridors kam eine Gruppe uniformierter Renegaten. Einer von ihnen verkündete: »Alles erledigt, Captain. Ich habe den Sprengsatz entschärft und alles außer Beleuchtung und Klimaanlage ausgeschaltet. Aber es war genau so, wie Sie es vorhersagten. Der Computer des Dekans arbeitete nicht mehr. Er hat sich schließlich abgenützt.« »Dann ist es also vorüber«, sagte der Captain leise. »Nach all dieser Zeit ist es endlich vorüber.« Er seufzte. »Jetzt müssen wir nur noch versuchen, diese Jungen umzuerziehen.« »Wie lange wird das dauern?« »Schwer zu sagen. Wenn sie jünger wären, wäre es weniger schwierig. Aber jetzt…« Der Captain zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Sehen Sie sie nur an.« Kurzes Schweigen trat ein, während alle auf die Reihe starr dastehender Studenten starrten. Erschreckt und verständnislos bewegte HEMEAC keinen Muskel. In seiner starren Haltung verharrend, wartete er und wünschte fast unter Tränen, daß der Befehl kommen würde. Die Gegenwart der bösen Renegaten auf dem geheiligten Boden der Universität erfüllte ihn mit Angst. »Es ist furchtbar«, flüsterte einer der Renegaten. »Sie – sie sind gar keine Menschen mehr. Was kann man noch für sie tun? Sie sind nichts als lebende Roboter!« HEMEAC hörte es, aber seine Schulung bewahrte ihn vor Schmach. Nicht die leiseste Spur seines Stolzes über dieses allerhöchste der Komplimente erschien auf seinem Gesicht.
Er stand da, Schultern zurück, Kinn hoch, Augen gerade, Gedanken aus. Fast aus, jedenfalls.
Originaltitel: HEMEAC Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY MAGAZINE