Utopisch-technische Erzählungen aus der Zeit der Anfänge bis zur Gegenwart RUF DER VENUS von John Wyndham Achthundert J...
42 downloads
553 Views
536KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Utopisch-technische Erzählungen aus der Zeit der Anfänge bis zur Gegenwart RUF DER VENUS von John Wyndham Achthundert Jahre sind vergangen, als die zweite Expedition auf Venus landet. Keiner ahnt, was sich während dieser Zeit verändert hat ... UNTER SCHWARZER SONNE von Henry Kuttner Auf den Trümmern der vernichteten Zivilisation soll eine neue entstehen, mit Feuer und Schwert, beherrscht von einem unbeugsamen Tyrannen ... DER ÜBERLEBENDE von Eric Frank Russell Der Start der ersten Marsrakete M. 1. galt als Sensation. Ihre verspätete Rückkehr zur Erde vollzieht sich in aller Stille, denn der letzte Überlebende hat nur einen Wunsch: zu vergessen ...
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 41 Science-Fiction-Romane Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Die fremden Sterne (3047) Fredric Brown: Sternfieber (2925) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Andre Norton: Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) H. Beam Piper: Null-ABC (2888) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) Vergangenheit mal 2 (3055) James H. Schmitz: Dämonenbrut (3022) Das Psi-Spiel (3061) Richard S. Shaver: Zauberbann der Venus (2944) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zeï (2977) Die Rettung von Zeï (3000) Thalia – Gefangene des Olymp (3038) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1(2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Geheimwaffe Mensch (3030) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882)
Ullstein Buch Nr. 3089 im Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz Nagel Umschlagillustration: Dell Alle Stories aus THE SPACE MAGICIANS Copyright © 1971 by Alden H. Norton und Sam Moskowitz Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03089-1
Science-FictionStories 42 Von den Anfängen bis zur Gegenwart von John Wyndham Henry Kuttner Eric Frank Russell
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Ruf der Venus John Wyndham ..................................................
6
Unter schwarzer Sonne Henry Kuttner .................................................... 107 Der Überlebende Eric Frank Russell .............................................. 153
John Wyndham RUF DER VENUS 1 Vielleicht haben Sie in den Geschichtsbüchern von Joseph Watson, oder wie er sich später nannte, Noah Watson, gelesen. Wahrscheinlich haben Sie aber nur einen kurzen Hinweis auf seine Leistungen gefunden. So ist das eben mit der Geschichte. Je weiter die Zeit fortschreitet und je länger die geschriebenen Aufzeichnungen werden, desto notwendiger wird es, entweder die Ereignisse etwas abzukürzen und Einzelheiten dabei auszulassen oder statt dessen die vorangegangenen Jahrhunderte völlig aus unserem Wissensschatz zu tilgen. Nur ein Spezialist oder eine Gruppe von Spezialisten kann all die seltsamen Geschehnisse der menschlichen Geschichte studieren. Aus diesem Grunde haben wir heute im Jahre 2926 unsere Wahl für die erstgenannte Alternative getroffen, nämlich die, unser Wissen zu komprimieren und es auf die wichtigsten Fakten und Ursachen zusammenzustreichen. Das hat natürlich die unvermeidbare Folge, daß viele Persönlichkeiten, die einst der ganzen Welt ein Begriff waren, jetzt ein vergessenes Dasein in den Bibliotheken von Museen führen. Niemand, seine unmittelbaren Anhänger ausgenommen, hätte Joseph Watson Weltbedeutung beimessen können, aber es besteht kein Zweifel, daß er
in seiner eigenen Zeit eine bemerkenswerte Persönlichkeit war. Er wurde im Mai 2104 in Schottland geboren. Auf natürlichem Wege geboren, denn in den ländlicheren Nordbezirken klammerten sich die Leute immer noch mit puritanischem Starrsinn an den alten Aberglauben, daß Kinder aus dem Brutkasten später zu irgendwelchen Abnormitäten neigten. Die Pamphlete der Antibrutkastenvereinigung mit ihren an den Haaren herbeigezogenen und gefährlichen »Beweisen«, daß gebrütete Kinder unmöglich eine Seele besitzen könnten, wurden in Massen verteilt und übten auf Halbgebildete sowie auf Menschen simplen Gemüts unverkennbar ihre Wirkung aus. Vorurteile solcher Art lassen sich schwer ausrotten, und selbst heute hört man noch gelegentlich von natürlichen Geburten, die in den obskuren Winkeln der Erde vorkommen. Watsons Mutter bezahlte bei der Geburt ihres Sohnes mit dem Leben für ihre Leichtgläubigkeit – eine sehr häufige Folge solch primitiver Methoden der Fortpflanzung, wie leicht zu begreifen ist – und die Tatsache, daß sie ihr Leben sozusagen an ihn weiterreichte, schien eine tiefe Wirkung auf seinen Charakter gehabt zu haben. Es wird berichtet, daß er während seiner ganzen Schulzeit ein »unsteter Junge, der Selbstbetrachtung hingegeben und nicht ohne gelegentliche irreführende Funken von Genialität« gewesen sei. Die Formulierung »irreführende Genialität« wirkt auf den ersten Blick verblüffend, aber es besteht wenig Zweifel, daß damit seine eigenartige rückschrittliche Betrachtungsweise gemeint ist, die sich häufig dadurch äußerte, daß er starr und beharrlich
an längst aufgegebenen Prinzipien festhielt. Und während seines Universitätsstudiums erfaßte ihn eine Art von Enthusiasmus, die nur wenige heute lebende Menschen verstehen werden und die deshalb einiger Erklärung bedarf. Im Jahre 2123 hatte der Glaube, dem heute die ganze Welt anhängt, nämlich der Glaube von der fundamentalen Ordnung, auch als der Glaube von den Ersten Ursprüngen bekannt, nur eine kleine Gruppe von Anhängern. Der Rest der Menschheit erfaßte nur ein Fragment dieses Ganzen, und jede Gruppe Menschen ergänzte das von ihr in Anspruch genommene Fragment durch ein Sammelsurium von Sitten, Gebräuchen und Aberglauben, um das hervorzubringen, was sie eine »Religion« nannte. Diese Religionen, das zu begreifen ist wichtig, hatten alle die gleiche Grundlage, wichen aber in ihren Erscheinungsformen je nach dem Klima und der Herkunft der verschiedenen Rassen voneinander ab. So begegnete man in den kälteren Zonen einer harten, strengen Religion und in den wärmeren Zonen einem farbigeren, weniger praxisbezogenen Glauben. Joseph Watson, aus tiefstem Herzen Puritaner, versammelte um sich eine Gruppe Gleichgesinnter und verließ die Universität mit dem festen Entschluß, eine Renaissance zu begründen. Er begann seinen Feldzug mit der kraftvollen Unterstützung der Antibrutkastenvereinigung. Welches Spiel der Natur oder des Geistes ihn dazu bewegte, sich mit eben der Gruppe zu verbinden, deren Pamphlete für den Tod seiner Mutter verantwortlich waren, ist schwer zu begreifen, aber es kann kein Zweifel bestehen, daß die Ansichten eben dieser Gesell-
schaft ihn bei der Formulierung seines später weithin bekannten Schlachtrufs »Was natürlich ist, ist auch rechtens« beeinflußten. Seine Versammlungen waren von den ersten Anfängen an erfolgreich. Ein Augenzeuge einer der ersten Zusammenkünfte schrieb: »Die große hagere Gestalt Joseph Watsons hätte bei ihrem Erscheinen auf der Rednertribüne einen jeden beeindruckt. Er begann seine Rede mit täuschend leiser Stimme und in äußerst zurückhaltender Manier, was sich aber bald änderte. Seine blonde Mähne flog zu dem Schwung seiner Gesten, und seine tiefe Stimme dröhnte weithin durch die Halle. In seinen Augen leuchtete ein Feuer, während seine Begeisterung stieg, und es war nur schwer vorstellbar, daß eben diese Augen nicht weit über seine Zuhörer hinaus irgendeine mystische Vision erblickten. Es ist bestimmt nicht übertrieben, wenn ich behaupte, daß es in dieser ganzen großen Versammlung keinen Mann und keine Frau gab, die nicht wenigstens zeitweise in seinen Bann gezogen wurden.« Watson erzielte einen Triumph nach dem andern. Bald mußte bei seinen Versammlungen Polizei eingesetzt werden, um die Mengen zu bändigen. Und die überfüllten Hallen waren stets noch von Menschentrauben umlagert, die ihn um jeden Preis hören wollten, und wäre es auch nur über Lautsprecher. Die Antibrutkastenvereinigung begann in Schottland in solchem Maße Anhänger zu gewinnen, daß sogar ihre kühnsten Träume übertroffen wurden. Geld floß in ihre Kasse, bis die Vereinigung schließlich ein Machtfaktor geworden war, über den man nicht mehr hin-
wegsehen konnte. Und dabei war sie nicht die einzige, die die goldene Ernte einfuhr, die Watsons Stimme reifen ließ. »Was natürlich ist, ist auch rechtens«, dröhnte Watson und verdammte dann der Reihe nach die VVSektionisten, die Geburtenkontrolle, jede Art von Impfung, Alkoholiker, Raucher, Spieler, ehe er am Ende zu einem letzten Schlag gegen seine alten Feinde, die Anhänger der Brutkästen, ausholte. Am Schluß einer jeden Versammlung wurde er i mmer ganz ruhig, und seine Zuhörer waren stets aufs neue überrascht, und dann kniete er nieder und betete. In drei Jahren war die Begeisterung seiner Gefolgsleute so gewachsen, daß Schottland ihn nicht mehr halten konnte. Ein Mob in Glasgow begab sich geradewegs von einer seiner Versammlungen zum nächsten Inkubationszentrum und zerstörte das Gebäude vom Keller bis zum Dach. Dabei wurde nicht nur beträchtlicher Sachschaden angerichtet, sondern eine Kontroverse nahm ihren Anfang, die in der ganzen zivilisierten Welt hitzig diskutiert wurde. Mit wenigen Worten läßt sich das Problem folgendermaßen umreißen: Ist es Mord oder nicht, einen Fötus zu zerstören, der sich in einem Brutkasten entwickelt? In ähnlicher Weise wurde das Inkubationszentrum in Edinburgh überfallen. Diesmal konnte die Menschenmenge zurückgeschlagen werden, aber eine Anzahl von Polizisten kam dabei ums Leben. In Dundee versuchten Watsons übereifrige Gefolgsleute ein Alkoholverbot zu erzwingen, indem sie alle lizensierten Lokale demolierten. Ganze Straßen schwammen in vergossenem Alkohol, und der be-
liebteste Gegenstand, an dem man eine Flasche zerschmettern konnte, schien meistens der Kopf eines Polizisten zu sein. Die Regierung beschloß, Schritte zu unternehmen, und so wurden Haftbefehle für die Festnahme von Joseph Watson als des Hauptverantwortlichen für die Unruhen in den Städten und Dörfern von Schottland erlassen. Aber die Haftbefehle wurden nie vollstreckt, denn Watson zog es vor, zu verschwinden. Das ersparte der Regierung eine Menge Ärger. Sieben Jahre später hörte man von ihm wieder in Amerika. Der Tag seiner Ankunft, und was er in der dazwischenliegenden Zeit tat, wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben. Außerdem nannte er sich auch nicht länger Joseph Watson, sondern Noah Watson, wenn es auch zweifelhaft ist, ob dahinter sein eigener Wunsch stand oder er sich nur langsam an einen Spitznamen gewöhnt hatte. Es bleibt jedoch unbestritten, daß Joseph und Noah ein und derselbe waren: niemand, der ihn auch nur einmal gesehen hatte, konnte ihn je verkennen. Er war immer noch vom Reformeifer besessen und wetterte gegen jene Teile der Bevölkerung, die versuchten, die Natur zu verbessern. Aber jetzt waren seine Anklagen allgemeiner, seine Warnungen vor dem »bevorstehenden Gericht des Zornes« feuriger. Irgendwann während der letzten paar Jahre hatte sich in ihm der Keim eines Gedanken festgesetzt, der in seinem fruchtbaren Geist zu der Überzeugung heranwuchs, daß die Welt bald zugrundegehen würde, oder, wenn schon nicht zugrundegehen, so doch wenigstens in irgendeiner katastrophalen und höchst
unangenehmen Weise für ihre Verkommenheit bestraft werden würde. Uns scheint es heute seltsam, daß ein Mensch so etwas glauben kann – nicht nur selbst daran glauben, sondern sogar andere davon überzeugen. Dennoch darf man nicht vergessen, daß im zweiundzwanzigsten Jahrhundert das Wissen um die Natur unserer Welt sich ebenso wie viele andere Formen des Wissens sich in einem höchst rudimentären Stadium befand. Damals fiel es noch leicht, das Ende der Welt vorherzusagen und gebildete Menschen zu finden, die eine solche Prophezeiung ohne den geringsten Beweis hinzunehmen bereit war. Watson enthüllte nicht woher er sein Wissen über das bevorstehende »Jüngste Gericht« in Form eines Erdbebens bezog. Er sagte nur, daß es bevorstehe, und zwar bald. Er forderte jeden auf, zu bereuen, und behauptete, jeder sei ein Sünder, ob er das nun wisse oder nicht. »Noah«, so verkündete dieser neue Noah, »wurde ausgeschickt, um die Welt vor der Sintflut zu warnen. Ihr habt gelesen, was mit jenen geschah, die nicht auf ihn hören wollten. Und jetzt komme ich mit einer Warnung zu euch. Habt ihr vergessen, wie alle sich über Noah lustig machten? Wollt auch ihr meine Warnung in den Wind schlagen?« Aber dieser zweite Kreuzzug, den er unternahm, hatte nicht den gleichen Erfolg wie seine Auftritte in Schottland. Vielleicht fehlte ihm diesmal der sentimentale Aspekt, Vielleicht war der Augenblick schlecht gewählt. Seine Versammlungen waren zwar wieder überfüllt, aber es fehlte ihnen das anbetungsvolle Schweigen jener früheren Veranstaltungen, wo
die Zuhörer ihm die Worte förmlich von den Lippen gerissen hatten. Jetzt gab es sogar Zwischenrufer, und einer von diesen reizte ihn mit der Frage: »Wo ist denn deine Arche, Noah?« Einige lachten. Watson verhaspelte sich in seiner Rede und verlor den Faden seines Vortrags, während ihm von allen Seiten zugerufen wurde: »Ja, wo ist deine Arche? Zeig uns deine Arche, Noah.« Und irgend jemand im Hintergrund fing zu singen an: »Und die Tiere zogen ein zu zwei'n«, und eine Weile herrschte völliges Chaos. Das war einer jener seltenen Anlässe, wo Watsons Temperament mit ihm durchging. »Ich habe eine Arche«, brüllte er. »Ich habe eine Arche, und wenn sie mich einst retten wird, wird es euch leid tun, daß ihr mir nicht geglaubt habt. Ihr werdet nicht darin sein – ihr werdet verbrennen. Alle miteinander!« Watson sprach die Wahrheit. Er hatte nämlich eine Arche. Im Jahre 2133, zu Beginn seiner Verkündigung des Weltuntergangs, war es ihm irgendwie gelungen, die Bekanntschaft Henry Headingtons zu machen, und es war ihm von Anfang an geglückt, diesen Herrn zu beeindrucken. Headington war einer der reichsten Männer der Welt. Seine Flugzeugfabrik in Chicago hatte ihm einen solchen Wohlstand beschert, daß es unmöglich war, sein Vermögen mit einigem Anspruch auf Exaktheit auch nur zu schätzen. Oder man sollte vielleicht sagen, daß bis zum Abschluß der Berechnung der Wert seiner Besitztümer sich bereits wieder in solchem Maße verändert hatte, daß jede Schätzung sinnlos war. Er war, wie alle wohlhaben-
den Männer seiner Zeit, von Sekretären, Assistenten und Bewachern umgeben, aber Watson war es nicht nur gelungen, Zutritt zu ihm zu erhalten, sondern sogar, sich seiner Unterstützung zu versichern.
2 Henry Headington interessierte sich nicht sonderlich für die Zukunft seiner unsterblichen Seele, um die Watson sehr besorgt zu sein schien. Dafür beunruhigte ihn die Vorstellung, sein bequemes Leben könnte beeinträchtigt werden, falls die Erde wirklich in einem großen Erdbeben zugrundegehen sollte, um so mehr. Während der vielen ernsthaften Beratungen, die zwischen den beiden stattfanden, wuchs Headingtons Überzeugung immer mehr, bis sein Glaube an die unmittelbar bevorstehende Katastrophe ebenso unerschütterlich war wie der Watsons. Aber Henry war ein Mann von ganz anderem Schrot und Korn. Am Ende einer dieser Sitzungen nahm er langsam die Zigarre (die Watson zutiefst mißbilligte) aus dem Mund, und sah den anderen aufmerksam an. »Sie reden eine ganze Menge«, sagte er. »Sie laufen herum und sagen den Leuten, sie sollen Buße tun. Vielleicht werden sie das tun, vielleicht auch nicht, jedenfalls wird ihnen das nicht viel nützen, wenn der große Knall kommt. Aber Reden zu halten ist natürlich Ihr Beruf, und ich nehme es keinem übel, wenn er seinem Beruf nachgeht. Aber mein Beruf ist das nicht. Ich rede nicht über die Dinge. Ich handle.« Das war Headingtons Art. Seine Spezialisten wurden zusammengerufen und instruiert, und binnen
weniger Wochen begannen die ersten Früchte ihrer Arbeit in Gestalt einer riesigen Werkshalle sichtbar zu werden, die in einer Ecke des Headington Raketenversuchsgeländes heranwuchs. In allen Teilbereichen des Headington-Konzerns wurde viel über Sinn und Zweck dieser Halle spekuliert. Offenbar war der Hangar für ein Fahrzeug bisher ungeahnter Größe bestimmt. Gerüchte verbreiteten sich und wucherten, wie Gerüchte das eben so an sich haben. Es hieß, Headington habe die Absicht, das größte Stratosphärenflugzeug der ganzen Welt zu bauen. Andere verkündeten wieder, der alte Headington sei verrückt geworden und wolle zum Mond fliegen. Aber abgesehen von den wenigen Eingeweihten waren alle davon überzeugt, daß diese Maschine eine einzige große Pleite werden würde. Wahrscheinlich würde ein solches Monstrum nie die Erde verlassen können, und selbst wenn es das vollbrachte, würde die Nutzlast lächerlich gering sein. Aber die Arbeiten gingen stetig weiter. Die Konstrukteure schwitzten in ihren Büros, gebeugt über komplizierte Pläne, und zeichneten, bis ihnen Rücken und Augen weh taten. Vielleicht hegten sie Zweifel ob sie die Wünsche ihres Chefs auf den Buchstaben genau erfüllen konnten, aber sie ließen sich nichts anmerken. Die Bezahlung war gut, aber was für Männer noch wichtiger war, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, sich an die Regierungsvorschriften für den Flugzeugbau zu halten, war die Tatsache, daß man ihnen freie Hand ließ. Die Einschränkungen der Regierung in bezug auf Geräuschpegel, Schubenergie, Lage und Größe der Mannschaftsquartiere, Sicherheitseinrichtungen und so weiter galten nicht
mehr für sie. Dieses Mal war das einzige Ziel die Perfektion; Kosten spielten keine Rolle. Das ganze Headingtonvermögen stand hinter ihnen. Und so zogen sie fieberhaft Strich um Strich, erfüllt von dem schöpferischen Rausch, ihre Träume endlich einmal verwirklichen zu dürfen. Die Modellbauer mußten sich mit Problemen befassen, die sie verfluchten, aber dann wurden auch sie von der Begeisterung der Konstrukteure erfaßt, und sie lösten jedes Problem, sobald es ihnen gestellt wurde. Die Instrumentenbauer wurden aufgefordert, bestimmte Instrumente und Skalen zu bauen, daß ihnen der Kopf rauchte. Die Metallurgen produzierten Legierungen, die man bisher für zu teuer gehalten hatte, als daß sie von praktischem Nutzen hätten sein können, und langsam begann das Monstrum in der riesigen Halle zu wachsen. Headington war voll Vertrauen zu Watson, und das hatte letzterem die Stellung eines kleinen Propheten eingetragen, vielleicht auch die eines Maskottchens. Headington bestand darauf, daß der Reformator bei der Kiellegung des riesigen Schiffes zugegen war und daß er immer wieder den Fortgang der Arbeit verfolgte. »Ein Wunder wird das werden. In der ganzen Geschichte ist so etwas noch nie versucht worden«, sagte der Millionär voll Stolz. »Die Arche«, murmelte Watson. Er hatte einen entrückten Blick in den Augen, als starre er in die Tiefe der Geschichte und blicke auf jene andere Arche, die auf ihrem Berg darauf wartete, die Gläubigen zu retten.
Als die Arche fertiggestellt war, gab es keinen Regierungsbeamten, der sie nicht verdammte. Die Behörden gestatteten ihr nicht einmal einen Versuchsflug, und einige Ministerialbeamte gingen sogar so weit, daß sie rieten, sie zu vernichten, damit nicht jemand in Versuchung geriete, die öffentliche Sicherheit durch einen unerlaubten Versuchsflug zu gefährden. Headingtons Geld und Einfluß konnten es vermeiden, daß diese Drohung in die Tat umgesetzt wurde, aber selbst sein Einfluß genügte nicht, um eine Startfreigabe zu erreichen. So stand die Arche unerprobt viele Monate lang in ihrer Halle. Man hielt sie startbereit und mit Treibstoff und Vorräten bis an die Grenzen ihres Fassungsvermögens beladen. Das Vertrauen ihres Besitzers zu Watson schwankte nie, und viele der Mechaniker und Ingenieure wurden von ihrer früheren Ablehnung bekehrt. Aber die Arche selbst wurde langsam zum Gespött der ganzen Welt. Überall sah man in den Zeitungen Fotos der atemberaubenden Werkshalle. Schlecht informierte Artikel über die Hoffnungen und Ziele ihres Erbauers ließen sich stets gut verkaufen. Und wenn Watson eine Versammlung abhielt, wurde er wegen seiner Beziehung zu Headington verspottet, und die beiden tauchten oft in Karikaturen auf. Die Welt behandelte die neue Arche ganz genauso wie sie die alte hölzerne Arche behandelt hatte. Und dann verkündete Watsons Frau, eine ebenso von Begeisterung erfüllte Dame wie ihr Mann, in aller Öffentlichkeit, sie habe eine Vision gehabt. »Und in meiner Vision«, rief sie, »sah ich die Erde Flammenzungen ausspeien. Sie zerfiel in Stücke we-
gen ihrer Sünden, und aus den tiefen Schlünden schoß ihr feuriges Herzblut hinaus verwandelte die Meere in Dampfwolken, die sich über das Land wälzten, gefolgt von einem Feuersturm, der alle Berge zerschmolz. Und während ich voll Angst vor der Bestrafung der Sünder dastand, schien mir eine Stimme ins Ohr zu flüstern. ›November‹, flüsterte sie, ›zweiundzwanzigster November.‹« Es fällt uns heute in unseren geordneten Tagen schwer zu begreifen, welches Gewicht damals solche Behauptungen hatten. Manche waren klug genug, den absurden Worten der Frau keinen Glauben zu schenken, aber die Namen Headington und Watson waren in der Öffentlichkeit so prominent, daß der Bericht über die ganze Welt verbreitet wurde und in manch fernem Lande Gegenstand besorgter Überlegungen, aber auch Anlaß zu skeptischem Gelächter wurde. Aber es gab eine Gruppe, die die Warnung ernst nahm, nicht darüber debattierte, sondern sie als Tatsache hinnahm. Headington bestand darauf, daß die letzten Vorbereitungen in aller Eile abgeschlossen wurden, denn es war bereits Ende September. Watson wurde noch leidenschaftlicher und seine Versammlungen ungestümer, bis es so weit war, daß kaum noch eine ohne Polizei zu Ende ging. Es gibt eine Schilderung von ihm, wie er in jenen letzten Tagen seine Arme zum Himmel emporreckte, während seine Frau vor ihm auf der Rednertribüne kniete, und die Zuhörerschaft aufforderte zu beten, zu bereuen. Einen Monat vor der prophezeiten Katastrophe verbot die Polizei alle weiteren Versammlungen, und Watson und seine Frau entschwanden aus der Sicht
der Öffentlichkeit. Die Nacht des einundzwanzigsten November 2134 war eine Nacht, an die man sich noch lange erinnerte. Auf der ganzen Welt blieben Gruppen nervöser Menschen wach und beobachteten den Himmel und beteten, von dem unvernünftigen Glauben beseelt, daß es besser war, dem Tod bekleidet zu begegnen als im Nachthemd, selbst wenn dieser Tod völlige Vernichtung bedeutete. Ein Beobachter jener letzten Szenen in der großen Werkshalle der Arche blieb zum Glück am Leben, um von den Ereignissen, die er dort beobachtete, berichten zu können. Headington hatte seine ganze Familie um sich versammelt und auch die meisten seiner Ingenieure und Konstrukteure und deren Familien, darunter viele Arbeiter, sowie die Mannschaft und ihre Angehörigen. Alle waren an Bord der Arche und bereit, abgesehen von einer kleinen Gruppe von Zuschauern im Hintergrund. Als es Mitternacht geworden war, lastete erwartungsvolles Schweigen über der ganzen Halle. Die Gruppe, die aus Headington, Watson, Mrs. Watson und ein oder zwei anderen bestand, wartete atemlos an einem massiven steinernen Tisch. Ihre Augen wichen keine Sekunde von der Nadel eines Seismographen, der darauf montiert war. Nach einer Stunde war das Schweigen so lastend, daß man viel Geld darum gegeben hätte, es durchbrechen zu können. Und dennoch sprach keiner. Gelegentlich war ein raschelndes Geräusch zu hören, wenn jemand sich unruhig hinter der Luke des mächtigen Schiffes bewegte, und dieses Rascheln
durchbrach dann die Grabesstille. Plötzlich hielt alles den Atem an. Hatte die Nadel sich bewegt? Die Gruppe beugte sich noch weiter vor. Wieder zuckte die Nadel, ganz deutlich, ganz entschieden. Das Ende war gekommen. Eine wilde Flucht in die metallene Sicherheit, die die Arche bot, setzte ein. Es braucht wohl nicht geschildert zu werden, wie die Arche startete. Wie die Passagiere so von Angst und Schrecken erfaßt waren, daß sie sogar versäumten, die Tore der Halle zu öffnen. Wie die Halle selbst von dem Aufprall zerschmettert wurde, so daß sie zusammenbrach und die meisten, die in ihr waren, unter sich begrub. Aber es ist wohl schwerlich ein atemberaubender Anblick vorstellbar als der Start jener ungeheuren Rakete. Ein flammender Feuerschweif zog goldschimmernd hinter ihr her und erhellte das ganze Land so wie ein von Menschenhand geschaffener Komet. Der Feuerschweif verbrannte das Land und zog in einem Glorienschein davon: zu den Sternen. Die Rakete richtete bei ihrem Start sehr viel mehr Schaden an als das kleine Meeresbeben im Pazifik kurz vorher angerichtet hatte. Viele dachten über ihr Schicksal nach, aber es gab nichts, was ihre Vermutungen bestätigte, und schließlich wurde die Arche, ebenso wie eine Million anderer Geschehnisse in der Geschichte, vergessen, vom Mantel der Vergangenheit überdeckt. Einige behaupteten, es wäre dem gigantischen Schiff gelungen den Bereich der Erdanziehung hinter sich zu lassen und daß eine solche Leistung, einmal vollbracht, aufs neue wiederholt werden könnte, aber
niemand wußte, wie man das anstellen sollte. Die Chemiker, die Konstrukteure, die Ingenieure waren mit dem Schiff davongeflogen, und ihr Wissen hatten sie mitgenommen. Erst seit Hal Newtons berühmter Expedition wußte man Genaues über das Schicksal der Arche.
3 Um über Hal Newtons Expedition korrekt zu berichten, muß man etwa ein Jahr nach seiner Verehelichung mit Davida Jonson, oder wie sie die ganze Welt jetzt nennt, mit Vida beginnen. Die beiden hatten ihre Brutkästen im Abstand von einem Monat verlassen. Sie hatten als Kinder miteinander gespielt und waren gemeinsam herangewachsen, bis sie im Frühling des Jahres 2920 beschlossen, sich zusammenzutun. Hal bestand als jüngster Raketenpilot, der je seinen Abschluß gemacht hatte, die Flugprüfung. Das Donnern der Raketen war für ihn der Puls des Lebens, und wenn er am Steuer eines Flugapparats saß, so hätte man meinen können, zwischen ihm und der Maschine bestünde eine innere Verbindung. Vida war von Beruf Chemikerin, und um nichts weniger brillant als Hal. Sie bestand eine Prüfung nach der anderen und heimste den Neid und die Bewunderung ihrer Lehrer ein, schien sie doch in Monaten zu lernen, was sich andere mühsam im Laufe von Jahren einprägten. Mit vierundzwanzig Jahren hatte sie bereits interessante Entdeckungen gemacht, und ihre Zukunft schien brillante Leistungen zu ver-
sprechen. Sie hatte die Gabe, Sprünge zu machen, wo andere sich mühsam und langsam kriechend dahinbewegten. In ihren Kreisen war ihre Hochzeit keineswegs populär, dafür lagen zu viele gebrochene Herzen zu Vidas Füßen, dafür klangen hinter Hals Rücken zu viele Seufzer auf, aber keiner hatte Zweifel daran, daß der Verbindung der Erfolg beschieden sein würde. Ein Jahr lang gingen die beiden wie zuvor ihrem Beruf nach. Hal raste durch den Himmel, wobei sein Körper zwar in den Regionen der Stratosphäre verweilte, während seine Fantasie zu den Sternen hinausgriff. Vida arbeitete in ihrem Labor und träumte von einer Zukunft, die ganz anders aussah als jene, die das Schicksal für sie bereithielt. Und dann starb der große Gordon Jonson, Vidas Vater, und hinterließ ihr alle seine Millionen. Am 5. Juli 2922 erfolgte der erste Anstoß zu dem großen Vorhaben Newtons, das ihn ins Weltall hinaustragen sollte. Die Newtons und ihre Gäste hatten soeben ein ausgezeichnetes Dinner beendet und sich, um den Kaffee einzunehmen, in die bequeme Wohnhalle zurückgezogen. Hal war während des Essens etwas geistesabwesend gewesen und stürzte sich jetzt in der Manier eines Menschen, der etwas loswerden will, in die Unterhaltung. »Vida und ich haben Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte er. »Das wird nicht nur ein kleiner Ausflug, und ich erwarte daher auch nicht, daß Sie mir sofort eine endgültige Antwort geben – es handelt sich um eine Sache, über die man besser etwas nachdenken sollte.«
Er musterte seine Gäste. Da war Temberly, der Biologe, kaum dreißig, aber bereits mit beginnender Glatze, kurzsichtig und in seinen Bewegungen einem Vogel ähnlich. Neben ihm saß der vierschrötige Bill Crawshaw. Bills Vater war der letzte berühmte Forscher gewesen, und sein Sohn wäre bestimmt in seine Fußstapfen getreten, hätte es auch nur einen einzigen Winkel der Erde gegeben, der unerforscht geblieben wäre. So wie die Dinge standen, blieb ihm nichts anderes übrig, als ruhelos die Lande zu durchstreifen und nach Ärger Ausschau zu halten, eine Tätigkeit, für die man ihm beachtliches Talent nachsagte. Schließlich war da noch Lucy Kramer mit dem Gesicht einer Madonna, hinter dem sich das Genie einer Chemikerin verbarg, das dem ihrer Kollegin Vida kaum nachstand. »Mein Vorschlag ist folgender«, fuhr Hal fort. »Vida hat einen wahrhaft bemerkenswerten Explosivstoff entdeckt, der, wie wir glauben, das Problem löst, das Schwerefeld der Erde zu überwinden. Seit ich ein Kind war, war es mein steter Traum, ins Weltall zu fliegen. Mit der Entdeckung, die Vida jetzt gemacht hat und einem besonders konstruierten Schiff, dessen Planung ich beinahe abgeschlossen habe, glaube ich, daß dieser Traum jetzt erfüllbar geworden ist. Ich frage also: Seid ihr bereit, mit uns zu kommen?« Einen Augenblick schwiegen alle, und deshalb fuhr Hal fort: »Natürlich bin ich nicht imstande, euch zu sagen, wie die Chancen stehen, daß wir je zurückkehren. Es gibt eine ganze Anzahl bekannter Gefahren und Tau-
sende unbekannter Gefahren, aber Vida und ich haben genug Vertrauen in uns selbst, daß wir sie auf uns nehmen wollen. Und jetzt möchten wir wissen, ob ihr mitmacht.« Der Biologe blickte seinen Gastgeber zweifelnd an. »Äh – ich begreife nicht ganz, welchen Nutzen mein Aufenthalt im Weltall haben könnte. Schließlich halte ich es nicht für wahrscheinlich, daß ihr dort draußen irgendwelche Formen von Leben finden werdet – obwohl natürlich die Möglichkeit besteht«, fügte er hastig hinzu. Vida sah ihn an und lächelte aufmunternd. »Wir rechnen nicht damit, aber weißt du, wir haben auch nicht vor, lange im Weltraum zu bleiben. Wir werden landen.« »Wo?« wollten Temberly und Crawshaw zu gleicher Zeit wissen. »Auf der Venus«, sagte Vida und warf einen Blick zu ihrem Mann hinüber. »Ich habe ursprünglich an Mars gedacht«, gab Hal zu, »aber Vida hat mich überredet. Wahrscheinlich hat sie recht mit ihrer Ansicht, daß es unklug wäre, bei der ersten Reise auf einer toten oder sterbenden Welt zu landen, wo die Luft vielleicht nicht zum Atmen ausreicht. Es ist durchaus möglich, daß an unserem Raumschiff einige Reparaturen vorgenommen werden müssen, ehe wir die Rückreise antreten, und das wäre dann sehr schwierig.« »Bestehen Aussichten, dort etwas zu erleben?« fragte Crawshaw. »Mein lieber Bill, wie könnte ich das sagen? Aber meiner Ansicht nach wirst du dort mehr erleben, als
du erwartest. Man nimmt an, daß die Venus sich in sehr primitivem Zustand befindet – vielleicht herrscht dort noch das Zeitalter der Reptilien. Den Versuch machen zu können, ein Gehirn von der Größe einer Walnuß in einem Tier von der Größe eines Hauses zu treffen, sollte für einen Schützen eine Herausforderung sein, selbst wenn er ein Gewehr mit Raketengeschoßen benützt.« Bill strahlte. »Ich bin dabei, Hal.« »Gut. Aber du brauchst dich nicht zu genieren, wenn du es dir noch einmal überlegen willst.« »Schon recht – das ist nicht nötig.« »Und was hältst du davon, Tem?« fragte Hal. Temberlys Blicke wanderten unsicher durch den Raum; er schien eine Inspiration zu suchen. »Nun – äh –« begann er. Vida ließ ihn nicht weiterreden. Nachdem sie ihrem Mann einen gereizten Blick zugeworfen hatte, wandte sie sich zu dem Mädchen um, das neben ihr saß. »Lucy?« »Natürlich.« Lucys Stimme war tief und weich und paßte zu der Ruhe, die von ihrem Gesicht ausging. Es geht die Rede, Temberly habe an diesem Punkt murmelnd erklärt, er würde sich dann auch nicht ausschließen. Der Rest des Abends verging mit der Verteilung der Zuständigkeiten. Hal würde natürlich Chefpilot sein. Er hatte sein Auge bereits auf einen Mann namens Heerdahl geworfen, den er als Co-Pilot gewinnen wollte. Die Klimaanlage, die Atmosphäre an Bord, Prüfgeräte? Nahrungskonzentrate und so weiter, fielen natürlich in Vidas und Lucys Ressort. Crawshaw bekam die Verantwortung für Munition
und Waffen übertragen und war in diesem Augenblick nur schwer davon abzuhalten, ihnen einen Vortrag über die Technik der Schießkunst zu halten. Temberly stellte leise vor sich hinmurmelnd eine Liste der Geräte für die biologische Forschung zusammen. »Es muß doch jemanden geben, den man damit beauftragen könnte, einen vollständigen Bericht über die Expedition zu schreiben«, erklärte Vida. Crawshaw, der stumm in einer Ecke saß, blickte plötzlich auf. »Ich kenne genau die richtige Person für diese Aufgabe. Eine Menge Erfahrung und gutes Allgemeinwissen. Es gibt niemand besseren – falls sie kommt«, schloß er etwas zweifelnd. »Sie?« fragte Hal. »Was soll das, Bill? Wer ist sie?« »Ihr habt bestimmt von ihr gehört – Freda Linden.« Vida blickte erleichtert drein. Bill Crawshaw eilte der Ruf voraus, daß er bei der Wahl seiner Freundschaften manchmal nicht gerade guten Geschmack an den Tag legte. »Ich kenne sie«, sagte sie. »Sie wird wahrscheinlich mitmachen.« »Bleiben nur noch drei Stellen frei«, bemerkte Hal. »Dafür brauchen wir Techniker – sagen wir zwei Ingenieure und einen Elektroniker.« Die Party dauerte noch bis tief in die Nacht hinein. Ein jeder hatte seine Zuständigkeit übertragen bekommen und sie mit einer Selbstverständlichkeit auf sich genommen, daß es Hal warm ums Herz wurde. Während er seinen Besuchern bei der Abfahrt nachblickte, erfüllte ihn tiefe Zuneigung zu diesen Menschen, die mithelfen würden, seinen Traum zu verwirklichen.
»Du hast recht gehabt, Liebling. Ich hätte Temberly natürlich nicht fragen sollen, ehe er wußte, was Lucy vorhatte. Wann glaubst du wohl, daß diese beiden Kindsköpfe endlich etwas unternehmen werden?« Aber Vida hörte nicht zu. Ihre Augen blickten in die Ferne. »Weißt du, Liebster, da ist noch etwas, was wir vor dem Abflug tun müssen.« »Da gibt es sogar eine ganze Menge, Liebling. Was meinst du denn im einzelnen?« »Wir müssen ein Zentrum aufsuchen und einen Brutkasten mieten.«
4 In den nächsten Monaten stellte sich eine ganze Anzahl Rückschläge und Sorgen bei den Newtons ein. Teile trafen ein, die nicht den Spezifikationen entsprachen, und mußten zurückgeschickt werden. Die Legierung für die Brenner erwies sich den Belastungen nicht gewachsen. Jonit, Vidas neu entwickelter Explosivstoff, mußte stabiler gemacht werden. Aber langsam, während das Jahr verstrich, begann die Nazia Form anzunehmen. Hal führte die anderen durch das Schiff und erbat ihren Rat hinsichtlich der Inneneinrichtung. Das ganze Schiff war etwa dreißig Meter lang, und sie fanden darin mehrere Kabinen sowie einen gemeinsamen Wohnraum mit Sichtluken, eine Kombüse, ein Proviantlager und ein kleines Labor, das sowohl den Chemikern, den Biologen und, je nachdem, auch dem Fotografen dienen mußte. Vida und Lucy kritisierten
die Kücheneinrichtung und verlangten Änderungen, während Crawshaw darauf bestand, daß an bestimmten Wänden Waffenschränke – nur für alle Fälle – angebracht wurden. Von solchen Einzelheiten abgesehen, schien Hals Aufmerksamkeit nur wenig entgangen zu sein. Sie staunten über die geniale Anlage der Treibstofftanks und die kompakten Aggregate, denen die atemberaubende Aufgabe übertragen war, sie durchs Weltall zu schleudern. Crawshaw musterte das einfache Armaturenbrett und die Reihen von Kontrollanzeigern für die Brenner beinahe mißbilligend. Er fand, das Ganze erinnere mehr an eine Schreibmaschine oder eine Sammlung von Uhren als an das technische Nervensystem, auf das sie sich alle verlassen mußten. Aber dann zuckte er die Achseln und ging weiter; Ingenieurwissenschaften lagen schließlich nicht in seinem Ressort. Er inspizierte die Munitionsschränke und das Waffenlager mit Befriedigung. Als sie das Schiff verließen, blickten sie mit noch viel größerem Respekt auf den schimmernden Leib des Raumschiffs, jetzt, da sie seine Wunder an Kompaktheit und Bequemlichkeit gesehen hatten. Der Schiffsname, in riesigen Lettern am Bug, fiel Crawshaw ins Auge. »Warum Nazia?« wollte er wissen. »Das bedeutet ›feurig‹. Und dieses Schiff wird mehr Feuer in sich haben als je zuvor an einem Ort zusammengetragen wurde«, erklärte Hal. Ende Juni 2923 wurde entschieden, daß ein Versuchsflug unternommen werden konnte – eine Notwendigkeit, über die man sich leider nicht hinwegsetzen
konnte. Bis jetzt war die Arbeit, wenn auch im geheimen, so doch ohne besondere Aufmerksamkeit seitens der Öffentlichkeit abgelaufen, aber die Versuchsflüge der Nazia brachten die Newtons natürlich auf die Titelseiten der Zeitungen. Reporter erkannten die Chance einer Sensation, die dieses neue geflügelte Schiff zu bringen versprach, das mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch den Himmel raste. Sie sahen es mit rotglühenden Düsen wie ein silberner Pfeil über sich dahinschießen und rannten mit schnell zusammengetragenen Einzelheiten an ihren Schreibtisch. »Die Dämmerung eines neuen Tages in der Geschichte der Luftfahrt bricht an –« »Epochale Entdeckung eines jungen Piloten –« »Bisher unerhörte Geschwindigkeit im Atmosphärenflug erreicht –« schrieben sie. Hal weigerte sich, den Zeitungen irgendwelche Informationen zu geben. Er erklärte, er befasse sich nur mit Experimenten und hätte bis jetzt noch nicht die Absicht, irgendwelche Ergebnisse zu veröffentlichen. Dennoch sickerte durch irgendeine obskure Quelle die Wahrheit an die Öffentlichkeit. Hal Newton wollte das Weltall herausfordern. Selbst das Datum seines geplanten Starts wurde abgedruckt, so daß die Welt die Abenteurer gebührend bestaunen konnte. »Am zwanzigsten August will Hal Newton einen Versuch unternehmen, den Mond zu erreichen«, schrieb eine Zeitschrift ohne sich besonders um die Fakten zu kümmern. Die Leute waren schon lange nicht mehr so skeptisch wie früher einmal hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeiten des Weltraumfluges. Sie hatten
sich in der Tat so sehr an die Vorstellung gewöhnt, es müsse einmal geschehen, daß sie langsam verärgert waren, weil so viele Versuche gescheitert waren. Die Zeitungen veröffentlichten die Namen von Hals Vorgängern. Da war Jornsen, der in dem pazifischen Ozean gestürzt war. Craig, von dem man, ebenso wie von Headington, nie mehr gehört hatte. Drivers, dem der Erfolg nur in dem Maße beschieden gewesen war, daß sein Raumschiff auf Ewigkeit zu einem Satelliten der Erde geworden war. Simpson, der über Chicago abgestürzt war, wobei die Explosion ein Fünftel der Stadt vernichtet hatte: und der ganze Rest jener mutigen Schar von Forschern und Abenteurern, die ihr Leben gegeben hatten. Dank den Bemühungen der Presse, verbunden mit der nur allzu menschlichen Neugierde und dem Wunsch, todgeweihte Menschen zum letzten Mal zu sehen, umgab eine ungeheure Menschenmenge am zwanzigsten August Newtons Startplatz. Die Menge war mehr als verärgert, als man ihr verkündete, daß die Nazia bereits am Tage vorher gestartet war. Hal hatte seiner Besatzung Weisung gegeben, sich am Abend des neunzehnten für den Start bereitzumachen und dieses Datum geheimzuhalten. Er und Vida erwarteten sie an Bord des Schiffes. Die ersten, die sich einstellten, waren die beiden hervorragenden Ingenieure MacKay und Freeman. Dann kam Heerdahl, der zweite Pilot, in einer röhrenden einsitzigen Sportrakete an, einer schnellen, aber im Prinzip nicht verkehrssicheren Maschine, die er selbst entwickelt hatte. Bill Crawshaw stapfte erst danach
herein, in der Begleitung der kleinen Freda Linden, die nur halb so groß wie ihr Begleiter war, dafür aber doppelt so selbstbewußt. Smith, der Elektroniker, stolperte über die Stufen der Nazia, und entschuldigte sich, außer Atem, wegen seiner Verspätung, um erst dann festzustellen, daß er sich in der Zeit geirrt hatte. Lucy Kramer erklärte, Temberly sei im letzten Augenblick irgend etwas Wichtiges eingefallen, und er sei weggefahren, um es zu holen. Er traf etwa zehn Minuten später ziemlich deprimiert ein, nachdem er das Gewünschte nicht hatte beschaffen können. »Das wär's«, sagte Hal, als er die Gruppe prüfend gemustert hatte. »Wir zehn sind alle da. Wir brauchen nicht länger zu warten.« Er lehnte sich hinaus und winkte den paar Piloten und Ingenieuren zu, die neidisch draußen standen, zog sich dann zurück und sah zu, wie die Luke sich schloß. »Alles auf die Andruckliegen – und vergeßt nicht, euch anzuschnallen.« Vida drückte ihrem Mann die Hand, als er auf dem Weg zu seinem Pilotensessel an ihr vorbeikam. Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir werden's schon schaffen, Liebling.« Er sah sich noch einmal um, um sich davon zu überzeugen, daß alles befestigt war. »Fertig?« rief er. Alle lehnten sich in ihre Polster zurück, um den Druck der Beschleunigung besser ertragen zu können. Hal schnallte sich ebenfalls an und legte die Hand auf das Steuerpult zu seiner Rechten. »Los geht's.« Er drückte einige Knöpfe. Wieder schoß eine Ra-
kete hinaus ins All, fort von der Erde, den Sternen entgegen. Es ist wohl besser, wenn man über den eigentlichen Flug wenig Worte verliert. Zweifellos wird man eines Tages Mittel und Wege finden, um auch eine solche Reise mehr zu einem Vergnügen und weniger zu einem Leistungstest zu machen, wie das heute noch der Fall ist. Die menschliche Natur ist nur schlecht darauf eingerichtet, die Wirkung hoher Beschleunigung oder starker Abbremsung zu ertragen, und auch die Abwesenheit der Schwerkraft, wenn diese auch in ihren Folgen nicht besonders schwerwiegend ist, führt doch am Anfang zu recht störenden Reaktionen. Erst als die Nazia einige Tage unterwegs war, konnten die Menschen an Bord sicher sein, daß es die Mühe wert war, die erste Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die Auswirkungen des Starts auf die beiden Piloten und Ingenieure waren weniger gravierend. In den Jahren ihrer Ausbildung und ihrer praktischen Arbeit hatten sie es gelernt, wie man sich dagegen wappnet und wie man am Ende der Beschleunigungsphase wieder zu sich selbst zurückfindet. Von den übrigen kann man vielleicht sagen, daß es qualvolle Augenblicke gab, in denen sich alle wünschten, man hätte sie zu Hause gelassen, damit sie ruhig und friedlich in ihren Betten sterben konnten. Aber bei all ihren Konstruktionsfehlern ist die menschliche Maschine doch der anpassungsfähigste Mechanismus, den wir kennen. Nicht nur das, sondern sie verfügt auch über die besondere Eigenschaft, Unangenehmes im Rückblick zu vergessen. Fünf Tage nach dem Start fragte sich jeder, warum er sich wegen so kleiner Unbequemlichkeiten eigent-
lich aufgeregt hatte, und gelobte innerlich, daß das nie wieder vorkommen würde. Aber auch diese Gelöbnisse sollten ebenso schnell wieder gebrochen werden, wie man sie ausgesprochen hatte. Zuerst war da der Reiz des Neuen, der die Reisenden beschäftigte. Die große schwarze Leere des Weltraums, mit den Myriaden von Funken, die die Sterne waren, der Sonne selbst, die ungefiltert von einer Atmosphäre strahlte und loderte und zu ihrer Linken vorbeizuziehen schien, während sie in einer mächtigen Kurve auf die Umlaufbahn der Venus zujagten. Aber bald werden Dinge, die man unverändert mehrere Tage lang sieht, langweilig, und es dauerte nicht lange, da verließen sie die Sichtluken, um sich anderweitig zu beschäftigen. Ohne Ausnahme räumen sie ein, daß die ersten vierzehn Tage an Bord der Nazia die grausamste Belastungsprobe ihrer Nerven war, die sie je durchgestanden hatten. Keiner fühlte sich wohl, und alle waren viel zu wenig an die Umgebung gewöhnt, um das endlose Nichts draußen einfach vergessen zu können. Ihre unruhigen Gedanken versuchten dauernd, das Schiff zu größerer Geschwindigkeit anzutreiben, bestrebt, die Reise endlich hinter sich zu bringen und zu wissen, was vor ihnen lag. Hal verlor in seinem Logbuch einige Worte der Bewunderung für die Zurückhaltung, derer sich alle befleißigten, um zu verhindern, daß offener Streit ausbrach. Aber auch das Schlimmste geht einmal zu Ende. Hal hatte die Dauer des Fluges auf einen Monat veranschlagt. Als er verkünden konnte, daß der Flug planmäßig verlief und daß sie nach vierzehn Tagen
die halbe Strecke hinter sich gebracht hatten, schien es gerade, als hätte jener unsichtbare Meilenstein draußen im Weltraum eine Last von allen genommen. Es war als hätten sie bis zu diesem Augenblick nicht daran geglaubt, daß das, was sie taten. Wirklichkeit war, daß vor ihnen die Venus tatsächlich auf sie wartete. Und plötzlich war die Niedergeschlagenheit aller vorbei, legten alle ihre Lethargie ab und machten sich ans Werk. Crawshaw inspizierte sein Arsenal. Temberly kümmerte sich um seine Deckgläser und Mikroskope. Alle begannen die Schwerelosigkeit mit all ihren Begleiterscheinungen als etwas lediglich Lästiges hinzunehmen und nicht mehr als Anlaß zu dauerndem Murren. Hal beobachtete befriedigt, wie die Moral sich besserte. Er hatte von Anfang an gewußt, daß sie im Herzen eine gute Mannschaft waren, denn er hatte sie sorgfältig ausgewählt. Aber zu Anfang der Reise hatte es doch Augenblicke gegeben, in denen ihn Zweifel überfielen – vielleicht weil die Monotonie auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen war. Schließlich hing die Venus wie eine große Kugel vor ihnen im All. Sie wirkte wie ein riesiger flauschiger Watteball, denn die Oberfläche war durch das dichte Wolkenmeer nicht zu sehen. Gebannt starrten sie zu dem Planeten hinüber und warteten darauf, daß die Wolkendecke irgendwo aufriß, ihnen einen Blick auf die darunter verborgene Oberfläche gestattete, aber Venus bewahrte ihr Geheimnis bis zum letzten Augenblick. Die Nazia hatte schon seit einigen Tagen etwas abgebremst. Nach den Qualen des Starts hielt Hal es für klüger, seiner Mannschaft wenigstens eine angeneh-
mere Landung zu bieten. Und so hatten sie Zeit bis kurz vor der eigentlichen Landung, bis er den Befehl auszugeben brauchte: »Alles auf die Andruckliegen.« Mit dröhnenden Bugdüsen begann die Nazia, sich auf den Planeten hinunterzusenken. Bald toste sie durch den Himmel der Venus wie ein feuriger Drache, der auf diesem fremden Planeten Beute sucht. Als das Schiff landete, gab es nur eine leichte Erschütterung. Es rutschte ein paar Meter, ruckte etwas zur Seite und kam zur Ruhe. Der Eifer der Expeditionsteilnehmer ließ sie die noch etwas nachklingende Strapaze der Bremswirkung vergessen. Hastig wurden die Sicherheitsgurte geöffnet, und dann rannten alle über den schrägen Boden zu den Sichtluken. Ihre erste Reaktion auf die fremde Welt war gebanntes Schweigen. Weißes, diffuses Licht, gefiltert durch die dicke Wolkenschicht, enthüllte ihnen eine seltsam unwirkliche Szene. Sie lagen beinahe in der Mitte einer ovalen Mulde, wie es schien, einer Art natürlichen Lichtung. Hie und da standen niedrige Sträucher, und weiter hinten war der Rand eines Waldes zu sehen. Die Bäume waren von mäßiger Höhe und hatten glatte Stämme, und nur oben an der Spitze gab es ein Gewirr kleiner, breiter Auswucherungen. Diese Auswucherungen schienen zerbrechlicher als Zweige, jedoch fester als Blätter zu sein. Schlingpflanzen zogen sich in langen Girlanden von einem Baum zum andern, und darunter wucherte ein Dickicht von Sträuchern, einige davon drei bis dreieinhalb Meter hoch. Jede einzelne der Pflanzen war ganz anders als alles, was sie je zuvor gese-
hen hatten. Statt des vertrauten beruhigenden Grüns irdischer Landschaften tat sich ihnen hier ein Panorama auf, wo alles die gleiche weißgraue Farbe hatte. Die Bäume, die eine vage Ähnlichkeit mit Palmen aufwiesen, die kleinen Büsche und selbst die dicken verbogenen Stengel, die die ganze Lichtung bedeckten, sie alle sahen so aus, als hätte man sie gebleicht, als hätte irgendeine alles umfassende Seuche ihnen das Leben genommen. Der erste Blick, den sie auf die Landschaft der Venus warfen, dämpfte die Hochstimmung. »Das venusische Gras ist eine ziemlich armselige Imitation von richtigem Gras«, sagte Heerdahl. »Das sieht aus wie eine Million fetter weißer Würmer, die steifgefroren sind.« Vida schauderte. »Ein besonders freundlicher Willkommensgruß ist das nicht«, pflichtete sie dem Co-Piloten bei. »Ich kann mir vorstellen, wie in diesem Wald alle möglichen Dinge herumschleichen.« Lucy drückte die Gefühle aus, die sie alle empfanden. »Eine gespenstische Welt, voll von bleichen Schrecken. Nichts bewegte sich, bloß ein paar Nebelfäden in der Ferne. Seht ihr, die Blätter hängen schlaff herunter, da ist kein Lufthauch, der sie bewegt. Vielleicht kommt jeden Augenblick ein graues Gespenst, das sie auseinanderschiebt.« Smith, der Elektroniker, trat unruhig einen Schritt von der Luke zurück. »Willst du uns allen Angst machen?« fragte er. »Es sieht schon schlimm genug aus ohne solches Gerede.« Temberly, der wortlos hinausgestarrt hatte, wandte
sich plötzlich um und rannte weg. »He! Wo soll's denn hingehen?« rief Hal ihm nach. »Hinaus!« erwiderte der Kleine vor Erregung keuchend. Hal lief ihm nach und hielt ihn an der Hand fest, als er nach dem Knopf des Öffnungsmechanismus griff. »Ruhig Blut, Mann. Du könntest uns alle umbringen. Wir haben die Luft noch nicht getestet, Vida«, fügte er hinzu. »Nimm eine Probe und sag uns, ob es draußen ungefährlich ist.« Während sie ungeduldig auf das Ergebnis der Analyse warteten, stellte Freda mit Hilfe Crawshaws ihre Kamera auf und fing an, Aufnahmen zu machen. »Ein paar Standaufnahmen genügen. Wäre ja eine Verschwendung von Filmmaterial«, murmelte Crawshaw. Er blickte auf die stumme Szene hinaus und fügte abschätzig zu Hal gewandt hinzu: »Wo sind denn diese Ungeheuer, von denen du geredet hast? Ich seh da nichts gefährlicheres als ein paar ausgewachsene Kohlköpfe.« Hal lächelte. »Ich hab noch nie zwei Leute gesehen, die es eiliger hatten als du und Tem. Er will hinausrennen und Pflanzen pflücken, ohne sich darum zu kümmern, daß er dabei ums Leben kommen kann und dein erster Gedanke bei der Landung auf einer fremden Welt ist es, ein Massaker unter der Fauna anzufangen. Wartet doch ein wenig – es sieht so aus, als gäbe es draußen noch genug für euch zu tun.« Er deutete auf den dichten nebligen Wald im Hintergrund. »Sauerstoffgehalt etwas höher als normal, sonst ziemlich genau wie unsere eigene Atmosphäre«,
hallte Vidas Stimme aus dem kleinen Labor. »Ungefährlich, wenn auch ziemlich dicht. Am besten erhöhen wir den Druck hier drinnen langsam.« Hal betätigte sich einen Augenblick an seinen Schaltern und Knöpfen und wandte sich dann wieder den anderen zu. »Jetzt müssen wir festlegen, wer mit der ersten Expedition hinausgeht und wer im Schiff bleibt. Temberly muß natürlich mitkommen; die einzig andere Alternative wäre, ihn gewaltsam festzuhalten. Und dann brauchen wir Crawshaw mit seinen Waffen. Mindestens drei Leute müssen in der Nazia bleiben. Wie steht's mit Ihnen, Smith?« Smith nickte und warf einen verächtlichen Blick auf den Teil der Venus, der durch die Luke zu sehen war. »Ich hab gar nichts dagegen, wenn ich nicht hinaus muß«, sagte er. »Ich bleibe auch«, erbot sich Lucy. »Hier im Schiff ist es – ist es menschlicher.« »Das wären zwei. Was ist mit Ihnen, Freeman?« Freeman warf einen fragenden Blick zu MacKay hinüber. »Ich schätze wir bleiben beide, wenn's nichts ausmacht«, sagte letzterer. »Das hätte ich wissen müssen«, lachte Hal. »Hat man euch zwei je trennen können?« »Nicht lange«, grinste MacKay. »Okay, das wäre geklärt. Ihr vier bleibt, und wir anderen machen einen kleinen Ausflug. Bill, ich glaube, da draußen können wir Macheten gebrauchen.«
5 Die Sechsergruppe, die langsam auf die Bäume zustapfte, war ziemlich schweigsam. Die seltsame Stille und die Reglosigkeit in ihrer Umgebung schien sogar den stets zu Späßen aufgelegten Heerdahl zum Schweigen zu bringen. Auf Hals Rat trugen alle leichte Kleidung. »Die Temperatur ist nicht so hoch wie wir befürchtet hatten. Das liegt wahrscheinlich an der dikken Luft. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir rund vierzig Millionen Kilometer näher an der Sonne sind als die Erde, tragt also nur das Nötigste.« Obwohl Hemden und Shorts nur wenig wogen, hatten sie andere notwendige Ausrüstungsgegenstände zu schleppen. Alle trugen Pistolen in Gürtelhalftern, und die Männer, abgesehen von Temberly, hatten Raketenkarabiner umgehängt. Der kleine Biologe hatte zwei große schwarze Behälter umgehängt, daß man ihm nicht auch noch einen Karabiner zumuten konnte. Hal trug einige Instrumente, darunter auch das Sprechfunkgerät. Freda hatte Filmkassetten und die Kamera dabei und lehnte Crawshaws Angebote, ihr das Gewicht abzunehmen, entschieden ab. Crawshaw selbst und Heerdahl trugen Rucksäcke mit Proviant und an ihren Gürteln hingen schwere Macheten. Die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren die, die sie selbst verursachten; das Klappern ihrer Ausrüstung und das schmatzende Geräusch, wenn sie mit den Füßen die fetten Gewächse am Boden zerdrückten.
Temberly hatte die Vegetation kurz untersucht und sich dann sofort in Richtung auf den Wald in Bewegung gesetzt. »Wir werden ihn im Auge behalten müssen«, sagte Vida laut. Hal sah sie überrascht an und fragte sich, warum sie wohl die Stimme erhoben hatte. »Ja. In dem Irrgarten kann man sich leicht verlaufen.« Ihm fiel auf, daß auch er fast brüllte. Vida lachte über seinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Die Atmosphäre ist schuld. Sie ist so dick, daß alles viel lauter klingt«, sagte sie. »Nun, jedenfalls ist mir das lieber als diese Grabesstille. Außer unseren eigenen Geräuschen habe ich bis jetzt noch keinen Laut gehört«, meinte Heerdahl. Sie erreichten den Waldrand und holten Temberly ein, der verblüfft eine seltsame Pflanze anstarrte. »Schaut euch dieses Ding da an!« rief er aufgeregt. »Sieht komisch aus«, meinte Crawshaw, nicht sonderlich beeindruckt. »Was ist denn damit? Dieselbe widerliche Farbe wie alles andere.« »Nun, es ist eine Blume.« »Hm. Ist ja enorm«, meinte Crawshaw ungerührt. »Das ist es auch. Sie hat nur zwei Blütenblätter – diese zwei Dinger oben und unten, die wie Kinnladen aussehen.« Alle starrten das Gewächs an. Es hatte einen Durchmesser von etwa einem Meter, und die beiden Blütenblätter wirkten in der Tat wie Kinnladen, so daß der Eindruck entstand, als starrte sie ein riesenhafter Kopf mit aufgerissenem Maul an. »Seht ihr«, sagte Temberly und deutete in den
Blütenkelch, »das ist Blütenstaub.« »Nun, warum auch nicht?« fragte Crawshaw gelangweilt. »Das kann sogar ich euch sagen. Die Pflanze ist farblos und kann keine Insekten anlocken, um befruchtet zu werden«, sagte Freda. »Aber was ist, wenn die Venusinsekten gerade diese Farbe hassen – das wäre doch möglich, oder?« »Sei doch kein Narr, Bill. Natürlich haben –« »Übrigens, hat jemand von euch irgendwelche Insekten gesehen?« unterbrach Vida. Alle verneinten. »Das ist höchst eigenartig«, sagte Temberly. »Ich nehme an, daß es hier keine Insekten gibt, aber in diesem Fall – wie bringt es dieses Ding hier dann fertig, befruchtet zu werden?« Er sah die große blasse Blume scharf an und beugte sich vor, um kurzsichtig in ihr Inneres zu spähen. Er legte eine Hand gegen das untere Blatt. Mit einem zischenden Geräusch senkte sich plötzlich die obere Hälfte auf die untere und blies ihm eine Wolke von Blütenstaub ins Gesicht. Die übrigen lachten herzlos über den kleinen Mann, der sich hustend und prustend den Blütenstaub aus Augen und Mundwinkeln wischte. »Da, jetzt hast du deine Antwort, Tem«, erklärte Vida. »Die Pflanze ist sehr empfindlich, wenn man sie berührt. Sie bläst den Blütenstaub einfach aus und hofft auf das Beste.« Temberly, der sich inzwischen beruhigt hatte, musterte die Pflanze bewundernd, als hätte sie etwas sehr Kluges getan. »Genial – höchst genial«, sagte er, als spreche er ein
Kompliment aus. Sie blieben stehen, während Freda ein Foto von der großen Blume machte, und beschlossen dann, tiefer in den Wald einzudringen. »Wir müssen dicht beieinander bleiben. Nicht zur Seite weglaufen. Das gilt besonders für Temberly! Vergeßt nicht, wir kennen die Rotationszeit der Venus noch nicht. Es könnte ernsthafte Konsequenzen haben, wenn es plötzlich dunkel würde und wir getrennt werden. Am besten übernimmst du die Spitze, Bill. Du hast eine Machete, falls es irgendwelchen Ärger gibt. Temberly geht als zweiter – und halte um Himmels willen die Prozession nicht auf. Schließlich hast du zwei Wochen Zeit, um dir alles anzusehen. Alles fertig? Los geht's.« Ohne noch viele Worte zu wechseln, drangen sie tiefer in den Wald ein. Gelegentlich gab es eine kurze Pause, während Crawshaw den Weg durch die weichen Gewächse freihieb und Freda die Gelegenheit zu einer weiteren Aufnahme benützte. Im übrigen kamen sie gut voran. Nach zwei Stunden waren alle mit Ausnahme Temberlys ziemlich fest davon überzeugt, daß die Venus eine recht langweilige Gegend war. »Das Ganze ist nichts anderes als ein verdammter riesiger Selleriewald«, bemerkte Heerdahl. »Hör mal, Tem!« rief er nach vorn. »Warum ist hier alles so leichenblaß?« »Ich weiß nicht – hab auch schon darüber nachgedacht. Anscheinend haben diese Pflanzen kein Chlorophyll; sie müssen statt dessen irgendeinen anderen Grundstoff benutzen. Vielleicht müssen sie das Kohlendioxyd nicht auf die gleiche Weise abbauen wie die irdische Flora, oder vielleicht brauchen sie über-
haupt keins. Ich kann euch noch gar nichts über diese Pflanzen sagen, bis ich Gelegenheit zu ein paar Experimenten hatte.« Schweigend zog die kleine Gruppe weiter. Dann kam von vorn plötzlich ein Schrei, und unmittelbar darauf fiel ein Schuß. »Was ist denn?« »Daneben«, sagte Bill enttäuscht. »Ein kleines Ding, etwas größer als ein Hase – dieselbe Farbe wie alles andere auf dieser widerlichen Welt.« »Ein Säugetier?« fragte Temberly erregt. »Wie zum Teufel soll ich das wissen – ich habe es nur laufen sehen. Jedenfalls ein Beweis, daß es in dieser miserablen Gegend noch etwas anderes außer Pflanzen gibt.« Ein paar Minuten später rief er: »He, mir scheint, dort rechts wird's heller. Gehen wir hinüber?« »Du führst – also los.« Sie verließen den Wald und sahen vor sich und etwas tiefer eine große Wasserfläche. Ob es sich um einen See oder ein Meer handelte, war schwer zu sagen. Da die Sichtweite auf der Venus ziemlich gering war, schien das Wasser sich bis zum Horizont zu erstrecken, wo es sich mit dem tiefhängenden Nebel vermischte. Hal nahm eine Probe von dem Wasser und wollte gerade verkünden, daß es Süßwasser zu sein schien, als zu ihrer Linken ein langes hallendes Bellen zu hören war, dicht gefolgt von einem mächtigen Klatschen. Blitzschnell hatte Crawshaw den Karabiner heruntergerissen und war in Richtung auf das Geräusch losgerannt, während die anderen noch damit be-
schäftigt waren, den Schrecken zu verdauen. »Verdammter Narr«, sagte Hal. »Ich geh ihn holen. Du kümmerst dich um die anderen, Heerdahl.« »Was glaubt ihr wohl, was das war?« fragte Vida und blickte ihrem Mann nach, der hinter Crawshaw herrannte. »Das weiß Gott allein«, sagte Heerdahl. »Hier kann man noch keine Schlüsse ziehen. Vielleicht eines dieser alten Reptilien, von denen ihr geredet habt. Oder eine antike Dampfpfeife. Klang jedenfalls furchtbar kläglich; was auch immer es war.« »Findet ihr nicht, daß wir auch hingehen sollten?« »Nein. Sonst verlieren wir sie vielleicht. Außerdem, Befehl ist Befehl. Ich finde, wir könnten uns eine Zigarette anzünden und damit zum erstenmal die Luft der Venus mit Tabakrauch verpesten.« Die beiden setzten sich und lehnten sich gegen einen Felsbrocken. Heerdahl legte den Karabiner über das Knie, zündete Vida eine Zigarette an und nahm sich dann selbst eine. Temberly war zum Wasser hinuntergegangen und damit beschäftigt, kleine Glasröhrchen zu füllen und einzupacken. Er beugte sich vor und untersuchte aufmerksam einige Unterwassergewächse, so daß man im Augenblick nicht auf ihn zu achten brauchte. Freda war mit ihrer Kamera beschäftigt. »Weißt du«, meinte Heerdahl, »das könnte wirklich eine ganz angenehme Welt sein, wenn sie nicht so schrecklich monoton wäre. Ich glaube, mir ist noch nie bewußt geworden, was für einen Unterschied doch Farben machen.« Vida nickte. »Ja, das ist wie auf einer SchwarzWeiß-Fotografie – nichts als weiß und grau und
dunkleres Grau. Bei diesem diffusen Licht gibt es nicht einmal klar gezeichnete Schatten.« »Mit Sonnenuhren wäre hier nicht viel anzufangen – ich frage mich, ob die Sonne hier überhaupt jemals richtig scheint? Übrigens, wann haben wir die Nazia denn verlassen?« »Vor etwa drei Stunden, schätze ich.« »Dann möchte ich annehmen, daß wir noch eine Weile Tageslicht haben. Wir haben bei der Landung den Planeten-Schatten gerade verlassen, also war es erst kurz nach Morgendämmerung. He, was macht Tem denn da?« Temberly stand knietief im Wasser, und von Zeit zu Zeit zuckte seine Hand vor; er schien aber nichts zu fangen. »Was ist denn?« rief Heerdahl. »Fische – kommt und seht sie euch an.« »Ach, ich pfeif auf deine Fische. Ich sitze lieber bequem.« Er und Vida redeten die nächste halbe Stunde gelegentlich miteinander. Kein weiteres Geräusch war zu hören, wenn auch ein- oder zweimal große Wellen die Wasseroberfläche bewegten und damit auf das Vorhandensein unbekannter Geschöpfe in den Tiefen deuteten. »Hoffentlich ist den beiden nichts passiert«, sagte Vida nervös. »Oh, die können auf sich selbst aufpassen, und außerdem hätten wir ja Schüsse gehört, wenn sie in Gefahr geraten wären.« Im gleichen Augenblick hallte ein Ruf zu ihnen herüber, und zwei Gestalten tauchten auf. »Nichts«, sagte Crawshaw beinahe verärgert auf
ihre Fragen. »Wir haben ein bißchen herumgestochert und Fußspuren von der Größe eines Eßtisches gefunden, die bis zum Wasser hinunterführten, aber das Biest selbst war nirgends zu sehen.« »Da brauchst du nicht traurig zu sein. Du hättest das Vieh ja doch nicht nach Hause tragen können, wenn du es abgeschossen hättest«, meinte Heerdahl. Temberly gab seine Versuche auf und schloß sich ihnen wieder an. »Höchst interessant«, verkündete er. »Ein dreiäugiger Fisch. Ein Auge oben am Kopf. Natürlich hat es solche Dinge auch auf der Erde gegeben, aber ich hatte nie damit gerechnet, mehr als ein rudimentäres drittes Auge zu finden. Das ist sehr interessant, wißt ihr.« »Da bin ich aber froh, daß wenigstens du so denkst«, knurrte Crawshaw. Er wandte sich Heerdahl zu. »Wo ist denn Freda?« Alle sahen sich um. Von Freda war keine Spur zu sehen. Crawshaw fuhr Heerdahl an: »Du hattest doch hier die Aufsicht – warum hast du sie weggehen lassen? Du hättest auf sie aufpassen sollen.« Heerdahls Gesicht rötete sich. »Ich sollte sie beschützen, und das hätte ich getan, wenn es notwendig gewesen wäre. Als Kindermädchen hat man mich nicht eingestellt. Ich konnte das Mädchen doch nicht mit Gewalt festhalten.« »Du hättest ihr verbieten müssen, außer Sichtweite zu gehen.« »Als ob sie Befehle von mir befolgte – oder von sonst jemand.«
»Haltet doch den Mund, ihr beiden«, sagte Hal. »Das bringt uns nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig anschreien. Bill, du hast eine Stimme wie ein Nebelhorn. Ruf sie.« Bill antwortete mit einem Brüllen, das in der dicken Luft einem Nebelhorn verblüffend glich. Sie lauschten gespannt auf Antwort, und Vida glaubte, ein schwaches Geräusch zu ihrer Rechten gehört zu haben. Heerdahl pflichtete ihr bei. »Jedenfalls muß sie in diese Richtung gegangen sein. Wenn sie in den Wald zurückgekehrt ist, aus dem wir gekommen sind, hätten Vida und ich sie gesehen, und wenn sie links am Ufer entlang gegangen wäre, dann wärt ihr beiden ihr begegnet.« Hal nickte. »Wir gehen jetzt besser. Wir können Spuren hinterlassen und unseren Weg markieren, damit sie uns folgen kann, wenn wir sie verpassen. Und jetzt bleibt um Himmels willen beieinander.« Der Weg am Ufer entlang war leicht. Der Wald begann erst einige hundert Meter vom Wasser entfernt, und die Küste war nur mit den üblichen verfilzten Gewächsen bedeckt. Die Sicht hingegen war schlecht. Hal Newton schrieb in sein Logbuch, die Atmosphäre sei so trocken und klar, daß es auf der Venus eine Seltenheit bedeute, weiter als zwei Kilometer sehen zu können. Hin und wieder stieß Crawshaw laute Rufe aus, und dann blieben wieder alle stehen, um zu lauschen. Aber vergebens. »Der Himmel weiß, weshalb sie überhaupt mitkommen wollte«, polterte er. »Hier gibt es doch genauso nichts anderes als an unserem Landeplatz.«
»Freda!« brüllte er wieder. Diesmal kam von irgendwo vor ihnen ein unverkennbarer Ruf. Alle blieben stehen. »Ich nehme an, hinter dem nächsten Abhang«, sagte Hal, und sie rannten los. Sie erreichten den nächsten Aussichtspunkt und blieben keuchend stehen, um sich umzusehen. Drei oder vierhundert Meter entfernt konnten sie Freda ausmachen. Sie stand über ihre Kamera gebeugt, während sich um sie acht oder neun pygmäenartige Gestalten drängten. »Weg mit der Waffe, du Narr«, fuhr Heerdahl Crawshaw an. »Auf diese Distanz kann man nicht mit Raketen schießen – du würdest sie alle in Stücke fetzen. Außerdem hätten wir ja einen Pistolenschuß gehört, wenn man sie angegriffen hätte.« »Das beste ist, wir schleichen uns leise heran, wenn wir diese Biester nicht verscheuchen wollen«, sagte Hal. »Habt ihr das gesehen?« fragte Vida. »Was?« »Ich hab's gehört – sie hat mit ihnen gesprochen«, sagte Heerdahl. »Sei doch nicht albern«, entgegnete Crawshaw. »Wie in aller Welt –?« »Hände hoch«, rief plötzlich eine schrille Stimme hinter ihnen.
6 Die fünf wirbelten herum. »Was zum –«
»Hände hoch«, befahl die Stimme. Als sie die sechs auf sie gerichteten Waffen sahen, gehorchten sie schnell. Dann herrschte Schweigen, während die Forscher verwundert auf die Angreifer starrten. Die Besitzer der Waffen erwiderten ihre Blicke, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie glichen vielleicht mehr als jede andere irdische Tierart Affen, und doch war es eine entfernte Ähnlichkeit. So standen sie beispielsweise aufrecht wie Menschen, wenn ihre Beine auch in Proportion zum Rumpf sehr kurz waren. Zum anderen wuchs das dichte silbergraue Haar, das sie bedeckte, selbst auf ihren Gesichtern. Ihre Größe mochte zwischen einem Meter zehn und einem Meter zwanzig schwanken, und ihren Gesichtern war durchaus eine gewisse geistige Entwicklung anzusehen. Allein schon die scharf geschnittenen Nasen verliehen den Geschöpfen ein halbmenschliches Aussehen. Und die Hände mit den abstehenden Daumen unterschieden sich von der menschlichen Hand nur insoweit, als sie am Ende eines jeden Fingers eine scharf gebogene Klaue besaßen. Sechs dieser Klauen waren drohend um die Abzüge von sechs Waffen gekrümmt. Crawshaw brach das Schweigen und damit auch die lastende Ungewißheit, die beide zu erfassen schien. »Haben – haben sie englisch gesprochen?« fragte er ungläubig. Hal runzelte verblüfft die Stirn. »Jedenfalls schien es so«, räumte er ein, »aber – aber verdammt, das muß Einbildung sein. Wahrscheinlich glaubten wir nur die Worte zu hören, als
sie die Gedanken übertrugen. Sie können unmöglich –« Wie um Hals Theorie zu widerlegen, sprach eines der Geschöpfe. Sie konnten sehen, wie seine Lippen die Worte bildeten. »Nehmt ihnen die Waffen weg«, sagte es. Einer der Eingeborenen legte sein Gewehr vorsichtig auf den Boden und trat näher. Crawshaw hob drohend die Hand. »Nicht, Bill. Willst du, daß wir alle umgebracht werden? Es ist besser, wir lassen es uns für den Augenblick gefallen – schließlich halten die uns in Schach.« Der Eingeborene nahm ihnen alle Pistolen und Karabiner weg, musterte Hals Funkgerät eine Weile zweifelnd und nahm dann, offenbar entschlossen, kein Risiko einzugehen, das Gerät ebenfalls weg. Er übergab die Beute seinen Begleitern, die sie neugierig musterten, ehe sie sie in ihren Tragtaschen verstauten. »Vorsicht!« rief Heerdahl unwillkürlich aus, als der Anführer der Eingeborenen nachdenklich am Abzug eines Raketenkarabiners herumfingerte. Der Eingeborene sah ihn einen Augenblick mit feierlicher Miene an, nickte dann und fuhr in seiner Untersuchung des Mechanismus fort. Die Raketenpatronen schienen ihn zu erstaunen, während er auf die normalen Patronen der Pistolen keinen zweiten Blick verwandte, offenbar waren erstere ihm neu. Schließlich hängte er sich den Karabiner um und trat vor, um die Gesichter der Gefangenen aufmerksam zu mustern. Wieder schien er erstaunt, aber dann drehte er sich herum und gab seinen Leuten einen Be-
fehl. Die ganze Gruppe marschierte auf die Stelle zu, wo Freda immer noch damit beschäftigt war, ihre Kamera einzurichten. »Man kann wirklich sagen, daß dieses Mädchen das Herz eines Reporters hat – nur so schafft man es auf die Titelseiten«, sagt Heerdahl bewundernd. Als sie näherkamen, unterbrach Freda eine erregte Konversation, um sie zu begrüßen. »Hallo«, sagte sie, »ich hatte gehofft, daß ihr bald kommen würdet.« »Nun, da soll doch –« begann Crawshaw. »Sehr freundlich von dir«, bemerkte Hal kühl. »Darf ich fragen, was zum Teufel wir jetzt tun sollen?« Freda schüttelte den Kopf. »Du solltest eher fragen: was wird jetzt mit uns geschehen? Und darüber scheint es Meinungsverschiedenheiten zu geben. Alles hängt anscheinend davon ab, ob wir Dingtons oder Wots sind.« »Ob wir was sind?« »Ob wir Dingtons oder Wots sind.« »Oder was –?« »Verstehst du denn nicht? Die wollen wissen, ob du ein Dington bist oder ob du ein Wot bist.« »Oh, jetzt verstehe ich. Nun, was sind die denn?« »Das versuche ich gerade herauszufinden.« Freda wandte sich wieder den Eingeborenen zu und nahm ihr Gespräch wieder auf. Hal fuhr sich durchs Haar und kratzte sich nachdenklich den Kopf. Soweit man sehen konnte, schienen diese grauen Kreaturen ihnen kein Leid zufügen zu wollen. Sie schienen ziemlich ruhig und nicht leicht erregbar,
andererseits trugen sie Waffen, und ihre erste Handlung war es gewesen, ihm und seinen Leuten die Waffen wegzunehmen. Im Augenblick schienen sie keine Lust zu verspüren, irgend etwas zu unternehmen. Die ganze Aufmerksamkeit galt Freda und dem Gespräch, das sie führte. Und das war das Verrückteste seit ihrer Landung. »Da soll doch der Teufel dreinfahren«, murmelte Hal, »mir ist das einfach zu viel. Da fliegen wir vierzig Millionen Kilometer weit durch den Weltraum – oder noch mehr – und was passiert? Die ersten Bewohner, die wir auf einem fremden Planeten sehen, sprechen uns in Englisch an. Verdammt nochmal, irgend etwas stimmt hier doch nicht.« Er wandte sich dem Anführer ihrer Bewacher zu, um zu versuchen, diese Frage aufzuklären, und hörte genau zu, als das Geschöpf versuchte, auf seine Frage zu antworten. Trotz der ungewöhnlich hohen Tonlage und der harten Stimme konnte er einen fremden Akzent und einige kleine Unterschiede feststellen. Man begriff seine Frage nicht. Offenbar vermittelte das Wort Englisch dem anderen keine Bedeutung, obwohl er die Sprache selbst sprach. Hal versuchte es anders herum. Er deutete auf seine Kollegen. »Wir sind Menschen – was seid ihr?« »Gorlaks«, erwiderte der Eingeborene prompt und fügte dann hinzu: »Seid ihr Dingtons oder Wots?« »Oh, verdammt«, sagte Hal. Temberly hatte von Anfang an die Gorlaks scharf beobachtet. »Schau«, sagte er und deutete auf die haarige graue Gestalt, auf die Freda einredete. Sie folgten seinem Blick.
Aus einer Tasche an der Vorderseite des Wesens blickte der puppenartige Kopf eines Miniaturgorlak heraus, dessen helle kleine Augen ihre Bewegungen interessiert verfolgten. »Oh, ist das nicht süß?« sagte Vida und ging auf die Mutter und ihr Baby zu. »Beuteltiere«, bemerkte Temberly, halb zu sich selbst gewandt. Den scharfen Ohren des Anführers der Gorlaks schien das nicht zu entgehen. Er schüttelte den Kopf. »Monotrene«, verbesserte er stolz. Temberly blickte überrascht auf und nickte dann nachdenklich. »Ich weiß, was ein Beuteltier ist, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich je zuvor wissentlich einem Monotren begegnet bin. Was ist das?« fragte Heerdahl. »Die nächste Stufe nach den Reptilien, das heißt, es hat warmes Blut und ein Haarkleid, aber es legt trotzdem noch Eier und trägt sie in einem Beutel, um sie auszubrüten.« »Das scheint mir ein ziemlich praktisches System zu sein.« »Das könnte man meinen, aber aus irgendeinem Grunde haben die Monotrene auf der Erde nie sonderliche Fortschritte gemacht. Es kam das Säugetierstadium, und da blieben nur sehr wenige von dieser Gattung übrig. Hier scheinen sie eine hohe Intelligenz entwickelt zu haben.« Er wandte sich wieder dem Gorlak zu. »Gibt es viele Arten von Monotrenen?« »Fünf.« »Und Säugetiere, gibt es die hier auch?«
»Nur Dingtons und Wots.« »Oh, verdammt, kann denn das keiner hier klären?« stöhnte Heerdahl. »Jetzt hör mal zu –« begann Hal, kam aber nicht weiter. Ein klagendes Geräusch drang plötzlich vom Wald zu ihnen herüber. Die Gorlaks zuckten zusammen. »Dington«, sagte der Anführer der Gorlaks. Er zog eine seltsam geformte Pfeife hervor und blies darauf, was denselben klagenden Ton erzeugte. In wenigen Sekunden kam eine Antwort, worauf der Gorlak erneut blies. »Nun, es scheint, wir werden jetzt herauskriegen, was ein Dington ist«, sagte Hal und blickte erwartungsvoll mit den anderen zum Wald hinüber. Wieder war der Ton zu hören. Es war offenkundig, daß das Wesen, das ihn hervorbrachte, sich näherte, denn das Geräusch war jetzt viel lauter. Einen Augenblick schnatterten die Gorlaks miteinander so schnell, daß man ihnen nicht folgen konnte. »Großer Gott, es ist ein Vogel – da schau, über den Bäumen!« rief Crawshaw. Etwas mit großen, langsam flatternden Flügeln kam aus dem Nebel heran. »Es fliegt ziemlich niedrig – gerade über – Herrgott das ist kein Vogel, das ist eine Maschine«, stöhnte Hal. »Ein Ornithopter, oder der Teufel soll mich holen.« Sie starrten alle das sich langsam nähernde Flugzeug an. »Es sinkt zu schnell. Das wird gegen diese Bäume prallen oder – da, jetzt ist es verbogen.«
Die Flugmaschine hatte mit den äußersten Flügelspitzen die buschigen Wipfel der weißen Bäume berührt, und das ganze Gebilde ruckte nach vorn. Einen Augenblick schlug es wild mit den Schwingen, ehe es auf dem Rücken zwischen den Büschen liegenblieb. Schrille Schreckensrufe erhoben sich von den Gorlaks, und dann rannten alle gleichzeitig auf das abgestürzte Flugzeug zu und überließen ihre Gefangenen sich selbst. »Nun, da sollten wir ihnen besser nachlaufen, nachdem die ja alle unsere Waffen haben«, meinte Hal. Mit dem Vorteil, den ihre längeren Beine ihnen boten, fiel es ihnen leicht, die Gorlaks zu überholen, und so kamen sie als erste bei dem Wrack an. Irgendwo in dem Durcheinander zerbrochener Schwingen und abgeknickter Büsche bewegte sich etwas. Offenbar hatte es sie herankommen hören. »Hallo, helft mir aus diesem verdammten Ding raus, ja?« rief eine unverkennbar menschliche Stimme. Als sie den Flieger aus dem Wrack seiner Maschine hervorgeholt hatten, erwies er sich als ein hochgewachsener, gut gebauter Mann. Eine Mähne blonden Haares über einem Gesicht, das auf der Erde bemerkenswert bleich erschienen wäre, aber alle hatten sich schon so an das Grauweiß der Venus gewöhnt, daß sie sich damit abfanden. Seine Augen funkelten vergnügt als er von einem zum andern blickte, und als er zu reden begann, verzog sich sein Mund in einem Lächeln. »Hat lange gedauert«, sagte er, »aber ihr seid willkommen.«
Auf diese Bemerkung schien keine Antwort zu passen, und so verharrten sie in überraschtem Schweigen. Das schien den Mann noch mehr zu amüsieren. Er wandte sich dem Anführer der Gorlaks zu. »Arrul, hol' uns etwas zu essen.« Einige der Gorlaks rannten herum und begannen, ein paar Pflanzen aus dem Boden zu ziehen. Sie legten die rübenartigen Wurzeln auf den Boden, und der Flieger hob eine auf und bot sie Vida an und gab den anderen zu verstehen, daß sie sich selbst bedienen sollten. »Die schmecken ganz gut, wenn sie auch nicht sehr würzig sind«, meinte er. »Alles läßt sich viel leichter erklären, wenn man sich erst einmal gestärkt hat, und ich habe seit dem Morgen keinen Bissen mehr zu mir genommen.« Die anderen griffen nach den Rüben. Der Geschmack war schwach, aber nicht schlecht, jedenfalls stillten die Gewächse den Hunger.
7 Den vier an Bord der Nazia verbliebenen Expeditionsteilnehmern schien die Zeit sehr langsam zu verstreichen. Sie hatten dem Rest der Mannschaft mit gemischten Gefühlen nachgeblickt, als sie im Wald verschwunden waren. Lucy war beunruhigt. Sie hatte erschreckt Temberlys Mißgeschick mit der fremdartigen venusischen Blume mit angesehen und, wenn es auch nur Anlaß gegeben hatte, über ihn zu lachen, so schien es ihr doch mehr als ein heiterer Zwischenfall, eher ein Hinweis auf geheimnisvolle Gefahren.
Deshalb war sie recht beunruhigt, als sie sah, wie der Wald sie verschlang. Ob diese Unruhe in der Angst wurzelte, die sie um die Gefährten empfand, insbesondere um Temberly, oder in dem Gefühl, daß die vier in der Nazia jetzt an diesem fremden Ort ihrem Schicksal ausgeliefert waren, konnte sie nicht sagen. Sie wandte sich zu Smith, der neben ihr stand. »Es wäre besser gewesen, wenn sie Heerdahl bei uns gelassen hätten. Wenn sie jetzt lange wegbleiben oder irgendwie Schwierigkeiten bekommen, können wir nicht starten, um nach ihnen Ausschau zu halten.« Smith nickte. Er war auch beunruhigt. »Ja, wir hätten einen Reservepiloten haben müssen – obwohl MacKay das Schiff wahrscheinlich im Notfall in Bewegung setzen könnte.« Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie damit, die Kabinen an Bord der Nazia sauberzumachen, während Lucy im Proviantlager aufräumte. Dann rief Smiths Stimme sie an die Sichtluke. »He«, rief er erregt, »kommt und schaut hinaus!« MacKay und Freeman drängten sich um die Luken. »Was ist denn?« Anstelle einer Antwort deutete Smith stumm zum Waldrand. Die Stelle, auf die er zeigte, war weiter entfernt als jene, an der die anderen verschwunden waren, und demzufolge nur undeutlich zu erkennen. Durch den Nebel konnten sie undeutlich eine weiße Gestalt ausmachen, die sich ihnen näherte – ohne Zweifel eine zweibeinige. Keiner sagte etwas, während die Gestalt näherkam. Schließlich war sie so nahe, daß man deutlich erkennen konnte, daß es ein Mensch war. Er blieb eine
Weile stehen und beobachtete das Schiff interessiert. Offenbar hatte er die Beobachter hinter den Luken noch nicht gesehen, so daß sie Gelegenheit hatten, ihn gründlich zu mustern. Soweit zu erkennen war, war er knapp einen Meter achtzig groß. Sein Kopf war von dichtem schwarzem Haar bedeckt, das ihm bis auf die Schultern fiel. Ein ungepflegter Bart bedeckte seine Brust. Das einzige Kleidungsstück war ein kurzer kiltähnlicher Rock aus gewobenem weißem Tuch und ein breiter Gurt, der ihn festhielt. Am Gürtel hingen ein paar kleine Taschen, außerdem waren daran Haken zu sehen, an denen irgendwelche Gerätschaften hingen. Unter einem Arm trug er etwas, das unzweifelhaft ein Gewehr war. Die vier sahen einander überrascht an. Sie hatten mit vielem gerechnet, aber nicht, hier einem Menschen gegenüberzutreten. Die Gestalt entfernte sich aus ihrem Gesichtsfeld, ohne das Schiff aus den Augen zu lassen. »Jetzt geht er herum und sieht sich die Steuerbordseite an«, verkündete MacKay. »Ist die Schleuse verschlossen?« fragte Smith nervös. Freeman ging hinüber, um dem Besucher entgegenzutreten oder die Schleuse zu schließen, sollte das notwendig erscheinen, während die anderen an die Steuerbordluken traten, um die Szene zu beobachten. Das Ergebnis war enttäuschend. Der Fremde riß den Mund auf, drehte sich plötzlich um und rannte wie ein Hase davon und in Deckung. »Seltsam«, bemerkte Lucy. »Habt ihr bemerkt, daß er kalkweiß war, wie alles andere hier?«
Freeman kam zurück. »Ich schätze, mein Gesicht hat ihm nicht gefallen. Hat nicht lange gebraucht, sich zu entscheiden. Was ist geschehen?« »Er rannte um den Bug herum auf den Wald zu«, erwiderte MacKay. »Ich nehme an, du hast die Schleuse dichtgemacht?« fragte Smith. Freeman sah ihn an. »Natürlich, obwohl das kaum nötig erscheint, wenn die Eingeborenen so verstört wie Mäuse sind. Wovor hast du denn Angst?« Smith zuckte die Achseln. »Ich – ich weiß nicht. Ich schätze, das alles hier macht mich unruhig. Es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn etwas passierte, ich mag es bloß nicht, wenn ich nicht weiß, was auf uns zukommt.« Er schien sich zu schämen, aber sein Gesicht hellte sich auf, als Lucy ihm zu Hilfe kam. »Ich kann mir schon vorstellen, wie du dich fühlst. Mir geht das ja genauso«, sagte sie. Die beiden Ingenieure nahmen wieder ihre unterbrochene Arbeit auf, und Lucy ging ins Proviantlager, während Smith an der Luke Wache hielt, für den Fall, daß der Eingeborene noch einmal auftauchen sollte. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis er die anderen wieder rief. »Er kommt zurück. Er scheint zu winken oder so etwas.« »Ja, er winkt«, nickte MacKay. »Warum er es sich nur so plötzlich anders überlegt hat – vorher war er doch nicht auf eine Begegnung mit uns erpicht?« »Nun, schließlich muß man damit rechnen, daß ein
Wilder zuerst Angst hat«, meinte Lucy. »So sehr wie ein Wilder wirkt er doch nicht. Das Gewehr sah ganz brauchbar aus.« MacKay sah Freeman fragend an. »Nun, was ist?« »Ja, schon gut«, nickte Freeman. »Wir nehmen einfach Pistolen – und ihr beiden gebt uns mit Raketenkarabinern Feuerschutz«, wies er Lucy und Smith an. Die beiden Männer gingen Seite an Seite auf den Fremden zu. Sie winkten ihm, näherzutreten, aber er schien den Platz vorzuziehen, wo er stand. Sie hatten etwa die halbe Distanz vom Schiff zurückgelegt, als der Mann sich in das Blattwerk zurückzog. »Was zum –?« begann MacKay, aber seine Frage wurde beantwortet, ehe er sie zu Ende sprechen konnte. Der scharfe Knall einer Explosion drang zu ihnen. Freeman sank zu Boden. Im Bruchteil einer Sekunde darauf warf sich MacKay zu Boden. Die Schnelligkeit, mit der er Dekkung suchte, ließ auf ein abenteuerliches Leben schließen. »Knallt ihn ab«, murmelte er, aber seine Worte wurden von den Schüssen der beiden auf der Nazia übertönt. Die beiden Raketengeschosse explodierten zwischen den Bäumen. Damit wäre das erledigt, dachte MacKay, ließ sich aber auf kein Risiko ein. Er schnallte sein leeres Pistolenhalfter ab und hob es hoch. Eine Kugel durchbohrte es. Wieder hallten vom Schiff zwei Schüsse herüber. MacKay kroch zu Freeman hinüber und untersuchte die Wunde. Die Kugel hatte ihn nur leicht am
Kopf gestreift, ihn dabei zwar zu Boden geworfen, aber es gab nur eine schwache Blutung. Der Schaden den er davongetragen hatte, würde sich wahrscheinlich auf Kopfschmerzen beschränken. Er packte den anderen am Bein, fing an zurückzukriechen und zerrte ihn hinter sich her. Immer noch pfiffen vom Wald her Kugeln über seinen Kopf, während die peitschenden Schüsse vom Schiff darauf hindeuteten, daß Lucy und Smith das Feuer erwiderten. Langsam wurde das Feuer der Wilden schwächer, aber MacKay riskierte nichts. Er blieb in Deckung, bis er den Punkt erreicht hatte, wo er aufstehen mußte, um an Bord der Nazia zu klettern. »Gebt ihnen Saures, damit ich 'rauf kann!« rief er den beiden im Schiff zu. Im Feuerschutz der Raketengeschosse stand er auf, legte sich Freeman über die Schultern, schob den anderen durch die Schleuse und kletterte hinterher. Die Tür schloß sich klatschend, als Smith den Schalter betätigte. Lucy stellte ihren Karabiner weg und suchte Wasser und Verbandsmaterial, während MacKay sich in nicht wiederzugebender Form über die venusischen Eingeborenen und ihre Vorfahren ausließ. »Nun, dem Himmel sei Dank, daß die ... Narren wenigstens zu blöd waren, abzuwarten, bis wir näher herangekommen waren«, schloß er. Unter Lucys geschickten Händen kam Freeman bald zu sich. Er hob eine Hand an den Kopf und stieß ein paar Flüche aus, die denen MacKays in nichts nachstanden, und meinte dann: »Habt ihr ihn erwischt?« »Ihn?« wiederholte Smith. »Da müssen ein paar
Dutzend von diesen Teufeln dagewesen sein. Die Stelle, wo der eine Bursche verschwand, haben wir unter Feuer genommen. Aber jetzt geht das wieder los. Hört doch.« Durch die dicke Außenhaut der Nazia war ein andauerndes Pochen zu hören. »Kugeln.« MacKay lächelte. »Sollen die doch ihre Munition verschießen. Genauso gut könnten sie mit Erbsen nach uns werfen.« Smith trat an eine der Luken und sagte über die Schulter: »Sie kommen näher. Ein ganzer Ring von ihnen schließt sich um uns. Einige hundert, möchte ich annehmen.« »Wahrscheinlich glauben die, daß sie jetzt außer Gefahr sind, nachdem wir den Eingang dichtgemacht haben«, knurrte MacKay. »Was mich ärgert ist, daß sie sogar recht haben – unsere Sichtluken sind nicht so konstruiert, daß man sie öffnen kann, und wir können bloß dasitzen wie Sardinen in der Dose.« Freeman, der sich inzwischen recht gut erholt hatte, blickte auf und grinste. »Wir können ihnen ja einen Schock verpassen, wenn sie näherkommen.« Er stand auf, hielt sich an einem Sessel fest und taumelte dann nach vorn in Richtung auf die Steuerkanzel. »Was hat er denn vor?« fragte Smith. MacKay lachte breit. »Kommt doch und seht«, erwiderte er und winkte sie an die Luke. In diesem Augenblick klatschte ein wahrer Kugel-
hagel gegen die Scheiben. Lucy zuckte unwillkürlich zurück. »Schon gut«, meinte MacKay. »Das Zeug ist ebenso fest wie sechszölliger Stahl.« Die Fremden drängten sich jetzt dich um das Schiff. Sie konnten sehen, wie die Münder der bleichen Männer sich öffneten und schlossen und wußten, daß sie ihnen Schmähungen zuriefen, während sie mit ihren Waffen herumfuchtelten. Einige trommelten sogar mit den Gewehrkolben gegen die Schiffswand, obwohl drinnen nichts zu hören war, wenn man vom gelegentlichen Aufklatschen einer Kugel absah. »Jetzt paßt auf«, sagte MacKay. Das Schiff zitterte leicht, als ein Poltern zu hören war. Plötzlich schossen aus Bug und Heck Flammenzungen, und auch die Seitendüsen feuerten. Der Ring der Wilden löste sich auf, und alle rannten davon, bis sie einen respektvollen Abstand erreicht hatten. »Freeman hat die Raketen eingeschaltet. Zuerst den Hauptantrieb und die Bremsdüsen und dann auch die Steuerraketen«, erklärte MacKay. »Wahrscheinlich war er sauer auf sie wegen dem Streifschuß, den er abbekommen hat.« »Und jetzt?« fragte Lucy. MacKay zuckte die Achseln. »Schachmatt. Jetzt warten wir, daß etwas passiert.« Die Reaktion der Feinde auf diese Situation war ähnlich. Einige trennten sich von den anderen, um Lebensmittel aus dem Wald zu holen, und dann machten es sich alle bequem – wenn auch in gebührendem Abstand, wo die Flammen aus den Brennern sie nicht erreichen konnten. Freeman kam zurück. Er blickte besorgt drein.
»Wir wollen nicht, daß die anderen mit dieser Bande zusammenstoßen, wenn sie zurückkommen. Kannst du sie nicht über Funk warnen, Smith?« »Ich habe es versucht. Aber kein Ton ist zu hören. Ich schätze, Hal hat sein Gerät eingepackt.« Ein paar Minuten später fiel Lucy ein ungewöhnliches Glitzern auf. Sie deutete zum Fenster: »Schaut. Da blitzt etwas zwischen den Bäumen.«
8 Der blonde junge Mann sah sich um. »Erlaubt mir«, sagte er, »mich vorzustellen – Knight Dington.« Hal stellte kurz seine Begleiter und sich selbst vor. »Dürfte ich jetzt um eine Erklärung bitten?« schlug er vor. »Nun, was würde Sie denn interessieren –« »Zum Beispiel wie es dazu kommt, daß Sie englisch sprechen und was all dieses Gerede über Dington und Wot bedeuten soll.« »Dann haben Sie es also nicht gewußt?« »Was nicht gewußt?« »Nun, daß wir hier waren.« »Hören Sie, ich schlage vor, wir fangen noch einmal von vorn an«, unterbrach Crawshaw. »Wie kommt es, daß Sie und diese – äh – Gorlaks – englisch sprechen?« »Weil Englisch, abgesehen von der seltsamen Sprache der Gorlaks, die einzige Sprache ist, die man auf der Venus kennt«, erwiderte Knight grinsend. »Aber ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich nehme
an, Sie haben von Noah Watsons Arche gehört?« »Sie wollen sagen, daß die Arche wirklich –?« »Ja. Trotz all des Spottes, den sie damals auslöste. Sie hat die Erde verlassen und ist auf der Venus gelandet.« »Dann sind Sie –?« »Ich werde versuchen, es kurz zu machen. In der Arche waren, wie Sie vermutlich wissen, etwa hundertzwanzig Personen. Es war ein großes Raumschiff. Noah Watson und Henry Headington waren zwei Männer, deren Prinzipien in krassem Gegensatz zueinander standen. Sie waren sich eigentlich über nur eine Sache einig, nämlich, daß die Zerstörung der Erde unmittelbar bevorstand – und in dem Punkt hatten beide völlig unrecht. Headington fand bald heraus, daß er sich geirrt hatte, aber Watson wollte bis zum Ende nie zugeben, daß seine Prophezeiung falsch gewesen war. Headington blickte aus dem Weltraum auf die Welt zurück, von der er sich selbst verbannt hatte, und fluchte, weil es keine Umkehr gab. Und von diesem Augenblick an begann er Watson zu hassen. Und Watson, immer noch felsenfest davon überzeugt, daß die Erde jetzt leer und unfruchtbar war, brachte die Abneigung zutage, die er immer schon für Headingtons Art zu leben empfunden, bislang aber unterdrückt hatte. Als sie die Venus erreichten, war es ganz klar, daß sie nie beim Aufbau einer neuen Zivilisation zusammenarbeiten würden. Sie trennten sich im gleichen Augenblick, in dem sie das Schiff verlassen konnten, und sahen einander nie wieder. Die Arche landete sehr unsanft. Nur zweiundsieb-
zig der Passagiere überlebten. Davon folgten dreißig Headington, während die anderen vierzig sich Watson anschlossen. Die beiden Gruppen machten sich mit Feindschaft im Herzen in entgegengesetzten Richtungen auf den Weg und gründeten kleine Gemeinschaften, die ihren völlig unterschiedlichen Vorstellungen entsprachen. All dies fand, wie Sie wissen, vor beinahe achthundert Erdjahren statt, etwa 1298 Venusjahre – genügend Zeit, Nationen aufzubauen, insbesondere in einer Welt, wo einem die Nahrung praktisch in den Mund wächst. Unsere Archive berichten uns, daß im Laufe der Zeit verschiedene Änderungen eintraten. Unsere Haut hat ihre Pigmentierung verloren und unser Brustumfang ist etwas kleiner geworden, da die Lungenkapazität nicht so groß zu sein braucht. Unsere Muskelstärke andererseits ist praktisch gleich geblieben, da die Anziehungskraft unseres Planeten nur wenig kleiner ist als die der Erde. Die Sprache hat nur einige unbedeutende Veränderungen in Ausdrücken des täglichen Gebrauchs durchgemacht, und das gilt insbesondere für die Begriffe, die wir prägen mußten, um spezielle Eigenheiten der Venus zu beschreiben. Davon abgesehen glauben wir nicht, daß wir uns sehr verändert haben.« »Dann sind also Ihre Nationen –« begann Hal. »Sie sind nach ihren Gründern benannt. Headington schliff sich im Laufe der Zeit in der Umgangssprache zu Dington ab, ebenso wie aus Watson Wot wurde. Ich selbst bin ein unmittelbarer Nachkomme des ursprünglichen Henry Headington, aber mein
Familienname ist ebenfalls Dington geworden. Was Arrul und die anderen Gorlaks am meisten beunruhigte, als sie Sie fanden, war Ihre Hautfarbe. Obwohl die Tatsache, daß Sie völlig bekleidet sind, darauf hinwies, daß Sie Dingtons sein mußten, waren Sie weder normale Dingtons noch sahen Sie wie Wots aus. Für Wots können die Sie aber nie gehalten haben, sonst wären Sie jetzt schon nicht mehr am Leben.« Knight musterte wieder ihre Gesichter und lächelte. »Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »aber es ist kein Wunder, daß die armen Gorlaks verstört waren. Wissen Sie, farbige Gesichter sind hier nämlich völlig unbekannt, abgesehen von gewissen modischen Diktaten, denen sich unsere Frauen beugen.« Vida sah den jungen Mann erstaunt an. »Sie schienen aber nicht sehr überrascht, uns zu sehen«, bemerkte sie. »Ich habe Sie gesucht.« »Aber wie haben Sie denn gewußt –?« »Es war doch selbstverständlich, daß eines Tages ein Schiff von der Erde kommen würde. Das Geheimnis der Weltraumfahrt war schon einmal gelöst worden, es stand also fest, daß man es eines Tages aufs neue entdecken würde. Was uns am meisten überrascht ist, daß es so lange gedauert hat, bis Sie kamen. Der alte Henry Headington blickte vom ersten Tage an zu den Wolken auf, die die Sterne verbargen und die Erde, die er so liebte, und sagte, daß Sie eines Tages kommen und ihn befreien würden. Aber die Monate zogen sich hin, wurden Jahre, und die Jahre Jahrhunderte, und so haben wir achthundert Jahre beobachtet und gewartet, wenn auch nicht
länger aus dem Wunsche heraus, befreit zu werden.« Vida empfand tiefes Bedauern für den armen alten Mann in ferner Vergangenheit und vergegenwärtigte sich ihn, wie er zu den wogenden Wolken aufblickte, nach der Hilfe Ausschau hielt, die nie kam. Und Knights Stimme fuhr fort: »Letzte Nacht hörten wir das Dröhnen der Raketen und sahen den roten Schein am Himmel. In allen Städten rannten die Menschen auf die Straße und schrien. Jeder wußte, daß der Glaube des alten Mannes endlich seine Erfüllung bringen würde. Aber Sie flogen über uns hinweg, hinein ins Land Wot. Und als es hell wurde – als Sie uns überflogen, dämmerte gerade der Abend – schickten wir Kundschaften aus, um Sie zu suchen.« Sie waren während der letzten Sätze aufgestanden und schickten sich an zu gehen. »Können wir unmittelbar zu Ihrem Schiff gehen?« wollte Knight wissen. Hal nickte und holte ein kleines Instrument, an dem sich eine Nadel drehte, aus der Tasche. Der Dington musterte es neugierig. »Davon habe ich gehört. Ein Kompaß, nicht wahr? Ich fürchte, der wird uns hier nicht viel nützen.« »Nein«, sagte Hal. »Ich habe einen Kompaß ausprobiert ehe wir das Schiff verließen, und festgestellt, daß er nicht funktioniert. Das kleine Gerät hier ist auf das Schiff selbst abgestimmt.« Die Nadel hatte inzwischen ausgependelt. Sie wandten dem See den Rücken und drangen in den Wald ein. Knight blieb einen Augenblick zurück und zündete die zerfetzten Überreste seines Ornithopters an. Als die Maschine in Flammen aufging, rannte er
hinter den anderen her. »Ich will nicht, daß die Wots sie bekommen«, erklärte er. Sie hatten weniger als zwei Meilen zurückgelegt, als vor ihnen aus der Ferne Explosionen zu ihnen drangen. »Raketengeschosse«, sagte Crawshaw. »Karabiner, würde ich annehmen.« »Was ist das?« wollte Knight wissen. Hal erklärte in kurzen Worten die Wirkungsweise der selbstangetriebenen Explosivgeschosse. »Davon habe ich nie gehört«, meinte Knight. »Dann müssen das unsere Leute sein. Beeilen wir uns.« Kurz darauf war ein kurzer röhrender Feuerstoß aus den Antriebsraketen der Nazia zu hören. »Was in aller Welt –? Nun, jedenfalls können sie nicht gestartet sein«, fügte Hal hinzu, nachdem er vergeblich auf eine Wiederholung der Geräusche gewartet hatte. Eine halbe Stunde darauf erreichten sie plötzlich den Rand der Lichtung. Knight stieß einen Ruf aus und bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, stehenzubleiben. »Sehen Sie sich das an«, sagte er. Sie starrten die halbnackten, ungepflegten Menschen an, die die Nazia umgaben. »Wots«, beantwortete Knight ihre unausgesprochene Frage. »Jetzt wird es schwierig.« »Das müssen ja Hunderte sein. So viele können wir nicht angreifen. Wie sind sie bewaffnet?« »Karabiner – die tragen immer Karabiner. Obwohl ihr Motto lautet: Was natürlich ist, ist auch rechtens, machen sie bezüglich ihrer Gewehre leider eine Ausnahme – und außerdem verstehen sie ziemlich gut
damit umzugehen.« »Aber wir wollen ihnen doch gar nichts antun«, wandte Vida ein. »Das ist schon richtig, aber Sie verstehen diese Leute nicht; das sind Fanatiker – gefährliche Fanatiker. Wenn die Sie in die Hände bekämen –« Bill Crawshaw ließ ihn nicht weiterreden. Offenbar juckte es ihn in den Fingern. »Jetzt ist nicht die Zeit für große Vorträge. Was werden wir unternehmen?« »Am besten ist, Sie sagen Ihren Leuten, daß sie sich ruhig verhalten und nichts unternehmen sollen, falls Sie die Möglichkeit haben, eine Nachricht an sie durchzubringen«, riet Knight. Hal nahm dem Gorlak das Funkgerät weg. Alle warteten, während er versuchte, eine Verbindung herzustellen. »Geht nicht. Ich bekomme keine Verbindung, obwohl sie die Antenne ausgefahren haben.« Er überlegte eine Weile. »Ich nehme an, hier hat keiner eine Lampe?« »Doch, ich«, sagte Heerdahl, von dem man es am wenigsten erwartet hatte. »Gut, da haben wir Glück. Ein Heliograph taugt in diesem diffusen Licht nichts. Smith kann morsen, er hat sich früher viel mit Telegraphie beschäftigt.« Er schob die Lampe in die Tasche und ging auf einen der weißen Bäume zu. »Steigen Sie nicht höher als etwa drei Meter. Die halten nicht viel aus«, riet Knight. Es dauerte eine Weile, bis Antwort kam, aber dann blitzte es hinter der Luke der Nazia auf. »Alles in Ordnung?« blitzte Hal.
»Alles okay.« »Diese Burschen sind wirklich gefährlich.« »Das haben wir schon bemerkt.« »Dann bleibt, wo ihr seid. Macht die Schleuse nicht auf, bis wir die Angreifer vertrieben haben. Wir holen jetzt Hilfe.« »Okay.« Entweder hatten die Wots den Austausch der Botschaften nicht beobachtet oder – und das war wahrscheinlicher – sie waren gar nicht auf die Idee gekommen, daß das Blitzen hinter den Schiffsluken einen Sinn gehabt hatte. Hal stieg vom Baum und reichte Heerdahl seine Lampe zurück. »Was jetzt?« fragte er Knight. »Wir müssen Chicago anrufen, damit die sich darum kümmern.« »Wie bitte?« Knight grinste. »Ich kann mir schon vorstellen, daß das in Ihren Ohren etwas komisch klingt. Wissen Sie, der alte Headington kam von einem Ort dieses Namens auf der Erde, also beschloß er, unsere Hauptstadt um der alten Zeiten willen danach zu benennen – für ihn klang das anheimelnd.« »Gehen Sie voraus. Jetzt, wo ich weiß, daß die anderen in Sicherheit sind, bin ich sehr gespannt, wie Chicago hier aussieht.«
9 Temberly zupfte an Hals Arm. Sein Gesicht war vor Angst weiß, und seine Augen blickten verstört.
»Bist du auch ganz sicher, daß denen nichts fehlt, Hal? Ich meine, Lucy ist doch in der Nazia, und wenn ihr etwas zustieße –« Er führte den Satz nicht zu Ende. »Da ist alles in Ordnung, Alter. Die sind dort ebenso sicher wie an jedem anderen Ort im Universum. Ich möchte wetten, daß selbst ein Raketengeschoß der Nazia höchstens eine Beule zufügen könnte.« »Ja natürlich«, sagte Temberly. »Das habe ich mir auch gedacht. Es ist nur – nun, du weißt schon.« »Ich weiß.« Und Crawshaw flüsterte heiser: »Freda, komm um Himmels willen zurück. Wir gehen jetzt.« Freda, die sich bis an den Rand der Lichtung vorgeschlichen hatte, ließ die Kamera sinken, seufzte und kam zu ihnen zurückgekrochen. »Ein Glück, daß ich ein Teleobjektiv mitgenommen habe – es ist ziemlich weit bis dort hinüber, und das Licht ist scheußlich. Trotzdem glaube ich, daß die Aufnahme geglückt ist«, sagte sie ruhig und klopfte auf ihre Kamera. »Du machst mich noch wahnsinnig«, sagte Crawshaw. »Du kleines Biest, wie oft habe ich dir schon gesagt –?« »Aber Bill, tu' doch nicht so. Du weißt ganz genau, daß ich mir keine Befehle geben –« »Kommen Sie jetzt«, sagte Knight. »Je schneller wir hier verschwinden, desto besser. Hier ist es gefährlich. Arrul läßt fünf seiner Gorlaks zurück, um aufzupassen. Er und die übrigen kommen mit uns. Er hat Anweisung gegeben, daß einer seiner Leute uns folgt und Bescheid sagt, falls sich hier irgend etwas rühren sollte.«
Die Kolonne setzte sich in Bewegung, während die Gorlaks, die an Ort und Stelle bleiben sollten, sich zwischen den Büschen verteilten. Sie schienen beinahe völlig zu verschwinden, so sehr glich ihre Farbe der ihrer Umgebung. Knight führte sie schweigend durch die monotone Waldlandschaft und schritt dabei so schnell und sicher aus, daß Hal darüber staunte. Schließlich fragte er, woher der andere die Richtung wisse. Knight schien überrascht. »Das ist eigenartig. Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich weiß einfach, in welcher Richtung Chicago liegt – das ist alles.« »Aber wie?« »Das ist Instinkt. Sie verwenden auf der Erde einen Kompaß, aber da Kompässe hier nicht funktionieren, haben wir vermutlich in unserem Unterbewußtsein einen besonders ausgeprägten Richtungssinn entwikkelt. Aber selbst wenn ich den falschen Weg gehen würde, würde Arrul uns das sagen. Gorlaks scheinen immer zu wissen, wo sie sind.« Während sie weiterstapften, stellte Hal eine Frage, die ein bisher ungeklärtes Thema betraf. »Wir hatten erwartet, diese Welt voll primitiver Ungeheuer vorzufinden. Bis jetzt haben wir erst eines gehört und eine Anzahl kleiner, etwa kaninchengroßer Geschöpfe gesehen. Gibt es hier denn keine großen Reptilien?« »Nach allem, was unsere Vorfahren uns überliefert haben, gab es viele, aber sie sind entweder von uns oder den Wots ausgerottet worden. Wissen Sie, man kann in achthundert Jahren mit Gewehren eine ganze Menge ausrichten. Landreptilien, ich meine damit
große Landreptilien, sind jetzt selten, aber es gibt noch eine ganze Anzahl höchst eigenartiger Biester in den Meeren und Flüssen. Das war eines unserer größten Handicaps. Wir vermuten, daß es außer dem Kontinent, den wir kennen, noch weitere Landflächen gibt, aber wir können das nicht überprüfen.« »Aber in all dieser Zeit haben Sie doch ganz bestimmt –« »Denken Sie doch an unsere Lebensumstände. Bis jetzt hat noch niemand ein Schiff gebaut, das den größeren Meerungeheuern Widerstand leisten könnte. Und wenn man ein solches Schiff erbaute, käme als nächstes das Treibstoffproblem. Die Kohle, die uns zur Verfügung steht, ist geologisch gesprochen sehr jungen Datums und außerdem ziemlich armselig. Es heißt immer, Sie hätten auf der Erde Hartholz, welches gut brennt, aber unsere Vegetation hier ist weich und enthält einen hohen Prozentsatz an Wasser. Einige von uns haben nach brennbarem Öl gebohrt, aber wir haben keines gefunden. Und auf den Wind kann man sich hier nicht verlassen, denn er ist meist so schwach, daß man ihn kaum verspürt. Wir haben eine kompakte Batterie für unsere Flugzeuge und auch für andere Zwecke entwickelt, aber die würde uns für größere Seereisen nichts nützen. Außerdem gibt es selbst auf diesem Kontinent einige Gegenden, wo Flugzeuge von Pteranodons angegriffen werden, die beinahe so groß wie die Flugzeuge selbst sind – selbst der Pterodactylus, der vergleichsweise klein ist, könnte ein Flugzeug zertrümmern, wenn er damit zusammenstieße.« »Was für ein freundlicher Planet«, bemerkte Heerdahl, der sich ihnen angeschlossen hatte. »Aber was
ich nicht verstehe ist, weshalb Sie Ornithopter benutzen – wir konnten auf der Erde nie etwas damit anfangen.« »Oh, das läßt sich leicht erklären. Es gibt hier praktisch kein flaches Land, das man für Start oder Landung verwenden könnte. Und wenn es solche Flächen gibt, so können wir sie nicht frei von Vegetation halten. Es sieht immer wieder so wie hier aus, wenn man es auch nur ein paar Tage nicht rodet.« Knight stieß mit dem Fuß nach einigen ineinander verschlungenen weißen Gewächsen. »Das Wasser kommt für Flugzeuge ebensowenig wie für Schiffe in Frage. Damit war jede Idee eines von Propellern angetriebenen Flugzeugs zum Scheitern verurteilt. Und unsere Chemiker waren bis jetzt nicht imstande, Treibstoffe von der Art herzustellen, wie sie die Arche angetrieben haben. Die einzigen, die die Zusammensetzung kannten, starben bei der Landung des Schiffes. Damit scheiden Raketen aus. Es blieb uns also nur etwas zu entwickeln, das unter den hier herrschenden Lebensbedingungen funktionierte.« »Aber der Auftrieb?« »Sie dürfen nicht vergessen, wie dicht unsere Atmosphäre ist und welche Fortschritte man in einer technischen Entwicklungsarbeit machen kann, wenn man sich wirklich darauf konzentriert.« Heerdahl nickte. »Ich würde gern einmal eine dieser Maschinen untersuchen.« »Dazu werden Sie bald Gelegenheit bekommen.« Vida hatte, seit sie die Lichtung verlassen hatten, eine besorgte Miene zur Schau getragen. Jetzt fragte sie, nachdem sie sich schnell überzeugt hatte, daß
keiner der Gorlaks in Hörweite war: »Sind Sie auch sicher, daß es richtig war, die Gorlaks zurückzulassen?« »Richtig?« Knight sah sie überrascht an. »Ich meine, sind sie wirklich vertrauenswürdig? Es besteht keine Gefahr, daß sie die Wots davon unterrichten, daß wir hier sind?« Einen Augenblick schien Knight beinahe beleidigt zu sein, daß man die Loyalität der kleinen Eingeborenen in Zweifel zog. Dann erinnerte er sich daran, daß Vida das ja unmöglich wissen konnte. »Die Gorlaks sind unsere Freunde«, sagte er mit leichtem Tadel in der Stimme. »Die halten sich von den Wots fern. Wir haben ihnen sogar Karabiner gegeben, damit sie damit auf Wots schießen können.« »Sie haben ihnen Karabiner gegeben, damit sie gegen Menschen Ihrer eigenen Art schießen?« fragte Vida ungläubig. »Warum?« »Teilweise weil die Gorlaks für die Wots eine Delikatesse sind.« »Damit wollen Sie doch nicht etwa sagen –?« »Ja, die essen sie.« Vidas Augen weiteten sich überrascht und voll Schrecken. Instinktiv blickte sie sich nach der Gorlakmutter und dem kleinen pelzköpfigen Baby um, das die Welt aus so ernsthaften Augen musterte. Sie schauderte. »Nein«, sagte sie. Heerdahl mischte sich ein. »Aber die sind – die sind – großer Gott, Mann, das ist ja beinahe Kannibalismus.« »So sehen wir das auch«, nickte Knight. »Aber die Wots –« Ein schriller Schrei am Ende der kleinen Gruppe
unterbrach ihn und ließ alle stehenbleiben. Arrul kam heran und führte einen keuchenden Gorlak neben sich. »Was ist denn?« fragte Knight. Der Bote berichtete, daß etwa fünfzig Wots die Lichtung verlassen und in die Wälder gegangen wären. »Verfolgen die uns?« »Nein«, erklärte der Gorlak. Die Wots seien irgendwo links von ihnen, aber er habe es trotzdem für richtig gehalten, Meldung zu erstatten. »Schon gut«, nickte Knight. Er überlegte einen Augenblick. »Wahrscheinlich hat das nichts zu bedeuten, aber, Arrul, es schadet jedenfalls auch nichts, wenn du deine Leute ausschwärmen läßt, damit sie sich etwas umsehen. Gorlaks«, bemerkte er dann, als sie weitermarschierten, »sind wahre Künstler der Tarnung. Wenn sie nicht wollen, daß man sie entdeckt, kann man sie auch nicht sehen. Die werden schon erfahren, was hier los ist.« »Sie sprachen von den Wots«, erinnerte ihn Heerdahl. »Es ist schwer, das zu erklären, ohne einen Vortrag zu halten«, sagte Knight. »Wissen Sie, es liegen nämlich so viele Ursachen vor, die das aus ihnen gemacht haben, was sie heute sind. Zum ersten dürfen Sie nicht vergessen, daß die Wots von einem Fanatiker, beziehungsweise seinen Anhängern abstammen. Wahrscheinlich war Watson in seinen letzten Jahren völlig verrückt. Er hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das teilweise auf ein altes Werk zurückgeht, das er Bibel nannte, das im wesentlichen aber
aus seinen eigenen Anweisungen und Prophezeiungen besteht. Die Wots haben ihre ganze Lebensweise so auf ihm aufgebaut, daß im Laufe der Zeit die Lehre Watsons wichtiger für sie geworden ist als die anderen Teile des Buches. Einige unserer Wissenschaftler sagen, Watson sei für die Wots das, was Moses für die Israeliten gewesen sei – mir sagt das wenig, aber vielleicht bedeutet es für Sie etwas.« »Sie meinen, daß die ihn beinahe verehren?« »Einige der Wots gehen sogar noch weiter. Es gibt an vielen Orten Statuen und Schreine, die man ihm zu Ehren gebaut hat.« »Und ihre Einstellung gegenüber den Gorlaks?« wollte Vida wissen. »Es ist eine Folge von Watsons Lehre. Vielleicht hätte er ihr Verhalten gegenüber den Gorlaks nicht gebilligt, aber er schrieb, der Mensch sei das höchste Werk Gottes, sei das einzige Wesen, das eine Seele besitzt – und deshalb gehen die Wots davon aus, daß die Gorlaks Tiere sind, ebenso wie die Reptilien. Für die Wots ist das Hinschlachten der kleinen grauen Leute beinahe eine Ehrensache geworden – eine Art Verteidigung ihres eigenen Status'.« »Das klingt ja wie eine Art logischen Wahnsinns.« »Das ist es auch. Sehen Sie, die Wots praktizieren nicht nur die natürliche Geburt und verbieten jegliche Anwendung von Brutkästen, sondern haben sich, da es ja keinerlei Lebensmittelprobleme gibt, wild und willkürlich vermehrt – mit einigen höchst eigenartigen Ergebnissen. Während wir Dingtons erkannten, daß in einer so kleinen Gemeinschaft die Fortpflanzung überwacht werden muß, damit nicht eine Linie
sich fehlentwickelt, haben die Wots sich diese Mühe nicht gemacht. Inzucht ist ungefährlich, wenn alle gut aufeinander abgestimmt sind. Aber die Wots haben es zugelassen, daß der Teil ihrer Nation, der dem Watson-Wahnsinn huldigte, alle anderen an die Wand drückte. Das Ergebnis ist, daß die unstabile und fanatische Rasse der Wots mehr als zweimal so zahlreich ist wie unsere sorgfältig gehegte Nation. Es kommen einige sehr schwerwiegende Probleme auf uns zu.« »Die Wots haben sich also völlig dem Planeten angepaßt, sind zu Eingeborenen geworden?« Knight blickte verblüfft auf; der Begriff Eingeborene war ihm offenbar unbekannt. Hal erklärte. »Ich meine, daß wir ein ähnliches, wenn auch bei weitem nicht so bedeutendes Problem auf der Erde haben. Wir stellen in den Tropen fest, daß weiße Männer entweder die Lebensumstände besiegen oder von ihnen besiegt werden. Man kann sich nicht einfach treiben lassen. Nach dem, was Sie sagen, scheint mir, daß die Dingtons die Lebensumstände der Venus besiegt haben, während die Wots von ihnen geschlagen worden sind.« »Das paßt genau«, nickte Knight. »Nur, daß Sie damit den Dingtons schmeicheln. Wir haben immer noch schwere Probleme vor uns.« »Was ich an diesen Wotleuten nicht verstehe«, warf Crawshaw ein, »ist, warum zum Teufel sie uns angreifen wollen. Wir treffen hier zu einem harmlosen freundschaftlichen Besuch ein, und das erste, was die tun ist, unser Schiff zu belagern. Warum?« »Einfach weil Sie Frevler sind.«
»Wirklich?« »Watson hat seinem Volk gesagt, die Erde sei vernichtet worden – sie haben uns immer gehaßt, weil wir das nicht glaubten. Jetzt sind Sie hier aufgetaucht und sind damit aus der Sicht der Wots nichts anderes als fleischgewordener Frevel.« »Aber – nun, verdammt, sind wir denn kein Beweis dafür, daß die Erde noch existiert?« »Das ärgert die ja um so mehr – Sie haben offenbar noch nie mit einer fanatischen Religion zu tun gehabt. Ihre ganze Stärke liegt in ihrer ungeheuren Sturheit. Wenn die Wots zugeben würden, daß Sie wirklich von der Erde kommen, würde die ganze Doktrin Watsons anfangen, in sich zusammenzubrechen.« »Aber –« »Vorsicht!« rief Knight plötzlich aus. Hal blieb sofort stehen. Ein süßer Geschmack erfüllte seinen Mund und seine Nase. Er versuchte etwas zu sagen, aber die Worte wollten nicht kommen. Sein Kopf drehte sich, und er hatte das Gefühl schrecklicher Übelkeit. Undeutlich bemerkte er, daß eine Hand seinen Arm umfaßte.
10 Hals erster Sinneseindruck beim Öffnen der Augen waren bohrende Kopfschmerzen. Er lag eine Weile auf dem Rücken und blickte durch die weißlichblassen Zweige nach oben. Der Himmel begann sich einzudunkeln, war aber immer noch von kräftigen Farbfetzen durchzogen. Etwas regte sich neben ihm, und er erinnerte sich plötzlich an die letzten Ereignis-
se. Er setzte sich auf und stöhnte. Die Bewegung verursachte ihm stechende Schmerzen. Zu seiner Linken saß Knight, die Hände an den Kopf gepreßt, während Arrul auf der anderen Seite hockte und sie beide besorgt ansah. »Ach du großer Gott«, murmelte Hal und griff sich mit beiden Händen an die Schläfen. »Das ist in ein paar Minuten vorbei«, versicherte ihm Knights halblaute Stimme. Hal stellte erstaunt fest, daß die Prophezeiung stimmte. Der Schmerz war ebenso plötzlich wieder vergangen, als hätte man ein schweres Gewicht von ihm genommen. Er sah sich um, suchte die anderen. Niemand war zu sehen. »Wo sind sie? Was ist geschehen?« Knight sah ihn beschämt und elend an. »Wots«, sagte er. »Arrul glaubt, daß die große Gruppe, die die Lichtung verlassen hat, uns in einem Gewaltmarsch den Weg abgeschnitten hat. Er konnte nicht rechtzeitig umkehren, um uns zu warnen.« »Aber warum haben sie uns nicht auch mitgenommen?« »Übersehen. Arrul tauchte im letzten Augenblick auf und hat Sie ins Unterholz gezerrt. Ich konnte mich auch gerade noch verstecken. Sie dürfen nicht so laut sprechen – vielleicht sind noch welche in der Nähe.« »Aber Mann, die haben doch Vida und Temberly, alle.« »Ich weiß, aber wenn wir auch gefangengenommen werden, können wir ihnen nicht helfen.« »Was werden die mit ihnen machen?« Knight schüttelte den Kopf. Wenn er es wußte, sagte er es zumindest nicht.
»Wenn ich mir vorstelle, daß ich auf einen so alten Trick hereingefallen bin«, sagte er niedergeschlagen. »Was für einen alten Trick?« Anstelle einer Antwort deutete der andere auf eine ganz in der Nähe wachsende Pflanze. Hal konnte sehen, daß es sich um die selbe Art von Venusblume handelte, die Temberly vor einigen Stunden mit Pollen übersät hatte. »Die Wots spreizen die Blütenblätter mit einer kleinen Stange auseinander und schütten irgendein Pulver hinein. Dann binden sie einen dünnen Draht an die Stange und verstecken sich und spannen den Draht entweder über den Weg ihres Opfers oder nehmen das freie Ende in die Hand. Wenn an dem Draht gezogen wird, rutscht die Stange weg, das obere Blatt schnappt herunter und bläst das Pulver wie eine Wolke von Giftgas aus. Und dann sammeln sie die Opfer ein, die das Zeug eingeatmet haben, und fesseln sie, ehe sie Zeit haben, sich zu erholen. Das ist ein ganz typischer Trick der Wots.« Es war jetzt beinahe völlig dunkel geworden. Knight wandte sich zu Arrul. »Kannst du uns durch die Finsternis führen?« Der Gorlak nickte. Er schien nur im äußersten Notfall zu reden. Knight schien schon wieder besserer Stimmung zu sein. »Wenn wir Glück haben, schaffen wir es noch. Die haben die anderen bestimmt noch nicht bis zur Lichtung gebracht. Wots reisen nie bei Nacht – dazu müßten sie Lichter benutzen, und damit würden sie ein Ziel für die Gorlaks abgeben. Wenn wir eine Nachricht nach Chicago durchbekommen, können wir bis zur Morgendämmerung unterwegs sein.«
»Ich nehme an, die schaffen die anderen zur Lichtung.« »Sicher. Gehen wir.« Von dem kleinen Gorlak geführt, stolperten sie durch den dunklen Wald. Lucy verbrachte eine unruhige Nacht auf der Nazia. Sie hatten entschieden, daß es am besten war, nicht von ihrer Routine abzuweichen. Schließlich waren sie ja in völliger Sicherheit. Demzufolge begaben sie sich nach dem Abendessen zu Bett. Aber bald mußte sie feststellen, daß sie nicht einschlafen konnte. Unruhig wälzte sie sich im Bett herum und lauschte auf das Schnarchen der beiden abgebrühten Abenteurer MacKay und Freeman. Sie beneidete sie um die Fähigkeit, selbst in dieser Situation Schlaf zu finden. Ihr Madonnengesicht wirkte beunruhigt. Sie machte sich um die Sicherheit der anderen Sorgen. Die Nachricht Wir holen Hilfe war so kurz und inhaltslos gewesen. Sie wünschte, sie hätte mehr erfahren, obwohl dabei natürlich das Risiko bestanden hätte, daß die Belagerer etwas bemerkten. »Hilfe holen? Von wem?« fragte sich Lucy. Einige Male schlich sie leise aus ihrer Kabine in den Aufenthaltsraum und spähte hinaus. In dem schwachen Licht konnte sie sehen, daß die Angreifer ihre Posten nicht aufgegeben hatten, sondern schlafend auf dem Boden lagen. Worauf warteten sie? Es mußte ihnen doch klar sein, daß die Vorräte der Nazia die Insassen des Raumschiffes wenn nötig wochenlang am Leben erhalten konnten. Aber, wenn man es so betrachtete, warum waren sie überhaupt so feindselig eingestellt? Kein Mitglied der Mannschaft hatte ihnen
etwas getan, ehe man sie angegriffen hatte. Sie kletterte wieder in ihr Bett, und ihre Gedanken wanderten zu Temberly und den anderen. Und dabei überkam sie der Schlaf. Es war Smith, der sie am Morgen weckte. »Komm«, flüsterte er unter der Tür. »Geh weg, während ich mich anziehe«, befahl sie. »Was ist denn?« »Die Leute draußen. Komm und sieh sie dir an.« Die halbnackten Wilden waren jetzt alle wach. Einige waren zum Wald hinübergegangen, wahrscheinlich um Nahrung zu suchen, andere wieder hatten offenbar Wachdienst, während ein weiterer Teil sich irgendwie zu vergnügen schien. Und auf eine Gruppe dieser zeigte Smith. Er und das Mädchen beobachteten sie schweigend. »Was ist denn mit denen los? Hast du je gesehen, wie Leute sich so aufführen?« Lucy wandte den Kopf ab. Sie empfand Ekel und Abneigung, und ihr Gesicht zeigte das deutlich. »Ja«, sagte sie. »Einmal. In einer Irrenanstalt.« Smith nickte. »Das habe ich mir auch gedacht. Das Eigenartige ist bloß, daß die anderen gar nicht darauf zu achten scheinen. Meinst du, daß die alle verrückt sind?« »Entweder das, oder sie sind so daran gewöhnt, daß sie es gar nicht bemerken«, erwiderte Lucy. Mit einiger Mühe war es ihr gelungen, ihren Ekel zu überwinden. Jetzt beobachtete sie das Geschehen draußen wieder kritisch. Die beiden Ingenieure hatten den Raum betreten und standen hinter ihnen. »Was ist denn?« fragte MacKay. Lucy sagte es ihm. »Ja, da hast du recht«, pflichtete er ihr nach einigen
Minuten bei. Er verzog angewidert das Gesicht, die normale erste Reaktion eines gesunden Menschen. »Es hat keinen Sinn, mit diesem Volk zu verhandeln«, sagte er dann entschieden. »Wir bleiben hier, bis die anderen eine Armee von Irrenwärtern bringen oder was auch immer sie sonst holen wollen.« Er wandte sich von dem Schauspiel ab und drängte die anderen in den Aufenthaltsraum zurück. »Wir werden jetzt essen«, verkündete er. »Was wird zum Frühstück gewünscht?« »Ich glaube nicht, daß ich –« begann Lucy. »Oh, doch, junge Frau. Du brauchst nicht zu glauben, daß ich zulassen werde, daß eine Bande von Verrückten uns den Appetit verdirbt, und wenn ich es dir in den Mund stopfen muß. Wir wollen einmal nachsehen, was die Speisekammer bietet.« MacKay brachte sie beinahe dazu, das widerliche Treiben der fremden Geschöpfe draußen zu vergessen. Als sie ihr Mahl beendet hatten, war die Stimmung wesentlich besser geworden. MacKay fragte: »So, was machen wir jetzt? Wir wissen nicht, wann die anderen zurückkommen. Also können wir ebensogut in der Zwischenzeit etwas Nützliches tun. Lucy –« Smith, der wieder an die Luke getreten war, rief über die Schulter den anderen zu: »Im Wald ist irgend etwas los. Eine ganze Menge von diesen Scheusalen rennt hinüber, so schnell sie können. Und da kommt eine weitere Gruppe aus dem Wald und läuft ihnen entgegen.« Lucy nahm ein Fernglas und trat zu ihm. Sie drehte eine Weile am Okular herum, und dann fiel das Glas
plötzlich klirrend auf den Boden. Sie taumelte und war plötzlich ganz bleich. »Was ist –? Fangt sie auf, sie ist ohnmächtig geworden!« MacKay hob das Glas vom Boden auf. »Mein Gott«, sagte er, »die haben sie erwischt!« Eine Weile sagte niemand ein Wort. »Hal ist nicht dabei. Gut, Hal ist ihnen entkommen. Es besteht immer noch Hoffnung, daß er Hilfe holt, es sei denn –« er hielt plötzlich inne, als ihm bewußt wurde, daß Hals Fehlen auch noch einen anderen Grund haben konnte. Die näherrückenden Wots brachten ihre Gefangenen dicht an das Schiff heran und stellten sie in einer Reihe vor der Luke auf. Man hatte allen die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden. Sie sahen müde und gequält aus. Einige der Wots hatten sich voll Stolz die Raketenkarabiner angeeignet, aber die anderen Geräte waren ihren Besitzern verblieben, selbst Fredas Kamera, die immer noch an ihrer Seite hing, und Crawshaws Machete, die an seinem Gürtel baumelte, außer Reichweite seiner gebundenen Hände. Temberly blickte mit weißem Gesicht zu ihnen auf und hob fragend die Brauen. MacKay erfaßte, was der andere meinte, und nickte. Er deutete hinter sich, wo Lucy am Boden lag. Vida stand kühl und unnahbar zwischen ihren Häschern, während Heerdahl offenbar sein Repertoire an Flüchen an den Wots ausprobierte. Einer der Wots schlug ihm über den Mund, so daß er taumelnd zu Boden fiel. »Schwein«, sagte MacKay halblaut. »Das gefällt mir gar nicht«, murmelte Freeman.
»Da hast du recht – das ist ziemlich häßlich.« Einige der Wots schienen jetzt zu beraten. Einer deutete auf die beiden Frauen, aber die anderen schüttelten den Kopf. Dann schien ihnen Temberly aufzufallen, und einige nickten zustimmend. Der kleine Biologe wurde unsanft noch näher an die Luke herangeschoben, während man die anderen Gefangenen zur Seite führte. Einer der Wots brachte ein Stück dünner Schnur zum Vorschein, knüpfte eine Schlinge daraus und legte sie um Temberlys Kopf. MacKay ballte die Fäuste, so daß die Knöchel weiß hervortraten. Er war völlig hilflos. »Das ist die Hölle«, murmelte Freeman. Der Wot schob ein kurzes Stück Holz durch die Schlinge und begann zu drehen ... Ein Laut, der halb ein Wimmern und halb ein Schrei war, ließ die beiden Ingenieure zusammenzucken. Sie wirbelten herum und sahen wie Lucy hinausrannte. »Herrgott, sie hat recht!« schrie MacKay. »Wir dürfen das nicht zulassen.« Er rannte hinter dem Mädchen her und schnappte sich dabei eine Machete aus dem Waffenschrank. »Das Manöver der Wots hatte Erfolg«, berichtete Heerdahl später Hal. »Das war unausweichlich. Jene vier konnten nicht ruhig in der Nazia bleiben und zusehen, wie dem armen Temberly die Augen langsam aus dem Kopf traten und wie sein Gesicht vor Schmerz immer röter wurde, während die Wots vergnügt die Schnur immer mehr zusammendrehten. Crawshaw und ich schlugen wie die Wilden um uns, aber wir konnten nichts anderes tun als den Wots sa-
gen, was wir von ihnen hielten. Ja, sie schafften es, die anderen aus dem Schiff herauszulocken, aber du hättest sie sehen sollen. Ein ganzes Rudel Wots wartete an der Schleuse, bereit zuzuschlagen – man konnte förmlich sehen, wie sie sich zum Sprung duckten, als die Schleuse sich langsam öffnete. Aber sie kannten MacKay und Freeman nicht – und wir lernten sie auch erst in diesem Augenblick kennen. Diese zwei schossen heraus, und ihre schweren Macheten wirbelten wie wildgewordene Kreissägen durch die Luft. Mann, es war unglaublich, die mußten die Hälfte der Bande im ersten Ansturm niedergemäht haben, und dann kamen weitere Wots gerannt, um ihnen zu helfen. MacKay und Freeman standen Rücken an Rücken und hieben im Kreise um sich. Ich konnte MacKays Gesicht sehen, und ich werde sein Grinsen nie vergessen, wie er so um sich schlug. Über seine Schulter hinweg konnte ich Freemans Kopf hin und her zukken sehen. Er trug einen weißen Verband – und er stand seinem Kollegen in nichts nach. Keiner der Wots wagte es, auf so kurze Distanz zu schießen. Und, glaub mir, diese Wots, die vorn an der Front standen, wurden einfach in Stücke geschlagen, sie konnten nicht ausweichen, weil die anderen von hinten schoben. Und das Feuerwerk um Temberly war auch nicht zu verachten. Lucy kam aus der Schleuse, schob sich hinter den beiden lebenden Kreissägen vorbei und rannte auf den Mann zu, der Temberly quälte. Ihre Finger waren wie Klauen gekrümmt, als sie auf ihn losschoß. Herrgott, Mann, du hättest sein Gesicht sehen sollen, als sie mit ihm fertig war – nun, eigentlich
war es gar kein Gesicht mehr, damit ist alles gesagt. Natürlich konnte das nicht ewig so weitergehen. Jemand schob einen Gewehrkolben vor MacKays Machete und schlug sie ihm aus der Hand, und selbst dabei hätte sie beinahe noch einen Wot geköpft, als sie durch die Luft segelte. MacKay lächelte immer noch. Er ballte die Fäuste und fing an, ihnen die Schädel einzuschlagen, aber da warfen sie sich auf ihn und packten Freeman plötzlich von hinten. Einigen von ihnen gelang es, Lucy zu packen, und dann hatten sie uns alle – mit Ausnahme von Smith. Keiner hatte ihn in dem allgemeinen Durcheinander bemerkt. Wir dachten, er wäre noch in der Nazia, aber einer der Wots stieß plötzlich einen Schrei aus und deutete auf ihn. Und da war Smith. Er war irgendwie durchgekommen und rannte jetzt auf den Wald zu; er war auch schon mächtig nahe herangekommen. Etwa sechs oder sieben Wots feuerten gleichzeitig. Und das war Smiths Ende, der arme Teufel. Wir fingen schon an, uns Gedanken zu machen, welche neue Schweinerei die Wots jetzt vorhatten. Und es dauerte nicht lange, bis wir es erfuhren.«
11 Arrul der Gorlak führte Knight und Hal unbeirrt weiter. Gelegentlich wurde das Laub und Blätterwerk so dicht, daß selbst das Licht der Dämmerung verdunkelt wurde und sie sich an den Händen halten mußten, um sich in der Finsternis nicht zu verlieren. »Können die Gorlaks bei Nacht sehen?« wollte Hal wissen.
»Wenig besser als wir, aber sie scheinen irgendein besonderes Sinnesorgan zu haben, das sie vor Hindernissen warnt – Blinde entwickeln einen ähnlichen Sinn. Die Ärzte sagen, das käme davon, daß die Gegenstände Geräusche reflektierten.« Schweigend stapften sie dahin. Hal konnte seine Uhr nicht sehen, aber es schien sicher, daß einige Stunden verstrichen waren, bis sie endlich den Wald hinter sich gelassen hatten und am Rand einer großen Lichtung standen. »Das hast du sehr gut gemacht Arrul«, lobte Knight. Dann wandte er sich an Hal und nickte: »Von hier aus können wir Chicago anrufen, damit man sich vorbereitet.« »Von wo aus?« Knight deutete nach vorn. Hal konnte jetzt undeutlich die Umrisse eines riesigen Gebäudes ausmachen, das so wenig dunkler als der Himmel dahinter war, daß es beinahe unsichtbar blieb. Während sie darauf zueilten, zog Knight eine kleine Pfeife aus der Tasche und erzeugte damit den selben klagenden Laut, auf den Arrul früher geantwortet hatte. Einige Sekunden später öffneten sich einige Türen des Gebäudes, und ein Lichtstrahl schoß hervor, der die drei einen Augenblick blendete. Sie rannten darauf zu, und Knight rief den Männern, die unter der Tür im grellen Licht abgezeichnet wurden, etwas zu. Dann passierten sie einen hohen Torbogen, und die Türen schlossen sich polternd hinter ihnen. »Warten Sie hier einen Augenblick«, sagte Knight. Hal blickte ihm nach, wie er durch eine kleine Tür verschwand, und wandte sich dann um, um mit wachsendem Erstaunen seine Umgebung zu studie-
ren. Es war sofort zu erkennen, daß es sich hier nicht um ein einzelnes Gebäude, sondern eine ganze Stadt handeln mußte. Die Beleuchtung war ziemlich schwach, denn die Bewohner der Stadt schienen alle zu schlafen. Immerhin konnte er erkennen, daß die Gebäude in konzentrischen Kreisen angeordnet waren und daß er zwischen den zwei äußeren Ringen stand. Unmittelbar vor ihm durchschnitt ein mächtiger Bogen die Fassade, und dahinter konnte er sehen, wie die Straße sich über einige Entfernung weiter erstreckte, teils hell, teils dunkel, je nachdem, ob sie an weiteren Gebäuden vorbeiführte und damit im Schatten lag oder freies Feld durchschnitt. Hier und dort konnte man hinter vereinzelten Fenstern Licht sehen. Er staunte darüber, daß sie aus der Ferne keine Lichter gesehen hatten, und fragte Arrul nach dem Grund. »Scharfschützen«, sagte der Gorlak in seiner üblichen lakonischen Sprechweise. Die Torwächter hatten Hal interessiert gemustert. Es war offenkundig, daß sie in ihm ein Besatzungsmitglied des Raketenschiffes erkannten. Einer von ihnen hatte seine Frage gehört und beantwortete sie: »Ursprünglich waren wir nie vor den Wots in Sicherheit. Die einzige Methode, mit der wir uns vor ihren dauernden Angriffen schützen konnten war, unsere Städte mit festen Mauern zu umgeben und keinerlei Öffnungen freizulassen, durch die man uns beschießen konnte. Die Wots waren in jenen alten Tagen wesentlich kühner, als sie es heute sind. Noch vor einem Jahrhundert mußte diese Stadt Belagerungen überstehen, aber selbst heute sind die Mauern noch
notwendig, wie der Gorlak schon sagte, um zu vermeiden, daß wir von Scharfschützen weggeputzt werden. Man könnte gegen eine Armee kämpfen, aber gegen Scharfschützen ...« Er beendete den Satz mit einem Achselzucken. Knight kam jetzt zurückgerannt. »Ich habe mit Chicago gesprochen. Die bereiten alles vor. Wir können noch hinkommen, ehe sie aufbrechen, wenn wir uns beeilen.« Die Wächter hatten inzwischen eine lange flache schwarze Maschine herausgeholt. Während die beiden Platz nahmen, wandte Knight sich Arrul zu. »Ruf deine Leute zusammen und warte auf uns«, sagte er. Arrul nickte, und der Wagen rollte auf das Stadtzentrum zu. »Die Straße vom gegenüberliegenden Tor führt geradewegs nach Chicago«, erklärte Knight dem verblüfften Hal. »Wir verlassen unsere Städte nachts nur höchst selten, aber diesmal müssen wir einfach das Risiko eingehen, daß die Wots uns beschießen.« Man hatte ihre Ankunft offenbar schon gemeldet, und so standen die Tore auf der anderen Seite offen, so daß sie ohne abzubremsen auf eine breite Straße hinausschießen konnten. Knight beugte sich über das Steuer und trat das Beschleunigungspedal durch. Das Fahrzeug lief erstaunlich geräuschlos und schien wie der Wind dahinzufliegen. Hal erinnerte sich daran, daß der andere Batterien als die einzige Kraftquelle auf der Venus erwähnt hatte. Während sie durch die Nacht jagten, fragte er: »Warum benutzen Sie nicht Funk? Ein tragbarer
Empfänger hätte uns Stunden erspart – jedenfalls hätte ich angenommen, daß Funkverbindung auf diesem Planeten eine absolute Notwendigkeit wäre.« »Würde aber nicht funktionieren«, erwiderte Knight, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Es gibt immer wieder irgendwelche Erfinder, die glauben, es geschafft zu haben, aber es klappt nie. Wissen Sie, wir haben nicht nur zwei oder drei reflektierende Schichten in der Atmosphäre, sondern außerdem auch noch Reflexvorhänge. Es wäre leicht, wenn diese Vorhänge konstant wären, aber sie verschieben sich dauernd, je nach Temperatur und Klima. Offenbar ziemlich willkürlich – wenigstens war bis jetzt noch niemand imstande, ihre Bewegung vorherzusagen. Und damit ist der Funk noch schlimmer als nützlich, weil man in neunundneunzig von hundert Fällen doch im Stich gelassen wird.« Hal erinnerte sich daran, daß es ihm auch selbst nicht gelungen war, mit der Nazia Verbindung aufzunehmen, und so nickte er verständnisvoll. Knight, der sich ganz auf das Fahren konzentrierte, war eine Weile stumm, und Hal lehnte sich im Sitz zurück, um sich etwas zu entspannen. Er war beinahe eingedöst, als ihn plötzlich grelles Scheinwerferlicht in einiger Ferne aufschreckte. Knight steuerte ihr Fahrzeug zur Seite und gab einer Reihe schwerer plumper Silhouetten den Weg frei. »Tanks«, erklärte er, »die haben wirklich keine Zeit vergeudet«, und wenige Augenblicke später deutete er nach vorn: »Chicago.« Diesmal war es keine lichterlose Stadt, der sie sich näherten. Statt dessen war die ganze massive Außenmauer in weißes Flutlicht getaucht.
Als sie etwas nähergekommen waren, steuerte Knight den Wagen von der Straße herunter und sprang heraus. Hal folgte ihm. Der Anblick, der sich ihm bot, verblüffte ihn. Die Streitkräfte von Dington sammelten sich. Es bot sich ihnen ein Bild fieberhafter Aktivität, während dahinter die Mauer dieses neuen Chicago im Licht der Scheinwerferkegel wie ein ungeheures schwarzes Tuch wirkten. Das Ganze machte auf Hal einen ungeheuer fremdartigen Eindruck. Vor einer Silhouette, die ihn an die Befestigungsmauer einer mittelalterlichen Stadt erinnerten, sah er Tanks, die aus einem riesigen Torbogen auf die Straße herauskrochen. Und immer wieder, wie der Schatten einer ungeheuren Fledermaus, flatterten jene fremdartigen venusischen Flugmaschinen herbei, um ihre Positionen einzunehmen. Überall schienen hektische Aktivität und Durcheinander zu herrschen. Befehle hallten zu ihnen herüber. Knight eilte zu einer Gruppe von Offizieren und sprach ein paar Minuten mit ihnen, dann kehrte er zu Hal zurück. »Das wäre geklärt«, sagte er. »Wir bekommen eine dreisitzige Maschine und starten in drei Minuten.« Der Start des Ornithopter war für einen Raketenpiloten höchst eigenartig. Knight drückte zunächst einen Hebel am Armaturenbrett nieder, und die Schwingen draußen fingen an zu flattern. Das ganze Fahrzeug erbebte, während es sich vom Boden erhob und senkrecht in die Luft stieg. Hal konnte sehen, wie eine ganze Reihe der Maschinen in ähnlicher Weise die Luft in Bewegung brachten. Unter ihnen kroch eine weitere Gruppe von Tanks die Straße entlang.
»Es sieht so aus, als wäre Ihre ganze Militärstreitmacht mobilisiert«, sagte er. Der andere grinste. »Im großen und ganzen stimmt das auch, und die sind auch ziemlich böse. Schließlich haben wir achthundert Jahre auf Sie gewartet, und wir finden, daß man Ihnen einen ziemlich rüden Empfang bereitet hat.« Dabei beugte er sich vor und betätigte einen Hebel. Das Zittern der Maschine hörte plötzlich auf, einen Augenblick schien sich in der Luft zu hängen, und dann begannen die Schwingen sich langsam wieder zu bewegen, diesmal mit mächtigen, weit ausgreifenden Schlägen. Hal konnte sehen, daß die Flügelspitzen am Ende eines jeden Schlages weit über die Landestützen hinausgriffen und erkannte jetzt, warum die schnellen kurzen Bewegungen zum Start nötig gewesen waren. Zuerst wurden die Insassen der Maschine in ihre Sitze zurückgepreßt, während jeder Flügelschlag das Flugzeug nach vorn trug. Aber als einmal die gewünschte Geschwindigkeit erreicht war, schienen sie glatt und mühelos dahingetragen zu werden, und das Schlagen der Schwingen drang nur schwach ins Innere der Kabine. »Wenn wir jetzt geradewegs zur Nazia fliegen, was ist dann mit den Tanks? Die bleiben doch weit hinter uns, oder?« fragte Hal. »Auf der Straße sind sie nicht gerade langsam, aber der Wald wird sie etwas aufhalten. Die Tanks aus Chicago sind eigentlich nur eine Verstärkung; die aus den anderen Städten sollten ziemlich gleichzeitig mit uns eintreffen«, erklärte Knight. »Wissen Sie«, fügte
er dann hinzu, »Ihre Ankunft hat hier einen regelrechten Krieg ausgelöst. Die meisten von uns haben schon lange darauf gewartet, den Wots einmal einen richtigen Schlag zu versetzen und jetzt haben wir einen Anlaß, der es uns erlaubt, alle Proteste der Friedenspartei zur Seite zu fegen.« Der Himmel begann sich aufzuhellen. In der dikken Luft der Venus war die Morgendämmerung ein atemberaubendes Schauspiel unbeschreiblicher Farben, gegen das eine Dämmerung auf der Erde unbedeutend wirkte. Knights Miene wirkte jetzt besorgt. Sie waren immer noch eine ziemliche Strecke von der Nazia entfernt, und er machte sich Sorgen wegen der Dinge, die vielleicht vor ihrer Ankunft dort vonstatten gehen konnten. Als sie das Ende der Straße und die Stadt, die sie in der Dunkelheit passiert hatten, erreichten, war der Tag bereits eine Stunde alt. Sie konnten sehen, daß die Räume zwischen den konzentrischen Gebäuderingen mit Dingtons angefüllt waren, die zu ihnen aufblickten und den vorüberziehenden Fliegern zuwinkten. Ganz schwach waren die aufmunternden Rufe zu hören und blieben dann hinter ihnen zurück, als sie die Baumwipfel erreichten. Knight deutete nach unten auf die breiten Spuren von niedergewalzten Dschungelgewächsen. »Das sind Tanks vor uns«, sagte er. Hal schien es, daß sie gefährlich dicht über den Boden flogen, aber dann stellte er fest, daß alle anderen Ornithopter die gleiche Flughöhe wie sie eingenommen hatten und erkannte, daß die Sichtweite mit zunehmender Helligkeit geringer wurde. Schon konnte man die beiden Außenflügel der Luftarmada nur
mehr undeutlich erkennen. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Tanks. Hal hatte während der Nacht nur einen undeutlichen Eindruck von ihnen bekommen; jetzt stieß er unwillkürlich einen erstaunten Ruf aus, als er nach unten blickte. Die Maschinen rollten auf Rädern und Ketten mit einer Geschwindigkeit dahin, die etwa die Hälfte der Geschwindigkeit der Flugzeuge betrug. Vor jedem Tank waren zwei Trägerbalken zu sehen, die – wie es auf den ersten Blick schien – eine Scheibe aus hellglänzendem Metall trugen. Aus etwas größerer Nähe betrachtet konnte man erkennen, daß es sich in Wirklichkeit um ein Rad aus Messerklingen handelte, das mit hoher Geschwindigkeit in horizontaler Ebene kreiste. Davon wurden die weichen Dschungelgewächse wie Butter weggefegt, während ihre Überreste von den mahlenden Ketten der Tanks zu schmutzig-weißem Brei zermalmt wurden. Hal schauderte bei dem Gedanken, welches Blutvergießen wohl angerichtet werden würde, wenn die Wots es wagen sollten, sich den Ungeheuern in den Weg zu stellen. Ein brüllendes Fauchen unweit vor ihnen ließ ihn zusammenzucken. »Raketen!« rief er aus. »Die Raketen der Nazia. Was zum Teufel machen die?« Unmittelbar darauf erreichten sie die Lichtung und konnten den Schiffsrumpf glitzern sehen. Während sie auf die dichtgedrängten Wots zuschossen, drückte Knight den Auslöser seines Maschinengewehrs. Er schoß absichtlich über die Köpfe hinweg, aus Sorge, die Gefangenen treffen zu können, aber die Wirkung stellte sich sofort ein. Die Gesichter der Wots wand-
ten sich nach oben, erblickten die heranbrausende Flotte von Ornithoptern, und dann rannten die Feinde nach allen Richtungen davon. Kaum ein Schuß schlug ihnen entgegen, während Hunderte von Wots in den Wäldern Zuflucht suchten. Einige Flugzeuge sanken flatternd neben der Nazia zu Boden, wo drei gefesselte Gestalten standen; der Rest jagte hinter den fliehenden Wots her. Von einer Seite der Lichtung erhoben sich Schreckensschreie, als die Dschungelbewohner sich plötzlich zwischen den Maschinengewehren der Ornithopter und den tödlichen Tanks, die vor ihnen zwischen den Bäumen herausschossen, gefangen sahen. Als ihre Maschine landete, sprang Hal heraus und rannte auf seine gefesselten Freunde zu. Er stellte fest, daß die Schleuse der Nazia offenstand, und schreckliche Angst erfaßte ihn. »Wo sind die anderen?« fragte er, während er Temberlys Fesseln durchschnitt. »Wo ist Vida?« »Diese Teufel haben sie erwischt; die haben alle drei Frauen weggeschleppt«, sagte Crawshaw. »Und die Männer?« »Die sind tot, genauso tot wie wir in zehn Minuten gewesen wären«, erwiderte Heerdahl. »Wohin haben sie denn die Frauen geschleppt?« wollte Knight wissen. »Dort hinüber«, deutete Crawshaw. »Ein Flugzeug wie eines von diesen hier kam. Sie haben alle drei hineingepackt und sind in dieser Richtung weggeflogen.« »Verdammt sollen sie sein«, sagte Knight. »Ich habe immer schon gesagt, daß die ein paar von den Maschinen erwischt haben, die uns als verschollen ge-
meldet worden waren.« Er wandte sich an einen Offizier. »Bringen Sie diese zwei Männer in Flugzeugen unter«, befahl er und deutete auf Crawshaw und Temberly. »Die anderen nehmen wir mit. Lassen Sie einige Tanks zur Bewachung hier. Wir müssen uns beeilen. Sie beide können an Bord gehen«, fügte er zu Hal und Heerdahl gewandt hinzu. Hal war damit nicht gleich einverstanden. »Und was ist, wenn wir die Nazia nehmen?« schlug er vor. Knight griff nach seinem Arm und schob ihn auf den Ornithopter zu. »Dafür ungeeignet, zu groß, und außerdem könnten Sie Ihre Waffen nicht einsetzen. Kommen Sie, es kommt auf jede Sekunde an.« Die mächtigen Schwingen schlugen wütend, und wieder hob sich die Maschine bebend in die Lüfte.
12 Die Lichtung fiel hinter ihnen zurück. Gelegentlich konnten sie durch die Bäume hindurch das fieberhafte Treiben unter sich sehen. Vereinzelt hallte Gewehrfeuer zu ihnen herauf. Knight zeigte hinunter. »Arrul und seine Leute sind an der Arbeit«, sagte er. »Dort unten gibt es so manchen Wot, der sich jetzt wünscht, er hätte nie Appetit auf geröstetes Gorlakfleisch entwickelt.« »Da wünsche ich Arrul Glück – ich bin ganz auf seiner Seite«, sagte Heerdahl. »Wenn man sich die Umgebung des Schiffes an-
sieht, so haben Sie sich auch ganz wacker gehalten«, meinte Knight. »Ich habe die Wotleichen nicht gezählt, aber es waren eine ganze Menge.« »Daran war ich nicht beteiligt«, sagte Heerdahl und berichtete von dem heroischen Kampf, den MacKay und Freeman geliefert hatten und von Smiths Tod. »Und dann kam die Flugmaschine«, fuhr er fort, »und die Frauen wurden entführt – und wir standen da, und an jedem von uns hing ein Dutzend Wots. Und zu allem Überfluß waren wir noch gefesselt. Es war die schiere Hölle. Wir konnten nichts tun, als mit den Füßen um uns treten. Nachdem das Flugzeug gestartet war, schienen die der Meinung zu sein, es wäre jetzt an der Zeit, mit uns abzurechnen, und sie fingen an, Freeman böse Blicke zuzuwerfen. Er hatte ein paar Wots in Fetzen geschlagen, und die waren gar nicht erbaut davon – MacKay liebten sie auch nicht gerade, aber er war etwas früher als Freeman entwaffnet worden. Nun, die hielten eine Art Palaver ab und sahen so selbstzufrieden aus, daß wir wußten, irgendeine neue Gemeinheit stand bevor. Mit gemeinem Grinsen in der Visage zerrten sie Freeman von uns anderen weg. Zuerst rissen sie ihm die Sachen vom Leib, und dann banden sie Seile an seine Fuß- und Handgelenke – das war nicht leicht: Freeman hatte kräftige Fäuste, aber sie schafften es am Ende und fingen an, ihn zum Heck der Nazia zu schleppen. Erst jetzt begriffen wir, was sie vorhatten, und mußten mit zusehen, wie sie den armen Freeman über die Raketenrohre banden. Einer der Wots ging ins Schiff. Ich glaube, in diesem Augenblick wurde MacKay zum Berserker. Gott allein weiß, wie er es schaffte,
sich loszureißen, jedenfalls brachte er es fertig, und ehe wir richtig wußten, was geschah, stürzte er sich mit einer Machete in jeder Hand auf die Bande und fing an, sie in Stücke zu schlagen. Ich habe schon eine Menge Prügeleien gesehen, aber wenn man MacKay zusah, kommt einem das wie eine Teenagerparty vor. Die Wots schmolzen einfach vor ihm dahin – die, die nicht in Stücke gehauen wurden, meine ich. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich weiß, daß ich auch Fersengeld gegeben hätte, wenn ich mich diesen beiden Macheten und MacKays Berserkerwut gegenübergesehen hätte. Er pflügte sich regelrecht durch die Bande hindurch, bis er die Stelle erreicht hatte, wo Freeman über die Rohre gefesselt war. Er hatte gerade noch Zeit, eines der Seile zu kappen, ehe die Wots ihn erreicht hatten und er sich wieder gegen sie wehren mußte. Und in diesem Augenblick fand der Wot im Schiff die Schalter für die Raketen. Er konnte vom Armaturenbrett aus nicht sehen, was hinten am Schiffsheck vor sich ging, und so legte er die Schalter einfach um. Ein mächtiger Feuerstrahl schoß heraus, und ein Brüllen ertönte, das uns beinahe die Trommelfelle zerrissen hätte, und das ganze Schiff rutschte ein paar Meter nach vorn.« Heerdahl hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: »Als der Rauch sich verzogen hatte, war keine Spur mehr von MacKay und Freeman zu sehen – sie waren verbrannt wie Mücken in einer Kerzenflamme, und mit ihnen zwei Dutzend Wots. Es war ein gnädiges, schnelles Ende ... und ein paar Minuten später tauchten Sie auf.«
Ein paar Augenblicke sagte keiner ein Wort. Knight trieb mit verbissener Miene den Ornithopter auf Höchstgeschwindigkeit. Hal schien ins Leere zu starren. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Schließlich schien Heerdahl der Ansicht zu sein, das Schweigen brechen zu müssen, das auf seinen Bericht gefolgt war. »Wohin fliegen wir eigentlich?« fragte er mit einer Stimme, die sich mühte, normal zu klingen. »Zu der einzigen größeren Stadt, die die Wots haben«, erwiderte Knight im gleichen Tonfall. »Sie heißt Ararat.« »Wieder ein Andenken an Watson – er hatte es doch mit der Bibel, der alte Spinner, oder? Aber ich hatte angenommen, die Wots wären mehr oder weniger Nomaden?« »Das sind sie auch, aber Ararat ist eine Art Schrein zur Erinnerung an Watson – ihr großer religiöser Versammlungsplatz. Außerdem brauchten die ja irgendeine Fabrikationsstätte für Waffen und Werkzeuge. Zum Glück haben sie nie mehr als Kleinwaffen gefertigt; es würde eine straffere Organisation dazugehören, um auch Kanonen zu bauen.« Jetzt mischte Hal sich ein. Seine Stimme klang scharf und angespannt. »Können Sie dieses verdammte Ding nicht schneller fliegen?« »Wir fliegen mit Höchstgeschwindigkeit«, erwiderte Knight. Dann herrschte Schweigen in der Maschine. Ihr Gesichtsfeld war so beschränkt, daß sie bereits über den Ausläufern der Wot-Stadt dahinzogen, ehe
sie bemerkten, daß das Ende ihrer Reise herangerückt war. Primitive einstöckige Hütten tauchten zwischen den Bäumen auf, nahmen an Zahl zu und standen immer dichter beieinander, je weiter sie flogen. Bald blickten sie auf winkelige enge Gassen hinunter. Die Stadt Ararat wirkte eher wie eine Stadt aus der Zeit des großen Goldrausches, als wie die Metropole einer ganzen Nation. Außerdem war auf den Straßen kein einziger Mensch zu sehen. »Wo –?« begann Hal. Dann verzog sich sein Gesicht vor Schrecken. Sie hatten eine oval gestaltete Arena erreicht, in der sich Tausende halbnackter Wots drängten. Alle blickten zu der einen Schmalseite und hielten den Kopf gesenkt, als beteten sie. Auf einem großen Steinblock an jenem Ende der Arena ragte die riesenhafte steinerne Gestalt eines Mannes auf. Er trug die Kleider einer lang vergessenen Ära und hob beide Hände zum Himmel, als erbitte er den Segen der Götter. »Die haben also aus Watson ein Idol gemacht«, murmelte Heerdahl. Hal hörte nicht zu. Er blickte starr auf eine Gestalt, die vor dem Block stand, von der mächtigen Statue überragt, so daß sie wie ein Zwerg wirkte. Von einem Metallkragen, den sie um den Hals trug, führte eine Kette zu einer Öse, die in den Stein eingelassen war. Sie sah das Flugzeug herankommen und hob flehend die Hände. Gleichzeitig schien der Bann, der die Wots gefangen hielt, zu brechen. Sie warfen die Arme zurück, und ein Regen von Steinen flog durch die Luft auf die einsame Gestalt. Knight bremste und legte die Maschine etwas zur Seite, um zielen zu können. Jetzt sah er eine zweite
Maschine niedrig über der Menschenmenge schweben. Er hörte einen lauten Schrei und sah einen Mann aus der Maschine springen. Normalerweise hätte Crawshaw bei diesem unüberlegten Sprung ums Leben kommen müssen, aber er überstand ihn. Er landete auf allen vieren auf der Fläche, die zwischen der brüllenden Menge und ihrem Opfer lag. Im Bruchteil einer Sekunde war er aufgesprungen und rannte auf Freda zu. Sie sank unter dem Steinhagel zu Boden, als er sie erreichte. Crawshaw humpelte, er mußte sich bei dem Sprung verletzt haben, aber er erreichte das gestürzte Mädchen und warf sich wie ein Schild über sie. Irgendwo peitschte ein Schuß. Ein Hagel von Maschinengewehrkugeln antwortete, und dann kamen die anderen Flugzeuge und schossen auf die Wots. Die Wots rannten ziellos hin und her, trampelten einander nieder, suchten in den schmalen Straßen Deckung. Aber die Maschinengewehrsalven hörten nicht auf; die Dingtons wollten Blut sehen. Knight landete seinen Ornithopter neben der Watsonstatue. Hal ging langsam auf die beiden zu, die vor dem Steinblock auf dem Boden lagen. Die anderen sahen, wie er den Kopf schüttelte und dann ganz vorsichtig seine Jacke über die Engumschlungenen legte. Ein paar Sekunden blickte er auf die beiden herab, ehe er sich umdrehte und mit müden Schritten zurückging. »Sie sind beide tot. Sie lächeln beide«, sagte er leise. »Ich glaube, so möchte ich auch sterben.« »Hal!« rief eine Stimme. Vidas Stimme. Hal machte den Mund auf, aber zuerst kam kein Ton heraus.
»Wo bist du, Vida?« brachte er schließlich hervor. Seine Stimme klang seltsam gebrochen. »In einer Zelle, unter der Statue.« Es dauerte nur ein paar Minuten, Vida zu befreien, und mit ihr auch Lucy. Vida warf sich ihrem Mann in die Arme und schluchzte erleichtert. Temberly sprang aus einer Maschine, deren Schwingen kaum zu schlagen aufgehört hatten, und rannte auf Lucy zu. Auch in ihren Augen schimmerte es feucht, als sie ihn sah. »Mein Liebster – dein Kopf«, rief sie. Aber Temberly hatte die bösartige rote Schramme völlig vergessen. »Hast du gewußt, daß die Steinigung die Strafe war, die sie für Blasphemie ausgesetzt hatten?« fragte Heerdahl. Die anderen nickten. »Das hatte ich befürchtet. Die Wots scheinen sich zurückzuentwickeln; nicht mehr lange, und sie wären wieder echte Wilde geworden, vielleicht sogar noch primitiver als die Gorlaks. Wir müssen sie jetzt töten, alle; sonst können wir uns nie sicher fühlen.« Heerdahl überlegte eine Weile stumm. Dann sagte er: »Seltsam, da greifen wir jetzt zu den Sternen hinaus, und diese arme Teufel sinken in den Schlamm zurück. Wohin führt das alles?« »Wir müssen Welten erforschen, die älter sind als die unsere, um das zu entdecken.« Den Rest wissen Sie selbst. Zeitungen und Filme haben Ihnen Bilder vom Leben auf der Venus gezeigt. Temberlys Buch Flora und Fauna der Venus ist ein Bestseller. Die meisten von Fredas Aufnahmen
konnten gerettet werden. Ihre Notizen sind veröffentlicht worden. Hal und Vida Newton haben in der Presse und vor den Mikrofonen und Kameras der Fernsehstationen darüber berichtet, wie königlich die Dingtons ihre Besucher behandelten, als die Nazia in der Nähe jener neuen und fremden Stadt Chicago landete – all das ist bekannt. Meine Aufgabe hier war nicht, die Venus zu beschreiben, sondern die Geschichte ihrer Entdecker zu berichten. Und obwohl fünf jener kühnen Forscher sich den ruhmreichen Abenteurern angeschlossen haben, die ihr Leben für die Eroberung des Weltraums hingegeben haben, gebührt ihrer Erinnerung doch nicht weniger Ehre als der jener vier, die zurückkehrten, und jenes einen, der auf der Venus bleibt. Bleibt? Ja, Heerdahl weilt immer noch auf der Venus und hilft Knight, eine zweite Nazia zu bauen. Und eines Tages werden wir sie sehen, wenn sie wie ein von Menschenhand geschaffener Meteor auf die Erde zurasen.
Originaltitel: THE VENUS ADVENTURE Copyright © 1932 by Gernsback Publications, Inc.
Henry Kuttner UNTER SCHWARZER SONNE 1 Garson wurde so vom Gelächter geschüttelt, daß sein breiter Brustkasten bebte und der Widerschein der Flammen rötlich über seinen schwarzen Bart huschte. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und seine kräftigen Zähne entblößt und sah aus wie der primitive Tyrann, der er auch war – Erstmann, Bob Garson, unbestrittener Herrscher des Seenlandes. Hinter ihm konnte ich durchs Fenster die Lichter der Wikingerflotte auf dem Michigansee erkennen, glitzernde blasse Sterne, die eigentlich scharlachrot hätten leuchten sollen für all die Leben, die die mächtige Armada vernichtet hatte, seit Erstmann Garson an die Macht gekommen war. An meinem Rehlederrock hing ein kleines Messer, der Dolch, den alle Freien trugen. Ich holte es aus der Scheide und stieß es mit einer schnellen Handbewegung in den Schreibtisch, an dem Garson saß. Das ernüchterte ihn. Seine Augen und die meinen sahen dem Messer zu, wie es zitterte, wie es sang und schließlich reglos stehenblieb. Dann blickte er auf, der Blick der braunen Augen verhangen und undurchdringlich. »Was soll das heißen, Dale?« »Daß ich Schluß mache«, stieß ich heftig hervor. »Ich höre auf, Erstmann. Du hast mir dieses Messer
vor zehn Jahren gegeben –« Er griff an eine Narbe an der bärtigen Wange. »Ich erinnere mich. Der kalte Winter von neunzehnhundertachtzig. Damals wäre ich gestorben, wenn du diesen Kodiakbären nicht mit deiner Klinge erledigt hättest. Und deshalb habe ich dir diesen Dolch gegeben.« In seinen Augen leuchtete warm die Erinnerung. »Es hat einmal etwas bedeutet«, sagte ich zu ihm. »Freundschaft. Ein Mann, von dem ich dachte, daß ich ihm vertrauen, ihm glauben könnte. Der Erstmann der Großen Seen! Ein verdammter – Mörder!« Ein stumpfer, tödlicher Glanz lag plötzlich in Garsons Augen, ein Ausdruck, den ich sehr wohl kannte. Sein linker Arm erschien; er endete am Handgelenk. Und anstelle einer Hand war dort ein stählerner Haken. Er tippte mit diesem Haken gegen den Dolch, während ihm das Blut in den Hals stieg, so daß er sich rötete, und dann ebenso langsam wieder verebbte. »Ein Mann schmiedete mit Feuer und Eisen«, sagte er mit gleichmäßiger Stimme. »Nicht mit Worten, Dale Heath. Auch ich habe dir vertraut, weil ich dachte, du würdest meine Pläne begreifen.« »Eroberung und Plünderung – Feuer und Eisen. Ja, jetzt begreife ich. Wenn wir jetzt nach Süden ziehen, in das Land Indiana, zu den kleinen Seen, dann werde ich es wissen. Dort unten sind die Leute friedlich, Ackerbauer und Gelehrte – sie arbeiten für die Zivilisation und bauen mehr wieder auf als wir. Bob, wenn du deinen Plan durchführen willst, wirst du es ohne mich tun müssen!« Seine gesunde Hand schoß vor und fing meinen
Arm in einem Griff wie der einer Python. Er zog mich zu sich hin, so daß ich halb über dem Tisch lag und meine Augen voll Zorn in die seinen funkelten. Sein Atem brannte auf meiner Wange. »Okay, reiß mir die Kehle mit deinem Haken heraus«, sagte ich. »Das ist die richtige Methode, Streitigkeiten beizulegen.« »Nein. Nein. Manchmal stellst du meine Geduld auf eine harte Probe, aber ich weiß, daß du der einzige Freund bist, den ich habe.« »Das ist ein guter Grund. Du bist der bestgehaßte Mann im Lande.« »Und der stärkste«, sagte er leise und ließ mich los. »Ich glaube, du wirst das nie begreifen. Die Welt muß wieder aufgebaut werden – mit weichen Händen kann man das nicht. Ich bin hart gewesen, gewiß, und in zwanzig Jahren habe ich ein Reich aufgebaut. Jetzt wird es nicht mehr zerfallen – und wenn ich dich und alle, die im Süden leben, umbringen muß!« »Dann wirst du eine Welt voll Leichen beherrschen«, fauchte ich ihn an. Er deutete auf die grellfarbenen Teppiche in Purpur und Grün und Gold, die die Wände des Raumes bedeckten. »Dort ist die Vergangenheit. Was siehst du?« Es war deutlich zu lesen. Selbst ein Bewohner eines anderen Planeten hätte diese Szenen erfaßt. Die Welt in den vierziger Jahren, wachsend, bauend, dem Höchststand der Zivilisation entgegenstrebend. Und dann die großen Kanonen, die Rauch und Flammen spien und fliegende Festungen am Himmel, die ganze Städte in Schutt und Asche legten – Krieg, ein ver-
nichtender, alles auszehrender Krieg, der Jahrzehntelang gedauert hatte. Die Erde hatte nicht erkannt, daß Krebsgeschwüre der Gesellschaft nicht wieder geheilt werden können, daß nur das Messer des Chirurgen noch Rettung bringen kann. Und so hatte der Geist der Sentimentalität obsiegt – und nach einer Weile, nach einer sorgenvollen Periode falschen Friedens war das Jüngste Gericht über die Welt hereingebrochen. Diesmal war es eine Schlacht bis zum Tode. Mehr als dreißig Jahre. Der Bericht zog sich über jenen großen Teppich hin: neue Waffen, die die vier Reiter der Apokalypse heraufbeschworen und einen ganzen Planeten mit Blut überfluteten. Und dann – Finsternis. Von Japan bis zu den Britischen Inseln, von New York bis Kalifornien, beinahe von einem Pol bis zum anderen herrschte Frieden – der Friede eines Sterbenden. Ruinen ... New York City war ein schwelender Vulkan voll radioaktiver Gifte. London und Moskau Vulkane. Und es gab noch andere. Die Jahre der Finsternis waren gekommen. Aber am Ende des Teppichs prangte das Symbol von Erstmann Bob Garson: eine schwarze Sonne, die sich an einem goldenen Himmel erhob. Eine Sonne, die aus schwarzem kaltem Eisen bestehen konnte. Denn Garson hatte die Zügel der Macht in die eine Hand genommen, die ihm verblieben war, und sich hochgekämpft, bis er die Herrschaft über die Seen errungen hatte, hatte nördlich des Höllenkraters, der einmal Milwaukee gewesen war, eine Stadt gebaut – und herrschte. Zehn Jahre war ich bei ihm gewesen, sein Leutnant.
Ich hatte ihn beobachtet, hatte ihm geholfen, stahlklirrend den Weg zur Zivilisation zu gehen. Es war nicht leicht gewesen. Wir hatten ebenso gegen die Natur wie gegen den Menschen kämpfen müssen. Aus den kanadischen Weiten kamen Wolfsrudel und die riesenhaften Kodiakbären. Wildgewordene Katzen, kleine bösartige Dämonen, mit Klauen so scharf wie Rasierklingen, machten die Wälder gefährlich. Und wir hatten nur wenige Waffen. Garson trieb seine Leute rücksichtslos an. Er mochte ein Pirat sein, doch er kannte den Wert der Wissenschaft, und wenn auch seine übrigen Leute verhungerten, so waren doch seine Techniker in ihren warmen Labors wohlgenährt. Für den Wiederaufbau brauchte man die Wissenschaft. Aber Garson forderte zu oft Waffen. Die City – sie hatte keinen anderen Namen – war für ihn der Samen, aus dem die Menschheit erneut aufsteigen sollte. Andere Stämme und Völker mußten mithelfen, oder sie wurden erdrückt. Und unterdessen mußte er stark sein. Und dann würde eines Tages wirklich die schwarze Sonne aufgehen, würde Garsons goldenes Banner über der ganzen Welt wehen, einer Welt, in der aufs neue mächtige Städte zum Himmel ragten, einer Welt des Friedens. Aber der Frieden mußte erkämpft werden. Also zogen die Wikingerflotten aus. Wie eine Feuersbrunst tobten wir durch das Seenland und brachten Tribute zur City zurück. Unsere Schwerter blitzten, unsere Gewehre donnerten. Um am Westufer mühten sich die Gelehrten – und andere Völker beobachteten uns, fürchteten sich.
Eine Einheit, homogen und fähig, sich selbst zu beschützen – das war Garsons Ziel; und nachher, Aufnahme, Verschmelzung. Doch ich hatte mich schon lange gefragt, ob das der richtige Weg war. Jetzt streckte er seine schweren Stiefel vor das Feuer und musterte mich von der Seite unter seinen buschigen Brauen hervor. »Wir brauchen zu essen, sonst verhungern wir diesen Winter. In Indiana gibt es zu essen.« »Warum treiben wir keinen Ackerbau?« »Das tun wir doch.« »Aber verdammt wenig«, sagte ich. »Du kannst die Männer nicht entbehren.« Er funkelte mich an. »Wir brauchen die Männer zu anderem – in den Werkstätten, für die Labors, für die Sonderausbildung für den Kampf. Selbst die hydroponischen Gärten reichen dieses Jahr nicht. Du verdammter Narr, ich riskiere nicht noch einmal einen schlimmen Winter wegen deiner Weichherzigkeit. Wir arbeiten für die ganze Menschheit; die sollten froh sein, daß sie uns ernähren dürfen.« »Nicht, wenn wir ihnen mit dem Revolver in der Hand das Getreide wegnehmen.« »Wir haben doch versucht, mit ihnen zu handeln. Die verlangen zuviel. Produkte aus unseren Labors – Waffen! Wir haben die Chance, die Zivilisation wieder aufzubauen, weil wir stark sind. Wenn ein anderer Stamm ebenso mächtig wird wie wir, wird es Krieg geben.« »Jetzt gibt es doch auch Krieg.« »Nein«, sagte er, und um seine Augenwinkel zuckte es, »unsere Feinde haben dafür nicht die Waffen. Später, wenn wir uns selbst versorgen können,
werden wir sie in Frieden lassen – bis wir soweit sind, daß wir sie zu uns einladen können. Aber die herrschende Nation darf nicht gespalten sein. Es wird immer weitere Verschmelzung geben, bis diese Nation die ganze Welt ist. Zu meinen Lebzeiten wird das nicht geschehen. Das weiß ich. Und doch – eines Tages wird das Banner der Schwarzen Sonne über der Erde wehen, Dale.« Er war auf dem falschen Weg. Ich wußte das; ich wußte jetzt, daß es nie Frieden geben würde, solange man Garson gewähren ließ. Er war ehrlich; er glaubte sich im Recht. Das war ja das Tragische daran – ich würde ihn nie überzeugen können. Und so sagte ich – und meine Verzweiflung muß aus meiner Stimme geklungen haben: »Laß mich vermitteln, Bob! Laß es mich versuchen, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt!« Er fuhr herum, starrte mich an: »Reiß dich zusammen, Dale!« sagte er. Seine braune haarige Pranke schloß sich um meinen Dolch: er sprang auf, beugte sich über den Tisch und schob ihn mir in die Scheide zurück. »Die Flotte segelt, sobald sie fertig ist; wir warten nur noch in der Hoffnung, daß Wellingham seinen Strahler rechtzeitig fertigbekommt. Du übernimmst das Kommando –« »Nein.« Wieder rötete sich sein kantiges Gesicht. Ich dachte schon, er würde den Dolch ziehen und mich damit angreifen. Ich regte mich nicht. Ich sah, wie Garsons Blick an mir vorbeiwanderte, und dann lockerten sich seine Glieder, und er ließ sich in den Stuhl zurücksinken. »Nun, Horsten?« sagte er. »Ich habe zu tun.«
»Ich gehe schon«, sagte ich und drehte mich herum. Ich sah in die berechnenden blassen Augen John Horstens, des Geopolitikers. Er war ein zwergenhaft gebauter, großköpfiger Mann mit dicken Lippen, der stets die Brauen etwas hob, als wunderte er sich über etwas. Ich machte gar keine Anstrengungen, die Abneigung zu verbergen, die ich für ihn empfand; das war immer so, seit ich einmal Zeuge geworden war, wie er einen Gefangenen gefoltert hatte, ihn mit der Peitsche geschlagen hatte, aber er war ein fähiger Mann, und sein Wissen war für Garson wichtig. Ich ging hinaus, ohne mich umzusehen, und blieb im Vorraum am Fenster stehen und blickte auf die Schiffe hinunter. Der volle Mond stand am Himmel und zeichnete den Wald der Masten deutlich ab, die in der schwachen Flut schwankten. Ein frischer Wind blies vom Michigansee herüber und kündete das Nahen des Winters an. Ein kalter Winter würde es werden, und unsere Vorratskammern waren halb leer. Das Essen würde knapp werden, sofern unsere Wikingerflotte nicht die friedlichen Südländer besiegte. Nach einer Weile kam Horsten heraus und bot mir eine Zigarette an. Ich schüttelte den Kopf. Er zündete sich eines der parfümierten grünen Stäbchen an und beobachtete mich unter seinen blassen Augenlidern hervor. »Es gibt doch keine Schwierigkeiten, hoffe ich, Ser Heath.« »Warum sollte es denn Schwierigkeiten geben?« fuhr ich ihn an. Er rieb sich die Hände. »Der Erstmann ist – äh – erregt. Der Angriff auf Indiana – geht es darum?« »Vielleicht.«
Horsten lachte glucksend. »Wenn Wellinghams Strahler fertig ist –« Die Wut in mir flammte auf. Ich wirbelte zu Horsten herum, meine Lippen waren weiß. »Das würde dir gefallen«, sagte ich. »Ein Hitzestrahl – brennende Männer, Menschen, die schreien und langsam sterben, und du kannst zusehen! Es macht dir Spaß, Menschen zu quälen, nicht wahr?« »Ser Heath! Habe ich Euch beleidigt?« Ich sah ihn stumm an, und er wurde unter meinem Blick unruhig. »Der Hitzestrahl kann im Bruchteil einer Sekunde zerstören, wenn man ihn auf volle Leistung schaltet. Aber – aus rein psychologischen Gründen – könnte ein langsamer schmerzhafter Tod manchmal ganz heilsam sein.« »Ja«, sagte ich und ließ ihn stehen. Als ich dann die Rampe ins Freie hinunterging, stellte ich fest, daß ich den Dolch noch in der Hand hielt, daß ich ihn so krampfhaft gehalten hatte, daß ich mir die Handfläche dabei verletzt hatte. Es machte nichts aus. Ich wickelte mir ein Taschentuch um die Wunde und ging weiter. Warmes, goldenes Licht drang aus dem Fenster weit über mir, verblaßte langsam in der Finsternis. Scheinwerferbalken ragten wie weiße Speere zu meiner Linken gen Himmel, sammelten sich um den riesigen Fahnenmast, an dem das Banner Bob Garsons hing. Hier im Seeland, inmitten der Ruinen einer entvölkerten Welt, lebten die ersten Anfänge einer Zivilisation. Aber zu schnell – einer Zivilisation, die zu schnell wuchs und darunter litt! Die Schwarze Sonne begann aufzugehen, aber wenn sie die Mittagshöhe erreichte,
würde der Zorn der Götter über eine Erde hereinbrechen, die schon so lange in Angst und Schrecken gelebt hatte. Und doch – dies war der Geburtsort einer neuen Zivilisation. Hier war der Mann, den ich gekannt, dem ich vertraut hatte, der Mann, an dessen Seite ich so oft gekämpft hatte, der Mann, der mir mehr als ein Bruder war ... Und ich muß ihn verraten, dachte ich!
2 Aus dem Pavillon drang leise Musik. Man sah das Flackern der Laternen. Die Gestalten der Tänzer zeichneten sich in schwankenden Silhouetten ab. Ich erinnerte mich, daß heute der Geburtstag von Joanna, der Frau von Erstmann Garson, war. Bob und ich hätten an der Feier teilnehmen sollen. Aber zuerst kam die Arbeit. Als ich um den Pavillon herumging, sah ich Joanna, hochgewachsen, aschblond, lieblich anzusehen, von einem Dutzend Wikingeroffiziere in ihren leichten Galapanzern und den goldenen Umhängen mit dem Bild der Schwarzen Sonne umgeben. Auch Joannas Kopfschmuck trug das gleiche Symbol: eine schwarze Perle in einer goldenen Fassung. Ihr Gelächter hallte im kühlen Wind, der um sie herum wehte. Ich ging zu Wellinghams Labor. Unter dem Uniformrock trug ich das übliche kugelsichere Hemd, und das Schwert an meiner Seite war schwerer als das, das ich gewöhnlich in der Stadt trug. Ich holte
einen kleinen Schlagrevolver aus der Tasche und vergewisserte mich, daß er geladen war: eine gefährliche Waffe, sowohl zum Schlagen als auch zum Schießen bestimmt. Vor mir lag jetzt die Veranda von Wellinghams bunkerähnlichem Haus. Ich ging die Stufen hinauf und drückte auf die Klingel. Ein Schweißtropfen, eiskalt, rann mir über die Wange. Es galt jetzt, das Geheimnis des neuen Strahlers von Wellingham zu bekommen und sicherzustellen, daß er sein Experiment nicht wiederholte. Ich hatte mich bisher geweigert, den Gedanken zu Ende zu denken. Den harmlosen freundlichen alten Mann zu ermorden –! Die Tür öffnete sich. Aus dem Dunkel dahinter peitschte mir eine Explosion entgegen. Ich spürte einen Schlag gegen den Leib, aber das feingewebte Panzerhemd rettete mich. Der Schuß hatte mir den Atem geraubt. Ich knickte in der Mitte zusammen, erkannte blitzartig, daß nicht mehr Zeit war, nach dem Schlagrevolver zu greifen, daß die dunkle Gestalt, die hinter der Schwelle auf mich gelauert hatte, bereits ihre Waffe zum zweiten Schuß erhoben hatte. Ich fiel zur Seite, spürte den vertrauten kühlen Griff meines Schwerts an der Handfläche, hörte das leise Zischen, als die Waffe aus der Scheide glitt. Ich stieß nach oben, spürte, wie die Klinge in den Leib meines Gegners eindrang, an seiner Wirbelsäule entlangglitt. Seine Waffe blitzte auf, der Schuß verfehlte mich, und er fiel mit einem schrillen Schrei nach vorne. Er war in Schwarz gekleidet und maskiert. Hinter ihm kamen jetzt weitere Männer gerannt. Sie trugen ebenfalls Masken. Doch ich war inzwischen aufgesprungen, hatte
Atem geholt und hielt den Revolver bereit. Ich warf mich auf den Anführer. Sein Schwert fegte Haarspitzen von meinem Kopf, so schnell duckte ich mich. Meine Faust krachte gegen sein Kinn. Ich betätigte im gleichen Augenblick den Abzug, und sein Gesicht explodierte förmlich in rote Fetzen. Er hatte nicht einmal mehr Zeit aufzuschreien, ehe er starb. Aber es waren zu viele, und ich war ihnen hier nicht gewachsen. Die Schüsse hatten einen Alarm ausgelöst; ich hörte Rufe in der Ferne. Meine Gegner wollten entkommen und warfen sich in wirrem Durcheinander auf mich, ihre Revolver knallten, ihre Klingen blitzten. Eine Kugel streifte meine Wange. Ein paar Schüsse trafen mich am Leib, wurden von meinem Panzerhemd aufgehalten, aber der Aufprall machte mich benommen, ließ mich einen Augenblick unaufmerksam werden. Und das war Zeit genug. Vier Männer kamen aus dem Flur, ihre Blicke huschten schnell und verängstigt umher. Hätten sie gewartet, so hätten sie mich töten können. Aber sie flohen, schossen auf mich – zielten aber schlecht – während ich mich aufraffte, um weiterzukämpfen. Und dann waren sie zwischen den Büschen der Terrasse verschwunden. Zu meinen Füßen lagen zwei Leichen. Jemand hatte den Bruchteil einer Sekunde zu früh angegriffen, mich damit gewarnt. Ich wußte nicht, wer es war oder warum er es getan hatte. Ich schob mein Schwert in die Scheide, eilte ins Haus, strebte auf Wellinghams unterirdische Werkstätte zu. Da war er, lag über einer Werkbank, er hatte Blut an seinem grauen Arbeitsmantel und einen roten Flecken in seinem weißen Haar. Ich riß sein Hemd
auf, legte das Ohr an seine Brust. Sein Herzschlag war kaum zu vernehmen. Nach einer Weile ließ ich meine Blicke durch das Labor schweifen. Das Modell des Hitzestrahlers war verschwunden. Ich legte Wellingham auf ein Sofa, sperrte die Tür ab und durchsuchte den Medizinschrank. Da war Adrenalin. Ich öffnete eine Spritze, füllte sie, schob die Nadel vorsichtig zwischen Wellinghams Rippen, bis ich wußte, daß sie sein Herz berührte. Das Anregungsmittel tat seinen Dienst. Jemand klopfte an die Außentür. Ich achtete nicht darauf. Ich sah zu, wie Wellingham zum Leben erwachte, sah seine Lider flattern, sah den Schmerz in seinen verblaßten Augen. Aber ich wagte es nicht, ihm Morphium zu geben. Nicht einmal in Frieden sterben konnte ich ihn lassen. »Heath –« flüsterte er. »Dale Heath?« »Ja, Wellingham«, sagte ich. »Was ist geschehen?« »Das – Adrenalin? Sterbe ich?« Er sah mich nicken und seufzte. »Das Modell – der Strahler – gestohlen.« »Hast du es fertiggestellt?« »Ja. Nur ein Modell – Pläne zerstört – man kann – nach dem Modell – nachbauen –« »Wer hat es gestohlen, Wellingham?« »Horsten«, sagte er. »John Horsten. Er will – den Erstmann – stürzen. Joanna – hilft ihm! Sie weiß – weiß –« Er starb. Diesmal war sein Tod endgültig. Das Klopfen an der Tür war lauter geworden; jemand versuchte, das Schloß aufzuschweißen. Ich sah mich um. In der Ecke gab es noch eine Tür. Vorsichtig öffnete ich sie und ging in den Korridor hinaus. In der Ferne polterten Schritte auf der Treppe. Ich sah un-
weit von mir einen Schrank, zwängte mich hinein und wartete, während die Schritte an mir vorbeipolterten, auf das Labor zu. Dann kroch ich aus dem Schrank heraus und huschte die Treppe hinunter. Ich hätte die Wächter bluffen können, wollte aber keine Zeit vergeuden. Meine Flucht bereitete keine Schwierigkeiten. In einem öffentlichen Waschraum nahm ich die nötigsten Reparaturen vor. Eine Münze öffnete den Medizinschrank an der Wand. Antiseptika und flüssige Haut beseitigten den Kratzer an meiner Wange. Dann wusch ich mir mit kaltem Wasser die Blutflekken von den Kleidern. Anschließend rief ich die Verwaltung an. Horsten war nicht da. Er war auch nicht aufzufinden. »Danke«, nickte ich und ging hinaus, blickte zum Pavillon hinüber. Es wurde immer noch getanzt. Ich ging in Richtung auf den Pavillon. Ganz in meine eigenen Pläne vertieft, hatte ich überhaupt nicht bedacht, daß auch andere Pläne schmieden konnten – mörderische Pläne. Ein Putsch, um Garson zu stürzen, ein Putsch, hinter dem Horsten stand? Und Joanna als seine Helfershelferin? Aber warum? Ich wollte das wissen. Man mußte unbedingt das Modell des Hitzestrahlers ausfindig machen. Aber ich konnte nicht Bob Garson auffordern, mir zu helfen; nicht, wo ich selbst Pläne gegen ihn schmiedete. Als man mich erkannte, ließ man mich in den Pavillon, obwohl ich nicht kostümiert war. Ich arbeitete mich zwischen den Tanzenden durch, bis ich die Stelle erreichte, wo Joanna Garson mit einem Offizier in goldenem Umhang einen Walzer tanzte. Ich tippte
ihm auf die Schulter. Sie schwebte elegant in meine Arme, lächelte zu mir auf, obwohl sie beinahe so groß war wie ich. Ihr Körper war wie eine Stahlfeder unter ihrer seidenen Robe. Eine herrliche Frau, diese Joanna Garson. Bis jetzt hatte ich sie nie für sonderlich intelligent gehalten. Ich war dessen immer noch sicher, würde das erst sein, wenn ich wußte, warum sie sich mit Horsten zusammengetan hatte. Ihre honigfarbenen Augen musterten mich. Sie hatte Champagner getrunken, Champagner, der vielleicht aus den Kellern der Ruinen von Chicago stammte. Und jetzt funkelten ihre Augen von der Wirkung des seltenen Getränks. »Ich sollte nicht mit dir tanzen, Dale. Du hast dich verspätet und dich für meine Party nicht kostümiert.« »Es war schwer genug, überhaupt hierherzukommen.« »Arbeitet Bob noch?« »Als ich ihn verließ, arbeitete er noch. Die Flotte segelt bald. Das weißt du ja, Joanna.« Ein Lächeln spielte um ihre vollen roten Lippen. »Er liebt seine Flotte mehr als mich.« »Du weißt, daß das nicht so ist«, sagte ich. »Ohne dich – ich weiß nicht, ob er die Kraft hätte, seine Aufgabe zu erfüllen.« »Nun – mag sein. Aber weshalb davon in dieser Nacht reden? Danke für das Geschenk, Dale. Das war ein reizendes Halsband.« »Ich habe noch ein Geschenk«, sagte ich und lenkte sie auf eine Terrasse zu. Sie wirkte etwas erstaunt, folgte mir aber. Wir tanzten in die kühle Nacht hinaus, die von den Laternen an den Bäumen anheimelnd erleuchtet war.
»Hier unten.« »Oh, nicht weiter. Mein Kleid –« Ich griff nach ihrem Arm, eine Spur zu hart, sie versuchte sich loszureißen, und ihre Augen blickten plötzlich beunruhigt. Ich sah, wie ihr Mund aufging, und wußte, daß sie gleich schreien würde. Es gab nur einen Weg, sie daran zu hindern. Ich riß sie zu mir heran, preßte meine Lippen in einem heftigen Kuß auf die ihren. Sie erschlaffte unter meinem Griff. Ehe sie sich erholen oder meine Absicht erkennen konnte, hatte ich sie die Terrassenstufen hinuntergedrängt ins Dickicht. Meine Hand lag über ihrem Mund. Sie wehrte sich, aber ich hielt ihr die Spitze meines Dolches an die Kehle. »Schrei nicht«, sagte ich ganz leise. »Ich steche zu, wenn ich muß.« Sie glaubte mir nicht ganz, aber sie hatte Angst. »Dale«, flüsterte sie. »Du bist verrückt. Was –« »Wellingham ist tot«, sagte ich. Ihr überraschtes Zusammenzucken wirkte nicht überzeugend. »Aber – ich verstehe nicht.« »Es ist nicht viel Zeit. Ich kenne Horstens Pläne. Ich weiß, daß du mit ihm gemeinsame Sache machst. Was wäre, wenn ich es Bob sagen würde?« Ihr Gesicht war plötzlich eine ausdruckslose Maske. Ich wußte, daß ihr Gehirn fieberhaft arbeitete. »Du bist ja total verrückt, Dale. Nimm das Messer weg!« Anstatt zu antworten, drückte ich etwas kräftiger zu. »Versuch doch zu schreien«, riet ich ihr. »Ich scherze nicht. Ich will den Hitzestrahler haben.« »Du würdest es nicht wagen, mich zu töten«, sagte Joanna. »Bob würde –«
»Was würde er? Wenn er wüßte, daß du ihn verraten hast?« Die passenden Worte für mich, dachte ich. Ein Verräter gegen den anderen. Aber ich mußte das, was zu geschehen hatte, auf meine Weise tun. Ich zeigte Joanna meinen Schlagrevoler. »Weißt du, wie das hier funktioniert? Diese Dornen – sie können Hackfleisch aus dem Gesicht eines Mannes machen. Oder dem einer Frau. Hör gut zu. Ich verschwinde hier heute nacht; ich verlasse diese Gegend. Ich komme nicht zurück. Ich will den Hitzestrahler mitnehmen. Verstanden? Ich werde nicht mit Bob sprechen – nicht über dich oder Horsten oder sonst etwas.« »Was willst du damit sagen?« »Überleg es dir. Da ich ohnehin gehe, macht es mir nichts aus, dich vorher zu töten –« »Ich fürchte den Tod nicht«, sagte sie. »– oder ich benütze diesen Schlagrevolver«, schloß ich. »Ich habe ihn heute nacht schon einmal benützt. Der Mann ist tot, aber das kommt daher, weil ich auf sein Gehirn gezielt habe. Dich würde ich nicht töten, Joanna – aber du würdest dir wünschen, daß ich es getan hätte.« Sie zuckte zurück, und ihre elfenbeinfarbene Haut war weißer denn je. Aber ich redete unverwandt weiter. »Dieser Mann – als ich fertig war, war er gar nicht mehr hübsch. Er hatte keine Nase mehr. Und sein Unterkiefer war auch verschwunden. Und bei dir würde ich mir mehr Mühe geben? Joanna. Selbst ein Chirurg könnte nicht mehr viel an dir ausrichten.« »Mein Gott, Dale«, flüsterte sie, und eine Ader pochte an ihrem Hals. »Was habe ich denn getan, daß
du mich so haßt?« »Ich hasse dich nicht. Du bist mir völlig gleichgültig. Ich lasse nur nicht zu, daß sich jemand mir in den Weg stellt.« Sie war eiskalt in meinen Armen. »Was willst du?« »Wo ist das Modell des Hitzestrahlers?« »John hat es.« »Wo?« »Ein Versteck – unter dem See –« »Seine Pläne?« »Er will tragbare Strahler herstellen – viele. Und – den Erstmann – stürzen –« Ich überlegte, was sie wohl dabei abbekommen sollte, fragte aber nicht. »Wie kommt man zu diesem Versteck?« »Wasseranzüge. Ich müßte es dir zeigen –« »Schön«, nickte ich. Ich las förmlich ihre Gedanken. Wenn sie mich in eine Falle locken, sicherstellen könnte, daß ich nicht mit Bob Garson reden würde – würde sie das versuchen. Aber das paßte auch zu meinen Plänen. Ich mußte den Prototyp in die Hand bekommen und dafür sorgen, daß Garson ihn nie bekam. Ich schob den Schlagrevolver über die Finger und packte Joannas Arm so, daß die Waffe von ihrem Ärmel verborgen war. »Dort gehen wir jetzt hin.« »Ich brauche einen Umhang.« »Nein.« Sie gab nach, und wir gingen zu dem Weg, der ans Ufer führte. Die Musik aus dem Pavillon verklang hinter uns. Mein Herz schlug wie wild, und ich spürte eine eigenartige Kurzatmigkeit. Jenseits des täuschenden Scheins der Lichter der City lag die Welt
in Finsternis, und die Menschen kämpften und mordeten immer noch in den Ruinen.
3 Die Schnittwunde, die ich mir mit meinem Dolch zugefügt hatte, als ich Garson verließ, tat immer noch weh. Jetzt hatte sogar die Blutung wieder angefangen. Einzelne Blutstropfen markierten unseren Weg. Aber es waren nicht viele, und so fiel es Joanna nicht auf. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt aufzupassen, daß uns niemand folgte. Wir brauchten nicht weit zu gehen. Ein kleiner Felsvorsprung reichte in den See hinein, wie ein tastender Finger. Er war etwas höher als unsere Köpfe. Wir gingen über den schmalen Pfad an der Basis der kleinen Halbinsel. Gischt sprühte kalt um unsere Beine. Ich hinterließ eine rote Spur, wo das Wasser sie nicht erreichen konnte; hin und wieder ein blutiger Fingerabdruck genügte. Die Wachen würden heute nacht Wellinghams Mörder suchen. Sie würden die ganze Stadt absuchen. Diese gut ausgebildeten Schnüffler würden das Blut sehen und der Spur folgen. Ich fragte mich, wieviel Zeit ich wohl noch hatte. Joanna ging vor mir her. Sie schritt sicher aus. Die Lichter am Ufer waren jetzt hinter der Biegung der Halbinsel verschwunden. Zu unserer Linken dehnte sich die ununterbrochene schwarze Fläche des Michigansees. Ein eisiger Wind wehte. Wir gingen lange. Am Ende des Kais blieb Joanna stehen und fuhr mit den Fingern über die Betonkante. Eine Öffnung gähnte dort.
Ich holte eine Lampe aus der Tasche und ließ den kleinen Scheinwerferstrahl die Wand abtasten. An dieser Stelle war eine kleine Kammer in die Wand eingearbeitet; eine Leiter führte in die düstere Tiefe. Ich hatte mir die Stelle gemerkt, die Joanna berührt hatte, um die Klappe zu öffnen, und markierte sie jetzt mit Blut. Während sie noch bemüht war, ihre Augen der plötzlichen Beleuchtung anzupassen, trat ich an ihr vorbei in die kleine Kammer, worauf sie die Tür hinter uns verschloß. »Hier unten, Joanna?« »Ja. Ich sagte ja, daß es unter Wasser liegt.« Ihre wachsamen honigfarbenen Augen ließen mich nicht los. »Ich gehe voran.« Wir kletterten die Leiter hinunter. Ich weiß nicht, wie lang sie war, aber der See war an dieser Stelle ziemlich tief. Wir mußten bis zum Grund hinuntergestiegen sein. Endlich berührten meine Füße festen Boden. Wir befanden uns in einer kreisrunden Kammer, die völlig kahl war, abgesehen von einem guten Dutzend Unterwasseranzüge, die in einem wirren Haufen in der Ecke lagen. An einer Wand gab es eine Schleusentür. Joanna nahm einen der Anzüge und warf mir auch einen herüber. Ich zog den Anzug, den sie mir gegeben hatte, nicht an. So weit reichte mein Vertrauen nicht. Statt dessen fand ich in dem Haufen einen anderen, der recht gut paßte, überprüfte die Bleigewichte an den Sohlen und sah ihr dann zu, wie sie das durchsichtige zähe Material mit dem eingebauten Atemgerät zurechtzog. »Wer hat das alles gebaut?« wollte ich wissen.
Joanna schien gar nicht mehr verängstigt. Wahrscheinlich hatte sie sich schon einen Plan zurechtgelegt, wie ich ausgeschaltet werden konnte. Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Lippen, als sie mich ansah. »Ich weiß nicht. Das ist eine ziemlich alte Kaimauer – neunzehnhundertsechzig oder noch früher. Wir – wir haben das nur etwas umgebaut.« »Und was nun?« »Das zeige ich dir gleich.« Sie klappte ihre Gesichtsplatte zu, und jetzt konnten wir nicht mehr reden. Diese leichten Anzüge hatten kein Sprechgerät. Ich schloß mich ihrem Beispiel an und ging auf die Tür in der Wand zu. Jetzt konnte ich keine Spuren mehr für die Wachen hinterlassen. Meine verwundete Hand war von einem Handschuh umschlossen, aber ich hoffte, daß der Weg von hier an eindeutig sein würde. Zum Glück war er das. Die Tür öffnete sich in einen kleinen Raum, der abgesehen von einem Flaschenzug völlig leer war. Es gab ein paar Haken an dem Flaschenzug. Es mußte sich um eine Art Kransystem handeln. Hinter uns schloß sich die Tür. Joanna zeigte mir, wie eine Öse an meinem Anzug mit dem Haken verbunden werden konnte. Sie tat dasselbe. Dann legte sie einen Hebel in der Wand um, worauf die Wand vor uns sich langsam öffnete und das dunkle Wasser des Michigansees einfließen ließ. Ich hielt immer noch meine Taschenlampe in der Hand und richtete den Scheinwerferkegel auf Joanna, aber in der Strömung war sie kaum zu sehen. Das Wasser zerrte an uns und stieß uns herum. Nur die Tatsache, daß wir an dem
Flaschenzug hingen, bewahrte uns davor, gegen die Wände geschleudert zu werden. Dann erfüllte ruhiges tiefes Schweigen den Raum, und wir wurden langsam an dem Kabel entlanggezogen. Ich schaltete das Licht einen Augenblick ab. Erschreckende, totale Schwärze schnitt mich vom Leben ab. In die Tiefe, in der wir waren, reichte das Licht des Mondes nicht. Ich spürte wie Wasserpflanzen über meinen Anzug strichen, während ich von dem Kabel dahingezogen wurde. Blindlings tastete ich nach vorn und berührte Joannas Arm. Ich umklammerte ihr Handgelenk. Sie versuchte nicht, sich zu befreien. Nach einer Weile hörte die Vorwärtsbewegung auf. Ich schaltete das Licht wieder ein und sah, wie Joanna ihren Karabinerhaken von dem Kabel löste. Ich tat es ebenfalls. Wir befanden uns in einem kleinen Raum, einem exakten Gegenstück zu dem, den wir verlassen hatten. Selbst ein Hebel an der Wand war zu sehen. Joanna drückte diesen Hebel herunter, und die Schleuse schloß sich, sperrte uns ein. Das Wasser begann abzufliesen, ließ nur noch ein paar Pfützen zu unseren Füßen zurück. Wir gingen durch eine Tür in den nächsten größeren Raum. Dort gab es etwa ein Dutzend Anzüge, die in einer Ecke lagen. Joanna ging auf eine durchsichtige Scheibe in der Wand zu, aber ich kam ihr zuvor. Ich konnte nichts sehen, spürte aber, daß prüfende Augen mich beobachteten. »Wir sind allein«, sagte ich. »Sag Horsten, daß wir hier sind.« Jetzt öffnete sich eine verborgene Tür. Die Größe der unterirdischen Halle setzte mich in Erstaunen, bis
ich mich an den nicht fertiggestellten Tunnel erinnerte, den man neunzehnhundertfünfzig begonnen hatte, und der unter dem Michigansee hätte durchführen sollen. Einige Jahre später hatte man die Arbeiten eingestellt. Das war ein Teil dieser alten Tunnelanlage. Die wenigen schwachen Lichter warfen große Schattenflecke auf die feuchte Decke und die Seitenwände. Es gab ein gutes Dutzend Metallstühle, ein paar Pritschen und einen zusammenklappbaren Schreibtisch, hinter dem John Horsten saß. Er hatte die Brauen gehoben, und seine Augen musterten uns intensiv unter ihren blassen Lidern. Sein Blick wanderte zu Joanna und dann wieder zu mir zurück. Es gab hier etwa zwanzig Männer. An einigen glaubte ich Spuren meines Schwertes und meines Schlagrevolvers zu erkennen. Sie sahen mich an und – wenn auch keiner die Waffen zog, so spürte ich doch die Drohung, die von ihnen ausging. Ich klappte meine Gesichtsplatte auf. Joanna war mir bereits zuvorgekommen. Sie rief: »Richtet die Waffen auf ihn! Laßt nicht zu, daß er sich bewegt.« Dann rannte sie an mir vorbei zu dem Tisch, hinter dem Horsten wartete. Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Ser Heath!« sagte er. »Ich hatte nicht erwartet ... was ist denn geschehen Joanna?« »Du mußt ihn töten!« flüsterte sie. »Er ist allein. Er hat mich gezwungen, ihn hierherzubringen –« »Wie hat er es erfahren?« »Ich weiß es nicht. Er sagte, er wolle die City verlassen – und er wollte den Strahler haben.« Horsten strich sich mit den Fingern über die dicken
Lippen. »Die City verlassen – das Kommando über die Wikinger übernehmen? Du bist allein hier, Ser Heath? Das war nicht klug.« Ich blickte zu den Männern mit ihren grimmigen Gesichtern und spürte, wie der kühle Hauch des Todes über mich wehte. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Ich trat vor, ganz langsam, bis ich den Tisch erreichte. Joanna zog sich zurück. Horstens Gesicht wirkte wachsam; ich sah wie seine unter der Tischplatte verborgene Hand sich bewegte. »Wenn du mit mir sprichst«, sagte ich, »dann steh auf!« Sein Kopf ruckte zurück. Fleckige Röte überzog seine Wangen. Dann lächelte er, ein bösartiges Lächeln. Er erhob sich und deutete spöttisch eine Verbeugung an. »Ich bitte um Nachsicht«, sagte er. »Du hast höheren Rang als ich, Ser Heath. Für den Augenblick!« »Den habe ich überall – und immer«, erklärte ich. »Ob wir dem Erstmann nun dienen oder ihn gemeinsam absetzen. Du!« Ich deutete auf einen der Männer. »Einen Stuhl!« Er zögerte, sah Horsten an und gehorchte dann. Ich setzte mich. Horsten setzte sich ebenfalls. Joanna stand neben dem Tisch, wartete. Ich konnte den Blick nur zu gut deuten, den sie dem kleinen Teufel zuwarf. Manche Frauen werden von Häßlichkeit und Bosheit und skrupelloser Kraft in einem Mann angezogen. Sie – liebte ihn! »Du armseliger Narr, Horsten!« sagte ich. »Wenn das ein Beispiel für deine Pläne ist, braucht sich der Erstmann verdammt wenig Sorgen zu machen.« »Rede nur«, sagte er. »Du kannst reden, was du
willst. Du wirst gleich damit aufhören.« »Nicht hier. Ich weiß, daß du mich gern töten würdest, aber ich bin viel zu wertvoll, um schon zu sterben. Deine Leute werden das erkennen.« »Hast du die Wachen hinter dir hergelockt?« Joanna unterbrach ihn schnell: »Ich habe mich vergewissert, daß man uns nicht gefolgt ist.« »Das ist gut.« Er nickte langsam. Ich hob die Hand. »Hört. Ich habe erst heute nacht von eurer Organisation erfahren. Nur deine dummen Fehler haben mich darauf gebracht. Ich hatte bereits beschlossen, hier zu verschwinden – die City zu verlassen, und zwar nicht mit der Flotte. Ich habe einmal zu oft mit Garson gestritten. Ich wartete nur noch, bis Wellingham seinen Hitzestrahler fertiggestellt hatte. Dann hatte ich die Absicht, die City zu verlassen, nach Süden zu gehen und bei den Leuten von Indiana Zuflucht zu suchen. Die wären froh gewesen, den Hitzestrahler zu besitzen. Die hätten mir alles, was ich wollte, dafür gegeben. Und mit dem Strahler wäre ich vor Garson sicher gewesen.« »Wirklich?« »Hör zu und sei still. Das war die beste Wahl, die ich hatte, weil ich niemanden hinter mir wußte! Ich war ganz auf mich selbst angewiesen. Ein Mann, ein Mann allein konnte unmöglich die City erobern, selbst mit dem Strahler nicht. Aber du – nun, laß mich raten, welches deine Pläne sind. Du wirst genügend Strahler herstellen, um deine Männer damit zu bewaffnen. Du wirst einen Putsch ausführen. Und wenn der Erstmann tot ist, wird die Schwarze Sonne untergehen. Stand ich auf deiner Mörderliste?« Horstens Augen zuckten. Ich lachte.
»Natürlich. Ein Messer in den Rücken für mich und – den Erstmann? Nein, das hättest du bei ihm nicht gewagt. Er ist zu zäh. Joanna –« ich drehte mich zu ihr herum. »Welches war deine Rolle? Gift?« »Ich glaube, jetzt hast du genug geredet«, sagte Horsten. Seine rechte Hand war immer noch unter der Schreibtischplatte verborgen. »Noch nicht ganz«, sagte ich. »Wenn ich rede, so kann ich euch damit vielleicht das Leben retten und euren Putsch. Ich bin bereit, mit euch gemeinsame Sache zu machen. Du hast den Strahler und die Männer. Was mich angeht, so vertrauen mir die Leute. Dir vertrauen sie nicht. Außerdem habe ich mehr Verstand als ihr alle.« »Ein großzügiges Angebot«, sagte Joanna spöttisch. »Sehr großzügig. Ich war jahrelang Befehlshaber der Wikinger. Ich habe mir meinen Rang als Garsons rechte Hand verdient. Ich kann euch jetzt das Leben retten – wenn ich will. Ich habe meine Pläne geändert. Ich werde mich euch anschließen, aber ihr müßt meine Befehle befolgen.« Horsten stieß zischend hervor: »Wie großzügig, Ser Heath!« »Ich werde nicht unter dir dienen – du bist zu dumm. Gefährlich dumm. Wir müssen mindestens gleichberechtigt sein.« Ich sah, daß mein Bluff Erfolg zu haben begann. Ich konnte nicht hoffen, Horsten zu überzeugen, aber seine Männer zögerten. Und das einzige, was ich jetzt brauchte, war Zeit – ein paar Minuten oder eine Stunde, ich wußte nicht wieviel. Joanna packte Horsten am Arm. »Du glaubst das
doch nicht etwa!« Ich wandte mich an die Männer und sagte mit schneidender Verachtung in der Stimme: »Wir wollen keine Frauen bei uns – bloß solche, die unsere Befehle befolgen. Man kann ihnen nicht vertrauen. Und was dieses Weib angeht, so hat sie euch bereits verraten. Sie hat mich hierhergeführt. Sie hätte sich lieber von mir töten lassen sollen.« Joannas Gesicht wurde weiß. Sie sprang auf, ging auf mich mit gekrümmtem Finger los. Ich zeigte ihr meine geballte Faust – und sie blieb stehen. »John!« Die Stimme drohte ihr vor Wut zu versagen. »Du – du läßt zu – daß dieses Schwein –« »Sag ihr, daß sie den Mund halten soll«, fuhr ich Horsten an. »Ich will eure Pläne kennenlernen.« »Warte, Joanna«, sagte Horsten. »Es ist noch genug Zeit.« Er wandte sich an mich. »Ich kann mir vorstellen, daß du unsere Pläne erfahren willst, Ser Heath. Aber, weißt du, ich bin nicht ganz so dumm, wie du vielleicht annimmst.« »Der Putsch selbst interessiert mich nicht. Wenigstens so lange nicht, als wir keine Einigung getroffen haben. Ich spreche von dem, was nachher kommt. Was dann? Piraterei?« »Piraterei? Nun, wir werden so fortfahren wie – wie immer.« »Gleichheit?« Er zupfte an seinen Lippen. »Natürlich – für uns. Für unsere Oligarchie. Es muß natürlich Sklaven geben. Und wir werden uns ausdehnen. Wir werden Überfälle veranstalten. Wir werden mächtiger denn je sein. Wir müssen stark sein, um vor Angriffen gesichert zu sein. Außerdem –« er lächelte. »Wir werden
angreifen. Garson ist zu weich. Er zögert zu oft. Ich werde ein eisernes Regiment führen.« »Die alte Leier«, sagte ich. »Eine herrschende Klasse in einer Welt von Sklaven. Dein Endziel ist vermutlich die Herrschaft über die Welt.« »Ja.« »Und doch bist du nicht einmal imstande, eine Erfindung zu stehlen, ohne Spuren zu hinterlassen, die deinen Untergang herbeiführen können. Du sitzt jetzt in der Falle, Horsten – das wäre zumindest der Fall, wenn ich nicht gekommen wäre.« Ich hörte die Männer murmeln. Und Joanna sagte: »Niemand hat uns verfolgt, dessen bin ich ganz sicher.« »Wenn du tötest – dann töte!« herrschte ich Horsten an. »Du mußt die Wirbelsäule brechen oder das Gehirn zerschlagen. Du darfst dein Opfer nicht leben lassen, bis die Wachen kommen, so daß es reden kann.« »Wellingham?« fragte Horsten leise. Sein kalter Blick huschte durch die Halle. »Jemand hat Mist gebaut, wie? Aber du bist dazwischengetreten, Ser Heath. Du hast versucht, meine Männer an der Flucht zu hindern.« »Nachdem sie Wellingham sterbend liegengelassen hatten, aber nicht tot, so daß er noch reden konnte. Woher sollte ich wissen, wer sie waren? Ich habe jedenfalls genug von Wellingham erfahren, um Joanna zu finden.« »Wellingham wußte wenig. Er hat dir nicht gesagt, wie du hierher kommen kannst. Das mußt du von Joanna erfahren haben. Und die Wachen wissen es auch nicht.«
»Wellingham wußte es. Er verlor die Besinnung, ehe er es mir sagen konnte. Ich mußte schnell weg, weil die Wachen schon an der Tür waren. Wahrscheinlich haben sie aus Wellingham die Wahrheit herausgeholt, wenn nötig mit Adrenalin.« »Wellingham kennt den Weg hierher nicht.« »Er hat es aber behauptet«, sagte ich. »Ich bin gekommen, um euch zu warnen, weil ich mich deiner Organisation anschließe. Und du brauchst weiß Gott einen Mann mit Verstand!« Von der Decke tönte das Summen der Alarmanlage. Ich erkannte das nach einem Blick auf ein Dutzend Gesichter. »Da hast du die Antwort«, sagte ich in das lastende Schweigen hinein. »Und jetzt keine Reden mehr. Wenn du keinen Notausgang geschaffen hast, Horsten, bist du noch dümmer als ich angenommen hatte.« »Es gibt keinen anderen Ausgang«, sagte einer der Männer. Ich grinste. »Wenn Horsten euch das gesagt hat, dann hat er gelogen. Er achtet schon auf seine eigene Haut. Er würde euch vielleicht hier lassen, aber allein. Und er würde euch nicht zurücklassen, um mit den Wachen zu sprechen.« Sie begriffen, was ich damit meinte, und es gefiel ihnen gar nicht. Horsten sprang auf, das Gesicht verzerrt, und deutete in eine Richtung. »Dorthin«, sagte er. Und von der Decke summte es monoton.
4 Wie ich gehofft hatte, zog Horsten eine Schreibtischschublade heraus und entnahm ihr ein kleines dunkles Kästchen, an dem Gurte hingen. Der Prototyp des Hitzestrahlers – jetzt in Reichweite. Aber Horsten hielt die Pistole schußbereit, und auch Joanna war auf der Hut. Wir gingen durch einen schmalen Gang, der an einer Wand endete. Horsten öffnete eine Klappe. Es handelte sich um eine weitere Schleuse, in der Anzüge lagen. »Ich habe für einen Fluchtweg gesorgt«, sagte er. »Und zwar für alle.« Die Stimmung der Männer schlug um. Hätte Horsten ihnen in diesem Augenblick den Befehl erteilt, mich niederzuschießen, so hätte sie ihm gehorcht. Ich sah das und kam ihm zuvor, indem ich handelte. An der Wand war ein Hebel; ich wußte, wie man ihn betätigte. Einen Augenblick herrschte Durcheinander, als die Männer auf den Stapel von Anzügen losrannten. Ich tat so, als wollte ich mich ihnen anschließen, wirbelte dann herum und rannte auf den Hebel zu. Horsten stieß einen Ruf aus, und Joannas schriller Schrei halte durch den Gang. Eine Kugel pfiff an mir vorbei und drückte sich an der Wand platt. Dann lag der Hebel kalt in meiner Hand, und ich riß ihn herunter, während ich gleichzeitig mit der anderen Hand die Gesichtsplatte meines Anzugs zuklappte. Wasser schoß aus dem Ventil, zuerst ein einzelner
Strahl, dann ein Gießbach und am Ende eine wahre Sintflut. Die Lampen, die die Männer in der Hand hielten, zuckten. Ich sah, wie Horsten sich einen Anzug schnappte, den Helm herunterriß und ihn sich über den Kopf stülpte. Auch die anderen waren beschäftigt. Deshalb töteten sie mich nicht; sie waren zu sehr darauf bedacht, ihr eigenes Leben zu retten. Alle, mit Ausnahme von Joanna. Sie trug bereits ihren Anzug und hatte, ebenso wie ich, die Gesichtsklappe geschlossen. Sie griff nach einer Pistole, die jemand fallengelassen hatte, und feuerte auf mich. Ich warf mich in einem Hechtsprung auf sie, und wir gingen beide zu Boden, geblendet von der hereinstürzenden Flut. Wir wurden auseinandergerissen. Ich hatte mir gemerkt, wo Horsten gestanden hatte, und versuchte, ihn zu erreichen. Jetzt hatte ich die Gurte der kleinen Box in der Hand und riß sie ihm weg. Horsten selbst konnte ich in dem Chaos nicht sehen, das in der Schleusenkammer herrschte. Ein paar Lichter kreisten wie wildgewordene Meteore. Ich wurde gegen die Wand geschleudert. Als ich wieder auf den Füßen stand, hatte die Flut sich beruhigt. Eine undeutliche Gestalt kam auf mich zu. In der Nacht der Tiefe wirkte sie wie Ebenholz. Ich beugte mich vor, auf die Mündung des Ventils zu. Eine Hand griff nach meinem Fußgelenk. Ich trat aus, spürte, wie Blasen in meinem Anzug emporkrochen. Ein Mann starb hier ... viele starben. Mir war kalt, und meine Nerven waren angespannt wie Drahtseile. Draußen im See trat ich die Gewichte von meinen Sohlen und schoß in die Höhe. Die Gefahr des Tau-
cherkrampfes war ziemlich gering, dafür reichte der Druck nicht aus. Aber ich schoß wie ein Kork aus dem Wasser. Das Mondlicht blendete mich. Unweit von mir lag ein Wikingerschiff vor Anker. Dahinter bewegten sich weitere Maste und Rahen langsam vor dem purpurfarbenen Himmel. Ich schwamm auf die Ankerkette zu, klappte die Gesichtsplatte auf und stieß einen Schrei aus. Der Posten rief. Eine Strickleiter wurde über Bord geworfen. Ich kletterte hinauf, ohne die schwarze Box loszulassen. Natürlich erkannte man mich. Ein großer grauhaariger Mann in Uniform schob sich durch die Menge, die mich umringte. »Ser Heath«, sagte er. »Ärger gehabt?« »Ein wenig. Ich brauche ein Boot. Ich will an Land gehen, Kapitän. Und schalte einen Scheinwerfer ein.« Er salutierte. Der weiße Scheinwerferbalken strich über das Wasser. Ein paar dunkle Umrisse waren zu sehen; Leichen. Ich fragte mich, ob Joanna und Horsten auch auf dem Grund des Sees gestorben waren. »Am Ufer scheint sich was zu tun«, berichtete Kapitän Daly. »Ich weiß nicht, was los ist, aber irgend etwas muß es sein. Wir segeln doch nach Süden oder, Ser?« Ich gab keine Antwort. Ich hatte die Wikinger auf so vielen Expeditionen befehligt, daß sie nicht verstehen würden, wieso sich meine Ansichten geändert hatten. Ich war nicht einmal sicher, ob ich es selbst begriff. Ich war es nur einfach müde, einem blinden Gott der Vernichtung zu folgen. Ich blickte zu dem Banner mit der Schwarzen Sonne auf, das im kalten Wind wehte.
Das Boot brachte mich an eine Landungsbrücke und ich salutierte und verließ die Wikinger. Die Box hatte ich immer noch bei mir. Meinen Tauchanzug hatte ich abgelegt. Ein Posten lungerte an der Wand. Als er mich sah, nahm er Haltung an. »Ser Heath!« »Was geht hier vor?« Er deutete auf den See hinaus. »Der Wissenschaftler Wellingham ist tot. Eine Blutspur, die zu einem Kai hinausführt. Mehr weiß ich nicht. Aber irgend etwas tut sich hier, Ser.« »Beschaffe mir ein Pferd«, befahl ich. »Ein gutes – stark und schnell.« Während er davoneilte, schnallte ich mir die Box auf den Rücken. Mein Schwert hing an meiner Seite. Ich hätte gerne einen Karabiner gehabt, aber der Posten hatte keinen, und ich hatte nicht viel Zeit. Ich stieg in den Sattel. Dann kritzelte ich etwas auf einen Fetzen Papier und hielt ihn dem Posten hin; die Nachricht war in dem Code geschrieben, den nur Bob Garson und ich kannten. »Bring das zum Erstmann«, sagte ich. »Sofort.« Zumindest würde er gewarnt sein, falls Joanna und Horsten dem Tod durch Ertrinken entgangen waren. Vielleicht würde er es nicht glauben, aber so, wie ich ihn kannte, würde er Nachforschungen anstellen. Und das würde genügen. Ich gab dem Pferd die Sporen. Es war ein starker Grauschimmel, dem man ansah, daß er einiges ertragen konnte. Die Hufe klapperten, als wir in Richtung Süden davongaloppierten. Einmal sah ich mich um. Über dem Hauptplatz der City flatterte die Flagge mit der Schwarzen Sonne in dem kühlen Wind, der
vom See hereinwehte. Ich jagte dahin, kalt und naß, und bald verschwanden die Mauern der Stadt hinter mir. Bis jetzt hätte ich noch umkehren können. Aber die Last auf meinem Rücken war schwer. Ich wußte nicht, wer mir auf den Fersen war. Mir schien, daß die Reiter der Apokalypse neben mir herritten, in dieser windigen Nacht am Ufer, und ich hatte das Gefühl, als versuchte ich, der Morgendämmerung zu enteilen, denn am Morgenhimmel der Erde stieg eine schwarze Sonne auf. Die Männer im Süden hatten den Wiederaufbau begonnen, einen Wiederaufbau in Frieden. Die kriegführenden Nationen waren schon lange zu Staub geworden. Eine klüger gewordene Menschheit fing an, sich aus den Ruinen zu erheben. Ich kannte die Wege der Macht; denn die Macht ist wie ein Rauschgift, das die Menschen in den Wahnsinn treibt. Vor zehn Jahren hatte man Bob Garson vertrauen können. In weiteren zehn Jahren ... ich blickte in die Zukunft und sah das goldene Banner des Erstmannes über von Flammen verwüsteten Landen und blutigen Gewässern wehen. Die Straße führt geradewegs in die Zukunft; es gibt kein Zurück. Ich hatte seinen Aufstieg miterlebt. In zehn Jahren würde Garson sein Reich noch weiter ausgedehnt haben, und die City würde das Rom des Mittleren Westens sein. Die Wikingerflotten und seine Heerscharen würden ausziehen, um zu erobern ... und am Ende würde das Ergebnis dasselbe sein, ob nun Garson oder John Horsten die Zügel hielt. Nur daß mit Horsten das Ende vielleicht schneller hereinbrechen würde; das war alles.
Mein Pferd stolperte, knickte nach vorn ein, und als ich nachschaute, stellte ich fest, daß es sich ein Bein gebrochen hatte. Ich erschoß das Tier. Dann ging ich zu Fuß weiter nach Süden.
5 Das Glück war mir wahrscheinlich von Anfang an nicht hold gewesen. Wenn ich nicht ein anderes Tier fand, hatte ich keine Hoffnung, Indiana zu erreichen. Das weiße Glühen am Himmel vor mir verriet die radioaktive Hölle von Milwaukee; ich würde einen Umweg machen müssen. Auf einem Hügel blieb ich stehen und blickte nach vorn. Die zerstörte Stadt war eine Lache aus kalten Flammen. Eine sich windende Feuerzunge kroch in den dunklen See und verblaßte dort; der Fluß, von Radioaktivität erleuchtet, versikkerte in der mächtigen Wasserfläche. Ich sah mich um, und da waren Reiter, die auf meiner Spur daherkamen. Wieder wünschte ich, ich hätte ein Gewehr gehabt. Mein Schlagrevolver taugte nur für den Nahkampf, und sonst hatte ich nichts, bloß kalten Stahl. Meine Verfolger hatten mich erblickt. Es war sinnlos, Dekkung zu suchen. Die Reiter umkreisten mich, umzingelten den kleinen Hügel, auf dem ich stand. Männer des Erstmanns – oder Horstens? Ich war nicht sicher, bis ich das Zeichen der Schwarzen Sonne auf ihren Umhängen erkannte. Und selbst da glaubte ich noch, es könnten vielleicht Verräter sein. Und dann verzog ich die Lippen – einen Verräter zumin-
dest kannte ich sehr gut! Ich wartete. Gewehrläufe richteten sich auf mich. Der Anführer stieg vom Pferd und kam auf mich zu, die eine Hand auf den Pistolengriff gestützt. Ich erkannte ihn. »Leutnant Mackay«, sagte ich. »Ser Heath.« Er salutierte. »Ich habe Befehl vom Erstmann. Du mußt mit uns zurückkommen.« Ich spürte einen bitteren Geschmack im Mund. »Nun gut«, sagte ich. Ich hielt ihm mein Schwert hin, mit dem Heft voran, aber er schüttelte den Kopf. »Du bist kein Gefangener, Ser. Aber das hier muß ich nehmen –« Er nahm mir die Box vom Rücken und schnallte sie sich unter seinem goldenen Umhang fest. Ich sah die Sorge, sah die Frage in seinen Augen. Aber er war Garson treu ergeben, und ich wußte, daß ich von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Inmitten der schweigenden Männer stieg ich in den Sattel, griff nach den Zügeln und schwenkte hinter Mackay ein. »Wollen Sie voranreiten, Ser? Sie haben den höheren Rang.« Ich nickte. Die Straße lag schwarz und leer vor mir. Einige Stunden nach Anbruch des Tages erreichten wir die City, und ich wurde zu meiner Wohnung eskortiert, wo ich schnell Toilette machte. Mackay sagte, daß Garson mich in der Verwaltungshalle erwartete. Dort fand ich ihn mit dreißig anderen in dem großen Saal. Er saß am Kopfende der langen Tafel. Das Frühstück war in der City wie die meisten anderen Mahlzeiten ein Staatsakt. Goldene Umhänge mit dem Zeichen der Schwarzen Sonne blitzten; die bunten Kleider der Frauen
waren wie Blumen am Tisch angeordnet. Joanna saß neben dem Erstmann; sie wirkte frisch und ausgeruht. Ihr Blick begegnete dem meinen in einem honigfarbenen Blitz kalten Hasses, den sie sofort wieder verbarg. Bob Garson spielte mit einem Weinglas. Sein Gesicht wirkte ernst. Den Blicken nach zu schließen, die man mir zuwarf, vermutete ich, daß nur wenige von meiner Flucht wußten. Garson winkte mir zu. Ich ging auf ihn zu, worauf er sich erhob, nach meinem Arm griff und mich ins Nebenzimmer, einem kleinen schalldichten Vorraum, zog. Meine Blicke wanderten zu der Box auf einem kleinen Tisch und dem Posten, der sie bewachte. »Du kannst jetzt gehen«, sagte Garson, worauf der Mann salutierte und das Zimmer verließ. Ich hörte wie die Tür sich hinter mir öffnete, und als ich mich umwandte, kam John Horsten herein. Er war dicht gefolgt von Joanna. »Macht die Tür zu«, befahl Garson. Er ging ein paarmal auf und ab und zupfte an seinem Bart. Das Licht der Morgensonne fiel ihm ins Gesicht. Ich wartete. Nach einer Weile deutete er mit seinem stählernen Haken auf die Box. »Was ist damit, Dale?« fragte er. Ich zuckte die Achseln. Seine dichten Brauen trafen sich über der Nase. »Ist das alles?« »Wann soll ich hingerichtet werden?« fragte ich. Da fuhr Garsons gesunder Arm vor und packte meine Schulter so hart, daß es wehtat. »Ich stelle dir Fragen, und ich möchte eine Antwort haben. Joanna und Horsten haben Anklage gegen dich erhoben. Sie
haben dich einen Verräter genannt. Ich habe es nicht geglaubt. Aber man hat dich letzte Nacht gesehen, wie du aus der Stadt rittest, und du hattest – das da – bei dir.« Er deutete auf die Box. »Nun gut.« »Hast du sonst nichts zu sagen?« »Ich habe dir gestern nacht eine Botschaft geschickt, Erstmann, und ich habe Joanna und Horsten als Verräter bezeichnet.« »Ich habe keine Botschaft erhalten –« begann er, aber Horsten ließ ihn nicht zu Ende reden. »Heath will dir nur Sand in die Augen streuen. Erstmann. Er weiß, daß er gefangen ist, und hofft jetzt zu entkommen, indem er versucht, seine Ankläger als unglaubwürdig hinzustellen.« Er hob seine schmalen Schultern. »Das ist unklug von ihm. Mich zu bezichtigen – nun, ich habe keine andere Verteidigung als die, daß er lügt. Aber daß er deine Frau anklagt –« Joanna hatte sich aufgerichtet und stand stolz, eisig, und unnahbar da und sah uns an. Garson sah zuerst sie an und dann wieder mich. »Vielleicht solltest du dich bei Joanna entschuldigen, Dale.« Ich spürte, wie die Wut langsam in mir aufstieg. »Tut mir leid«, sagte ich. »Mir ist nicht danach zumute. Aber ich will ein wenig reden, wenn ich darf.« Der Erstmann nickte. Ich sah die Falten in seinem harten Gesicht. »Nun gut«, sagte ich. »Ich bin kein Verräter. Ich habe nicht einmal meinen Mantel nach dem Wind gedreht. Wenigstens nicht ganz. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich dich als ersten getötet: du warst immer die größte Gefahr für mich.« Tödliches Schweigen erfüllte den Saal. Ich wartete.
Nach einer Weile fuhr ich fort: »Vor zehn Jahren habe ich an dich geglaubt, dir vertraut. Ich dachte, du wolltest den Frieden. Ich dachte, du wolltest die Zivilisation wieder aufbauen. Aber das willst du nicht – nicht auf die richtige Weise. Du sitzt jetzt auf einem Tiger. Diese Überfälle – sie sind unnötig. Die Leute von Indiana hätten uns Lebensmittel für den Winter gegeben –« »Sie wollten Waffen dafür.« »Und sie brauchen Waffen. Die Wölfe und Katzen und Wildhunde zerstören ihre Saat. Es sind Ackerbauer. Wir sind Militärexperten. Was wir brauchten, ist ein Vertrag, kein Überfall. Jetzt bist du stark; du kannst weiterhin deine Nachbarvölker überfallen, morden und ausplündern, aber damit säst du Sturm. Eines Tages werden sich diese Stämme vereinen und uns angreifen.« »Wir haben die Waffen.« »Glaubst du, ich fürchte unsere Vernichtung?« fuhr ich ihn an. »Es wäre gut, wenn die City jetzt zerstört würde! Die Saat des Krieges ist bereits ausgestreut! Du siehst das jetzt noch nicht, Erstmann, obwohl du es früher einmal erkannt hättest. Die Macht hat dich blind gemacht. Du hast angefangen, die City und dein Volk wie einen Götzen zu verehren.« Seine Augen wurden ganz schmal. »Es ist doch – mein Volk.« »Ist es etwa anders als die anderen? Es sind Menschen aus Fleisch und Blut. Ebenso wie die Leute in Indiana – und all die anderen. Welches Recht hast du denn, deinen eigenen Stamm zum Herrscher der Welt zu machen?« »Sollten wir denn den Leuten von Indiana Waffen
geben und zulassen, daß sie uns angreifen?« warf Horsten mit einem schiefen Lächeln ein. »Sie wollen nur freien Handel mit uns. Ich kenne sie. Ich habe mit ihnen gesprochen. Und was den Hitzestrahler angeht – ich hatte vor, ihn nach Süden zu bringen, ihn den Leuten von Indiana zu geben.« »Und er nennt mich einen Verräter!« sagte Horsten. Ich ignorierte ihn. »Du hättest nicht gewagt, einen Wikingerangriff gegen Hitzestrahler durchzuführen«, sagte ich, zu Garson gewandt. »Indiana hätte seine Ernte vor den Tieren und vor dir beschützen können.« Der Erstmann trat an den Tisch und tippte mit seinem Stahlhaken gegen die Box. »Das ist unsere mächtigste Waffe«, sagte er. »Sie darf unsere Hände nicht verlassen. Und was den Rest angeht, so glaube ich, daß du verrückt bist, Dale.« »Ich war verrückt. Jetzt bin ich wieder normal. In zehn Jahren wirst du der bestgehaßte Tyrann in ganz Amerika sein.« »Aber die City wird sicher sein.« »Sicher wie der Turm von Babel. Die Zivilisation sollte auf einer breiten Basis wiederaufgebaut werden – nicht von einer winzigen Gruppe. Aber das kannst du nicht verstehen und wirst es auch nie begreifen.« »Wir wollen diese Sache hier vergessen«, sagte Garson leise. »Du hast immer noch das Kommando der Flotte, Dale.« »Meine Loyalität kannst du nicht kaufen«, sagte ich zu ihm. »Mein Fehler war es, dich nicht zu töten.« Und in dem Augenblick, als ich das sagte, erkannte ich, daß ich Unrecht hatte. Wäre Garson von meiner Hand gestorben, so hätte John Horsten die Zügel der
Macht übernommen. Und es gab keine Ideale, die seinen Weg bestimmt hätten. Solange Horsten lebte –! Ich sah einen selbstgefälligen Blick, der zwischen Joanna und Horsten hin und her ging, und erkannte seine Bedeutung. Sie waren in Sicherheit. Und, zu einem späteren Zeitpunkt, würden sie erneut zuschlagen. Ja – Garson war nicht der richtige Mann, um die Herrschaft zu führen. Aber doch viel besser als John Horsten! Und dann handelte ich, beinahe ohne zu denken. Ich trat vor und schlug Horsten meine Hand hart ins Gesicht. Er hatte keine Zeit, dem Schlag auszuweichen. Der Schlag hallte laut durch den Raum. Horsten taumelte zurück, seine Hand griff nach der Waffe, und in Joannas Augen flammte Wut auf – Wut, die gleich wieder unterdrückt wurde. Garsons Haken hielt Horsten am Ellbogen fest. »Keinen Revolver«, sagte er und sah mich an. Ich grinste. »Richtig«, sagte ich. »Das ist eine Herausforderung. Kein Ehrenmann würde sich einem Duell entziehen.« »Nun?« sagte Garson. Wäre Horsten weiser gewesen, so hätte er sich vor mir erniedrigt. Aber die Beleidigung hatte kochende Wut in ihm ausgelöst. Er hatte mich zu lange gehaßt und war psychologisch einfach nicht fähig, jetzt einen Rückzieher zu machen, wo Joanna und der Erstmann zusahen. »Ich nehme an«, flüsterte er, und seine scharfen Zähne blitzten. Garson öffnete die Tür und rief die Wachen. »Das
Duell«, sagte er und deutete auf Horsten und mich. »Bereitet sie vor.« Und so gingen wir wieder in die große Halle hinaus bis zu einer Stelle, wo in einem Abstand von etwa zehn Metern zwei Säulen standen. An diesen Säulen wurden wir gebunden, nur die Arme blieben frei. Man nahm uns alle Waffen ab, mit Ausnahme des Dolches, den jeder von uns in der rechten Hand hielt. Der Raum hinter uns und zwischen uns wurde freigemacht. Duelle waren nichts neues; die militärischen Ehrbegriffe hatten dazu geführt, daß die alte Sitte wieder auflebte. Aber ein Duell zwischen John Horsten und Dale Heath war ein Ereignis, und alle an dem langen Tisch musterten uns mit Aufmerksamkeit. Garson setzte sich wieder auf seinen Platz, und ein Bediensteter schenkte ihm Wein ein. Joanna nahm neben ihm Platz. Ich sah Horsten an. Die dicken Lippen des Mannes waren zu einer Grimasse verzogen. Ich wußte, wie schnell er mit dem Messer war. Ich rechnete damit zu sterben. Aber ich wußte auch, daß ich Horsten dann mitnehmen würde. »Ich zähle bis fünf«, sagte der Erstmann. »Eins –« Das Heft des Dolches fühlte sich an meiner Handfläche wie lebendes Fleisch an. Ich balancierte den Dolch, nahm ihn an der Spitze für den schnellen Wurf, und wartete. »Zwei – drei –« Horstens Augen hinter seinen blassen Wimpern waren ausdruckslos. Ich sah wieder zum Tisch hinüber. Ich bemerkte, wie Joannas Hand sich über das
Weinglas des Erstmannes bewegte und sah einen Tropfen klare Flüssigkeit in den roten Wein fallen. »Vier –« Gift. Und Garson hatte es nicht gesehen. Wenn er trank, würde er sterben. »Fünf!« Horsten war wurfbereit. Ich sah, wie die Muskeln an seinem dünnen haarigen Arm zuckten. Ich warf mich in meinen Fesseln herum und schleuderte den Dolch auf Garson. Wie ein Flammenstrahl zuckte er durch die Halle. Mein Ziel war gut. Der Dolch traf das Glas, zerschmetterte es, und der Wein strömte wie eine purpurne Flut über das weiße Tuch. Als ich mich umwandte, bemerkte ich, daß Horsten noch nicht geworfen hatte. Er lächelte, ließ sich jetzt Zeit. Vom Tisch aus sah Joanna ihn bittend an. Es war, als riefe sie: du mußt Heath töten! Ihn töten, ehe er etwas sagen kann! Ein leises Murmeln erhob sich zwischen den Offizieren in ihren goldenen Umhängen und den Damen in ihren bunten Kleidern. Ein Attentat auf den Erstmann, ein Attentat von Dale Heath? Horsten hob den Arm. Das kalte Morgenlicht glitzerte wie Eis auf der Messerklinge. Und da spritzte es aus seiner Kehle, und ich hörte den dumpfen Schlag. Ich sah, wie das Heft meines eigenen Dolches in Horstens Fleisch steckte. Er versuchte zu schreien. Blut schoß aus seinem Mund, ergoß sich über seine Brust. Und dann sackte er plötzlich in seinen Banden zusammen, während sein Messer auf dem Boden klirrte. Garson am Tisch hatte den Arm immer noch in
Wurfhaltung. Jetzt lehnte er sich zurück. »Bindet Heath los«, sagte er. Als sich neben ihm etwas regte, schoß sein Haken vor und packte Joanna an der Schulter. Sie wurde zu ihm hingerissen, und ihr weißes Gesicht war wie eine griechische Tragödienmaske, der Mund offen im stummen Schrei. »Du hast eine Stunde Zeit, Joanna«, sagte Garson. »Du kannst mitnehmen, was du willst. Verlasse die Stadt. Wenn ich dich nach einer Stunde noch sehe, töte ich dich.« Garson winkte mir zu, und nachdem man meine Fesseln durchschnitten hatte, folgte ich ihm ins Zimmer nebenan. Er schloß die Tür vor den verblüfften fragenden Blicken des Hofes. Aber eine Weile sagte er nichts. Er trat ans Fenster und blickte auf etwas hinaus, das ich nicht sehen konnte. »Nach deinen Begriffen bin ich immer noch ein Verräter«, sagte ich. »Nun gut. Aber du würdest mich nicht töten. Sie jedoch hätte mich vergiftet.« »Du hast es gesehen –« Seine schweren Schultern zuckten. »Natürlich. Deine Nachricht gestern nacht hat mich erreicht. Ich tat so, als hätte ich sie nicht bekommen. Ich schickte Posten hinter dir her und ließ Horsten und – und seine Komplizin ihr Spiel weitertreiben. Ich wartete, bis sie sich selbst verrieten. Wenn es so nicht geklappt hätte, hätte ich eine andere Methode benutzt. Deine Herausforderung an Horsten hat die Dinge beschleunigt.« Ich gab keine Antwort.
»Warum zum Teufel hast du mich gerettet, wo du doch wissen mußtest, daß Horsten dich, wenn du unbewaffnet warst, töten würde?« fragte Garson. »Woher zum Teufel sollte ich das wissen?« fragte ich. »Komm her«, sagte er und winkte mir zu. Ich trat ans Fenster, und er deutete hinaus auf sein Banner mit der Schwarzen Sonne, das steif in der Morgenbrise stand. Dahinter lag die Wikingerflotte vor Anker, graue Zerstörer an ihren Ketten. »Ich brauche deine Hilfe, Dale«, sagte er. »Ich kann dich jetzt nicht gehen lassen. Die Zivilisation muß neu aufgebaut werden.« »Auf Sand?« Sein schwarzer Bart stieß vor. »Du hast ein weiches Herz, aber in diesem Jahr wird es keine Überfälle geben. Indiana ist sicher. Wir werden uns irgendwo Lebensmittel beschaffen – oder wenn nötig mit knappen Rationen durchkommen. So viel bin ich dir zumindest schuldig.« Ich sagte nichts. Ich sah, wie sein Blick sich an der Flagge draußen festklammerte, und spürte seinen unerträglichen Stolz in jedem Zug seines Gesichts. »Du hättest mich töten können«, sagte er. »Und du hast es nicht getan.« Plötzlich kam ich mir krank und schwach vor, und meine Kehle war wie ausgetrocknet. »Irgendwie werden wir das in Ordnung bringen«, sagte Garson. Und nach ein paar Augenblicken nickte ich. Das war vor einem Jahr. Garson hat sein Wort gehalten. In jenem Winter
gab es keine Überfälle. Aber die Techniker in der City haben neue Waffen konstruiert. Jetzt gibt es viele Hitzestrahler. Und ich weiß, was das bedeutet. Erstmann Garson ist schon viel zu weit auf der Straße der Macht gegangen, um irgend etwas anderes als die Fata Morgana an ihrem Ende zu sehen. Im letzten Jahr hatte es keine Überfälle gegeben, aber jetzt werden wieder welche kommen. Garson ist mein Freund, und er vertraut mir, aber ich weiß, daß er der Feind ist. Als ich gestern mit ihm Wein trank, konnte ich das bittere Zeug kaum hinunterbringen, weil ich die ganze Zeit dachte, daß dieser wahnsinnige, trunkene Machthunger in jedem Becher war, den Garson leerte, in jeder Brotkrume; die er aß, in jedem Atemzug, den er tat. Wir haben zusammen getrunken, und dabei ist der Gedanke in mir plötzlich Gewißheit geworden. Eines Tages muß ich ihn töten.
Originaltitel: THE BLACK SUN RISES Copyright © 1948 by Popular Publications, Inc.
Eric Frank Russell DER ÜBERLEBENDE Als das Schiff aus dem Himmel heruntersank, war außer dem Heulen der letzten Bremsstöße nichts zu hören. Auch sonst war die Landung nicht sonderlich spektakulär, weil das Raumschiff vor den Strahlen der untergehenden Sonne landete. In einer flachen Kurve näherte es sich der Oberfläche des Planeten, stieß ein Dutzend Richtschüsse aus der Rumpfspitze aus, pflügte mit dem Bauch durch den Sand und kam nach einer kurzen Rutschpartie zum Stillstand. Ein Fachmann hätte auf den ersten Blick erkannt, daß es keine gewöhnliche Mondrakete war, wie sie fünfmal die Woche zwischen der Erde und ihrem Satelliten verkehrte. Sie war länger, dünner, eleganter. Eine nähere Untersuchung hätte, ergeben, daß sie auch abgewetzter, zerbeulter und weniger gepflegt war, als man das bei einer Mondrakete zugelassen hätte. Ursprünglich war sie goldfarben gewesen, aber jetzt war der größte Teil des Außenlacks in feinem, vom Bug bis zum Heck reichenden Streifen abgeschabt. Winzige Geschosse von großer Härte und unglaublicher Geschwindigkeit hatten das Schiff bombardiert. An siebzehn Stellen hatten sie die Schiffswand durchdrungen, wie Nadeln, die die Rinde eines Käses durchdringen. Siebzehn winzige Lecks waren gestopft worden. Man hatte sich dazu einer speziellen Pistole bedient, die Kugeln aus beinahe geschmolzenem Blei verschoß.
Das Schiff hatte das klägliche Aussehen von etwas, das man beinahe zu Tode geprügelt hat, so wie ein überstrapaziertes Pferd. Jetzt lag es erschöpft im Wüstensand, und seine Düsenrohre glühten zum letzten Mal. Seine Außenwand zeigte einige schwache Spuren der goldähnlichen Überbleibsel vergangenen Ruhms. In der Nähe des Leitwerks waren die kupfernen Spuren und Überreste der Schiffsbezeichnung zu sehen: M. 1. Eine Nummer die einst die Fernsehschirme der Welt ausgefüllt, die Millionen in Begeisterung versetzt hatte. In den Zeitungsdruckereien lagen immer noch unbenützte Typensätze, die in zehn Zentimeter hohen Lettern prophezeiten: M. 1. KEHRT ZURÜCK. Aber man hatte keine Gelegenheit gehabt, diese Druckstöcke zu benützen. M. 1. war nicht zur richtigen Zeit und nicht am richtigen Ort gelandet. Die richtige Zeit lag viele Monate zurück. Der richtige Ort war der Raumhafen von Luna City, von wo aus sie gestartet war. Nicht hier, wo sie jetzt wie eine dem Grab entflohene Leiche in der Wüste lag. Nicht hier, wo niemand Zeuge ihrer Landung gewesen war, abgesehen von den Echsen und Sandflöhen, den Fettholzbäumen und Kaktuspflanzen. Der Mann, der aus der Luftschleuse stieg, war auch nicht besser erhalten als sein Schiff. Hager, mit hohlen Wangen, vorstehenden Backenknochen, knochigen Armen und Beinen. Seine Augen hatten den fiebrigen Glanz eines Kranken. Und doch war er noch recht aktiv. Er kam ganz gut zurecht, wenn ihn nie-
mand drängte. Für ihn gab es drei Geschwindigkeitsstufen; gemächlich, langsam und ganz langsam. James Vail, Testpilot, Dreiunddreißig? Er fuhr sich mit den Fingern durch das lange Haar, wußte, daß er sich wie sechzig fühlte und wahrscheinlich auch so aussah. Um so besser. Die Leute mit den scharfen Augen, die mit den vielen Fragen, würden ihn übergehen, würden sich von seinem scheinbaren Alter täuschen lassen. Den Behörden würde es bei all den Mitteln, über die sie verfügten, schwerfallen, einen Mann aufzuspüren, der so gealtert war, daß er sein eigener Vater hätte sein können. Er verließ sein Schiff, ohne sich auch nur einmal umzusehen. In bezug auf das Schiff und seinen Inhalt war sein Gewissen rein. Die Wissenschaftler der Welt würden genau das in diesem ramponierten Zylinder finden, was sie finden wollten. Alles war für sie bereitgelegt: die Proben, die Bandaufzeichnungen, Fotografien, Aufzeichnungen der Meßgeräte, alles. Er hatte da sehr sorgfältige Arbeit geleistet. Er hatte seine Pflicht bis zum Ende, bis zum Letzten erfüllt. Es fehlte nichts – nur die Mannschaft. Eine Straße führte in sieben Meilen Entfernung nach Norden. Er hatte sich seinen Landeort strategisch ausgesucht, so nahe er es gewagt hatte, aber im sicheren Schutz einer langen Hügelkette. Jetzt machte er sich auf, um die Straße zu erreichen, schlurfte wie ein Tramp durch den Sand, blieb immer wieder stehen, schwitzte. Der Verkehr war dünn, und er würde wahrscheinlich ziemlich lange warten müssen, bis ihn jemand mitnahm. Auch das konnte man als Vorteil ansehen, weil es die Gefahr verringerte, daß irgendein vor-
überfahrender das Schiff hatte landen sehen. Nach einiger Zeit tauchte eine große grüne Limousine auf, kümmerte sich nicht um sein Winken und brauste in einer Staubwolke vorbei. Unverdrossen nahm er seinen Platz auf dem Steinbrocken wieder ein. In den nächsten zwei Stunden taten acht Personenwagen und ein ächzender Lastwagen so, als wäre er nicht da. Schließlich hielt ein riesiger roter Fernlaster und nahm ihn mit. »Wohin soll's denn gehen?« fragte der Fahrer, legte den Gang ein und fuhr an. James Vail machte es sich in seinem Sitz bequem und sagte: »Ziemlich egal. Irgendwo, wo ich einen Zug bekommen kann.« Der Fahrer musterte die Hände seines Passagiers, stellte die blau hervortretenden Adern und die angeschwollenen Knöchel fest. »Pech gehabt, Kumpel?« »Eigentlich nicht. Ich war krank.« »So sehen Sie auch aus.« Vail lächelte müde. »Manche Leute sehen schlimmer aus, als es ihnen geht.« »Wie kommt's denn, daß Sie hier draußen mitten in der Wüste sind?« Das war eine schwierige Frage. Er überlegte, wußte, daß sein Verstand ungewohnt langsam arbeitete. »Man hat mich sechs oder sieben Meilen weiter hinten aussteigen lassen. Ich bin ein ganzes Stück zu Fuß gegangen. Keiner hat mich mitgenommen. Wahrscheinlich haben die gedacht, ich wollte sie ausrauben.« »Das kommt vor«, nickte der Fahrer. »Ich hab da meine eigene Methode gegen solche Tricks, keine Angst.«
Er berichtete keine Einzelheiten über seine spezielle Technik ... offenbar war sein Hinweis mehr als Warnung gedacht. Er war ein großer, vierschrötiger Mann mit rotem Gesicht, aber durchaus freundlich. Der Typ, der einen in Notwehr erwürgen konnte – aber sein eigenes Abendessen einem hungrigen Hund schenken würde. »Ein Fernfahrer kann 'ne Menge Ärger kriegen, Tag oder Nacht«, vertraute der Fahrer seinem Fahrgast an. »Hundert Meilen zurück stand eine aufgedonnerte Puppe am Randstein und winkte wie verrückt. Oho, hab ich mir gesagt und bin dran vorbeigebraust. Ich bin die Straße schon oft gefahren, wissen Sie, und –« Er schwelgte eine Stunde lang in seinen Erinnerungen, während Vail neben ihm dahindöste und gelegentlich einsilbig zu verstehen gab, daß er zuhörte. Der LKW kam in eine kleine Stadt. Vail setzte sich auf und studierte die Läden. Seine Zunge leckte über die blassen dünnen Lippen. »Schätze, das hier wäre richtig für mich.« »Sie sind noch vierzig Meilen von der Bahnstation entfernt«, meinte der Fahrer. »Das reicht. Ich komme schon hin.« Der LKW hielt an. Vail stieg mit steifen Gliedern aus. »Danke, Freund. War wirklich nett von Ihnen.« »Schon gut.« Der andere winkte ihm zu und fuhr weiter. Vail stand auf dem Bürgersteig und blickte dem roten Lastzug nach. Besser nicht zu lange mitzufahren, dachte er. Eine Spur verfolgte sich nicht so leicht, wenn sie immer wieder unterbrochen wird. Zur gegebenen Zeit würde man seine Spur aufnehmen und
dann alle Anstrengungen unternehmen, um ihn zu finden. Das war ganz sicher. Irgendwann heute nachmittag würden sie das Schiff finden, oder vielleicht morgen, oder am Tag darauf. In diesen modernen Zeiten war der Luftverkehr dicht genug, um sicherzustellen, daß irgendein aufmerksamer Pilot die gelandete Rakete entdeckte und sie meldete. Die Polizei würde ihn fragen, sich umsehen, sie erkennen und die Wissenschaftler rufen. Und von jenem Augenblick an würde die Jagd beginnen. Suchflugzeuge der Polizei, die die Wüste abkämmten. Polizeiwagen, die über die Straßen fegten. Fahrzeuge, die in weitem Umkreis angehalten wurden und deren Fahrer man befragte. »Sind Sie an der Stelle vorbeigefahren? Um welche Zeit? Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen? Sind Ihnen zwei Männer aufgefallen, die herumlungerten?« Und über kurz oder lang würde ein Streifenpolizist einen großen roten Lastzug anhalten. »So, haben Sie das? Gegen halb elf? Wie sah er denn aus? Wo wollte er hin? Wo haben Sie ihn 'rausgelassen?« Ein Telefonanruf in dieser Stadt, und die Behörden würden ihre Suche beginnen. Ja, sie würden ihn suchen. Sie würden sich vielleicht den Kopf zerbrechen, was denn so wichtig an ihm wäre, da keine Anklage vorlag. Aber sie würden ihren Befehlen folgen und ihn suchen, gründlich suchen. Nun, sie würden ihn nicht finden. Er betrat ein billiges Restaurant in einer Nebenstraße. Hier mußte er sich besonders gut unter Kontrolle halten, sich so benehmen, daß er niemandem auffiel. Er suchte sich einen freien Tisch, setzte sich, las die
Speisekarte und gab sich betont gelangweilt. Es kostete verdammt viel Mühe. Eine blonde, etwas aufgedunsene Kellnerin kam, wischte unsichtbare Krumen vom Tisch und wartete auf seine Bestellung. Ihr Blick wurde weicher, als sie ihn prüfend gemustert und dabei festgestellt hatte, wie deutlich er sich doch von der täglichen Horde von Stammgästen abhob. Er schien ihre unterdrückten mütterlichen Instinkte anzusprechen. »Schinken und Eier«, sagte er. Sie musterte ihn prüfend. Dann fragte sie: »Doppelte Portion?« Er unterdrückte die Antwort, die er ihr geben wollte, und zwang sich zu sagen: »Nein – ich nehm nachher noch ein Stück Kuchen.« Es dauerte ein paar Minuten. Er wartete geduldig, schloß von Zeit zu Zeit die Augen und zwang sich, nicht auf das Brutzeln und die appetitlichen Gerüche zu achten, die aus der Küche drangen. Der vollgehäufte Teller, den sie ihm brachte, ließ ihn argwöhnen, daß sie nach eigenem Ermessen gehandelt hatte. Wenn das eine gewöhnliche Portion war, wie sah dann eine Doppelportion aus? Das beunruhigte ihn etwas. Das bedeutete vielleicht, daß sie sich später an ihn erinnern würde. Spurensucher verfolgen Spuren mit Hilfe von Leuten, die ein gutes Erinnerungsvermögen haben. Er mußte so schnell wie möglich essen und hier verschwinden. Und doch durfte er keine auffällige Hast zeigen. Also griff er nach Messer und Gabel und zuckte unwillkürlich zusammen, als er sie zwischen den Fingern spürte. Dann arbeitete er sich langsam durch seine Portion hindurch, genoß jeden Bissen
und tat so, als merke er nicht, wie ihn die Bedienung vom anderen Ende des Speisesaals aus beobachtete. Er hatte kaum zu Ende gegessen, als sie an seinem Tisch stand, den Teller wegnahm und ihn fragend musterte. »Keinen Kuchen«, sagte er. »Sie haben mir zu viel gegeben. Nur Kaffee.« Sie schien verblüfft, und man bemerkte das an ihren Zügen. Irgendwo hatte ihre Berechnung nicht gestimmt. Das zeigt einem wieder einmal, daß man die Leute nicht nach ihrem Äußeren beurteilen kann, entschied sie. Je länger man lebt, desto mehr lernt man. Vail trank seinen Kaffee in langsamen Schlucken, bezahlte und ging hinaus. Er drehte sich nicht um, um zu sehen, ob sie ihm nachblickte. Du mußt dich immer ganz normal verhalten, riet ihm sein Verstand. Dich normal verhalten. Langsam, als hätte er alle Zeit in der ganzen Welt, schlenderte er die Straße entlang, überquerte sie und fand ein zweites bescheidenes Eßlokal. Er ging hinein, ließ sich zweimal ein großes Stück Kuchen geben und noch einmal Kaffee. A-a-ah! Das war besser. Dann kaufte er sich eine Schachtel Zigaretten. Er zündete sich eine an und inhalierte den Rauch wie einer, der die Freuden des Paradieses kostet. In der Nähe des Tabakladens hielt ein Überlandbus, und eine alte Dame mit Gepäck zwängte sich hinein. Vail schaffte einen kurzen Spurt, den er noch vor kurzer Zeit nicht zuwege gebracht hätte. Er kletterte hinein und fand einen Platz ganz vorn. Damit war seine Spur zum zweitenmal unterbrochen.
Nach drei Wochen hatte er sich siebzehnhundert Meilen vom Landeplatz der M. 1. entfernt niedergelassen. Die bloße Entfernung bot ihm, wenn auch nur für den Augenblick, Sicherheit. Er hatte ein Zimmer in einer schäbigen, aber immerhin ausreichenden Pension, und einen Job in einer Fabrik. Hilfsschweißer nannte er sich. Vom Testpiloten zum Hilfsschweißer. Tief war er gesunken. Zweifellos konnte er eine bessere Stellung als diese finden, etwas, das seinen Kenntnissen eher angepaßt war, wenn er lange genug suchte. Aber die zweihundert Dollar, mit denen in der Tasche er gelandet war, waren langsam, aber sicher immer weniger geworden. Alles war jetzt recht, um sich nur durchzuschlagen, bis sich andere, bessere Gelegenheiten boten. Sein Aussehen hatte sich in diesen drei Wochen verändert, und die Ähnlichkeit mit dem Bild auf seinem Pilotenschein war gewachsen. Seine hohlen Wangen hatten sich gefüllt, die Arme und Beine waren dicker geworden, und auch sein Haar wuchs wieder dichter und dunkler. Auch sein Name hatte sich geändert. In der Personalkartei der Fabrik stand er als Harry Reber, zweiundvierzig, unverheiratet. Aber die Sicherheit, die ihm die Anstellung bot, verschaffte ihm keine geistige Ruhe. Er kam nicht darüber hinweg, wie falsch doch seine Position war. Seine Kollegen machten ihm das beinahe stündlich bewußt. »Harry!« riefen sie, und manchmal reagierte er nicht darauf, und sie bemerkten das dann. Mit der sicheren Einschätzung von Männern, die körperlich arbeiten müssen, erkannten sie, daß er eigentlich einige Stufen über seiner augenblicklichen Position stand. Sie spürten, daß er in ihren Unterhaltungen nie
etwas über sich selbst sagte. Da war ein Geheimnis an ihm, über das sie manchmal sprachen, wenn er nicht in der Nähe war. Die einen meinten, er sei ein Spitzel der Geschäftsleitung. Andere vermuteten, er habe eine Gefängnisstrafe verbüßt. Alles das hätte sich vermeiden lassen, hätte er eine Stellung bei der Mondlinie angenommen. Man brauchte dort immer Piloten, besonders solche, die ihr Handwerk verstanden. Aber das wußten auch die Jäger. Sie warteten nur, daß er einen solchen Schritt tat. »James Vail? Ich bin Bundesbeamter. Es ist meine Pflicht –« Ha! Die Chance würde er ihnen nicht geben. Ihre Pflicht nannten sie das, wenn sie ihn festnahmen, ihn an einen Ort schleppten, wo er nicht hinwollte. Was verstanden sie denn von Pflicht? Er hatte seine Pflicht so getan, wie er sie verstand, hatte sie unter den schrecklichsten Umständen, die man sich vorstellen konnte, getan. Und damit sollte es sein Bewenden haben. Sollten sie ihn doch in Frieden leben lassen, als einen Unbekannten, ihn nicht kreuzigen um anderer, geringerer Pflichten willen. Jeden Morgen und Abend, wenn er zur Arbeit ging oder davon zurückkehrte, kaufte er sich die neueste Zeitung und überflog die Schlagzeilen. Und dann, bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, las er sie Seite für Seite, Spalte für Spalte. Heute abend hatte er sich auch eine gekauft, sie auf sein Zimmer mitgenommen und sie von der ersten bis zur letzten Seite studiert. Nichts über die M. 1. Kein einziges Wort. Und doch hatten sie sie inzwischen ganz bestimmt gefunden. Sie mußten doch die Mannschaft suchen. Und trotz-
dem war nichts an die Presse herausgegeben worden. Warum diese Geheimhaltung? Er spielte mit dem Gedanken, daß jene, die das Schiff durchsuchten, daran zweifelten, ob es sich wirklich um die M. 1. handelte, ja, daß sie vielleicht nicht imstande waren, das eindeutig zu definieren. Jemand mit einer ausgeprägten Fantasie hatte vielleicht den Gedanken aufgebracht, daß es sich bei dem Ganzen um einen kompliziert angelegten Schwindel handeln konnte. Wenn auch weithergeholt, würde eine solche Theorie erklären, daß keine Mannschaft aufzufinden war. Sie waren gar nicht gelandet. Sie waren nie angekommen. Sie hatten irgendein unerklärliches Schicksal erlitten, und irgend etwas anderes hatte das Schiff nach Hause gebracht, etwas Unmenschliches, das jetzt frei herumlief, Gott weiß wo. Oder – das war eine andere Möglichkeit – die Mannschaft hatte das Schiff unter dem Einfluß fremder Parasiten zur Erde gesteuert, und diese fremden Parasiten, die die Mannschaft immer noch steuerten und kontrollierten, streiften jetzt auf der Erde umher. Fantastisch und ziemlich dumm – aber wenn Journalisten einmal anfingen, solche Vorstellungen aus reiner Sensationsgier aufzuplustern, dann würden sie der Öffentlichkeit panische Angst einjagen. Nur völliges Stillschweigen konnte den Ausbruch weltweiter Panik vermeiden. Er zuckte gleichgültig die Achseln und holte eine zerfledderte Zeitung aus dem Schrank, die er vor ein paar Tagen in einem Trödlerladen mitgenommen hatte. Auf dem Bett ausgestreckt, las er wohl zum hundertsten Male die Titelseite. Jedesmal, wenn er
das tat, staunte er aufs neue darüber, wie schnell die Öffentlichkeit doch das vergaß, was gestern Bedeutung gehabt hatte. Heute stand der letzte Prozeßtag im Mordfall Scarpillo im Brennpunkt des Interesses. Wahrscheinlich konnte sich niemand mehr an die Namen jener erinnern, die vor beinahe zwei Jahren die Schlagzeilen beherrscht hatten. M. 1. STARTET. LUNA CITY, 9.00 GMT. Das erste Schiff zum Mars erhob sich heute tosend in den luftleeren Himmel und entschwand planmäßig unseren Blicken. Pilot James Vail und Copilot Richard Kingston haben ihren Flug angetreten. Wenn dieser Bericht gedruckt wird, hat die Menschheit einen weiteren Schritt hinaus in den Kosmos getan. Und so ging es immer weiter. Ganze Seiten voll davon. Bilder von Vail, dunkelhaarig und ernst blikkend. Bilder von Kingston, blond, mit gewelltem Haar und grinsend wie eine Katze, die einen Kanarienvogel gefressen hat. Bilder vom Präsidenten, der den Knopf drückte, der per Fernsteuerung den Start auslöste. Artikel von Wissenschaftlern über die Männer, das Schiff und seine Geräte. Aufsätze darüber wie sie mit den Lebensumständen auf dem Mars zurechtkommen würden, was sie zu entdecken hofften. Ein paar Tage lang hatte das Interesse angehalten. Und dann war das ganze Unternehmen in Vergessenheit geraten bis man die Rückkunft des Schiffes erwartete. Jetzt hatte das öffentliche Interesse wieder zugenommen.
M. 1. BALD ERWARTET Weitere Bilder, wieder Artikel, hochgeschraubte Erwartungen. Ein bevorstehender großer Augenblick in der Geschichte der Menschheit. Nichts geschah. Zwei, drei Wochen später ominöse Erwartungen. Sie hielten den ganzen nächsten Monat an. Dann fand man sich mit der Katastrophe ab. Es gab keine M. 1. mehr. Vail und Kingston hatten Pech gehabt, so wie zwanzig andere ihr Leben auf dem Mond verloren hatten. Requiescat in pace. Hoffentlich hatten die nächsten mehr Glück. Er fragte sich, ob die verspätete Rückkehr der M. 1. irgendeinen Einfluß auf weitere Marsexpeditionen gehabt hatte. Bis jetzt hatte er nirgends etwas von einer M. 2. gelesen. Die Behörden hatten die Angewohnheit, solche Dinge bis zum letzten Augenblick für sich zu behalten. Aber es war höchstwahrscheinlich, daß irgendwo auf Luna ein weiteres Schiff Gestalt annahm, und daß zwei, vielleicht auch drei Männer sich für einen zweiten Flug zum roten Planeten vorbereiteten. Und darin lag auch ein Hauptgrund dafür, daß man die Suche nach ihm nicht aufgeben würde. Sie wollten den Bericht von seinen eigenen Lippen. Sie würden sich nie mit dem zufriedengeben, was er in der M. 1. für sie hinterlassen hatte. Was hatte er ihnen hinterlassen? Da war zunächst ein vollständiger Bericht über den Flug und wieder zurück. Zum zweiten der Bericht von dem Defekt am Hauptantrieb: wie sie ihn repariert hatten und wie lange sie dazu gebraucht hatten. Zum dritten alle Einzelheiten über Fehler in den Geräten, und davon hatte es zu viele gegeben.
Proben vom Marssand, Gesteinsproben, Quarz, einige Stücke einer lignitähnlichen Substanz. Einige fast fünf Meter lange fadendünne Würmer, die sie in Gläsern präpariert hatten. Und dann, ebenfalls in Formalin aufbewahrt, ein paar von diesen harmlosen Kriechtieren, bei denen es sich entweder um echte Schlangen oder beinlose Echsen handelte. Acht Arten von Käfern. Siebenundzwanzig Flechtenabarten. Dreißig verschiedene Pilze. Nichts Großes, weil es auf dem Mars keinerlei Lebensformen von einiger Größe gab. Vielleicht würden die Wissenschaftler unter dem Mikroskop einiges finden. Außerdem hatte er allgemeine Informationen in großer Menge zurückgelassen. Zum Beispiel Karten über die Wasserverteilung, die andeuteten, daß abgesehen von einem Umkreis von zweihundert Meilen um die Polkappen nur wenig Wasser vorhanden war. Daten über das Schwerefeld, das Magnetfeld, die Photonenintensität und zahlreiche andere Messungen. Aufzeichnungen über die Temperatur, die darauf hinwiesen, daß die Temperatur auf dem Mars zwischen Plus dreißig Grad Celsius und Minus achtzig Grad Celsius schwankte. Atmosphäredruckmessungen von 0,5 bis 0,9 mm Quecksilbersäule. Ganze Bücher voll Notizen und grafischen Darstellungen. Arbeit, so gründlich wie Sterbliche sie nur zu leisten vermochten. Aber das reichte nicht. Ein kleiner Teil des Berichtes fehlte, und den würden sie auch haben wollen – mit seinen eigenen Worten. Sollten sie zum Teufel gehen!
Zehn Tage später rief der Vorarbeiter: »Harry!« Es ging zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Der Vorarbeiter kam auf ihn zu und stieß ihn an. »Sind Sie taub? Ich hab' Sie gerade gerufen. Die wollen Sie im Büro sprechen.« Vail schaltete seine Schweißflamme mit einem leisen Knacken ab, drehte die Ventile an den Gasflaschen zu, nahm den Helm und die Schutzbrille ab. Er stapfte über die Treppe hinunter und ging hinaus. Die wollten ihn vielleicht versetzen, überlegte er. Oder ihn hinauswerfen. Als er an die Ecke kam, ging er auf das Büro zu, das wie ein Glashaus gebaut war. Das war der erste Fehler der Jäger: sie hatten sich nicht versteckt. Der zweite bestand darin, daß sie uniformierte Polizisten geschickt hatten. Vail sah sie, ehe man ihn sehen konnte. Er drehte sich um, ging schnell in die Werkshalle zurück zur Stechuhr. Er holte seine Karte und steckte sie in den Schlitz. Der Angestellte im kleinen Glaskasten blickte auf die Uhr und sah ihn an. »He, was ist denn mit Ihnen los?« »Ich gehe nach Hause.« »Wer hat Ihnen das erlaubt?« »Wenn's Ihnen nicht paßt, beschweren Sie sich beim Meister«, riet Vail ihm. Er ging hinaus, und der andere blickte ihm mürrisch nach, schien aber nicht geneigt, etwas zu unternehmen. Er ging zu seinem Zimmer, packte, zahlte die Miete und rief ein Taxi. Er wußte das zwar nicht, aber eine Minute später wäre ihm seine Flucht nicht mehr geglückt. Das Taxi war kaum verschwunden, als zwei Männer kamen, die Adresse überprüften,
hineinschlenderten und sofort wieder herausgerannt kamen. Sie schnüffelten noch eine halbe Stunde auf dem Bahnhof herum, aber sein Zug war schon abgefahren. Während jener dreißig Minuten summten die Drähte entlang der vier Strecken, in denen Züge gefahren waren. Entfernte Busstationen wurden durchsucht. Polizeiwagen und Motorräder patrouillierten die Ausfallstraßen. Bahnangestellte durchsuchten Frachtzüge und Rangierbahnhöfe nach Dachschläfern und Pufferfahrern. Für Tramps, entsprungene Sträflinge und derlei Volk wurde das Leben zur Qual. Aber Vail erwischten sie nicht. Nicht nur sein Körper hatte sich in den letzten Wochen erholt. Sein Verstand war darauf gedrillt, in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen ebenso schnell in die Tat umzusetzen ... Der Geist eines Testpiloten, gewöhnt, plötzlich ernsten Problemen ins Auge zu sehen und den schnellsten und sichersten Ausweg zu wählen, den es gab. Vor Wochen, langen müden Wochen, hatte er sich in einer Krise befunden, sich entschieden und damit sein augenblickliches Problem geschaffen. Aber es hatte keine Alternative gegeben. Und jetzt mußte er sich in der einzig möglichen Art mit den Folgen auseinandersetzen: indem er floh, bis man ihn vergaß ... oder fing. Wenn sie ihn fingen, würde er ihnen alles sagen, was sie wissen wollten. Aber zuerst mußten sie ihn fangen. Andererseits, wenn es ihm gelang, der Festnahme lange genug zu entgehen, dann würde man ihn vielleicht vergessen oder die Fahndung nach ihm einstellen. Zu gegebener Zeit würde es dazu kommen. Seine Bedeutung würde auf praktisch
nichts zusammenschrumpfen, wenn M. 2. auf dem Mars landete. Fünfundachtzig Meilen außerhalb der Stadt verlangsamte der Zug an einem Straßenübergang die Fahrt. Ein fahrender Zirkus war die Ursache der Verzögerung. Eine farbenprächtige meilenlange Schlange wartete, daß der Zug vorüberfuhr. Der Zugführer senkte die Geschwindigkeit bis zum Kriechtempo, wegen einer Anzahl nervöser Elefanten am Kopf der Schlange. Alle starrten durch die Fenster zu dem Zirkus hinaus. Vail sprang unterdessen auf der anderen Seite mit seinem Koffer in der Hand hinaus. Man nahm ihn auf dem Wagen eines Löwenkäfigs mit, und er teilte seinen Sitz mit einem unrasierten Zeitgenossen, der seine Zähne herausnehmen und die Unterlippe über die Nase stülpen konnte. Vierzig Meilen später hatte er einen Job. Der Zirkus hatte sein Ziel erreicht, und er bekam Arbeit als Zeltbauer, Seilspanner und allgemeines Faktotum. Er zerrte schwere Leinwandbahnen herum, bis seine Fingerspitzen zu rohem Fleisch aufgerieben waren, und sah zu, wie das große Zelt sich hob, im Winde flatterte und schließlich festgezurrt wurde. Er half mit, die Seile, Leitern und Trapeze für die Fliegenden Artellos zu spannen; er machte sich mit der Dicken Dame so vertraut, daß er sie Daisy nennen durfte, und trank mit dem Gummimann Brüderschaft, so daß er ihn von nun an Hermann nennen durfte. Er lernte Löwen als Katzen zu bezeichnen und Elefanten als Bullen. Irgendwie hatte man seine Spur bis zu jener Fabrik verfolgt – wie, das wußte er nicht. Wahrscheinlich
einfach durch intensive Fahndungsarbeit vieler Leute. Das bedeutete, daß man ganz entschieden an ihm interessiert war; die Jagd war also mehr als ein reines Produkt seiner Fantasie. Und das wiederum bedeutete, daß man trotz des anhaltenden Schweigens in den Medien M. 1. gefunden hatte. Deshalb mußte er fortfahren, seine Spur zu unterbrechen, gleichgültig, wie wohl er sich an dem einen oder anderen Ort fühlen mochte. Er durfte nicht der Versuchung nachgeben, zu lange bei dem Zirkus zu bleiben. Und auch am nächsten oder übernächsten Ort durfte er sich nicht zu lange aufhalten. Wenn die Jäger unterwegs sind, darf der Fuchs nicht in seinem Bau bleiben. Tausend Meilen weiter östlich fand er wieder Arbeit. Er hatte den Kontinent durchquert. Weiter konnte er nicht ziehen, wollte er nicht das Meer überqueren. Aber das war eine Idee, die er nicht so ohne weiteres abtun wollte. Seeleute entschwinden dem Zugriff der Behörden auf lange Zeit und sind schwer zu verfolgen, insbesondere dann, wenn sie in fremden Häfen ihr Schiff verlassen. Für den Augenblick war er zufrieden, in einer Fabrik, die Kartonagen herstellte, dem Lademeister zu helfen. Er bekam dafür ein bescheidenes Entgelt, das es ihm gestattete, in einem Ziegelbau, etwa eine Meile entfernt, eine billige Wohnung zu beziehen, und außerdem half es ihm, unter den arbeitenden Massen unterzutauchen. Elf Wochen waren verstrichen, seit er in jenem roten Fernlaster mitgefahren war, und immer noch hatten die Fernsehanstalten und die Zeitungen nichts
verlauten lassen. Welche Diskussionen in den Kreisen der Behörden und der Wissenschaft inzwischen geführt worden waren, blieb seiner Fantasie überlassen. Der fehlende Teil seines Berichts hätte ihnen viel Mühe erspart und sie in die Lage versetzt, sein Problem und die einzige Lösung, die es dafür gegeben hatte, zu begreifen. Aber diese Einzelheiten fehlten ihnen, und so blieb ihnen nichts als ein Geheimnis. Er und Kingston hatten sich in einem schrecklichen Dilemma befunden. Die defekte Antriebsturbine hatte sie Wochen an Reparaturarbeit gekostet. Und das Ganze vor dem Hintergrund der unvermeidbaren Bewegungen der Planeten, die man für keinen Menschen beschleunigen oder aufhalten kann. Die Zeit, die sie gebraucht hatten, um auf den nächsten Start zu warten. Einen Teil dieser Zeit hatten sie damit verbracht, weitere nutzlose Versuche anzustellen, den Mars nach allem abzusuchen, was er bot, wobei sie aber die Vorratskammern erschütternd leer gefunden hatten. Vor seinem geistigen Auge konnte er Kingston immer noch vor sich sehen, wie er sich ächzend und stöhnend neben einem umgestürzten Kochtopf übergab. Keine der dreizehn Pilzsorten oder der siebenundzwanzig Flechtensorten war eßbar. Man konnte sie roh, gekocht, gebacken oder geröstet hinunterschlukken. Und sie gingen geradewegs hinunter und kamen geradewegs wieder herauf, und nachher war einem zehnmal übler als zuvor. Die Frage, die sie hatten beantworten müssen, war sehr einfach gewesen. Sie lautete ganz einfach, ob sie das Schiff um jeden Preis zur Erde zurücksteuern oder es ewig in den rosafarbenen Sanddünen verrot-
ten lassen sollten. Beide wußten, daß es nur eine Lösung gab: M. 1. mußte zurückkehren. Es war möglich, und sie wußten wie man es bewerkstelligen konnte ... aber sie konnten sich einfach nicht darüber einigen, wie sie diese Methode anwenden sollten. Die Lösung war keine, die sich nach ruhiger, vernünftiger Diskussion anwenden ließ; sie erforderte die schnelle, beherzte Tat. Er saß auf dem Bettrand und brütete über diese vergangenen Dinge nach. Da hörte er es klopfen und antwortete, ohne sich dabei etwas zu denken. Zwei Männer in Zivil schoben sich durch die offene Tür. Die beiden standen nebeneinander und musterten ihn aus harten scharfen Augen. Und doch war da eine Spur von Unsicherheit in ihnen, eine Unsicherheit, die man unter ihrem gewohnten Selbstvertrauen spürte. Das war das erste Mal in ihrer ganzen Erfahrung, daß man ihnen befohlen hatte, einen Mann zu verhaften, ohne die Gründe zu kennen, ohne einen strafbaren Tatbestand, der die Verhaftung rechtfertigte. Ihr Befehl lautete, ihn zu bitten, freiwillig mitzukommen – und wenn er sich weigerte, Gewalt anzuwenden. Auf jeden Fall war das einer von den beiden Gesuchten. Der andere mochte nicht weit von hier sein. »Sie sind James Vail«, sagte der ältere der beiden. Das war eine Feststellung, keine Frage. »Ja.« Es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. Die Jagd war zu schnell zu Ende gegangen. Das die ganze Nation umfassende Polizeinetz war wirkungsvoller, als er angenommen hatte, und es war schwerer gewesen,
ihm zu entgehen, als er je geglaubt hatte. Nun, sie hatten ihn erwischt. Lügen mochten helfen, das Unvermeidliche hinauszuzögern, konnten es aber nicht abwenden. Früher oder später mußte die Wahrheit heraus. Also war es am besten, es hinter sich zu bringen. Eigenartigerweise erfüllte ihn das mit ungeheurer Erleichterung. »Wo ist Kingston?« fragte der andere voll Hoffnung. James Vail stand auf, die Hände hingen an seinen Seiten. Er fühlte sich, als streckte sich sein Bauch eine Meile weit vor, als starrte die ganze Welt ihn an. Und die Antwort kam in einer Stimme, die er kaum als seine eigene erkannte. »Ich habe ihn aufgegessen.«
Originaltitel: BITTER END Copyright © 1953 by Gernsback Publications, Inc.