ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 15 von Isaac Asimov Kingsley Amis J. T. McIntosh
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 15 von Isaac Asimov Kingsley Amis J. T. McIntosh
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2894 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz Nagel Erstmalig in deutscher Sprache
Umschlagillustration: Schoenherr/Pyramid Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02894 2
Es begann damit, daß Professor Arnold Potterley zum Zwecke einer Korrektur der Geschichtsschreibung einen Blick in die Vergangenheit tun wollte, genauer gesagt in die Geschichte Karthagos vor seiner endgültigen Vernichtung. Als man seinen Antrag ablehnte, verfolgte er seine Pläne im Geheimen und kam zu einer erschreckenden Erkenntnis – allerdings zu spät… AM ANFANG DER VERGANGENHEIT von Isaac Asimov Sie arbeiteten isoliert von konditioniert, werden, das akzeptieren.
und lebten in völliger Einsamkeit, der Umwelt. Man hatte sie mit ihren Problemen fertig zu Experiment als Wirklichkeit zu FALSCH KONDITIONIERT von Kingsley Amis
Die Gesellschaft, das Leben in ihr hatte ihnen nichts mehr zu geben. Man bot ihnen einen Ausweg, ließ sie umsteigen. Psychologische Behandlung machte sie zu einem Team: fünf Menschen, die sich auf ideale Weise ergänzten, die gemeinsam Leistungen vollbrachten, zu denen jeder einzelne von ihnen nie fähig gewesen wäre. Sie waren Super-Computer im Einsatz gegen das Verbrechen. EINHEITSDENKEN von J. T. McIntosh
Isaac Asimov AM ANFANG DER VERGANGENHEIT
Dr. Arnold Potterley war Professor für Altertumsforschung. Das war, für sich allein betrachtet, nicht gefährlich. Was dagegen die Welt mehr veränderte als irgend jemand sich je hätte träumen lassen, war die Tatsache, daß er auch wie ein Professor für Altertumsforschung aussah. Thaddeus Araman, Leiter der Chronoskopieabteilung, hätte vermutlich die richtigen Schritte unternommen, wenn Dr. Potterley ein großes, kantiges Kinn, blitzende Augen, eine Adlernase und breite Schultern besessen hätte. So aber sah sich Thaddeus Araman einem freundlichen Individuum gegenüber, dessen blaß-blaue Augen ihn flehend über einer Knopfnase ansahen und dessen schlanke, konservativ gekleidete Gestalt geradezu den Stempel »Durchschnitt« zu tragen schien. Araman sagte freundlich: »Und was kann ich jetzt für Sie tun, Dr. Potterley?« Dr. Potterley antwortete mit sanfter Stimme, die ganz zu seinem Aussehen paßte: »Mr. Araman, ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie in der Chronoskopie die oberste Instanz sind.« Araman lächelte: »Nicht ganz. Über mir steht der Weltkommissar für Forschung und über ihm der Generalsekretär der Vereinten Nationen, und über beiden stehen natürlich die souveränen Nationen der Erde.« Dr. Potterley schüttelte den Kopf. »Aber die interessieren sich nicht für Chronoskopie. Ich bin zu Ihnen gekommen, Sir,
weil ich seit zwei Jahren vergeblich bemüht bin, die Erlaubnis für eine Zeitschau zu bekommen, die ich in Zusammenhang mit meiner Forschungsarbeit über das alte Karthago anstellen möchte. Ich bekomme die Erlaubnis einfach nicht. Dabei ist mein Budget ausgeglichen. Es gibt keine Unregelmäßigkeiten bei meinen Arbeiten, und dennoch – « »Ich bin sicher, daß keine Unregelmäßigkeiten vorliegen«, sagte Araman besänftigend. Er blätterte in den dünnen reproduzierten Blättern der Akte, die Potterleys Namen trug. Multivac hatte diese Blätter ausgespuckt, denn sein riesiger Datenspeicher bewahrte alle Unterlagen der Abteilung auf. Nach dieser Besprechung würden die Blätter vernichtet werden, da binnen Sekunden wieder neue hergestellt werden konnten, falls man sie brauchte. Und während Araman blätterte, fuhr Dr. Potterley mit monotoner Stimme fort: »Ich muß Ihnen erklären, daß mein Problem von großer Wichtigkeit ist. Karthago bildete den Höhepunkt der Handelskultur der Antike. Das prä-römische Karthago war das nächste Analogon für das prä-atomare Amerika. Zumindest, was sein Interesse für Handel, Wirtschaft und Geschäfte im allgemeinen angeht. Die alten Karthager waren die wagemutigsten Seeleute und Forscher vor den Wikingern, weit tüchtiger als die gemeinhin überbewerteten Griechen. Karthago genauer zu kennen wäre sehr nützlich, und doch rühren die einzigen Kenntnisse, die wir darüber haben, aus den Schriften seiner erbittertsten Feinde, der Griechen und Römer. Karthago selbst hat nie etwas zu seiner Verteidigung geschrieben, oder, wenn es das getan hat, sind uns die Bücher nicht überliefert. Demzufolge werden die Karthager gemeinhin als die größten Schurken der Geschichte dargestellt. Vermutlich zu Unrecht. Eine Zeitschau könnte dieses Unrecht beseitigen und die Geschichte korrigieren.«
Er sagte noch viel mehr. Araman hörte nur mit einem Ohr hin. Und als Potterley schließlich geendet hatte, blickte er auf und sagte: »Sie sind sich natürlich darüber im klaren, Dr. Potterley, daß die Chronoskopie oder die Zeitschau, um auf das Fremdwort zu verzichten, ein sehr komplizierter Prozeß ist.« Dr. Potterley runzelte die Stirn: »Ich bitte ja nur um einige wenige ausgewählte Einstellungen, die ich Ihnen genau angeben würde.« Araman seufzte. »Selbst einige wenige Einstellungen, selbst eine einzige, sind unglaublich kompliziert. Da ist die Frage der Brennpunkteinstellung, die Suche nach dem richtigen Vorfall, die Schwierigkeit, diesen Vorfall festzuhalten. Dann natürlich die Synchronisation der Geräusche, die von völlig unabhängigen Kreisen übertragen werden.« »Aber mein Problem ist doch sicher wichtig genug, um einige Mühe darauf zu verwenden.« »Ja, selbstverständlich«, sagte Araman sofort. Es galt als sehr schlechtes Benehmen, die Wichtigkeit eines Forschungsprojekts eines Kollegen in Zweifel zu ziehen. »Aber Sie müssen auch begreifen, welchen Zeitaufwand selbst die einfachste Einstellung mit sich bringt. Und es gibt eine lange Warteliste für das Chronoskop und eine noch viel längere für die Programmierabteilung des MultivacComputers, wo die Steuerschaltungen festgelegt werden.« Potterley rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Aber läßt sich denn gar nichts machen? Zwei Jahre – « »Das ist eine Frage der Prioritäten, Sir. Es tut mir leid. Zigarette?« Der Historiker zuckte bei dem Angebot förmlich zusammen, und seine Augen weiteten sich als er das Päckchen anstarrte, das man ihm hinhielt. Araman blickte überrascht auf, zog das
Päckchen zurück, schickte sich an, selbst eine Zigarette herauszunehmen, überlegte es sich dann aber anders. Potterley atmete in unverhohlener Erleichterung auf, als das Päckchen wieder weggesteckt wurde. Dann sagte er: »Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Angelegenheit noch einmal zu überprüfen, mir eine höhere Priorität zuzuteilen? Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll – « Araman lächelte. Einige Interessenten hatten unter ähnlichen Umständen Geld angeboten. Aber das hatte sie natürlich auch nicht weitergebracht. Und dann sagte er: »Die Entscheidungen über die Prioritäten trifft natürlich der Computer. Ich kann mich da unmöglich einschalten.« Potterley erhob sich steif. Zu voller Höhe aufgerichtet maß er einen Meter fünfundsechzig. »Dann guten Tag, Sir.« »Guten Tag, Dr. Potterley. Es tut mir wirklich leid.« Er streckte ihm die Hand hin, und Potterley berührte sie leicht. Der Historiker ging, und ein Summer rief Aramans Sekretärin ins Zimmer. Er gab ihr die Akte. »Das kann vernichtet werden«, sagte er. Als er wieder allein war, lächelte er bitter. Seit einem Vierteljahrhundert diente er in diesem Amt der Menschheit. Er erbrachte diesen Dienst, indem er Ablehnungen aussprach. Dabei war es noch leicht gewesen, diesen Professor abzuwimmeln. Manchmal mußte man akademischen Druck ausüben. Ja manchmal sogar Budgets streichen. Fünf Minuten darauf hatte er Dr. Potterley vergessen. Und wenn er später an die Episode zurückdachte, konnte er sich nicht einmal erinnern, eine Vorahnung drohender Gefahr empfunden zu haben.
Im ersten Jahr der Reihe seiner Enttäuschungen hatte Arnold Potterley nur das empfunden – eben Enttäuschung. Im zweiten Jahr entsprang seiner Enttäuschung eine Idee, die ihn zuerst erschreckte, dann faszinierte. Zwei Dinge hielten ihn davon ab, die Idee in die Tat umzusetzen, aber die unbestrittene Tatsache, daß seine Idee völlig unethisch war, gehörte nicht dazu. Das erste war allein die Hoffnung gewesen, daß die Regierung schließlich und endlich doch ihre Genehmigung erteilen und es unnötig machen würde, daß er etwas unternahm. Diese Hoffnung war im Verlaufe seines Gesprächs mit Araman hinfällig geworden. Der zweite Grund war nicht Hoffnung, sondern die traurige Erkenntnis seiner eigenen Grenzen gewesen. Er war kein Physiker und kannte auch keinen Physiker, von dem er Hilfe erwarten durfte. Die Fachabteilung Physik an der Universität bestand aus Männern, die mit Budgetmitteln wohlversehen waren und ganz in ihren Spezialfächern aufgingen. Im besten Falle würden sie ihm nicht zuhören. Im schlimmsten Falle konnten sie ihn wegen intellektueller Anarchie zur Meldung bringen, und dann bestand die Gefahr, daß ihm die finanzielle Grundlage für seine Karthagoforschung entzogen wurde. Das durfte er nicht riskieren. Und doch war die Chronoskopie die einzige Möglichkeit, um seine Arbeit fortzusetzen. Ohne Zeitschau war er genauso schlimm dran wie wenn man ihm das Budget ganz strich. Die erste Andeutung, daß es doch einen Weg gab, das zweite Hindernis zu überwinden, hatte er eine Woche vor seinem Gespräch mit Araman bekommen. Aber damals hatte er seine Chance noch nicht erkannt. Es war bei einem Fakultätsabend gewesen. Potterley nahm an diesen Abenden immer teil, weil er die Teilnahme für eine Pflicht hielt, und seine Pflichten nahm er ernst. Aber er hielt es nicht für seine Pflicht, bei
diesen Anlässen leichte Konversation zu machen oder neue Freunde zu gewinnen. So nippte er nur an seinem Drink, wechselte mit dem Dekan oder irgendwelchen Abteilungsleitern ein paar höfliche Worte, schenkte anderen ein knappes Lächeln und ging schließlich wieder früh nach Hause. Unter normalen Umständen hätte er daher beim letzten Fakultätsabend bestimmt nicht auf den jungen Mann geachtet, der ruhig, beinahe abwesend in einer Ecke stand. Nicht im Traume hätte er daran gedacht, ihn anzusprechen. Aber eine Verkettung besonderer Umstände ließ ihn sich diesmal ganz im Gegensatz zu seinem innersten Wesen verhalten. An jenem Morgen hatte Mrs. Potterley beim Frühstück würdig verkündet, sie hätte wieder einmal von ihrer Tochter Laurel geträumt, aber diesmal von einer Laurel, die bereits erwachsen war und dennoch das Gesicht einer Dreijährigen behalten hatte. Potterley hatte sie reden lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er sich dagegen auflehnte, daß sie sich so häufig mit der Vergangenheit und dem Tode beschäftigte. Laurel würde nicht wiederkommen, ob sie nun von ihr träumten oder von ihr redeten. Aber wenn es Caroline Potterley beruhigte, sollte sie träumen und reden. Aber als Potterley an jenem Morgen zur Universität ging, mußte er noch einmal an Carolines Traum denken. Eine erwachsene Laurel! Sie war vor beinahe zwanzig Jahren gestorben; ihr einziges Kind. Und in all der Zeit, wenn er an sie dachte, sah er sie immer als Dreijährige vor sich. Und jetzt dachte er: aber wenn sie heute noch lebte, wäre sie nicht drei, sondern beinahe dreiundzwanzig Jahre alt. Hilflos ertappte er sich dabei, wie er versuchte, sich Laurel vorzustellen, so wie sie langsam älter und schließlich dreiundzwanzig wurde. Es gelang ihm nicht ganz. Dennoch
versuchte er es. Laurel, die Make-up benutzte. Laurel, die mit jungen Männern ausging. Laurel, die heiratete! Und als er daher den jungen Mann im Kreise seiner Fakultätskollegen stehen sah, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß vielleicht ein junger Mann wie er Laurel hätte heiraten können. Vielleicht sogar dieser junge Mann – Laurel hätte ihn hier kennenlernen können, auf der Universität oder an irgendeinem Abend, an dem er bei den Potterleys eingeladen war. Sie hätten anfangen können, sich füreinander zu interessieren. Laurel wäre bestimmt eine attraktive junge Frau gewesen, und dieser junge Mann sah gut aus. Er trug einen dunklen Anzug und hatte ein schmales, intelligentes Gesicht. Der Traum riß ab, und Potterley ertappte sich dabei, wie er den jungen Mann anstarrte und in ihm nicht ein fremdes Gesicht, sondern einen möglichen Schwiegersohn sah. Er ertappte sich dabei, wie er langsam auf den Mann zuging. Es war beinahe eine Art von Autohypnose. Er streckte die Hand aus: »Ich bin Arnold Potterley von der Fakultät für alte Geschichte. Sie sind wohl neu hier?« Der junge Mann blickte erstaunt auf und nahm sein Glas in die linke Hand, um ihm die rechte zu schütteln. »Jonas Foster ist mein Name, Sir. Ich bin Dozent für Physik. Ich fange in diesem Semester an.« Potterley nickte. »Dann wünsche ich Ihnen hier viel Erfolg und einen angenehmen Aufenthalt.« Damit war das Gespräch zu Ende. Potterley war etwas peinlich berührt zu sich gekommen und weggegangen. Einmal sah er über die Schulter um, aber hie Illusion einer Verwandtschaft war dahin. Die Wirklichkeit war wieder Wirklichkeit, und er ärgerte sich, daß er sich von dem dummen Gerede seiner Frau hatte hinreißen lassen.
Aber eine Woche später, während der Unterredung mit Araman, hatte er sich plötzlich an den jungen Mann erinnert. Dozent für Physik. Ein neuer Dozent. War er damals taub gewesen? Gab es einen Kurzschluß zwischen seinem Gehör und seinem Verstand? Oder war das eine Art automatische Selbstzensur wegen der bevorstehenden Besprechung mit dem Leiter der Chronoskopieabteilung? Aber die Besprechung hatte kein Ergebnis gezeitigt, und der Gedanke an den jungen Mann, mit dem er zwei Sätze gewechselt hatte, hielt Potterley davon ab, bei Araman weiterzubetteln. Er brannte förmlich darauf, das Büro Aramans zu verlassen. Und als er dann im Helikopterexpreß saß, auf dem Weg zur Universität, wünschte er beinahe, er wäre abergläubisch. Dann hätte er sich mit dem Gedanken trösten können, daß das zufällige bedeutungslose Zusammentreffen in Wirklichkeit von einem wissenden, zweckbewußten Schicksal ausgelöst worden war.
Jonas Foster war im akademischen Leben kein Neuling. Der lange mühsame Kampf um die Doktorarbeit machte aus jedem einen Veteran. Aber jetzt war er Dozent. Vor ihm lag die Würde eines Professors. Seine Beziehung zu den anderen Professoren hatte sich gewandelt. Bei ihnen lag jetzt die Entscheidung über sein weiteres Fortkommen. Und er konnte jetzt, als Neuling, noch nicht wissen, welches Mitglied der Fakultät das Ohr des Dekans oder sogar des Universitätspräsidenten hatte oder wem es verschlossen blieb. Er verstand nicht viel von der Innenpolitik einer Universität und glaubte auch nicht, diese Kunst erlernen zu können – aber es hatte auch keinen Sinn, gleich aufzugeben.
Also hörte Foster diesem freundlichen Geschichtsprofessor zu, der irgendwie ungeheure Spannung auszustrahlen schien. Er sagte ihm nicht, daß er den Mund halten solle, und warf ihn auch nicht aus seinem Büro, wenn das auch sein erster Impuls gewesen war. Er konnte sich noch ganz gut an Potterley erinnern. Potterley war damals an jenem Fakultätsabend auf ihn zugegangen und hatte, steif und irgendwie mit glasigem Blick zwei Sätze mit ihm gewechselt, war dann gleichsam ruckartig zu sich gekommen und wieder weggegangen. Damals hatte das Foster amüsiert, aber heute – Vielleicht hatte Potterley damals absichtlich seine Bekanntschaft machen oder sich vor Foster als harmloser, etwas eigenartiger Exzentriker geben wollen. Vielleicht versuchte er jetzt, Fosters Ansichten zu ergründen, festzustellen, ob er vielleicht unorthodoxe Meinungen vertrat. Aber darüber hätte man sich eigentlich informieren müssen, bevor er seine Berufung erhielt. Dennoch – Potterley konnte es natürlich auch ernst sein mit dem, was er sagte, sich gar nicht darüber im klaren sein, was er tat. Oder vielleicht ahnte er auch, was er tat; jedenfalls konnte der Mann sehr gefährlich werden. »Nun, hm-m-m«, murmelte Foster, um Zeit zu gewinnen, und holte eine Packung Zigaretten heraus, wollte Potterley anbieten. Aber Potterley sagte sofort: »Bitte, Dr. Foster. Keine Zigaretten.« Foster sah ihn erschreckt an. »Es tut mir leid, Sir.« »Nein. Ich muß mich entschuldigen. Ich kann den Geruch nicht ertragen. Eine Idiosynkrasie. Es tut mir wirklich leid.« Er war ganz blaß geworden. Foster legte die Zigaretten weg. »Es ist wirklich sehr schmeichelhaft für mich, daß Sie mich um Rat fragen«, meinte er dann. »Aber ich bin kein
Neutriniker. Ich kann in dieser Richtung nicht beruflich tätig werden. Selbst eine Meinung zu äußern, wäre vermessen, und ich wäre Ihnen daher offengestanden dankbar, wenn Sie nicht auf Einzelheiten eingingen.« Der Ausdruck des Historikers wurde hart. »Was soll das heißen, Sie sind kein Neutriniker? Sie sind noch überhaupt nichts. Es sind Ihnen doch bisher keine Mittel bewilligt worden, oder?« »Das ist mein erstes Semester.« »Ich weiß. Ich vermute, daß Sie noch kein Budget beantragt haben.« Foster lächelte. In den drei Monaten, die er jetzt an der Universität war, hatte er noch nicht genügend Zeit gehabt, seine Anforderung für ein Forschungsbudget so weit vorzubereiten, daß er sie einem berufsmäßigen Antragschreiber übergeben konnte, von der Kommission einmal ganz zu schweigen. Sein Abteilungsleiter hatte zum Glück nichts dagegen einzuwenden gehabt. »Lassen Sie sich nur Zeit, Foster«, hatte er gesagt, »und legen Sie sich alles gut zurecht. Sie müssen ganz genau wissen, welchen Weg Sie gehen wollen und wo er hinführen soll. Denn sobald Sie einmal eine Bewilligung bekommen haben, wird Ihr Spezialfach formell anerkannt, und dann behalten Sie es für den Rest Ihrer Karriere, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht.« Der Rat war ziemlich niederschmetternd gewesen, aber dafür sehr wahr, und Foster war dafür dankbar. »Nach Ausbildung und aus Neigung, Dr. Potterley«, sagte Foster, »bin ich Hyperoptiker und habe als Nebenfach Gravitik betrieben. So steht es in meiner Bewerbung um diese Position. Das ist noch nicht meine endgültige Spezialisierung, aber das wird es sein. Es kann gar nichts anderes sein. Was die
Neutrinik angeht – dieses Fach habe ich überhaupt nicht studiert.« »Warum nicht?« fragte Potterley sofort. Foster starrte ihn an. Diese Art von Neugierde, die die berufliche Intimsphäre eines Menschen verletzte, galt als äußerst ungehörig. So klang seine Antwort auch eine Spur gereizt: »An meiner Universität gab es keine NeutrinikVorlesungen.« »Wo haben Sie studiert?« »An der Technischen Hochschule von Massachusetts«, sagte Foster ruhig. »Und dort gibt es keine Neutrinik-Vorlesungen?« »Nein.« Foster fühlte sich in die Verteidigung gedrängt. »Das ist ein hochspezialisiertes Fach ohne großen praktischen Nutzen. Außer der Chronoskopie hat es vielleicht überhaupt keine praktische Anwendung, und das ist eine Sackgasse.« Der Historiker starrte ihn an. »Dann sagen Sie mir eines: Wissen Sie, wo ich einen Neutriniker finden kann?« »Nein«, sagte Foster kühl. »Schön, dann kennen Sie vielleicht eine Lehranstalt, an der Neutrinik gelehrt wird.« »Nein, da kenne ich keine.« Potterley lächelte verkniffen und ohne Humor. Dieses Lächeln ärgerte Foster, und er empfand es beleidigend. Das Gespräch hatte ihn so gereizt, daß er sagte: »Ich möchte Sie darauf hinweisen, Sir, daß Sie zu weit gegangen sind.« »Was?« »Ich sage, daß als Historiker, der Sie sind, Ihr Interesse für irgendein Spezialgebiet der Physik, Ihr professionelles Interesse – « er hielt inne, brachte das Wort nicht über die Lippen. »Unethisch ist?«
»Das ist der richtige Ausdruck, Dr. Potterley.« »Meine Forschungsarbeiten haben mich dazu getrieben«, flüsterte Potterley erregt. »Dann müssen Sie zur Forschungskommission gehen. Wenn Sie dort eine Genehmigung – « »Da war ich, aber ich habe keine Genehmigung erhalten.« »Dann müssen Sie Ihre Arbeit aufgeben.« Foster wußte, daß das sehr herablassend klang, aber er würde nicht zulassen, daß dieser Mann ihn dahin trieb, daß er der intellektuellen Anarchie das Wort redete. Schließlich hatte seine Karriere gerade erst angefangen, und er durfte nichts riskieren. Aber auf Potterley hatte die Bemerkung ihre Wirkung. Ohne Warnung entlud sich in diesem Mann förmlich ein wahrer Orkan der Verantwortungslosigkeit. »Wissenschaftler«, so erklärte er, »können nur dann frei sein, wenn sie ihrer eigenen Neugierde folgen dürfen.« Forschung, so meinte er, die von den Instanzen, die über das Geld verfügten, in vorherbestimmte Bahnen gelenkt werde, würde versklavt und stagniere. Kein Mensch, so sagte er, habe das Recht, einem anderen seine intellektuellen Interessen zu diktieren. Foster hörte ungläubig zu. Nichts von dem, was er hörte, war ihm neu. Er hatte Studenten so reden hören, um ihre Professoren zu schockieren, und hatte sich ein paarmal in ähnlicher Weise betätigt. Jeder, der die Geschichte der Wissenschaft studierte, wußte, daß einmal viele Menschen so gedacht hatten. Und doch schien es Foster seltsam, geradezu widernatürlich, daß ein moderner Gelehrter solchen Unsinn verbreiten konnte. Niemand würde es für richtig halten, eine Fabrik so zu leiten, daß jeder Arbeiter tun konnte, was ihm im Augenblick Spaß machte. Jeder sah ein, daß in jedem Fall eine Art zentraler Aufsichtsstelle existieren mußte. Und warum sollten Prinzipien
wie Ordnung und Lenkung einer Fabrik nützen, dagegen nicht der wissenschaftlichen Forschung? Man könnte sagen, daß der menschliche Verstand sich qualitativ von einer Fabrik unterschied, aber die Geschichte der Wissenschaft bewies das Gegenteil. Als die Wissenschaft noch jung war und das Individuum noch das gesamte Wissen seiner Zeit erfassen konnte, bedurfte es vielleicht noch keiner Lenkung. Blindes Wandern über unerforschte Pfade konnte zu wundersamen, zufälligen Funden führen. Aber je mehr das Wissen wuchs, desto mehr einzelne Daten mußte man aufnehmen, ehe man solche Expeditionen ins Land des Unerforschten beginnen konnte. Man mußte sich spezialisieren. Der Forscher brauchte die Hilfsmittel einer Bibliothek, Instrumente, die er selbst nicht herstellen konnte. Mehr und mehr machte der individuelle Forscher dem Forscherteam Platz, schließlich dem Forschungsinstitut. Die Forschungsmittel wurden immer umfangreicher, im gleichen Maße wie die benötigten Werkzeuge zahlreicher wurden. Welche Universität war heute noch so klein, daß sie nicht wenigstens einen nuklearen Mikro-Reaktor brauchte und wenigstens einen Drei-Stufen-Computer? Schon vor Jahrhunderten hatten die Mittel von Privatpersonen nicht mehr ausgereicht, um die Forschung zu unterstützen. Um 1940 konnten nur noch die Regierung, große Industrieunternehmen und große Universitäten oder Forschungsinstitute in ausreichendem Maße die Grundlagenforschung finanzieren. Um 1960 waren selbst die größten Universitäten völlig von Regierungsaufträgen und Bewilligungen abhängig, während Forschungsinstitute nur mehr infolge steuerlicher Konzessionen existieren konnten. Im Jahr 2000 waren die Industriekombinate ein Zweig der Weltregierung geworden,
und danach wurde die Finanzierung der Forschung und demzufolge auch ihre Zielsetzung natürlich in einem Ministerium zentralisiert. Alles funktionierte gut und natürlich. Jeder Zweig der Wissenschaft wurde sorgfältig auf die Bedürfnisse der Öffentlichkeit abgestimmt, und die einzelnen Zweige der Wissenschaft wurden miteinander koordiniert. Der materielle Fortschritt des letzten halben Jahrhunderts bewies augenfällig, daß die Wissenschaft nicht der Stagnation anheimgefallen war. Foster versuchte, all dies in wenigen Worten zum Ausdruck zu bringen, aber Potterley brachte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen: »Sie plappern ja bloß die öffentliche Propaganda nach. Und warum sagen Sie, daß die Zeitschau in eine Sackgasse geraten ist? Warum ist die Neutrinik unwichtig? Sie behaupten das einfach. Ganz kategorisch behaupten Sie das. Und dennoch haben Sie diese Disziplin nie studiert. Sie behaupten, überhaupt nichts darüber zu wissen. Auf Ihrer Universität wird sie nicht einmal gelehrt.« »Ist nicht allein die Tatsache, daß sie nicht gelehrt wird, schon Beweis genug?« »Oh, jetzt verstehe ich. Es wird nicht gelehrt, weil es unwichtig ist. Es ist unwichtig, weil es nicht gelehrt wird. Gefällt Ihnen dieser Beweis?« Foster begann unruhig zu werden. »Es steht in den Büchern.« »Und das ist alles. In den Büchern heißt es, daß die Neutrinik unwichtig ist. Ihre Professoren sagen es, weil sie es in den Büchern gelesen haben. Und in den Büchern steht es, weil die Bücher von Professoren geschrieben werden. Wer kann es denn auf Grund eigener Erfahrung und eigenen Wissens behaupten? Wer arbeitet in dem Fach? Kennen Sie irgend jemand?« »So kommen wir nicht weiter, Dr. Potterley«, sagte Foster. »Ich habe zu arbeiten – «
»Einen Augenblick noch. Ich möchte, daß Sie sich das anhören: Ich behaupte, daß die Regierung bewußt jede Grundlagenforschung im Bereich der Neutrinik und der Chronoskopie unterdrückt. Sogar die Anwendung der Chronoskopie wird unterdrückt.« »O nein.« »Warum nicht? Man könnte es doch. Unsere Forschungsarbeit wird zentral geleitet. Wenn die Regierung ablehnt, Mittel für eine bestimmte Disziplin zu bewilligen, so stirbt dieses Fach. Die Neutrinik haben sie schon abgewürgt. Das können sie, und das haben sie auch getan.« »Aber warum?« »Das weiß ich nicht. Ich möchte, daß Sie das herausfinden. Ich würde es selbst tun, wenn ich genug wüßte. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie ein junger Mann mit einer taufrischen Ausbildung sind. Empfinden Sie denn gar keine Neugierde? Wollen Sie denn gar nichts wissen? Wollen Sie denn keine Antworten?« Der Historiker starrte Foster an. Er stand jetzt ganz dicht vor dem jungen Mann, und Foster war so benommen, daß er wie gelähmt war. Eigentlich hätte er Potterley auffordern müssen, ihn in Ruhe zu lassen. Vielleicht hätte er ihn sogar hinauswerfen sollen. Es war auch nicht der Respekt für sein Alter und seine Position, der ihn daran hinderte. Aber Potterleys Argumente hatten ihn auch nicht überzeugt. Es ging vielmehr darum, daß die Ehre seiner alten Universität angetastet wurde. Aber warum hatte es an seiner Universität keine Vorlesungen über Neutrinik gegeben? Jetzt, wo er daran dachte, bezweifelte er sogar, daß es in der Bibliothek auch nur ein einziges Buch über Neutrinik gegeben hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, je eins gesehen zu haben.
Er begann darüber nachzudenken. Und das war der Anfang. Caroline Potterley war einmal eine attraktive Frau gewesen. Und es gab Gelegenheiten, zum Beispiel gesellschaftliche Veranstaltungen an der Universität, wo sie mit einiger Mühe Reste dieser Attraktivität ins Feld führen konnte. Normalerweise aber schlampte sie. Das war der Begriff, den sie selbst benutzte, wenn der Abscheu vor ihrer eigenen Person sie überkam. Sie war mit den Jahren plumper geworden, aber das war nicht nur eine Frage des Fettes. Es war so, als hätten ihre Muskeln den Kampf aufgegeben, als wären sie schlaff geworden, so daß sie sich müde dahinschleppte und Tränensäcke unter den Augen hatte. Selbst ihr ergrauendes Haar wirkte nicht nur strähnig, sondern regelrecht müde. Caroline Potterley musterte sich im Spiegel und gestand sich selbst, daß das einer ihrer schlechten Tage war. Sie kannte auch den Grund. Es war der Traum gewesen. Der seltsame Traum von einer erwachsenen Laurel. Seitdem war sie wie zerschlagen. Trotzdem bedauerte sie, daß sie Arnold von dem Traum berichtet hatte. Er hatte nichts gesagt; das tat er nie, wenigstens schon seit langer Zeit nicht mehr. Aber es war schlecht für ihn. Er war tagelang wie in sich selbst zurückgezogen. Vielleicht bereitete er sich auf diese wichtige Besprechung mit dem Regierungsbeamten vor – er sagte immer wieder, daß er nicht mit Erfolg rechnete –, aber vielleicht war es auch ihr Traum gewesen. Früher war es besser gewesen, wenn er sie in solchen Fällen einfach angeschrien hatte: »Laß doch die Vergangenheit ruhen, Caroline! Mit Worten machst du sie nicht wieder lebendig. Und mit Träumen auch nicht.« Es war schlimm für sie beide gewesen. Furchtbar schlimm. Sie war an jenem Abend nicht zu Hause gewesen, und seitdem
quälte sie die Schuld. Wäre sie zu Hause geblieben, wäre sie nicht unnötigerweise zum Einkaufen gegangen, dann wären sie beide dagewesen. Einer hätte Laurel retten können. Der arme Arnold hatte es nicht geschafft. Der Himmel wußte, wie sehr er sich bemüht hatte. Beinahe wäre er selbst dabei ums Leben gekommen. Er war aus dem brennenden Haus gekommen, taumelnd, versengt, halb erstickt, halb geblendet, und hatte die tote Laurel in den Armen gehalten. Der Alptraum hielt an, verblaßte nie. Arnold brachte es im Laufe der Jahre fertig, sich einzukapseln. Er gewöhnte sich eine sanfte Stimme, eine sanftmütige Haltung an, die nichts durchbrechen konnte. Er wurde zum Puritaner und gab sogar seine kleinen Laster auf, seine Zigaretten, seine gelegentlichen Kraftausdrücke. Und dann wurde ihm das Budget für die Vorbereitung eines neuen Geschichtswerkes über Karthago genehmigt, und dieser Arbeit ordnete er alles unter. Sie versuchte ihm zu helfen. Sie half ihm bei der Aufbereitung von Quellenmaterial, tippte seine Notizen und fertigte Mikrofilme davon an. Und dann hörte auch das plötzlich auf. Eines Abends sprang sie vom Schreibtisch auf, rannte ins Badezimmer und erreichte es gerade noch rechtzeitig, um sich dort zu übergeben. Ihr Mann folgte ihr verwirrt und besorgt. »Caroline, was ist denn?« Er mußte ihr Brandy einflößen, um sie wieder zu sich zu bringen. Und dann sagte sie: »Stimmt das? Haben die das getan?« »Wer denn?« »Die Karthager.« Er starrte sie an, und sie konnte es ihm schließlich begreiflich machen, ohne das Wort auszusprechen.
Die Karthager verehrten Moloch in Gestalt eines hohlen Bronzegötzen mit einer Feuerstelle im Leib. In Zeiten nationaler Krisen sammelten sich die Priester und das Volk vor dem Götzenbild und warfen nach entsprechenden Zeremonien und Gebeten lebende Kinder in die Flammen. Unmittelbar vor dem Opfer erhielten die Kleinen Süßigkeiten, damit die Wirksamkeit des Opfers nicht durch dem Götzen widerwärtiges Geschrei beeinträchtigt wurde. Und nachher rollten die Trommeln, um die Sekunden zu übertönen, in denen die Kinder in den Flammen schrien. Die Eltern waren zugegen und glücklich, wenn die Götter das Opfer wohlgefällig annahmen. Arnold Potterley runzelte die Stirn. »Gemeine Lügen«, sagte er, »gemeine Lügen, die Karthagos Feinde verbreitet haben.« Er hätte Caroline warnen sollen. Schließlich waren solche Propagandalügen gar nicht ungewöhnlich. Die Griechen behaupteten immer, die alten Hebräer verherrlichten in ihrem Allerheiligsten einen Eselskopf. Und wenn man den Römern Glauben schenken wollte, pflegten die ersten Christen in den Katakomben Heidenkinder zu opfern. »Dann stimmt das also nicht?« fragte Caroline. »Dessen bin ich ganz sicher. Vielleicht trifft es auf die primitiven Phönizier zu. Das Menschenopfer ist in primitiven Kulturen weit verbreitet. Aber Karthago war zur Zeit seiner höchsten Blüte keine primitive Kultur. Menschenopfer werden oft durch symbolische Handlungen, wie zum Beispiel die Beschneidung, ersetzt. Die Griechen und Römer haben möglicherweise irgendeine symbolische Handlung mit dem ursprünglichen Ritus verwechselt, sei es nun aus Unwissenheit oder mit böser Absicht.« »Bist du sicher?« »Sicher nicht, Caroline, aber wenn ich genügend Beweise habe, werde ich die Genehmigung beantragen, die Sache
chronoskopisch zu untersuchen, und damit ist dann alles ein für allemal geklärt.« »Chronoskopisch?« »Fernsehen in die Vergangenheit. Wir können unsere Geräte auf das alte Karthago zu irgendeiner Krisenzeit einstellen, zum Beispiel der Landung des Scipio Africanus im Jahre 202 vor Christi, und können mit eigenen Augen ansehen, was geschah. Und du wirst sehen, daß ich recht habe.« Er tätschelte ihre Hand und lächelte ermutigend, aber sie träumte zwei Wochen lang jede Nacht von Laurel und half ihm nie wieder bei seiner Arbeit. Und er bat sie auch nicht mehr darum. Aber jetzt wartete sie auf seine Heimkehr. Er hatte sie angerufen, als er wieder in der Stadt eingetroffen war, hatte ihr gesagt, daß er mit dem Beamten gesprochen habe und daß alles erwartungsgemäß gelaufen sei. Das bedeutete Mißerfolg, und doch hatte seine Stimme nicht deprimiert geklungen, und seine Züge waren auf dem Bildschirm des Sichttelefons nicht verkniffen gewesen. Er hätte noch etwas zu erledigen, ehe er nach Hause käme, hatte er gesagt. Das bedeutete, daß er spät kommen würde. Aber das war nicht wichtig, sie nahmen es mit der Essenszeit nicht genau, und es war ihnen gleichgültig, wann die Packungen aus dem Tiefkühlschrank genommen und aufgewärmt wurden. Als er zu Hause eintraf, überraschte er sie. Er wirkte nämlich ganz normal, küßte sie pflichtschuldig, lächelte, nahm den Hut ab und fragte, ob alles in Ordnung gewesen sei während seiner Abwesenheit. Es war alles beinahe völlig normal. Beinahe. Sie hatte aber in den Jahren gelernt, kleine Nuancen zu bemerken, und so fiel ihr auf, daß das abendliche Ritual etwas schneller ablief als gewohnt. So viel schneller zumindest, daß es ihrem geübten Auge nicht entging. »War etwas?« fragte sie.
»Wir haben übermorgen abend einen Gast zum Abendessen, Caroline«, sagte er. »Es macht dir doch nichts aus?« »Nein. Kenne ich ihn?« »Nein. Ein junger Dozent. Neuer Mann. Ich habe mit ihm gesprochen.« Er wirbelte plötzlich zu ihr herum und packte sie am Arm, hielt sie einen Augenblick fest und ließ dann los, als wäre es ihm peinlich, Erregung gezeigt zu haben. »Beinahe hätte ich ihn nicht überzeugen können«, sagte er dann. »Stell dir das vor. Schrecklich, schrecklich, wie sich alle unter das Joch gebeugt haben; wie wir alle die Zügel geradezu lieben, an denen wir hängen.« Mrs. Potterley war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand, aber sie hatte im Laufe des vergangenen Jahres erlebt, wie er immer rebellischer wurde, wie seine Kritik an der Regierung immer gewagter wurde. »Du hast doch nichts Unvernünftiges zu ihm gesagt?« fragte sie besorgt. »Was soll das heißen, unvernünftig? Er wird Neutrinik für mich machen.« Neutrinik war für Mrs. Potterley dreisilbiger Unsinn, aber sie wußte wenigstens, daß es nichts mit Geschichte zu tun hatte. Also meinte sie: »Arnold, das gefällt mir nicht. Du wirst deine Stellung verlieren. Das ist – « »Das ist intellektuelle Anarchie, meine Liebe«, sagte er. »Das willst du doch sagen. Na schön, dann bin ich eben Anarchist. Wenn die Regierung mir nicht gestattet, meine Forschungsarbeit fortzuführen, dann mache ich das auf eigene Faust. Und wenn ich den Weg weise, werden andere mir folgen. Und wenn nicht, so hat das auch nichts zu bedeuten. Karthago ist es, worauf es ankommt, und das Wissen der Menschheit. Du und ich, wir zählen dabei nicht.« »Aber du kennst diesen jungen Mann doch gar nicht. Was, wenn er ein Spitzel des Forschungskommissars ist?«
»Das ist unwahrscheinlich. Dieses Risiko gehe ich ein.« Er ballte die rechte Hand zur Faust und rieb sie an der linken Handfläche. »Er steht jetzt auf meiner Seite. Da bin ich ganz sicher. Das muß er einfach. Ich spüre, daß seine Neugierde geweckt ist, und das ist für einen Wissenschaftler eine schlimme Krankheit. Selbst in der heutigen Zeit. Aber wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen. Und warum überhaupt nur halbe Schritte tun? Warum bauen wir nicht unser eigenes Chronoskop und sagen der Regierung, sie soll zum – « Er hielt plötzlich inne, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Hoffentlich wird alles gut«, sagte Mrs. Potterley und spürte gleichzeitig, daß bestimmt nicht alles gut werden würde und hatte Angst, fürchtete um die Position ihres Mannes und die Sicherung ihres Alters. Nur sie war es von allen Beteiligten, die ahnte, daß es Schwierigkeiten geben würde. Nur waren es ganz andere Schwierigkeiten, als sie fürchtete.
Jonas Foster kam eine halbe Stunde zu spät zu den Potterleys. Bis zur letzten Minute war er unentschlossen gewesen, ob er hingehen sollte. Und dann, in letzter Minute, hatte er schließlich erkannt, daß er es einfach nicht fertigbringen würde, einen so gravierenden gesellschaftlichen faux pas zu begehen und eine Einladung zum Abendessen eine Stunde vor der festgesetzten Zeit abzusagen. Das war ein Teil seiner Überlegungen. Der Rest war Neugierde. Das Abendessen selbst zog sich endlos in die Länge. Foster aß ohne eine Spur von Appetit. Mrs. Potterley saß geistesabwesend da und riß sich nur einmal aus ihren Gedanken, um ihm die Frage zu stellen, ob er verheiratet wäre und dann ein bedauerndes Geräusch zu machen, als sie hörte,
daß er das nicht sei. Dr. Potterley selbst fragte nach seinem beruflichen Werdegang und nickte zufrieden. Es war so spießig, so langweilig, wie ein Abendessen nur verlaufen konnte. Foster dachte: er scheint so harmlos. In den letzten zwei Tagen hatte er über Dr. Potterley nachgelesen. Sehr beiläufig natürlich nur, beinahe verstohlen. Er war nicht gerade erpicht darauf, daß man ihn in der Bibliothek der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät entdeckte. Die Geschichtswissenschaft war ein Grenzfall, und es kam durchaus vor, daß historische Werke vom allgemeinen Publikum gelesen wurden, ohne daß es Ärger gab. Aber ein Physiker war alles andere als das allgemeine Publikum. Wenn man Foster dabei entdeckte, wie er Geschichtswerke las, würde man ihn für eigenartig halten, und nach einer Weile würde sich sein Vorgesetzter zu fragen beginnen, ob sein neuer Dozent wirklich »der richtige Mann für seinen Posten« war. Er war also vorsichtig gewesen. Er hatte in abgelegenen Nischen gesessen und das Gesicht immer abgewandt, wenn jemand vorbeigekommen war. Dr. Potterley hatte drei Bücher geschrieben, stellte sich heraus, und etwa ein Dutzend Artikel über die antike Welt des Mittelmeerraumes. Seine letzten Artikel waren alle in der Historical Revue erschienen, befaßten sich mit dem präromanischen Karthago und vertraten einen den Karthagern freundlichen Standpunkt. Das zumindest bestätigte, was Potterley ihm erzählt hatte, und das hatte Fosters Verdacht etwas zerstreut. Und doch war Foster der Ansicht, daß es viel klüger, viel sicherer gewesen wäre, sich von Anfang an nicht mit diesem Mann einzulassen. Ein Wissenschaftler sollte nicht zu neugierig sein, dachte er, mit sich selbst unzufrieden. Das ist ein gefährlicher Charakterzug.
Nach dem Essen komplimentierte Potterley ihn in sein Arbeitszimmer. An der Schwelle blieb Forster überrascht stehen. Die Wände waren von Büchern buchstäblich bedeckt. Nicht von Filmen. Natürlich gab es auch Filme, aber die Bücher waren weit in der Überzahl – auf Papier gedruckte. Er hätte nicht gedacht, daß es so viele Bücher auf einem Haufen geben konnte. Das beunruhigte Foster. Warum sollte jemand so viele Bücher zu Hause aufbewahren wollen? Schließlich waren sie doch alle in der Universitätsbibliothek erhältlich oder im schlimmsten Fall in der Kongreßbibliothek, wenn man sich die Mühe machen wollte, einen Mikrofilm auszuleihen. Eine Hausbibliothek wirkte geradezu geheimnisumwittert. Das roch nach intellektueller Anarchie. Und eigenartigerweise beruhigte dieser Gedanke Foster etwas. Der Anarchist Potterley war ihm lieber als der Spitzel Potterley. Und jetzt begannen die Stunden schneller zu verstreichen. »Sie sehen also, es kam darauf an, jemanden zu finden, der irgendwann einmal bei seiner Arbeit Chronoskopie eingesetzt hatte«, sagte Potterley mit klarer und irgendwie selbstbewußt klingender Stimme. »Ich konnte natürlich nicht in aller Öffentlichkeit fragen, da das schließlich nicht autorisierte Forschung gewesen wäre.« »Ja«, sagte Foster trocken. Er war überrascht, daß solche Bedenken diesen Mann aufgehalten haben sollten. »Ich habe also die indirekte Methode angewandt – « Und das hatte er auch. Foster staunte über die umfangreiche Korrespondenz, die sich mit – für seine Begriffe unbedeutenden – Einzelheiten der antiken Mittelmeerkultur befaßte, eine Korrespondenz, die immer wieder in der beiläufigen Bemerkung gipfelte: »Da ich natürlich nie Chronoskopie benutzt habe – « oder »Vorbehaltlich der
Genehmigung meiner Bitte um Einsatz des Chronoskops, mit der ich aber zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht rechne – « »Das sind keine blindlings zusammengestellten Fragen«, erklärte Potterley. »Das Institut für Chronoskopie gibt monatlich eine Schrift heraus, in der historische Daten, die durch Chronoskopie bestätigt wurden, abgedruckt werden. Aber nur ein oder zwei Daten. Was mir anfänglich auffiel, war, wie unbedeutend diese Daten doch meist waren, wie belanglos. Warum sollten Forschungen dieser Art gegenüber meiner Arbeit Priorität erhalten? Also schrieb ich an Leute, von denen ich annahm, daß sie sich mit Forschungen befaßten, die von den veröffentlichten Daten tangiert wurden. Aber aus den Unterlagen geht hervor, daß diese Leute ausnahmslos das Chronoskop nicht benutzt haben. Und jetzt wollen wir die Untersuchungen Punkt für Punkt fortsetzen.« Am Ende fragte Foster, dem immer noch der Kopf von den mit Akribie gesammelten Einzelheiten rauchte: »Aber warum?« »Ich weiß nicht, warum«, sagte Potterley, »aber ich habe eine Theorie. Das Chronoskop ist ursprünglich von Sterbinski erfunden worden – Sie sehen, ich weiß das – und das wurde damals in der gesamten fresse mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Dann übernahm die Regierung das Gerät und beschloß, alle weiteren Forschungen in dieser Angelegenheit und den Gebrauch des Apparats zu unterdrücken. Aber das hätte natürlich Neugierde erweckt. Leute hätten sich fragen können, warum das Gerät nicht eingesetzt wurde. Die Neugierde ist ein Laster, Dr. Foster.« Ja, dachte der Physiker. »Überlegen Sie, wie wirkungsvoll es unter diesen Umständen ist«, fuhr Potterley fort, »in der Fachpresse den Anschein zu erwecken, daß das Chronoskop benutzt wird. Dann ist es kein
Geheimnis mehr, sondern eine alltägliche Sache. Der Neugierde wäre damit jegliche Grundlage entzogen.« »Sie waren aber trotzdem neugierig«, wandte Foster ein. Potterley schien etwas beunruhigt. »In meinem Fall war das anders«, sagte er leicht gereizt. »Ich tue etwas, das geschehen muß, und konnte mich einfach mit den lächerlichen Begründungen nicht abfinden, mit denen man meinen Wunsch abgelehnt hat.« Leicht paranoisch, dachte Foster bedrückt. Und doch hatte Potterley etwas gefunden, ob er nun Paranoiker war oder nicht. Foster konnte nicht länger leugnen, daß mit der Neutrinik irgend etwas Eigenartiges vor sich ging. Aber was beabsichtigte Potterley? Das beunruhigte Foster immer noch. Wenn das Ganze nicht dazu dienen sollte, seine, Fosters, Zuverlässigkeit als Wissenschaftler zu überprüfen, was wollte er dann von ihm? Foster versuchte, die Frage logisch zu ergründen. Wenn ein intellektueller Anarchist, der zugleich Paranoiker war, das Chronoskop benutzen wollte und davon überzeugt war, daß die Regierung ihn ganz bewußt daran hinderte, was würde er dann tun? Was würde ich tun, dachte er, was wohl? Und dann sagte er langsam: »Vielleicht gibt es das Chronoskop überhaupt nicht?« Potterley zuckte zusammen. Seine scheinbare Ruhe schien plötzlich einen Knacks bekommen zu haben. Einen Augenblick glaubte Foster einen ganz anderen Menschen vor sich zu sehen. Aber der Historiker behielt sein inneres Gleichgewicht und sagte: »O nein, es muß ein Chronoskop geben.« »Warum? Haben Sie es gesehen? Habe ich es gesehen? Vielleicht ist das die Erklärung für alles. Vielleicht ist es gar nicht so, daß man ein Chronoskop vor uns verbirgt. Vielleicht haben sie gar keins.«
»Aber Sterbinski hat gelebt. Und er hat ein Chronoskop gebaut. Das ist eine Tatsache.« »Das steht in den Büchern«, sagte Foster unbeeindruckt. »Jetzt hören Sie mal zu«, sagte Potterley und griff doch tatsächlich nach Fosters Ärmel. »Ich brauche das Chronoskop. Ich muß es haben. Sagen Sie nicht, daß es nicht existiert. Was wir tun werden, ist folgendes: Wir werden uns so intensiv mit der Neutrinik befassen, daß wir – « Potterley hielt inne. Foster zog ihm den Ärmel weg. Er brauchte die zweite Hälfte dieses Satzes nicht zu hören. Er kannte sie selbst. So sagte er: » – selbst eines bauen können?« Potterley machte ein saures Gesicht, so als hätte er den Satz lieber nicht ausgesprochen gehört. Dennoch sagte er: »Warum nicht?« »Weil das nicht in Frage kommt«, sagte Foster. »Wenn das, was ich gelesen habe, stimmt, dann hat Sterbinski zwanzig Jahre gebraucht, um seine Maschine zu bauen, und einige Millionen an Steuergeldern verbraucht. Glauben Sie, daß Sie und ich das auf illegalem Wege wiederholen können? Selbst angenommen, wir hätten die Zeit – die wir nicht haben – und angenommen, daß ich genug aus den Büchern lernen könnte – was ich bezweifle –, woher würden wir dann das Geld und die Geräte bekommen? Um Himmels willen, das Chronoskop ist so groß, daß man ein fünfstöckiges Gebäude dafür braucht.« »Dann werden Sie mir also nicht helfen?« »Nun, ich will Ihnen etwas sagen. Ich wüßte einen Weg, wie ich etwas erfahren könnte – « »Wie denn?« fragte Potterley sofort. »Das ist jetzt nicht wichtig. Aber ich habe jedenfalls Mittel und Wege, um eindeutig in Erfahrung zu bringen, ob die Regierung bewußt die chronoskopische Forschung unterdrückt. Damit werde ich entweder die Beweise, die Sie bereits
besitzen, bestätigen, oder Ihnen vor Augen halten können, daß Ihr Material irreführend ist. Ich weiß nicht, ob Ihnen damit gedient wäre, aber das könnte ich jedenfalls. Mehr nicht.«
Potterley blickte dem jungen Mann nach, als er sein Haus verließ. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum war er so unvorsichtig gewesen, warum hatte er zugelassen, daß dieser junge Mann zu dem Schluß gekommen war, er dächte daran, ein eigenes Chronoskop zu bauen? Das war voreilig gewesen. Aber warum mußte der junge Narr auch annehmen, daß es überhaupt kein Chronoskop gab? Es mußte existieren. Es mußte einfach. Was hatte es für einen Sinn zu behaupten, daß es kein Chronoskop gab? Und warum sollte man nicht noch eins bauen können? Die Wissenschaft hatte in den fünfzig Jahren seit Sterbinskis Tod Fortschritte gemacht. Nur wissen mußte man, wie es gemacht wurde. Sollte dieser junge Mann doch Wissen sammeln. Sollte er doch glauben, daß seine Aufgabe mit dem Sammeln von Daten endete. Wenn er einmal den Weg der Anarchie betreten hatte, gab es kein Zurück mehr. Wenn in dem jungen Mann nicht von Natur aus etwas steckte, das ihn weitertrieb, so genügten auch diese ersten Schritte, um ihn zum Weitermachen zu zwingen. Potterley kannte sich so gut, daß er wußte, daß er vor Erpressung nicht zurückschrecken würde. Potterley winkte seinem Besucher noch einmal nach und blickte auf. Es fing zu regnen an. Klar! Wenn nötig auch mit Erpressung. Er würde sich nicht aufhalten lassen.
Foster steuerte seinen Wagen durch die düsteren Stadtrandsiedlungen und merkte kaum, daß es regnete. Er war ein Narr, gestand er sich ein, aber er konnte die Dinge nicht so lassen, wie sie waren. Er mußte es wissen. Aber weiter als zu Onkel Ralph würde er nicht gehen. Er schwor sich, daß das das Ende war. Auf diese Weise würde es keine belastenden Beweise geben, keine echten. Onkel Ralph würde diskret sein. In gewisser Weise schämte er sich wegen Onkel Ralph. Er hatte ihn gegenüber Potterley nicht erwähnt, zum Teil aus Vorsicht, zum Teil, weil er die leicht gehobenen Brauen nicht sehen wollte, das unvermeidliche schiefe Lächeln des Professors. Populärwissenschaftliche Schriftsteller waren zwar nützlich, wurden aber von den echten Gelehrten etwas herablassend behandelt. Die Tatsache, daß sie mehr Geld verdienten als echte Forscher, machte das Ganze natürlich nur schlimmer. Dennoch gab es Zeiten, wo es recht bequem war, einen populärwissenschaftlichen Schriftsteller in der Familie zu haben. Eigentlich hatten diese Leute ja keine richtige Ausbildung, brauchten sich deshalb auch nicht zu spezialisieren. Folglich wußte ein guter Populär-Schriftsteller praktisch alles. Und Onkel Ralph war einer der besten.
Ralph Nimmo hatte nicht studiert und war ziemlich stolz darauf. »Ein Doktortitel«, hatte er einmal zu Jonas Foster gesagt, als beide noch wesentlich jünger waren, »ist der erste Schritt auf einer Straße, die in den Ruin führt. Man will sein erstes Diplom nicht umsonst bekommen haben, also arbeitet man eine Zeitlang als Assistent und fängt dann eine Doktorarbeit an. Am Ende steht ein reinrassiger Fachidiot, ein
Spezialist auf seinem kleinen Gebiet, der vom Rest der Welt überhaupt nichts weiß. Wenn man andererseits seinen Geist pflegt, sich bemüht, ihn von allen sinnlosen Informationen freizuhalten, bis man die Reife erreicht hat, ihn nur mit Intelligenz anreichert und ihn im klaren Denken ausbildet, dann hat man ein mächtiges Werkzeug zur Verfügung und kann populärwissenschaftliche Arbeiten schreiben.« Nimmo war fünfundzwanzig Jahre alt gewesen, als er seinen ersten Auftrag erhielt. Er hatte gerade seine Lehre abgeschlossen und war seit weniger als drei Monaten selbständig. Der Auftrag kam in Gestalt eines dicken Manuskripts, bei dessen Lektüre beim Leser auch nicht ein Funke von Verständnis aufkeimen würde, gleichgültig, wie qualifiziert dieser Leser auch sein mochte. Nimmo nahm das Manuskript auseinander und baute es wieder zusammen – nach fünf langen, ermüdenden Gesprächen mit den Autoren, alles Biophysiker. Unter seiner geschickten Hand gewann die Sprache Bedeutung, wurde das Manuskript lesbar und verständlich. »Warum nicht?« sagte er immer wieder tolerant zu seinem Neffen, der es ihm irgendwie verübelte, daß er sich in den Randbezirken der Wissenschaft bewegte. »Der Rahmen ist wichtig. Deine Wissenschaftler können nicht schreiben. Warum sollte man das auch von ihnen erwarten? Man erwartet ja schließlich auch nicht, daß sie Großmeister im Schachspiel oder Violinvirtuosen sind. Warum sollten sie also wissen, wie man Worte zu Sätzen zusammenfügt? Warum sollten sie nicht auch das den Spezialisten überlassen? Großer Gott, Jonas, lies doch die Literatur des letzten Jahrhunderts. Finde dich damit ab, daß die Wissenschaft überholt ist und daß einige Ausdrücke altmodisch klingen. Versuche, diese Texte zu lesen und zu begreifen. Dilettantisch,
dieses Zeug. Arbeiten werden veröffentlicht, Artikel, die entweder unbedeutend sind oder unverständlich geschrieben oder beides.« »Aber du kannst mit deiner Arbeit kein Prestige gewinnen, Onkel Ralph«, protestierte der junge Foster, der gerade anfing, seine Universitätskarriere aufzubauen und diese Karriere noch in einem verklärten Schein sah. »Du könntest als Forscher Großes leisten.« »Ich bekomme Anerkennung genug«, sagte Nimmo. »Ganz bestimmt. Natürlich, ein Biochemiker oder ein StratoMeteorologe wird mich niemals auf der Straße grüßen. Dafür bezahlt man mich aber sehr gut. Paß mal auf, was passiert, wenn irgendein erstklassiger Chemiker feststellt, daß die Kommission ihm den Schreibetat gekürzt hat. Er wird bis aufs Messer darum kämpfen, mich oder einen meiner Kollegen bezahlen zu können, denn das ist für ihn wichtiger als irgendein neues Gerät.« Er grinste breit, und Foster lächelte zurück. In Wirklichkeit war er auf seinen dicklichen Onkel, der sich in seiner Eitelkeit das Haar über die Glatze kämmte und der so gern ausgebeulte Flanellhosen und Tweedjacken trug, weil das sein Markenzeichen war und weil man das von ihm erwartete, ebenso stolz, wie er sich manchmal für ihn schämte. Als jetzt Foster das überfüllte und unordentliche Appartement seines Onkels betrat, war ihm überhaupt nicht nach Grinsen zumute. Er war neun Jahre älter, und Onkel Ralph auch. Neun Jahre lang waren wissenschaftliche Arbeiten aus allen Fakultäten zu Ralph Nimmo gelangt, der sie aufpolieren mußte, und von jeder Arbeit war ein kleines bißchen Wissen in Ralph Nimmos aufnahmebereitem Gedächtnis hängengeblieben.
Nimmo aß gerade kernlose Trauben, stopfte sich eine nach der anderen in den Mund. Er warf Foster eine Traube hin, der sie nicht erwischte und sich dann bücken mußte, um die einzelnen Beeren vom Boden aufzuheben. »Laß nur, mach dir keine Mühe«, sagte Nimmo gleichgültig. »Einmal die Woche kommt jemand und macht hier sauber. Was gibt’s? Hast du Ärger mit deiner Budgeteingabe?« »Ich hab damit noch gar nicht angefangen.« »Was? Dann wird’s aber Zeit, Junge. Du wartest wohl darauf, daß ich dir anbiete, den Antrag zu schreiben?« »Dich könnte ich mir nie leisten, Onkel.« »Ach, Unsinn! Bleibt doch schließlich alles in der Familie. Überlasse mir die Nebenrechte deiner zukünftigen Erfindungen, dann kostet es dich keinen Penny.« Foster nickte. »Wenn das dein Ernst ist, bin ich einverstanden.« »Okay.« Nimmo ging damit natürlich ein Risiko ein, aber Foster kannte seinen Onkel gut genug, um zu wissen, daß er am Ende Nutzen daraus ziehen würde. Irgendeine dramatische Entdeckung, die die Öffentlichkeit interessierte, ob es nun die graue Vorzeit oder eine neue chirurgische Technik oder ein Randgebiet der Astronautik betraf, man konnte damit in den öffentlichen Massenmedien eine Stange Geld verdienen. Nimmo hatte zum Beispiel für die Fachliteratur die Arbeiten von Bryce und seiner Mitarbeiter geschrieben, die sich mit der Feinstruktur von zwei Krebsviren befaßte. Er hatte für seine Schreibarbeit nur den lächerlichen Betrag von 1500 Dollar verlangt, sofern ihm die Nebenrechte für die Auswertung in den Massenmedien zugestanden wurden. Und dann hatte er – exklusiv natürlich – die gleiche Arbeit in dramatisierter Form für den Videokassettenmarkt geschrieben und dafür einen Vorschuß von 20 000 Dollar sowie laufende Lizenzgebühren
bekommen, die noch heute, nach fünf Jahren, eine beträchtliche Summe ausmachten. »Was weißt du über Neutrinik, Onkel?« fragte Foster geradeheraus. »Neutrinik?« Nimmo sah ihn mit seinen Knopfaugen überrascht an. »Arbeitest du jetzt daran? Ich dachte, du hättest dich auf pseudogravitische Optik verlegt.« »Das stimmt schon. Ich frage bloß.« »Wie kann man nur? Das darfst du nicht. Das weißt du doch, oder?« »Du wirst doch nicht gleich die Kommission verständigen, weil ich ein wenig neugierig bin.« »Vielleicht sollte ich das tun, ehe du Ärger kriegst. Die Neugierde ist bei einem Wissenschaftler eine Berufskrankheit. Ich habe das schon oft erlebt. Da arbeitet ein Wissenschaftler ruhig und zufrieden an seinem Problem, und plötzlich bringt ihn die Neugierde auf Abwege. Und am Ende ist er dann mit seinem eigentlichen Problem so wenig vorangekommen, daß er kein Geld mehr bekommt. Ich habe schon oft – « »Ich möchte bloß wissen«, sagte Foster geduldig, »was in letzter Zeit auf dem Gebiet der Neutrinik durch deine Hände gegangen ist.« Nimmo lehnte sich zurück und lutschte nachdenklich an einer Traube. »Nichts, überhaupt nichts. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Arbeit über Neutrinik gelesen zu haben.« »Was!« Foster war ehrlich erstaunt. »Wer bekommt diese Arbeiten dann?« »Jetzt, wo du fragst«, meinte Nimmo, »muß ich gestehen, daß ich es nicht weiß. Ich kann mich nicht erinnern, daß einer beim letzten Kongreß davon gesprochen hätte. Ich glaube nicht, daß in diesem Fach sehr viel getan wird.« »Warum nicht?«
»He, werd nicht gleich wild. Ich jedenfalls tue nichts. Ich möchte annehmen – « Foster war verzweifelt. »Du weißt es also nicht?« »Ich werde dir sagen, was ich über Neutrinik weiß. Sie befaßt sich mit der Anwendung von Neutrinobewegungen und den dabei auftretenden Kräften – « »Sicher, genauso wie es in der Elektronik um die Anwendung von Elektronenbewegungen und den dabei auftretenden Kräften geht und in der Pseudogravitik mit der Anwendung künstlicher Gravitationsfelder. Deshalb bin ich nicht zu dir gekommen. Ist das alles, was du weißt?« »Und«, fügte Nimmo unbeirrt hinzu, »die Neutrinik ist die Basis der Chronoskopie. Und das ist alles, was ich weiß.« Foster lehnte sich in seinem Sessel zurück und strich sich nachdenklich über die Wange. Er war ärgerlich und enttäuscht zugleich. Ohne den Gedanken ganz zu formulieren, war er irgendwie überzeugt gewesen, daß Nimmo irgendwelche letzten Berichte kennen würde, irgendwelche interessanten Aspekte der modernen Neutrinik beisteuern konnte, jedenfalls ihm die Möglichkeit geben würde, zu Potterley zurückzugehen und dem alten Historiker sagen zu können, daß er sich irrte, daß seine Daten irreführend, seine Schlüsse falsch waren. Dann hätte er sich wieder seiner eigentlichen Arbeit zuwenden können. So aber – So aber sagte er sich selbst: in dieser Disziplin wird also nicht viel gearbeitet. Heißt das schon, daß man sie bewußt unterdrückt? Vielleicht ist die Neutrinik sozusagen steril. Ich weiß das nicht. Potterley aber auch nicht. Warum aber die geistige Kapazität der Menschheit an nichts verschwenden? Oder aber die Arbeiten waren aus irgendeinem durchaus legitimen Grund geheim. Vielleicht –
Das dumme war, er mußte es wissen. Er konnte die Dinge nicht einfach laufen lassen. Er konnte es einfach nicht! »Gibt es eine Schrift über Neutrinik, Onkel Ralph?« fragte er. »Ich meine, einen klaren und einfachen Text? Ein Elementarwerk?« Nimmo dachte nach. Er blies dabei seine runden Wangen auf und ließ dann die Luft in einer Serie von Seufzern ab. »Du stellst auch die verdammtesten Fragen. Die einzigen, von denen ich je gehört habe, waren Sterbinski und noch jemand. Ich habe den Bericht nie gesehen, aber einmal bin ich auf einen Hinweis auf diesen Bericht gestoßen. Sterbinski und LaMarr.« »Der Sterbinski, der das Chronoskop erfunden hat?« »Ich glaube schon. Das beweist, daß das Buch gut fundiert sein muß.« »Gibt es eine neuere Ausgabe? Sterbinski ist vor dreißig Jahren gestorben.« Nimmo zuckte die Achseln und sagte nichts. »Kannst du das feststellen?« Sie saßen eine Weile stumm da, dann meinte Nimmo: »Willst du mir sagen, was das alles zu bedeuten hat?« »Das kann ich nicht. Wirst du mir trotzdem helfen, Onkel Ralph? Wirst du mir eine Ausgabe des Buches beschaffen?« »Nun, du hast mich alles beigebracht, was ich über Pseudogravitik weiß. Ich bin dir Dank schuldig. Ich will dir etwas sagen – ich helfe dir unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« Der Ältere war plötzlich sehr ernst. »Daß du vorsichtig bist, Jonas. Gleichgültig, was du auch tust, du befindest dich auf einem ganz gefährlichen Pfad. Setze nicht deine Karriere aufs Spiel, weil du neugierig bist und dich für etwas interessierst, das man dir nicht aufgetragen hat und das dich nichts angeht. Kapiert?«
Foster nickte, obwohl er kaum hingehört hatte. Seine Gedanken kreisten wie wild.
Eine Woche später zwängte sich Ralph Nimmo in Jonas Fosters Zwei-Zimmer-Appartement und sagte im heiseren Flüsterton: »Ich hab was.« »Was?« Foster konnte seine Erregung kaum zügeln. »Eine Filmaufzeichnung von Sterbinskis und LaMarrs Arbeiten.« Er zog die Kassette aus dem weiten Mantel. Foster warf beinahe automatisch einen Blick auf Tür und Fenster, um sicherzugehen, daß sie verschlossen, beziehungsweise daß die Vorhänge vorgezogen waren. Dann streckte er die Hand aus. Die Filmkassette war uralt, und als er sie öffnete, war der Film verblichen und brüchig. »Ist das alles?« fragte er mit scharfer Stimme. »Dankbarkeit mein Junge, Dankbarkeit!« Nimmo setzte sich ächzend und griff in die Tasche, um einen Apfel herauszuholen. »6h, ich bin dir dankbar, aber der Film ist so alt.« »Reines Glück, daß ich ihn überhaupt erwischt habe. Ich wollte mir den Film zuerst von der Kongreßbibliothek überspielen lassen. Geht nicht. Das Buch ist der Allgemeinheit nicht zugänglich.« »Wie hast du dann den Film bekommen?« »Gestohlen.« Er biß knackend in den Apfel. »Öffentliche Bibliothek von New York.« »Was?« »Ganz einfach. Ich stieg über eine Absperrung, als keiner hinsah, holte mir den Film und ging wieder. Die sind dort sehr vertrauensselig. Wahrscheinlich wird es Jahre dauern, bis sie ihn vermissen. Trotzdem rate ich dir gut, dich nicht damit erwischen zu lassen, Neffe.«
Foster starrte den Film an, als wäre er wirklich heiß. Nimmo warf das Kerngehäuse weg und griff nach einem zweiten Apfel. »Komisch übrigens. Das ist die letzte Arbeit, die es über Neutrinik gibt. Keine These, keine Monographie, kein Vortrag, nichts. Nichts seit dem Chronoskop.« »Hm-m«, machte Foster geistesabwesend.
Foster arbeitete an den Abenden im Hause der Potterleys. In seinem eigenen Appartement auf dem Universitätsgelände wäre es zu gefährlich gewesen. Schließlich gewann seine abendliche Arbeit für ihn mehr Bedeutung als seine Bewerbung um die Budgetbewilligung. Manchmal machte er sich darüber noch Gedanken, aber schließlich hörte auch das auf. Seine Arbeit bestand zuerst hauptsächlich darin, den Buchfilm zu studieren. Später bestand sie hauptsächlich aus Nachdenken (während manchmal ganze Abschnitte des Buches durch einen in Vergessenheit geratenen Taschenprojektor liefen). Manchmal kam Potterley herunter, um zuzusehen, um mit gebannten, gierigen Blicken dazusitzen, als rechne er damit, daß die Gedanken seines Gastes Wirklichkeit wurden, vor seinen Augen materialisierten. Im übrigen mischte er sich nicht ein. Er verbot Foster bloß das Rauchen, und manchmal redete er. Nicht daß er Konversation machte, nein, das nicht. Eher konnte man es einen halblauten Monolog nennen, den er mehr für sich selbst als seinen Gast hielt. Es war gerade, als stünde er unter einem inneren Druck. Karthago! Immer Karthago! Karthago, das New York des antiken Mittelmeerraumes. Karthago, Handelsimperium und Königin der Meere.
Karthago, die Stadt, die alles das war, was Syrakus und Alexandria zu sein vorgaben. Karthago, von seinen Feinden verleumdet und nicht fähig, sich mit Wort und Schrift zu verteidigen. Einmal hatte Rom Karthago besiegt und Karthagos Außenposten von Sizilien und Sardinien verdrängt. Aber dann hatte Karthago diese Verluste mehr als wettgemacht, indem es neue Besitzungen in Spanien erwarb und Hannibal heranzog, der den Römern sechzehn Jahre lang in Angst und Schrecken hielt. Am Ende unterlag es zum zweitenmal, schickte sich in sein Schicksal und baute auf einem zusammengeschmolzenen Territorium mit zerbrochenem Gerät ein kärgliches Leben auf, wobei die Leute so erfolgreich waren, daß das eifersüchtige Rom bewußt einen dritten Krieg vom Zaun brach. Und dann baute Karthago mit nichts anderem als den bloßen Händen und mit zäher Ausdauer neue Waffen und zwang Rom zu einem zweijährigen Krieg, der mit der völligen Vernichtung der Stadt endete, wobei die Bewohner sich lieber in ihre flammenden Häuser stürzten, als sich zu ergeben. »Konnte ein Volk so leidenschaftlich für eine Stadt und eine Lebensart kämpfen, wenn eben diese Stadt und eben diese Lebensart so schlecht waren, wie die Schriftsteller von einst es schildern? Hannibal war ein besserer Heerführer als jeder Römer, und seine Soldaten waren ihm treu ergeben. Selbst seine erbittertsten Feinde priesen ihn. Er war Karthager. Man sagt immer, er sei untypisch für sein Volk gewesen, besser als die anderen, eine Perle, die man vor die Schweine geworfen hatte. Aber warum war er dann Karthago treu geblieben, selbst in den Jahren des Exils, bis zu seinem Tode? Man spricht von Moloch – « Foster hörte nicht immer zu, aber manchmal konnte er nicht anders, und dann schauderte er und mußte seine Übelkeit
unterdrücken, wenn er die blutigen Geschichten über die Kinderopfer hörte. Aber Potterley fuhr ernsthaft fort: »Dennoch, es muß so sein. Das ist eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Zeitungsente, die die Griechen und die Römer erfunden haben. Bei ihnen gab es Sklaven, Folterungen, Gladiatorenkämpfe. Sie waren keine Heiligen. Die Moloch-Geschichte wäre in späteren Generationen als Greuelpropaganda bezeichnet worden, als große Lüge. Ich kann beweisen, daß es eine Lüge war. Ich kann es beweisen, und beim Himmel, ich werde es… ich werde es – « Und dieses Versprechen murmelte er immer wieder vor sich hin.
Mrs. Potterley besuchte ihn auch, aber nicht so häufig, meistens dienstags und donnerstags, wenn Dr. Potterley eine Abendvorlesung halten mußte. Sie saß dann immer still da, sagte kaum ein Wort und musterte ihn aus ihrem teigigen, schlaffen Gesicht mit den ausdruckslosen Augen, die immer den Eindruck erweckten, als blickten sie in weite Ferne. Als sie das erste Mal kam, versuchte Foster etwas verlegen, ihr vorzuschlagen, daß sie ihn allein lassen solle. »Störe ich Sie?« fragte sie ausdruckslos. »Nein, natürlich nicht«, log Foster. »Es ist nur, daß – daß – « Er konnte den Satz nicht zu Ende führen. Sie nickte, als faßte sie das als Einladung zum Bleiben auf. Dann öffnete sie einen Beutel, den sie mitgebracht hatte, und nahm ein paar Stücke Vitronstoff heraus, die sie geschickt zusammenwob. Die zwei Tetrafacetten-Depolarisatoren flogen in ihren Händen, als führten sie ein Eigenleben. Es sah aus, als hielte sie eine große Spinne in der Hand.
Eines Abends sagte sie leise: »Meine Tochter Laurel ist genauso alt wie Sie.« Foster zuckte zusammen. Er war in seine Arbeit vertieft gewesen und erschrocken. »Ich wußte nicht, daß Sie eine Tochter haben, Mrs. Potterley.« »Sie ist gestorben. Das ist schon Jahre her.« Unter ihren Händen nahm das Vitron Gestalt an, irgendein Kleidungsstück, das Foster noch nicht erkennen konnte. So blieb ihm nichts anderes übrig als zu murmeln: »Das tut mir leid.« Mrs. Potterley seufzte. »Ich träume oft von ihr.« Ihre blauen, ausdruckslosen Augen sahen ihn an. Foster zuckte zusammen und blickte weg. An einem anderen Abend, sie arbeitete wieder mit dem Vitron, fragte sie ihn: »Was ist Zeitschau eigentlich?« Die Bemerkung riß ihn aus einem komplizierten Gedankengang, und deshalb entgegnete er etwas unfreundlich: »Das kann Ihnen Dr. Potterley erklären.« »Das hat er versucht. O ja. Aber ich glaube, er ist etwas ungeduldig mit mir. Meistens nennt er es Chronoskopie. Sieht man wirklich die Dinge in der Vergangenheit so wie in Tridi? Oder bekommt man bloß kleine Punktmuster zu sehen wie auf dem Computer, den Sie benutzen?« Foster blickte auf seinen Handcomputer. Er funktionierte ganz gut, aber man mußte die einzelnen Programmierschritte von Hand vornehmen und bekam auch nur Antworten in Code. Wenn er natürlich den Schulcomputer benutzen könnte – aber was hatte es für einen Sinn zu träumen. Er benahm sich schon auffällig genug, wenn er jeden Abend den Handcomputer mit nach Hause nahm. »Ich habe das Chronoskop nie selbst gesehen, aber soweit mir bekannt ist, sieht man Bilder und hört Töne.« »Kann man auch Leute reden hören?«
»Ich glaube schon.« Und dann, beinahe verzweifelt: »Schauen Sie, Mrs. Potterley, das ist bestimmt sehr langweilig für Sie. Ich verstehe schon, daß Sie mich als Gast nicht allein lassen wollen, aber, Mrs. Potterley, Sie sollen wirklich nicht glauben – « »Nein, das ist es nicht«, sagte sie. »Ich sitze hier und warte.« »Sie warten? Worauf?« »Nun, ich habe an jenem ersten Abend gelauscht«, meinte sie gefaßt. »Als Sie das erste Mal mit Arnold sprachen. Ich habe an der Tür gelauscht.« »So?« sagte er. »Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen, aber ich habe mir solche Sorgen um Arnold gemacht. Ich hatte das Gefühl, er wollte etwas tun, was er nicht tun sollte, und wollte hören, was es war. Und als ich dann hörte – « Sie hielt inne, beugte sich über ihre Handarbeit und starrte auf das Vitron. »Als Sie was hörten, Mrs. Potterley?« »Daß Sie kein Chronoskop bauen würden.« »Das werde ich auch nicht tun.« »Ich dachte, Sie würden es sich vielleicht anders überlegen.« Foster war jetzt wirklich böse. »Sie kommen also immer herunter und hoffen, daß ich ein Chronoskop baue, warten darauf, daß ich es baue?« »Ja, das hoffe ich, Dr. Foster. Oh, ich hoffe es.« Es war, als wäre gerade ein Schleier von ihrem Gesicht gefallen, denn ihre Gesichtszüge wirkten jetzt klar und scharf und in ihren Wangen war plötzlich Farbe. In ihren Augen war Leben, und ihre Stimme klang beinahe erregt. »Wäre es nicht wundervoll, ein Chronoskop zu haben«, flüsterte sie. »Die Menschen der Vergangenheit könnten wieder leben. Pharaonen und Könige und – einfach Menschen. Ich hoffe, daß Sie eines bauen, Dr. Foster. Ich – hoffe es – «
Ihre Erregung war so groß, daß sie ihre Worte fast erstickte. Der Vitronstoff glitt zu Boden. Sie stand auf und rannte die Kellertreppe hinauf, und Foster blickte ihr erstaunt und zugleich peinlich berührt nach.
Nacht für Nacht mußte Foster daran denken. Er konnte nicht mehr schlafen, so heftig jagten sich die Gedanken. Endlich hatte er seinen Budgetantrag fertiggestellt und gab ihn Ralph Nimmo. Er hatte kaum Hoffnung. Man wird bestimmt ablehnen, dachte er. Und in diesem Fall würde es bestimmt einen Skandal geben, und sein Anstellungsvertrag würde zum Jahresende nicht erneuert werden. Es berührte ihn kaum. Ihn interessierte jetzt nur das Neutrino, das Neutrino, nur das Neutrino. Seine eigenartig verschlungenen Bahnen führten ihn auf Pfade, denen selbst Sterbinski und LaMarr nicht hatten folgen können. Er rief Nimmo an: »Onkel Ralph, ich brauche einige Dinge. Ich rufe von außerhalb an, nicht aus der Universität.« Nimmos Gesicht auf dem Bildschirm war jovial, aber seine Stimme klang scharf. »Was du wirklich brauchst, ist ein Lehrgang in schriftlicher Ausdrucksweise. Ich habe verdammte Mühe, deinen Antrag umzuschreiben. Rufst du deswegen an – « Foster schüttelte ungeduldig den Kopf. »Deshalb rufe ich nicht an. Das hier brauche ich.« Er kritzelte schnell etwas auf ein Stück Papier und hielt es vor die Kamera. »He, was meinst du denn, was ich noch alles kann?« »Du kannst das schon besorgen, Onkel. Das weiß ich ganz genau.« Nimmo las die Liste, wobei sich seine Lippen bewegten, und dann sah er seinen Neffen ernst an.
»Und was geschieht, wenn du diese Dinge zusammenbaust?« fragte er. Foster schüttelte den Kopf. »Du bekommst die exklusiven Veröffentlichungsrechte für die Massenmedien von allem, was daraus entsteht, so wie es immer war. Aber bitte, stell jetzt keine Fragen.« »Ich kann doch keine Wunder wirken. Das weißt du.« »Diesmal mußt du einfach. Du bist populärwissenschaftlicher Schriftsteller, kein Forscher. Du brauchst nicht für alles Rechenschaft abzulegen. Du hast Freunde und Verbindungen. Die können dir doch einmal helfen, damit du ihnen dann bei ihrer nächsten Arbeit hilfst, oder?« »Dein Vertrauen rührt mich, Neffe. Ich werde es versuchen.«
Und Nimmos Versuch gelang. Eines Abends wurden das Material und die Geräte in einem Privatwagen angeliefert. Nimmo und Foster schleppten die Gegenstände ächzend und stöhnend herein. Körperliche Arbeit war ihnen fremd. Potterley stand am Kellereingang, als Nimmo gegangen war. Er fragte mit sanfter Stimme: »Wozu gehört das?« Foster wischte sich das Haar aus der Stirn und massierte sein verstauchtes Handgelenk. »Ich möchte ein paar Experimente durchführen«, erklärte er. »Wirklich?« Die Augen des Historikers funkelten erregt. Foster kam sich ausgebeutet vor. Ihm war, als hätte ihm jemand den Arm auf den Rücken gedreht und schöbe ihn über eine gefährliche Straße, eine Straße, an deren Ende das Verderben lag, und doch ging er entschlossen mit. Und was das schlimmste war, er spürte, daß die Hand, die ihn zwang, seine eigene war. Potterley hatte damit angefangen, Potterley, der jetzt dastand und strahlte; aber der Zwang ging von Foster selbst aus.
»Ich will jetzt allein sein, Potterley«, sagte Foster mürrisch. »Es geht nicht, daß Sie und Ihre Frau dauernd herunterkommen und mich stören.« Und dabei dachte er: Wenn ihm das nicht paßt, dann soll er mich doch hinauswerfen. Soll er doch ein Ende machen. Aber tief in seinem Herzen wußte er, daß auch das nichts daran ändern würde. Dazu kam es nicht. Potterley schien nicht beleidigt. Sein sanfter Blick war unverändert. »Natürlich, Dr. Foster, natürlich«, sagte er. »Ich lasse Sie allein.« Foster sah ihm nach. Er war allein und ging immer noch über jenen gefährlichen Pfad und empfand eine Art perverser Freude dabei. Er gewöhnte sich an, nachts in Potterleys Keller zu schlafen. Er hatte sich eine Pritsche mitgebracht. Auch seine Wochenenden verbrachte er dort. Und in jener Zeit hörte er, daß seine Budgetanforderung – von Nimmo in eindringliche Worte gefaßt – genehmigt worden war. Sein Vorgesetzter brachte ihm die Nachricht und gratulierte ihm. Foster starrte ihn verständnislos an und murmelte: »Gut, das freut mich.« Und das klang so wenig überzeugend, daß der andere die Stirn runzelte und sich wortlos abwandte. Foster dachte nicht weiter darüber nach. Das Ganze war unwichtig, nicht wert, daß man darüber nachdachte. Er plante etwas, das wirklich wichtig war. An diesem Abend würde er den entscheidenden Versuch machen.
Ein Abend, ein zweiter, ein dritter, und dann rief er müde und abgespannt und vor Erregung halb benommen Potterley zu sich. Potterley kam die Treppe herunter und sah die primitiven Geräte an. Dann sagte er mit seiner sanften Stimme: »Die
Stromrechnung ist ziemlich hoch. Es ist nicht wegen des Geldes, aber die Stadt könnte Fragen stellen. Läßt sich da etwas machen?« Es war ein warmer Abend, aber Potterley trug ein Hemd mit engem Kragen und eine Weste. Foster trug nur sein Unterhemd. Er blickte aus blutgeränderten Augen auf und sagte mit zitternder Stimme: »Es dauert nicht mehr lange, Dr. Potterley. Ich habe Sie gerufen, um Ihnen etwas zu sagen. Ein Chronoskop kann gebaut werden. Ein kleines natürlich, aber man kann es bauen.« Potterley griff nach dem Treppengeländer. Beinahe wäre er ‘ zusammengebrochen. Und dann brachte er gerade noch die geflüsterte Frage hervor: »Kann man es hier bauen?« »Hier im Keller«, sagte Foster müde. »Sie sagten damals – « »Ich weiß, was ich damals gesagt habe«, rief Foster ungeduldig. »Ich habe gesagt, daß es nicht ginge. Aber damals habe ich noch nichts gewußt. Selbst Sterbinski hat nichts gewußt.« Potterley schüttelte den Kopf. »Sind Sie auch ganz sicher? Ich meine, Sie irren sich nicht, Dr. Foster? Ich könnte es nicht ertragen, wenn – « »Ich irre mich nicht«, sagte Foster. »Verdammt, wenn es nur auf die Theorie angekommen wäre, dann hätten wir schon vor hundert Jahren ein Chronoskop gehabt, damals, als zum erstenmal die Existenz des Neutrino postuliert wurde. Aber die Leute hielten es damals nur für ein geheimnisvolles Partikel ohne Masse oder Ladung, ein Partikel, das man nicht entdecken konnte. Es war einfach etwas, womit man das Gesetz von Masse und Energie wieder rettete.« Er war nicht sicher, ob Potterley ihn verstand. Es war ihm auch gleichgültig. Er mußte jetzt verschnaufen. Er mußte
irgend jemanden haben, dem er seine Gedanken darlegen konnte, ob dieser sie nun begriff oder nicht. Und er brauchte einen Hintergrund für das, was er Potterley jetzt sagen mußte. Also fuhr er fort: »Sterbinski war es, der zuerst entdeckte, daß das Neutrino die Querschnittsbarriere des Raum-ZeitKontinuums durchbrach, daß es durch die Zeit reiste und deshalb unentdeckt geblieben war. Sterbinski war es, der zuerst eine Methode entwickelte, um Neutrinos aufzuhalten. Er erfand einen Neutrinorekorder und lernte es, den Neutrinostrom zu interpretieren. Dieser Strom war natürlich von der Materie, den er auf seiner Reise durch die Zeit passiert hatte, beeinträchtigt und abgelenkt worden. Und diese Ablenkung konnte analysiert und in Bilder jener Materie umgesetzt werden, die diese Ablenkung verursacht hatten. Es war zum erstenmal möglich, in die Zeit zu schauen. Selbst Luftschwingungen ließen sich auf diesem Wege entdecken und in Geräusche umsetzen.« Potterley hörte nicht zu. Er sagte: »Ja. Ja. Aber wann können Sie ein Chronoskop bauen?« Foster ließ sich nicht ablenken. »Lassen Sie mich fortfahren. Alles hängt von der Methode ab, die man anwendet, den Neutrinostrom zu entdecken und zu analysieren. Sterbinskis Methode war umständlich und voll Fehlerquellen. Sie erforderte ungeheure Energiemengen. Aber ich habe Pseudogravitik studiert, Dr. Potterley, die Lehre von den künstlichen Gravitationsfeldern. Ich habe mich auf das Verhalten des Lichts in solchen Fällen spezialisiert. Es ist eine neue Wissenschaft. Sterbinski kannte sie nicht. Hätte er sie gekannt, so hätte er – wie jeder andere – eine viel bessere und viel effizientere Methode, nämlich den Einsatz eines pseudogravitischen Feldes erkannt. Hätte ich von Anfang an mehr über Neutrinik gewußt, so hätte ich das ebenfalls sofort erkannt.«
Potterleys Gesicht hellte sich auf. »Ich habe es gewußt«, sagte er. »Sie können die Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Neutrinik stoppen, aber es gibt keine Möglichkeit für die Regierung, sicherzustellen, daß nicht Entdeckungen auf anderen Teilgebieten der Wissenschaft zu neuen Erkenntnissen in der Neutrinik führt. Nur soviel über den Wert zentraler Zielsetzungen für die reine Wissenschaft. Das habe ich mir schon lange gedacht, Dr. Foster, schon lange, ehe Sie hier zu arbeiten anfingen.« »Dazu gratuliere ich Ihnen«, sagte Foster, »aber da ist noch etwas – « »Ach, das ist nicht wichtig. Bitte, sagen Sie mir eines: wann können Sie ein Chronoskop bauen?« »Ich versuche ja, Ihnen etwas zu erklären, Dr. Potterley. Ein Chronoskop wird Ihnen nichts nützen.« Langsam kam Potterley die letzten Stufen der Treppe herunter. Dann sah er Foster an. »Was soll das heißen? Warum hilft mir das nichts?« »Sie werden Karthago nicht sehen können. Das ist es, was ich Ihnen sagen muß. Darauf wollte ich Sie vorbereiten. Sie werden Karthago niemals sehen können.« Potterley schüttelte leicht den Kopf. »O nein, Sie irren. Wenn Sie das Chronoskop haben, es richtig fokussieren – « »Nein, Dr. Potterley. Das ist keine Frage der Fokussierung. Es gibt da Statikfaktoren, die den Neutrinostrom beeinflussen, ebenso wie sie alle anderen subatomaren Partikel beeinflussen. Das, was wir den Unsicherheitsfaktor nennen. Wenn der Strom aufgezeichnet und interpretiert wird, zeigt sich dieser Faktor als Rauschen, wie die Kommunikationsfachleute das nennen. Je weiter man in die Vergangenheit vordringt, desto ausgeprägter wird diese statische Störung, und nach einer Weile unterdrückt sie jegliches Bild. Verstehen Sie?« »Mehr Energie«, sagte Potterley mit tonloser Stimme.
»Hilft nichts. Wenn das Rauschen die Details überdeckt, wird bei einer Verstärkung auch das Rauschen verstärkt. Sie sehen ja auf einem von der Sonne verbrannten Film auch nicht mehr, wenn Sie ihn vergrößern, oder? Sie müssen sich damit abfinden. Die physikalische Natur des Universums setzt Grenzen. Die Wärmebewegungen der Luftmoleküle setzt Grenzen, die bestimmen, wie schwach ein Geräusch sein darf, um noch von einem Instrument aufgenommen zu werden. Die Länge einer Lichtwelle oder einer Elektronenwelle setzt Grenzen für die Größe von Gegenständen, die man mit irgendeinem Instrument sehen kann. Und das gilt für die Chronoskopie auch. Sie können nur eine bestimmte Zeitspanne weit in die Vergangenheit vordringen.« »Wie weit? Wie weit?« Foster atmete tief. »Eineinviertel Jahrhunderte. Das ist die Grenze.« »Aber in dem monatlichen Bulletin, das die Kommission herausgibt, liest man doch fast nur über die Geschichte der Antike.« Der Historiker lachte, aber sein Lachen klang unsicher. »Sie müssen sich irren. Die Regierung hat Daten, die bis ins Jahr Dreitausend vor Christi zurückreichen.« »Seit wann glauben Sie denen denn?« fragte Foster. »Sie haben doch diese ganze Geschichte aufgerührt, indem Sie bewiesen, daß die Regierung lügt; daß kein Historiker je das Chronoskop benutzt hat. Sehen Sie jetzt den Grund? Die Historiker hatten nicht die Möglichkeit dazu – höchstens solche, die sich mit Gegenwartsgeschichte befassen. Kein Chronoskop kann weiter in die Vergangenheit zurückblicken als, sagen wir, ins Jahr 1960.« »Sie irren. Sie wissen nicht alles«, sagte Potterley. »Aber man kann die Wahrheit auch nicht so biegen, daß sie Ihnen in den Kram paßt. Finden Sie sich damit ab. Die Regierung begeht hier einen Betrug.«
»Warum?« »Das weiß ich nicht.« Potterleys Nase zuckte. Seine Augen traten hervor. Dann bettelte er: »Das ist doch nur eine Theorie, Dr. Foster. Bauen Sie ein Chronoskop. Bauen Sie eins und versuchen Sie es.« Foster packte Potterley plötzlich an den Schultern. Ein harter, fester Griff. »Glauben Sie, daß ich das nicht schon getan habe? Glauben Sie denn, daß ich Ihnen das sagen würde, ehe ich es nach allen mir zugänglichen Methoden untersucht habe? Ich habe eins gebaut. Es ist hier, rings um Sie. Sehen Sie doch!« Er rannte zu den Schaltern an den Energiezuleitungen. Einen nach dem anderen legte er sie um. Dann drehte er an einem Widerstand, stellte ein paar Knöpfe ein, schaltete die Kellerbeleuchtung aus. »Warten Sie. Warten Sie, bis es warm ist.« An einer Wand war ein schwaches Glühen zu sehen. Potterley stieß unzusammenhängende Laute hervor, aber Foster rief noch einmal: »Schauen Sie doch!« Das Licht wurde intensiver, bildete ein Muster aus hellen und dunklen Stellen. Männer und Frauen! Undeutlich, verschwommene Züge. Arme und Beine, die bloß Striche waren. Ein altmodisches Auto, undeutlich und doch als eines der alten benzinbetriebenen Fahrzeuge erkennbar, raste vorbei. »Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, irgendwo«, sagte Foster. »Töne kann ich noch nicht übertragen, das Bild ist also stumm. Später wird uns das auch gelingen. Aber Sie kommen höchstens bis in die Mitte der zwanziger Jahre. Glauben Sie mir, besser kann man nicht fokussieren.« »Dann bauen Sie eben ein größeres Gerät, ein stärkeres. Verbessern Sie Ihre Stromkreise«, sagte Potterley. »Aber gegen den Unsicherheitsfaktor kommen Sie nicht an, Mann, ebensowenig wie Sie nicht auf der Sonne leben können. Es gibt physikalische Grenzen für das, was man tun kann.«
»Sie lügen. Ich glaube Ihnen nicht. Ich – « Eine neue Stimme ertönte, schrill erhoben, um sich Gehör zu verschaffen. »Arnold! Dr. Foster!« Der junge Physiker drehte sich herum. Dr. Potterley erstarrte einen Augenblick und sagte dann, ohne sich umzuwenden: »Was ist denn, Caroline? Laß uns allein.« »Nein!« Mrs. Potterley kam die Treppe herunter. »Ich habe zugehört. Ich mußte zuhören. Haben Sie einen Zeitseher hier, Dr. Foster? Hier im Keller?« »Ja, Mrs. Potterley. Eine Art Zeitseher. Keinen besonders guten. Ich kann noch keine Töne empfangen, und das Bild ist ziemlich verschwommen, aber das Gerät funktioniert.« Mrs. Potterley verschränkte die Finger und preßte die Hände gegen die Brust. »Wie wunderbar. Wie wunderbar.« »Es ist überhaupt nicht wunderbar«, herrschte Potterley sie an. »Dieser junge Narr kann nicht weiter zurück als – « »Jetzt hören Sie mal«, begann Foster erregt. »Bitte!« rief Mrs. Potterley. »Hör mir zu, Arnold. Begreifst du denn nicht, daß wir Laurel wieder sehen können, auch wenn wir nur zwanzig Jahre in die Vergangenheit schauen können? Was interessiert uns denn Karthago und die Antike. Wir können Laurel sehen. Sie wird wieder für uns leben. Lassen Sie die Maschine hier, Dr. Foster. Zeigen Sie uns, wie man damit umgeht.« Foster starrte zuerst sie, dann ihren Mann an. Dr. Potterleys Gesicht war weiß geworden. Obwohl seine Stimme gleichmäßig blieb, wirkte sie jetzt plötzlich nicht mehr ruhig. Er sagte: »Du bist verrückt!« Caroline sagte mit schwacher Stimme: »Arnold!« »Du bist verrückt, habe ich gesagt. Was willst du denn sehen? Die Vergangenen. Die tote Vergangenheit. Wird Laurel irgend etwas tun, was sie nicht schon getan hat? Wirst du
irgend etwas sehen, was du bisher nicht gesehen hast? Wirst du wieder und wieder drei Jahre durchleben wollen und ein Kind beobachten, das nie heranwachsen wird, ganz gleichgültig, wie lange du zusiehst?« Seine Stimme war nahe daran, zu brechen. Er trat näher an sie heran, packte ihre Schultern und schüttelte sie unsanft. »Weißt du, was mit dir passieren wird, wenn du das tust? Sie werden kommen und dich wegschaffen, weil du verrückt werden wirst. Ja, verrückt! Willst du, daß man dich behandelt? Willst du, daß man dich einschließt, daß man die Psychokrobe benutzt?« Mrs. Potterley riß sich los. An ihr war jetzt nichts Weiches mehr. »Ich will mein Kind sehen, Arnold«, herrschte sie ihn an. »Laurel ist in dieser Maschine, und ich will sie haben.« »Sie ist nicht in der Maschine. Ein Bild. Begreifst du das nicht? Ein Bild! Etwas, das nicht wirklich ist!« »Ich will mein Kind. Hast du gehört?« Sie stürzte sich auf ihn, schrie, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. »Ich will mein Kind!« Der Historiker wich vor dem wütenden Angriff zurück, und Foster wollte gerade zwischen die beiden treten, als Mrs. Potterley wild schluchzend zu Boden stürzte. Potterley drehte sich herum, seine Augen suchten verzweifelt etwas. Und dann riß er plötzlich einen Landostab aus seiner Halterung und wirbelte damit herum, ehe Foster, den die Geschehnisse gleichsam betäubt hatten, ihn daran hindern konnte. »Zurück!« keuchte Potterley, »zurück, oder ich bringe Sie um. Das schwöre ich.« Er schwang den Stab, und Foster sprang zurück. Potterley schlug wütend auf das Gerät im Keller ein und Foster sah ihm, nachdem er das erste Klirren gehört hatte, wie benommen zu.
Potterley tobte seine Wut aus, und dann stand er ruhig zwischen den Scherben und Bruchstücken, den zerbrochenen Landostab in der Hand. Flüsternd sagte er zu Foster: »Und jetzt verschwinden Sie! Kommen Sie nie zurück. Wenn Sie das irgend etwas gekostet hat, schicken Sie mir eine Rechnung, und ich werde sie bezahlen. Das Doppelte des Betrages werde ich bezahlen.« Foster zuckte die Achseln, nahm sein Hemd und ging die Kellertreppe hinauf. Er konnte Mrs. Potterley laut schluchzen hören, und als er im Erdgeschoß ankam und stehenblieb und sich noch einmal blickte, sah er, wie Dr. Potterley sich über sie beugte, das Gesicht von Sorge verzerrt.
Zwei Tage später, als der Tag zu Ende ging und Foster sich müde in seinem Büro umsah, tauchte Dr. Potterley noch einmal auf. Er stand in der offenen Tür zu Fosters Büro. Der Historiker war so makellos gekleidet wie immer. Er hob die Hand in einer Geste, die zu vage war, um ein Gruß zu sein, und zu ruckartig, um wie eine Bitte zu wirken. Foster starrte ihn an. »Ich habe bis fünf gewartet«, sagte Potterley, »bis Sie – darf ich hereinkommen?« Foster nickte. »Wahrscheinlich sollte ich mich wegen meines Verhaltens entschuldigen«, sagte Potterley. »Ich war schrecklich enttäuscht, nicht mehr Herr meiner selbst. Dennoch, es war unverzeihlich.« »Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, sagte Foster. »Ist das alles?« »Meine Frau hat Sie wahrscheinlich angerufen.« »Ja, das hat sie.«
»Sie war ganz hysterisch. Sie hat mir gesagt, daß sie angerufen habe, aber ich war nicht sicher – « »Sie hat angerufen.« »Könnten Sie mir sagen… wären Sie so freundlich und würden mir sagen, was sie wollte?« »Sie wollte ein Chronoskop. Sie sagte, sie hätte etwas eigenes Geld und sei bereit, dafür zu bezahlen.« »Haben Sie… haben Sie zugesagt?« »Ich habe ihr gesagt, daß ich kein Fabrikant wäre.« »Gut«, hauchte Potterley, und seine Brust hob sich bei einem Seufzer der Erleichterung. »Bitte, nehmen Sie keine Anrufe von ihr mehr entgegen. Sie ist nicht ganz – « »Hören Sie, Dr. Potterley«, sagte Foster, »ich will mich nicht in Ihren Familienstreit einmischen, aber Sie sollten auf etwas vorbereitet sein. Jeder kann ein Chronoskop bauen. Man braucht dazu nur ein paar einfache Teile, die man in jedem Laden kaufen kann, und kann das Gerät dann in einer Bastelwerkstätte zusammenbauen. Den Videoteil wenigstens.« »Aber außer Ihnen wird doch niemand daran denken, oder? Bis jetzt hat ja auch keiner daran gedacht.« »Ich beabsichtige nicht, das geheim zu halten.« »Aber Sie können doch nichts veröffentlichen. Es ist das Produkt einer illegalen Forschung.« »Das ist jetzt nicht mehr wichtig, Dr. Potterley. Wenn ich meine Bewilligung verliere, verliere ich sie eben. Wenn die Universität unzufrieden ist, werde ich gehen. Das ist nicht wichtig.« »Aber das können Sie doch nicht tun!« »Bis jetzt hat es Sie ja auch nicht interessiert, ob ich mein Budget und meine Position verliere«, sagte Foster. »Warum sind Sie denn jetzt plötzlich so zartfühlend? Ich will Ihnen etwas erklären. Als Sie das erste Mal zu mir kamen, glaubte ich an organisierte und gezielte Forschung. Ich hielt Sie für
einen intellektuellen Anarchisten, Dr. Potterley, und für einen gefährlichen Mann obendrein. Aber aus irgendeinem Grund bin ich jetzt selbst seit einigen Monaten zum Anarchisten geworden und habe Großes geleistet. Ich habe das nicht erreicht, weil ich etwa ein brillanter Wissenschaftler wäre. Nein. Es ist nur so, daß die wissenschaftliche Forschung von oben her gelenkt wurde und daß dabei Löcher offen blieben, die jeder, der in die richtige Richtung sah, sehen konnte. Und das hätte jeder tun können, wenn die Regierung nicht aktiv versucht hätte, das zu verhindern. Jetzt hören Sie gut zu und versuchen Sie zu verstehen. Ich glaube immer noch daran, daß gezielte Forschung nützlich sein kann. Ich bin nicht dafür, zu völliger Anarchie zurückzukehren. Aber es muß einen Mittelweg geben. Auch gezielte Forschung kann flexibel bleiben. Ein Wissenschaftler muß das Recht behalten, seiner Neugierde zu folgen, zumindest in seiner Freizeit.« Potterley setzte sich. »Das wollen wir diskutieren, Foster. Ich verstehe Ihren Idealismus. Sie sind jung. Sie wollen die Sterne. Aber Sie dürfen nicht Ihre Karriere zerstören, indem Sie sich irgendwelche Phantastereien über den Sinn der Forschung in den Kopf setzen. Ich habe Sie da hineingetrieben. Ich trage die Verantwortung und mache mir bittere Vorwürfe. Ich habe emotionell gehandelt. Mein Interesse für Karthago hat mich geblendet, und ich war ein Narr.« Foster unterbrach ihn. »Sie wollen sagen, daß Sie sich in zwei Tagen völlig gewandelt haben? Karthago ist nichts mehr wert? Die Unterdrückung der Forschung durch die Regierung bedeutet nichts mehr?« »Selbst ein Narr wie ich kann etwas lernen, Foster. Meine Frau hat mich etwas gelehrt. Ich begreife jetzt, aus welchen Gründen die Regierung die Neutrinik unterdrückt. Vor zwei Tagen habe ich das nicht begriffen. Und indem ich begreife,
billige ich auch. Sie sahen ja, wie meine Frau auf das Chronoskop im Keller reagierte. Ich hatte mir ein Chronoskop vorgestellt, das man für Forschungszwecke benutzt. Meine Frau konnte nur das persönliche Vergnügen sehen, das darin bestand, in eine private Vergangenheit zurückzublicken, eine Vergangenheit, die tot ist. Der echte Wissenschaftler, Foster, ist in der Minderzahl. Leute wie meine Frau würden das Übergewicht bekommen. Wenn die Regierung die Chronoskopie förderte, so hätte das bedeutet, daß die Vergangenheit eines jeden offenkundig würde. Die Beamten der Regierung würden erpreßt werden; denn wer auf dieser Welt hat eine absolut saubere Vergangenheit? Das könnte dazu führen, daß jegliche Regierung unmöglich würde.« Foster fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mag sein. Vielleicht hat die Regierung zu ihrem eigenen Interesse recht. Dennoch geht es hier um ein wichtiges Prinzip. Wer weiß, was für andere wissenschaftliche Fortschritte unterdrückt werden, weil man die Wissenschaftler dazu zwingt, auf einem schmalen, vorgeschriebenen Weg zu gehen? Wenn das Chronoskop zum Schrecken einiger weniger Politiker wird, so ist das ein Preis, der bezahlt werden muß. Die Öffentlichkeit soll erkennen, daß Wissenschaft und Forschung frei sein müssen. Und die beste Möglichkeit, sie zu dieser Erkenntnis zu bringen, besteht darin, meine Entdeckung zu veröffentlichen, so oder so, legal oder illegal.« Auf Potterleys Stirn standen Schweißtropfen, aber seine Stimme blieb gleichmäßig. »Oh, es geht nicht nur um ein paar Politiker, Dr. Foster. Glauben Sie das bloß nicht. Es wäre auch für mich schrecklich. Meine Frau würde ihre Zeit mit unserer toten Tochter verbringen. Sie würde jegliche Verbindung zur Realität verlieren. Sie würde wahnsinnig werden und die gleichen Szenen immer wieder erleben. Und nicht nur ein
Schrecken für mich. Es würde andere geben wie sie. Kinder, die ihre toten Eltern oder ihre eigene Jugend suchen. Die ganze Welt würde in der Vergangenheit leben. Die Welt würde ein Tollhaus werden.« Foster schüttelte den Kopf. »In der ganzen Geschichte hat es noch keinen einzigen Fortschritt und noch keine einzige Erfindung gegeben, deren Sinn und Zweck die Menschheit in ihrer Genialität nicht pervertiert hätte. Die Menschheit muß auch die Genialität haben, solche Folgen zu vermeiden. Was das Chronoskop angeht, so werden die Leute, die die tote Vergangenheit erforschen wollen, bald genug dessen müde werden. Sie werden ihre geliebten Eltern so lange betrachten, bis sie sehen, daß die auch keine Engel waren, und langsam ihre Begeisterung verlieren. All das ist unbedeutend. Für mich geht es hier um ein wichtiges Prinzip.« »Ihr Prinzip soll der Teufel holen!« sagte Potterley. »Können Sie denn nicht begreifen, daß Menschen genauso wichtig sind wie ein Prinzip? Begreifen Sie denn nicht, daß meine Frau das Feuer durchleben wird, das unser Kind getötet hat? Sie wird sich nicht selbst helfen können. Ich kenne sie. Sie wird jede Sekunde miterleben und versuchen, es zu verhindern. Immer wieder wird sie es erleben. Und jedesmal hoffen, daß es nicht passiert. Wie oft wollen Sie denn Laurel töten?« Seine Stimme klang jetzt rauh. Foster kam plötzlich ein Gedanke. »Wovor haben Sie Angst, Dr. Potterley? Was befürchten Sie denn, daß sie finden wird? Was ist denn in der Nacht des Brandes geschehen?« Die Hände des Historikers fuhren plötzlich hoch und bedeckten sein Gesicht. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihn. Foster wandte sich ab und blickte starr aus dem Fenster. Nach einer Weile sagte Potterley: »Es ist lange her, daß ich das letzte Mal daran denken mußte. Caroline war weg. Ich paßte auf das Kind auf. Ich ging am Abend ins Kinderzimmer,
um nachzusehen, ob sie das Bettuch weggestrampelt hatte. Ich hatte meine Zigarette dabei. Damals rauchte ich. Ich muß sie ausgedrückt haben, ehe ich sie in den Aschenbecher auf der Kommode legte. Ich war immer vorsichtig. Mit dem Kind war alles in Ordnung. Ich ging ins Wohnzimmer zurück und schlief vor dem Fernseher ein. Als ich erwachte, war ich von Flammen umgeben. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat.« »Aber Sie glauben, es könnte die Zigarette gewesen sein, nicht wahr?« sagte Foster. »Eine Zigarette, die Sie ausnahmsweise vergessen hatten auszudrücken?« »Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, sie zu retten, aber als ich aus dem Haus herauskam, hielt ich das Kind tot in den Armen.« »Ich nehme an, Sie haben das mit der Zigarette Ihrer Frau nie gesagt.« Potterley schüttelte den Kopf. »Aber ich habe damit gelebt.« »Aber jetzt, mit dem Chronoskop, wird sie es erfahren. Vielleicht war es gar nicht die Zigarette. Vielleicht haben Sie sie ausgedrückt. Ist das nicht möglich?« Die Tränen auf Potterleys Gesicht waren getrocknet. Aber es war immer noch rot. »Das Risiko kann ich nicht eingehen«, sagte er. »Aber es geht nicht nur um mich, Foster. Die Vergangenheit hat für die meisten Menschen ihre Schrecken. Lassen Sie diese Schrecken nicht auf die Menschheit los.« Foster ging in seinem Büro auf und ab. Irgendwie erklärte dies die Gründe für Potterleys irrationalen Wunsch, die Karthager reinzuwaschen, sie zu vergöttern und die Geschichte von ihren Opfern an den Götzen Moloch zu widerlegen. Indem er sie von der Schuld des Kindesmordes durch Feuer freisprach, befreite er sich symbolisch von der gleichen Schuld.
Das gleiche Feuer, das Potterley dazu getrieben hatte, den Bau eines Chronoskops zu veranlassen, trieb ihn jetzt zu seiner Zerstörung. Foster sah den anderen betrübt an. »Ich begreife Ihre Lage, Dr. Potterley. Aber das geht über persönliche Gefühle hinaus. Ich muß diesen Würgegriff, der die ganze Wissenschaft gefangenhält, abschütteln.« »Sie meinen, Sie wollen den Ruhm und den Reichtum, der sich mit einer solchen Entdeckung einstellt«, sagte Potterley heftig. »Ob Reichtum damit verbunden ist, weiß ich nicht. Das wahrscheinlich auch. Ich bin nur ein Mensch.« »Sie sind also nicht bereit, Ihr Wissen zu unterdrücken?« »Nein, unter keinen Umständen.« »Nun, dann – « Der Historiker stand auf und blickte ihn einen Augenblick mit funkelnden Augen an. Einen kurzen Moment hatte Foster Angst. Der Mann war älter als er, kleiner, schwächer und allem Anschein nach nicht bewaffnet. Dennoch – »Wenn Sie daran denken, mich umzubringen oder sonst irgend etwas Verrücktes zu tun«, sagte Foster, »so bedenken Sie, daß ich die Information in einem Schließfach verwahrt habe, und falls ich plötzlich verschwinde oder sterbe, werden die richtigen Leute das Schließfach öffnen.« »Seien Sie nicht kindisch«, sagte Potterley und ging hinaus. Foster schloß die Tür, sperrte sie ab und setzte sich hin, um nachzudenken. Er kam sich albern vor. Selbstverständlich hatte er nichts in einem Schließfach verwahrt. Unter normalen Umständen wäre er nie auf etwas so Melodramatisches gekommen. Aber jetzt war der Gedanke da. Und dann verbrachte er eine Stunde damit, seine Formeln und Gleichungen zu Papier zu bringen, die Anwendung der pseudogravitischen Optik für neutrinische Aufzeichnungen.
Am Ende zeichnete er noch einige Diagramme für die praktische Anwendung. Dann faltete er die Blätter zusammen, steckte sie in einen Umschlag, klebte ihn zu und schrieb Ralph Nimmos Namen darauf. Er verbrachte eine schlaflose Nacht und lieferte am nächsten Morgen auf dem Weg zur Universität den Umschlag auf der Bank ab, wo er einem Angestellten die entsprechenden Anweisungen gab. Er mußte ein Dokument unterzeichnen, das der Bank die Erlaubnis gab, das Schließfach nach seinem Tode zu öffnen. Anschließend rief er Nimmo an und erzählte ihm von der Existenz des Umschlages, weigerte sich aber entschieden, etwas über seinen Inhalt zu sagen. Er war sich noch nie so kindisch vorgekommen wie in diesem Augenblick.
Diese Nacht und die nächste verbrachte Foster in unruhigem Schlaf. Das Problem der Veröffentlichung der auf so unethische Weise erhaltenen Kenntnisse ließ ihn nicht los. Die Fachzeitschrift für Pseudogravitik würde mit Sicherheit keine Arbeit annehmen, die nicht die magische Fußnote enthielt: »Die dieser Veröffentlichung zugrunde liegende Arbeit wurde durch Zuweisung Nummer… der Forschungskommission der Vereinten Nationen ermöglicht.« Und die Physikalische Rundschau würde es genauso halten. Es gab natürlich Fachzeitschriften, die um der Sensation willen keine Fragen stellten. Aber das erforderte gewisse finanzielle Verhandlungen, auf die sich einzulassen er zögerte. Insgesamt betrachtet war es vielleicht besser, selbst für die Veröffentlichungskosten aufzukommen und eine kleine Druckschrift zur Verteilung an Wissenschaftler zu veröffentlichen. In diesem Falle würde er sogar auf die Dienste
eines professionellen Schriftstellers verzichten, sozusagen die Eleganz des Ausdrucks der schnellen Publikation opfern. Er mußte nur einen vertrauenswürdigen Drucker finden. Vielleicht kannte Onkel Ralph einen. Er ging in sein Büro und überlegte besorgt, ob er vielleicht sofort handeln, sich selbst keine Gelegenheit mehr geben sollte, wieder unschlüssig zu werden, und ob er Onkel Ralph gleich über seinen Dienstapparat anrufen sollte, auch wenn das riskant war. Er war so in seine Gedanken versunken, daß er gar nicht bemerkte, daß jemand in seinem Büro war, bis er sich umdrehte und auf seinen Schreibtisch zuging. Dr. Potterley war da und ein Mann, den er nicht kannte. Foster starrte sie an. »Was soll das?« »Es tut mir leid«, sagte Potterley, »aber ich mußte Sie daran hindern, Unheil anzurichten.« Foster starrte ihn immer noch verständnislos an. »Wovon reden Sie?« Der Fremde sagte: »Darf ich mich vorstellen?« Er hatte große Zähne, etwas unregelmäßig, und wenn er lächelte, sah man das ganz deutlich. »Ich bin Thaddeus Araman, Leiter der Chronoskopieabteilung. Ich bin hier, um mit Ihnen über eine Information zu sprechen, die mir Professor Arnold Potterley brachte und die von unseren eigenen Gewährsleuten bestätigt wurde – « »Ich habe die ganze Schuld auf mich genommen«, sagte Potterley atemlos. »Ich habe erklärt, daß ich Sie gegen Ihren Willen dazu überredet habe, diese unethische Tat zu begehen. Ich habe mich erboten, die Verantwortung und die Strafe auf mich zu nehmen. Ich möchte nicht, daß Sie Schaden erleiden. Es ist nur so, daß man der Chronoskopie ein Ende machen muß.«
Araman nickte. »Er hat tatsächlich die Schuld auf sich genommen, Dr. Foster, so wie er sagt, aber die Sache ist jetzt aus seinen Händen genommen.« »So?« sagte Foster. »Was werden Sie tun? Dafür sorgen, daß ich keine Forschungszuschüsse bekomme?« »Das liegt in meiner Macht«, sagte Araman. »Der Universität befehlen, mich zu entlassen?« »Auch das liegt in meiner Macht.« »Na schön, dann tun Sie’s doch. Betrachten Sie es als geschehen. Ich werde mein Büro verlassen, mit Ihnen. Meine Bücher kann ich später abholen lassen. Und wenn Sie darauf bestehen, lasse ich sie auch da. Ist das alles?« »Nicht ganz«, sagte Araman. »Sie müssen sich verpflichten, keine weiteren Forschungen auf dem Gebiet der Chronoskopie zu unternehmen, keine Ihrer Erkenntnisse in der Chronoskopie zu veröffentlichen und – das ist selbstverständlich – kein Chronoskop zu bauen. Sie werden dauernd überwacht werden, damit sichergestellt wird, daß Sie dieses Versprechen halten.« »Und wenn ich es ablehne, etwas zu versprechen? Was können Sie tun? Es mag unethisch sein, außerhalb meiner eigenen Fachrichtung Forschungen zu betreiben, aber es ist kein kriminelles Vergehen.« »Im Falle der Chronoskopie, mein junger Freund«, sagte Araman geduldig, »ist es ein kriminelles Vergehen. Wenn nötig wird man Sie ins Gefängnis stecken und dort festhalten.« »Warum?« schrie Foster ihn an. »Was ist denn so Besonderes an der Chronoskopie?« »Es ist eben so«, sagte Araman. »Wir können nicht zulassen, daß auf diesem Gebiet weitere Entwicklungen ermöglicht werden. Meine eigene Aufgabe besteht vorwiegend darin, dafür Sorge zu tragen, daß auf diesem Gebiet nichts geschieht, und ich beabsichtige, diesen Auftrag zu erfüllen. Leider war weder mir noch einem meiner Mitarbeiter bekannt, daß die
pseudogravitische Optik solche unmittelbare Beziehung zur Chronoskopie hatte. Das liegt wohl in erster Linie an der allgemeinen Ignoranz – aber in Zukunft wird die Entwicklungstätigkeit natürlich auch in dieser Hinsicht entsprechend gelenkt werden.« »Das wird nichts helfen«, sagte Foster. »Vielleicht gibt es andere Nachbardisziplinen, von denen weder Sie noch ich träumen. Die ganze Wissenschaft hängt zusammen. Sie ist ein Ganzes. Wenn Sie einen Teil unterdrücken wollen, müssen Sie alles unterdrücken.« »Damit haben Sie zweifellos recht«, sagte Araman, »theoretisch wenigstens. Praktisch betrachtet ist es uns immerhin ganz gut gelungen, die Chronoskopie auf dem ursprünglichen Niveau von Sterbinski festzuhalten, so wie er diese Disziplin damals vor fünfzig Jahren entwickelt hat. Nachdem wir Sie rechtzeitig ertappt haben, Dr. Foster, hoffen wir, daß uns das auch in anderen Fällen gelingen wird. Wir wären auch ganz bestimmt nicht so nahe an den Rand einer Katastrophe geraten, wenn ich Dr. Potterley von Anfang an ernstgenommen hätte.« Er wandte sich dem Historiker zu und hob die Brauen. »Ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich Sie bei unserem ersten Gespräch als einen Geschichtsprofessor, nicht mehr und nicht weniger, eingestuft hatte. Wenn ich meine Arbeit korrekt getan und Nachforschungen über Sie angestellt hätte, wäre das nicht passiert.« Foster fragte plötzlich: »Darf denn irgend jemand das Regierungs-Chronoskop benutzen?« »Niemand außerhalb unserer Abteilung – und zwar unter gar keinen Umständen. Ich sage das, da für mich ohnehin klar ist, daß Sie sich das selbst schon zusammengereimt haben. Aber ich möchte Sie warnen. Falls Sie diese Aussage gegenüber
jemand anderem wiederholen sollten, so wäre das ein schweres Vergehen, nicht nur eine unethische Handlung.« »Und Ihr Chronoskop reicht doch bloß etwa hundertfünfundzwanzig Jahre in die Vergangenheit, oder?« »Stimmt.« »Dann ist Ihr Bulletin mit den Berichten über Zeitforschungen ein aufgelegter Schwindel?« »Mit dem Wissen, das Sie jetzt besitzen, ist das für Sie offenkundig«, sagte Araman kühl. »Trotzdem kann ich Ihre Feststeilung bestätigen. Das monatliche Bulletin ist ein Schwindel.« »In diesem Fall«, erklärte Foster, »kann ich mich nicht verpflichten, mein Wissen um die Chronoskopie zu unterdrücken. Wenn Sie mich verhaften wollen, dann tun Sie es. Ich werde mich in meinem Prozeß dann so verteidigen, daß dieses Kartenhaus aus Schwindel und gegängelter Forschung zusammenbricht. Lenkung der Wissenschaft ist eine Sache, wenn man sie aber unterdrückt und damit die Menschheit ihrer Vorteile beraubt, so ist das eine andere.« »Oh, da wollen wir etwas klarstellen, Dr. Foster«, unterbrach ihn Araman. »Wenn Sie sich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten, wandern Sie sofort ins Gefängnis. Sie werden keinen Anwalt zu sehen bekommen, man wird keine Anklage gegen Sie erheben, und Sie werden keinen Prozeß bekommen. Sie werden einfach im Gefängnis bleiben.« »O nein«, sagte Foster. »Sie bluffen. Schließlich leben wir nicht mehr im zwanzigsten Jahrhundert.« Draußen vor der Tür war es unruhig geworden. Schritte waren zu hören, ein schriller Schrei, den Foster zu erkennen glaubte. Dann flog die Tür auf, und drei ineinander verschlungene Gestalten stürzten herein und auf den Boden.
Und im Fallen noch hob einer der Männer eine Strahlenpistole und schlug mit dem Griff auf den Schädel eines anderen ein. Der Mann sackte zusammen, und die Luft entwich pfeifend aus seiner Lunge. »Onkel Ralph!« rief Foster. Araman runzelte die Stirn. »Setzen Sie ihn auf diesen Stuhl«, befahl er, »und holen Sie Wasser.«
Ralph Nimmo fuhr sich vorsichtig über den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Abscheu und Schmerz. »Es war nicht nötig, so rauhe Töne anzuschlagen, Araman.« »Der Posten hätte noch viel früher rauhe Töne anschlagen und dafür sorgen sollen, daß Sie draußenbleiben, Nimmo«, sagte Araman. »Das wäre besser für Sie gewesen.« »Sie kennen sich?« fragte Foster. »Ich hatte mit dem Mann zu tun«, sagte Nimmo, der sich immer noch den Kopf rieb. »Ich kann dir nur sagen, Neffe, wenn der in deinem Büro ist, dann hast du Ärger.« »Den haben Sie auch«, sagte Araman ärgerlich. »Ich weiß, daß Dr. Foster Sie wegen Literatur über Neutrinik konsultiert hat.« Nimmo furchte die Stirn und glättete sie dann wieder, wobei er das Gesicht so verzog, als hätte es ihm Schmerz bereitet. »So?« fragte er. »Was wissen Sie denn sonst noch über mich?« »Es wird nicht lange dauern, dann wissen wir alles. Inzwischen reicht schon diese eine Sache aus, um Sie zu belasten. Was tun Sie hier?« »Mein lieber Mr. Araman«, sagte Nimmo, der langsam wieder seine Selbstsicherheit zurückgewann, »vorgestern hat
der Esel, den ich zum Neffen habe, mich angerufen. Er hatte irgendwelche geheimnisvollen Informationen – « »Sag es ihm nicht! Sag nichts!« rief Foster. Araman sah ihn kühl an. »Wir wissen alles, Dr. Foster. Das Schließfach ist geöffnet und sein Inhalt entnommen worden.« »Aber wie können Sie wissen – « Fosters Stimme, in der sich Wut und Enttäuschung mischten, erstarb. »Jedenfalls«, sagte Nimmo, »bin ich zu dem Schluß gelangt, daß das Netz sich jetzt um ihn schließen muß. Ich habe daher einige Dinge erledigt und bin dann hierhergekommen, um ihm zu sagen, er solle die Finger von dieser Sache lassen. Sie ist seine Karriere nicht wert.« »Bedeutet das, daß Sie wissen, was er tut?« fragte Araman. »Er hat es mir nicht gesagt«, erklärte Nimmo, »aber ich bin Wissenschafts-Schriftsteller und habe eine Menge Erfahrung. Ich weiß, wo in einem Atom die Elektronen sitzen. Der Junge hat sich auf pseudogravitische Optik spezialisiert und mich selbst mit Details seiner Arbeit vertraut gemacht. Er hat mich dazu veranlaßt, ihm ein Lehrbuch über Neutrinik zu beschaffen, und ich habe es mir flüchtig angesehen, ehe ich es ihm gab. Aus diesen beiden Fakten kann ich selbst meinen Schluß ziehen. Er bat mich, ihm bestimmte physikalische Geräte zu beschaffen, und das war ebenfalls ein Beweis. Sie brauchen es ja nur zu sagen, wenn ich mich irre, aber ich bin davon überzeugt, daß mein Neffe ein Chronoskop gebaut hat, eines mit geringer Leistung zwar, aber… Habe ich recht? Ja, oder… ja?« »Ja.« Araman griff nachdenklich zu einer Zigarette, ohne auf Dr. Potterley zu achten, der stöhnend zurückfuhr, als er das weiße Stäbchen sah. »Noch, ein Fehler, den ich gemacht habe. Ich sollte mich pensionieren lassen. Sie hätte ich auch überwachen müssen, Nimmo, und mich nicht nur auf Potterley und Foster konzentrieren. Ich hatte natürlich nicht viel Zeit,
und Sie sind schließlich doch hier aufgekreuzt, aber das ist keine Entschuldigung für mich. Sie sind verhaftet, Nimmo.« »Warum?« wollte Nimmo wissen. »Nichtautorisierte Forschung.« »Ich habe aber gar keine Forschungsarbeit betrieben. Das kann ich ja gar nicht. Schließlich bin ich kein registrierter Wissenschaftler. Und selbst wenn ich es getan hätte, ist das kein kriminelles Vergehen.« »Es hat keinen Sinn, Onkel Ralph«, sagte Foster, und seine Augen flackerten. »Dieser Bürokrat schreibt sich seine eigenen Gesetze.« »Zum Beispiel?« fragte Nimmo. »Zum Beispiel lebenslängliche Haft ohne Prozeß.« »Quatsch«, sagte Nimmo. »Schließlich leben wir nicht im zwanzigsten Jahr – « »Damit habe ich es auch versucht«, sagte Foster. »Stört den gar nicht.« Jetzt wurde Nimmo wild. »Hören Sie mal zu, Araman! Mein Neffe und ich haben Verwandte, die mit uns in Verbindung stehen. Und der Professor hat wahrscheinlich auch Leute, die ihn kennen. Sie können uns nicht einfach verschwinden lassen. Man wird Fragen stellen, es wird einen Skandal geben. Das ist wirklich nicht das zwanzigste Jahrhundert. Wenn Sie also vorhaben, uns Angst einzujagen, dann haben Sie sich getäuscht.« Die Zigarette zwischen Aramans Fingern knickte ab, und er warf sie wütend weg. »Verdammt nochmal«, sagte er, »ich weiß nicht, was ich tun soll. So etwas hat es noch nie gegeben. Schauen Sie her! Sie wissen ja gar nicht, was Sie hier tun. Sie haben keine Ahnung. Wollen Sie mir zuhören?« »Aber natürlich wollen wir das«, sagte Nimmo grimmig.
Foster saß stumm da. Seine Augen blickten wild, die Lippen hatte er zusammengepreßt. Potterleys Hände zuckten wie ineinander verschlungene Schlangen. »Für Sie ist die Vergangenheit tot«, sagte Araman. »Aus, vorbei. Ich möchte wetten, daß jeder von Ihnen diesen Ausdruck schon einmal verwendet hat. Wenn die Leute an die Vergangenheit denken, dann sehen sie darin immer etwas weit Entferntes, etwas, das schon lange vorüber ist. Wir ermuntern sie sogar, so zu denken. Wenn wir von der Zeitschau sprechen, dann reden wir immer von lange vergangenen Jahrhunderten, obwohl Sie, meine Herren, wissen, daß es unmöglich ist, sehr viel weiter als ein Jahrhundert in die Vergangenheit zu sehen. Aber die Leute finden sich damit ab. Für sie bedeutet die Vergangenheit Griechenland, Rom, Karthago, Ägypten, die Steinzeit. Je toter, desto besser. Sie wissen jetzt, daß ein Jahrhundert oder eine Kleinigkeit mehr die Grenze ist. Was bedeutet die Vergangenheit also für Sie? Ihre Jugend. Ihr erstes Mädchen. Ihre verstorbene Mutter. Zwanzig Jahre. Dreißig Jahre. Fünfzig vielleicht. Je toter, desto besser. Aber wann beginnt die Vergangenheit wirklich?« Er hielt inne. Seine Stimme hatte am Ende heftig geklungen. Die anderen starrten ihn an, und Nimmo rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Nun?« sagte Araman. »Wann hat sie angefangen? Vor einem Jahr? Vor fünf Minuten? Vor einer Sekunde? Ist es denn nicht offensichtlich, daß die Vergangenheit nur den Bruchteil einer Sekunde zurückliegt? Die tote Vergangenheit ist bloß ein anderer Name für die lebende Gegenwart. Was passiert denn, wenn Sie das Chronoskop in die Vergangenheit richten – ein hundertstel Sekunde in die Vergangenheit, meine ich? Beobachten sie damit nicht die Gegenwart? Verstehen Sie jetzt langsam?«
»Verdammt«, sagte Nimmo ganz leise. »Verdammt«, äffte Araman ihn nach. »Als Potterley vorgestern abend mit seiner Geschichte zu mir kam – wie glauben Sie wohl, wie ich mich über Sie informiert habe? Mit dem Chronoskop natürlich. Ich habe wichtige Augenblicke bis zur unmittelbaren Gegenwart überprüft.« »Und so haben Sie von dem Schließfach erfahren?« fragte Foster. »Ja, von dem Schließfach und alles andere, was wichtig war. Was glauben Sie wohl würde passieren, wenn es bekannt würde, daß es ein Chronoskop für den Hausgebrauch gibt? Die Leute würden vielleicht anfangen, ihre Jugend zu betrachten, ihre Eltern und so weiter, aber dann würden sie auf die anderen Möglichkeiten stoßen. Die Hausfrau wird ihre arme tote Mutter vergessen und anfangen, ihre Nachbarin zu Hause und ihren Mann im Büro zu betrachten. Der Geschäftsmann wird seinen Konkurrenten bespitzeln und der Chef seine Angestellten. So etwas wie Privatleben wird es nicht mehr geben. Jeder wird jederzeit jeden bespitzeln können. Jeder einzelne sein eigener Spitzel, vor dem es kein Versteck gibt. Selbst die Dunkelheit wird keine Zuflucht bieten, da man die Chronoskopie auch im infraroten Bereich einsetzen kann und die Menschen im Licht ihrer eigenen Körperwärme betrachten. Die Umrisse werden natürlich verschwommen sein und der Hintergrund dunkel, aber das erhöht den Nervenkitzel nur noch. Selbst die Männer, die heute mit der Maschine arbeiten, experimentieren manchmal trotz aller Vorschriften damit.« Nimmo war totenbleich geworden. »Sie können ja immer noch die private Herstellung verbieten – « »Das könnte man, aber glauben Sie, daß es einen Sinn haben würde?« fuhr Araman ihn an. »Können Sie mit Gesetzen das Rauchen, das Trinken, den Ehebruch oder den Klatsch über
den Gartenzaun verbieten? Und diese Mischung aus Neugierde und Spitzelei wird einen viel schlimmeren Einfluß auf die Menschheit haben als diese anderen Laster. In tausend Jahren ist es uns nicht gelungen, den Heroinhandel aus der Welt zu schaffen, und Sie wollen mit Gesetzen ein Gerät verbieten, mit dem jeder jederzeit seinen Nächsten bespitzeln kann und das noch dazu den Vorzug hat, daß man es zu Hause in seiner eigenen Bastlerwerkstatt herstellen kann?« Foster sagte plötzlich: »Ich werde meine Arbeiten nicht veröffentlichen.« Und Potterley platzte beinahe schluchzend heraus: »Keiner von uns wird reden. Es tut mir leid – « Nimmo ließ ihn nicht ausreden. »Sie sagten, mich hätten Sie nicht mit dem Chronoskop überwacht, Araman?« »Keine Zeit«, sagte Araman müde. »Auf dem Chronoskop laufen die Dinge auch nicht schneller ab als im wirklichen Leben. Man kann da nicht einfach einen schnelleren Durchlauf einschalten wie in einem Betrachtungsgerät. Wir haben volle vierundzwanzig Stunden damit zugebracht, die wichtigsten Augenblicke in den letzten sechs Monaten, die Potterley und Foster durchlebt haben, festzustellen. Für etwas anderes war keine Zeit mehr. Und es war auch genug.« »Das war es nicht«, sagte Nimmo. »Wovon reden Sie denn?« Aramans Gesicht wirkte plötzlich maskenhaft starr. »Ich sagte Ihnen doch, mein Neffe Jonas hatte mich angerufen und mich informiert, daß er wichtige Unterlagen in einem Schließfach verwahrt hätte. Er benahm sich so, als hätte er Schwierigkeiten. Er ist mein Neffe. Ich mußte mein Möglichstes tun, um ihm zu helfen. Ich brauchte eine Weile, und dann kam ich hierher, um ihm zu sagen, was ich getan hatte. Als ich hierher kam, unmittelbar nachdem Ihr Mann
mich draußen niedergeschlagen hatte, sagte ich doch, daß ich einiges erledigt hätte.« »Was zum Beispiel?« »Nun, dies zum Beispiel: ich habe die Pläne für das tragbare Chronoskop an ein halbes Dutzend meiner Verleger geschickt.« Kein Wort. Kein Laut. Kein Atemzug. Alle waren wie vom Schlag gerührt. »Starren Sie mich nicht so an!« schrie Nimmo. »Verstehen Sie denn nicht? Ich hatte die Veröffentlichungsrechte für alle Medien. Jonas wird das bestätigen. Ich wußte, daß es keinen legalen Weg für ihn gab, eine wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen. Ich war sicher, daß er beabsichtigte, seine Arbeit illegal zu publizieren. Ich dachte, ich könnte die ganze Verantwortung auf mich nehmen, wenn ich die Pläne bereits vorher veröffentlichte. Seine Karriere wäre dann gerettet. Und wenn man mir die Lizenz entzog, so hatte ich immerhin die chronometrischen Daten im Besitz und konnte davon für den Rest meines Lebens bequem existieren. Jonas würde natürlich wütend sein, damit rechnete ich, aber ich könnte ihm ja mein Motiv erklären und anschließend die Einnahmen mit ihm teilen. Starren Sie mich nicht so an. Woher sollte ich denn wissen – « »Niemand wußte etwas«, sagte Araman bitter, »aber für Sie stand einfach fest, daß die Regierung dumm, bürokratisch, gemein und tyrannisch war und die Forschungsarbeiten bloß unterdrückte, weil es ihr Spaß machte. Keiner von Ihnen hat je daran gedacht, daß wir versuchen, nach besten Kräften die Menschheit zu schützen.« »Sitzen Sie doch nicht einfach so da«, jammerte Potterley. »Nennen Sie uns die Namen der Leute, die Sie informiert – « »Zu spät«, sagte Nimmo und zuckte die Achseln. »Sie hatten mehr als einen Tag Zeit. Die Kontaktpersonen haben bestimmt
schon eine ganze Reihe von Physikern angerufen, um meine Daten überprüfen zu lassen, und die Physiker haben ihrerseits auch miteinander geredet. Und sobald die Wissenschaftler einmal anfangen, die Neutrinik und die Pseudogravitik miteinander in Verbindung zu bringen, ist das Heimchronoskop der nächste Schritt. Ehe die Woche um ist, werden fünfhundert Leute wissen, wie man ein kleines Chronoskop baut – und wie wollen Sie die alle fangen?« Seine plumpen Wangen sackten herunter. »Ich glaube, unsere Bombe ist geplatzt, und es gibt einfach keinen Weg, um den schönen Atompilz wieder in die kleine Urankugel zurückzuschieben.« Araman stand auf. »Wir werden es versuchen, Potterly, aber ich muß Nimmo rechtgeben. Es ist zu spät. Ich weiß nicht, was für eine Welt wir in Zukunft haben werden. Ich kann es nicht sagen. Aber die Welt, die wir kennen, ist zerstört. Bis jetzt hat es noch ein Privatleben gegeben, wenn auch kein sehr ausgeprägtes. Bis jetzt hat jede Gewohnheit, jeder Moralbegriff, jede Lebensart immer ein Mindestmaß an Privatleben, an Alleinsein beinhaltet. Aber damit ist es jetzt vorbei.« Er grüßte die drei mit übertriebener Förmlichkeit. »Sie haben eine neue Welt geschaffen. Ich gratuliere Ihnen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Goldfischglas, in dem Sie leben werden, Ihnen, mir und einem jeden, und mögen Sie für alle Zeiten in der Hölle braten.«
Originaltitel: THE DEAD PAST. Copyright © 1956 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION, April 1956.
Kingsley Amis FALSCH KONDITIONIERT
Es verging kein Tag, an dem nicht etwas Eigenartiges passierte. Manchmal am Morgen, während die beiden Männer die Meßergebnisse ablasen und die beiden Frauen mit dem Haushalt beschäftigt waren: die großen Gesichter waren zum erstenmal an einem Morgen erschienen. Oder – so war es bei den kleinen Gesichtern und den bunten Flammen der Fall gewesen – das Fremdartige geschah am Nachmittag, während Bruno mit Wartungsarbeiten beschäftigt war und Clovis seine Berichte an die Zentrale durchgab, Lia eine Runde durch den Garten machte und Myri an ihrer Geschichte arbeitete. Die Abende verliefen meist, die Nächte seltener ungestört. Sie alle verstanden, daß der normale Zeitbegriff für Leute wie sie keine Bedeutung hatte, Leute, die auf unbeschränkte Zeit in eine riesige Stahlhohlkugel verbannt waren, die bewegungslos in einem Bereich des Weltraums hing, der so leer war, daß das Licht des nächsten Sternes ein paar hundert Jahre brauchte, um sie zu erreichen. Aber ihr Auftrag enthielt die Empfehlung, einen vierundzwanzigstündigen Zeitrhythmus einzuhalten, so wie es auf der Erde üblich war, die sie schon seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatten. Diese Einteilung sagte ihnen zu: Arbeit, Freizeit und Schlafperiode schienen sich diesem Zeitablauf ganz natürlich anzupassen. Nur die Vorstellung, daß Jahr für Jahr die gleiche Routine ihr tägliches Leben beherrschen würde, eine Routine, die sich weiter in die
Zukunft erstreckte, als sie sich vorstellen konnten, erzeugte Spannungen. Bruno machte darüber eine Bemerkung zu Clovis, nachdem er am Morgen einen Fehler am Spektralanalysator behoben hatte, den sie dazu benutzten, die am nächsten befindlichen Sterne zu erforschen und zu klassifizieren. Die beiden Männer saßen an der großen Beobachtungsluke im Aufenthaltsraum, tranken ihren Mittagscocktail und warteten darauf, daß die Frauen sich ihnen anschlossen. »Ich würde sagen, daß wir es bis jetzt ganz gut ertragen haben«, beantwortete Clovis Brunos Bemerkung. »Vielleicht sogar zu gut.« Bruno setzte sich mit seiner mächtigen Leibesfülle gerade. »Wie meinst du das?« »Nun, vielleicht verringern wir damit unsere Chancen, abgelöst zu werden.« »Von der Zentrale ist uns noch nie ein Wort von Ablösung mitgeteilt worden.« »Genau. Wenn man eine halbe Million Stationen wie diese hier bemannen will, wird es lange dauern, bis sie sich um uns hier kümmern, wo alles wie am Schnürchen läuft. Du und ich, wir sind ein perfektes Team, und du hast Lia, und ich habe Myri, und die beiden vertragen sich auch. Es gibt überhaupt keine echten Konflikte. Folglich auch keinen Grund für eine Ablösung.« Myri hatte alles das mitgehört, während sie in der Nische den Tisch deckte. Sie fragte sich, weshalb es Clovis noch nicht aufgefallen war, daß Bruno lieber sie als Lia haben wollte oder vielleicht gar beide Frauen gleichzeitig. Wenn Clovis es jedoch wußte und Bruno gegenüber nur so tat, als ahne er nichts, dann wäre das kurzsichtig, weil Bruno alles andere als ein angenehmer Mensch war. Mit seinem dicken Nacken und dem bleichen, schwammigen Gesicht würde er auch kein
angenehmer Partner sein, im Gegensatz zu Clovis, der zwar auch nicht größer war als Bruno, aber vor dessen Körper sie sich nicht ekelte. Er konnte nicht so präzise denken wie Bruno, aber andererseits waren viele von Brunos Gedanken nicht gerade angenehm. Sie nahm sich einen Drink und ging zu den Männern hinüber. Bruno hatte gerade die Bemerkung gemacht, wie schade es doch wäre, daß sie die Personalberichte nicht ein wenig verfälschen konnten, indem sie einfach ein paar Streitigkeiten dazudichteten und Clovis hatte ihm sofort beigepflichtet, daß dies völlig unmöglich sei. Sie küßte ihn und setzte sich neben ihn. »Was hältst du von der Vorstellung, abgelöst zu werden?« fragte er sie. »Daran denke ich nie.« »Ganz richtig«, sagte Bruno und lächelte. »Du fühlst dich hier ganz wohl, zumindest ziemlich wohl.« »Worauf willst du hinaus?« fragte Clovis und lächelte auch, aber ganz anders. »Es ist nicht gerade ein ausgefülltes Leben, oder? Für keinen von uns, meine ich. Ich könnte schon einmal einen Wechsel vertragen. Eine andere Arbeit, einmal keine Tests und keine Reparaturen an den Geräten. Es scheint hier besonders viele Reparaturen zu geben. Der Analysator versagt beinahe jeden Tag. Und doch – « Er verstummte und blickte zur Luke hinaus, so als wolle er sich vergewissern, daß draußen das vertraute Sternenpanorama lag. »Und doch was?« fragte Clovis, diesmal etwas gereizt. »Ich habe gerade überlegt, daß wir eigentlich dankbar sein sollten, wenn wir genügend zu tun haben. Wir haben unsere wissenschaftlichen Experimente, und dann ist da das Obst und das Gemüse, um das man sich kümmern muß, und Myris
Geschichte – Wie geht’s übrigens voran? Willst du uns nicht daraus vorlesen? Heute abend vielleicht?« »Das möchte ich erst, nachdem sie fertig ist, wenn es dir nichts ausmacht.« »Es macht mir aber etwas aus. Es gehört zu unseren Aufgaben, uns gegenseitig zu unterhalten. Und mich persönlich interessiert deine Geschichte sehr.« »Warum?« »Weil du eine interessante Frau bist. Wache, braune Augen, eine gesunde, wie von innen heraus leuchtende Haut – Wie schaffst du das nur nach so viel Monaten im Weltraum? Und du hast auch viel mehr Energie als wir anderen.« Myri sagte nichts. Bruno verstand sich darauf, Bemerkungen zu machen, auf die man nicht antworten konnte. »Wovon handelt sie denn, deine Geschichte?« Bruno ließ nicht locker. »Wenigstens das könntest du uns sagen.« »Das habe ich doch schon erzählt. Sie handelt vom ganz normalen Leben. Dem Leben auf der Erde, ehe es Weltraumstationen gab. Es kommen eine Menge Leute drin vor, die alles mögliche tun, nicht dieses – « »Das ist also das normale Leben – verschiedene Leute, die alle möglichen Dinge tun? Ich kann es gar nicht erwarten zu erfahren, was für Dinge. Wer ist denn der Held der Geschichte, Myri? Unser lieber Clovis?« Myris legte die Hand auf Clovis’ Schulter. »Hör jetzt bitte auf, Bruno. Du hast von unserem Alltag gesprochen. Ich verstehe nicht, warum du das Wichtigste dabei ausgelassen hast, den Teil, der uns am meisten beschäftigt.« »Ah, die seltsamen Ereignisse.« Bruno nickte. »Und die Stunden, die wir damit verbringen, davon zu sprechen. O ja. Wie konnte ich nur vergessen, das zu erwähnen?«
»Wenn du auch nur eine Spur Verstand hast, erwähnst du auch weiterhin nichts davon«, entgegnete Clovis hitzig. »Wir sind die ganze Sache leid.« »Du vielleicht, aber ich nicht. Ich will darüber sprechen. Myri doch auch. Oder, Myri?« »Ich meine, wir sollten wieder einmal versuchen, das System zu finden, das dahintersteckt«, sagte Myri. Das war eine der Situationen, in denen Bruno zwar so unangenehm wie eh und je war, dafür aber recht hatte. »Oh, doch nicht schon wieder!« rief Clovis und sprang auf. Er ging zur Bar hinüber. »Hallo, Lia«, sagte er zu der schlanken blonden Frau, die gerade mit einem Tablett mit kalten Speisen hereingekommen war. »Ich mach dir einen Drink. Bruno und Myri philosophieren – die suchen Systeme. Was meinst du? Ich will dir sagen, was ich glaube. Ich glaube, wir tun hier schon genug. Systeme zu finden ist Sache der Leute in der Zentrale.« »Wir könnten uns aber auch darum kümmern«, meinte Bruno. »Habe ich recht, Lia?« »Natürlich«, sagte Lia mit ihrer tiefen Stimme, von der Myri immer den Eindruck hatte, daß sie überhaupt nicht zu Lia paßte. »Nun gut. Du kannst dich ja heraushalten, wenn du willst, Clovis. Wir wollen davon ausgehen, daß das, was wir hören und sehen, nicht unbedingt Illusion sein muß, wohl aber sein kann.« »Jedenfalls müßten es Illusionen sein, die jeder Mensch haben kann und die sich nicht speziell auf uns beschränken. Das wissen wir aus den Berichten von der Zentrale über die Vorgänge auf anderen Stationen.« »Richtig, Myri. Fest steht, daß wir diesen Phänomenen mit Absicht ausgesetzt werden.«
»Das wissen wir nicht«, wandte Myri ein. »Es kann sich auch um natürliche Phänomene handeln oder um das unbeabsichtigte Nebenprodukt einer durchdachten Handlung, die ursprünglich nichts mit uns zu tun hat.« »Wieder richtig, aber diese Möglichkeiten sind von einem verhältnismäßig geringen Wahrscheinlichkeitsgrad, und wir sollten sie uns daher für später aufheben. Jetzt wollen wir – nur als Beispiel – die eigenartigen Geschehnisse der letzten Woche durchsprechen. Ich hole das Logbuch, damit es keinen Streit gibt.« »Hört doch auf damit«, sagte Clovis, als Bruno in den Geräteraum gegangen war. »Das ist doch Zeitverschwendung.« »Zeit ist das einzige, wovon wir wirklich genug haben.« »Ich habe von dem ganzen Theater genug«, sagte er und legte die Hand auf ihre Hüfte. »Komm mit.« »Später«, sagte Myri. »Lia geht immer mit Bruno, wenn er sie darum bittet.« »O ja, aber ich tu’s aus freien Stücken«, sagte Lia. »Sie will jetzt nicht. Warte doch, bis sie will.« »Ich warte nicht gern.« »Das Warten kann es viel spannender machen.« »Da sind wir wieder«, sagte Bruno, der gerade zurückkam, munter. »Richtig. Montag. Binnen weniger Sekunden war die Kugel in eine dicke, braune, feuchte Substanz eingehüllt, die sich bei den Tests als undurchdringlich und unendlich dick erwies. Die Besatzung wußte nicht, was sie unternehmen sollte. Nach drei Stunden und elf Minuten verschwand die Substanz. Das Interessante daran ist die Bemerkung ›unendlich dick‹. Das muß eine Illusion gewesen sein, sonst wäre ja bei den anderen Stationen zur gleichen Zeit dasselbe passiert, von den Sternen und Planeten einmal ganz zu schweigen. Eine totale oder partielle Illusion also. Einverstanden?« »Weiter.«
»Dienstag. Metallischer Gegenstand, etwa von der gleichen Größe wie unsere Station, nähert sich auf Kollisionskurs mit einer Geschwindigkeit von 500 Kilometern pro Sekunde. Keine Gegenmaßnahmen möglich. Gegenstand tauchte in 35 Millionen Kilometer Entfernung auf und verschwand plötzlich 1500 Kilometer von der Station entfernt. Was ist damit?« »So etwas hatten wir schon früher«, warf Lia ein. »Bloß daß es diesmal am dichtesten herangekommen und am längsten geflogen ist.« »Unbegreiflich oder Illusion«, meinte Myri. »Ja, weiter kommen wir jetzt wahrscheinlich nicht. Mittwoch: unbedeutend, nicht wert, daß wir darüber reden. Ein Wesen, das offenbar völlig aus Knochen besteht, nähert sich der Hauptluke und macht winkende Bewegungen. Wer auch immer hinter diesen Erscheinungen steckt, dem müssen langsam die Ideen ausgehen. Donnerstag. Alles außerhalb der Kugel Befindliche wird von sämtlichen Instrumenten nicht mehr registriert und erscheint zwei Stunden später wieder. Das ist auch nicht neu, an so etwas kann ich mich erinnern. Illusion? Gut. Freitag. Wesen, die Reptilien von der Erde gleichen, bevölkern die Außenseite der Station, kämpfen miteinander und fressen sich zum Teil gegenseitig auf. Laute kratzende und schlurfende Geräusche. Die Geräusche zumindest müssen eine Illusion gewesen sein, denn draußen ist keine Luft, und ich habe noch nie von einem Reptil gehört, das nicht atmet. Das gleiche gilt für die gestrige Erscheinung. Menschliche Schreie, die auf Schmerz und äußerstes Erstaunen hindeuten, nähern sich und verklingen wieder. Nichts zu sehen.« Er hielt inne und blickte in die Runde. »Nun? Erkennt irgend jemand eine Verbindung?« »Nein«, meinte Clovis und bediente sich aus der Salatschüssel. Sie hatten inzwischen am Eßtisch Platz genommen. »Und ich glaube auch nicht, daß irgend jemand
Verbindungen erkennen kann. Das Ganze ist völlig willkürlich.« »Im Gegenteil, die nächste Erscheinung – die heutige zum Beispiel, sofern es eine gibt – könnte auf ein System hinweisen.« »Ich glaube, wir sollten uns auf jenen Gegenstand konzentrieren, der sich uns genähert hat«, meinte Myri. »Warum ist er verschwunden, ehe er die Station traf?« Bruno starrte sie an. »Das mußte er doch, wenn es eine Illusion sein soll.« »Nicht unbedingt. Warum sollten wir denn nicht die Illusion haben, daß es die Kugel trifft? Und was ist, wenn es keine Illusion war?« »Wenn das nächste Mal ein solcher Gegenstand kommt, trifft er vielleicht«, meinte Lia. Clovis lachte. »Nicht schlecht. Was würde dann wohl passieren?« Sie sahen Bruno an und warteten auf eine Antwort. Nach ein paar Augenblicken meinte er: »Wahrscheinlich würde die Station bersten, und wir würden in den Weltraum geschleudert werden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das wäre. Wir könnten… wir würden uns nie wiedersehen, uns nicht und niemand anderen, und würden nichts anderes als Klumpen Materie, der für ewig durch das All treiben. Die Chancen – « »Immerhin brauchten wir uns dann dein Gerede nicht mehr anzuhören«, sagte Clovis, der jetzt offenbar wieder besserer Laune war. »Aber wir wollen doch einmal praktisch denken. Wie lange brauchst du heute nachmittag für deine Analysen? Wir müssen eine Menge Daten an die Zentrale durchgeben, und ich werde dir nicht helfen können.« »Eine Stunde vielleicht, nachdem ich mit den abschließenden Tests fertig bin.«
»Warum stellen wir denn überhaupt diese Tests an? Als wir heute morgen fertig waren, stimmte die Position doch exakt.« »Da hatten wir Glück.« »Das kann man wohl sagen. Es hätte nur eine Variable dazukommen brauchen, dann wäre es nicht so gewesen.« »Ja«, sagte Bruno abwesend. Und dann stand er so abrupt auf, daß die drei anderen erschraken. »Aber so war’s eben nicht. Oder? Es gab eben keine Variable mehr. Nicht wahr? Es ist also doch nicht dazu gekommen – zu einer Situation, mit der wir nicht fertig werden konnten.« Keiner sagte etwas. »Entschuldigt mich jetzt. Ich will allein sein.« »Wenn Bruno so weitermacht«, sagte Clovis zu den beiden Frauen, »dann wird uns die Zentrale früher als wir glauben ablösen.«
Myri bemühte sich, die Erinnerung an Brunos seltsames Verhalten von sich zu schieben, als sie sich eine halbe Stunde später hinsetzte, um an ihrer Geschichte zu arbeiten. Sein Gesichtsausdruck, als er vom Tisch aufgestanden war, war ihr unbegreiflich gewesen. Erregung? Abneigung? Überraschung? Das entsprach ihm noch am ehesten – eine Art Zustand ständiger Überraschung. Nun, bei Bruno konnte man sich darauf verlassen, daß er es beim Abendessen erklären würde. Sie wünschte, er wäre ein angenehmerer Mensch; denn zu denken verstand er. Schließlich gelang es ihr, Bruno aus ihrer Erinnerung zu verdrängen, und sie las die Manuskriptseite noch einmal, an der sie am vergangenen Nachmittag gearbeitet hatte, bevor die Schreie sie unterbrachen. Es war eine ziemlich schwierige Szene: eine Frau begegnete zufällig einem Mann, mit dem sie vor zehn Jahren intim gewesen war. Das Ganze wurde dadurch
kompliziert, daß sie sich zu diesem Zeitpunkt in der Gesellschaft des Mannes befand, mit dem sie augenblicklich intim war. Die Szene spielte in einem Speiselokal in einer großen Stadt.
»Hau ab«, sagte Volsci. »Sonst knallt’s.« Norbu grinste unfreundlich. »Was würde dir das nützen? Irmy mag mich lieber als dich. Du bist zweifellos der angenehmere Mensch, aber sie mag mich lieber. Sie erinnert sich viel deutlicher daran, wie ich vor zehn Jahren mit ihr geschlafen habe, als du mit ihr letzte Nacht. Ich kann besser denken, und das ist viel wichtiger als ein angenehmes Verhalten.« »Wir essen gemeinsam«, sagte Volsci und deutete auf die kalten Speisen und die Getränke, die vor ihnen standen. »Nicht wahr, Irmy?« »Ja, Irmy«, sagte Norbu. »Du mußt dich entscheiden. Wenn du nicht uns beiden gehören kannst, mußt du sagen, wen von uns du vorziehst.« Irmy blickte von einem Mann zum anderen. Es gab einen so großen Unterschied zwischen ihnen, daß es schwer fiel, eine Wahl zu treffen. Der eine hatte ein angenehmeres Wesen, der andere den schärferen Verstand; der eine war schlank, der andere feist. Sie entschied, daß es besser sei, ein angenehmes Wesen zu haben. Das war wichtig. Sie sagte: »Ich will Volsci haben.« Norbu blickte überrascht und enttäuscht auf. »Ich glaube, du machst einen Fehler.« »Du könntest jetzt eigentlich gehen«, sagte Volsci. »Ila wartet bestimmt schon auf dich.« »Ja«, sagte Norbu. Er wirkte auf einmal sehr traurig. Irmy tat er auch leid. »Leb wohl, Norbu«, sagte sie.
Myri lächelte. Das war gut. Besser, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Schließlich brauchte man vor sich selbst nicht bescheiden zu sein. Auch wenn Bruno sich über sie lustig machte – sie mußte wirklich schriftstellerisches Talent besitzen. Wie hätte sie sonst diese Personen erfinden können, diese Personen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgend jemandem hatten, den sie kannte? Und die sich jetzt in einer Situation befanden, für die es in ihrer ganzen Erinnerung keine Parallele gab. Höchstens die gefühlsmäßige Seite hatte sie vielleicht etwas übertrieben. Vielleicht war sehr traurig etwas zu stark; sie ersetzte es durch betrübt. Ausgezeichnet. Jetzt war genügend Zurückhaltung in den Gefühlen. Sie entschied, die Szene mit ein paar Zeilen abzuschließen. »Wir sehen uns vielleicht einmal beim Cocktail«, sagte Volsci, schrieb sie und blickte dann unwillig auf, als der Türsummer erklang. Sie durchquerte den kleinen, keilförmigen Raum – die Stirnwand war ein Stück der Kugelschale, hatte aber keine Sichtluke – , sperrte auf und sah Bruno auf der Schwelle stehen. Sein Atem ging schwer, so als wäre er gerannt, und sie erkannte mit Abscheu, daß auf seiner großporigen, schwammigen Haut Schweißtropfen standen. Er schob sich an ihr vorbei und setzte sich mit offenem Mund auf ihr Bett. »Was ist denn?« fragte sie verärgert. Am Nachmittag blieb jeder für sich, sofern nicht beim Mittagessen andere Verabredungen getroffen wurden. »Ich weiß nicht, was ist. Wahrscheinlich bin ich krank.« »Krank? Aber das ist doch unmöglich. Nur die Leute auf der Erde werden krank. Auf einer Station wird man nie krank. Das hat uns die Zentrale gesagt. Krankheiten werden von – « »Ich glaube nicht alles, was die Zentrale uns sagt.«
»Aber wem können wir denn glauben, wenn nicht der Zentrale?« Bruno hatte offenbar ihre Frage nicht gehört. »Ich mußte zu dir kommen«, sagte er. »Lia eignet sich nicht für so was. Bitte, laß mich bei dir bleiben. Ich habe dir viel zu sagen.« »Das hat doch keinen Sinn, Bruno. Ich gehöre Clovis. Ich dachte, du hättest begriffen, daß ich nicht – « »Das meine ich gar nicht«, sagte er ungeduldig. »Ich brauche dich beim Denken, obwohl das mit dem anderen verbunden ist, dem Besitzen. Ich rechne nicht damit, daß du das begreifst. Ich fange selbst erst an zu begreifen.« Myri konnte damit überhaupt nichts anfangen. »Beim Denken?« Er biß sich auf die Lippen und schloß für eine Weile die Augen. »Hör dir das an«, sagte er. »Der Analysator hat mich darauf gebracht. Er versagt beinahe jeden Tag. Und der Computer, die Zählwerke, die Aufnahmekameras und all die anderen Geräte – sie versagen auch immer wieder, und ihre Energiequellen ebenfalls. Aber das Luftreinigungsgerät und die Wasserdestillationsanlage und die Heizung und die Lichtund Wärmestrahler für die Pflanzen und die Hauptkraftanlage versagen nie. Warum nicht?« »Nun, die sind halt weniger kompliziert. Wie kann eine hydroponische Anlage versagen? Ein Chemikalientank und ein Wassertank, mehr ist das doch nicht. Du kannst ja Lia fragen.« »Schön. Dann versuche, mir darauf eine Antwort zu geben: Diese eigenartigen Phänomene… wenn es Illusionen sind, warum stellen wir sie dann immer nur außerhalb der Kugel fest? Warum nie innen?« »Vielleicht sind sie manchmal innen«, sagte Myri. »Nein! Das will ich nicht. Das würde mir gar nicht gefallen. Ich möchte, daß alles hier drinnen wirklich ist. Bist du wirklich? Ich muß einfach glauben, daß du es bist.«
»Natürlich bin ich wirklich.« Sie war jetzt ganz verstört. »Und das ist doch wichtig, nicht wahr? Es ist sogar sehr wichtig, daß du wirklich bist und alles andere auch, alles in der Kugel. Aber sag mir eins: Was auch immer diese Phänomene auslöst, muß ziemlich mächtig sein, wenn es unsere Instrumente und Sinne so völlig durcheinanderbringen und verwirren kann. Und dennoch kann es im Innern dieser Stahlkugel nichts ausrichten – wenigstens nichts, das uns fremdartig erscheint. Warum nicht?« »Vielleicht hat es seine Grenzen. Wir sollten froh darüber sein.« »Ja. Schön. Nächster Punkt: Erinnerst du dich, wie ich damals nach Mitternacht im Aufenthaltsraum wach bleiben wollte?« »Das war dumm. Niemand kann nach Mitternacht wach bleiben. Die Befehle sind doch in der Beziehung ganz eindeutig.« »Ja, nicht wahr?« Bruno machte den Versuch zu grinsen. »Erinnerst du dich, wie ich dir erzählte, daß ich einfach nicht begreifen könne, weshalb ich in jener Nacht wie gewöhnlich in meinem eigenen Bett lag, als diese Musik uns weckte. Erinnerst du dich an die Musik? Und – darauf will ich eigentlich hinaus – erinnerst du dich, wie wir uns beim Frühstück alle darüber einig waren, daß das Leben im Weltraum uns so verändert habe, daß wir automatisch zu einem bestimmten Zeitpunkt einschliefen? Erinnerst du dich daran?« »Natürlich erinnere ich mich.« »Schön. Dann zwei Fragen. Hältst du das für eine plausible Erklärung; ist das eine Art gemeinschaftlich vollzogenes autogenes Training, dem wir vier unterliegen… und das, obwohl erst ein paar Monate vergangen sind?« »Wenn du es so darstellst, lautet meine Antwort nein.«
»Und dennoch waren wir uns alle darüber einig, nicht wahr? Ohne zu zögern.« Myri lehnte an der Wand. Ihr war das unangenehm, und sie hätte ihn am liebsten zum Schweigen gebracht, obwohl seine Gedanken logisch waren. »Was ist die zweite Frage, Bruno?« Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor. »Ah, du spürst es auch, oder?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Ich glaube, das wirst du gleich wissen. Hör dir meine andere Frage an. Die Nacht, als wir die Musik hörten, liegt lange zurück. Das war kurz nach unserer Ankunft hier, aber du erinnerst dich ganz deutlich daran. Ich auch. Und doch, wenn ich mich an das zu erinnern versuche, was ich zwei Monate vorher auf der Erde getan habe, wie ich mein Leben dort abschloß und mich auf das hier vorbereitete, so sind jene Eindrücke völlig verschwommen. Ich kann mich an nichts deutlich erinnern.« »Das ist alles so fern.« »Mag sein. Aber an die Reise erinnere ich mich ganz genau. Du auch?« Myri hielt den Atem an. Ich bin überrascht, dachte sie. Mir ist genauso zumute, wie es Bruno zumute war, als er vom Mittagstisch aufstand. Sie sagte nichts. »Jetzt spürst du es, nicht wahr?« Er beobachtete sie scharf durch zusammengekniffene Lider. »Ich will versuchen, es zu beschreiben. Eine Überraschung, die anhält. Verwirrung. Symptome von physischer Belastung. Und hinter allem… eine Art Unbehagen, aber nur in geistiger Hinsicht. Ein Gefühl, wie wenn ein spitzer Gegenstand gegen die Haut gedrückt wird, nur daß man das Ganze nicht körperlich, sondern physisch empfindet.« »Wovon redest du?« »Von Schwierigkeiten bei der Verständigung.«
Aus dem Lautsprecher über der Tür vernahmen sie plötzlich Clovis’ Stimme: »Achtung! Eigenartiges Phänomen. Kommt sofort in den Gemeinschaftsraum. Eigenartiges Phänomen.« Myri und Bruno, die sich angestarrt hatten, rannten in den schmalen Korridor hinaus. Clovis und Lia waren bereits im Gemeinschaftsraum und blickten durch die Luke hinaus. Scheinbar nur ein paar Meter vom Panzerglas der Luke entfernt und von irgendeiner unsichtbaren Lichtquelle angestrahlt, schwebten zwei Gestalten. Alle Einzelheiten waren deutlich ausgeprägt, und die vier Menschen im Innern der Station konnten ohne Schwierigkeit jede Falte in der nackten Haut dieser zwei Karikaturen von Menschen erkennen. Es hatte den Anschein, als würden ihnen diese beiden Wesen präsentiert, denn sie drehten sich so langsam um die eigene Achse, daß man sie ganz genau betrachten konnte. Abgesehen von ein paar Haarstoppeln an der Schädelbasis waren die beiden haarlos. Die Glieder waren verkürzt und verjüngten sich an den Gelenken nicht. Die Bäuche waren stark gebläht. Die eine Gestalt hatte männliche Geschlechtsmerkmale, die andere weibliche. Aber in beiden Fällen waren die Geschlechtsorgane nicht voll ausgebildet. Aus den offenen zahnlosen Mündern drang ein lauter, deutlicher Schrei, in einer höheren Tonlage, als man ihn aus einer menschlichen Kehle erwarten konnte, und ein Gefühl ausdrückend, das keiner der vier begriff. »Jetzt bin ich aber neugierig, wie lange das dauern wird«, sagte Clovis. »Ist es sinnvoll, die Abwehraggregate gegen sie einzusetzen?« fragte Lia. »Was zeigt das Radar an?« »Ich werde nachsehen.« Bruno wandte der Luke den Rücken zu. »Die gefallen mir nicht.« »Warum nicht?« Myri sah, daß er wieder schwitzte.
»Sie erinnern mich an etwas.« »An was?« »Ich versuche nachzudenken.« Aber obwohl Bruno den Rest des Tages nachzudenken versuchte, und zwar mit solcher Hingabe, daß selbst Clovis Anregungen gab, war er der Lösung nicht nähergekommen, als sie sich, wie sie es gewöhnt waren, fünf Minuten vor Mitternacht trennten. Und als in den folgenden Tagen Myri diese Karikaturen ein paarmal in Brunos Gegenwart erwähnte, zeigte er wenig Interesse. »Bruno, ich verstehe dich nicht«, sagte sie eines Abends. »Was ist denn aus deinem eigenartigen Gefühl geworden, das du mir schildern wolltest, als Clovis uns in den Gemeinschaftsraum rief?« Er zuckte mit seinen schmalen Schultern, eine bei ihm eigenartig mädchenhaft wirkende Geste. »Oh, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte er. »Ich denke, ich habe mich bloß über diesen verdammten Analysator geärgert, der ständig ausfiel. In letzter Zeit ist es viel besser geworden.« »Und was ist bei deinem angestrengten Nachdenken herausgekommen?« »Das war reine Zeitverschwendung.« »Bestimmt nicht!« »Doch. Ich bin mit Clovis völlig einer Meinung. Soll die Zentrale doch das Denken übernehmen.« Myri war enttäuscht. Wenn Bruno das Denken aufgab, so kam ihr das wie ein Schlußstrich unter etwas vor, und als sich kurz darauf der Lautsprecher im Gemeinschaftsraum einschaltete, verstärkte sich dieses Gefühl noch. Ohne Vorrede, bloß von den üblichen statischen Geräuschen begleitet, sagte eine fremde Stimme: »Achtung bitte! Hier spricht die Zentrale über Ihre Sprechanlage.«
Sie blickten überrascht auf. Besonders Clovis, der schnell zu Bruno gewandt fragte: »Ist das denn möglich?« »O ja. Die haben experimentiert«, antwortete Bruno ebenso schnell. »Es ist nicht ohne Ironie«, fuhr die Stimme fort, »daß die erste Sendung, die wir auf diesem Weg an Sie richten können, zugleich die letzte sein wird, die Sie empfangen werden. Die Unterhaltung von Weltraumstationen hat sich seit einiger Zeit als unwirtschaftlich erwiesen, und es ist daher entschieden worden, das Experiment abzubrechen. Sie werden daher keine weiteren Berichte irgendwelcher Art durchgeben, oder besser gesagt, Sie können, wenn Sie wollen, damit fortfahren, wobei Sie aber davon ausgehen müssen, daß niemand sie empfangen wird. In vielen Fällen ist es glücklicherweise möglich gewesen, die Besatzungen der Stationen abzuholen und zur Erde zurückzubringen. In anderen Fällen, wo die Stationen in weit entfernten Sektoren der Galaxis liegen, würde der für die Evakuierung erforderliche Aufwand an Zeit und Mühe prohibitiv sein. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihre Station in diese Gruppe fällt. Sie werden nicht abgelöst werden. Wir alle hier sind davon überzeugt, daß Sie diese neue Situation mit Würde zu tragen wissen werden. Ehe wir die Verbindung abbrechen, habe ich noch eine Mitteilung zu machen. Das, was ich Ihnen zu eröffnen habe, wird für Sie möglicherweise so unangenehm sein, daß es mir sehr schwer fällt, es auszusprechen. Meine Kollegen haben jedoch darauf bestanden, daß Sie die ganze Wahrheit erfahren. Ich muß Ihnen also mitteilen, daß wir entgegen früheren anderslautenden Informationen, die Ihnen zugeleitet wurden, bisher von keiner anderen Station Berichte erhalten haben, die auch nur im Entferntesten dem entsprochen hätten, was Sie uns über eigenartige Phänomene, die Sie wahrgenommen zu haben behaupten, mitgeteilt haben. Wir hielten diese Täuschung
bisher für notwendig, um Sie nicht zu beunruhigen. Aber die Zeit, da Täuschungen notwendig waren, ist vorbei. Sie sind ein Einzelfall, und das ist im Hinblick auf die Menschheit als Ganzes keine geringe Auszeichnung. Sie können stolz darauf sein. Leben Sie wohl, für immer.« Sie saßen ohne zu sprechen bis fünf Minuten vor Mitternacht. So sehr Myri sich auch bemühte, sie brachte es nicht fertig, sich ihre Zukunft vorzustellen, und das gelang ihr auch am nächsten Morgen nicht. Länger hatten sie nicht Zeit, sich mit ihrer Isolierung abzufinden, denn am Mittag begann eine neue Phase von eigenartigen Phänomenen. Myri und Lia bereiteten in der Küche das Mittagessen, und Myri öffnete gerade den Geschirrschrank, als sie sich einem flachen, rötlichgefärbten Wesen mit vielen Beinen und einem Paar unterschiedlich großer Greifzangen gegenübersah. Sie stieß einen erstaunten Schrei aus. »Was ist denn?« fragte Lia und eilte zu ihr, und dann fragte sie mit schriller Stimme: »Lebt das?« »Es bewegt sich. Ruf die Männer.« Bis die anderen kamen, starrte Myri das Wesen nur an. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Jetzt auch im Innern, dachte sie immer wieder, nicht bloß draußen. Im Innern. »Wir wollen es uns einmal genauer ansehen«, sagte Clovis. »Gib mir ein Messer oder so etwas.« Er klopfte auf das Wesen, und es hörte sich an, als sei es aus Holz. »Nun, man kann es also nicht nur sehen, sondern auch berühren und hören. Wirklich eine vollkommene Illusion. Sofern es eine Illusion ist.« »Das muß es sein«, sagte Bruno. »Erkennst du es nicht?« »Irgendwie kommt es mir bekannt vor, denke ich.« »Denkst du? Willst du damit sagen, daß du eine Krabbe nicht erkennst, wenn du eine siehst?« »O ja. Natürlich«, sagte Clovis und sah die anderen betreten an. »Jetzt erinnere ich mich. Ein Tier von der Erde, nicht
wahr? Lebt im Wasser. Also muß es eine Illusion sein. Krabben fliegen nicht durch den Weltraum, soweit bekannt, und selbst wenn sie das könnten, dann hätten sie es doch schwer, sich durch die Schalen unserer Stahlkugel zu fressen.« Seine Stimme klang ganz natürlich, und langsam kam Myri über ihr Erstaunen hinweg. Schließlich machte sie den Vorschlag, die Krabbe in den Müllschacht zu werfen. Beim Mittagessen sagte sie: »Das war eine bemerkenswert deutliche Illusion, nicht wahr? Ich frage mich bloß, wie man sie projiziert hat.« »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken«, meinte Bruno. »Wir werden das nie erfahren. Und was würde es uns nützen, selbst wenn wir es erführen?« »Die Wahrheit zu kennen, hat seinen eigenen Wert.« »Das begreife ich nicht.« Lia kam mit dem Kaffee. »Unsere Krabbe ist wieder da«, sagte sie. »Oder es ist eine andere. Das läßt sich nicht sagen.« Während des Nachmittags tauchten dann noch mehr Krabben oder Artgenossen von ihr auf. Clovis meinte, die Technik, die diese Illusionen produzierte, müsse ihre Grenzen haben, denn schließlich habe keiner von ihnen gesehen, wie so eine Krabbe entstand. Man entdeckte sie immer nur unter einem Bett oder hinter irgendwelchen Geräten. Andererseits wirkten die Illusionen sehr echt, darüber waren sich alle einig und als Myri die achte Krabbe in den Abfallschacht warf, zwickte sie sie in den Finger, so daß sie tatsächlich Schmerz empfand und sogar ein paar Tropfen Blut verlor. »Wieder was Neues«, sagte Clovis. »Eine Illusion, die bei einem von uns tatsächlich einen physikalischen Effekt auslöst. Die werden immer besser.« Am nächsten Morgen kamen die Insekten. Die große Schaltzentrale war plötzlich voll von Tieren, die sie nach einem entsprechenden Hinweis von Bruno als Küchenschaben
erkannten. Beim Mittagessen gab es Motten und Käfer in allen Räumen, und gegen Abend kamen große Fliegen dazu. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt darauf, den Insekten auszuweichen. Der Tag verstrich, ohne daß Clovis Myri aufforderte, mit ihm zu kommen. Das war noch nie geschehen. Am folgenden Nachmittag ergab sich ein neues Problem. Lia verkündete, daß es im Garten weder Obst noch Gemüse gab – jedenfalls nichts, was mit ihren Wahrnehmungssinnen feststellbar gewesen wäre. Die anderen drei pflichteten ihr bei. Clovis kleidete ihre Gefühle in Worte, indem er sagte: »Wenn das eine Illusion ist, dann ist sie ebenso wirksam wie die Wirklichkeit; denn Früchte und Gemüse, die man nicht findet, sind genauso, als gäbe es sie überhaupt nicht.« Beim Abendessen brauchten sie ihre gesamten Nahrungsmittel auf. Kurz nach zwei Uhr morgens wurde Myri von Clovis geweckt, der über den Lautsprecher verkündete: »An alle. Eigenartiges Phänomen. Kommt sofort in den Gemeinschaftsraum.« Unterwegs bemerkte sie, daß das Schweigen, an das alle sich gewöhnt hatten, irgendwie anders war. Es war ein tieferes Schweigen, gerade so, als hätte irgendein Laut an der Schwelle der Hörbarkeit plötzlich aufgehört. Und unter den Füßen spürten sie ungewohnte Schwingungen. Clovis stand an der Luke und spähte hinaus. »Schau dir das an, Myri«, sagte er. In der Ferne – unmöglich zu sagen, wie weit entfernt – war ein Rechteck aus Licht aufgetaucht. Die Helligkeit des Lichtes entsprach der im Innern der Kugel. Gelegentlich flackerte es. »Was ist das?« fragte Myri. »Ich weiß nicht, es ist gerade erst aufgetaucht.«
Der Boden unter ihnen zuckte. »Das hat mich geweckt, dieses Zittern im Boden. Ah, da bist du ja, Bruno. Was hältst du davon?« Brunos große Augen wurden noch größer, aber er sagte nichts. Kurz darauf kam Lia und schloß sich der schweigenden Gruppe an der Luke an. Wieder erzitterte die Kugel. Ein Gefäß in der Küche fiel zu Boden. Und dann sagte Myri: »Ich sehe so etwas wie Stufen von der unteren Lichtkante ausgehen. Drei oder vier sind es, vielleicht auch mehr.« Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als vor ihnen ein Schatten auftauchte, ein Schatten, den das Rechteck aus Licht auf eine Oberfläche warf, die sie nicht sehen konnten. Der Schatten erschien ihnen unendlich groß, aber es war ohne Zweifel der Schatten eines Mannes. Kurz darauf wurde der Mann selber sichtbar, von Licht umgeben. Er kam die Treppe herunter. Noch ein paar Augenblicke, dann schien er nur noch wenige Meter von der Luke entfernt zu sein und zu ihnen hereinzublicken. Das Licht, das aus der Luke fiel, beleuchtete seinen Oberkörper. Er war ein gutgebauter Mann in einem grauen Uniformjackett und einem Metallhelm. Ein Gegenstand, den sie für eine Art von Gewehr hielten, hing über seiner Schulter. Während er sie beobachtete, kamen zwei weitere ähnlich gekleidete Gestalten die Treppe herunter und schlossen sich ihm an. Eine kurze Weile standen die drei da, dann trat er nach rechts weg, so als bewegte er sich auf einer ebenen Fläche. Keiner von den vier Menschen in der Kugel sprach oder bewegte sich, nicht einmal dann, als in der Wand unmittelbar vor ihnen ein Geräusch laut wurde, wie wenn Riegel zurückgezogen wurden, ja nicht einmal, als die gesamte Wandfläche sich von ihnen entfernte, wie eine Tür, die sich nach außen öffnet, und die drei Männer die Kugel betraten.
Zwei von ihnen hatten die Waffen von der Schulter genommen. Myri erinnerte sich plötzlich daran, wie sie vor Wochen in der Küche auf dem Boden gekniet und aufgestanden war. Sie hatte sich dabei an einer Schranktür gestoßen, die Lia versehentlich offengelassen hatte. Das Gefühl, das Myri jetzt empfand, war ähnlich, bloß daß sie keinen physischen Schmerz spürte. Eine andere Erinnerung, eine viel schwächere, schoß durch ihre Gedanken: jemand hatte einmal versucht, ihr die Ähnlichkeit zwischen einem bestimmten Geisteszustand und der körperlichen Empfindung eines gewissen Schmerzes zu erklären, und sie hatte nicht begriffen. Jetzt verblaßte die Erinnerung. Der Mann, der zuerst aufgetaucht war, sagte: »Krempeln Sie die Ärmel hoch.« Clovis sah ihn an und zeigte jetzt viel weniger Verblüffung als noch vor ein paar Minuten, als Myri zu ihm an die Luke gekommen war. »Sie sind eine Illusion«, sagte er. »Nein, das bin ich nicht. Krempeln Sie die Ärmel hoch.« Sie gehorchten, und er beobachtete sie ungeduldig, weil sie sich so langsam bewegten. Der andere, der die Waffe in der Hand hielt, war ein jüngerer Mann, und er sagte: »Sei nicht so streng, Allan. Wir haben keine Ahnung, was die durchgemacht haben.« »Ich will kein Risiko eingehen«, sagte Allan. »Ich muß immer noch an die in den Bäumen denken. Es geschieht zu ihrem eigenen Nutzen«, fuhr er dann fort und wandte sich wieder den vieren zu. »Verhalten Sie sich ruhig. Los, Douglas.« Der dritte Mann trat vor. Myri erkannte, daß das, was er in der Hand hielt, eine Injektionsspritze war. Er ergriff ihren bloßen Arm und verabreichte ihr die Injektion. Ihre Gefühle veränderten sich sofort. Zwar empfand sie noch eine Art
geistigen Unbehagens, aber weder das, noch irgend etwas anderes schien für sie wichtig zu sein. Nach einer Weile hörte sie den jungen Mann sagen: »Sie können jetzt die Ärmel wieder herunterrollen. Seien Sie versichert, daß Ihnen nichts Böses geschehen wird.« »Kommen Sie mit uns«, sagte Allan. Myri und die anderen folgten den drei Männern aus der Kugel über einen harten, rauhen Boden, der Beton sein mochte, und die Stufen hinauf. Insgesamt legten sie vielleicht zehn Meter zurück. Sie betraten einen künstlich beleuchteten Korridor und dann einen Raum, in den Sonnenlicht fiel. Zwanzig oder dreißig Leute waren in dem Raum. Einige von ihnen trugen die graue Uniform. Hie und da zitterten die Wände, so wie die Kugel gezittert hatte, aber man vernahm in der Ferne Explosionen. Von Zeit zu Zeit hörte man auch undeutliche Rufe. Allans Stimme sagte laut: »Jetzt wollen wir versuchen, etwas Ordnung in die Sache zu bringen. Douglas, es wird nötig sein, daß du dich jetzt um die Leute im Tank kümmerst. Man hat sie so konditioniert, daß sie sich für Wasserlebewesen halten. Du wirst also gut daran tun, ihnen eine Injektion zu verpassen, die sie sofort völlig betäubt. Holmes läßt jetzt den Tank ab. Geh nur. Und du, James, du paßt auf die Leute hier auf, während ich versuchen will, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Ich wünschte, die Psychotechniker würden endlich kommen. Wir tappen buchstäblich im dunkeln.« Seine Stimme entfernte sich. »Sergeant – schaffen Sie diese Leute hier weg.« »Wohin, Sir?« »Ist mir egal, bloß weg. Und passen Sie auf sie auf.« »Alle haben Injektionen bekommen, Sir.« »Ich weiß. Aber sehen Sie sie sich doch an! Das sind doch keine Menschen mehr. Und es hat auch keinen Sinn, mit ihnen
zu reden. Man hat ihnen die Sprache genommen. Deshalb sind sie ja so geworden. Und jetzt schaffen Sie sie weg.« Myri blickte langsam den jungen Mann an, der bei ihnen stand. James hieß er. »Wo sind wir?« fragte sie. James zögerte. »Ich habe Befehl, Ihnen nichts zu sagen«, erklärte er. »Sie sollen warten, bis das Psychotechniker-Team kommt und Sie behandelt.« »Bitte.« »Meinetwegen. Dürfte Ihnen ja nichts ausmachen, denke ich. Sie vier und eine Anzahl weiterer Gruppen von Menschen sind verschiedenen Experimenten unterzogen worden. Dieses Gebäude gehört zum Komplex der Experimentalstation Nummer vier, oder besser gesagt, gehörte dazu. Die Regierung, die diese Einrichtungen schaffen ließ, existiert nicht mehr. Die Revolutionsarmee, der ich angehöre, hat sie gestürzt. Wir mußten uns mit Waffengewalt hier Zutritt verschaffen. Draußen wird noch gekämpft.« »Dann waren wir überhaupt nicht im Weltraum.« »Nein.« »Warum hat man uns das dann weisgemacht?« »Das wissen wir noch nicht.« »Und wie hat man es erreicht, daß wir es glaubten?« »Anscheinend irgendeine neue Form von Tiefenhypnose, die wahrscheinlich in regelmäßigen Abständen erneuert wurde. Das und verschiedene Geräte, die Illusion erzeugten. Daran arbeiten wir noch. Und das sind für den Augenblick genügend Fragen. Am besten setzen Sie sich.« »Danke. Was ist das – Hypnose?« »O natürlich, dieses Wissen hat man Ihnen genommen. Man wird Ihnen das später alles erklären!« »James! Komm, sieh dir das an«, rief Allan. »Ich kann nichts damit anfangen.«
Myri folgte James einige Schritte. In dem Stimmengewirr von einigen ihr unbekannten Sprachen hörte sie James fragen: »Ist das die richtige Akte? Beseitigung von Angstzuständen?« »Das muß sie sein«, antwortete Allan. »Hier ist der letzte vollständige Eintrag. Bruno V beseitigt und durch Bruno VI ersetzt. Ebenso Gedächtnisanpassung der anderen drei Versuchspersonen. Aktennotiz an Präparations-Zentrale: Wiederholung des Persönlichkeitstyps Bruno V mit stark ausgeprägter Wißbegierde ist zu vermeiden. Der hat wohl angefangen zu kapieren, was mit ihm vorging, was? Möchte wissen, was die mit ihm angestellt haben.« »Drüben im anderen Gebäude ist doch die Psycho-Station, die noch durchsucht wird; vielleicht ist er dort.« »Zweifellos, zusammen mit den Brunos I bis IV. Aber das ist im Augenblick nicht wichtig. Hier. Vorgang: Vorletzte Phase. Beseitigung jeglichen Vertrauens; Unterbrechung der Kommunikation; totale Verneinung möglicher Ablösung, Einführung des Einmaligkeits-Syndroms; Umgebung als verwundbar dargestellt; Krise in Vorbereitung (Nahrungsentzug). Diesen letzten Eintrag begreife ich. Aber verhungert sehen sie nicht aus.« »Vielleicht hat man erst kürzlich damit angefangen.« »Nun, wir werden ihnen gleich zu essen geben. Aber das Folgende kapiere ich nicht, James. Ergebnis: Wenig Veränderung. Reaktionen schwach. Zunehmende Verarmung des Gefühlslebens und des Wortschatzes (vergleiche Abschnitt der von Myri VII geschriebenen Erzählung mit den Textbeiträgen ihrer Vorgängerinnen). Prognose: Weitere Verschlechterung; katatonische Apathie. Experiment gescheitert. Das ist jedenfalls beruhigend. Aber was hat das mit der Beseitigung von Angstzuständen zu tun?« Sie hörten plötzlich auf zu reden, und Myri folgte ihren Blicken. Eine Tür war geöffnet worden, und der Mann, den sie
Douglas genannt hatten, kam mit einer Anzahl Uniformierter herein, von denen jeder eine menschliche Gestalt stützte oder trug, die in eine Decke gehüllt war. »Das muß die Gruppe aus dem Tank sein«, hörte sie Allan oder James sagen. Myri sah zu, wie die Leute in den Decken auf Bänke oder auf den Boden gesetzt wurden. Einer blieb völlig in seine Decke eingehüllt, und niemand achtete auf ihn. »Dem ist wohl nicht mehr zu helfen, wie?« »Schock, fürchte ich.« Douglas’ Stimme schwankte. »Wir konnten nichts mehr tun. Vielleicht hätten wir nicht – « Myri beugte sich vor und hob den Zipfel der Decke hoch. Was sie sah, war viel fremdartiger als alles, was sie in der Kugel erlebt hatte. »Was ist mit ihm los?« fragte sie James. »Was mit ihm los ist? Man kann an Schock sterben.« »Man kann was?« Myri starrte James an und bemerkte, daß sich sein Gesicht verzerrt hatte. Sie erkannte verschiedenartige Empfindungen. Eine davon war Verstehen. All die anderen waren schmerzhaft anzusehen. Sie gaben das wider, was sie selbst empfand. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und sie rannte aus dem Raum, rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, die Treppe hinunter, durch den Korridor und zurück in die Kugel. James fand sich in der Kugel nicht so gut zurecht wie sie und erreichte sie erst, als sie das Manuskript ihrer Erzählung aufgehoben hatte und es hinter verschränkten Armen gegen die Brust preßte. Sie war auf ihr Bett gefallen und hatte die Knie so weit hochgezogen, wie es nur gerade ging, und den Kopf nach vorn gebeugt, wie im Mutterleib vor ihrer Geburt, ein Ereignis, von dem sie nichts wußte. Sie befand sich in der gleichen Haltung, als Tage später jemand sich neben sie setzte. »Myri, du mußt mich doch kennen. Öffne die Augen, Myri. Komm heraus.«
Nachdem er das mit der gleichen sanften Stimme ein paar hundertmal gesagt hatte, öffnete sie die Augen einen Spalt. Sie war in einem langen, hohen Raum, und neben ihr saß ein dicker Mann mit blasser schwammiger Haut. Er erinnerte sie an etwas, das mit dem Weltraum und mit Denken zu tun hatte. Sie schloß die Augen wieder. »Myri. Ich weiß, daß du dich an mich erinnerst. Öffne die Augen wieder.« Sie hielt sie geschlossen, und er redete immer weiter. »Mach die Augen auf. Streck den Körper aus.« Sie bewegte sich nicht. »Streck dich, Myri, ich liebe dich.« Langsam streckte sie die Beine aus, und ihr Kopf begann sich zu heben…
Originaltitel: SOMETHING STRANGE. Copyright © 1962 by Kingsley Amis. Aus »From My Enemy’s Enemy« und MAGAZINE OF FANTASY AND SCIENCE FICTION, July 1961.
J. T. McIntosh EINHEITSDENKEN
Als A. D. mich anrief und mich zum Mittagessen einlud, wußte ich, daß er etwas wollte. Ich hatte A. D. schon lange gekannt, lange genug, um zu wissen, wann er nur freundlich war und wann er etwas im Schilde führte. A. D. Young war bei der E. B. beschäftigt, einem sehr wichtigen internationalen Oktopoden, dessen Tentakel beinahe alle besiedelten Welten der Galaxis erreichten. Was er in der Organisation trieb, wußte ich nicht, aber er war bestimmt kein fünfundvierzigjähriger Bürobote. Und jetzt hatte ich das Gefühl, daß er mir eine Stelle anbieten wollte. Das interessierte mich, weil ich im Augenblick keine Anstellung hatte. Und ich war inzwischen in die Jahre gekommen, wo es einem etwas ausmachte, ob man eine Stellung hatte oder nicht. Oh, ich hatte ein- oder zweitausend auf dem Bankkonto liegen und würde bestimmt nicht verhungern. Das war es nicht, was mich beunruhigte. Es ist nur so, daß man, wenn man älter wird, immer mehr von seinem Leben erwartet. Ich war genauso alt wie A. D. – fünfundvierzig, unverheiratet und von Beruf Geschäftsführer –, nur daß ich gerade kein Geschäft zu führen hatte. Vor zwanzig Jahren hätte ich jeden Job bei jeder Bezahlung angenommen – einfach so – aber inzwischen hatte ich mich an vier anständige Mahlzeiten pro Tag und verschiedene andere Dinge gewöhnt, die einfach ein regelmäßiges fünfstelliges Einkommen voraussetzten.
Im Augenblick hatte ich überhaupt kein Einkommen. Ich hätte Bentley nicht sagen sollen, was ich von ihm hielt. Oder wenn ich es ihm schon sagen mußte, hätte ich es zumindest nicht so formulieren dürfen, daß er es begriff. Oder wenn ich es ihm sogar so sagen mußte, daß er es begriff, dann hätte ich warten müssen, bis ich in der Lage war, ihn zu feuern, statt daß er mich feuern konnte. Das erklärt wahrscheinlich, warum der Vorschlag von A. D. mich interessierte. Die Idee interessierte mich nicht sonderlich, im Augenblick wenigstens nicht. Mich interessierte einzig und allein ein Job, der wenigstens dreißigtausend Dollar im Jahr einbrachte. A. D. kam sofort zur Sache. »Ich weiß, daß du frei bist, Edgar«, sagte er. »Ich habe mich erkundigt. Willst du einen Job bei der E. B. haben?« »Der E. B.?« fragte ich, als hätte ich noch nie davon gehört. »Einheitsbehörde«, half A. D. nach. »Da bist du falsch verbunden, A. D.«, sagte ich. »Ich bin so mit mir zufrieden, wie ich bin.« »Ich meine nicht als Einheitsmitglied. Ich meine als Einheitsvater.« Die Idee sagte mir schon besser zu. Dabei schmeckte sogar A. Ds. sehr gute Zigarre noch besser. Einheitsväter waren sehr wichtige Leute. Ich würde meine dreißigtausend Dollar kriegen. Dennoch ließ ich mir mein Interesse nicht anmerken. »Versuch nicht erst, dich zu zieren«, sagte A. D. »Du bekommst das gleiche Gehalt, ob du jetzt den Job brauchst oder nicht.« »Ich brauche den Job nicht«, antwortete ich. »Und wie kommt du eigentlich auf die Idee, daß Geld für mich so wichtig ist?« »Ich habe dich beobachtet«, sagte A. D. trocken. Darauf gab es keine Antwort, also suchte ich auch gar keine. »Und was für eine Arbeit sollte meine Einheit denn tun?«
fragte ich vorsichtig. »Und würde das hier auf der Erde sein oder in irgendeinem gottverlassenen Loch am anderen Ende der Galaxis?« A. D. schüttelte den Kopf. »Das erfährst du nicht. Deine Einheit könnte hier eine Fabrik betreiben… oder nach Perrion geschickt werden.« »Perrion«, murmelte ich. »Das ist allerdings ein gottverlassenes Loch, nach allem, was ich davon gehört habe.« »Es überrascht mich, daß du davon gehört hast.« »Oh, einiges weiß ich nun auch«, sagte ich. »Ich kann zum Beispiel lesen und sonst noch alles möglich.« Aber ich war noch nicht zufrieden. Irgend etwas war hier faul. »Du hast noch einen Hintergedanken, A. D.«, sagte ich. »Schließlich kenne ich dich doch. Ich möchte gern wissen, worauf ich mich einlasse. Komm, rück raus mit der Sprache.« »Du würdest es ohnehin erfahren müssen«, sagte A. D;, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ich kenne dich, Edgar. Auf der rechten Seite trägst du deine Brieftasche, und auf der linken dein Herz. Du bringst die beiden nie durcheinander. Das verstehe ich. Du wirst ein guter Einheitsvater sein. Du hast genau die richtige Mischung von Dickköpfigkeit und Humanität.« »Mir kommen gleich die Dankestränen«, sagte ich. »Und was soll das Ganze?« »Meine Tochter meldet sich freiwillig zu einer Einheit«, sagte A. D. leise. »Heute.« »Warum?« fragte ich erstaunt. »Das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur dies: Ich kann sie nicht daran hindern, und wenn sie einmal Einheitsmitglied ist, wird sie nicht mehr wissen, wer sie vorher war. Vielleicht sehe ich sie nie wieder. Jedenfalls wird man mir nicht gestatten, ihr zu sagen, daß ich ihr Vater bin. Ich werde überhaupt nichts für sie tun können.«
Er hielt inne. Ich sagte nichts. »Nachdem Lorraine sich freiwillig zu einer Einheit gemeldet hat«, fuhr A. D. fort, »werden sie und ich nichts mehr füreinander bedeuten. Ich werde zwar erfahren, wie es ihr geht und vielleicht auch irgendeine Ausrede erfinden können, um sie gelegentlich im E. B.-Depot zu besuchen. Aber das ist alles. Begreifst du jetzt?« Ich nickte. »Ich werde dich auch nicht sehr oft sehen«, sagte A. D. »Aber zumindest werde ich wissen, daß du dich um die Einheit kümmern wirst, der Lorraine angehört. Das ist schon etwas.« »Das wirst du arrangieren können?« fragte ich interessiert. »Ja.« Ich überlegte. Mein Mitgefühl drückte ich A. D. nicht aus. A. D. war nicht der Mann, der Mitgefühl wollte oder brauchte. Jetzt wußte ich, was hier gespielt wurde. »Da hast du drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, meinte ich. »Erstens, dein alter Freund hat keinen Job, und du kannst ihm einen verschaffen. Zweitens, ihr braucht ohnehin Einheitsväter. Drittens, du möchtest, daß auf Lorraine aufgepaßt wird, nachdem sie Einheitsmitglied geworden ist.« »Viertens«, ergänzte A. D. »man kann sich auf dich verlassen. Du weißt ja, wie es ist. Wenn du verbreiten würdest, ich hätte dir gesagt, wo deine Einheit eingesetzt werden soll, und gleichzeitig dafür gesorgt, daß meine Tochter einer Einheit zugeteilt wird, die von einem Freund von mir geleitet werden soll, dann würden die mich in siedendem Öl kochen. Aber du wirst das für dich behalten.« »Okay«, sagte ich. »Also vier Fliegen mit einer Klappe.« »Und du wirst es machen?« »Ja. Meine Brieftasche hat gerade mein Herz überzeugt – oder andersrum.« Also ging ich ins Einheitsdepot und wurde Vater.
Am Nachmittag sah ich zu, wie meine Kinder hereinkamen. Hereinkamen, nicht geboren wurden. Ich saß mit einem Techniker hinter einer einseitig verspiegelten Glasscheibe und sah zu, wie ein Psychologe Leute interviewte. Mich hatte man auch interviewt. Ich hatte die Prüfung als Einheitsvater summa cum laude bestanden. Man sagte mir, ich hätte schon lange Einheitsvater werden sollen. Ich antwortete, ich hätte noch nie die richtige Frau kennengelernt. Sie sahen mich an, als hatten sie das noch nie gehört. A. D. sah ich nicht. Er war offenbar einer der Männer hinter der Bühne. Jedenfalls hatte er an den richtigen Drähten gezogen, denn Lorraine war die erste Person, deren Interview ich mit ansah. Ich hatte Lorraine ein- oder zweimal gesehen, gewöhnlich, wenn sie gerade im Begriff war, irgendwohin zu fahren. Wir kannten uns also nur ganz flüchtig. Erst als ich Zeit für einen langen, gründlichen Blick durch die Scheibe im E. B. Depot gehabt hatte, erkannte ich, daß Lorraine eine Schönheit war. Sie hatte das Gesicht und die Figur, die man erst eine Weile betrachten muß, ehe einem plötzlich klar wird, wie schön das Mädchen doch ist. Ihre Nase war zu klein und ihre Stirn zu hoch. Sie wirkte unbedeutend, bis sie sich erregte oder zornig wurde, und dann sah man plötzlich, daß sie ein ganz anderer Mensch war. »Und jetzt sagen Sie mir bitte, Miss Young«, sagte der Psychologe freundlich, »weshalb Sie hier sind.« »Muß ich Ihnen das sagen?« fragte Lorraine und biß sich auf die Lippen. »Nein. Aber bei den Tests bringen wir es ohnehin heraus.« Wieder biß sie sich auf die Lippen. Dann blickte sie plötzlich auf. »Nun, wenn Sie es wissen müssen«, sagte sie trotzig,
»dann hatte ich die Wahl zwischen diesem Schritt und Selbstmord.« Sie rechnete damit, den Psychologen zu schocken, aber das hätte sie eigentlich besser wissen müssen. Zum ersten war er ein guter Psychologe, zum zweiten sah er jede Woche Dutzende von Leuten, die sich freiwillig zu einer Einheit gemeldet hatten, weil sie nur die Wahl zwischen dem und Selbstmord hatten. Er nickte. »Warum?« fragte er einfach. »Ich habe den Mann, den ich liebe, verloren«, sagte sie. Er blickte weder überrascht auf, noch fragte er sie, ob es wirklich so ernst wäre. Offenbar war es so ernst, sonst wäre sie nicht hier gewesen. Außerdem glaubte er ohnehin nicht alles, was sie sagte. Das würde sich später bei den Tests erweisen. »Wir brauchen Freiwillige, Miss Young«, sagte der Psychologe, »aber wir wollen keine Leute haben, die impulsiv hierhergekommen sind und es später bereuen. Wenn Sie – – « »Ich werde es mir nicht anders überlegen.« »Das ist es nicht. Das können Sie nämlich gar nicht. Sind Sie sicher, daß Sie… sagen wir in drei Monaten… es immer noch tun wollen?« »In drei Monaten«, sagte Lorraine bitter, »würde es mich gar nicht mehr geben.« »Wann ist das passiert, Miss Young? Ich meine, seit wann sind Sie – « »Wir haben uns vor zwei Wochen getrennt.« »Das ist lange genug«, räumte der Psychologe ein. »Wenn Sie sich Ihrer Sache ganz sicher sind, kann ich Sie nicht ablehnen.« »Ich bin ganz sicher.« Dann kam der Vortest, dem ich zum größten Teil beiwohnte. Er dauerte ziemlich lange, und nach einer Weile ging der
Techniker, der mich begleitete, weg und ließ mich allein. Mich interessierte der Test, weil er Lorraine betraf. Ich fragte mich, wie A. D. als Vater sein mochte. War es sein Fehler, daß Lorraine im Alter von zweiundzwanzig Jahren plötzlich fühlte, daß ihr Leben gescheitert sei? Vielleicht, dachte ich, und wenn, dann nur deswegen, weil sie verwöhnt worden war. Sie hatte immer alles bekommen, was sie wollte, und deshalb bedeutete es für sie das Ende der Welt, als der Mann, den sie haben wollte, sie nicht wollte. Ich erfuhr eine ganze Menge über Lorraine, während ich zusah, wie sie jedem erdenklichen psychologischen Test unterzogen wurde – Intelligenz, Stabilität, Geschicklichkeit, Persönlichkeit, Psychosomatische Einstellung, Wortassoziationen, alles mögliche, was man sich denken konnte, und einiges, was man sich nicht denken konnte. Und dann wurde mir klar, was mir eigentlich schon lange hätte klar werden müssen, daß all das nichts zu bedeuten hatte. Lorraine, so wie sie jetzt war, würde in einigen Minuten oder Stunden aufhören zu existieren, und die Lorraine, die ich kennen würde, würde erst dann zu wachsen beginnen. Ich stand auf und folgte dem Techniker. Lorraine wurde immer noch getestet.
Obwohl es inzwischen Spätnachmittag geworden war, sagte mir der Techniker, daß meine Einheit noch fertiggestellt werden würde, ehe das Depot für heute schloß. Es war bis Mitternacht geöffnet und arbeitete, wie der Techniker mir erklärte, hauptsächlich abends. Die nächste Person, die interviewt wurde, war Dick Lowson. Das war nicht sein Name, aber es war der Name, den man ihm später gab, der Name, unter dem ich ihn kannte.
Männer und Frauen, die sich Einheiten anschließen, müssen mit ihrem Vorleben völlig brechen. Gewöhnlich gibt man ihnen neue Namen und manchmal sogar neue Gesichter. Lorraines Vorname wurde aus irgendeinem Grund nicht geändert, aber ihr Familienname sehr wohl. Sie hieß jetzt Lorraine Waterson – aber das ist nicht wichtig. Dick war ein hochgewachsener, schlanker Mann um die Dreißig, dem das Haar bereits auszugehen begann. Er war launisch, verträumt und gleichgültig. »Wie würden Sie denn Ihr Problem mit Ihren Worten beschreiben?« fragte der Psychologe. Dick starrte uns an und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. Ich rutschte unruhig zur Seite. »Er kann uns nicht sehen«, murmelte der Techniker. »Er starrt bloß in den Spiegel.« »Wie viele Leute sitzen denn hinter diesem Spiegel?« fragte Dick. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab. »Ist egal. Bringen Sie sie herein, wenn Sie wollen. Wie ich mein Problem beschreiben würde – ist das wichtig?« »Ja«, nickte der Psychologe. Dick zuckte erneut die Achseln. »Na schön. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich war ein Wunderknabe. Einser in allen Fächern, und außerhalb der Schule auch überall Spitze. Genügend Geld von allen möglichen Jobs, die ich nebenher hatte, gesellschaftlicher Erfolg. Mädchen… Als ich fünfzehn war, hatte ich sechs Mädchen nebeneinander – – ich frage mich bloß, warum ich mir je die Mühe gemacht habe. Als ich zwanzig war, hatte ich alles schon hinter mir. Sieben oder acht Jahre lang tat ich es immer wieder, und es machte mir immer weniger Spaß – Geld machen, Spiele gewinnen, Sachen kaufen, Sachen verkaufen und die Zahl der Jungfrauen in den Vereinigten Staaten dezimieren. In den letzten drei
Jahren habe ich praktisch überhaupt nichts getan. Es scheint einfach nicht der Mühe wert.« Er seufzte. »Und jetzt möchte ich die Tafel leerwischen und wieder von vorn anfangen.« Der Psychologe nickte. »Sie haben einen sehr hohen Intelligenzquotienten«, meinte er. »Klar. Habe ich nicht Glück? Alle wollen klug sein. Fundamentaler Irrtum! Wenn sie dumm sind, geht alles viel leichter. Je klüger sie sind, desto komplizierter werden die Dinge. Werden Sie mich dumm machen?« »Nein. Sie werden das Gehirn einer Einheit sein.« »Da bin ich Ihnen aber dankbar.« »Und es wird Ihnen gefallen.« »Gut. Was mache ich jetzt?« Der Psychologe sagte ihm, was er tun sollte. In der dunklen Kammer murmelte ich: »Das muß schrecklich sein.« »Was muß schrecklich sein?« fragte der Techniker. »Alles getan zu haben, ehe man dreißig ist.« »Er hat nicht alles getan. Das bildet er sich bloß ein.« »Nun, es muß auch schrecklich sein zu glauben, daß man alles getan hat, ehe man dreißig ist.« »Neurose«, sagte der Techniker. »Das biegen wir schon zurecht.« »Was ist denn dieser Klärungsprozeß genau?« »Wir wischen das Gehirn einfach leer. Erfahrung, Erinnerung, Sprache, Neurosen – alles weg. Zurück bleibt bloß Kapazität und sonst nicht viel. Dann können wir sie richtig ausbilden.« »Klingt ziemlich unmenschlich.« »Unsinn. Mitglieder von Einheiten sind glücklicher, gesünder und viel nützlicher als alle anderen Menschen. Viel mehr als Sie oder ich.«
»Warum melden wir uns dann nicht freiwillig?« Der Techniker grinste. »Warum bemühen sich die Christen eigentlich so angestrengt, so spät wie möglich in den Himmel zu kommen?«
Ich sah zu wie eine Menge Leute interviewt wurden, und natürlich wurden viele davon nicht meiner Einheit zugewiesen. Das Depot bearbeitete am Tag etwa zwanzig Leute, vier Einheiten. Ich gehe nicht weiter auf jene ein, die nicht meiner Gruppe zugewiesen wurden. Ich werde die anderen ohnehin bald vergessen. Alle außer Lorraine und Helen bekamen später neue Namen. Vielleicht war es nicht der Mühe wert, einen Namen wie Helen zu ändern – es gibt so viele davon. Helen hätte eine Schönheit sein können, wenn eines nicht gewesen wäre. Aber das war sehr wichtig. Ihr Gesicht hatte weniger Leben als das Foto auf dem Umschlag einer Illustrierten. Und wenn ihr Ausdruck sich veränderte, so wirkte das noch maskenhafter. Lächeln: Spannen der Wangenmuskeln. Lachen: Mund öffnen, Stimmbänder schwingen lassen. Stirnrunzeln: Stirnmuskeln spannen. Ein Roboter hätte es genau so gut tun können. »Was soll das heißen, ob die Polizei hinter mir her ist?« wollte sie wissen. »Warum sollte die Polizei hinter mir her sein?« »Uns kommt es nur darauf an«, sagte der Psychologe, »wie dicht sie Ihnen schon auf den Fersen sind.« Er war ein guter Psychologe. Er wußte, was er sagen mußte, um Kontakt zu bekommen. Helen beruhigte sich. »Sie meinen, es ist Ihnen egal?«
»Aber sicher. Nachdem man Ihre Unbedenklichkeit bescheinigt hat, haben Sie bestimmt keine kriminellen Neigungen mehr.« »Was, Sie Schwein, Sie wollen behaupten, ich – « »Nein. Ich will gar nichts behaupten. Wie dicht ist Ihnen die Polizei auf den Fersen?« »Noch weit weg. Aber sie könnten mich einholen«, gab Helen zu. »Sagen Sie, wenn man mit dem Bescheinigen der Unbedenklichkeit, wie Sie es nennen, kriminelle Neigungen ausschalten kann, wie kommt es dann, daß Verbrecher sich nicht freiwillig melden können?« »Das können sie, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben. Es ist uns nicht gestattet, Verbrecher hier als Alternative zum Gefängnis aufzunehmen. Wenn wir das täten – nun, dann könnte jeder tun, was ihm paßt, und sich freiwillig zu einer Einheit melden, wenn er festgenommen wird, um der Gefängnisstrafe zu entgehen.« »Das habe ich kapiert«, sagte Helen. »Nun, mir kann keiner etwas anhaben.« Sie blickte nachdenklich auf. »Ich frage mich, was ich nachher sein werde?« »Etwas Wunderbares«, sagte der Psychologe. »Danke«, sagte sie und strahlte mechanisch. »Wahrscheinlich ist das nicht Ihr Ernst, aber trotzdem vielen Dank.« Nach Helen kam Brent. Brent war ein junger, gesunder, gutaussehender Idiot. Die Gesellschaft hatte ihn völlig verdreht, aber selbst im Urzustand konnte er weder sich noch sonst jemandem sehr nützlich gewesen sein. »Welchen Nutzen wird er denn bringen?« fragte ich und ärgerte mich, daß Brent zu meiner Einheit gehören sollte. Lorraine, Dick und sogar Helen hatten alle etwas, das ich schätzen konnte. Aber dieser große, gutaussehende Kretin kam mir ganz und gar nicht nützlich vor.
»Sie sollten wissen«, sagte der Techniker mit einer Spur von Tadel in der Stimme, »daß Sie ohne ein gewisses Maß an Dummheit und Ignoranz überhaupt nichts erreichen können.« Ich sah ihn scharf an, da ich glaubte, in seiner Stimme Sarkasmus zu entdecken, aber die einzige Beleuchtung in unserem Zimmer kam durch die Spiegelglasscheibe, und so sah ich nicht, ob er das, was er gesagt hatte, ernst meinte oder nicht. Nach Brent gab es eine lange Pause. Es wurden zwar Bewerber interviewt, aber der Psychologe gab uns nie das Zeichen, das darauf hinwies, daß die interviewte Person für meine Einheit in Frage kam. »Das kann eine Weile dauern«, flüsterte der Techniker. »Am Ende wird es immer ziemlich kompliziert, eine Einheit zu bilden. Am Anfang kann man jeden gebrauchen. Das ist so, wie wenn man fünf Stücke Kuchen in eine Schachtel tut. Die ersten vier können jede beliebige Größe haben, aber das letzte muß genau die richtige Größe und die richtige Form haben.« »Und was ist mit mir?« wollte ich wissen. »Was bin ich?« »Die Schachtel«, sagte der Techniker. Ich überlegte, ob ich fragen sollte, warum man sich so verhältnismäßig wenig Mühe mit den Einheitsvätern machte, warum alle Mitglieder der Einheit so gründlich behandelt und dann wochenlang ausgebildet wurden, um dann als eine Art Übermenschen wieder zum Vorschein zu kommen, während der Einheitsvater, theoretisch zumindest der Chef des Ganzen, einfach ein gewöhnliches menschliches Wesen war, das nur kurz überprüft und in psychologischer Hinsicht überhaupt nicht repariert wurde, aber ich konnte mir die Frage sparen. Schließlich ahnte ich die Antwort. Die Einheiten werden immer noch sehr argwöhnisch betrachtet. Man benutzt sie, aber man vertraut ihnen noch nicht ganz. An dem ganzen System ist immer noch eine Spur von
Unmenschlichkeit. Die Öffentlichkeit schätzt es nicht, Menschen ausgeliefert zu sein, an deren Gehirn man Veränderungen vorgenommen hat. Daher die Einheitsväter – im Wesen normale Menschen, die in keiner Weise bearbeitet, behandelt oder sonst geistig modifiziert sind. Eine Bremse für die übernormalen Einheitsmitglieder. Ein Sicherheitsventil. Ein Symbol, um zu dokumentieren, daß gewöhnliche Menschen die Meister, die Einheiten die Diener waren. Unser letztes Mitglied kam kurz bevor das Depot schloß. Ich bemerkte das Zeichen des Psychologen und beugte mich interessiert vor. Ione war ein stupsnasiges, unruhiges, unkompliziertes Wesen, das mir auf den ersten Blick gefiel. Ich fragte mich, warum ein Mädchen wie Ione sich zu einer Einheit freiwillig melden sollte – im Alter von neunzehn Jahren. »Ich werde doch nicht völlig anders sein, oder?« fragte sie kokett. »Einige Dinge an mir gefallen mir nämlich.« »Je gesünder und ausgeglichener die Menschen sind, wenn sie hierherkommen«, sagte der Psychologe, »desto weniger verändern sie sich.« »Ich brauche nicht die Zustimmung meiner Eltern, oder?« »Jetzt nicht mehr. Das ist vor zwei Jahren geändert worden. Wären Ihre Eltern dagegen?« »Meine Eltern sind gegen alles«, sagte Ione, und eine Spur von Bitterkeit kam dabei durch. Das war es also. Ione war ein unerwünschtes Kind. Und neunzehn Jahre, nachdem sie unerwünscht das Licht der Welt erblickt hatte, meldete sie sich freiwillig zu einer Einheit. Das war begreiflich. Lorraine und Ione repräsentierten die beiden Gegensätze, die häufig in Einheiten auftauchten. Die verzogenen Kinder, die Kinder, die so vor der Welt geschützt waren, daß es für sie ein unglaublicher, sie zum Krüppel machender Schock war, wenn
die Welt ihnen schließlich einen Tritt versetzte. Und die unerwünschten Kinder, die Kinder, die von gleichgültigen Eltern aufgezogen worden waren und die früh erkannten, daß die Liebe, die andere Kinder als Selbstverständlichkeit hinnahmen, nicht für sie war. Die erste Gruppe selbstbewußt und zu viel vom Leben erwartend. Die zweite Gruppe, die zu wenig erwartete und zu wenig fand. Jetzt, da meine Einheit vollständig war, ließ ich sie noch einmal vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Lorraine, ein Mädchen, das immer alles gehabt hatte, was sie sich wünschte, und das in Stücke gegangen war, als sie sich zum erstenmal etwas gewünscht hatte und die Welt nein gesagt hatte. Dick, ein Mann, der sich in einem Leben langweilte, in dem ihm alles zu leicht und zu früh zugeflogen war. Helen, ohne ein moralisches Empfinden oder weibliche Wärme, hart wie Diamant. Brent, von einer Welt verletzt, in der jeder schneller und klüger als er war. Und Ione, ein Mädchen, das bewundert und geliebt hätte werden müssen und das man immer zurückgewiesen hatte. Es war eine Gruppe nutzloser Leute, fünf Männer und Frauen, die sich mit der Welt und dem Leben angelegt hatten und dabei unterlegen waren. Fünf Versager – und sie würden zu etwas Neuem, Wunderbarem, Vollkommenem verschmelzen.
Ich bekam von dem Behandlungs- und Ausbildungsprozeß eine ganze Menge mit. A. D. sah ich nicht mehr – er war vorsichtig –, und er besuchte Lorraine nicht. Er hatte das natürlich gewußt. Nach dem ersten Tag hätte sie ihn ohnehin nicht mehr erkannt.
Der Geist des gewöhnlichen Menschen ist eine überwucherte Wildnis. Es gibt dort wunderschöne Blumen und Bäume, aber die Blumen sind nicht so zäh wie das Unkraut. Das Unkraut überwuchert riesige Flächen und lauert im Schatten der schönsten Pflanzen und Sträucher. Es zieht die meiste Nahrung aus dem Boden und erstickt häufig die empfindlicheren Blüten. Manchmal, wenn man in einen solchen Dschungel blickt, kann man nur das Unkraut sehen. Jahrhundertelang kämpften die Psychiater einen verzweifelten Kampf gegen dieses Unkraut. Sie konnten zwar das Unkraut abschneiden, aber das war genauso, als versuchte man, dem Hochwasser mit einem kleinen Brett Halt zu gebieten. Was dagegen möglich war, war die ganze Wildnis zu roden und von neuem zu beginnen. Ebenso wie ein umgepolter elektrischer Strom verhindern kann, daß irgendein Gerät magnetisch wird, gab es gewisse künstlich erzeugte Nervenströme, die den ganzen Bewußtseinsinhalt auslöschen konnten, nicht indem man alles übermalte, was bereits existierte, sondern indem man ein Gleichgewicht herstellte, es sozusagen wegkürzte und dann völlig auslöschte. Es war genauso wie wenn man ein schon einmal besprochenes Tonband zum zweitenmal bespricht. Und der gelöschte Geist war zu ehrlichen Dingen fähig. Er lernte schnell und korrekt. Er wußte nicht mehr, daß blonde Männer Schläger sind. Seine Berechnungen für die Sicherheit seines Körpers waren nicht mehr von dem Befehl voreingenommen: bei Gefahr immer nach links springen. Es war nicht mehr nötig, daß Männer sich automatisch in jede Frau verliebten, die sie an ihre Mutter erinnerte. Und wenn ein bestimmtes Muster aus Licht und Schatten auf ihre Augen fiel, empfanden die Frauen nicht länger blendende, Übelkeit erregende Migräne.
All das hätte natürlich nicht viel genützt, wenn das Unkraut wieder hätte nachwachsen können. Das konnte es nämlich nicht. Das Unkraut des Geistes wird mit den Jahren immer zäher und kräftiger. In einem gelöschten Geist konnte auch Unkraut wachsen, aber es würde dreißig Jahre dauern, ehe es sich wieder einnisten konnte. Und gewöhnlich waren Erwachsene im Gegensatz zu Kindern imstande, dieses Unkraut frühzeitig zu erkennen und leicht auszurupfen, lange, ehe eine Gefahr daraus wurde. Und aus diesem Löschungsprozeß waren die Einheiten gewachsen. Je weitläufiger die Grenzen der Menschheit geworden waren, je mehr die Technik, die Erziehung, die Sozialwissenschaften, die Wirtschaft, die Politik und die menschliche Lebenserwartung sich ausdehnten, je mehr der Mensch über die Planeten hinauswuchs und in die Galaxis aufbrach, desto schwieriger und komplizierter wurde die Aufgabe, die Dinge zu lenken. Jede Woche wurden mehr Elektronengehirne eingesetzt, aber die richtige Antwort bekam man nur dann von einem Elektronengehirn, wenn man auf die richtigen Knöpfe drückte. Die Kybernetik half dabei, große Leistungen zu verrichten, aber sie konnte sie nicht selbst erbringen. Die Folge war die Einheit. Fünf gelöschte menschliche Wesen, speziell für eine Aufgabe ausgebildet und auch ausgebildet, miteinander zu arbeiten, jeder trainiert, eine Funktion zu erfüllen und sich darauf zu verlassen, daß die vier anderen den Rest taten – eine solche Einheit konnte Leistungen erbringen, zu denen kein Elektronengehirn fähig war und die selbst tausend Individuen unmöglich gewesen wären. Die Einheiten machten nie Fehler. Das klingt übertrieben, ist es aber nicht. Wenn sie einmal etwas taten, was sich als falsch erwies, so zeigte unweigerlich eine spätere Untersuchung, daß
die Entscheidung dennoch richtig gewesen war. Vielleicht hatten wichtige Informationen gefehlt. Vielleicht hatten sie auch nur die Wahl zwischen einem halben Dutzend Lösungen gehabt, die alle falsch waren. Oder sie hatten zu spät gehandelt. Solche Fehler konnten Einheiten machen – sie konnten zum falschen Zeitpunkt handeln. Aber da sie vernünftig waren und hundert Prozent gesund, auch im geistigen Sinne, weil sie perfekt waren, vollständig, ausgebildet, und da sie eine Einheit waren, konnten sie, wenn sie sich bemühten, einfach keinen Fehler machen. Die Einheitsväter waren eine Art Teamleiter. Manchmal war eine Einheit einfach ein zu verfeinertes Instrument für gewöhnliche Dinge wie das Buchen von Hotelzimmern, das Kaufen einer Fahrkarte oder ähnlich trivialer Dinge. Wenn man es einer Einheit überließ, solche Dinge zu tun, so war das genauso als wenn man ein Skalpell benutzt hätte, um Brot zu schneiden. Das bedeutete nicht, daß ein Brotmesser diese Aufgabe genauso erfüllen konnte. Es bedeutete vielmehr, daß ein Brotmesser diese Aufgabe viel besser erfüllen konnte. Folglich gab es mich – Einheitsvater – Brotmesser. Es dauerte nur drei oder vier Monate, um eine Einheit auszubilden. Darin waren alle allgemeinen Informationen eingeschlossen, die die Mitglieder der Einheit individuell brauchten, um das Leben zu meistern. Zugegeben, es gab enorme Lücken, aber nur Lücken, die man schnell und leicht füllen konnte. Am Ende von drei Monaten befanden sich meine Einheit und ich an Bord eines Schiffes mit Kurs auf Perrion.
Auf Weltraumschiffen ist genügend Zeit, Leute kennenzulernen. Keine Raumreise dauert länger als zwei
Monate, aber zwei Monate sind eine lange Zeit, wenn man nichts anderes zu tun hat als Essen und Schlafen. Auf Schiffsreisen kann man wenigstens Tennis spielen und schwimmen und sich an die Reling lehnen. Auf einem Raumschiff ist das erregendste Spiel, das man spielen kann, Schach. Kartenspielen ist zwar nicht unmöglich, aber die Technik, mit Metallkarten umzugehen und sie über die magnetisierte Tischplatte zu schieben, stört viele Spieler in ihrer Konzentration. Vor der Reise waren wir einander vorgestellt worden. Die fünf, die die Einheit bildeten, waren dazu ausgebildet worden, miteinander zu arbeiten, und ich hatte sie in allen Stadien, sozusagen von der Geburt bis zur Reife, gesehen. Aber erst an Bord der Violin Song hatten wir Zeit, uns zusammenzusetzen und einander kennenzulernen. Am ersten Tag nach unserem Start frühstückte ich mit Dick. »Wir wollen zur Sache kommen«, sagte er schwungvoll. »So, wie ich es verstehe, werden wir nach Perrion geschickt, um dort zwischen den beiden wichtigsten Parteien zu vermitteln. Aber der eigentliche Grund ist, daß Perrion vielleicht der Stützpunkt der Freihändler ist. Das stimmt doch, oder?« Diese nüchterne Darstellung überraschte mich etwas. Im Wesen traf sie zu, aber als man mir davon berichtet hatte, war die Angelegenheit nicht so auf ihre wesentlichen Bestandteile reduziert gewesen. »Stimmt«, sagte ich. »Wenn wir feststellen, daß das zutrifft, daß Perrion wirklich der Stützpunkt der Freihändler ist, was sollen wir dann unternehmen?« »›Geeignete Schritte‹«, sagte ich. Dich nickte. »Carte blanche. Gut. Okay. Ich werd mich mit Perrion beschäftigen. Ich habe da ein Dutzend Bücher. Bis später.«
Er stieß sich durch den Salon, ohne sich der zahlreichen Handgriffe zu bedienen. Das also war der neue, dynamische Dick, das Hirn meiner Einheit. Ein sehr klar denkender junger Mann. Er hatte mit wenigen Worten eine ganze Menge gesagt. Offiziell reisten wir als eine Art von Schiedsrichter nach Perrion. Perrion hatte, wie viele andere Planeten zu vielen anderen Zeiten, andauernde Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden. Meine Einheit nahm die Stelle des Gouverneurs ein und zwar mit der gesamten Macht eines Gouverneurs und wesentlich weiter reichender Verantwortung als ein Gouverneur sie üblicherweise hatte. Wahrscheinlich hätte man selbst dann eine Einheit geschickt, wenn die Frage der Freihändler nicht aufgetreten wäre. Es war Zeit geworden, daß Perrion, eine unfreundliche, unwirkliche, aber klimatisch gesehen milde Welt, ihre erste Einheit bekam. Die Freihändler oder Händler, wie man sie auch nannte, waren Schmuggler. Vor der Einführung der Weltraumfahrt hatte man immer angenommen, daß die Frachtraten fantastisch hoch sein würden, wenn wir einmal zu den Planeten und zu den anderen Sternen reisten. Warum man das annahm, ist nicht ganz klar. Die Schiffe, die wir heutzutage benutzen, kosten im Unterhalt praktisch überhaupt nichts und in der Wartung nicht viel. Zwei Monate reisen ist lang, die meisten Reisen sind kürzer. Im interstellaren Raum spielt der Platz keine Rolle. Es kostet wenig mehr, etwas von der Erde zum Arkturus zu befördern als von Paris nach New York. In manchen Fällen kostet es sogar weniger, Dinge über Lichtjahre von Welt zu Welt zu befördern, als ein paar hundert Kilometer auf der Erde, je nachdem, wieviel Zwischenstadien erforderlich sind. Das führte zu Schwierigkeiten. Neu besiedelte Planeten machten sich gar nicht erst die Mühe, bestimmte Industrien aufzubauen. Es war nicht der Mühe wert, wenn die Produkte
aus New York, Berlin oder London nur wenig mehr kosten als sie in New York, Berlin oder London kosten. Das wiederum führte zu wirtschaftlichem Chaos. Kapital, das zur Erschließung der Kolonien eingesetzt wurde, blieb nicht in den Kolonien, sondern floß zu den Händlern zurück. Nicht zu den Leuten, die die Investitionen getätigt hatten. Die Nachfrage für viele Arten von Gütern begann das Angebot zu übersteigen. Die Erde hatte nicht den Platz für weitere Expansion; die Kolonien hatten ihn, benutzten ihn aber nicht. So wurden die meisten Güter, die in die Kolonien exportiert wurden, mit hohen Zöllen belegt. Nicht Zeitungen, Magazine, Bücher, Filme, Schallplatten. Sehr wohl aber Waschmaschinen, Autos, Radioempfänger, Möbel, Schreibmaschinen, Kleider. Die Zölle wurden nicht erhoben, um die ortsansässigen Industrien zu schützen, sie wurden vielmehr erhoben, um ortsansässige Industrien zu zwingen, ihre Tätigkeit aufzunehmen. Ein neues Gleichgewicht wurde hergestellt. Und damit begann natürlich der Schmuggel. Es war zu leicht. Jeder, der ein Schiff hatte, konnte es voll, sagen wir Waschmaschinen, packen und sie mit einem Profit von vierzig Dollar pro Maschine auf irgendeinem Planeten verkaufen, wo von Zöllen geschützte Waschmaschinen teuer und nicht besonders gut waren. Dreitausend Waschmaschinen bei vierzig Dollar Nettoprofit macht hundertzwanzigtausend Dollar. Die Kosten der Reise betrugen vielleicht fünfzehntausend Dollar. Man konnte es betrachten wie man wollte, die Händler hatten sich da eine Goldmine erschlossen. Die Chance, daß Perrion der Stützpunkt der Freihändler war, war nicht besonders groß. Aber es war bekannt, daß sie irgendwo auf einem besiedelten Planeten einen Stützpunkt haben mußten. Und es war auch bekannt, daß dieser Stützpunkt nicht die Erde sein konnte.
Bei der Art von Raumfahrt, die wir benutzten, konnte man nur die Orte erreichen, die jeder erreichen konnte. Es war hier genauso wie seinerzeit mit der Eisenbahn – wo Gleise hinführten, konnten auch Züge hinfahren. Wo sie nicht hinführten, war das unmöglich. Ein Teil unserer Aufgabe bestand darin, Perrion zu überprüfen – eine von etwa fünfzig Welten, auf denen der Stützpunkt der Freihändler liegen konnte.
Während ich noch dasaß – ich sage saß, weil es sich leichter sagt, nicht weil es genau zutrifft – kam Lorraine durch. Sie benutzte die Handgriffe. Sie hielt ein Handtuch und einen frischen Fall-Anzug in den Händen und war offenbar auf dem Weg zum Bad. Als sie mich sah, zog sie sich neben mich und schnallte sich an. Ihr Handtuch befestigte sie an einem weiteren Gurt. »Sag mal, Edgar«, begann sie, »du hast mich doch vorher schon gekannt, oder?« »Ehe du dich freiwillig zur Einheit gemeldet hast?« fragte ich. Das war es offenbar, was sie meinte, aber ich wollte Zeit gewinnen, um mir meine Antwort zu überlegen. »Ja.« »Wie war ich denn damals?« Sie meinte verglichen mit jetzt. Ich sah sie an. In physischer Hinsicht war sie natürlich genau gleich, höchstens, daß sie etwas aufgeweckter war als vorher, etwas selbstsicherer. Was ihr Temperament anging, war sie nicht mehr dasselbe Mädchen. Sie war jetzt gesetzt, aber nicht gesetzt im Sinne der Sanftmut, eher gesetzt im Sinne einer zielbewußten Begeisterung. Sie hatte auch einen Sinn für Humor entwickelt, von dem sie vorher keine Spur gezeigt hatte.
»Tu nicht so, als wär das streng geheim«, sagte sie. »Das ist es nämlich nicht. Die hätten mir das im Depot gesagt, aber die hätten mir natürlich auch nur das gesagt, was ich erfahren durfte. Warum habe ich mich freiwillig gemeldet?« »Du hättest sonst Selbstmord begangen«, sagte ich. »Nein!« rief sie ungläubig aus. »Warum denn?« »Ein Mann.« »Großer Gott. Ich muß verrückt gewesen sein. Das hätten die mir sagen sollen. Hast du den Mann gekannt?« »Nein.« »Hast du mich gut gekannt?« »Nein.« »Du hilfst mir auch nicht weiter«, beklagte sich Lorraine. »Mitglieder einer Einheit sollen sich auch nicht für ihre Vorgeschichte interessieren«, sagte ich. »Oh, so wichtig ist das auch nicht«, meinte Lorraine und zuckte die Achseln. »Ich finde nur, daß man uns etwas mehr sagen könnte. War ich reich oder arm, umgänglich oder einsam, gesucht oder verlassen? Haben die Männer Sonette an mich geschrieben oder auf der Straße so getan, als sähen sie mich nicht? War ich ein behütetes Mädchen, oder ging ich mit jedem?« »Vergiß es«, sagte ich. »Es ist nicht wichtig.« »Ja, da hast du wahrscheinlich recht«, pflichtete sie mir bei. »Aber eines mußt du mir sagen. Was ziehst du vor – das Mädchen, das ich jetzt bin, oder das Mädchen, das ich war?« »Das Mädchen, das du jetzt bist«, sagte ich sofort. Sie lächelte und schnallte sich los. »Nun, das ist immerhin auch schon etwas«, sagte sie und stieß sich mit den Füßen ab. Ich sah ihr nach, wie sie elegant aus dem Salon schwebte. Manche Leute finden, daß Frauen in Raumschiffen am besten aussehen. Es gibt keine Schwerkraft, die an den Bauch-, Brustund Hüftmuskeln zerrt. Andererseits ist der Fall-Anzug, den
man gewöhnlich im Raum trägt – ein einteiliges Kleidungsstück mit enganliegenden Partien an Handgelenk und Knöchel – , alles andere als aufsehenerregend. Ich blickte unwillkürlich neben mich. Lorraine hatte ihr Handtuch und den Anzug vergessen. Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte. So etwas galt als unmöglich. Leute, die man gelöscht hatte, vergaßen einfach nichts. Dieses Handtuch war also nicht da. Ich bildete es mir bloß ein. Ich löste Lorraines Sachen aus der Befestigung, schnallte mich selbst ab und folgte ihr. Sie war im sogenannten Bad, als ich das sogenannte Badezimmer erreichte. Wir sechs hatten ein eigenes Badezimmer. Wenn Sie Geld verdienen wollen und sich den Dank Tausender von Raumreisenden zuziehen wollen, dann lassen Sie sich eine vernünftige Methode einfallen, wie man sich im freien Fall wäscht. Die normalen Toiletten funktionieren ja einigermaßen, aber wenn es darauf ankommt, ein Bad zu nehmen, so hat sich die menschliche Erfindergabe bisher nicht sonderlich ausgezeichnet. Man konnte sich ziemlich leicht von Wasser besprühen lassen wie in einer Dusche, aber wenn das Wasser nach allen Richtungen abprallt, von einem selbst, von den Wänden und wieder zurück, wie soll man dann vermeiden, dabei zu ertrinken? Wasser und Luft sind im Weltraum der reinste Teufel. Die Oberflächenspannung reicht zwar aus, um Wassertropfen zusammenzuhalten, nicht aber, um große Wasserkugeln in einem Stück zu halten. Wenn man das berührt, dann fließt es einem über den ganzen Körper. Die einzige Methode, ein Bad zu nehmen, ist also die: man setzt eine Luftmaske auf und geht in einen Tank voll Wasser, einen Tank, der mit einer komplizierten Wasserschleuse
versehen ist, so daß man ein- und ausgehen kann, ohne das ganze Wasser mitzunehmen. Lorraine war im Tank. Ihre Kleider hingen an einem Riemen. Offenbar hatte sie vergessen, daß sie ihre Sachen bei mir gelassen hatte. Ich hängte sie an einen weiteren Riemen und wollte gerade wieder gehen, als ich ein leises Pochen hörte. Das überraschte mich. Warum sollte Lorraine gegen die Innenseite ihres Tanks klopfen. Wenn sie nicht etwas hartes mitgenommen hatte, um damit zu klopfen, mußte es ziemlich schmerzhaft sein, mit den bloßen Knöcheln gegen den Wasserdruck an die Innenseite eines Metalltanks zu schlagen. Aber das Pochen hörte nicht auf. Ich probierte die Wasserschleuse. Natürlich bewegte sie sich nicht. Also klopfte ich zurück. Eine kurze Pause, dann wurde das Klopfen drinnen wieder aufgenommen, schneller und stärker. Lorraine schien sich also nicht damit begnügt zu haben, ihre Sachen zu vergessen, sondern sich im Wassertank eingeschlossen zu haben. Ich grinste wieder. Dann sah ich, daß der Tank von außen abgeschlossen war. Diese Tanks sind wie normale Badezimmertüren – sie haben innen einen Riegel. Aber außerdem gab es ein Schloß, das man vermutlich dann benutzte, wenn ein Tank leer war oder nicht funktionierte oder für etwas anderes benutzt wurde. Jemand hatte Lorraine eingeschlossen. Ich sah im nächsten Badezimmer nach. Dort steckte ein Schlüssel im Schloß. Ich nahm ihn und schob ihn in das Schloß von Lorraines Tank. Er paßte. Lorraine kam nur mit einer Luftmaske bekleidet heraus und schnappte sich ihr Handtuch und den Fall-Anzug. »Sei ein Gentleman, Edgar«, sagte sie. »Zieh dich zurück.«
»Warum?« fragte ich. »Nimmt man euch denn nicht auch das Schamgefühl, wenn ihr umgekrempelt werdet?« »Ja«, nickte sie, »aber du hast immer noch das deine.« »Ich werde dich jedenfalls nicht allein lassen«, sagte ich, eine Spur ernster geworden. »Jemand versucht, dich zu töten. Und er könnte es wieder versuchen.« Lorraine starrte mich einen Augenblick an. Dann trocknete sie sich schnell ab und zog ihren Fall-Anzug an. Und dann machten wir uns auf die Suche nach den anderen meiner Einheit.
Das war die erste Aufgabe, die der Einheit gestellt wurde. Sie kamen sehr bald zu dem Schluß, daß meine Vermutung zutraf und daß wirklich jemand versucht hatte, Lorraine zu töten. Die kleine Gesichtsmaske liefert etwa für fünfzehn Minuten Luft. Hätte Lorraine nicht ihr Handtuch vergessen, wäre bestimmt eine halbe Stunde lang niemand ins Badezimmer gekommen. Und dann hätte irgend jemand gefragt: »Wo ist Lorraine?« Und nach einer weiteren Viertelstunde hätte man festgestellt, daß ich sie zuletzt gesehen hatte, als sie ins Bad ging. Dann hätten wir sie gesucht, diesmal den Tank unverschlossen gefunden und Lorraine drinnen. Ertrunken. Wir hätten angenommen, daß ihre Maske versagt hatte. Hätte Lorraine nicht unmittelbar, nachdem sie den Tank betreten hatte, bemerkt, daß sie ihre Sachen vergessen hatte, und hätte sie nicht sofort versucht, den Tank noch einmal zu verlassen, um sie zu holen, hätte sie bestimmt nicht bemerkt, daß sie eingeschlossen war, wenigstens erst dann, als ich bereits wieder aus dem Raum gegangen war. Das alles war eine so unglaubliche Verkettung von Zufällen, daß es sich bei dem Zwischenfall um gar nichts anderes
handeln konnte als um einen sorgfältig geplanten Mordversuch. Dick ließ uns eine Weile allein, um einige Informationen und eine Passagierliste vom Kapitän zu besorgen. Als er zurückkam, machte sich die Einheit wieder an die Arbeit. Ich war nicht beteiligt. Ich saß mit im Raum und hörte zu, aber ich konnte ihnen nicht helfen und begriff auch nicht alles, was hier vor sich ging. Jemand sagte zum Beispiel etwas und verstummte dann plötzlich wieder. Lorraine und Dick sprachen gleichzeitig. Dann fing Brent mit irgend etwas an, Helen übernahm es und Dick schüttelte den Kopf. Lorraine blickte plötzlich auf, Ione sah den Blick, und dann redeten wieder alle erregt gleichzeitig. Zunächst wirkte es überhaupt nicht eindrucksvoll. Und dann bemerkte ich mit der Zeit, daß jedesmal, wenn jemand zu reden aufhörte, ein ganzer Denkprozeß abgeschlossen und als unbrauchbar abgetan war. Man erlebt das manchmal bei Leuten, die sehr schnell denken können und einander sehr gut kennen. Jemand fängt an, eine Frage zu stellen, und nach ein oder zwei Worten gibt ein anderer die Antwort, und dann hört der, der die Frage gestellt hat, befriedigt zu reden auf. Ich habe einmal in einer Klasse besonders begabter Schüler miterlebt, wie ein Quiz durchgeführt wurde. Fragen und Antworten gingen meistens etwa so: »Ein Mann träumte eines Nachts, daß – « »Die Antwort ist natürlich, wie konnte er – « »Stimmt.« So funktionierte die Einheit. Sie waren keineswegs telepathisch begabt und brauchten es auch nicht. Die Sprache und die Kenntnis um die gegenseitigen Denkvorgänge reichten völlig aus.
Dick mußte wesentlich mehr reden als die anderen, weil es den anderen viel schwerer fiel, das zu verstehen, was er sagte, als umgekehrt. Aber selbst Dick mußte im allgemeinen nicht sehr viel sagen, ehe die anderen begriffen, worauf er hinauswollte. Als sie den vorläufigen Schluß gezogen hatten, daß das wahrscheinlichste Motiv für den Mordversuch an Lorraine darin bestand, daß die Freihändler Interessen auf Perrion hatten und nicht wollten, daß die Einheit dort Untersuchungen anstellte, wandten sie ihre Aufmerksamkeit der Passagierliste zu. Sie enthielt ziemlich ausführliche Informationen über die Leute an Bord. Dennoch rechnete ich keinen Augenblick damit, daß es der Einheit gelingen würde, die Identität des Attentäters daraus abzuleiten. Sie waren da allerdings anderer Meinung. Sie ermittelten drei Namen und erklärten überzeugt, daß der Mörder einer der drei sein müßte. Gründe dafür gaben sie nicht an. Dann suchten wir erneut den Kapitän auf. Kapitän Rawlson hatte die absolute Leitung des Schiffes, und wir waren – theoretisch zumindest – nur sechs Passagiere. Aber die Tatsache, daß wir eine Einheit waren, mit der vollen Unterstützung der E. B. bei allem, was wir taten, machte ihn nervös, und er überschlug sich beinahe in seinem Bemühen, uns zu helfen. Ich war der Sprecher, wenn Dick mir auch gesagt hatte, was ich sagen sollte. »Wenn Sie und zwei Ihrer Offiziere mit uns kommen«, sagte ich, »werden wir diese drei Leute aufsuchen und den richtigen finden können.« »Wie?« fragte der Kapitän verblüfft. Ich wußte darauf keine Antwort und wandte mich deshalb an Dick.
»Indem wir ihre Reaktion interpretieren, die sie zeigen, wenn sie uns sehen«, sagte Dick. »Aber… was dann?« fragte der Kapitän. Er war zwar bereit, uns jede mögliche Hilfe angedeihen zu lassen, konnte aber schließlich nicht einen Menschen verhaften, nur weil wir der Ansicht waren, daß er schuldig aussah. »Ich weiß nicht«, schaltete ich mich wieder ein, »das wird von den Umständen abhängen. Jedenfalls werden wir nachher wissen, auf wen wir achten müssen.« Der Kapitän schien immer noch seine Zweifel zu haben, konnte aber nicht gut ablehnen. Er und zwei seiner Offiziere kamen mit uns, und wir machten uns auf die Suche nach den drei Leuten auf unserer Liste. Zuerst suchten wir die Frau auf, eine Mrs. Walker. Rhoda Walker erwies sich als attraktive Witwe von achtundzwanzig Jahren, sehr aufgeweckt, klug und irgendwie metallisch. Sie erinnerte mich an Helen, bevor Helen behandelt worden war. Helen selbst konnte das natürlich nicht wissen. Als ich sie sah, glaubte ich sofort, an der richtigen Stelle zu sein. Sie sah nicht nur wie eine Frau aus, die durchaus zu einem Mord fähig war, sondern auch wie ein Mensch, der in der Lage war, sich den entsprechenden Plan auszudenken. Lorraine sprach für uns. »Tut mir leid, daß wir Sie stören müssen, Mrs. Walker«, sagte sie freundlich. »Jemand hat gerade – versucht, mich zu töten, und ich habe mir gedacht, ob Sie uns vielleicht bei der Suche des Mörders behilflich sein könnten.« »Sie töten? Hier im Schiff?« rief die Frau aus. Lorraine nickte. »Ehrlich gesagt, Mrs. Walker, wir glauben, daß Sie es gewesen sein könnten«, sagte sie mit der gleichen angenehmen Stimme. Rhoda Walker sah uns einen nach dem andern an. »Ich beginne zu begreifen«, sagte sie leise. »Sie sind eine Einheit
und fliegen nach Perrion. Jemand möchte nicht, daß Sie dorthin kommen – als Einheit.« »Zu dem Schluß sind wir auch gelangt«, pflichtete ihr Lorraine bei. »Ich nehme an, Sie kehren nach Perrion zurück, um wieder zu heiraten, Mrs. Walker?« Zum erstenmal zeigte die Frau Überraschung. »Woher wissen Sie das?« fragte sie. »Wir sind im Raten recht gut«, sagte Dick. »Wie alt sind sie, Mrs. Walker?« Sie sah den Kapitän an, der neben mir unter der Tür stand. Alle Mitglieder meiner Einheit hatten sich in die kleine Kabine gedrängt. Die drei Offiziere und ich sahen vom Korridor aus zu. »Muß ich diese Fragen beantworten?« fragte Mrs. Walker den Kapitän. Er zögerte. »Bitte, tun Sie es, Mrs. Walker«, sagte er schließlich. »Ich darf Ihnen sagen – « »Nein, Sie dürfen nichts«, sagte Dick schnell. »Schön«, sagte die Frau und drehte sich zu Brent um, der hinter ihr stand. »Aber bleiben Sie bitte so stehen, daß ich Sie alle sehen kann.« »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Brent höflich und fuhr mit der Hand unter ihren Fall-Anzug. Sie wehrte sich kurz und dann brachte Brent eine winzige Waffe zum Vorschein. Rhodas Anzug war dabei zerrissen, und wir alle sahen jetzt einen eigenartig robusten Büstenhalter. Es war unnötig und ungewöhnlich, im Weltraum überhaupt einen Büstenhalter zu tragen. Aber diesmal war der Grund offenkundig. Die Waffe hatte sich in einem winzigen Halfter zwischen ihren Brüsten befunden. »Jetzt werden Sie die Fragen beantworten müssen«, sagte der Kapitän mit einer Spur von Befriedigung. »Es ist verboten, an
Bord eines Schiffes Waffen zu tragen. Ich kann Sie auf der Stelle verhaften.« »Dann tun Sie es doch«, sagte Rhoda. Sie hatte ihr Gleichgewicht bereits wiedergefunden und schloß ruhig ihren Anzug. »Das ist sicher nicht Ihr Ernst, Mrs. Walker«, sagte der Kapitän. »Es ist sehr unangenehm, an Bord eines Raumschiffes eingesperrt zu werden.« Lorraine tat die Angelegenheit ab, indem sie fortfuhr, als wäre nichts geschehen. »Dick hat gefragt, wie alt Sie sind, Mrs. Walker«, sagte sie. »Achtundzwanzig. Das steht auf der Passagierliste, falls Sie sich die Mühe gemacht haben, nachzusehen.« »Wir haben nachgesehen. Ich meine, Sie sind etwa vierunddreißig.« Rhoda zuckte die Achseln, gab aber keine Antwort. »Ihr Sohn ist etwa vierzehn«, bemerkte Lorraine. »So alt wäre er wenigstens jetzt, wenn er noch lebte.« Rhoda zuckte zusammen. »Wie haben Sie das gemacht?« fragte sie. Eigentlich war es ihr gleichgültig – sie teilte die Frage, um irgend etwas anderes zu verbergen. »Haben Sie versucht, Lorraine zu töten?« fragte Dick. »Nein«, sagte Rhoda. Dick wandte sich ab. »Das stimmt«, sagte er. »Sie weiß etwas, und wir werden wiederkommen, um das in Erfahrung zu bringen, aber in der Zwischenzeit wollen wir jemand anderen finden. Gehen wir.« Ich wollte vorschlagen, das jetzt gleich in Erfahrung zu bringen, und wollte ein halbes Dutzend guter Gründe dafür nennen. Aber ich sagte nichts. Dick wußte, was er tat. Brent sah den Kapitän an und hielt ihm die Waffe hin. »Soll ich die Waffe ihr oder Ihnen geben?« fragte er.
»Mir«, sagte der Kapitän etwas benommen. »Sie bekommen sie am Ende der Reise von mir zurück, Mrs. Walker.« »Besuchen Sie mich doch wieder einmal«, sagte Rhoda, als wir hinausgingen. »Keine Sorge«, sagte Dick über die Schulter, »wir kommen bestimmt.«
Ich begriff nicht, wie das vor sich gegangen war, ebensowenig wie der Kapitän. Aber ich begann etwas zu ahnen. Normalerweise benutzt man beim Raten, ohne es zu wissen, eine Menge Hilfsmittel. Einige sind wirklich nützlich und hilfreich, andere sind schlimmer als nutzlos und eher dazu geeignet, zur falschen Antwort zu führen. Und deshalb gibt es Leute, die beim Raten Glück haben, und andere, die meistens daneben tappen. Diejenigen, die Glück haben, haben meist die Chancen im Unterbewußtsein abgewogen und sich dabei den Dingen zugeneigt, die Erfolg bringen, und sich den anderen ferngehalten, die mehr Risiko als Nutzen bringen. Und dann die anderen, die ewigen Pechvögel – die haben immer gute Gründe, das Falsche zu tun. Sie finden immer Mittel und Wege, Geld zu verlieren. Diese Pechvögel haben in sich irgendeinen Befehl, der von ihnen verlangt, daß alles, was sie auch tun, falsch sein muß. Das sagen sie sich auch selbst. Alles, was ich anfasse, geht schief. Das sagen sie zwanzigmal die Woche. Mitglieder einer Einheit haben überhaupt keine Vorurteile. Selbst wenn sie im dunkeln tappen, sind ihre Chancen größer, weil ihr Verhalten weder von Hoffnung, noch Angst, noch irgendwelchen Wünschen diktiert wird. Und wenn sie Gründe haben, anzunehmen, daß eine Sache eben so ist, dann kennen sie diesen Grund auch, können die Wahrscheinlichkeit
abschätzen und wissen, wie sie ihr Verhalten überprüfen müssen. Wie Lorraine erraten hatte, daß Rhoda Walker nach Perrion zurückkehrte, um wieder zu heiraten, wußte ich nicht. Ihre Vermutung war richtig, aber selbst wenn sie falsch gewesen wäre, hätte Lorraine vermutlich doch das erfahren, was sie wissen wollte. Dann fragte Dick, wie alt sie sei – vielleicht nur, um Zeit zu gewinnen, aber jedenfalls hatte ihre Reaktion Lorraine verraten, daß sie älter war als sie zu sein vorgab. Inzwischen hatte Brent sich im Hintergrund gehalten und Rhoda beobachtet. Vielleicht hatte sie unwillkürlich nach der Waffe greifen wollen. Und dann hatte Lorraine noch einmal einen Schuß ins Blaue abgegeben und diesmal das Ziel nicht ganz getroffen – aber sofort erkannt, daß sie das Ziel verfehlt hatte und erneut geschossen. Lorraine und Dick hatten ebenso wie berufsmäßige Wahrsager in bestimmten Punkten nicht raten müssen. Und dann hatten sie ihr einiges von dem gesagt, was sie wirklich erraten hatten. Und Dick hatte uns sofort weggeführt, als er ganz sicher war, daß Rhoda nicht die Mörderin war. Wir könnten noch etwas von ihr erfahren, hatte er gesagt. Die Tatsache, daß er gar nicht versucht hatte, das jetzt zu erfahren, bedeutete, daß er es – jetzt – noch nicht wissen wollte. Die zweite Person, die wir aufsuchten, brachte uns nicht weiter. Auf Einzelheiten möchte ich nicht eingehen. Die Einheit verhörte ihn und erfuhr dabei eine ganze Menge über ihn, aber er war nicht der Mann, den wir suchten. Jack Kilman, der letzte auf unserer Liste, war überrascht, uns zu sehen, aber durchaus nicht unfreundlich. Er war ein kleiner, unruhiger Mann, so unruhig, daß er sich nicht einmal im freien Fall entspannen konnte. »Klar, nur zu«, sagte er, »ich habe nichts zu verbergen.«
Ione schnüffelte. »Parfüm«, sagte sie. Wir anderen konnten nichts riechen. Iones Geruchssinn war schärfer gewesen als der aller anderen und zwar schon ehe man sie umgekrempelt hatte. Und das war er immer noch. »Helen!« sagte Dick mit scharfer Stimme. Das war Tarnung. Helen bewegte sich, aber es war erneut Brent, der sich auf Kilman stürzte. Wieder war da eine Waffe. Diesmal wurde sie abgefeuert. Zuerst war sie auf Lorraine gerichtet, aber als sie losging, immer noch in Kilmans Hand, nur daß Brent jetzt sein Handgelenk hielt, blies sie die untere Hälfte von Jack Kilman weg. Die Frauen gingen schnell hinaus. Nachdem man sie umgekrempelt hatte, würde ihnen wahrscheinlich selbst bei einem solchen Anblick nicht übel werden. Dennoch empfand keine von ihnen den Wunsch, dazubleiben und zuzusehen. »Gehen wir in Rhoda Walkers Kabine zurück«, sagte Dick. Der Kapitän protestierte. Ein Mann war getötet worden. Es gab einiges zu tun… »Wenn Sie nicht mehr als einen Todesfall auf Ihrem Schiff wollen«, sagte Dick, »dann gehen wir zu Rhoda Walkers Kabine zurück.« Der Kapitän erhob keine Einwände mehr. Rhoda Walker schwebte mitten in ihrer Kabine. Man hatte sie nicht erschossen, man hatte sie erwürgt. Ihr Anblick war keineswegs angenehmer als der Kilmans. Ein verzweifelter und erfolgloser Versuch, sie wie das Opfer eines Sexualtäters erscheinen zu lassen, trug nicht dazu bei, den Anblick erfreulicher zu machen.
Der Kapitän, Dick und ich einigten uns schnell. Offenbar teilte der Kapitän meinen Verdacht nicht, daß Brent Kilman die
Waffe ebenso leicht hätte wegnehmen können wie Rhoda – nämlich ohne daß sie sich vorher entlud. Es ließ sich leicht beweisen, daß Kilman Rhoda erwürgt hatte. Und der Kapitän war durchaus bereit – ja sogar erpicht darauf – zu glauben, daß entweder Rhoda oder Kilman oder sogar beide das Attentat auf Lorraine verübt hatten. Damit war die Angelegenheit offiziell schnell erledigt. Dick stellte es später so dar: »Wir hätten nicht viel von ihnen erfahren können, Edgar. Es waren kleine Gangster, die man dafür bezahlt hatte, einen Auftrag zu erledigen. Schau doch, wie schnell sie in Panik gerieten. Die Leute, in deren Sold sie standen, haben ihnen bestimmt nicht viel gesagt. Es war viel wichtiger, sie beide aus dem Weg zu schaffen.« »Du hast also Rhoda eine Chance gegeben, zu Kilman zu gehen, ihn zu warnen, ihm zu sagen, daß wir sie in Verdacht hatten, und dafür ermordet zu werden?« fragte ich. »Ganz zu schweigen, daß du Kilman eine Chance gegeben hast, nach der Waffe zu greifen und dabei zufällig erschossen zu werden?« »Wenn wir es nicht so angepackt hätten«, sagte Dick ruhig, »wie hätten wir es denn sonst machen sollen?« Ich begann zu begreifen, warum man die Einheiten so beargwöhnte und darauf bestand, Einheitsväter zu haben.
Obwohl man uns zweifelsfrei klargemacht hatte, daß es jemand gab, der uns nicht auf Perrion haben wollte, trafen wir dennoch keine Entscheidung und schlossen daraus nicht, daß die Freihändler dahinterstehen mußten. Es war durchaus möglich, daß die Leute, die uns dort nicht haben wollten, Interessen an der Fortführung der Nord-SüdAuseinandersetzung hatten, die wir schlichten sollten.
Die Kriege in Lilliput entstanden über die fundamentale Frage, ob man Eier am dicken oder am dünnen Ende aufschlagen soll. Swift wollte ironisch sein, indem er das zum Kriegsgrund machte, aber Ironie ist meistens viel weniger ironisch als die Wahrheit. Perrions wichtigster Streitpunkt, so erfuhren wir bei unserer Ankunft, bestand darin, ob in den Schulen terranische oder die galaktische Geschichte gelehrt werden sollte. Benoite City war die wichtigste Stadt des Nordens, Sedgeware die Hauptstadt des Südens. Der Stadtrat von Benoite City erklärte, Perrion sei eine neue Welt, und die Kinder seien bestimmt viel besser dran, wenn sie den augenblicklichen Zustand der Galaxis kennten als wenn man sie mit nutzlosem Wissen über die Erde vollstopfte. Sedgeware reagierte sofort mit einem Kurs in terranischer Geschichte, einem Kurs, der von der grauen Vorzeit bis in die Gegenwart reichte, und erklärte, schließlich sei die Erde die Mutterwelt, und Leute, die ihr geschichtliches Erbe nicht kannten, seien primitive Wilde. Kurz darauf fand man in Benoite Gity keine Bücher über die Erde mehr, während es in Sedgeware schwierig wurde, Informationen über die Kolonien zu beschaffen. Dann begannen die Leute im kühlen Benoite City neue fantasievolle Kleider zu tragen, die nur eines gemeinsam hatten – sie glichen in nichts den Kostümen, die man je auf der Erde getragen hatte. Da die Menschheit der Erde im Laufe ihrer langen Geschichte so ziemlich alles getragen hatte, was als Kleidung dienen konnte, war es für die Leute von Benoite City ziemlich schwierig, etwas radikal anderes zu finden, und sie mußten manchmal zu ziemlich extremen Lösungen greifen, nur um anders zu sein. Unterdessen trugen die Leute im heißen Sedgeware praktisch nichts, was nicht genau der Mode entsprach, die auf Erde üblich war, und wenn auch die Frauen
mit ihren Sommerkleidern einigermaßen zurecht kamen, verschmachteten die Männer fast in ihren zweireihigen Anzügen und Filzhüten. In der planetarischen Versammlung stimmten die Delegierten des Nordens immer für die völlige Unabhängigkeit von der Erde, während die Südleute mit aller Kraft jeden Antrag bekämpften, der die Verbindung zur Erde abschwächen sollte. Bald wurde es unmöglich, überhaupt noch gemeinsame Versammlungen abzuhalten, und daraufhin bildeten sich zwei neue Senate, einer in Benoite, einer in Sedgeware. Die ersten Verwicklungen entstanden wegen der Straßenbezeichnungen. Benoite City fing damit an, indem alle Straßennamen geändert wurden, die an die Erde erinnerten: Highstreet, Fifth Avenue, Broadway, Via Veneto, Unter den Linden. Sedgeware änderte all seine Straßenbezeichnungen und gab ihnen die Namen terranischer Städte. Dann verschmierten Halbstarke in Benoite City die neuen rein perrionischen Straßennamen, während Schmierfinken in Sedgeware das gleiche mit den terranischen Straßennamen taten. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis man praktisch jeder Gruppe von Südländern, die man in Benoite City fand, unterstellte, sie befände sich nur dort, um Sabotage zu betreiben. Und bald nach den ersten Prügeleien wurden die ersten Todesfälle gemeldet… Als wir eintrafen, waren die beiden Parteien nicht mehr weit vom offenen Krieg entfernt. An dem Tag, an dem wir in Benoite City eingetroffen waren, standen Lorraine und ich am Fenster der ehemaligen Gouverneursresidenz und blickten zu den Menschen hinaus. Wir konnten kaum unseren Augen glauben. Ein etwa fünfjähriges Kind unbekannten Geschlechts ging vorbei und trug etwas, das wie ein Raumschiffmodell aussah.
Dann hüpfte ein Mädchen in einem Kleid, das wie ein Leitungsrohr aussah, vorbei. Ein Mann trug ein kastenförmiges Kleidungsstück um die Hüften und ein Hemd, das die Form einer Kugel hatte. Die Kugelmanie war hier ziemlich verbreitet. Offenbar galt die Kugel als nicht-terranisch. Der nächste Mann, den wir sahen, trug etwas, das wie eine Kanonenkugel aussah, um die Hüfte und kleinere Kanonenkugeln überall sonst. Ein Mädchen kam im ersten anliegenden Kleid, das wir sahen, hatte aber Löcher hineingeschnitten, so daß die nackten Brüste herausschauten. Vermutlich hielt man das für echt perrionischen Stil, denn etwas anderes konnte es nicht sein. »Ob es wohl ratsam ist, wenn wir so hinausgehen wie wir sind?« murmelte Lorraine. »Oder muß ich mir einen viereckigen Büstenhalter und rechteckige Höschen besorgen?« Wir stellten fest, daß das nicht nötig war. Die Auseinandersetzung bestand nicht darin, daß der Norden die Erde haßte und der Süden sie liebte. Die Leute aus dem Norden kämpften nicht mit der Erde, sie kämpften mit den Südperrioniern wegen der Erde.
Die erste Woche verbrachten wir in der Residenz in Benoite City, die zweite Woche in Sedgeware. Wir nahmen an, daß die Perrionier die Zeit, die wir im Norden und im Süden verbrachten, auf die Sekunde genau überwachten und bestimmt ein großes Geschrei erheben würden, wenn die eine oder die andere Partei bevorzugt wurde. Perrion war nämlich stolz auf uns. Wir waren die erste Einheit des Planeten. Selbst in Benoite City erkannte man, daß wir nicht hier waren, um für die Erde die Herrschaft über Perrion zu übernehmen, sondern vielmehr, um der Welt unabhängig von der Erde zu helfen. Wir taten in den ersten
paar Tagen einiges, das sehr nützlich war – aus der Sicht der Einheit zwar nur Kleinigkeiten, aber für die Bewohner des Planeten sehr Nützliches. Und dafür war man uns dankbar. So konnten wir zum Beispiel einen Arbeitskampf schlichten, einfach indem wir der jeweiligen Gegenseite die Wünsche und Vorstellungen des Kontrahenten erklärten. Dann zeigten wir den Ingenieuren, die die Aufgabe hatten, einen Damm zu bauen, die dafür günstigste Stelle, und lösten einen schwierigen Fall für die Stadtpolizei von Benoite City. Das waren bloß Gelegenheitsdienste, aber sie halfen uns natürlich, bekannt und beliebt zu werden. Bis jetzt hatten wir uns in die Nord-Süd-Zwistigkeiten noch nicht eingeschaltet. Ehe wir uns mit diesem Problem beschäftigten, wollten wir mehr wissen. Trotzdem baten uns beide Senate, als Verbindungsstelle zu operieren, und wir entledigten uns unserer ersten Pflichten in einer für beide Seiten befriedigenden Art und Weise. Im Zuge unserer Untersuchungen konnten wir natürlich leicht nach Hinweisen auf Aktivität der Händler achten. Wir fanden etwa das, was wir erwarteten. Natürlich trieben die Freihändler mit Perrion Handel – man fand sowohl in Benoite City als auch in Sedgeware alle möglichen Waren, für die kein Zoll bezahlt worden war. Aber wir fanden keinerlei Beweise dafür, daß Perrion der Stützpunkt der Händler war. Wir wußten bereits, daß die Schiffe der Freihändler in den offiziellen Registern nicht geführt wurden. Von Bestochenen hatte man erfahren, daß die Schiffe der Freihändler klein waren und speziell so konstruiert, daß man sie leicht verbergen konnte. Man konnte sie nicht als normale Frachter getarnt auf irgendwelchen Planeten finden. Wenn man sie nicht benutzte, wurden sie wahrscheinlich in tiefen Löchern verborgen, die
speziell für sie an verlassenen Orten gegraben waren, Löcher, die sorgfältig abgedeckt wurden, während die Schiffe unterwegs waren, so daß man durch Luftaufklärung auch nichts fand. Also wußten wir, daß wir keine großen, verdächtigen, mit Planen bedeckten Gegenstände in Hinterhöfen finden würden, Gegenstände, die sich dann als nicht registrierte Händlerschiffe erweisen würden. Wir suchten viel subtilere Hinweise. Aber wir fanden keine. Es gab auf Perrion zum Beispiel keine Anzeichen von Händlergeld. Es hat keinen Sinn, einen Coup zu landen, wenn man keinen Nutzen daraus ziehen kann. Seit Anbeginn der Zeiten waren die Verbrecher notorisch zu dumm dazu, ihre Beute festzuhalten, bis das Geschrei sich gelegt hatte und sie ohne Verdacht zu erregen als reiche und mächtige Bürger ans Tageslicht treten konnten. Wir untersuchten alle Leute, die viel Geld zu haben schienen. Das war leicht, denn es gab nur etwa sechs davon. Perrion war ein armer Planet und würde das wahrscheinlich auch immer bleiben. Seine natürlichen Bodenschätze waren nicht besonders umfangreich, und die Welt war nur kolonisiert worden, weil sie der Erde so ähnlich war. Es ließ sich bequem auf Perrion leben, wahrscheinlich war er in dem Punkt von allen bis dahin besiedelten Planeten der Erde am ähnlichsten. Aber wenn Perrion nicht all die Unbequemlichkeiten von Fryion und Gersten und Parionar zu bieten hatte, so auch nicht deren Vorzüge. Ein reicher Mann fiel auf Perrion auf. Alle Männer, die wir überprüften, mit Ausnahme eines einzigen, hatten ihr Geld bereits besessen, als sie nach Perrion gekommen waren, und es ließ sich auch leicht überprüfen, wie sie es erworben hatten. Die eine Ausnahme war ein Finanzgenie, das Geld machte wie
Henry Ford – nur da er auf Perrion arbeitete statt auf der Erde, reichten Autos nicht, und er mußte auch Elektronik, Verlags-, Textil-, Bergwerks-, Bank- und noch ein halbes Dutzend anderer Unternehmen führen. Wir stellten sehr genaue Untersuchungen über Robert G. Underwood an, ohne auch nur den leisesten Hinweis darauf zu finden, daß seine Geldsäcke von Profiten der Freihändler angeschwollen waren. Gegen Ende der zweiten Woche unterhielten Dick und ich mich in der Residenz in Sedgeware. Draußen auf dem Rasen sonnten sich Brent, Ione und Helen. Lorraine war in der Stadt und verhandelte mit dem Polizeichef. Wir arbeiteten sehr eng mit der Polizei, sowohl von Benoite City als auch von Sedgeware, zusammen. Ione und Helen waren, seit man sie behandelt und ausgebildet hatte, beinahe dumm geworden. Und Brent war das von Anfang an gewesen. Dick und Lorraine waren die Köpfe der Einheit, obwohl man oft Helen oder Ione ausschickte, wenn irgend etwas erledigt werden oder sich ein Mitglied der Einheit zeigen mußte. »Und du bist sicher, daß das nicht gefährlich ist?« fragte Ione mit einer Kopfbewegung auf die drei auf dem Rasen. Jeder, der einen Schuß auf sie abgeben wollte, konnte das ungehindert tun. Die Residenz wurde nicht bewacht. »O ja«, sagte Dick überzeugt. »Ein Attentat auf Lorraine im Schiff, etwas, das man als Unfall tarnen konnte, ist eine Sache. Jack Kilman war einfach ein bezahlter Gangster und Rhoda eine Helferin für den Fall, daß er sie brauchte. Aber hier etwas zu versuchen, würde lediglich beweisen, daß es hier etwas zu finden gibt, und darauf würde die E. B. vermutlich etwa sechs Einheiten schicken, um sicherzustellen, daß man es auch findet.«
»Na schön«, sagte ich. »Du kannst das wohl sagen. Schließlich bist du nicht für die Sicherheit der Einheit verantwortlich – sondern ich.« »Du kannst mir glauben«, meinte Dick, »wenn einem Mitglied dieser Einheit – irgendeinem beliebigen Mitglied – etwas zustöße, würde dir das bei weitem nicht so nahe gehen wie uns.« »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte ich. »Angenommen, ihr wurdet Ione verlieren, nur als Beispiel. Die vier von euch, die dann übrigblieben, halten immer noch genügend Verstand und Schwung und Persönlichkeit und physische Kraft, oder nicht? Wurde das einen so großen Unterschied machen? Die Einheit wurde doch sicherlich genausogut wie vorher funktionieren?« Dick schüttelte entschieden den Kopf. »Absolut nicht«, sagte er. »Wir sind so ausgebildet, daß jeder seine Aufgabe erfüllt. Man hatte uns so ausbilden können, daß vier von uns ohne Ione vernünftig arbeiten könnten, aber das hat man nicht getan. Wenn irgendeinem von uns irgend etwas zustoßen würde, müßtest du seinen Platz einnehmen – aber offengestanden, Edgar, du wärest dazu nicht geeignet.« »Mir scheint«, meinte ich, »das ist eine sehr eigenartige Methode, um ein Team aufzubauen, wenn es nutzlos wird, sobald nur ein Mitglied fehlt.« Dick grinste. »Ein prima Einwand. Du könntest ein Auto mit nur drei Rädern bauen. Bedeutet das, daß man ein vierrädriges Auto so bauen muß, daß es auch auf dreien gut fahren kann? Müßte man ein Auto so konstruieren, daß es, wenn nötig, ohne Vergaser, ohne Benzinpumpe oder ohne Ölpumpe funktioniert?« »Schön, du hast wieder mal recht«, brummte ich. »So schlecht ist der Vergleich gar nicht. Wir fünf sind die Maschine, das Getriebe, die Karosserie, die Räder und das
Steuer. Wenn einer von uns fehlt, was nützt dann der ganze Wagen noch?« Das Telefon klingelte. Genaugenommen hätte ich den Hörer abnehmen müssen, aber Dick war näher dran. Also hob er ab. Leute, die behandelt sind, verlieren ihre Gefühle nicht. Man sagt, daß sie die angenehmen Empfindungen viel stärker und deutlicher empfinden als gewöhnliche Leute, und wenn auch die unangenehmeren Gefühle wie Furcht und Angst und Verzweiflung sie nicht so belasten wie uns, so existieren sie doch. Aber behandelte Leute brauchen diese Gefühle nicht zu zeigen. In Gesellschaft anderer Menschen, die ihre Gefühle zeigen, tun sie es normalerweise, um nicht ungesellig zu wirken. Aber sonst lassen sie sich nie etwas anmerken. Dick war so ruhig, daß ich glaubte, es sei nur ein Routineanruf gewesen. Um so großer war der Schock, ah er den Hörer ablegte und sagte: »Jemand hat gerade sechs Schüsse auf Lorraine abgegeben. Sie wird es nicht überleben. Fahren wir ins Krankenhaus, ja?« Es dauerte eine Weile, bis selbst unsere beachtlichen Vollmachten ausreichten, um uns Zutritt zu Lorraine zu verschaffen. Als wir ankamen, hatten sie bereits operiert Es bestand eine ganz schwache Aussicht, ihr Leben zu retten, aber so schwach, daß man es nur der Vollständigkeit halber erwähnte. »Verstehen Sie denn nicht, Sie Idiot«, sagte Dick hitzig zu dem Chefchirurgen – und ich glaube, das war das erste Mal, daß er seine Erregung vor nicht behandelten Leuten zeigte – daß wir sie genau aus dem Grund sofort sehen müssen? Sie ist Mitglied einer Einheit. Wenn wir anderen ihr helfen, wird sie durchkommen, sofern auch nur die geringste Chance besteht. Aber wenn – « Der Chefchirurg drehte sich um und ging.
Ob nun behandelt oder nicht, Dick kochte. Es war gerade so, als bestünde jemand darauf, sein rechtes Bein zu amputieren, und er wußte, daß es nicht amputiert zu werden brauchte. »Beruhige dich«, sagte ich. »Wir müssen das auf ihre Weise machen.« »Und Lorraine stirbt unterdessen!« rief Dick aus. Auf der Erde sind die Einheiten häufiger anzutreffen, und man versteht sie deshalb besser. Die Leute wissen zum Beispiel, daß, wenn ein Mitglied einer Einheit ein Baby bekommt, die anderen Mitglieder der Einheit immer bei ihr sind. Der Ehemann bleibt wie gewöhnlich draußen, aber die vier anderen Mitglieder ihrer Einheit sind bei ihr und helfen ihr. Nicht, daß es unbedingt nötig wäre. Aber wenn der Fall wirklich ernst ist, dann ist es nötig. Sehen Sie, in einer Hinsicht sind behandelte Leute nicht so empfindlich wie wir übrigen. Wenn sie in höchster Gefahr sind, wenn sie schwer verletzt sind, weigern sie sich, aufzugeben. Sie verlieren nicht einfach die Besinnung und geben damit jegliche Verantwortung für das, was mit ihnen geschieht, auf. Sie kämpfen weiter, bis sie am Ende sterben. So ist es wenigstens, wenn sie allein sind – oder wenn sie von gewöhnlichen Leuten umgeben sind, was aus der Sicht eines Behandelten auf das gleiche hinauskommt. Wenn die Einheit da ist, vertrauen sie ihr völlig. Die Einheit sagt ihnen, daß sie schlafen sollen oder sich auf etwas konzentrieren oder ein paar Tage in Trancezustand versinken, und sie tun genau, was man ihnen sagt. Sie besitzen normalerweise keine besondere medizinische Qualifikation, aber sie kennen ihren eigenen Körper viel besser und durchschauen auch den Heilungsprozeß besser als Ärzte. Ich schickte Ione, um festzustellen, was geschehen war, Brent, um die Lage im Krankenhaus zu überprüfen. Ich tat das,
um sicherzustellen, daß der Täter keine Chance hatte, sein Werk zu vollenden. Helen schickte ich zum Polizeichef, und Dick sollte von irgendeinem leitenden Arzt erfahren, worin Lorraines Verletzungen bestanden. Ich gab ihnen vier Minuten. Ich selbst suchte den Direktor auf. Ich rechnete damit, daß er die letzten Informationen besaß und daher wußte, daß Mitglieder einer Einheit alles miteinander teilten – selbst Operationen. Das hoffte ich wenigstens. Statt dessen fand ich einen alten Mann, der mit mir zu argumentieren versuchte. »Ich weiß, daß das zuweilen geschieht«, nickte er, »aber das ist doch nur eine Art Privileg für die Einheiten. In diesem Fall habe ich gehört, daß die Frau zwei Kugeln in der rechten Lunge und eine im Magen hat. Es ist ein rein chirurgischer – « »Dr. Green«, sagte ich wütend, »wenn Sie uns jetzt auch nur noch zehn Sekunden aufhalten, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihre Stelle verlieren und auf die Straße fliegen.« Der Arzt richtete sich auf. »Einschüchterungsversuche bringen Sie ganz bestimmt nicht weiter, junger Mann«, herrschte er mich an. »Ich habe hier die Leitung und habe Ihre Bitte nicht abgelehnt, lediglich – « »Lediglich uns aufgehalten, so daß es zu spät sein kann, wenn wir zu Lorraine kommen. Dr. Green, wenn Lorraine stirbt, könnte es sein, daß man Sie unter Mordanklage stellt.« Damit war sein Widerstand gebrochen. Das war übrigens keine leere Drohung, und das begriff er vielleicht. Wenn Lorraine starb und eine spätere Untersuchung zeigte, daß die Unterstützung durch ihre Einheit vielleicht ihr Leben gerettet hätte, würde die E. B. Green zu Tode hetzen. Also stieg er von seinem hohen Roß und tat so, als hätte er von Anfang an keine Einwände erhoben. Er und ich trafen vor dem Operationssaal
ein, als Dick, Brent und Helen gerade zurückkamen. Wir mußten zehn Sekunden auf Ione warten. Dann gingen wir hinein. Wir hatten Glück. Wir konnten gerade noch die Vollnarkose verhindern, die sie Lorraine verpassen wollten. Das dumme an der Medizin ist, daß fünfundneunzig Prozent nach Schema F gemacht wird. Da Lorraine von sechs Kugeln getroffen worden war und drei Wunden hatte, die man als lebensgefährlich klassifizieren konnte, wurde sie natürlich auch auf Schock behandelt. Das war natürlich falsch, denn Lorraine litt nicht unter Schock, konnte gar nicht unter Schock leiden. Als sie zum erstenmal die Augen aufschlug, waren wir alle da. Sie war nur ein paar Sekunden bei Besinnung, aber selbst das verblüffte die Ärzte. Sie hätte überhaupt nicht zu sich kommen dürfen. Dann sprachen alle zu ihr, schnell, ganz leise. Dick sagte ihr kurz und brutal – und das schockierte die Ärzte ungemein –, was für Verletzungen sie hatte und wie gefährlich sie waren. Er sagte ihr, was sie tun sollte. Helen, die ihr als Frau mehr sagen konnte als Dick, fügte noch einiges hinzu. Dann kam Ione, die auch ein paar Vorschläge zu machen hatte. Brent sprach nur ihren Namen, aber ich hörte ein Versprechen heraus, daß sie sich nicht um ihre Selbstverteidigung zu kümmern brauchte – das würde er erledigen. In weniger als einer halben Minute war es vorbei. Die Einheit konnte in sehr kurzer Zeit eine ganze Menge erledigen. Als sie das Bewußtsein wieder verlor, atmete Dick erleichtert auf. »Sie ist okay«, sagte er. »Sie wird jetzt etwa sechs Stunden schlafen. Dann müssen wir zurückkommen.« Er sah die Ärzte rings um uns an. »Und ehe Sie etwas unternehmen, fragen Sie uns, verstanden?«
Der Chefchirurg, der immer noch unter dem Eindruck des Schocks stand, daß Lorraine die Augen geöffnet hatte, sagte: »Ich verstehe das nicht…« »Das habe ich Ihnen ja gesagt«, erklärte Dick. »Sie verstehen überhaupt nichts. Ich will Ihnen etwas sagen: Lorraine ist behandelt. Das bedeutet, daß sie eine weit bessere Kontrolle über ihr sogenanntes motorisches Nervensystem hat als irgendein Patient, den Sie hier gesehen haben. Wenn sie eine Verletzung erleidet, schaltet das Gehirn nicht einfach ab, um sich selbst zu retten, sondern es will wissen, ob es etwas tun kann. Erst dann schaltet es sich aus. Deshalb mußten wir hier sein. Wir haben ihr gesagt, daß sie durchkommen würde und daß sie jetzt sechs Stunden schlafen kann.« »Aber Sie wissen doch nicht – « Dick seufzte. »Ich weiß genau, was für Verletzungen sie erlitten hat und wie sie mithelfen kann, um diese Verletzungen zu heilen. Doktor, wenn Lorraine es für richtig hielte, könnte sie jetzt ihre Schilddrüsenfunktion steigern oder reduzieren. Sie könnte ihren Herzschlag anregen oder verlangsamen. Sie hat auch eine gewisse Kontrolle über ihr Drüsensystem und kann gewissen Einfluß auf ihre Zellen ausüben. Wenn Sie sich ihre Wunden jetzt ansähen, wären sie überrascht, wie sauber die bereits sind.« Der Chirurg sah mich an. Ich nickte. Ich hatte im Depot der E. B. einige Demonstrationen gesehen. »Ich glaube Ihnen«, sagte der Arzt. Man konnte ihm ansehen, welche Mühe ihn das kostete. Dann diskutierten wir mit den Ärzten über Lorraines Behandlung und gingen – mit Ausnahme von Brent. Er hatte die Wache übernommen. Er hatte ihr versprochen, daß sie in Ruhe schlafen konnte, und würde sein Versprechen halten. Die Ärzte glaubten offensichtlich immer noch, daß Lorraine sterben würde. Aber das beunruhigte uns nicht.
Wir verglichen unsere Aufzeichnungen. Wie es schien, hatte Lorraine gerade den Polizeichef verlassen und ging auf der Straße, als ein Mann in einem grauen Anzug aus zwanzig Meter Entfernung sechs Schüsse auf sie abgab, in einen Wagen sprang und weggefahren wurde. Den Wagen hatte man bereits aufgefunden. Leer. Er war ohnehin gestohlen. Man hatte den Wagen nicht verfolgt, weil es in Sedgeware nicht viele Autos gab und zum Zeitpunkt der Tat nur ein einziger auf der Straße war, der in entgegengesetzter Richtung fuhr. Die einzige Beschreibung des Täters war, daß er groß war und einen grauen Anzug trug. Es war noch jemand im Wagen gewesen, aber von ihm gab es überhaupt keine Beschreibung. »Du hattest mir gerade bewiesen, daß das nicht passieren konnte, Dick«, sagte ich. Ich konnte einfach nicht anders. »Ich weiß«, sagte Dick. »Mir kommt das verrückt vor. Beide Male Lorraine. Ob jemand vielleicht Lorraine zu töten versucht? Ich meine nur sie, ganz unabhängig von der Einheit?« Meine Gedanken überschlugen sich. Lorraine war, obwohl sie selbst das nicht mehr wußte, die Tochter von A. D. Und A. D. war in alle möglichen Dinge verwickelt und konnte daher auch alle möglichen Feinde haben. »Kann sein«, sagte ich. »Ich werde dir später sagen, was ich weiß.« »Sag es mir jetzt«, drängte Dick, obwohl wir immer noch im Korridor vor dem Operationssaal standen. Ich sagte es ihm. »Das werden wir überprüfen«, sagte Dick. »Aber es klingt unwahrscheinlich.« »Du dachtest auch, es wäre unwahrscheinlich, daß jemand auf Lorraine schießt.« Dick nickte. Das ist auch wieder so eine Eigenschaft von Leuten wie ihm – Einheitsmitgliedern meine ich – sie
reagieren nicht auf Anspielungen. Dick hatte einen Fehler gemacht, aber das störte ihn nicht. Er machte sich keine Vorwürfe, daß er das Attentat auf Lorraine nicht vorhergesehen hatte. Wir verließen das Krankenhaus. Dick sagte, daß wir besonders vorsichtig sein müßten, aber mir fiel auf, daß Ione überhaupt nicht zuhörte, was Dick und ich sprachen. Sie sicherte nach allen Seiten wie ein Luchs. Jetzt, da Brent Lorraine bewachte, hatte sie die Aufgabe übernommen, uns zu beschützen. »Weiter«, sagte Dick. »Sollte das Ganze vielleicht so ablaufen? Ich meine, daß Lorraine ernsthaft verletzt, aber nicht tot ist? Schließlich wurde eine alte Explosionswaffe benutzt. Mit einer neuen Waffe wäre es nicht der Mühe wert gewesen, die Überreste des Opfers ins Hospital zu bringen.« Zu meiner Überraschung antwortete Helen darauf. »Ein Schuß in die Schulter, zwei in die Beine, zwei durch die Lunge und einer in den Magen«, sagte sie. »Der beste Schütze der ganzen Galaxis könnte das nicht, wenn er vorhätte, daß sein Opfer überlebt.« Damit war dieser Einwand abgetan. Wenn Lorraine nicht in der Nähe war, redete Helen mehr. Sie steuerte noch einen Punkt bei. »Ist das vielleicht ein Trick von Benoite City, um uns gegen Sedgeware aufzuhetzen?« fragte sie. Dick überlegte. »Nein«, erklärte er dann. »Denn das tut es ja nicht.« Wir gingen zum Haus zurück. Die Polizei hatte inzwischen bereits Posten aufgestellt. Tybrun, der Polizeichef von Sedgeware, ging kein weiteres Risiko ein. Ich erkannte sofort, als die drei Mitglieder der Einheit die Arbeit aufnehmen wollten, daß Dick recht gehabt hatte als er sagte, alle fünf seien wichtig. Es gab keine Einheit mehr – nur
vier Leute, mich mit eingerechnet. Vier Leute, die Fehler machen konnten. Genau wie vier beliebig andere Leute. »Aber morgen setzen wir uns mit Lorraine zusammen«, sagte Dick. »Nein, das werdet ihr nicht«, wandte ich ein. Dick sah mich überrascht an. »Die Tatsache, daß sie im Krankenhaus ist, wird uns nicht daran hindern«, sagte er. »Wir können uns an ihr Bett setzen und – « »Bis jetzt seid ihr die einzigen, die davon überzeugt sind, daß Lorraine ihre Verletzungen überleben wird«, sagte ich grimmig. »Und wir werden kein Risiko eingehen.« Dick nickte zögernd. »Jedenfalls wird sie keine schmerzstillenden Mittel nehmen und daher die nächsten ein zwei Tage ziemliche Schmerzen leiden«, sagte er. »Sie wird also vermutlich nicht in Höchstform sein. Wir warten zwei Tage.« »Wir warten länger«, sagte ich. »Offiziell habe ich die Leitung der Einheit, vergiß das nicht.« Schließlich wurde beschlossen, daß die Einheit in der Zwischenzeit versuchen sollte, die Lage näher zu erkunden. Individuell. Wir trugen Waffen und hielten die Augen offen. Der Unterschied zwischen Ermittlungen, von denen man in Kriminalromanen liest, und den unseren bestand darin, daß in Kriminalromanen die Leute, die hinter dem Spionagering oder dem Verbrechersyndikat stehen, sich in den ersten Kapiteln der Gegenseite vorstellen – wenn auch nicht als Anführer des Spionagerings oder Verbrecherkartells. Der Detektiv muß dann nur die Leute, die er kennt, filtern und darf dabei nicht vergessen, daß, je harmloser ein Verdächtiger, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß er der Schurke sein könnte. Bei uns war die Lage natürlich genau umgekehrt. Von der Annahme ausgehend, daß unsere Widersacher die Fähigkeiten
einer Einheit wenigstens ungefähr kannten und daß sie im übrigen wenigstens durchschnittlich intelligent waren, wußten wir, daß sie sich uns ferngehalten hatten. Keiner der Leute, die wir in Benoite City oder Sedgeware kennengelernt hatten, konnte mit unseren Feinden zu tun haben. Ebenso wie die Einheit Jack Kilman und Rhoda Walker identifiziert hatte, konnte sie auch Leute identifizieren, die in das zweite Attentat auf Lorraine verwickelt waren. Die Tatsache, daß wir es bisher nicht geschafft hatten, bedeutete, daß wir die Täter nicht kannten. Und wir würden sie auch nicht kennenlernen. Detektive werden manchmal unterschätzt. Einheiten unterschätzt man nie.
In den nächsten paar Tagen erfuhren wir so ziemlich alles, was an Perrion wissenswert war. Wir besuchten die anderen Städte. Neben Benoite City und Sedgeware gab es neunzehn Städte, die mehr als zwanzigtausend Einwohner hatten. Wir teilten uns die Besuche so auf, daß alle Städte von einem von uns besucht wurden. Und nach einem dieser Besuche kam Helen mit einer Idee, die vielleicht die Lösung des Nord-Süd-Problems konnte. Benoite City und Sedgeware waren eindeutig die Anführer der beiden Parteien auf Perrion, und die Bewohner dieser zwei Städte waren auch die Anführer in dem Nord-Süd-Streit. Aber Twendon, hundertfünfzig Kilometer nördlich von Sedgeware, und Forest Hill, dreihundert Kilometer südlich von Benoite City, standen ihnen in wirtschaftlicher und politischer Bedeutung kaum nach. Und weder Twendon, noch Forest Hill hatten sich bisher bei dem Disput sonderlich engagiert. Da die eine im Süden der nördlichen Halbkugel, die andere im Norden der südlichen Halbkugel lag, konnten sie beide Standpunkte
verstehen, steuerten einen Mittelkurs und hielten die ganze Auseinandersetzung nicht für sonderlich wichtig. Die Einheit konnte nun, sobald sie wieder funktionierte, leicht das Kräftegleichgewicht verändern und Twendon zur Hauptstadt des Südens und Forest Hill zur Hauptstadt des Nordens machen. Der Einfluß und die Bedeutung von Benoite City und Sedgeware wurden nachlassen und ebenso auch die Bedeutung der von ihnen vertretenen Richtung. Wir brauchten niemandem, nicht einmal den Leuten von Twendon und Forest Hill zu sagen, was wir vorhatten. Keiner von uns sah die geringsten Anzeichen dafür, daß Perrion der Stützpunkt der Freihändler war, und keine unserer Anstrengungen, die Person ausfindig zu machen, die auf Lorraine geschossen hatte, trug Fruchte. Lorraine wurde wieder gesund werden. Sie war so schwer verletzt worden, daß sie noch ein paar Wochen im Krankenhaus bleiben mußte, und selbst Dick bestand für die nächsten vier oder fünf Tage nicht auf einer gemeinsamen Beratung der Einheit. Schließlich hatten wir alles getan, das wir individuell und ohne den Rat der Einheit erreichen konnten, Lorraine war inzwischen so weit genesen, daß sie darauf bestand, an einer Sitzung teilzunehmen, und so begaben wir uns alle ins Krankenhaus und machten uns an die Arbeit. Ich war diesmal nicht anwesend. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, Ärzte und Pfleger fernzuhalten. Wie leicht zu begreifen ist, waren alle dagegen. Ich konnte ihre Haltung sogar zum Teil verstehen. Lorraine war noch alles andere als geheilt, und wenn sie auch nicht mehr in Gefahr war, so war ihr Körper doch voll und ganz mit dem Heilungsprozeß beschäftigt und hatte eigentlich noch nicht die Energie, um einer anstrengenden Sitzung der Einheit beizuwohnen.
Und anstrengend waren diese Sitzungen. Ein Mensch, der nur geistig arbeitet, kann am Ende eines Tages genauso müde sein wie ein Schwerarbeiter. Gut trainierte Einheiten können den ganzen Tag miteinander arbeiten – aber es würde noch einige Zeit dauern, bis Lorraine dazu fähig war. Dick hatte mir versprechen müssen, Lorraine zu schonen. In gewisser Weise hielt er sein Versprechen auch. Sie blieben nur eine halbe Stunde bei ihr. Aber ich sah sie nachher und sie war völlig ausgepumpt. »Mindestens eine Woche keine Beratung mehr, Lorraine«, versprach ich ihr. Sie lächelte schwach. »Es hat mich mehr mitgenommen als ich dachte«, gab sie zu. »Und noch etwas, Edgar – verlaß dich nicht zu sehr auf unsere Schlußfolgerungen. Dick ist zwar zufrieden, aber ich weiß, daß ich nicht mit ganzer Kraft dabei war.« Dick war begeistert, als wir in die Residenz zurückkehrten. »Selbst mit halber Kraft funktioniert die Einheit«, sagte er. »Edgar, du mußt einen neuen Bericht zur E. B. auf der Ente schicken. Wir waren auf der falschen Spur.« Ich wartete. »Jemand hat Jack Kilman damit beauftragt, Lorraine zu töten«, sagte Dick. »Wir dachten, die Freihändler – und wir hatten recht. Jemand hat jemand anderen damit beauftragt, sie hier in Sedgeware zu töten. Wieder die Freihändler, dachten wir, und wieder hatten wir recht. Ich habe dir vor dem Attentat auf Lorraine gesagt, warum ich nicht mit weiteren Anschlägen rechnete. Ich sagte damals, ein weiteres Attentat wäre ein Beweis dafür, daß Perrion etwas zu verbergen hätte. Und das würde, selbst wenn sie uns alle umbrachten, dazu führen, daß ein paar Wochen später ein halbes Dutzend Einheiten von der Erde hier auftauchen würden und das Unterste nach oben kehren.
Nun, jemand hat auf Lorraine geschossen. Wir haben heute also zunächst überlegt, was die Lage verändert hat. Der offenkundige Schluß daraus war, daß die Freihändler in erster Linie Zeit gewinnen wollten. Zeit, um etwas zu Ende zu führen oder zu entkommen oder ein geeignetes Versteck zu finden, ehe eine voll funktionsfähige Einheit auf Perrion in Aktion tritt. Was in zwei Monaten passieren würde, war ihnen gleichgültig. Sie wollten bloß nicht, daß die Einheit jetzt etwas unternimmt.« »Das leuchtet mir ein«, sagte ich interessiert. »Wir müssen also jetzt – « Dick schüttelte den Kopf. »Das haben wir verworfen«, sagte er. »Vier Leute, die man dafür bezahlt hatte, Lorraine zu töten. Bezahlt, vergiß das nicht. Das wissen wir zwar nicht mit Sicherheit, aber wir dürfen es mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen. Und zwar von den Freihändlern bezahlt. Das dürfen wir ebenfalls unterstellen. Was ist daraus zu schließen?« Ich hatte nicht vor, mich auf einen Wettbewerb mit einer Einheit einzulassen. »Sag es mir doch«, bat ich. »Daß der Stützpunkt für Händler, wo auch immer er sein mag, nicht hier ist«, erklärte Dick. Nach allem, was ich bisher berichtet habe, war das vielleicht von Anfang an offenkundig. Ich weiß nicht. Aber mich traf der Gedanke so wie die sechs Kugeln, die sich in Lorraines Körper gebohrt hatten. Alle wirklich brillanten Schachzüge sind einfach. Man verbirgt das Wesentliche so, daß die Gegner alles andere untersuchen, aber nie an das Wesentliche denken. Man übersät seine Umgebung mit Problemen, die die Gegenseite löst, während das Wichtigste die ganze Zeit allen sichtbar offen daliegt. Die Einheiten auf Parionar würden natürlich ebenfalls auf der Suche nach den Freihändlern sein. Aber auf Parionar würde kein Mitglied einer Einheit ermordet werden.
Die Freihändler hatten sich Perrion und uns ausgesucht. Sie waren so klug gewesen, nichts Kompliziertes oder Auffälliges zu versuchen. Wenn das Ganze nämlich zu auffällig war, würden wir den Köder nicht schlucken. Und das wirklich Raffinierte daran war, daß die Schlußfolgerungen, die gezogen wurden, nicht von einer Einheit, sondern von den restlichen Mitgliedern einer Einheit gezogen würden. Natürlich würden wir melden, daß Perrion mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Stützpunkt der Freihändler war, jedenfalls ein Planet, den man bald und gründlich untersuchen mußte. Unterdessen würden die Freihändler, wo auch immer sie wirklich steckten, sich ruhig verhalten – und keiner Einheit in ihrer Umgebung Verdachtsgründe geben. »Das ist nur alles so völlig negativ«, sagte ich. »Wir können überhaupt nichts Positives berichten.« »Wir können eine Vermutung aufstellen«, sagte Dick. »Jack Kilman und Rhoda Walker waren beide einmal auf Fryon. Irgendwann müssen die Freihändler Fühlung mit ihnen aufgenommen haben. Vermutlich nicht auf der Erde. Fryon ist mit Ausnahme der Erde aber der einzige Planet, den sowohl Kilman als auch die Walker besucht haben. Rhoda Walker war auf Perrion, Kilman nie. Es ist natürlich durchaus möglich, daß Fryon nicht der Stützpunkt der Freihändler ist, aber es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Planet, auf dem der Kontakt hergestellt wurde.« Ich erinnerte mich auch an die Passagierliste der Violin Song, »Aber die beiden waren zu verschiedenen Zeiten auf Fryon«, wandte ich ein. »In beiden Fällen liegt das Monate zurück.« Dick nickte. »Ich vermute, daß man sie auf Fryon angeworben hat, aber noch nicht für eine bestimmte Aufgabe. Einfach als mögliche Helfer. Ihre eigentlichen Anweisungen bekamen sie erst viel später.«
Ich war immer noch nicht überzeugt, aber das war auch nicht nötig. Wenn die Einheit diesen Schluß gezogen hatte, war es meine Aufgabe, ihn weiterzumelden.
Einer der Polizisten kam mit einem Telegramm herein. Er hätte eigentlich seinen Posten nicht verlassen dürfen, aber das ist typisch für die Grenzwelten. Erst in hochorganisierten Gemeinschaften achten die Leute wirklich auf Einzelheiten. Das Telegramm kam von der E. B. auf der Erde – es war natürlich verschlüsselt, aber ich brauchte keinen CodeSchlüssel, um es zu entziffern. Name und Adresse lauteten: Edgar Williamson, Einheitsvater, Perrion. Nur das. Und selbst wenn man entweder meinen Namen oder meinen Titel weggelassen hätte, hätte ich das Telegramm dennoch bekommen. Manchmal kam ich mir recht wichtig vor. »Von der E. B.«, sagte ich. »›Grund zur Annahme, Perrion zu verdächtigen. Erbitten Bericht über Fortschritte.‹« Ich sah das Blatt etwas verärgert an. »Typisch E. B. Die wissen genau, daß eines unserer Mitglieder schwer verletzt ist, und dennoch erwarten sie Fortschritte.« Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb. Dann reichte ich es Dick. Ich hatte geschrieben: Perrion ist nicht Stützpunkt der Freihändler. Williamson. Dick runzelte die Stirn. »Etwas nicht in Ordnung?« fragte ich. »Das kannst du nicht abschicken«, sagte er. »Du weißt doch, wie sie alles, was wir ihnen senden, aufnehmen. Die nehmen das als Tatsache und reagieren entsprechend. Bis jetzt ist es doch nur eine Vermutung, daß die Freihändler das Attentat auf Lorraine veranlaßt haben, um uns abzulenken.«
»Aber Einheiten arbeiten doch immer mit solchen Vermutungen.« »Ja, wenn sie sich ihrer Sache ganz sicher sind. Aber Lorraine war nicht voll leistungsfähig, als wir zu diesem Schluß kamen. Wir könnten uns irren.« Ich zögerte. Eigentlich war ich immer noch geneigt, das Telegramm abzuschicken. Es entsprach meiner dramatischen Ader, eine solch lakonische Antwort zu geben. Aber in Wirklichkeit war Dick der Chef der Einheit, und nicht ich. Wenn er die Verantwortung für das Telegramm nicht übernehmen wollte, würde die Einheit das auch nicht tun. Folglich hatte ich nicht das Recht, gegen seinen Wunsch zu handeln. »Schön«, sagte ich zögernd. »Und wie wäre es damit?« Mein zweiter Vorschlag bestand nur aus zwei Wörtern: In Schwebe. Dick nickte. »Ausgezeichnet«, sagte er und grinste. Da wir unterdessen in der Freihändlerangelegenheit nichts unternehmen konnten, widmeten wir unsere ganze Aufmerksamkeit jener anderen Aufgabe – der Beilegung des Streites zwischen dem Norden und dem Süden. Dick, der eine Fabrik in Sedgeware beriet, richtete es so ein, daß ein großer Auftrag nach Twendon ging. Dann reiste er nach Twendon, um Einzelheiten festzulegen. Er erwähnte gute Gründe für seinen Vorschlag, ohne in Sedgeware oder in Twendon zuzugeben, daß der eigentliche Grund darin bestand, daß Twendons industrielle Bedeutung damit zunahm und die Sedgewares sank. Als Ione einen Besuch im Norden machte – wir wohnten, solange Lorraine im Krankenhaus war, in Sedgeware –, ging sie nach Forest Hill und nicht nach Benoite City. Sie verbrachte dort ohne besonderen Grund einige Zeit. Wir wußten, daß jeder Schritt, den einer von uns tat, sorgfältig
beobachtet wurde, und wir wußten auch, daß die Leute sich fragen würden, was Iones Besuch in Forest Hill zu bedeuten hatte. Wenigstens einige Leute würden daraus entnehmen, daß Forest Hill bald besondere Bedeutung erlangen würde. Helen eröffnete in Twendon eine neue Bibliothek. In ihrer Rede deutete sie an, ohne es wirklich auszusprechen, daß Twendon das eigentliche kulturelle Zentrum des Südens sei. Wir fingen an, in Sedgeware etwas unpopulär zu werden. Wir konnten die Tatsache nicht länger verbergen, daß wir Sedgeware nicht für die richtige Hauptstadt des Südens hielten. Danach befragt, entschuldigten wir uns. Schließlich könnten wir auch nichts daran ändern – Sedgeware sei bereits übervölkert, und Twendon wäre die zukünftige Macht in dieser Gegend. Einige Leute dachten darüber nach. Schließlich konnten wir uns nicht irren – folglich zogen sie ihr Kapital aus Sedgeware ab und investierten es in Twendon. Junge Männer und Frauen aus den kleineren Städten gingen nicht mehr nach Sedgeware, wenn sie Arbeit suchten, sondern nach Twendon. Helen und Ione zeigten sich immer häufiger in Kleidung, die ganz und gar nicht der Mode der Erde entsprach. Es waren einfache, farbenfrohe, leicht zu pflegende Kleider. Sie waren ideal für das warme, feuchte Klima Sedgewares geeignet, und es mochte ebenso ein Zufall sein, daß sie sich so gründlich von der Mode der Erde unterschieden. Bald kopierten die Frauen von Sedgeware sie. Dick und Brent und ich trugen nur noch Shorts. Und dann begann sich langsam das geradezu fanatisch terrarische Aussehen von allem und jedem in Sedgeware zu verändern. In weniger als einer Woche hatten wir das Gleichgewicht so sehr von Sedgeware nach Twendon verschoben, daß nur wir selbst noch den Wechsel hätten verhindern können. Es würde noch einige Monate dauern, bis Twendons Führungsanspruch
im Süden voll anerkannt wurde – also auch von Sedgeware – aber aufhalten ließ sich der Machtwechsel nicht mehr. Wir beendeten unseren Feldzug, indem wir von Sedgeware nach Twendon umzogen, sobald Lorraine transportfähig war. Wenn wir das auch nicht ausdrücklich sagten, so vermittelten wir doch den Eindruck, daß wir glaubten, Lorraine würde hier viel bessere Behandlung finden. Außerdem stimmte das auch. Twendon hatte erkannt, daß wir es sozusagen auf die Landkarte setzten, und war uns gebührend dankbar. Auf lange Sicht hatten wir Schritte unternommen, um mit Benoite City und Forest Hill das gleiche zu tun. In dem Fall mußten wir etwas subtiler vorgehen. Wenn man etwas zum zweiten Male versucht, ist es nicht mehr so einfach. Wir hatten aber Glück. Perrion brauchte einen neuen Raumhafen. Er sollte mit Mitteln von der Erde erbaut werden. Perrion brauchte gar nichts zu bezahlen. Die Handelsunternehmen der Erde waren immer bereit, solche Pläne zu finanzieren, da trotz der Zölle immer noch ein immenses Handelsvolumen zwischen der Erde und dem Planeten abgewickelt wurde. Und selbst das arme Perrion war einen Großraumhafen wert. Wir traten mit der E. B. auf der Erde in Verbindung und veranlaßten, daß der geplante Raumhafen von Benoite City nach Forest Hill verlegt wurde. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er erbaut wurde, aber jeder wußte, daß er in Forest Hill und nicht in Benoite City erbaut werden würde – und niemand wußte, daß wir dahintersteckten. Langsam nahm die Bedeutung von Forest Hill zu. Es ging ebenso wie bei Twendon. Und wir sahen auch bereits die ersten Relustate unserer Bemühungen. Sedgeware und Benvite City kämpften immer noch gegeneinander, waren immer noch
tödliche Rivalen, aber es hatte nicht mehr viel zu bedeuten. Und bald würde es überhaupt nichts mehr zu bedeuten haben. Ein langes Radiogramm kam von der E. B. auf der Erde. Es war an die Einheitsväter auf Gersten, Ganisac, Fryon, Parionar, Maverick, Perrion… adressiert. Insgesamt an siebenundvierzig, und lautete: Die Aktivität der Freihändler muß ein Ende haben. Drei Flotten kreuzen in Ihren Bereichen und stehen Ihnen auf Anforderung binnen zwölf Stunden zur Verfügung. Wir wissen, daß die Freihändler ihren Stützpunkt auf einer Ihrer Welten haben. Es sollte der Einheit auf der betreffenden Welt nicht schwerfallen, Beweise für die Anwesenheit der Freihändler zu finden. Bitte teilen Sie uns über offene Welle mit, wie hoch Sie die Wahrscheinlichkeit einschätzen, daß Ihre Welt der Stützpunkt der Freihändler ist. Falls Sie das in Ihrem Fall für unmöglich halten, geben Sie den Wert eins, falls Sie absolut sicher sind, den Wert 10. Senden Sie nichts außer einer dieser Zahlen, sofern Sie nicht Grund zu der Annahme haben, daß der Stützpunkt auf einer bestimmten Welt, aber nicht der Ihren liegt. In diesem Fall senden Sie verschlüsselt. Wir wiederholen – wir finden dieses andauernde Schweigen von siebenundvierzig Einheiten beinahe unglaublich. Die Freihändler können unmöglich so gut versteckt sein, daß keine Einheit sie entdecken kann – es sei denn, sie hätten eine andere Methode des interstellaren Fluges entwickelt. Falls Sie Hinweise in dieser Richtung gehört haben, melden Sie diese sofort. »Ja, das ist eigentümlich«, murmelte Dick als er das Radiogramm las. »Wie kommt es, daß die Freihändler noch nicht entdeckt worden sind – von siebenundvierzig Einheiten?«
Er blickte zu mir auf. »Lorraine ist jetzt außer Gefahr, Edgar. Wir müssen eine Sitzung abhalten.« Ich nickte. E. B. ließ, wie die meisten halbmilitärischen Behörden, keine Ausreden gelten. Wir hatten eine komplette Einheit auf Perrion, und man erwartete von uns auch die Leistung einer kompletten Einheit – selbst wenn eines unserer Mitglieder im Krankenhaus lag. Also fuhren wir ins Krankenhaus. Man verlegte Lorraines Bett in eine kleine Privatstation und schloß die Tür ab. »Du siehst gut aus, Lorraine«, sagte ich. »Ja. Ich habe vierzehn Pfund zugenommen – ist das nicht schrecklich?« rief sie aus. »Du hast es vertragen können.« »Nein – drei oder vier Pfund vielleicht, aber nicht vierzehn. Wollen wir anfangen? Wenn ich dabei vor Anstrengung ein paar Pfände verlieren dann um so besser.« Es war wie die letzte Sitzung, der ich beigewohnt hatte, und ich begriff genausowenig, was vor sich ging. Aber obwohl kh die Einheit das letzte Mal unmittelbar nach dem Attentat auf Lorraine nicht bei der Arbeit erlebt hatte» sah ich» daß das hier völlig anders war. Lorraine lag entspannt im Bett, und doch spürte ich förmlich, wie kraftvoll ihr Beitrag war. Man kann immer nur erraten» wer in einer Einheit was beitragt. Selbst die Mitglieder der Einheit selbst wissen es nicht. Aber bei dieser Sitzung bekam ich den Eindruck, daß Lorraine die wirkliche Kraft hinter dieser Einheit war. Das Herz, wenn man so will. Dick war zweifellos das Gehirn und daher sehr wichtig. Aber das Gehirn ist bei einem Menschen nicht das wichtigste Organ. Das Herz steuert das Gehirn, nicht umgekehrt. Das Gehirn ist dann müde, wenn das Herz es müde macht, und aufmerksam, wenn das Herz es zuläßt. Der Tod erweist sich am Ende fast immer als ein Herzversagen.
Und jedesmal, wenn die Einheit nicht mehr weiterkonnte, war es Lorraine, die sie wieder auf den richtigen Weg brachte. Brent, Helen und Ione machten Vorschläge, aber Dick oder Lorraine mußten diese Vorschläge aufnehmen, ehe etwas daraus zu machen war. Dicks Vorschläge und Schlüsse wurden nie summarisch abgelehnt – höchstens von Lorraine. Da ich jetzt Lorraines Wichtigkeit für die Einheit erkannt hatte, überraschte es mich auch nicht, als ich bemerkte, daß sie diesmal ganz zu Anfang alle Schlüsse verwarfen, die sie beim letzten Mal gezogen hatten. Und dann erkannte ich, daß sie wirklich auf einer heißen Spur war, wenn ich auch noch nicht sah, was das für eine Spur war. Und kurz darauf hatte ich den Eindruck, daß sie etwas suchten und zwar nicht durch Suchen, sondern durch Abwägen der Wahrscheinlichkeit – so wie sie auf dem Schiff eine Liste der drei möglichen Täter aus der Passagierliste zusammengestellt hatten. Ich fragte mich, ob sie wohl glaubten» den Stützpunkt der Freihändler durch reines Raten in Erfahrung zu bringen. Mir kam das unwahrscheinlich vor. Wenn das möglich gewesen wäre, hätte eine der anderen sechsundvierzig Einheiten das schon lange getan. Und doch wußte ich, daß Einheiten ebenso wie einzelne Menschen in ihren Fähigkeiten unterschiedlich sind. Ich hielt meine Einheit für ausnehmend gut. Natürlich wußte ich, daß die meisten Einheitsvater das dachten – genauso wie die meisten Eltern ihr Kind für das intelligenteste auf der ganzen Welt halten. Plötzlich winde die Sitzung unterbrochen – unterbrochen, nicht beendet. Sie sahen mich alle an, alle mit Ausnahme von Lorraine, die die Augen geschlossen hatte und plötzlich sehr müde wirkte. »Edgar«, sagte Dick, »geh und stell fest, wer diesen NordSüd-Konflikt ausgelöst hat. Ich will die Person wissen, die
wirklich damit anfing. Die erste Rede in der Versammlung, die erste Artikel in einer Zeitung, was auch immer es gewesen sein mag. Geh so weit zurück wie du kannst Kümmere dich nicht um die, die später kamen, die Leute, die es nur nachplapperten. Beschaffe zwei Namen – jemand in Benoite City und jemand in Sedgeware.« Ich stand auf. »Muß ich im Verborgenen operieren?« fragte ich. »Nein – sobald du etwas gefunden hast, schalten wir uns ein. Versuche es in den Zeitungsredaktionen und in den Akten des Rates vor der Aufsplitterung, bei der Polizei vielleicht. Möglicherweise mußt du nach Benoite City fahren. Komm zurück, wenn du die zwei Namen hast.« Ich verlangte keine weiteren Informationen. Ich ging ging – und überlegte dabei etwas beleidigt, wie wichtig doch Einheitsväter in Wirklichkeit waren. Wenn seine Einheit richtig in Schwung war, dann schickte sie ihn wie einen Botenjungen herum, und er tat genau das, was man ihm aufgetragen hatte. Ich ging ins Büro der Twendon Times und verlangte den Archivar zu sprechen. Sie führten mich aber nicht zum Archivar, sondern zum Chefredakteur. Wenn ich für meine Einheit auch nur ein Botenjunge war, so war ich für alle anderen doch eine sehr wichtige Persönlichkeit. »Ich mochte nur in Ihren Archiven nachsehen«, wandte ich ein. »Ich brauche Ihre Zeit nkht in Anspruch zu nehmen, Mr. Carse.« »Ich weiß alles, was in den Archiven zu finden ist«, informierte mich der hagere, etwa hungrig wirkende Mann hinter dem Schreibtisch. »Steckt da eine Story dahinter, Mr. Williams?« »Wahrscheinlich wird es eine geben.« »Was wollen Sie wissen? Schießen Sie los, Mann.«
»Wer hat mit dem Konflikt zwischen Benoite City und Sedgeware angefangen?« fragte ich abrupt. Er konnte mir nicht sofort antworten. Er wußte wirklich alles, was die Zeitung je berichtet hatte, so wie er das behauptet hatte, aber ich mußte ihn dazu anleiten. Er machte eine Menge Vorschläge, aber es gab immer irgend etwas, das davor lag. Schließlich meinte er zweifelhaft: »Nun, ich schätze, das Ganze fing mit einem Artikel an, der… wir haben ihn nicht gedruckt, aber die meisten Zeitungen von Sedgeware sehr wohl. Es ist nur so, man wußte zuerst nicht, daß es damit anfing, erst später erkannte man es – wenn man alles wußte, meine ich.« »Das ist genau das, was ich suche«, sagte ich zuversichtlich. »Was stand in dem Artikel, und wer hat ihn geschrieben?«
Dick hatte zwei Namen verlangt. Einen hatte ich jetzt, und ich hatte höchstens eine halbe Stunde gebraucht, um ihn mir zu besorgen. Bei dem zweiten würde es nicht so leicht sein. Ich flog nach Benoite City. Das dauerte fünfundfünfzig Minuten. Benoite City war uns nie so freundlich entgegengekommen wie Sedgeware. Das war nur natürlich; denn Benoite City war an sich nicht so freundlich wie Sedgeware. Der Norden und der Süden sind überall ziemlich ähnlich. Der Norden ist geschäftsmäßig kühl, hart, zynisch, immer gehetzt und verbirgt sein goldenes Herz gut hinter seiner Brieftasche. Der Süden ist gastfreundlich, faul, romantisch, traditionsbewußt, glücklich, optimistisch, freundlich. Wieder ging ich zur Redaktion der größten Zeitung. Wieder führte man mich zum Chef, nur daß er hier geschäftsführender Redakteur hieß. Sein Name war Morrisey.
Morrisey hörte sich an, was ich zu sagen hatte, und erklärte dann sofort: »Was Sie suchen, ist der Ausspruch einer Schauspielerin, die uns hier besuchte. Sie sagte…« Er wiederholte den Ausspruch, und er hatte recht. Das hatte den Anstoß dafür gegeben, daß kurze Zeit darauf der Rat von Benoite City sich dagegen ausgesprochen hatte, weiterhin die Geschichte der Erde in den Schulen zu lehren. Aber ich kam nicht weiter. Die Schauspielerin hatte sich auf einer Tournee rings um die Galaxis befunden und hatte wahrscheinlich Perrion inzwischen schon vergessen. Ich war sicher, daß sie nicht in diese Sache verwickelt war. »Wer hat mit ihr gesprochen«, fragte ich, »ich meine, ehe sie das sagte? Wer in dieser Stadt?« »Einer meiner Reporter, Janeson. Ich hole ihn.« »Nein«, sagte ich schnell. »Sagen Sie nichts zu ihm.« »Wenn eine Story dahintersteckt«, sagte der Redakteur, »gehört die dann mir?« »Ja«, nickte ich, »aber Sie müssen sich mit Carse von der Twendon Times in die Story teilen.« »Soll mir recht sein«, sagte er. »Die Twendon Times wird hier nicht verkauft.« Ich verließ ihn und flog nach Twendon zurück. Vor drei Stunden hatte ich die Privatstation im Krankenhaus verlassen, wo meine Einheit tagte. Sie war immer noch bei der Arbeit, als ich zurückkam. Ich sah Lorraine besorgt an. Sie lächelte schwach. »Ich glaube, jetzt habe ich vierzehn Pfund abgenommen«, sagte sie. »Aber jetzt sind wir fertig. Geht und laßt mich schlafen.« Dick, Helen, Ione, Brent und ich gingen hinaus. »Ehe wir etwas anderes unternehmen«, sagte ich, »müssen wir der E. B. Antwort geben. Ist euch klar, daß wir das Radiogramm vor vier Stunden erhalten haben?«
»Bloß vier Stunden?« sagte Dick. »Mir kommt es wie Jahre vor.« Er war auch müde. »Sende neun und fordere eine Flotte an.« Ich sah ihn mit aufgerissenem Mund an. »Ich würde gerne zehn senden«, sagte Dick, »aber wir sind uns unserer Sache noch nicht ganz sicher.« Ich setzte die beiden Funksprüche unverzüglich ab. Es hat keinen Sinn, wenn man mit seiner Einheit ungeduldig ist. Die sagen einem doch nichts, solange sie nicht dazu bereit sind. »Jetzt haben wir zwölf Stunden Zeit, um eine Menge Arbeit zu erledigen«, sagte Dick. »Sieben«, widersprach ich. »Zwölf Stunden war das Maximum. Die Flotte ist in sieben Stunden da.« Dick stöhnte. »Und wir können Lorraine nicht mitnehmen«, sagte er. »Na schön. Wie war der erste Name?« »Hör zu«, sagte ich, »ich muß etwas wissen. Ihr braucht mir nicht die ganze Geschichte zu erzählen, aber ich muß wenigstens wissen, was wir vorhaben.« »Die Freihändler wollten uns gar nicht von diesem Planeten fernhalten«, sagte Dick. »Die wollten uns vielmehr hier haben. Sie begannen sogar, eigens dazu eine innenpolitische Auseinandersetzung zu inszenieren, um sicher zu sein, daß eine Einheit geschickt wurde. Man erwartete, daß man eine Einheit hierherschickte und daß wir Lorraine unterwegs oder hier verloren, gleichgültig wo, dann zu dem Schluß kamen, daß hier nicht der Stützpunkt der Freihändler sei, sondern auf Fryon. Und diesen Schluß sollten wir der E. B. mitteilen.« »Du meinst, die Freihändler bildeten sich ein, sie könnten eine Einheit austricksen?« rief ich. »Eine Einheit minus eins«, erinnerte mich Dick. »Aber selbst als sie wußten, daß Lorraine nicht tot war, glaubte ich nicht, daß sie sich besondere Sorgen machten. Und das bedeutet, daß sie sich ihrer Sache sehr sicher waren.«
»Und das bedeutet, daß sie verrückt waren!« rief ich aus. Dick schüttelte den Kopf. »Das bedeutet, daß sie selbst eine Einheit hatten«, erklärte er. Ich sagte nicht, daß das unmöglich wäre. Ich sagte überhaupt nichts.
Wir fingen an, George Zamorey zu suchen, den Mann, der den Artikel geschrieben hatte, der Sedgeware sozusagen in den Kampf gegen den Süden geschickt hatte. Er war ein junger, netter Bursche. Als er uns sah, schien er verblüfft, aber nicht verblüfft genug. »Sie sind das also«, sagte Dick. »Ich dachte schon, wir müßten weitersuchen und den finden, der Sie dazu veranlaßt hatte, das zu schreiben.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Zamorey. »O doch, das wissen Sie schon. Haben Sie zufällig vier Freunde?« Er beobachtete Zamorey dabei scharf. Aber Zamoreys Reaktion war offenbar nicht die, die er erwartet hatte. Dick war enttäuscht und ließ sich das auch anmerken. »Was wissen Sie, Zamorey?« fragte er. »Ich weiß nicht, was Sie – « »Wir haben keine Zeit«, sagte Dick ungeduldig. »Brent, du wirst ihn überzeugen müssen.« Ich hatte noch nie viel für Gewaltmethoden übrig gehabt, und wenn ich mehr von dem, was hier vorging, gewußt hätte, hätte ich Brent daran gehindert. Ich wünschte, ich hätte es getan. Zamorey mußte eine Giftkapsel im Mund gehabt haben. Nach fünf Minuten wurde Zamorey plötzlich schlaff, und wir stellten fest, daß er tot war. »Damit ist eine Spur im Wind verweht«, sagte Dick. »Bei dem anderen müssen wir vorsichtiger sein.«
Wir flogen nach Benoite City. Wir alle. Ich ging sofort zu Morrisey und bat ihn, Janeson kommen zu lassen. Er war beinahe zu schnell für uns. Er kam schon, aber er hatte kaum die Tür geöffnet, jedenfalls kaum das Zimmer betreten, als er uns sah, die Tür zuknallte und über den Korridor davonrannte. Wir hinter ihm her. Dick und ich hatten überhaupt keine Chance, und Brent war zwar kräftig, aber langsam. Ione war es, die wie ein Windhund hinter Janeson herhetzte. Hinter ihr kam Brent, dann Helen, dann Dick und ich als Schlußlicht. Trotzdem sah ich, wie er festgenommen wurde. Ione warf sich in einem langen eleganten Satz gegen Janesons Beine, und er ging zu Boden. Mit Ione wäre Janeson bestimmt fertiggeworden, nicht aber mit Brent, der sich kurz darauf über ihn warf. Als ich angekeucht kam, hielt Brent Janeson fest, und Dick fragte: »Wer sind Ihre vier Freunde, Janeson?« Zu meiner großen Überraschung leistete Janeson keinen Widerstand. Er ergab sich sofort und sagte uns alles, was wir wissen wollten. Dick fand das nicht merkwürdig. Er sagte später, Janeson sei schließlich selbst Mitglied einer Art von Einheit und wüßte besser als ein gewöhnlicher Mensch, was ihm da gegenüberstand. Deshalb vergeudete er auch keine Zeit, vorzugeben, nichts zu wissen. Dennoch schien es mir unglaublich, daß Janeson sofort kapitulierte und uns alles sagte. Viel später erst verriet mir Lorraine, die mich immer gemocht hatte, den wirklichen Grund. Einheiten sind nicht loyal. Sie arbeiten für das Gute, sie arbeiten für den Fortschritt, weil sie diese Dinge für besser als das Schlechte, die Anarchie und den Rückschritt halten. Aber loyal sind sie nicht. Loyalität ist Vertrauen über die Vernunft
hinaus, und Einheiten tun nichts, was über die Vernunft hinausgeht. Einheiten arbeiten für die Idee, weil die Idee für Dinge arbeitet, die sie billigen. Aber wenn eine Einheit sich in einer unmöglichen Lage befindet, wird sie nicht bis zum letzten Mann kämpfen, sondern sich ergeben. So wie Janeson sich ergab. Und das ist, was er uns sagte. E. B. war schließlich nicht die einzige Organisation, die eine Einheit bilden und ausbilden konnte. Die Freihändler hatten erkannt, daß sie, um gegen E. B. eine Chance zu haben, selbst eine Einheit besitzen mußten. Sie hatten einen Psychologen bestochen, sich ihnen anzuschließen, fünf Freihändler zu behandeln und sie als Einheit, die für sie arbeiten sollte, auszubilden. Wir hätten schon früher darauf kommen müssen. Es war unvermeidbar, daß früher oder später etwas, das im Dienste des Gesetzes stand, auch von der anderen Seite ausgenützt wurde. »Wenn Kilman oder West ihre Sache richtig gemacht hätten«, erklärte Janeson, »hätten wir Sie geschlagen. Wir wußten, was Sie entscheiden würden. Wir konnten genauso denken wie Sie denken würden. Sie sollten zu dem Schluß kommen, daß unser Stützpunkt auf Fryon lag. Die Einheit auf Fryon sollte bestimmte Hinweise bekommen, sobald Sie ihnen den Tip gegeben hatten. Fünf unserer Schiffe sollten gefunden und vernichtet werden. Anschließend würden die Freihändler in Deckung gehen, und dann hätte es Jahre gedauert, ehe E. B. uns wieder belästigte.« »Sehr clever«, nickte Dick. »Nur hatten Sie natürlich von Anfang an keine Chance, Janeson.« Janeson runzelte die Stirn. »Weil so viele Einheiten gegen uns standen? Das hätte nichts ausgemacht. Wir hätten – « »Nein, weil Sie keine gute Einheit waren«, sagte Dick.
»Unsinn. Wir sind genau so gut wie Sie.« Dick schüttelte den Kopf. »Nein. Man mußte Sie so ausbilden, daß Sie den Freihändlern dienten. Man hatte Ihnen also ein Vorurteil mit eingebaut.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Janeson, »aber Sie irren. Man mußte uns nicht erst ein Vorurteil eingeben. Wir waren von vornherein Freihändler, vergessen Sie das nicht.« »Das hat nichts zu sagen«, entgegnete Dick. »Wissen Sie, als Sie behandelt wurden, hörten Sie auf, Freihändler zu sein. In diesem Zustand mußten Sie sich den Gesetzen unterwerfen, und wenn man Sie dann richtig ausgebildet hätte, wären Sie eine echte Einheit geworden. Sie hätten erkannt, daß man die Existenz der Freihändler nicht dulden durfte, und sich geweigert, für sie zu arbeiten. Man hat Ihnen das wahrscheinlich nicht gesagt, aber die Leute, die Sie ausgebildet haben, mußten einen Zwang einbauen – Loyalität für die Händler. Und Sie wissen genausogut wie ich, daß jede Art von Zwang die Leistungsfähigkeit einer Einheit vermindert.« Janeson biß die Zähne zusammen und sagte kein Wort mehr. Ich glaube, daß er trotz seines Zwanges erkannt hatte, daß Dick die Wahrheit sagte.
Auch den Rest der Freihändlereinheit spürten wir auf. Es war leicht und gar nicht dramatisch. Ebenso wie Janeson erkannten auch die anderen, daß ihr Spiel gelaufen war, und sie ergaben sich und machten uns keine Schwierigkeiten. Aber das eigentliche Ende der Episode wurde eine Galavorstellung – und alle Menschen auf Perrion konnten daran teilnehmen. Als wir die Freihändlereinheit der Polizei übergaben, erwähnten wir die Flotte und ihre Ankunftszeit. Wir wußten, daß die Händler diese Information ohnehin irgendwie
bekommen würden. Die Polizei war zwar nicht unter Kontrolle der Freihändler, aber es bestand kein Zweifel daran, daß die Händler irgendwie Zugang zu offiziellen Informationen hatten. Wir nannten jedoch einen Zeitpunkt, der um eine Stunde differierte. Als die Händlerflotte startete, um vor der Ankunft der Flotte zu fliehen, fuhr sie direkt in sie hinein. Ich hatte schon gesagt, daß der Glückliche immer sein Glück selbst bewerkstelligt. Einheiten scheinen immer Glück zu haben, weit sie die Dinge so drehen, daß die Chancen zu ihren und nicht zu Ihren Ungunsten ausfallen. Nur eine Einheit hatte darauf gewettet, daß die Freihändler gewarnt zu ihren Schiffen rennen und mit einer Stunde Vorsprang die Flucht versuchen würden. Also konnte auch nur eine Einheit diese Wette gewinnen. Die Händlerschiffe versuchten zu kämpfen, und das war ein Fehler. Wahrscheinlich kämpften sie, weil sie wütend waren. Sie hatte mit dieser Entwicklung nicht gerechnet. Von Benoite City aus sahen wir, wie das erste Händlerschiff zuerst dunkelrot glühte, dann hellrosa und schließlich weiß. Es schien den ganzen Himmel zu befeuchten. Als es in einem riesigen Bogen zu Boden ging, mußte es auf einem Viertel der Flache von ganz Perrion sichtbar gewesen sein. Und ehe es abstürzte hatte bereits das nächste Schiff zu glühen begonnen. Die Händler erzielten auch einen Treffer an einem Patrouillenschiff. Aber natürlich war es zehnmal so groß wie die Händlerschiffe und zehnmal so gut ausgerüstet, und so leuchtete es nur grünlich auf und zog sich aus der Schlacht zurück. Zwei Händlerschiffe glühten gleichzeitig und stürzten wie Feuerwerkskörper ab. Es war ein unglaublich schöner Anblick. Ich starrte zum Himmel, und erst als das erste Schiff aufprallte und die Schockwelle uns erreichte, erkannte ich mit
plötzlichem Schrecken, daß Menschen an Bord gewesen waren. Und als ich mich daran erinnerte, daß die Schlacht für mich gar nicht früh genug zu Ende sein konnte, wußte ich, wie ein Henker empfinden mußte. Wir hatten diese Schiffe mit einer Liste der Patrouille entgegengeschickt. Und vorher hatten wir zugelassen, daß Rhoda Walker zu Kilman ging und ihn warnte und von ihm erwürgt wurde. Und dann hatten wir einen Unglücksfall inszeniert, an dessen Folgen Kilman starb. Und als das nächste Schiff glühend durch den Nachthimmel stürzte, erkannte ich, was es bedeutete, ein Einheitsvater zu sein. Die Mitglieder der Einheiten waren unmoralisch. Sie arbeiteten für den größeren Nutzen der Allgemeinheit – aber sie taten das ohne Gnade, ohne Bedauern, ohne die irrationalen, aber sehr menschlichen Gefühle des Bedauerns, die oft gewöhnliche menschliche Wesen davon abhalten, harte Dinge zu tun, von denen sie wissen, daß sie getan werden sollten... zum größeren Nutzen der Allgemeinheit. Wieder zog ein Schiff eine glühende Bahn über den Himmel Ich wandte mich ab. Ich fand kein Vergnügen mehr an der großartigen Leistung, die wir vollbracht hatten. »Gehen wir nach Twendon zurück«, sagte ich, »und erzählen wir Lorraine davon.« »Ja, das werden wir tun«, pflichtete Dick mir bei, und dann wandte auch er dem Drama der Vernichtung der Freihändler den Rücken zu.
Originaltitel: UNIT Copyright ® 1957 by Nova Pubtications. Ltd Aus NEW WORLDS, Februar 1957.