ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 6 von Robert Sheckley Harry Bates A. Bertram Chandler H. Beam Piper
Ausgewählt ...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 6 von Robert Sheckley Harry Bates A. Bertram Chandler H. Beam Piper
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2818 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann und Walter Spiegl
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1971 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02818 7
Der Krieg wurde geächtet, das Töten lizenziert. Wer seine aufgestauten Aggressionen loswerden wollte, brauchte nur eine amtliche Erlaubnis, ein Opfer und TALENT ZUM TÖTEN von Robert Sheckley John Inglis konnte keine Küchenschaben töten. Um nicht auf sie zu treten, legte er sogar Bretterstege durch seine Wohnung. Denn die Schaben kamen, um ihm etwas mitzuteilen: eine BOTSCHAFT AUS DEM ALL von Harry Bates Das Ding kam aus dem Weltraum, aber es war keine Bombe, kein abstürzender Satellit, keine Rakete. Es glühte, strahlte, sandte Impulse aus und öffnete sich. Ein verschollener Zeuge einer untergegangenen Zivilisation… STRANDGUT von A. Bertram Chandler Die Zeit als breites Band, gewebt aus unzähligen Fäden, und jeder Faden eine parallele Welt mit ihrer eigenen Geschichte, Kultur und Entwicklung. Auf einer dieser Tangenten hatte man das Geheimnis entdeckt, von einer Welt auf die andere hinüberzuwechseln. Ein unerschöpfliches Reservoir an Werten war erschlossen – und konnte ausgebeutet werden… SKLAVEN DER ZEIT von H. Beam Piper
Robert Sheckley TALENT ZUM TÖTEN
Stanton Frelaine saß hinter seinem Schreibtisch und bemühte sich so interessiert an der Arbeit auszusehen, wie ein Mann in seiner Position um halb zehn morgens aussehen sollte. Er konnte sich so wenig auf den Anzeigentext konzentrieren, den er am Abend zuvor aufgesetzt hatte, wie auf das Geschäftliche überhaupt. Er wartete auf das Eintreffen der Post. Seit zwei Wochen rechnete er schon mit der Benachrichtigung. Die Behörden ließen sich Zeit, wie üblich. Auf der Glasfüllung seiner Bürotür stand Morger und Frelaine, Konfektionäre. Die Tür ging auf, und. E. J. Morger kam herein. Er hinkte leicht. Ein Andenken an eine alte Schußverletzung. Er hatte einen krummen Rücken, aber mit dreiundsiebzig kümmerte es ihn nur noch wenig, wie er aussah. »Nun, Stan?« fragte Morger. »Was ist mit der Anzeige?« Vor sechzehn Jahren hatte sich Frelaine mit Morger zusammengetan. Er war damals siebenundzwanzig Jahre alt gewesen. Gemeinsam hatten Sie aus der Firma ProtecKleidung einen Konzern mit Millionenumsatz gemacht. »Ich glaube, du kannst sie aufgeben lassen«, sagte Frelaine und reichte Morger den Zettel. Wenn nur die Post früher käme, dachte er. »›Besitzen Sie schon einen Protec-Anzug?‹« las Morger laut vor, während er den Zettel dicht vor die Augen hielt. »›ProtecAnzüge von Morger und Frelaine sind die am besten
verarbeiteten der Welt und führend in der Herrenoberbekleidung.‹« Morger räusperte sich und blickte Frelaine an. Er lächelte und las weiter. »›Protec-Anzüge bieten besten Schutz bei elegantem Schnitt. Jeder Protec-Anzug ist mit einer eingearbeiteten Pistolentasche ausgerüstet. Von außen garantiert unsichtbar. Niemand erkennt, daß Sie eine Waffe tragen. Das wissen nur Sie. Die Pistolentasche ist besonders leicht zu erreichen und gewährleistet das blitzschnelle, ungehinderte Ziehen der Waffe. Pistolentasche wahlweise an der Hüfte oder unter der Achsel.‹ Recht hübsch«, bemerkte Morger. Frelaine nickte nur mürrisch. »›Die Sonderausführung des Protec-Anzugs besitzt eine Pistolentasche mit Federmechanismus, die neueste Entwicklung auf dem Gebiet des Selbstschutzes. Ein Druck auf den verdeckten Knopf, und die Pistole liegt in Ihrer Hand, gespannt und entsichert. Besuchen Sie unsere ProtecVerkaufsstellen. Filialen in allen Stadtteilen. Tun Sie etwas für Ihre Sicherheit!‹ Das ist gut«, sagte Morger. »Ein klarer, unaufdringlicher Text.« Er überlegte kurz, während er seinen weißen Schnurrbart betastete. »Solltest du nicht unsere verschiedenen Modelle erwähnen, Ein- oder Zweireiher, tailliert oder glatt, schmale oder breite Revers?« »Richtig. Das habe ich vergessen.« Frelaine ließ sich den Zettel zurückgeben und schrieb etwas an den Rand. Dann stand er auf und strich das Jackett über dem hervorstehenden Bauch glatt. Frelaine war dreiundvierzig, ein wenig zu schwer für sein Alter und seine Größe und mit einer kahlen Stelle auf dem Schädel. Er machte den Eindruck eines umgänglichen Menschen – bis auf die kalten Augen. »Nur nicht nervös werden«, sagte Morger. »Es kommt sicher heute mit der Post.«
Frelaine lächelte gezwungen. Am liebsten wäre er im Büro auf und ab gegangen, aber er setzte sich auf die Schreibtischkante. »Man könnte meinen, das wäre mein erster Abschuß«, sagte er mit einem säuerlichen Lächeln. »Ich weiß, wie das ist«, sagte Morger. »Bevor ich meine Waffe an den Nagel hängte, konnte ich wochenlang nicht schlafen, während ich auf die Zuweisung wartete. Mir brauchst du nichts zu erzählen.« Die beiden Männer warteten. Als die Stille unerträglich wurde, ging die Tür auf. Ein Angestellter kam herein und legte die Post auf Frelaines Schreibtisch. Frelaine drehte sich auf der Schreibtischkante herum und griff nach den Briefen. Er sah die Umschläge hastig einen nach dem anderen an und entdeckte schließlich, worauf er gewartet hatte: das lange weiße Kuvert von der ECB mit dem Regierungswappen. »Das ist es!« sagte Frelaine und lächelte. »Endlich« »Prima«, sagte Morger und blickte auf den Umschlag, bat jedoch Frelaine nicht, ihn zu öffnen. Das wäre nicht nur ein Verstoß gegen die guten Sitten gewesen, sondern ein Vergehen nach geltendem Gesetz. Niemand durfte den Namen des Gejagten erfahren, nur der Jäger selbst. »Waidmannsheil.« »Waidmannsdank«, erwiderte Frelaine zuversichtlich. Sein Schreibtisch war aufgeräumt, seit einer Woche schon. Er griff nach seiner Aktentasche. »Ein guter Abschuß wird dich mächtig aufmöbeln«, sagte Morger und legte die Hand behutsam auf Frelaines wattierte Schulter. »Warst in einer ziemlich miesen Verfassung.« »Ich weiß.« Frelaine lächelte wieder und schüttelte Morger die Hand. »Ich wünschte, ich wäre noch einmal jung«, sagte Morger und blickte wehmütig lächelnd auf sein steifes Bein. »In Augenblicken wie diesem juckt es mich in den Fingern, und ich wünschte, ich hätte eine Pistole in der Hand.«
Zu seiner Zeit war der alte Mann ein hervorragender Jäger gewesen. Zehn erfolgreiche Jagden hatten ihm die Mitgliedschaft im exklusiven Klub der Zehn eingebracht. Und da er bei zehn Jagden auch zehnmal Gejagter hatte sein müssen, hatte er zwanzig Abschüsse verbuchen können. »Ich hoffe nur, daß mein Opfer nicht so einer ist wie du es warst«, sagte Frelaine in leicht scherzhaftem Ton. »Mach dir darüber keine Gedanken. Das wievielte Mal ist es jetzt?« »Das siebte.« »Die glückliche Sieben. Halt dich ran«, sagte Morger. »Dann schaffst du auch die Zehn.« Frelaine winkte und schritt zur Tür. »Sei nicht leichtsinnig«, warnte Morger. »Nur ein kleiner Ausrutscher, und ich brauche einen neuen Geschäftspartner. Und falls es dich interessiert: einen besseren als dich werde ich so schnell nicht finden.« »Ich passe schon auf«, versprach Frelaine.
Frelaine nahm nicht den Bus, sondern ging zu Fuß nach Hause. Er brauchte etwas Zeit, um sich zu beruhigen. Wie ein Anfänger auf der ersten Jagd wollte er sich nicht benehmen. Beim Gehen hielt Frelaine den Blick stur geradeaus gerichtet. Jemand anzustarren kam einer Einladung zum Selbstmord gleich, falls die Person, auf die man blickte, zufällig ein Gejagter war. Es gab welche, die brauchte man bloß scharf anzuschauen, da schossen die schon. Nervöse Kerle. Frelaine blickte bewußt über die Köpfe derer hinweg, die ihm entgegenkamen. Vor ihm prangte ein großes Plakat an einer Hauswand, das die Dienste J. F. O’Donovans anpries.
»Gejagte!« verkündete das Plakat. »Vermeiden Sie unnötige Risiken. Bedienen Sie sich der Dienste eines lizensierten O’Donovan-Scouts. Wir finden Ihren Jäger. Sie zahlen erst, nachdem Sie ihn ausgeschaltet haben!« Beim Anblick des Plakats fiel Frelaine etwas ein. Er würde Morrow anrufen, sobald er sein Appartement erreicht hatte. Er überquerte die Straße, ging schneller. Er konnte es kaum noch erwarten, seine Wohnung zu erreichen und den Umschlag zu öffnen, um den Namen seines Opfers zu erfahren. Ein kluger oder ein dummer Mensch? Reich wie Frelaines viertes Opfer, oder arm wie die ersten beiden? Würde er sich eines Scouts bedienen oder es auf eigene Faust probieren? Die Erwartung der bevorstehenden Jagd war ein erregendes Gefühl. Sein Blut strömte schneller, sein Herzschlag wurde heftiger. Etwa zwei Querstraßen entfernt fielen Schüsse, zwei kurz hintereinander, dann noch einer. Da war einer erwischt worden, dachte Frelaine. Prima Sache. Ein tolles Gefühl, sagte er sich. Das Leben hatte seinen Reiz für ihn zurückgewonnen.
Nachdem Frelaine sein Appartement betreten hatte, rief er als erstes Morrow an, seinen Späher. Der Mann arbeitete in einer Autowerkstatt, wenn er nicht als Späher gebraucht wurde. »Hallo, Ed? Frelaine hier.« »Nett, daß Sie anrufen, Mr. Frelaine.« Er konnte sich das hagere, mit Ölflecken beschmierte Gesicht des Mannes vorstellen, wie er grinsend ins Telefon sprach. »Ich gehe auf die Pirsch, Ed.« »Waidmannsheil, Mr. Frelaine«, sagte Ed Morrow. »Wünschen Sie, daß ich mich zur Verfügung halte?«
»Ja. Ich rechne mit nicht mehr als einer, höchstens zwei Wochen. Wahrscheinlich werde ich innerhalb von drei Monaten nach dem Abschuß meine Benachrichtigung erhalten, daß ich einem Jäger als Opfer zugewiesen worden bin.« »Ich halte mich bereit. Nochmal, Waidmannsheil, Mr. Frelaine.« »Danke. Auf bald.« Er legte auf. Es war eine kluge Vorsichtsmaßnahme, auf einen erstklassigen Späher bei Bedarf zurückgreifen zu können. Nach dem Abschuß würde Frelaine selbst als Gejagter an der Reihe sein. Und dann war Ed Morrow, wie früher schon, seine beste Lebensversicherung. Morrow war wirklich ein ganz ausgezeichneter Späher. Ein ungebildeter, primitiver Mensch zwar, aber mit einem unheimlich scharfen Blick für Menschentypen. Mit seinen fahlen Augen erkannte er einen Fremden in der Stadt sofort. Mit teuflischer Schläue konnte er Fallen stellen. Ein unersetzbarer Mann. Leise vor sich hin lachend, zog Frelaine den Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn und las den Namen seines Opfers. Janet-Marie Patzig. Sein Opfer war eine Frau! Frelaine stand auf und ging im Raum auf und ab. Dann las er das Schriftstück noch einmal. Janet-Marie Patzig. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Eine Frau. Dem Schreiben lagen drei Fotos und die Adresse der Gejagten bei, außerdem die üblichen Angaben zur Person. Frelaine runzelte die Stirn. Er hatte noch nie eine Frau getötet. Er zögerte eine Weile, bevor er zum Telefon griff und wählte. »Amt für Aggressionskontrolle, Auskunft«, meldete sich die Stimme eineis Mannes. »Sagen Sie mal«, begann Frelaine, »ich habe gerade meine Zuweisung bekommen und eine Frau erwischt. Stimmt das auch?« Er gab den Namen der Frau durch. »Alles in Ordnung«, sagte der Mann nach einer Minute, während er in der Mikrokartei nachgesehen hatte. »Die Frau
hat sich freiwillig gemeldet. Nach dem Gesetz stehen ihr dieselben Rechte und Vergünstigungen zu wie Männern.« »Können Sie mir sagen, wieviele Abschüsse sie schon gemacht hat?« »Tut mir leid, Sir. Wir sind nur berechtigt, Auskunft über den gesetzlichen Status und über Angaben zur Person zu geben; diese wurden Ihnen bereits zugeleitet.« »Ah ja«, sagte Frelaine und zögerte. »Könnte ich ein anderes Opfer zugewiesen bekommen?« »Sie können natürlich die Jagd ablehnen. Dieses Recht steht Ihnen zu. Aber Sie bekommen kein anderes Opfer zugewiesen, solange Sie nicht selbst als Opfer an der Reihe waren. Wünschen Sie, auf die Jagd zu verzichten?« »Nein«, sagte Frelaine hastig. »Das war nur eine Überlegung. Danke.« Er legte auf, setzte sich in seinen bequemsten Sessel und lockerte den Gürtel seiner Hose. Er mußte nachdenken. Verfluchte Weiber! Daß die sich immer in Männerangelegenheiten hineinzwängen mußten! Warum konnten die bloß nicht zu Hause bleiben? Es waren schließlich freie Bürger, sagte er sich. Dennoch, dem Wesen der Frau entsprach das nicht. Er wußte, daß ursprünglich das Amt für Aggressionskontrolle für Männer und nur für Männer geschaffen worden war. Es war nach dem vierten Weltkrieg gegründet worden – oder nach dem sechsten. In der historischen Einordnung waren sich die Gelehrten uneins. Damals war der Wunsch nach dauerhaftem Frieden übermächtig gewesen. Der Grund war so vernünftig wie die Männer, die den Frieden zu erhalten versuchten. Denn die totale Vernichtung der Menschheit wäre unausbleiblich gewesen. Während der Kriege waren die Waffen immer wirksamer geworden, und ihr Vernichtungspotential war ins Unermeßliche gewachsen. Die
Militärs hatten sich an sie gewöhnt und zögerten auch nicht mehr, sie einzusetzen. Aber der. Sättigungsgrad war erreicht. Ein weiterer Krieg wäre wirklich der letzte aller Kriege gewesen. Es hätte niemand überlebt, um den nächsten anzuzetteln. Es blieb also nichts anderes übrig: dieser Frieden mußte für immer währen. Aber die Männer, die ihn erhalten wollten, waren Realisten. Sie erkannten, daß die Spannungen und Gegensätze nicht verschwunden waren, daß die Kessel noch unter Druck standen, aus denen der Anstoß zu Kriegen kam. Sie fragten sich, warum es in der Vergangenheit nicht gelungen war, dauerhaften Frieden zu halten. »Weil die Menschen kämpfen wollen«, hatte die Antwort gelautet. »Nein, das stimmt nicht«, protestierten die Idealisten. Aber die Friedensmacher waren gezwungen, wenn auch widerstrebend, anzuerkennen, daß in weiten Bevölkerungskreisen ein Verlangen nach Gewalttätigkeit latent vorhanden war. Menschen sind keine Engel. Aber auch keine Teufel. Sie sind eben sehr menschliche Wesen mit einer stark ausgeprägten Aggressivität. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse und der Macht, über die die Friedenstifter damals noch verfügten, hätten sie die langwierige Aufgabe in Angriff nehmen können, diese Neigung aus der menschlichen Rasse herauszuzüchten. Viele hielten das für die Lösung. Aber die Realisten taten es nicht. Sie würdigten die Bedeutung des individuellen Wettbewerbs, der Lust am Kämpfen, des bewiesenen Mutes angesichts übermächtiger Widerstände. Sie hielten diese Eigenschaften für bewundernswerte Charakterzüge der Rasse, unentbehrlich für ihren Fortbestand. Ohne sie wäre die Menschheit dazu verurteilt, zu verkümmern und zu degenerieren. Die Neigung zur Gewalttätigkeit, meinten sie, sei unlösbar verbunden mit Erfindungsgabe, Vielseitigkeit und Streben
nach Weiterentwicklung. Es ergab sich also folgendes Problem: eine Art von Frieden zu schaffen, der auch andauern wurde, wenn es sie, die Friedenstifter, einmal nicht mehr gäbe; die Menschheit daran zu hindern, globalen Selbstmord zu begehen, ohne jedoch die hervorstechenden Charaktereigenschaften zu zerstören. Das ließe sich nur erreichen, erkannten sie, indem man die Aggressionen des Menschen kanalisierte, in vorgeschriebene Bahnen lenkte. Für den Menschen ein Ventil zu schaffen, sich abzureagieren. Der erste große Schritt in diese Richtung war die gesetzliche Sanktionierung der Gladiatorenkämpfe mit all ihren blutigen und gewalttätigen Begleiterscheinungen. Aber es bedurfte mehr. Die Sublimierung reichte nur bis zu einem gewissen Punkt. Dann begannen die Leute nach mehr zu verlangen. Es gibt eben keine Ersatzhandlung für Mord. Mord wurde also erlaubt, allerdings auf streng individueller Grundlage und nur für jene, die es wünschten. Die Regierungen der Erde wurden angewiesen, das Amt für Aggressionskontrolle ins Leben zu rufen. Nach einer Periode des Experimentierens wurden einheitliche, verbindliche Vorschriften erlassen. Jedermann, der morden wollte, konnte sich beim AfA melden. Erfüllte er bestimmte Auflagen, wurde ihm ein Opfer zugewiesen. Jeder, der mit staatlicher Erlaubnis morden wollte, mußte bereit sein, sich anschließend seinerseits als Opfer zur Verfügung zu stellen, sofern er überlebte. Dies war, in groben Umrissen, der Stand der Dinge. Der einzelne konnte theoretisch so viele Morde begehen, wie er wollte. Aber nach jedem Mord mußte er auch Opfer sein. Wenn er als Opfer seinen Jäger tötete, konnte er Schluß machen oder eine weitere Morderlaubnis beantragen.
Nach zehn Jahren hatte schätzungsweise ein Drittel der Erdbevölkerung wenigstens einen Mord beantragt. Die Quote reduzierte sich auf ein Viertel, auf welchem Stand sie sich einpendelte. Die Philosophen schüttelten die Köpfe, aber die Realisten waren zufrieden. Krieg konnten nur diejenigen führen, die ihn wünschten – Einzelpersonen. Natürlich wurden verschiedene Spielarten durchprobiert, man ergänzte und rundete ab. Nachdem man sich aber mit dieser Einrichtung vertraut gemacht hatte, wurde sie zum großen Geschäft. Es gab Dienstleistungen sowohl für die Opfer wie auch für die Jäger. Das Amt für Aggressionskontrolle wählte die Namen der Opfer willkürlich aus. Dem Jäger wurden sechs Monate Zeit gelassen, in denen er zum Schuß kommen mußte. Er war auf seinen eigenen Scharfsinn angewiesen und durfte nicht die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen. Er erhielt Namen, Anschrift und Beschreibung des Opfers mitgeteilt und die Erlaubnis, eine Waffe handelsüblichen Kalibers zu benutzen. Jegliche Art von kugelsicherer Kleidung war untersagt. Das Opfer wurde eine Woche früher benachrichtigt als der Jäger. Ihm wurde lediglich mitgeteilt, daß es Opfer sei. Den Namen seines Jägers erfuhr es nicht. Ihm wurde allerdings Schutzkleidung seiner Wahl zugestanden. Es konnte Späher beauftragen. Ein Späher durfte nicht töten. Das war dem Opfer und dem Jäger vorbehalten. Aber ein Späher konnte gefahrlos einen Fremden in der Stadt aufspüren oder einen nervösen Jäger entlarven. Der Gejagte konnte Fallen aller Art stellen, um den Jäger hineinzulocken und zu töten. Strenge Strafen waren ausgesetzt für das Töten oder Verwunden der falschen Person; denn Mord war nur den beiden austragenden Parteien gestattet. Die Todesstrafe traf denjenigen, der aus niederen Motiven tötete wie Habgier oder Mißgunst.
Der einzigartige Vorteil dieser Einrichtung mußte in der Tatsache gesehen werden, daß Leute, die töten wollten, dies auch, tun durften. Wer es nicht wollte – die Masse der Bevölkerung – hatte nichts zu befürchten. Endlich gab es keine großen Kriege mehr. Selbst die Gefahr eines Krieges war für immer gebannt. Es gab nur noch Hunderttausende kleiner Kriege.
Frelaine hatte keine große Lust, eine Frau zu töten aber sie hatte sich freiwillig gemeldet. Seine Schuld war es nicht. Und es fiel ihm nicht ein, auf seine siebte Jagd zu verzichten oder gar dabei umzukommen. Den Rest des Vormittags verbrachte er damit, sich die Einzelheiten zur Person des Opfers einzuprägen. Dann legte er den Brief zu den Akten. Janet Patzig lebte in New York. Gut. Er jagte gern in einer großen Stadt, und New York hatte er schon immer einmal besuchen wollen. Ihr Alter war nicht angegeben, aber den Fotos nach schätzte er sie auf Anfang zwanzig. Telefonisch bestellte Frelaine einen Flug nach New York. Dann duschte er. Mit Sorgfalt zog er den Protec-Anzug an, den er sich eigens für diesen Zweck hatte anfertigen lassen. Aus seiner Waffensammlung wählte er eine Pistole, reinigte und ölte sie und steckte sie in die Auswerfertasche des Anzugs. Dann packte er seinen Koffer. Erregung hatte ihn gepackt. Seltsam, dachte er, wie aufregend doch jedesmal wieder die Aussicht auf einen Mord war. Es war ein Verlangen, dessen man niemals überdrüssig wurde, wie der Hunger nach einer köstlichen Mahlzeit, nach einer Frau, nach Alkohol oder ähnlichem. Es war jedesmal neu und von prickelnder Spannung. Schließlich trat er an die Bücherwand und überlegte, was er mitnehmen sollte.
Seine Bibliothek enthielt sämtliche bedeutenden Schriften über dieses Thema. Bücher, die Wissenswertes für das Opfer enthielten, würde er nicht brauchen, wie zum Beispiel L. Fred Tracys Taktik des Opfers, in dem einer strengen Kontrolle der Umweltbedingungen das Wort geredet wurde, oder Dr. Frischs Wie ein Opfer nicht handeln sollte! In ein, zwei Monaten würde er sich für beide Werke sehr interessieren, wenn er selbst Opfer war. Jetzt brauchte er Bücher über die Jagd. Taktik der Menschenjagd war ein Standardwerk und eine Arbeit von starker Aussagekraft, aber er kannte es fast schon auswendig. Die Methodik des Fallenstellens entsprach nicht seinen augenblicklichen Bedürfnissen. Er wählte Die Jagd in der Stadt von Mitwell und Clark, Späher und wie man sie erkennt von Algren und Die Welt des Opfers vom gleichen Autor. Es war alles vorbereitet. Er schrieb eine Nachricht für die Zugehfrau, verschloß seine Wohnung und nahm ein Taxi zum Flughafen.
In New York stieg er in einem zentral gelegenen Hotel ab, nicht weit von der Wohnung seines Opfers entfernt. Das Hotelpersonal war freundlich und zuvorkommend. Frelaine gefiel das nicht. Es war ungünstig, so schnell als auswärtiger Jäger erkannt zu werden. In seinem Zimmer fiel ihm als erstes eine Broschüre auf dem Nachttisch auf. Wie man vorteilhaft Aggressionen abbaut, lautete der Titel, überreicht mit den besten Wünschen des Hauses. Frelaine lächelte und blätterte darin. Da dies sein erster Besuch in New York war, verbrachte Frelaine den Nachmittag damit, daß er in der Nähe der Wohnung seines Opfers spazierenging. Anschließend besuchte er einige der Geschäfte. Martinson und Black faszinierte ihn.
Er besuchte die Abteilung für Jäger und Opfer. Da gab es leichte, gepanzerte Westen für das Opfer, kugelsichere Richard-Arlington-Hüte. An der einen Wand war eine lange Verkaufsvitrine mit neuen Kurzwaffen vom Kaliber .38. »Nehmen Sie den Malvern Straight shot!« empfahl ein Plakat. »AfA-genehmigt. Zwölf Schuß im Magazin. Unübertroffene Zielgenauigkeit. Treffen Sie mit dem ersten Schuß. Riskieren Sie nicht Ihr Leben, greifen Sie lieber zum Besten. Sicherheit mit Malvern.« Frelaine lächelte. Der Anzeigentext war gut. Die kleine schwarze Waffe machte einen ungemein zuverlässigen Eindruck. Aber er war mit der zufrieden, die er besaß. Es gab Spazierstöcke mit einem vierschüssigen Magazin, eine sichere und unauffällige Waffe. Als junger Mann hatte Frelaine ein Faible gehabt für solche Neuheiten. Inzwischen hatte er gelernt, daß die alte Methode die sicherste und erfolgversprechendste war. Draußen vor dem Geschäft entfernten vier Männer von der Stadtreinigung eine Leiche. Frelaine bedauerte, daß er den Abschuß nicht miterlebt hatte. In einem renommierten Restaurant aß er zu Abend. Anschließend ging er zu Bett. Morgen gab es viel zu tun. Am darauffolgenden Tag besuchte Frelaine wieder die Umgebung des Hauses seines Opfers. Er hatte sich das Gesicht der Frau genau eingeprägt und sah es im Geiste stets vor sich. Er vermied es, die Leute zu genau anzusehen. Statt dessen ging er schnell, als habe er ein Ziel, genau so, wie es ein erfahrener Jäger tun sollte. Er kam an einigen Bars vorbei und betrat eine, um etwas zu trinken. Dann ging er weiter und bog von der Lexington Avenue in eine Querstraße ab.
Er kam an einem netten kleinen Straßencafé vorbei. Und da sah er sie! Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Es war ohne Zweifel Janet Patzig, die da saß und in ihren Drink starrte. Sie blickte nicht auf, als er vorüberging. Frelaine ging weiter bis zur nächsten Straßenecke. Hinter der Ecke blieb er stehen. Seine Hände zitterten. War das Mädchen verrückt, sich so öffentlich zu zeigen? Hielt sie sich für unverwundbar? Er winkte ein Taxi heran und ließ sich um den Häuserblock herumfahren. Tatsächlich, sie saß noch immer da. Frelaine sah sie sich genau an. Sie wirkte jünger als auf dem Foto, aber das mochte eine Täuschung sein. Wie er schon vermutet hatte, konnte sie nicht viel über zwanzig sein. Sie hatte einen Mittelscheitel, und das Haar war hinter die Ohren zurückgekämmt. Sie sah fast aus wie eine Nonne. Ihr Gesichtsausdruck war traurig. Unternahm sie denn gar nichts, sich zu verteidigen? Als sie an einer Telefonzelle vorbeikamen, bezahlte Frelaine und stieg aus. Er betrat die Kabine und rief das AfA an. »Sind Sie sicher, daß ein Opfer namens Janet-Marie Patzig benachrichtigt worden ist?« »Augenblick, Sir.« Frelaine trommelte nervös mit den Fingern gegen die Glasfüllung, während er auf die Auskunft wartete. »Bestimmt, Sir. Uns liegt ihre Bestätigung vor. Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« »Nein«, sagte Frelaine. »Ich wollte mich nur vergewissern.« Letzten Endes ging es niemand etwas an, wenn das Mädchen sich nicht verteidigen wollte. Er hatte dennoch das Recht, sie zu töten. Es war Zeit, zu handeln. Aber er schob es bis zum nächsten Tag auf und ging statt dessen ins Kino. Nach dem Abendessen kehrte er ins Hotel
zurück und las die Broschüre auf dem Nachttisch. Dann legte er sich hin und starrte an die Decke. Er brauchte nur hinzugehen und ihr eine Kugel in den Leib zu schießen. Brauchte bloß mit dem Taxi vorbeizufahren und sie zu töten. Sie stahl ihm jegliche Freude an der Jagd, dachte er unzufrieden, bevor er einschlief.
Am folgenden Nachmittag ging Frelaine wieder an dem Café vorbei. Das Mädchen war da, saß wieder an demselben Tisch wie gestern. Frelaine nahm ein Taxi. »Fahren Sie ganz langsam um den Block herum«, sagte er zum Fahrer. »Ist gut«, antwortete der Mann grinsend, als wisse er über alles Bescheid. Vom Taxi aus suchte Frelaine die Umgebung nach Spähern ab. Soweit er es beurteilen konnte, hatte das Mädchen keine. Ihre Hände lagen offen auf dem Tisch. Ein leichtes, unbewegliches Ziel. Frelaine berührte den Pistolenknopf seines Zweireihers. Der Federmechanismus der Pistolentasche warf ihm die schußbereite Waffe in die Hand. Er zog den Verschluß zurück und überprüfte die Ladung. Dann ließ er die Waffe zuschnappen. »Fahren Sie langsam«, befahl er dem Taxifahrer. Im Schrittempo fuhr das Taxi am Café vorbei. Frelaine zielte sorgfältig, hatte das Mädchen im Visier. Sein Finger lag fest auf dem Abzug. »Verdammt nochmal!« fluchte er. Ein Kellner war zwischen das Taxi und das Mädchen getreten. Frelaine wollte das Risiko nicht eingehen, einen Unbeteiligten anzuschießen. »Noch einmal um den Block herum«, wies er den Fahrer an. Der Mann grinste wieder und beugte sich erwartungsvoll über das Steuer. Frelaine fragte
sich, ob der Fahrer genauso bereitwillig alles tun würde, wenn er wüßte, daß Frelaine es auf ein Mädchen abgesehen hatte. Als sie das Café zum zweitenmal erreichten, war kein Kellner mehr im Weg. Das Mädchen zündete sich gerade eine Zigarette an. Die Flamme des Feuerzeugs war dicht vor ihrem traurigen Gesicht. Frelaine zielte genau in die Mitte über ihren Augen und hielt den Atem an. Doch dann schüttelte er den Kopf und steckte die Pistole ein. Dieses närrische Weib nahm ihm die ganze Freude am Töten! Er ließ halten, bezahlte und ging zu Fuß weiter. Es war viel zu leicht, sagte er sich. Er war schwierige Jagden gewöhnt. Seine bisherigen sechs Opfer hatten seine Fähigkeiten voll beansprucht. Die Gejagten hatten es mit allen Tricks versucht. Einer hatte wenigstens ein Dutzend Späher gemietet. Aber Frelaine hatte sie alle erwischt, indem er seine Taktik gewechselt oder sich ihrer angepaßt hatte. Einmal hatte er sich als Milchmann verkleidet, ein andermal war er als Gerichtsvollzieher aufgetreten. Sein sechstes Opfer hatte er durch die Sierra Nevadas hetzen müssen. Der Mann hatte ihn sogar angeschossen. Aber Frelaine hatte besser gezielt als er. Wie konnte er also auf diesen siebten Abschuß stolz sein? Was würde man im Zehner-Klub dazu sagen? Das brachte Frelaine in die Gegenwart zurück. Er wollte in den Klub, koste es was es wolle. Wenn er auf das Mädchen verzichtete, würde er sich als nächstes einem Jäger als Opfer zur Verfügung stellen müssen. Und wenn er das überlebte, trennten ihn immer noch vier Jagden von der Mitgliedschaft. Die Gefahr bestand, daß er sein Ziel niemals erreichte, wenn er so weitermachte wie jetzt. Wieder ging er an dem Café vorbei. Unvermittelt blieb er stehen. »Hallo«, sagte er. Janet Patzig blickte ihn mit melancholischen blauen Augen an, sagte aber nichts.
»Wissen Sie«, sagte er und setzte sich, »falls ich Ihnen lästig falle, brauchen Sie es mir nur zu sagen, dann gehe ich. Ich bin zum erstenmal in New York, besuche einen Kongreß. Und ich möchte mich mal wieder mit einer Frau unterhalten. Wenn Sie lieber nicht…« »Ist mir gleichgültig«, sagte Janet Patzig ausdruckslos. »Brandy«, sagte Frelaine zum Kellner. Janet Patzigs Glas war noch halbvoll. Frelaine musterte das Mädchen und konnte nicht verhindern, daß sein Herz schneller zu schlagen begann. Das kam seinen Vorstellungen von einer aufregenden Jagd schon näher. Mit dem Opfer an einem Tisch sitzen und trinken! »Ich heiße Stanton Frelaine«, stellte er sich vor. Er wußte, daß sie mit diesem Namen nichts anfangen konnte. »Janet.« »Janet – und wie noch?« »Janet Patzig.« »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Frelaine so artig und normal wie möglich. »Haben Sie heute abend schon etwas vor, Janet?« »Wahrscheinlich werde ich umgebracht«, sagte sie mit phlegmatischer Stimme. Frelaine beobachtete sie aufmerksam. Ahnte sie, wer er war? Wußte er, ob sie nicht in diesem Augenblick unter dem Tisch eine Pistole auf ihn gerichtet hatte? Er behielt seine Hand in der Nähe des Pistolenknopfes. »Werden Sie gejagt?« fragte er. »Sie haben es erraten«, antwortete sie sarkastisch. »An Ihrer Stelle würde ich meine Umgebung meiden. Sie hätten nichts davon, wenn Sie versehentlich angeschossen würden.« Die Ruhe des Mädchens war für Frelaine unbegreiflich. Suchte sie den Tod? Vielleicht war ihr alles egal. Vielleicht wollte sie ganz einfach sterben.
»Haben Sie denn keine Scouts?« fragte er, ohne seine Neugier zu übertreiben. »Nein.« Sie blickte ihm offen ins Gesicht, und Frelaine fiel etwas auf, das er bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie war sehr schön. »Ich bin ein übles Luder«, sagte sie leichthin. »Ich kam auf die Idee, jemand umbringen zu wollen, und habe mich beim AfA gemeldet. Dann – dann verließ mich plötzlich der Mut.« Frelaine schüttelte mitfühlend den Kopf. »Aber ich bin aus der Sache natürlich noch nicht heraus. Obwohl ich nicht geschossen habe, muß ich trotzdem Opfer sein.« »Aber warum haben Sie sich keine Späher genommen?« fragte er. »Ich könnte ja doch keinen Menschen töten«, antwortete sie. »Es geht einfach nicht. Ich besitze noch nicht einmal eine Pistole.« »Sie haben aber Mut«, sagte Frelaine. »Sich so offen zu zeigen.« Er wunderte sich, wie man nur so dumm sein konnte. »Was soll ich denn tun?« fragte sie. »Vor einem Jäger kann man sich nicht verstecken. Jedenfalls vor keinem erfahrenen. Und ich habe nicht das Geld, um unterzutauchen, richtig unterzutauchen.« »Da es um Ihr Leben geht, könnte ich mir vorstellen…«, begann Frelaine, aber sie unterbrach ihn. »Nein. Ich bin mir über diesen Punkt völlig im klaren. Das ist nicht recht, die ganze Einrichtung ist unmenschlich. Als ich mein Opfer im Visier hatte – als ich sah, wie einfach ich es hätte töten können, wie leicht…« Sie riß sich zusammen. »Ach, vergessen wir es«, sagte sie und lächelte. Frelaine fand ihr Lächeln bezaubernd. Anschließend sprachen sie über andere Dinge. Frelaine erwähnte Geschäftliches, sie erzählte ihm etwas über New York. Zweiundzwanzig sei sie, und als Schauspielerin habe sie
keinen Erfolg gehabt. Sie aßen gemeinsam zu Abend. Als sie Frelaines Einladung annahm, ihn zu den Gladiatorenkämpfen zu begleiten, fühlte er sich in Hochstimmung. Er winkte ein Taxi heran – es schien, als verbringe er die meiste Zeit in New York in Taxis – und hielt ihr die Tür auf. Sie stieg ein. Frelaine war unentschlossen. Wie leicht hätte er ihr jetzt eine Kugel verpassen können. Aber er tat es nicht; noch nicht, sagte er sich.
Die Gladiatorenkämpfe waren so wie überall sonst auch, nur die Mitwirkenden waren besser. Geboten wurden die üblichen historischen Schauspiele, Schwertkämpfer gegen Netzwerfer, Duelle mit Säbel und Florett. Natürlich wurden die meisten Kämpfe bis zum Tode ausgetragen. Dann kämpften Menschen gegen Stiere, Löwen und Nashörner. Anschließend ein Scharmützel mit Pfeil und Bogen hinter Barrikaden. Den Abschluß bildete ein Zweikampf auf dem Hochseil. Es war ein angenehmer Abend. Frelaine begleitete das Mädchen nach Hause. Seine Handflächen klebten vom Schweiß. Noch nie zuvor war ihm eine Frau begegnet, die ihm besser gefallen hätte. Und doch war er berechtigt, sie zu töten. Er wußte nicht, was er tun sollte. Sie lud ihn in ihre Wohnung ein, und sie setzten sich auf die Couch. Das Mädchen zündete sich mit einem großen Tischfeuerzeug eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Verlassen Sie die Stadt bald?« fragte sie. »Ich glaube schon«, antwortete er. »Der Kongreß dauert nur noch einen Tag.« Sie schwieg eine Weile. »Schade, daß Sie so bald gehen müssen. Lassen Sie Rosen auf mein Grab legen.«
Dann schwiegen beide. Janet stand auf, um ihm etwas zu trinken zu holen. Frelaine starrte auf ihren Rücken, als sie durch den Raum ging. Jetzt war es soweit. Er hob die Hand zum Knopf. Aber der Augenblick, sie zu töten, war längst vorbei. Er konnte es nicht mehr tun. Man tötete doch nicht die Frau, die man liebte. Die Erkenntnis, daß er sie liebte, kam für ihn wie ein Schock. Er war gekommen, um zu töten, nicht, um sich in eine Frau zu verlieben! Sie kam mit dem Glas zurück und setzte sich ihm gegenüber. Ihr Blick ging ins Leere. »Janet«, sagte er, »ich liebe Sie.« Sie saß da und blickte ihn an. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Das dürfen Sie nicht«, protestierte sie. »Ich bin ein Opfer. Ich habe nicht mehr lange genug zu leben, um…« »Niemand wird Sie töten. Ich bin Ihr Jäger.« Sie starrte ihn an, dann lachte sie unsicher. »Werden Sie mich denn nicht töten?« fragte sie. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, antwortete er. »Ich will Sie heiraten.« Plötzlich lag sie in seinen Armen. »Oh, Gott!« keuchte sie. »Das Warten – die Angst…« »Das ist nun vorbei«, sagte er. »Denk nur mal, was für eine einmalige Geschichte du eines Tages unseren Kindern erzählen kannst. Wie ich kam, um dich zu ermorden, und wie ich dich statt dessen heiratete.« Sie küßte ihn, dann setzte sie sich wieder hin und zündete sich eine Zigarette an. »Komm, packen wir«, sagte Frelaine. »Ich möchte…« »Warte«, unterbrach ihn Janet. »Du hast mich noch gar nicht gefragt, ob auch ich dich liebe.« »Was?« Sie lächelte immer noch, während sie das Tischfeuerzeug in der Hand hielt, das wie zufällig auf ihn gerichtet war. In der Standfläche war ein schwarzes Loch, groß genug für eine
Kugel vom Kaliber .38. »Hör auf mit dem Unsinn«, sagte er und traf Anstalten, aufzustehen. »Ich mache keinen Unsinn, Liebling«, antwortete sie. Frelaine hatte nur noch den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um sich zu wundern, wieso er hatte glauben können, daß sie nicht viel älter als zwanzig sein konnte. Als er sie jetzt anblickte, zum erstenmal richtig anblickte, wußte er, daß sie wenigstens dreißig Jahre alt sein mußte. Jeder Augenblick ihrer nervenaufreibenden, in ständiger Anspannung verbrachten Jahre zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ich liebe dich nicht, Stanton«, sagte sie sehr sanft. Das Tischfeuerzeug war immer noch auf ihn gerichtet. Frelaine hatte Mühe zu atmen. Irgendein Teil seines Gehirns fand die Zeit zu erkennen, was für eine meisterhafte Schauspielerin sie wirklich war. Alles war von vornherein geplant und hervorragend in Szene gesetzt. Frelaine drückte auf den Knopf, die Pistole sprang in seine Hand, gespannt und feuerbereit. Der Schlag gegen seine Brust warf ihn über den Couchtisch. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Nur noch halb bei Bewußtsein und keuchend sah er, wie sie zielte, um ihm den Fangschuß zu geben. »Jetzt gehöre ich zum Zehner-Klub«, hörte er sie noch triumphierend sagen, bevor sie abdrückte.
Originaltitel: SEVENTH VICTIM. Copyright © 1953 by Galaxy Publishing Corporation. Aus GALAXY SCIENCE FICTION April 1953. Übersetzt von Walter Spiegl.
Harry Bates BOTSCHAFT AUS DEM ALL
Ich habe eine sehr wichtige Botschaft für Sie. Ich gebe sie im Auftrag eines Mannes weiter, der soeben verschieden ist. Er starb, um Ihnen diese Botschaft zu übermitteln. Ich komme gerade von ihm. Ich war bei ihm, als er starb. Achten Sie nicht auf die Verwirrung auf den Straßen. Belästigen Sie die fremden Wesen nicht. Lesen Sie die Geschichte zu Ende. Dann erfahren Sie die Botschaft. Ich kann Ihnen die Botschaft erst weitergeben, wenn Sie die Vorgeschichte kennen. Erst dann spüren Sie, wie zwingend sie ist. In der Lokalredaktion herrscht Aufruhr, als ich zu schreiben beginne. Es quirlt und wallt um mich herum. Von der Straße kommt es herauf, es dringt aus Leitungen und Telefonapparaten. Ich glaube, eines von diesem fremden Wesen sitzt auf unserem Dach. Eine Meile von meiner Redaktion entfernt sitzt John Inglis in seinem großen Lehnstuhl. Endlich hat dieser so sensible Mann seinen Frieden gefunden. Ich weiß, wie friedlich er gestorben ist. Sein prachtvoller Kopf ruht auf seiner Brust. Sein Gesicht ist totenblaß. Am Handgelenk ist die Pulsader aufgeschnitten. John Inglis ist der Mann, der Ihnen die Botschaft schickt. Ich spüre, wie er jetzt meine Hand führt. (Sie werden das später noch verstehen.) Jedes Wort unseres Gesprächs ist mir gegenwärtig. Kurze Unterbrechung: Der Lehrjunge hat mir die erste Seite aus der Maschine gerissen und bringt sie direkt zur Setzerei. Meine Hoffnung erfüllt sich. Mein Bericht wird nicht
mehr redigiert. Die Zensur bleibt mir erspart. Ich kann Ihnen einen vollständigen Bericht geben. Aber ich muß mich beeilen. Vor ein paar Stunden lebte ich noch in einer normalen Welt. Ich hatte einen Artikel abgeliefert. Der Lokalredakteur gab mir einen Zettel. Der Hausverwalter des Gebäudes, in dem John Inglis wohnte, hatte in der Redaktion angerufen. Der berühmte Spiritist habe »den Verstand verloren«, wie er das nannte. Seine Wohnung sei voll Küchenschaben. Er verhalte sich wie ein Freund zu ihnen. Überhaupt gingen da seltsame Dinge vor. Er wolle ihnen auf den Grund gehen. Auf dem Zettel stand ein Vermerk in der Handschrift des Lokalredakteurs: »Warren – Sie kennen doch diesen Mann. Aufmacher?« Jeder von Ihnen hat natürlich schon von Inglis gehört. Sie werden sich erinnern, wie John Inglis und sein Zwillingsbruder Robert die Welt mit ihren Arbeiten auf dem Gebiet der Parapsychologie aufhorchen ließen. Doch für mich verbanden sich mit diesem Namen auch persönliche Erinnerungen. Ich studierte gerade an der Columbia Universität, als die beiden ihre aufsehenerregenden Arbeiten veröffentlichten. Ich starrte sie an wie Wundertiere. Ihre Forschungsergebnisse beeindruckten mich tief. Seither habe ich mich immer besonders für parapsychologische Phänomene interessiert. Der Auftrag klang vielversprechend. Zuerst einmal ging ich hinunter und studierte das Archiv. Das Material über die beiden war sehr umfangreich. Die meisten Berichte lagen aus der Zeit vor, als die beiden noch als Doktoranden bei Dr. S. T. Whitman arbeiteten, dem berühmten Parapsychologen an der Columbia Universität. Dann lagen eine Reihe von Artikel vor, die sich mit der Arbeit der Brüder nach ihrem Studium beschäftigten. Sie umfaßten den Zeitraum von zwölf Jahren und waren im Grunde nur Wiederholungen der Forschungsergebnisse auf der Universität. Zwei dieser Artikel stammten aus meiner Feder. Die letzten Jahre hatten nichts Neues gebracht. Im Gegenteil. Keiner von den
Zwillingen hatte geheiratet. Jeder lebte für sich, streng abgeschlossen und in düsterster Armut. Immer wieder tauchten die gleichen Fragen in den Artikeln auf: Warum traten sie so wenig hervor? Warum machten die beiden so wenig aus ihrem großen Talent? Warum lebten sie so anonym und arm? Warum versuchten sie nicht wenigstens, mit Wetten oder Spekulationen an der Börse zu Geld zu kommen? Warum nahmen sie nicht den Platz in der Gesellschaft ein, der ihnen gebührte? Ich überflog die Zeitungsausschnitte und suchte mir dann einen Fotografen. Ich will den Mann, den man mir zuteilte, Willie nennen. Willie ist ein vertrockneter kleiner Kaugummifresser; aber ein gewandter Bursche. Jeder hält ihn für ein As auf seinem Gebiet, einen hervorragenden Fotograf. Ich halte ihn für eine Wanze. Ich mag weder seine Manieren noch seine Methoden, und er mag mich auch nicht besonders. Unterwegs versuchte ich Willie schonend beizubringen, daß er sich zu benehmen habe. »Der Mann, den wir jetzt besuchen, ist der eine von zwei eineiigen Zwillingen und heißt Inglis«, erklärte ich. »Er ist sehr sensibel, ein großer Spiritist und ein wunderbarer Mensch. Ich habe erst letztes Jahr einen Artikel über ihn geschrieben. Diesmal fahre ich mit einem sehr sonderbaren Auftrag zu ihm. Es geht um Küchenschaben. Das verspricht eine gute Story zu werden – mit interessanten Bildern. Aber ich verlange von dir, daß du dich ordentlich beträgst, Willie. Laß ihn so lange in Ruhe, bis ich mit ihm fertig bin. Versuche nicht, ihn zu einer Pose herauszufordern. Zwinge ihn nicht zu einer lächerlichen Bewegung. Und keine von deinen berüchtigten Reißern, verstehst du? Kein ungeschminktes Porträt!« Natürlich kaute er wie immer Gummi. Er kaute und gab keine Antwort. »Hast du verstanden?« fragte ich grob.
»Du schreibst deine Story. Versuche mir nicht beizubringen, wie ich mein Handwerk ausüben soll«, erwiderte er stur. »Ich sage dir nur, was du tun sollst«, sagte ich laut. »Weißt du, was ein Spiritist ist?« »Weißt du es?« gab er zurück. Willie ist natürlich nicht besonders intelligent. »Spiritisten sind Menschen, die über Kräfte verfügen, die man mit normalen physikalischen Gesetzen nicht erklären kann«, dozierte ich. Willie würde nie zugeben, daß er ein Ignorant ist. »Sie können hellsehen – das heißt, Dinge berichten, die sich an einem entfernten Ort zutragen oder dort existieren. Oder sie haben ein telepathisches Talent. Das heißt, sie können die Gedanken anderer Leute lesen. Oder sie haben die Gabe der Prophetie. Sie können also Dinge voraussagen, die erst in der Zukunft passieren. Oder sie besitzen die Fähigkeit der Psychokinese. Das heißt, sie können Gegenstände bewegen, ohne daß dabei eine physikalische Kraft im Spiel ist. Mit außersinnlichen Methoden.« Er kaute und kaute. Ich wußte, was er sich jetzt dabei dachte. Dann fuhr ich fort: »Diese Leute lesen nicht deine Zukunft aus dem Kaffeesatz oder blicken in Kristallkugeln. Sie nehmen kein Geld für ihr Talent. Sie können ihre Fähigkeiten unter streng wissenschaftlichen Bedingungen unter Beweis stellen. Auch vor Okkultisten, die man hinzuzieht, damit jedes Betrugsmanöver ausgeschlossen ist, können sie das.« »Nichts als Schwindler«, sagte er mit verächtlicher Entschiedenheit, ohne seinen Kauapparat anzuhalten. »Die Wissenschaftler, die mit diesen Leuten zusammenarbeiten, sind anderer Meinung«, sagte ich. »Bisher hat noch kein Spiritist das große Los bei der Lotterie gezogen«, meinte Willie.
Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben. »Das stimmt«, sagte ich, »sie sagen keine Glückszahlen voraus. Dafür gibt es einen Grund. Sie versuchen es erst gar nicht.« Er grinste, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Von jetzt ab kaute und rauchte er. »Es gibt noch einen zweiten Grund. Sie raten meistens falsch. Selbst die besten Spiritisten sind nur eine begrenzte Zeit lang unfehlbar. Deshalb muß man ihre Erfolge auch statistisch auswerten. Auch für John Inglis trifft das zu. Trotzdem ist er eine Klasse für sich. Er und sein Zwillingsbruder Robert.« Willie kaute und paffte. Nichts drang zu ihm durch. Ich gab es auf.
Wir erreichten nach kurzer Fahrt das Haus. Es war die gleiche Adresse wie im Jahr zuvor – ein heruntergewirtschaftetes Mietsgebäude in einem Industrieviertel am East River. Der Eingang war ein Loch, das früher einmal mit weißem Marmor verkleidet gewesen war. Jetzt waren nur noch brüchige, bröckelnde Reste übriggeblieben, mit Kreide vollgeschmiert. Überquellende Kehrrichttonnen standen davor. In der schmutzigen Eingangshalle erinnerte ich mich wieder, daß Inglis’ Wohnung im Erdgeschoß nach hinten hinaus lag. »Also, benimm dich!« warnte ich Willie zum letztenmal, ehe ich an die Wohnungstür klopfte. Nichts rührte sich. Ich klopfte noch einmal; aber es rührte sich immer noch nichts. Ich wartete und hoffte, daß uns jemand öffnen würde. Ich wünschte es in Gedanken. Doch da trat Willie mit dem Absatz gegen die Tür. Natürlich tat er das viel zu kräftig. Und der Lärm lockte einen Mann aus der Wohnung gegenüber. Er steckte den Kopf durch den Türspalt und wisperte: »Ich bin der Hausmeister.« Er hielt den Finger an die Lippen und winkte uns zu. Wir folgten ihm in die Küche, die mit
Wachstuch tapeziert war. »Sind Sie die Reporter?« fragte er. »Ich habe nämlich telefoniert, sie sollen jemand herschicken.« »Ist Inglis zu Hause?« »Ja, er ist zu Hause. Er geht ja nie aus.« »Sie erzählten was von Küchenschaben. Was ist damit?« »Tja, das ist ja das Merkwürdige daran, die Küchenschaben«, erwiderte der Hausmeister. »Was mit denen los ist, weiß ich auch nicht genau. Aber da gehen sonderbare Dinge vor. In unserem Haus wohnt nämlich ein kleines Mädchen, das Inglis die Einkäufe besorgt. Gestern ließ es die Wohnungstür offen, und ich konnte bis in die Küche hineinsehen. Mr. Inglis ist immer sauber und ordentlich gewesen. Deswegen bin ich auch so erschrocken, als sein Küchenfußboden von Schaben nur so wimmelte. Auch tote Schaben lagen herum. Doch das Merkwürdige kommt noch. Er hat Bretter auf dem Küchenboden ausgelegt, aufgebockte Bretter, damit er durch die Küche gehen kann, ohne auf die Schaben zu treten. Er läuft immer nur auf den Brettern herum. Ich glaube, er hat den Verstand verloren.« »Wie lange liegen die Bretter schon in der Küche?« »Keine Ahnung. Vor einer Woche waren sie noch nicht da.« »Redet er denn irre?« »Nein. Er redet wie immer. Viel hat er ja noch nie gesagt. Meistens geht er schweigend an einem vorbei, den Kopf etwas zur Seite gedreht, als denke er über etwas nach. Er denkt immer nach.« »Warum öffnet er dann nicht die Tür?« »Manchmal möchte er nicht gestört werden.« »Vielleicht ist er heute wirklich nicht zu Hause.« »Doch, er ist da. Ich zeig’s Ihnen.« Wieder legte er den Finger an die Lippen und führte uns zum Hinterausgang. Eine hohe Backsteinmauer schloß einen kleinen, dunklen Hof gegen das Nachbarhaus ab.
Die Jalousien hinter den Fenstern von Inglis’ Wohnung waren herabgelassen. Ein schmaler Betonweg führte um das Haus herum. Wir folgten dem Hausmeister auf Zehenspitzen zum nächsten Fenster, das sich auf diesen Betonstreifen hinaus öffnete. Dort spähte er durch die Scheibe. Auch hier war die Jalousie hinter dem Fenster herabgelassen. Doch eine Lamelle war beschädigt, und man konnte in das Zimmer hineinsehen. Der Hausmeister nickte mir zu. Ich spähte durch den Spalt in der Jalousie. John Inglis war tatsächlich im Zimmer. Das Licht war angedreht, und ich konnte seinen Kopf erkennen und die rechte Schulter. Er saß in einem Lehnsessel und bewegte sich nicht. Zuerst glaubte ich, er sei eingeschlafen. Doch dann bewegte er den Kopf etwas zur Seite. Ich trat zur Seite und ließ Willie ans Fenster. Im nächsten Moment hatte Willie schon sein erstes Bild geschossen. Ich sah ihn böse an, sagte aber nichts. Viel würde er mit diesem Schnappschuß nicht anfangen können. »Sie haben recht«, flüsterte ich dem Hausmeister zu. »Er ist da drin, und er ist wach. Warum macht er dann nicht die Tür auf?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er manchmal nicht gestört werden will«, erwiderte der Hausmeister leise. Wir gingen wieder zurück in das Haus und klopften noch einmal an Inglis’ Wohnungstür. Das heißt, wir trommelten mit den Fäusten dagegen. Inglis rührte sich nicht. Es blieb totenstill in der Wohnung. Allmählich machte ich mir Sorgen um Inglis. Willie drehte am Türknopf. Die Tür gab nicht nach. Willie holte etwas Längliches aus der Tasche und schob es in den Spalt zwischen Türschloß und Türpfosten. Ich konnte nicht sehen, was Willie in der Hand hielt; aber ich konnte es mir denken. In der Redaktion hatte man oft davon gesprochen. Es war ein Streifen biegsamen Stahls.
Im gleichen Moment lehnte er sich gegen die Tür, und sie gab nach. Er trat in den dunklen Wohnungsflur hinein. Der Hausmeister folgte ihm. Das war natürlich eine Ungehörigkeit. Aber daran dachte ich jetzt nicht. Ich folgte ebenfalls. Willie hatte bereits eine Taschenlampe in der Hand. Wir befanden uns in einer ziemlich geräumigen Küche. Der Lichtstrahl huschte über den Boden. Der Hausmeister hatte die Wahrheit gesagt. Zwei Bretterstege führten kreuz und quer durch die Küche. Dazwischen lagen Bretter, die diagonale Verbindungen zwischen den beiden Hauptstegen darstellten. Die Bretter waren alte Gerüstplanken und ruhten auf Holzklötzen, die in mit Wasser gefüllten großen Konservendosen standen. Hier und dort huschte eine schwarze Schabe durch den Lichtstrahl. Ein paar lagen auf dem Rücken und zappelten mit den Beinen. Willie entdeckte den Lichtschalter und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen. Während ich über die Planken auf Zehenspitzen weiterging, hörte ich ein knackendes Geräusch. Willie hatte sein zweites Bild geschossen. Wütend drehte ich mich nach ihm um. Im gleichen Moment öffnete John Inglis die Verbindungstür zum Wohnzimmer.
Der Spiritist stand im Türrahmen und blickte mich an. Ich war vor Verlegenheit wie gelähmt. Er sah mir an, wie peinlich mir die Situation war. Er lächelte und sagte: »Schon gut.« Ich stammelte irgendeine Entschuldigung. Wir hätten ein paarmal geklopft, und als sich nichts rührte, hätten wir uns Sorgen gemacht und… »Schon gut«, sagte er freundlich. »Ich wollte ja, daß Sie in meine Wohnung kommen.«
Ich erwähnte schon, was für ein ungewöhnlicher Mensch John Inglis gewesen ist. Er blieb ganz ruhig im Türrahmen stehen und blickte uns an – einen nach dem anderen. Ich will Ihnen beschreiben, wie er aussah. Er war mittelgroß, untersetzt und kompakt. Seine Fülle war kein Muskelfleisch, sondern Fett. Sein ganzer Körper war mit einer Fettschicht überzogen. Der Mann bewegte sich zu wenig. Inglis war dreiunddreißig Jahre alt. Er hatte einen bemerkenswerten Kopf – groß, mit breiter Stirn und einer Fülle schwarzen, lockigen Haaren. Seine Haut war milchig-weiß. Er hatte nicht jenes asketischhohlwangige Gesicht, das man Hellsehern so gern andichtet. Sein Gesicht war voll, der Schädel darunter breit und kräftig. Die Haut spannte sich straff und war gut gepolstert. Nur um die Augen herum zeigten sich Fältchen. Man hätte ihn für einen Fernfahrer halten können, wären nicht dieser Kopf, diese Augen und diese nachdenklichversonnene Art gewesen, wie er dort im Türrahmen stand. Und er trug auch eine Jacke, die man bei Lastwagenfahrern häufig sieht – eine Art Joppe mit Reißverschluß. Der Reißverschluß stand offen. Seine Augen waren blau; aber ob hell oder dunkel, vermag ich nicht zu sagen. Denn sie schienen die Farbe zu wechseln, wenn er sie bewegte. Auch wenn er redete, schien sich die Schattierung seiner Augen mit jedem Wort zu verändern. Ich glaube, er hätte ein Gespräch nur mit den Augen führen können. Jetzt waren sie gerötet. Trotzdem beeinträchtigte das nicht die Wirkung, die von ihnen ausging. Kein Wunder, daß auch der Hausmeister unter diesem Blick schrecklich verlegen wurde. Denn er stammelte: »Die Tür war offen. Deshalb drangen wir einfach bei Ihnen ein.«
»Die Tür war zu«, sagte Inglis ruhig. »Aber das macht nichts. Ich habe Sie warten lassen, ich weiß. Ich hoffe, Sie bleiben auf dem Steg«, setzte er hinzu und blickte Willie dabei an, der einen Fuß auf den Boden setzte. Langsam, mit trotziger Verachtung, zog Willie den Fuß wieder zurück. Inglis’ Blick wanderte wieder zu mir. »Irgendwann heute früh beschloß ich, Sie zu mir zu bitten, Mr. Warren«, sagte er. »Aber ich habe Sie nicht angerufen, weil ich spürte, daß unser Freund hier, der Hausmeister, das bereits besorgt hat.« Der Hausmeister zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Inglis lächelte nachsichtig. »Aber meine Einladung galt nur für Mr. Warren«, fuhr er fort und sah Willie an. »Unser Gespräch wird eine Weile dauern. Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, in die Redaktion zurückzufahren. Sie kommen hier nicht auf Ihre Kosten.« Er hob die Schultern. »Tut mir leid.« Das war eine deutliche Abfuhr. Inglis bat mich, ihn zu begleiten. Er führte mich in das Wohnzimmer – den Raum mit der schadhaften Jalousie. Als wir uns dort umdrehten, sahen wir, daß Willie uns gefolgt war. »Wir müssen privat miteinander reden«, sagte Inglis ruhig. Willie runzelte die Stirn. »Hören Sie, ich bin Pressefotograf«, sagte er. »Wir beide sind ein Team. Sie können nichts mit ihm besprechen, was ich nicht hören darf.« »Hinaus«, befahl ich, »und keine Schnappschüsse mehr!« Er grinste mich höhnisch an. Ich ging auf ihn zu und packte seine Kamera. Er wollte sich auf mich stürzen, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück. Einen Moment lang blickte er mich haßerfüllt an, fluchte leise und marschierte hinaus. Inglis geleitete ihn bis vor die Küche, schloß die Tür und stellte einen Stuhl unter den Türgriff. Dann kam er zurück und forderte mich auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich wieder in seinen großen Lehnsessel.
»Dieser Mann lenkt mich schrecklich ab«, sagte er seufzend. Er schloß die Augen, und die Fältchen vertieften sich. Er sah erschöpft aus. Ich wartete und kam dann auf mein Anliegen zu sprechen. »Ich weiß, was Sie über diese Interviews denken«, begann ich vorsichtig. »Ich werde meine Fragen so kurz und schonend wie möglich stellen. Ihr Werdegang, Ihre Vergangenheit – das haben wir alles im Archiv. Wenn Sie nur die Lücke bis heute schließen würden – was Sie im letzten Jahr getan haben – und dann, ja, was die Bretter in der Küche bedeuten und weshalb Sie mich hergebeten haben.« Er sagte nichts. »Weshalb der Steg in der Küche?« fragte ich offen. »Haben Sie Angst, die Kakerlake zu zertreten?« »Das ist richtig«, antwortete er nach einer Pause. »Ich möchte ihnen nicht wehtun.« »Weshalb nicht?« »Ich weiß nicht«, erwiderte er, die Augen immer noch geschlossen. »Die meisten von uns verhalten sich genau entgegengesetzt. Sie sind froh, wenn sie die Küchenschaben in ihrer Wohnung ausgerottet haben«, sagte ich, mich langsam vortastend. »Ich kann mich nicht erinnern, in Ihrer Küche eine Kakerlake gesehen zu haben, als ich Sie das letzte Mal interviewte.« Er öffnete die Augen. Ein gequälter Ausdruck lag darin. Er sagte: »Das ist ganz neu. Die Mieter im ersten Stock treiben die Küchenschaben zu mir herunter. Wahrscheinlich vergiften sie sie. Mit irgendeinem Nervengift. Auf jeden Fall kommen sie herunter in meine Küche und sterben dann.« »Hm«, meinte ich. Er blickte weg. Resignation und Erschöpfung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Aber Sie lassen die toten Schaben doch einfach liegen«, sagte ich. »Ich weiß. Manche sterben ganz langsam. Sie
können nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Man würde ihnen wehtun.« »Ist das so schrecklich, wenn man einer Küchenschabe wehtut?« Alle meine Fragen schienen ihm Qualen zu bereiten. Er bewegte den Kopf hin und her und sagte dann: »Ich weiß nicht, wie ich Ihre Frage beantworten soll. Die Bretter schienen sich als Lösung anzubieten.« »Eine bessere Lösung als die Schaben zu töten und aufzufegen?« »Mir schien das – angebracht.« Es bestand kein Zweifel, daß jede meiner Fragen eine Tortur für ihn war. Um ihm eine Atempause zu gönnen, sagte ich leichthin: »Ist dieser Einfall nicht ein bißchen verrückt?« Er lächelte. »Ich weiß, daß die anderen das denken.« »Aber im Schlaf- und Wohnzimmer haben Sie keine Bretter ausgelegt.« »Sie kommen nur selten hierher. Wenn sie es tun, versuche ich sie zurück in die Küche zu scheuchen.« Eine weitere Erklärung gab er nicht. Er saß da und musterte mich. Ich spürte, daß ihn etwas bewegte. Er war sich nur noch nicht schlüssig, wie er sich ausdrücken sollte. Ich wartete, und plötzlich hatte ich eine Eingebung. Ich fragte: »Mr. Inglis, hat dieser Zwang, die Bretter auszulegen – den Schaben nicht weh zu tun – etwas mit Ihren außernatürlichen Fähigkeiten zu tun?« »Ja«, antwortete er und blickte mir offen in die Augen. »Ist es eine Botschaft?« »Ich glaube, ja.« »Für Sie?« »Ich weiß nicht.« Einen Moment war ich in Verlegenheit, wie ich weiterfragen sollte. Dann sagte ich: »Ist die Botschaft noch nicht deutlich?«
»Genau das ist es«, sagte er, ein leises Beben in der Stimme. »Die Botschaft ist noch nicht klar.« »Wie lange dauert dieser Zustand jetzt schon?« »Eine Woche. Aber gestern abend trat etwas Neues ein.« Er stand auf und sagte: »Kommen Sie mit!« Er führte mich in die Küche. Die Deckenlampe brannte noch. Ein paar Dutzend Küchenschaben krochen am Rand des Fußbodens an der Wand entlang. Dazwischen lagen tote Kakerlaken. Ein widerlicher Anblick. Er deutete auf einen weißen Fleck vor der altmodischen Küchenkredenz. »Das ist Mehl«, erklärte er. »Ich habe es verschüttet, als ich mir gestern abend etwas zu essen zubereitete. Als ich später das Mehl aufkehren wollte, machte ich eine Entdeckung.« Er trat vom Brettersteg herunter und kniete sich auf den Boden neben das verschüttete Mehl. Ich kniete mich neben ihn, so behutsam wie er, und betrachtete neugierig den Fleck. Am Rande der mit weißem Mehl bestäubten Fläche lag eine große tote Küchenschabe. Sie hatte eine Spur von Mehlstaub auf dem Boden hinterlassen. Die Spur wand sich hin und her, verlief in Wellen und Schleifen. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer Schrift. Plötzlich kam die Erleuchtung – das war tatsächlich eine Schrift! Drei Worte zu einem zusammengezogen, als hätte ein ABC-Schüler seine ersten, ungelenken Schreibversuche gemacht! Aber man konnte es deutlich lesen – töteunsnicht. Das letzte t war nicht mehr ganz fertig geworden, und das Insekt lag daneben auf dem Rücken, die Beine zusammengefaltet, so wie der Tod es am Ende der gewundenen Spur ereilt hatte. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, während ich auf die Schrift starrte. »Dieses arme kleine Wesen«, murmelte Inglis. »Es kam zu mir herunter, vergiftet wie die anderen. Es starb unter qualvollen Schmerzen wie seine Artgenossen. Aber im Sterben erfüllte es eine Aufgabe.«
»Eine Botschaft«, flüsterte ich. »Eine Botschaft – töte uns nicht.« »Das ist Psychokinese!« Er nickte. »Das geschah erst gestern abend, aber ich hatte schon vor einer Woche aufgehört, die Schaben zu töten.« »Weil Sie spürten, daß es angebracht sei, sie zu schonen?« »Weil ich spürte, daß es so richtig ist.« Ich erschauerte. Die Luft um mich her schien mit einer unbekannten Kraft aufgeladen zu sein. Irgendwo in diesem Raum-Zeit-Gefüge schien eine Intelligenz zu existieren, die sich verständlich machen wollte, die mit dieser unbegreiflichen Kraft lenkend eingriff und das bewirkte, was ich vor meinen Augen sah. Bis jetzt hat noch keiner überzeugend darlegen können, was Psychokinese wirklich ist. Sie ist eine Tatsache. Man hat sie im Laboratorium nachweisen können. Von einem unbekannten Ort, von einem unbekannten Ding und unter unbekannten Bedingungen kommt eine Kraft und bewegt einen Gegenstand. Keiner kann das Wesen dieser Kraft erklären. Es gibt keine Möglichkeit, die Anwesenheit dieser Kraft nachzuweisen. Sie zeigt sich nur dadurch an, daß sie den Gegenstand bewegt. Sie ist weder Schwerkraft noch Elektrizität noch Magnetismus. Sie kann lebende oder tote Materie bewegen. Wenn in einer Seance tatsächlich ein Kontakt mit den Toten stattfindet – was durchaus nicht bewiesen ist –, wird er wahrscheinlich durch Psychokinese hergestellt, welche auf die Stimmbänder des Mediums einwirkt und Laute erzeugt, die die Stimme des Verstorbenen authentisch wiederzugeben scheinen. »Das seltenste aller okkulten Phänomene«, sagte ich. »Wer weiß?« erwiderte Inglis. »Wenn es aber die gewöhnlichste Erscheinung des normalen Lebens wäre?« Die Vorstellung, was er damit andeutete, traf mich wie ein Keulenschlag. Wieder lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.
»Haben Sie das da bewirkt?« fragte ich und deutete auf die Schrift. »Nicht, daß ich wüßte.« »War es irgendein Wesen, eine Kraft, ein Etwas, das vollkommen unabhängig operierte, oder waren Sie das Medium, das Werkzeug für dieses Wesen oder diese Kraft?« »Ich weiß es nicht. Aber irgendwie fühle ich mich beteiligt.« »Diese Küchenschabe ist zu Ihnen gekommen oder wurde zu Ihnen geschickt, um als Werkzeug eine Botschaft hinzuschreiben, auf deren Empfang Sie schon seit einer Woche vorbereitet sind!« Er seufzte, und wieder trat dieser gequälte Ausdruck in seine Augen. »Ich fasse es nicht – ich fasse es einfach nicht. Ich spürte keinen besonderen Antrieb, die Küchenschaben zu schonen. Es war kein zwingendes Gefühl. Es schien nur irgendwie richtig, sie nicht zu töten. Diese Bestimmtheit ist typisch für den Empfang einer außernatürlichen Intelligenz – obgleich es hier natürlich Ausnahmen gibt. Manchmal sehr frappierende Ausnahmen. Ich betrachtete nur ein paar Küchenschaben und hielt es plötzlich für angebracht, sie nicht zu töten. Dann ergriff ich Maßnahmen, um diesen Entschluß in die Tat umzusetzen. Ich weiß, daß mich weder Mitgefühl leitete noch daß ich eine Wertung mit den Küchenschaben verbinde… Dann das. Das ist direkt und unmißverständlich. Doch selbst diese Botschaft löst kein besonderes Gefühl zu den Küchenschaben aus, weder negativ noch positiv… Es gibt gute Menschen und Theorien, ja ganze Religionen, die das Ideal vertreten, daß das Leben heilig sei – selbst das Leben der einfachsten Kreatur… Ich habe manchmal mit diesem Gedanken gespielt – und bin doch immer wieder vor solchem Mystizismus zurückgewichen. Die Natur ist so eingerichtet, daß das Leben vom Leben lebt – angefangen bei den hochentwickelten Lebewesen bis hinunter zu den Einzellern. Als Mensch guten Willens habe ich mich darauf beschränkt, nur so viel Leben zu töten, wie das zur
Bewahrung meiner normalen Funktionstüchtigkeit als Lebewesen notwendig ist. Ich töte Bazillen. Von den Insekten nur die Schädlinge – andere nicht. Ich esse Fleisch… ich weiß, ich bin nicht konsequent.« Eine Unmutsfalte erschien auf seiner Stirn. »Aber diese Inkonsequenz belastet mich nicht. Es handelt sich hier um ein Problem, das nicht gelöst werden kann.« Er seufzte, erhob sich von den Knien und ging wieder hinüber ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich in seinen Lehnstuhl fallen. Ich war tief beunruhigt. Ich wollte ihm helfen. »Irgend jemand oder irgend etwas schickt Ihnen eine Botschaft«, begann ich. »Oder genauer definiert: Sie empfangen eine Botschaft, wissen aber nicht, was sie bedeutet.« »Es scheint sich erst um einen Teil einer Botschaft zu handeln«, antwortete er müde. »Töte keine Küchenschaben, das ergibt einfach keinen Sinn.« Er schloß die Augen und lehnte den Kopf gegen die gepolsterte Rückenlehne. Dann fuhr er fort: »Ich bin vollkommen fertig. Ich bin besessen von dem Gefühl, daß ich in einer äußerst wichtigen Angelegenheit versage. Wenn man fruchtbar sein will, muß man entspannt sein. Aber ich kann mich nicht entspannen. Wie soll man das fertigbringen – nach einer Woche ohne Schlaf? Ich versuche, zu empfinden – was man dabei nicht darf –, und manchmal spüre ich, daß ich ganz nahe dran bin. Aber es kommt nicht; es will einfach nicht kommen. Ich bin am Ende, Warren. So kann ich nicht weitermachen.« Er tat mir schrecklich leid. Ich versuchte es mit einem Vorschlag: »Gibt es noch andere Bedingungen für den optimalen Empfang außernatürlicher. Botschaften?« »Man muß ruhig, entspannt und allein sein. Das sind die besten Bedingungen. Aber das ist nicht immer so. Ich leide in jüngster Zeit unter großen Spannungen; und doch ist mein
Empfangsvermögen außerordentlich groß, vielleicht größer denn je. Ich habe Beweise dafür. Und trotzdem ist das Vermögen nicht groß genug.« Er öffnete die Augen. Dann sah er mir ins Gesicht und sagte: »Ich bringe es zu einem Ende. Ich nehme mir das Leben.« Ich war betroffen. Er sprach diesen Satz mit vollem Ernst. Die Worte kamen ruhig. Zum erstenmal kam mir der Verdacht, daß er geistig gestört sein könnte – ich meine, auf irrationale Weise –, aber sofort verflog dieser Gedanke wieder. Und er kam nie wieder. Mir fiel keine passende Antwort ein. Ich starrte ihn schweigend an. Hier saß kein Neurotiker, der eine dramatische Szene spielte. Hier saß ein sehr reifer, beherrschter, hochintelligenter Mann, der von schrecklichen Kräften heimgesucht wurde. Ich zweifelte keine Sekunde, daß er am Ende seiner Kraft war. »Das ist eine sehr törichte Lösung«, sagte ich schließlich. »Sie stehen unter einer großen Belastung. Sie brauchen Hilfe; das ist alles. Ich werde Ihren Bruder anrufen. Wo steht das Telefon?« »Ich habe kein Telefon«, sagte er. Er war entsetzlich niedergeschlagen. »Dann werde ich jemand zu ihm schicken.« Ich erhob mich. »Ich habe keinen Bruder mehr«, sagte er. Ich begriff nicht. Inglis saß ganz ruhig da. Nur ein trauriges Lächeln war in seinen Mundwinkeln. Schließlich gab er mir eine Erklärung. »Mein Bruder ist tot.« Zuerst war ich betroffen, dann ungläubig. Ich sagte: »Er ist nicht tot. Er kann gar nicht tot sein. Das wäre eine Sensation. Wir hätten das in der Redaktion bestimmt erfahren. Das ist nicht der Fall.« »Er starb gestern nacht«, sagte Inglis ruhig. »Woher wissen Sie das? Waren Sie bei ihm?« »Ich sah ihn.« Er schien ihn auch jetzt wieder vor seinem inneren Auge zu haben. »Er kam zu mir. Kurz nach drei Uhr heute morgen. Ich saß hier in diesem Sessel, und im
Augenblick seines Todes kam er zu mir.« Mir stockte der Atem. Das war wieder eines von diesen außernatürlichen Phänomenen, die die Menschheit schon seit Jahrhunderten beschäftigten. Was für unglaubliche psychische Kräfte hielten diesen Menschen in ihrem Bann! Ich setzte mich wieder. Ein schrecklicher Verdacht schoß mir durch den Kopf. »Hat er sich selbst das Leben genommen?« fragte ich. »Ja.« »Woher wissen Sie das?« »Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Er hat genauso gelitten wie ich. Er trug an der gleichen Last.« »Hat er Ihnen eine Nachricht hinterlassen? Wie sah er aus? Um Himmels willen, so reden Sie doch!« »Er war gekleidet wie immer, trug eine ähnliche Jacke wie ich… Ich meditierte. Ich blickte auf, und da stand er auf einmal vor mir. Dort unter der Tür. Er war kein Schemen, sondern leiblich und wirklich. Er machte ein paar Schritte auf mich zu, blieb dann stehen und hob den rechten Unterarm. Unter dem Handgelenk saß ein Schnitt, und an Hand und Arm klebte gestocktes Blut. In der Linken hielt er ein Blatt Papier. Er streckte es mir hin… seine Lippen bewegten sich… aber ich hörte keinen Laut. Mein Gott, nicht einen einzigen Laut!… Ein Ausdruck unaussprechlicher Qual lag auf seinem Gesicht… Das dauerte nur einen Moment, dann wurde sein Gesicht sanft und still und unaussprechlich schön… Er senkte den Arm, löste sich auf und verschwand…« Ein Aufruhr der Gefühle überwältigte mich. Ich wollte helfen, doch das Bewußtsein meiner eigenen Unzulänglichkeit lähmte mich. In diesem Moment zuckte ein neuer Gedanke in mir auf. Sofort trug ich ihn vor: »Sie und Ihr Bruder haben doch als Assistenten bei Dr. Whitman gearbeitet. Dr. Whitman kann Ihnen helfen! Er ist doch ein guter Freund von Ihnen – nicht wahr?«
»Er war es.« »Ist er es nicht mehr?« »Aus der Entfernung – ja. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Das ist allerdings meine Schuld. Er kann nichts dafür. Ich habe mich zu einem Einsiedler entwickelt. Ich gehe nur selten aus.« »Schön – aber…« Er unterbrach mich. »Aber wenn Sie wollen, können Sie ihn hierherholen. Vielleicht kann er mir tatsächlich helfen.« »Sicher! Keiner auf der Welt kennt Sie besser als er. Sie haben zusammen gearbeitet. Er kennt Ihre Fähigkeiten. Natürlich kann er Ihnen helfen!« »Ich hatte auch schon an ihn gedacht«, sagte Inglis wie von weit her. »Als wir noch zusammenarbeiteten, ist uns so manches Experiment geglückt…« »Und das wird auch wieder so sein!« sagte ich aufgeregt. »Es ist vollkommen verkehrt, daß Sie hier sitzen und von Selbstmord reden. Sie brauchen Hilfe – und er kann sie Ihnen geben. Ganz bestimmt! Ich hole ihn sofort.« »Fred Warren«, sagte er ruhig und blickte mich offen an. »Ich habe das Gefühl, daß ich ungefähr in einer Stunde tot in diesem Sessel sitzen werde. Ich werde sterben wie mein Bruder und bei ihm sein, gleichgültig, wo oder was er jetzt ist. Das spüre ich. Ich habe kein besonderes Verlangen danach. Aber ich spüre, daß es so kommt. Ich – ich fühle, daß es so richtig ist.« »Sie haben sich aber oft gründlich geirrt«, erwiderte ich und stand auf. »Inglis, ich hole jetzt Dr. Whitman. Sie müssen ihm die Chance geben, Ihnen zu helfen. Versprechen Sie mir, so lange stillzuhalten, bis er da ist?« Erst gab er keine Antwort. Er schien durch mich hindurchzusehen. Dann wendete er mir das Gesicht zu und sagte: »Ich hatte daran gedacht, ihn selbst hierherzubitten.
Doch ich spürte – und spüre es noch –, daß es keinen Sinn hat.« Er lächelte sanft. »Wahrscheinlich fällt Ihnen auf, daß ich ständig von Spüren und Fühlen rede. Normalerweise spüre oder fühle ich gar nichts bei einem spirituellen Vorgang; doch wenn sich mein Fühlen einschaltet, Warren, treffe ich gewöhnlich ins Schwarze.« Er meditierte, und ich wartete. »Wenn er mir helfen könnte…«, dachte er laut. »Es schadete niemandem, und wir hätten noch einen Zeugen…« Er sah mich mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck an. »Wissen Sie, weshalb ich Sie hierhergebeten habe, Mr. Warren? Sie sollten als Zeuge bei meinem Tod zugegen sein. Sie erfüllen die drei wichtigen Voraussetzungen: Kenntnisse in der Parapsychologie; Kompetenz als Reporter und Sie sind mir sympathisch. Es könnte sein, daß mein Tod Ihnen Stoff zum Schreiben gibt… Aber wenn Sie beide anwesend sind, wäre das noch besser… Ja, holen Sie Dr. Whitman. Ich mag ihn sehr. Ich gebe Ihnen mein Versprechen. Ich werde nur meinen Körper vorbereiten, solange Sie unterwegs sind.« Ich unterdrückte einen Widerspruch und fragte: »Darf ich auch bei Ihrem Bruder vorbeischauen? Wenn er noch lebt, muß…« »Er ist tot«, unterbrach er mich mit hoffnungsloser Stimme. »Es hat keinen Zweck. Aber wenn Sie nachsehen wollen – bitte!« Ich hatte die Adresse seines Bruders; vergewisserte mich aber, daß sie auch stimmte. Dann zog er etwas aus der Tasche und hielt es mir hin. »Hier sind meine Schlüssel.« Ich stürzte aus der Wohnung. Ich spürte, daß jetzt sein Leben in meinen Händen lag.
Ich hatte Willie vollkommen vergessen. Er trieb sich im Hausflur herum, und ich stürmte an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Während ich in den Wagen stieg, riß er die rechte Wagentür auf und schwang sich auf den Beifahrersitz. Er sprach kein Wort. Er war viel zu sehr in seiner Eitelkeit gekränkt und zu ichbezogen, als daß er seinen Mund aufgebracht hätte. Doch er wollte nichts versäumen. Auf gar keinen Fall. Und ich hatte ja noch immer seine Kamera. Bis zu Roberts Wohnung war es nur eine Fahrt von wenigen Minuten. Auch dort wimmelte es von Küchenschaben. Robert war zu Hause. Er war tot… Ich kann die Szene kaum beschreiben! Er saß in seinem Lehnsessel. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, sein Gesicht schneeweiß. Auf einem Kaffeetisch rechts neben ihm stand eine große weiße Schüssel. Der rechte Unterarm war an der Lehne festgebunden, so daß er ein Stück über die Armstütze hinausragte. Seine Pulsader war aufgeschnitten, und die Schüssel war zur Hälfte mit Blut gefüllt… Ich glaubte, John vor mir sitzen zu sehen. Die Vorstellung marterte mich… Ich riß den Blick von dem Toten los. In der Linken hielt er den Bogen Papier. Alles war so, wie sein Zwillingsbruder es mir geschildert hatte. Ich nahm dem Toten das Papier aus der Hand. Ein paar Bleistiftstriche waren darauf. Das Ganze sah aus wie eine gedankenlose Kritzelei, ein chaotisches Gebilde. Hätte man versucht, die Form zu deuten, so erinnerte sie an Chromosomen in der Phase der Zellteilung. Dutzende von kurzen, fetten, gewundenen Fäden waren zu erkennen. Für mich ergab das keinen Sinn. Ich steckte das Papier in meine Jackentasche. Was sich dann zutrug, ist mir nicht mehr deutlich in Erinnerung. Aber es war eine beschämende Szene. Willie wollte mir die Kamera aus der Hand reißen; aber ich wich zur Seite und stieß ihn zurück. Er brüllte mich an, die Zähne
gefletscht wie ein Raubtier, Haß in den Augen. Er ekelte mich an. Doch er ließ sich nicht abschütteln. Er saß wieder neben mir, als ich zur Columbia-Universität fuhr. Wir sprachen nicht miteinander. Ohne lang zu fragen, parkte ich in der reservierten Zone und eilte auf dem schnellsten Wege zum Parapsychologischen Institut. Als ich keuchend im Vorzimmer stand, hing Willie bereits wieder wie eine Klette an mir. Die Studenten sahen uns überrascht an. Ich rannte die Treppe zum Übungsraum hinauf, der mir von meinem Studium noch so gut in Erinnerung war. Ich stieß die Tür auf, Willie mir immer dicht auf den Fersen. Dem Herrgott sei Dank – dort auf der niedrigen Empore stand der weißhaarige Dr. Whitman hinter dem Pult. Etwa dreißig Augenpaare wendeten sich uns zu, als ich auf das Pult zustürzte. Ich sprach so leise, wie mir das in meiner Aufregung noch glückte. Ich sei gekommen, um ihn zu holen. Es ginge hier buchstäblich um Tod oder Leben – um das Leben von John Inglis. Sofort verschwand der zornige, schroff abweisende Blick, mit dem er mich betrachtete. Er wollte mich mit in sein Büro nehmen. Doch ich flüsterte ihm zu, ich könne ihm alles auch unterwegs im Wagen erklären. Er nickte und brach das Seminar ab. So wie er war, eilte er mit mir zum Wagen. Nicht einmal seinen Hut nahm er mit. Ich befahl Willie, hinten Platz zu nehmen. Sofort begann ich zu berichten. Der Doktor war entsetzt. Immer wieder mußte er mich unterbrechen. Er bat um Wiederholungen, wenn er etwas nicht verstand, um Erklärungen, um die genaue Beschreibung einer Einzelheit. Ich berichtete ihm alles, was ich wußte: vom Nervengift und den Küchenschaben; den Planken auf dem Küchenboden; den Schriftzeichen im Mehl; Roberts Tod; die eigenartige Neigung zum Selbstmord; Roberts Erscheinung im Wohnzimmer seines Bruders. Ich zeigte ihm das Papier, das
ich dem Toten aus der Hand genommen hatte. Auch ihm sagte die Zeichnung nichts. »Der Mann ist wie von Dämonen geplagt«, fuhr ich fort. »Er kann nicht schlafen. Er hat eine Botschaft empfangen, weiß aber nicht, was sie bedeutet oder ob sie vollständig ist. Sie müssen ihm helfen! Er ist ernsthaft entschlossen, sich das Leben zu nehmen! Er hofft, daß im Augenblick seines Todes die Botschaft klar und deutlich durchkommt!« Die Fahrt endete damit, daß Dr. Whitman sich alle Mühe geben mußte, mich zu beruhigen.
Als wir vor dem Mietshaus hielten, wo Inglis wohnte, lag die Straße still und verlassen vor uns. Nur wenige Fußgänger waren unterwegs. Ein paar Autos parkten am Gehsteig. Ein Lastwagen stand verlassen vor einer Laderampe. Ich klopfte zuerst an der Wohnungstür und schloß sie dann sofort auf. Ich führte Dr. Whitman in das Wohnzimmer, deutete unterwegs nur wortlos auf die Bretter und die Schaben in der Küche. Inglis war zu Hause. Er begrüßte seinen alten Freund herzlich und bat uns dann, Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich wieder in seinem Lehnstuhl nieder. Er hatte sich rasiert und ein frisches Hemd angezogen. Wahrscheinlich hatte er auch gebadet. Dr. Whitman saß auf dem Rand seines Stuhls und beugte sich vor. »Stimmt das alles, was Mr. Warren mir erzählt hat?« fragte er. »Du willst dir das Leben nehmen? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich bin dein bester Freund. Das wirst du doch zugeben. Wir beide haben lange und eng zusammengearbeitet, und ich kenne dich sehr gut. Wir werden auch dieses Problem gemeinsam meistern. Du leidest schreckliche Qualen? Ein Dämon sitzt in deinem Kopf? Wir werden ihn austreiben.«
Jeden anderen würden die Worte des Doktors wieder aufgerichtet haben. Inglis aber reagierte anders. Er seufzte und blickte weg. Er sagte: »Da gibt es etwas, das ich wissen muß. Aber ich kann es nicht fassen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit. Es ist gewaltig. Es durchdringt meinen ganzen Körper. Die Luft ist damit getränkt. Es lastet auf mir, und es sucht mich heim. Ich ersticke daran!« »Wir werden dich davon befreien«, sagte Dr. Whitman entschlossen. »Zuerst wollen wir es mit ein paar Wortassoziationen versuchen. Paß auf. Ich werde einzelne Wörter sprechen. Du erzählst mir, welche Gedanken sich damit verbinden und welche Gefühle, soweit das zutrifft. Du kennst ja das Verfahren. Auf jedes Wort sofort die Antwort. Bist du bereit?« Inglis war nicht bereit, sondern blickte zu Willie hinüber, der unter der Küchentür stand. Ich hatte Willie vollkommen vergessen. Inglis sagte: »Ich muß den Mann bitten, die Wohnung zu verlassen.« Willie funkelte ihn böse an. »Gehen Sie, bitte«, wiederholte Inglis, »Sie stören mich.« Willie bewegte sich immer noch nicht. Er wurde giftig. »Sie sind verrückt, wissen Sie das?« sagte er. Es war eine beschämende, widerliche Szene. »Hinaus!« schrie ich und stand auf. »Wir werden dich rufen, wenn wir dich brauchen!« Jetzt lenkte er seinen Zorn auf mich, fluchte laut und drehte sich dann auf dem Absatz um. Er ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. »Dieser Mann ist unrein«, sagte Inglis. »Aber er ist weg. Vergiß ihn«, sagte Dr. Whitman. »Gut, John, fangen wir an. Das erste Wort: Küche.« Inglis antwortete nicht. Einen Moment lang starrte er an die Decke. Dann stand er auf, nahm ein Buch vom Kaffeetisch, drehte sich um und lehnte es gegen die Jalousie, so daß das Loch im Plastikstreifen verdeckt wurde. Ehe der Buchdeckel
das Loch in der Jalousie verschloß, sah ich noch eine schattenhafte Bewegung dahinter. Langsam kehrte Inglis wieder zu seinem Sessel zurück und setzte sich, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht zwischen den Händen. Ich sagte: »Ich muß mich dafür entschuldigen, daß ich dieses Tier hierhergebracht habe. Aber er bekommt immer seine Bilder, und unsere Leser sind ganz scharf auf gute Fotos. Ich habe ihm die Kamera weggenommen. Ich glaube, Sie können seine Wut verstehen.« »Ich verstehe«, sagte Inglis. »Jeder von uns hat seine Fehler. Möge Gott uns Tieren verzeihen…« Er sprach leise und erschöpft, und Dr. Whitman brachte ihn schonend und taktvoll zu dem Punkt zurück, wo die Assoziationsübung beginnen sollte. »Es wird keine Ablenkung mehr geben«, versprach er. »Komm – deine Assoziationen. Der erste Begriff: Buch.« »Worte.« »Küchenschabe.« »Insekt.« »Bein.« »Sechs.« »Braun.« Inglis lächelte sanft. »Die Augen des kleinen Mädchens, das über mir wohnt. Sie besorgt meine Einkäufe. Manchmal kommt sie auch nur, um mich zu besuchen. Sie singt immer auf der Treppe. Auf dem Weg nach oben, auf dem Weg herunter. Sie singt. Ihr ganzer Körper singt mit – so herrlich unbewußt, daß sie sich meistens im Ton vergreift. Sie ist noch so klein, sich so wenig bewußt; aber sie singt! Es ist ein so liebes Kind… und es zerrt an meinem Herzen!« Er war tief gerührt. Wir warteten, bis er sich wieder erholt hatte. Dr. Whitman sprach das nächste Wort: »Insekt.« »Küchenschabe.«
»Brett.« »Übergang.« »Brücke.« »Geheimnis. Brett, meine ich.« »Tier.« Inglis wand sich hin und her. Nach einer Weile keuchte er: »Küchenschabe!« »Lebewesen.« »Nein, nein, das darfst du nicht mit mir machen!« rief er. »Das halte ich nicht aus!« Sein Kopf flog hin und her, und er atmete schwer. Dr. Whitman hörte auf zu fragen. Er überlegte, ob er nicht selbst auf eine Lösung kommen könnte. Ich zitterte am ganzen Körper. Etwas Fremdes beherrschte die Atmosphäre in dem kleinen Zimmer. Nach einer langen Pause fragte der Doktor leise: »Mr. Warren hat mir von der Schrift auf dem Küchenboden erzählt. Zeigst du sie mir mal?« Inglis ging voran zur Küche. Er holte eine Taschenlampe aus der Küchenkredenz. Wir knieten uns nieder neben das verschüttete Mehl auf dem Boden, während Inglis uns mit der Stablampe leuchtete. Die tote Schabe lag immer noch am Ende ihres langen, qualvoll gewundenen Pfades. Da stand der Satz, zu einem Wort zusammengezogen: »Töte uns nicht.« So hatte der Bote geschrieben und war dann gestorben. Wieder spürte ich diese sonderbare Kraft um mich her. Der Psychologe drehte den Kopf zur Seite und fragte: »Was verbindest du mit diesem Satz?« »Darauf kann ich keine Antwort geben. Es herrscht eine schreckliche Verwirrung in mir, eine Frustration.« »Spürst du, daß es dich persönlich angeht?« »Oh-ja!«
Dr. Whitman murmelte: »Das ist ein Ereignis, das nach der Wahrscheinlichkeitsregel nur einmal unter ein paar Millionen Möglichkeiten vorkommt.« Während wir so auf den Knien lagen und meditierten, tauchte eine große Küchenschabe am linken Rand des weißen Flecks auf. Sie überschritt den Rand der mehlbestäubten Fläche. Sie war krank, vergiftet, torkelte hin und her. Bald langsamer, bald schneller werdend, zog sie eine Spur hinter sich her, den Abdruck ihres Leidensweges. Sie zog ihre Bahn dicht unter den Schriftzeichen dahin und blieb am rechten Rand der bestäubten Fläche stehen. Ich beobachtete das Insekt mit angehaltenem Atem. Die Schabe stand im schrägen Lichtkegel der Taschenlampe wie ein Schauspieler am Rand der Bühne. Zitternd wippte sie auf und nieder. Sie richtete sich auf, tauchte dann wieder hinunter ins Mehl – auf und ab, auf und ab. Ihre Fühler pendelten hin und her. Offenbar litt sie große Schmerzen. Ich spürte es, als zerstörte das Gift meine eigenen Nerven. Dann drehte sich die Schabe um und lief den Weg zurück, bald langsamer, bald schneller werdend, wie beim erstenmal. Doch zwischendurch legte sie jetzt Pausen ein und vollführte ihre qualvollen Auf- und Abbewegungen. Auch das Pendeln war schlimmer geworden. Dann erreichte sie wieder den linken Rand der Fläche, die sie schon zweimal durchlaufen hatte. Und die zweite Spur lag genau unter der ersten. »Gütiger Himmel«, murmelte Dr. Whitman, »sie unterstreicht den Satz!« Doch das Drama war noch nicht zu Ende. Die Schabe machte sich zum drittenmal auf den Weg. Sie schien bereits mehr tot als lebendig, bewegte sich mit raschen, ruckartigen Stößen. Ihre dritte Spur lief parallel zu ihrer zweiten Spur, nur etwas tiefer. Als sie etwas mehr als die Hälfte des Weges zum rechten Rand zurückgelegt hatte, blieb sie stehen. Ihre Aufund Abbewegungen waren schrecklich anzusehen, sie neigte
sich von links nach rechts und fiel dann plötzlich auf den Rücken. Einen Moment lang zappelte sie mit den Beinen, dann zog sie sie langsam an und faltete sie über dem Leib zusammen. Sie war tot. Noch bei der Erinnerung dieser Szene beginnt mein Herz wie wild zu klopfen. Ich hatte Angst! Ich glaube, daß sich jeder von uns fürchtete. Etwas Schreckliches hing in der Luft. Es hüllte uns ein wie eine Wolke. Ich weiß nicht, ob es etwas Bösartiges war – aber es war gegenwärtig! Inglis schluchzte leise, richtete sich auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Wir folgten ihm. Keiner sprach ein Wort, als wir unsere Plätze wieder einnahmen. »Töte uns nicht«, murmelte Dr. Whitman. »Das ist die Botschaft. Und zwar muß es die ganze Botschaft sein, sonst wäre noch ein Wort hinzugekommen. Die Botschaft wurde unterstrichen, nicht ergänzt. Dreimal wurde sie unterstrichen…« »Ich kann das nicht mehr länger aushalten!« schrie Inglis. »Du machst jetzt keine Dummheiten«, sagte Dr. Whitman scharf. »Immerhin gibt es Fortschritte. Wir wissen jetzt, daß wir die Botschaft erhalten haben. Wir müssen nur noch herausfinden, was sie bedeutet.« »Ich halte das nicht mehr aus«, wiederholte Inglis. »Laßt mich allein! Bitte, laßt mich allein! Ich muß das allein zu Ende führen!« »Indem du dir das Leben nimmst?« »Ich muß es tun!« »Verrückte und Feiglinge tun so etwas!« »Nein«, sagte er gequält, »es ist schlimmer und mächtiger, als ihr glaubt! Ich sehe mich nämlich schon tot hier sitzen. Innerhalb einer Stunde wird mein Tod eintreten, den ich mir selbst geben werde. Ich habe ein ganz klares, untrügliches Gefühl, daß es so richtig ist. Es ist angebracht.«
Dieses letzte Wort schien Dr. Whitman zu überraschen. Ich beeilte mich, ihm die Bedeutung des Wortes zu interpretieren. »Ich glaube, ich weiß, was er damit meint. Das Wort bezieht sich auf ein Gefühl der Wahrnehmung. Damit spürt er einen Zwang oder einen Wunsch oder eine Botschaft, die aus dem psychischen Ozean zu ihm kommt. Und mit dieser Wahrnehmung verbindet sich ein zweites Gefühl, daß es nämlich richtig, befriedigend und vielleicht auch notwendig sei, diesem Zwang oder dieser Botschaft zu gehorchen. Er spürt, daß es angebracht ist, die Schaben nicht zu töten. Er fühlt, daß es angebracht ist, die Bretter auszulegen. Er spürt, daß er diesem Gefühl gehorchen muß, weil der Gehorsam ein wesentlicher Teil der Botschaft ist.« »Für einen gesunden Menschen mit klarem Verstand ist es bestimmt nicht richtig oder angebracht, sein Leben durch Selbstmord zu zerstören«, sagte Dr. Whitman kopfschüttelnd. »Er ist erschöpft. Er wird von einer krankhaften Vision heimgesucht. Das ist alles. Ein paar Stunden Schlaf, und er ist von diesem Dämon befreit.« Inglis sah seinen alten Freund an, als er diese Diagnose stellte. Er lächelte traurig. Auch ich beobachtete den Doktor. Aber ich lächelte nicht. Ich spürte, daß er nicht ehrlich war. Er glaubte seine Worte selbst nicht. Er biß sich auf die Lippen und senkte den Kopf, als klagten unsere Blicke ihn an. »Also gut«, gestand er, »ich war nicht ganz aufrichtig. Ich glaube nicht an eine Vision. Es ist mehr als das.« Inglis sah seinen alten Lehrer an. Dann sagte er leise: »Warren hat recht. Erinnerst du dich noch an unsere gemeinsamen Experimente? Ja? Gut. Dann weißt du auch, daß ich in der Regel keine Ahnung hatte, wann meine Voraussagen stimmten. Ich spürte nicht, wenn ich Erfolg hatte, empfand keine Befriedigung oder dergleichen. Erst später, bei der Auswertung, zeigte sich, ob ich die Trefferwahrscheinlichkeit nur erfüllt oder erheblich
übertroffen hatte. Selbst damals, als ich dreiundsiebzigmal hintereinander die Augen eines Würfels richtig voraussagte, hatte ich keine Ahnung von meiner unheimlichen Erfolgsserie.« Er wendete sich mir zu. »Wir benutzten einen ganz ordinären Würfel mit sechs Flächen. Ein paar Wissenschaftler von unserem Seminar saßen in einem Hotelzimmer in Philadelphia und würfelten. Ich hatte keine Ahnung, wo sie sich aufhielten. Dr. Whitman und ich saßen in unserem Labor in der Columbia-Universität. Ich gab dreiundsiebzigmal hintereinander die richtige Würfelseite an, die in Philadelphia oben lagen.« Er wendete sich wieder dem Psychologen zu. »Ich hatte dabei nicht ein einziges Mal das Gefühl, daß ich die Zahl richtig angegeben hatte.« Seine Stimme hob sich ein wenig: »Doch es gab auch Zeiten, wo ich meiner Sache sicher war. Manchmal hatte ich ein Gefühl bei meinen richtigen Voraussagen oder Treffern. Du und deine Kollegen haben mich damals gefragt, was das für ein Gefühl sei. Ich antwortete, es sei ein Gefühl der Richtigkeit. Die richtige Voraussage befriedigte etwas in mir. Die Aussage schien angebracht oder angemessen zu sein. Ich bezweifle, daß ich damals dieses Wort gebraucht habe. Aber für das Gefühl, das ich eine ganze Woche lang empfand, ist es der passende Ausdruck. Daß ich das Leben der Küchenschaben schonte, schien richtig, befriedigend – angebracht zu sein. Und du wirst zugeben, daß mein Gefühl durch die Botschaft auf dem Küchenboden bestätigt worden ist – doppelt bestätigt durch das Unterstreichen der Botschaft, das du ja selbst miterlebt hast.« Inglis schien jetzt seine ganze Kraft zusammenzunehmen, als er fortfuhr: »Nun hör mir gut zu, Whitman. Ich habe dich sehr gern; ich schätze dich als Wissenschaftler hoch ein, und ich respektiere alles, was du sagst oder tust. Trotzdem muß ich dir gestehen,
daß ich auch jetzt meiner Sache sicher bin. Ich fühle es als richtig und angebracht, mir die Pulsadern zu öffnen, und ich werde diesem Gefühl gehorchen. Ich werde es tun, und ich weiß, daß du mich nicht abhalten wirst. Denn ich weiß bereits, daß ich innerhalb einer Stunde tot in diesem Sessel sitzen werde.« Inglis drehte den Kopf zur Seite. Sein Blick heftete sich auf eine weiße Plastikschüssel. Es war eine Schüssel von der gleichen Farbe und Größe, wie ich sie neben dem Stuhl in der Wohnung des Zwillingsbruders gesehen hatte. »Nein!« schrie Dr. Whitman. »Doch«, sagte Inglis fest und sah seinen Freund wieder an. Das gespannte Schweigen, das jetzt folgte, wurde durch ein Geräusch draußen im Korridor unterbrochen. Die Wohnungstür fiel zu, trippelnde Kinderschritte näherten sich, ein kleines Mädchen kam ins Zimmer gelaufen und warf sich Inglis an die Brust. Es hatte ihn kaum umarmt, als es sich wie ein Quirl zwischen seinen Knien herumdrehte und uns bestaunte. Mit großen Augen, offenem Mund, sich seiner Haltung ganz unbewußt, stand es da und staunte. »Das ist meine kleine Freundin«, sagte der Spiritist weich und strich dem Mädchen über das Haar. Es mochte ungefähr fünf Jahre alt sein. Inglis neigte sich etwas zur Seite, damit er ihr besser in die klaren braunen Augen sehen konnte. Doch sie hatte jetzt gar keinen Blick für ihn. Das Staunen nahm sie ganz gefangen. »Wir beide lernen Rechnen«, sagte Inglis. Erst jetzt reagierte das Mädchen. Ein schelmisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Es wand und drehte sich. Sie mußte Glieder aus Gummi haben – so gelenkig war sie. Und plötzlich warf es sich nach hinten über Inglis’ linkes Knie, lag in einem flachen Bogen darauf, daß das lange Haar fast den Teppich berührte. »Wieviel sind zwei und zwei?« fragte er.
Sie wand sich, richtete sich plötzlich wieder auf, rannte zur Tür und drehte sich um. »Neun!« rief das Kind triumphierend und verschwand durch das Schlafzimmer in der Diele. Wir lauschten, während die trippelnden Schritte im Hausflur leise verhallten. »Wie sie singt!« murmelte Inglis andächtig. »Was für ein großes Geheimnis steckt dahinter?« »Sie ist ein glückliches Kind – das ist ihr Geheimnis«, entgegnete der Psychologe. »Und dein Geheimnis ist, daß du selber Kinder brauchst. Nun, du wirst sie bekommen«, versprach er grimmig. »Hör mir mal zu – John – wach endlich auf!« Inglis sah mich an. »Sag mal, hast du es schon mal mit automatischem Schreiben versucht?« Inglis reagierte heftig. »Nein! Und ich werde es auch nicht ausprobieren!« »Doch – jetzt sofort«, erwiderte der Psychologe energisch. »Nein, bitte nicht! Ich halte das nicht aus! Es reißt mich in Stücke!« »Großartig«, antwortete Whitman grimmig, »dann kann dein Dämon endlich entweichen!«
Dr. Whitman zog Inglis am Ärmel und schob ihn auf einen kleinen Tisch vor den Bücherregalen zu. Trotz seiner Proteste mußte sich der heimgesuchte Mann dort auf einen Stuhl setzen. Der Psychologe legte vor ihm einen Notizblock auf den Tisch, den er im Bücherregal gefunden hatte, und drückte Inglis seinen eigenen Drehbleistift in die Hand. Inglis protestierte immer noch. Doch Whitman ließ sich nicht erweichen. »Vielleicht löst du damit alle deine Probleme«, sagte er. »Aber du mußt mitarbeiten. Bitte, hör endlich mit deinem kindischen Getue auf!« Der Spiritist beruhigte sich. Er saß vor
dem Schreibblock, die Spitze des Stiftes dicht über das Papier haltend. Seine Hand bewegte sich nicht. »Blicke nicht auf deine Hand oder den Bleistift!« befahl Whitman. Inglis drehte den Kopf zur Seite, so daß sein Kinn fast auf der rechten Schulter ruhte, und sah uns an. Doch seine Hand bewegte sich immer noch nicht. Wir warteten. Nichts geschah. Dr. Whitman zog ein Taschentuch aus seinem Anzug und legte es über die Hand und den Bleistift. Sofort begann die Hand sich zu bewegen. Sie glitt in großen Schwüngen rasch über das Papier. Erreichte sie den Rand des Blocks, glitt sie sofort zurück nach links und fing eine neue Zeile an. Trotzdem wendete Inglis nicht ein einziges mal den Blick von Whitmans Gesicht ab. Wir standen beide vor ihm. Ein Ausdruck schrecklicher Qual spiegelte sich auf seinem Gesicht. Sein Atem ging schwer, und manchmal keuchte er wie unter einer großen Anstrengung. Als das Papier halb voll war, ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Während die rechte Hand unter dem Taschentuch Zeile für Zeile schrieb, packte Inglis plötzlich mit der anderen Hand zu, riß einige Blätter von der Unterseite des Blocks ab, holte einen zweiten Bleistift aus seiner Jacke und begann, ein zweites Blatt vollzuschreiben. Beide Hände waren jetzt bei der Arbeit. Die Rechte schrieb hastig, die Linke bedächtig, während Inglis nicht ein einziges Mal den Blick von Dr. Whitman abwendete. Inglis’ Gesicht war verzerrt; er keuchte jetzt in rhythmischen Stößen. Doch das Ende ließ sich schon absehen. Die rechte Hand erreichte den unteren Rand des Blattes. Inglis ließ einen langen, stöhnenden Laut hören und warf beide Bleistifte an die gegenüberliegende Wand. Dann schob er den Tisch von sich, stand auf und eilte auf die Schlafzimmertür zu. Dort blieb er
zitternd stehen. Ein unbeschreiblicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich bin fix und fertig!« schrie er. Dr. Whitman nahm rasch die beiden Blätter vom Tisch und betrachtete die beschriebenen Seiten. Ich sah ihm über die Schulter. Die Worte, die von der rechten Hand gekritzelt worden waren, ließen sich nicht entziffern. Was die andere Hand vollbracht hatte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Es war eine Zeichnung oder Bilderschrift oder irgendein abstraktes Gebilde, das der Zeichnung seines Bruders Robert verblüffend ähnlich sah! Dr. Whitman holte das Blatt Papier, das ich dem Toten aus der Hand genommen hatte, aus der Tasche und verglich die beiden Zeichnungen. Tatsächlich – sie waren fast identisch! Beide Darstellungen erinnerten an Chromosomen bei der Zellteilung. Für uns ergab das keinen Sinn. Inglis betrachtete uns von der Schlafzimmertür aus. Die nackte Angst stand in seinen Augen. Dr. Whitman studierte die beschriebenen Blätter noch einmal. Plötzlich ging er auf einen kleinen Wandspiegel zu und hielt das rechte Blatt mit der Unterkante gegen die Spiegelfläche. Dr. Whitmans Vermutung war richtig. Inglis hatte spiegelbildlich verkehrt geschrieben. Jetzt konnten wir Worte erkennen. Sie waren zu einem fortlaufenden Text verbunden, also nicht voneinander getrennt. Zum Teil waren sie auch im Spiegel noch nicht zu entziffern; aber nach langem Studieren konnten wir doch das meiste verstehen. Inglis näherte sich von der Schlafzimmertür, um das unbewußte Werk seiner Hände zu betrachten. Doch der Parapsychologe verbat ihm, die Blätter anzusehen. Das war der Text, soweit wir ihn entziffern konnten. Wo ein paar Wörter zweideutig oder unklar sind, setzte ich ein Fragezeichen in Klammern dahinter. Braune Augen in großer Not (?) Krach Neugierde Schande zusammen (?) Gott setzt Zeichen tötet Lebewesen arme arme
Dinger als wäre Anderssein minderwertig ich sage dir Polizei kommt mit einer neuen Kamera (?) Sobald ich die letzten Worte entziffert hatte, stürzte ich hinaus in den Korridor. Willie war weder im Flur noch im Hausgang. Er war mit meinem Wagen weggefahren. Ich kehrte in die Wohnung zurück. »Der Fotograf ist fort. Mein Wagen auch«, meldete ich. »Es ist durchaus möglich, daß er mit einer anderen Kamera hierher zurückkommt.« »Inglis warnt uns auch vor der Polizei«, murmelte der Psychologe nachdenklich. »Hm – wenn schon. Wir haben nichts verbrochen.« Noch einmal las er den Text im Spiegel. Dann betrachtete er auch den mit der linken Hand gezeichneten Bogen und verglich ihn mit dem Blatt, das ich in Roberts Wohnung gefunden hatte. John sagte von der Schlafzimmertür aus: »Mein Bruder hielt so ein Papier in der Hand, als er heute morgen zu mir kam!« Er deutete mit dem Finger. Bisher hatte ihm Whitman noch nicht erlaubt, es zu betrachten. »Hat Robert dasselbe geschrieben wie ich?« fragte er. »Ja«, erwiderte Dr. Whitman. »Wir können es nur nicht deuten. Weißt du, was das sein soll?« »Nein, ich weiß es nicht«, antwortete Inglis leise. »Deine Reaktionen?« »Ich weiß nicht… Verwirrung. Es quält mich, bedrängt mich.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es ist sehr wichtig.« Wir sahen uns gegenseitig an. Dr. Whitman seufzte und bat uns dann, wieder Platz zu nehmen. Er polierte seine Augengläser mit dem Taschentuch, las noch einmal den Text des rechten Blattes im Spiegel und wendete sich dann Inglis zu. »Sage mir, welche Assoziationen du mit diesen Sätzen verbindest, John«, sagte er. »Ich lese dir jeden Satz einzeln
vor. Bist du fertig? Es geht los – ›braune Augen in großer Not.‹« »Ich denke an das kleine Mädchen«, murmelte Inglis. »Es hat braune Augen; aber ich verbinde mit ihr nicht die Vorstellung, sie sei in Not.« Dr. Whitman dachte über diese Antwort eine Weile nach und fuhr dann fort: »›Krach Neugierde Schande zusammen‹.« »Nichts Besonderes. Wie du weißt, hasse ich Krach und Lärm jeder Art. Und unter Neugierde hatte ich in letzter Zeit genug zu leiden.« »Gut«, murmelte der Psychologe. »Du kennst ja das Verfahren. Wenn wir nur einen wichtigen Hinweis entdecken, dürfen wir schon zufrieden sein. Es geht weiter… ›Gott setzt Zeichen.‹« »Nichts. Ein Bibelspruch, glaube ich. Ich bin davon überzeugt, daß ich dieses Zitat noch nie bewußt in einem Gespräch verwendet habe. Ich kann mich wenigstens nicht daran erinnern.« »›Tötet Lebewesen.‹« »Ja, das bewegt mich«, sagte Inglis. »Ich leide unter der Zwangsvorstellung, daß man so etwas tun könnte.« Man konnte das von seinem Gesicht ablesen. Die Angst spiegelte sich in seinen Augen. Dr. Whitman nickte nachdenklich und fuhr dann fort: »›Arme, arme Dinger.‹« »Nichts Bedeutendes. Eine mir vollkommen fremde Ausdrucksweise. Sentimentales Klischee. Gar nicht meine Art.« »›Als wäre Anderssein minderwertig.‹« »Ja!« Dr. Whitman beugte sich erregt vor. »Wie deutest du das?« Inglis konzentrierte sich, erforschte seine Gefühle und Gedanken. Dann sagte er bedächtig: »Ich kann es nicht
beschreiben. Etwas Großes, Gewaltiges steht hinter diesen Worten. Es beunruhigt mich sehr.« »Kannst du mir erklären, weshalb du diesen Satz geschrieben hast?« »Ich – ich – ich hätte beinahe gesagt, dieser Satz erscheint mir richtig oder angebracht; doch diese Erklärung trifft den Kern der Sache noch nicht… Ich weiß nicht… Dieser Gedanke bewegte mich schon immer, soweit ich zurückdenken kann. Der Mensch ist selbstzufrieden, mächtig, mörderisch. Alle Lebewesen, die sich von ihm unterscheiden, stempelt er als minderwertig ab. Soweit die Minderwertigen nutzbar gemacht werden können, spannt er sie für seine Zwecke ein. Sind sie aber nutzlos, nimmt sich der Mensch das Recht heraus, die Minderwertigen zu töten. Der Buschmann wird ausgerottet – die Kuh wird gemolken – die Küchenschabe wird vergiftet – der Neger wird versklavt. Wenn der Umstand, daß man eine farbige Haut hat, tatsächlich den Wert eines Menschen mindert, kann sich der weiße Mann natürlich höher einstufen. Doch das gilt logischerweise auch im umgekehrten Fall. Wenn die Tatsache, daß man klein ist, eine braune Farbe und sechs Beine hat und sich in Mauerritzen versteckt, eine Minderwertigkeit darstellt, kann sich der Mensch als Wesen von höherem Wert betrachten. Aber auch hier gilt das im umgekehrten Fall. Ist der Mensch wirklich höherwertig als eine Küchenschabe? Hat man schon einmal eine Küchenschabe gefragt, ob sie diese These vertritt oder anerkennt? Ließe sich überhaupt ein Vergleich zwischen einer Küchenschabe und einem Menschen herstellen? Könnte eine Küchenschabe so eitel, so selbstzufrieden sein wie wir und alles Andersartige mit dem Prädikat minderwertig versehen? Seien wir doch ehrlich! Dieses Prädikat ist doch nur ein Vorurteil. Damit bemänteln wir nur unsere Besessenheit, alles zu beherrschen, herabzusetzen, auszubeuten, zu versklaven
und zu vernichten! Betrachten wir das Problem einmal unter einem kosmischen Aspekt – ist dann der Mensch immer noch höherwertiger als eine Küchenschabe? Absolut betrachtet? Wirklich? Nach welchem Maßstab und um wie vieles?« Wir dachten schweigend über diese Antwort nach. Dann fuhr Dr. Whitman fort: »Ich lese den Rest in einem herunter, weil ich glaube, daß es sich hier um ein Satzgefüge und nicht um zwei Sätze handelt. Also: ›Ich sage dir, Polizei kommt mit einer neuen Kamera.‹« »Offenbar ist das eine ganz simple telepathische Aussage, wenn sie sich bestätigt«, erwiderte Inglis. »Mr. Warren hat dem Fotografen die Kamera weggenommen. Jetzt ist er weggefahren und kommt mit einer Ersatzkamera wieder hierher. Das kann sich bestätigen oder auch nicht. Ich verbinde kein Gefühl mit dieser Aussage. Vielleicht bringt er auch die Polizei mit. Er ist wütend und hält mich für verrückt.« Dr. Whitman schien mit dem Ergebnis der Analyse nicht ganz zufrieden zu sein. Er saß eine Weile lang nachdenklich da und reichte dann die beiden Blätter mit den merkwürdigen, chromosomartigen Gebilden über den Tisch. Das eine Blatt stammte von Robert Inglis; das andere von John Inglis’ linker Hand. Als John Inglis die beiden Zeichnungen betrachtete, schien ein elektrischer Stoß durch seinen Körper zu gehen. Er hielt den Atem an, stieß ihn wieder aus, atmete rascher. Seine Blicke huschten zwischen den beiden Blättern hin und her. Seine Wangen röteten sich. »Das ist der Schlüssel!« rief er. »Was verbindest du damit?« »Das kann ich dir nicht sagen. Es ist verborgen, aber sehr stark. Keine Gedanken. Nur Gefühle. Gemischt, ambivalent. Freude und Sorge. Angst.« Er beruhigte sich wieder ein wenig und drehte den Kopf zur Seite. Sein Gesicht bekam jenen
gesammelten, nach innen gerichteten Ausdruck, der so typisch für ihn war. Der Parapsychologe räusperte sich: »Schau dir die Zeichnungen an. Wenn du sie beschreiben solltest, was würdest du dazu sagen?« »Ich würde sagen, sie erinnern mich an Chromosomschleifen bei der Zellteilung. Die beiden Blätter ergänzen sich wie zwei auseinanderstrebende Zellhälften, die ihre Chromosomschleifen gleichmäßig unter sich aufteilen. Die Chromosomschleifen gleichen dicken, sich krümmenden Würmern. Jede sieht ein bißchen anders aus.« »Was verbindest du für Vorstellungen mit dem Begriff Chromosom?« »Leben, Beharrlichkeit, Geheimnis.« »Und deine Gefühle?« »Mild, angenehm.« »Sind Gefühle dabei, die du als angebracht und richtig bezeichnest?« »Nein.« »Schau dir die Zeichnungen noch einmal an. Robert und du haben das gleiche gezeichnet – dicke, sich krümmende Würmer, wie du sie nennst, die sich voneinander fort bewegen. Spürst du irgendwie, daß das Zeichnen dieser Würmer angebracht war?« »Ja!« schrie Inglis. Er sprang auf. »Bitte, laß mich in Ruhe! Du quälst mich!« Es dauerte eine Weile, bis Dr. Whitman den Rasenden wieder besänftigen konnte. Sanft drückte er ihn auf seinen Sessel nieder. Nach einer nachdenklichen Pause sagte er: »Fassen wir zusammen, was wir bisher entdeckt haben. Wir haben ein paar wichtige Dinge herausbekommen. Wir kennen die Botschaft. Sie wurde von den Küchenschaben niedergeschrieben und dreimal unterstrichen: ›Töte uns nicht.‹ Deine Reaktionen auf
die Worte ›Tier‹ und ›Lebewesen‹ waren bezeichnend – besonders die Reaktion auf das Wort ›Lebewesen.‹ Das Wort ›Küchenschabe‹ jedoch scheint dich nicht zu berühren, obgleich du dich in letzter Zeit sehr ausführlich mit diesen Insekten beschäftigt hast. Du hast dich bei dem Satz ›tötet Lebewesen‹ sehr erregt. Noch stärker hat dich der Satz ›Als wäre Anderssein minderwertig‹ bewegt. Du hast uns darüber sogar einen kleinen Vortrag gehalten. Und dann diese Zeichnungen, oder was es auch immer ist – keine Reaktion bei dem Wort oder Begriff ›Chromosom‹; doch eine bemerkenswerte Erregung bei der Zeichnung der ›dicken, sich krümmenden Würmer‹, mit denen du das Gefühl verbindest, sie seien von großer Bedeutung. Kein Zweifel, der Schlüssel liegt in dem Zusammenhang: Zeichnung – töten – Tiere – Lebewesen – verschieden – minderwertig. Die Küchenschaben als solche haben keine Bedeutung.« Er dachte kurz nach. »Hast du in deinem Leben schon einmal ein Tier oder Lebewesen gesehen, das dieser Zeichnung ähnelt?« »Nein!« rief Inglis. »Warum reagierst du so heftig?« »Weil du mich quälst – und du weißt das ganz genau! Du darfst mir das nicht antun! Ich sage dir doch, du bringst mich um!« Der Parapsychologe seufzte und sank auf seinen Stuhl zurück. Ein langes Schweigen folgte. »Du kommst nicht weiter?« fragte Inglis schließlich. »Nein«, gab Whitman zu. »Im Augenblick… Nun, es gibt nur einen Ausweg. Du hast viel zu sehr gelitten, John. Du mußt dich unbedingt ausruhen. Ich nehme dich mit zu mir nach Hause und gebe dir eine Beruhigungsspritze. Morgen oder übermorgen, wenn du dich wieder erholt hast, gehen wir die Sache noch einmal an.« Inglis schüttelte den Kopf. »Ich habe dir bereits gesagt«, murmelte er gequält, »zum wiederholten Male gesagt, daß ich
sterben werde. Mein Tod ist angebracht. Auch das ist symptomatisch.« »Ein Symptom der Erschöpfung vielleicht.« Inglis sah seinen alten Lehrer fest an. »Dr. Whitman – ich habe dich aus zwei Gründen hierherkommen lassen. Zuerst der Hauptgrund. Du solltest die Chance bekommen, mir das Gefühl zu nehmen, mein Tod sei angebracht. Ich erwartete, daß dir das nicht gelingen würde. Es stimmt. Es ist dir nicht gelungen. Seit du hier bist, hat sich das Gefühl noch verstärkt. Mein Tod ist eine Notwendigkeit. Ich weiß jetzt – ich weiß –, daß ich in ganz naher Zukunft als Toter in diesem Sessel sitzen werde. Ich sehe mich selbst als Toten in diesem Sessel sitzen. Ich spüre, daß es richtig ist, daß es so kommt. Außerdem fühle ich, daß die Zeit drängt. Du kannst diese Intuitionen nicht widerlegen. Du kannst meine Kräfte nicht neutralisieren. Ich werde beeinflußt, und du kannst diesen Einfluß nicht brechen.« Der Psychologe dachte über diese Antwort nach. Dann fragte er: »Und der zweite Grund?« »Ich will dich als Zeugen haben, wenn ich sterbe.« »Du glaubst, daß dir im Moment deines Todes eine Offenbarung widerfährt?« »Ich möchte jetzt nicht sagen, was ich glaube.« »Bist du nicht ein bißchen abergläubisch?« »Ich weiß es nicht.« »Ist es für dich persönlich wichtig, daß du dir das Leben nimmst?« »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es wichtig für andere.« »Das könnte vielleicht sein. Aber du bist dann tot.« »Ich fühle, daß es so richtig ist. Es ist angebracht.« »Verwende dieses Wort nicht mehr, ich bitte dich!« »Es ist das richtige Wort!« »Ich bin überzeugt, es ist nichts als eine Selbsttäuschung!«
»Alle Worte sind Täuschungen!« Inglis lehnte sich vor, gespannt, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Dr. Whitman beruhigte sich ein bißchen und schüttelte den Kopf. »John, John, du bist einfach mit den Nerven fertig. Du solltest nur deine Augen einmal sehen! Glaubst du, ich kann mich bei deinem Zustand auf deine Gefühle verlassen?« »Meine Fähigkeiten waren noch nie so groß wie jetzt.« Dr. Whitman stand auf. »Inglis, du kommst mit mir nach Hause.« »Ich gehe nicht mit«, erwiderte Inglis und stand ebenfalls auf. Der Doktor wendete sich mir zu. »Helfen Sie mir?« »Glauben Sie, daß wir beide mit ihm fertig werden? Wir können natürlich noch ein paar Leute herbeiholen – aber hilft uns das? Ein Mann, der fest dazu entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen – den können Sie nicht zurückhalten.« Das gab dem Doktor offenbar zu denken. Denn er drehte sich wieder seinem geplagten Freund zu und redete ernsthaft auf ihn ein – ja, flehte ihn an – mit ihm in seine Wohnung zu kommen und sich dort auszuruhen. Doch Inglis schüttelte nur energisch den Kopf. Der Psychologe betrachtete ihn schweigend, setzte sich wieder und sagte: »Nimm Platz, John.« Er wartete, bis Inglis seiner Aufforderung folgte, und fuhr dann mit gütiger, sanfter Stimme fort: »Du bist vollkommen erschöpft, mein Junge – vollkommen erschöpft. Eine Woche ohne Schlaf? Man sieht es dir an. Hast du deine Augen betrachtet? Ich habe noch nie so müde, verzweifelte Augen gesehen. Ich werde jetzt einen letzten Versuch unternehmen, dir zu helfen. Ich werde eine Weile lang ganz ruhig zu dir sprechen. Ich glaube, ich weiß ein Mittel, um dich von deinen Spannungen zu entlasten. Ich weiß, daß ich das kann. So schwierig kann das gar nicht sein, weil du am Ende deiner
Kraft bist. Vielleicht merkst du gar nicht, wie müde du bist – du schläfst ja schon halb. Wenn du lieber die Augen zumachen willst, während ich zu dir spreche – tu’s ruhig. Wehre dich nicht dagegen. Schlafe ruhig ein.« »Ich bin so müde«, murmelte Inglis. »Schlafen – schlafen, und dann wieder aufwachen, ohne Sorgen und Qualen – wie schon ist das.« Ich sah, wie der Psychologe den Mund öffnete, um fortzufahren, aber Inglis ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich glaube, du bist auch müde, alter Freund«, sagte Inglis. Dr. Whitman hob abwehrend den rechten Arm. Doch Inglis ließ nicht locker. »Du bist wirklich müde, mein Freund. Du bist nicht mehr so jung und kräftig wie früher. Die Aufregung hat dich mitgenommen. Wir wollen uns jetzt alle miteinander ein bißchen entspannen. Und dann erzähle ich dir etwas. Ich weiß, daß dich das sehr interessieren wird. Nein, nein, sitz still. Ich kann nicht zu einem Mann reden, der mich dauernd unterbrechen will. Wir brauchen alle eine Ruhepause. Kennst du das Verfahren, wie man sich am besten entspannt? Es gibt ein Verfahren. Aber nicht viele Menschen wissen davon. Es ist ein ganz einfaches Verfahren, glaub mir. Ich werde es dir verraten.« Inglis’ Stimme hatte an Kraft zugenommen. Er hatte eine bezwingende Art, zu sprechen. Ich beobachtete ihn gespannt. Er wirkte geradezu magnetisch. Ich hätte es mir nie träumen lassen, wie unwiderstehlich er sein konnte. Er fuhr fort: »Zuerst entspannst du deine Hände. So machst du es – ihr beide. Schlaff… ganz schlaff. Ihr spürt eure Hände nicht mehr, so schlaff sind sie. Mach den Daumen nur locker. Ja, so ist es gut, Warren. Entspannt euch, lockert euch. Noch mehr, Whitman. Ihr habt kein Gefühl mehr in den Händen – gar kein Gefühl mehr… Und jetzt eure Arme. Locker, entspannen. Entspannt den rechten Arm – und jetzt den linken. Rechts, links, ganz locker. Noch mehr, Whitman, noch mehr… So ist
es gut. Jetzt das gleiche mit den Beinen. Alle beide. Fangt bei den Füßen an. Entspannen. Die Zehen und Knöchel. Locker, ganz locker… Entspannen. Laßt sie schlafen. Jetzt die Knie und Schenkel. Locker, ganz locker. Jetzt eure Köpfe. Sie sind schwer. Sie werden immer schwerer. Ich sehe ja, wie schwer sie sind. Und die Lider sind auch ganz schwer. Der ganze Körper ist schwer. Alles ist ganz schlaff und schwer und locker und entspannt.« Er sprach jetzt mit zwingender Autorität. Nicht ein einziges Mal setzte er ab, sondern redete unaufhörlich. Er blickte dabei seinem alten Lehrer fest in die Augen und sah ab und zu auch zu mir herüber. Ich mußte immerzu seine Augen ansehen. Er sprach auch mit den Händen, deutend, demonstrierend, sie aufund niederbewegend. Ich folgte jeder seiner Bewegungen, obwohl ich mich von seinen Augen nicht losreißen konnte. Sie waren unwiderstehlich. Ich fühlte mich tatsächlich entspannt. Ich wurde ganz locker und ganz ruhig. »Schwere Beine«, sagte er, »schwere Arme. Schwerer Kopf. Schwere Lider. Die Lider werden euch schwer, und ihr wollt die Augen schließen. Tut es. Schließt die Augen… sachte… sachte.« Ich schloß die Augen. Ich konnte sie nicht mehr offen halten. »Schließ die Augen. So ist es gut, Whitman. Nimm an, ich wäre dein Vater. Ja, ich bin dein Vater. Du mußt deinem Vater gehorchen. Du bist ja so schläfrig. Schlafe, schlafe… Ihr seid beide so müde. Euer Vater sagt, daß ihr schlafen sollt. Schlafen… schlafen…« Seine Stimme wurde noch zwingender, noch autoritärer: »Ihr schlaft jetzt. Ihr schlaft ganz tief. Ihr gehorcht eurem Vater. Ihr liebt euren Vater und wollt ihm etwas Gutes tun. Wenn ich euch jetzt bitte, den linken Arm und das linke Bein zu heben, tut ihr das. Natürlich gehorcht ihr, wenn ich das verlange. Ihr hebt jetzt beide den linken Arm und das linke Bein.« Ich gehorchte. »Öffnet die Augen.« Ich öffnete die Augen und sah,
daß Dr. Whitman ebenfalls den linken Arm und das linke Bein hob. »Senkt eure Arme und Beine!« Wir gehorchten und senkten Arm und Bein. »Ihr schlaft jetzt wieder – ganz fest«, hörte ich seine Stimme. »Schlafen, ganz fest schlafen. Ihr schlaft in euren Sesseln und seht mir zu. Ich werde jetzt ein Experiment vorführen – ein kleines, belangloses Experiment, eine einfache Vertauschung von Raum, Zeit und Materie. Auch ich werde jetzt schlafen. Ich werde sehr tief schlafen. Wenn ihr seht, daß ich ganz tief schlafe, werdet ihr wieder aufwachen. Wenn ich mich nicht mehr bewege, werdet ihr wieder erwachen. Und dann erinnert ihr euch an alles, was ihr gehört und gesehen habt. Ihr werdet mir gehorchen. Habt ihr mich verstanden?« »Ja«, sagten wir wie aus einem Mund. Inglis stand auf, stellte die weiße Plastikschüssel auf den Kaffeetisch, schob den Tisch mit der Schüssel neben die linke Armstütze seines Sessels und nahm wieder Platz. Dann holte er ein großes Federmesser und ein Stück Hanfstrick aus der Tasche. Er legte das Messer auf seine Knie und band den linken Vorderarm so auf der Stütze fest, daß das Handgelenk über der Waschschüssel hing. Er drehte das Handgelenk nach oben, nahm das Messer in die rechte Hand und setzte die Spitze der Klinge an eine Stelle dicht unter dem Handgelenk. Er zögerte… Dann wurde sein rechter Arm straff. Er stieß zu…
Das Blut schoß in einem schlanken Bogen heraus. Nach einer Weile ließ der Druck nach, und der Strom wurde zu einem kleinen, pulsierenden Rinnsal. Er betrachtete eine Weile sein verrinnendes Blut und drehte uns dann den Kopf zu. Ich werde den Ausdruck seiner Augen nie mehr vergessen.
»Es ist erbärmlich, wie ich von euch Abschied nehmen muß«, sagte er. »Aber du wolltest mich hypnotisieren, Whitman. Ich mußte dir zuvorkommen.« Wieder betrachtete er seinen Arm. Dann wanderte sein Blick zu uns zurück. »Ihr werdet dort sitzen und schlafen«, sagte er wieder mit gefaßter Stimme. »Ihr erinnert euch an alles, was ich sage und tue. Wenn ich fest eingeschlafen bin und mich nicht mehr bewege, wacht ihr wieder auf. Ihr beobachtet mich, bis ich mich nicht mehr bewege. Dann wacht ihr auf. Habt ihr mich verstanden?« »Ja«, sagten wir. »Sobald ihr aufwacht«, fuhr er fort, »geht ihr zu den Leuten, auf die es ankommt, und berichtet ihnen alles, was sich hier zugetragen hat. Habt ihr mich verstanden?« »Ja«, antworteten wir. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Augen. »Ich habe euch etwas Interessantes mitzuteilen. Es ist ein Geständnis. Whitman, weißt du noch, wie du mich im Laboratorium hypnotisiert hast?« »Ja«, kam Whitmans Antwort. »Du wolltest ausprobieren, wie sich die Hypnose auf meine okkulten Fähigkeiten auswirkt. Und dabei spielte ich dir einmal einen Streich. Ich hypnotisierte dich! Du hattest bereits damit begonnen, mich in Hypnose zu versetzen, als ich die Initiative übernahm. Ich hypnotisierte dich! Das Ganze war natürlich nur ein Scherz, und ich hätte das eigentlich nicht tun dürfen. Ich hatte auch Angst hinterher, daß du mir auf die Schliche kommen würdest. Aber du hast es nicht gemerkt! Hast es nicht einmal geahnt! Natürlich gab ich dir den posthypnotischen Befehl, alles zu vergessen… Trotzdem! Wie entscheidend kann manchmal eine unbedachte Handlung für unser Leben werden! Weil ich damals, als junger Student, mir
einen Spaß mit dir erlaubte, kam mir vorhin der Gedanke, es noch einmal zu versuchen. In meiner äußersten Not erinnerte ich mich daran, und ich spürte, daß es mir auch jetzt wieder gelingen würde. Auch bei dir war ich mir meiner Sache sicher, Warren. Ich mochte dich und habe bemerkt, wie sensibel und aufnahmebereit du bist.« Er wendete den Kopf wieder ab und betrachtete sein Handgelenk. Das Blut floß schwächer. »Ich fühle, wie ich schlaff werde«, meinte er mit einem blassen Lächeln. Die Zeit verging. Inglis brütete vor sich hin. Plötzlich rief er: »Oh, – ich wünschte, ich könnte mit euch reden wie sonst. Unter normalen Bedingungen. Ich weiß, es wäre möglich gewesen. Aber ich durfte es nicht riskieren. Trotzdem habe ich noch Glück gehabt… Antworte mir, Whitman: regte sich bei dir jemals der Verdacht, daß ich dich hypnotisiert habe?« »Nein«, kam die Antwort. »Ich wunderte mich damals nur, wie rasch die Zeit verflogen war. Ich konnte mich nicht erinnern…« Der Sterbende lächelte. Er sah mich an. »Hast du meinen Bruder – auch so gefunden?« fragte er. »Ja«, antwortete ich. »War die Wunde im gleichen Arm?« »Nein. Am anderen – am rechten.« »Wir waren spiegelbildlich-symmetrische Zwillinge«, sagte er. »Wir sind es«, verbesserte er sich sofort und fuhr dann nach einer Pause leiser fort: »Ich werde jetzt wirklich schwächer… Nun, ich werde jetzt bald zu ihm gehen – wo und was er auch immer sein mag… Es ist ein wunderbares Geschenk, ein eineiiger Zwilling zu sein. Jeder, der für sich allein geboren ist, vermißt seine andere Hälfte. Denn ein eineiiger Zwilling ist nie von seinem Bruder getrennt. Jeder ist eine Hälfte vom anderen. Tag für Tag, Seite an Seite, wachsen sie auf – getrennte Extrapolationen all der Millionen Mutterzellen, die sich aus jener ersten befruchteten Eizelle entfalten. Doch ihre Summe ist immer eins. Alles, was dein Zwillingsbruder tut, tust du
auch. Jedes Erlebnis, das du hast, teilt auch er. Er ist immer da, um mit dir zu spielen, mit dir zusammen zu sein. Was er denkt, denkst du auch, und was du empfindest, empfindet er in der gleichen Phase. Deine Freuden, Probleme, Freunde hast du mit ihm gemeinsam. Für einen Menschen bist du immer wichtig. Du lebst mit ihm in Einklang.« Er nickte. »Und wieviel hatten wir beide, Robert und ich, anderen eineiigen Zwillingspaaren noch voraus! Mit unseren außernatürlichen Kräften lebten wir in engster harmonischer Übereinstimmung, obwohl wir voneinander getrennt wohnten. Wir entfernten uns immer weiter vom normalen, alltäglichen Leben. Als Kinder waren wir diesem Leben noch nah; doch mit zunehmenden Alter entwickelten wir uns auf Grund unserer psychischen Veranlagung immer mehr zu Sonderlingen und Versagern. Trotzdem standen wir auch hier im Einklang. Wir hatten den gleichen Kurs. John und Robert waren eins. Diese Freude war uns vergönnt. Unsere außernatürliche Veranlagung war eine schreckliche Last. Wir waren sensibel, viel zu sensibel. Der normale Mensch besitzt eine innere Gefühllosigkeit, eine innere Schutzhaut, die ihn bis zu einem gewissen Grade vor den disharmonischen Wellen des psychischen Ozeans abschirmt. Uns beiden schien diese innere Schutzhaut zu fehlen. Wir wurden von einem Blick verletzt, von einem Gedanken verwundet. Von der alles durchdringenden Animalität des Lebens wurden wir hilflos hin- und hergeschleudert, überspült, halb ertränkt – wie Schiffbrüchige in der stürmischen Brandung. Mit der zunehmenden Abkehr vom Alltäglichen suchten wir immer mehr die Einsamkeit und Stille. Viele Jahre lebten wir so glücklich zusammen. Doch jetzt, das kann ich euch versichern, sterbe ich gern… Wenn ich sage ›ich‹, meine ich ›wir‹.« Wieder brütete Inglis vor sich hin. Seine linke Hand
hing schlaff herab. Das rote Rinnsal floß dünn von seinem kleinen Finger hinunter… Inglis fuhr leise fort: »Bewundernswert, wie sich der Körper dagegen auflehnt, seine Einheit aufzugeben. Aber er wird scheitern. Zwei Drittel meines Lebens sind bereits ausgeflossen… Ich fühle mich viel schwächer… Aber ich fühle auch den Frieden… Bist du nicht froh darüber, mein lieber, verehrter Lehrer? Seit langem ist es das erstemal, daß ich wieder meinen Frieden habe. Ist Friede eine Auswirkung der Schwäche? Oh, diese Begriffe und Definitionen! Ich bin überzeugt, daß die Hälfte der Konflikte der menschlichen Rasse semantischer Art sind – Mißverständnis zwischen Wort und Bedeutung. Ich wünschte, wir könnten wirklich miteinander reden. Es ist so friedlich – so herrlich friedlich. Wenn ich mir vorstelle, daß es Menschen gibt, die so etwas jede Woche empfinden dürfen! Eine Woche lang litt ich schreckliche Qualen, und jetzt, nach einem kleinen Aderlaß, habe ich meinen Frieden. Was hat mich eigentlich so gequält? Ja, fast hätte ich es vergessen – es war eine Botschaft. Ich glaubte, ich hätte eine Botschaft empfangen. Voll Zuversicht bat ich euch hierher, um bei dem großen Wechsel Zeuge zu sein. Statt dessen tauche ich jetzt langsam in meinen Frieden ein und lade euch neuen Kummer auf. Vergebt mir. Ich hatte geglaubt, es gäbe eine Botschaft für mich. Sie schien so wichtig zu sein. Doch ich vergehe nur… Bald werde ich bei Robert sein. Wo oder was er auch immer ist. Der Wechsel steht unmittelbar bevor. Dann werde ich es wissen. Der große Wechsel… Ich habe viele Insekten getötet; ich habe Hunderte von Küchenschaben sterben sehen. Sie haben den Wechsel erfahren. Ich werde es bald wissen, was er bedeutet. Leben: sie hatten es. Ich werde es noch einen Moment lang haben. Was ist der Unterschied zwischen einer Küchenschabe und einem Menschen? Ich weiß, daß es da einen oder zwei Unterschiede gibt. Aber ich sehe jetzt solche
kleinen Dinge nicht mehr. Beide leben und sterben nach einer Weile. Haben wir ein getrenntes Jenseits? Wie kann man nur so etwas denken! Wo beginnt der Mensch in der Entwicklungsreihe etwas Besonderes zu werden, sich ein besonderes Jenseits anzumaßen? Hat die Küchenschabe eine Seele? Nein. Ein Affe? Nein. Ein Menschenaffe? Nein. Ein Affenmensch? Vielleicht. Doch der Mensch – ja, der hat eine Seele! Oh, menschliche Eitelkeit, was für eine Haarspalterei! Die Experten auf dem Gebiet des Unerforschlichen erzählen uns, daß an einem geheimen Punkt der Entwicklungslinie zwischen Küchenschabe und Mensch eine unerhört wichtige Fahrkarte ausgegeben wird – eine Fahrkarte, die den berechtigten Inhaber einen Anspruch auf einen Polstersitz im Wagen zum menschlichen Paradies gibt. Affen und Küchenschaben sind in dem Wagen nicht zugelassen. Ich möchte nicht dorthin fahren…« Inglis’ Kopf war inzwischen immer weiter nach vorn gesunken. Aber wenn man seinen Worten lauschte, wollte man seinen Augen nicht glauben. Er schien sich gar nicht bewußt zu werden, wie schwach er schon war. Zwar legte er jetzt zwischen den Sätzen Pausen ein, und das rote Rinnsal löste sich immer öfters in Tropfen auf. Trotzdem schien er noch weit davon entfernt, das Bewußtsein zu verlieren. Um seine Augen herum bildeten sich schwarze Ringe; doch seine geröteten Augen waren immer noch offen und geradeaus gerichtet. »Ich bin schwach«, sagte Inglis plötzlich. »… ich sollte irgendeine Botschaft bekommen. Ich glaubte fest daran… oder war es nur eine Hoffnung?« Wieder schwieg er eine Weile. Dann raffte er sich wohl wieder auf. Seine Stimme war jetzt sehr schwach. Die Pausen wurden länger. »Es ist unbegreiflich. Ein Mann stirbt plötzlich in China und erscheint im Moment seines Todes seiner Frau in New York. Verbindung im Leben, Mitteilung im Tod. Mein
Bruder – ganz in der Nähe. Was für eine Kraft ist das?… Was half mir, den Ort anzugeben, wo seit zwölftausend Jahren die Artefakten unter einer sechs Meter dicken Erdschicht vergraben waren? Man grub danach, fand sie – und sie sahen genau so aus, wie ich sie beschrieben hatte. Ich hatte keine Vision – sah sie nicht vor mir – spürte nichts, fühlte nichts – ich sagte nur, was mir richtig und angebracht erschien… Und jener Mann in Melbourne… Gedächtnislücke… eine Fuge… er wußte nicht mehr, wer er war. Aber ich sprach seinen Namen aus, und sie entdeckten ihn am anderen Ende der Welt. Wie kommt so etwas zustande?… Ich lebte in einem Ozean des Bewußtseins… Oder ist es Bewußtheit? Nein, keine Definitionen mehr: es ist ein Ozean des Bewußtseins, bewegt von Wellen der. Wahrnehmung – von Kräften aufgewühlt, vom Unwahrscheinlichen beherrscht, hie und da von mörderischen Erdbewohnern angezapft und mißbraucht… Wo ist das Paradies der Menschen? Was sagen die Experten darüber? Liegt es im All zwischen den Kosmen? Es gibt Engel dort, wie ihr wißt. Die Astronomen sagen, es gibt Milliarden von Erdplaneten, jeder bewohnt von einer Vielfalt des Lebens. Hier gibt es die Küchenschaben und die Menschen und die Affen und die Bakterien. Doch wie sehen die Lebensformen der anderen Planeten aus? Sie existieren. Unsere Experten sind da nicht so klar in ihrem Bewußtsein und haben ihnen noch nicht Rang, Würde und ein Jenseits zuerkannt. Doch sie existieren – verschieden, bizarr, mächtig, lebendig. Viele, unendlich viele von ihnen werden höher stehen als der Mensch. Viele, unendlich viele werden gütiger sein als der Mensch… Lebensformen – was bedeutet das? Leben… möglich, daß lebendige Wesen nie erfahren, was Leben ist. Doch die Bewegung gehört dazu. Ist der Virus lebendig? Kommt er in den Virus-Himmel, wenn er in seine Bestandteile zerfällt? Was
wird aus seinen Teilen? Ein Virus-Molekül hat nicht so viele Atome. Es sind die gleichen Atome, aus denen sich die Menschen und die Berge aufbauen. Gleiche Materie: Lebendiges, Nichtlebendiges, Elektrizität. Sie alle bewegen sich. Das Elektron bewegt sich im Kreis, und all deine Frömmigkeit und all deine Geisteskraft vermag nicht, es auch nur eine halbe Millisekunde anzuhalten. Mit freudiger Zuversicht geht das Elektron an seine atomare Aufgabe. Ich bin überzeugt, daß es lebt, einen Moment lang lebt, bis es seiner entgegengesetzten Ladung begegnet und selbst den großen Wechsel erfährt. Ich denke nichts Ungereimtes, meine Freunde. Es ist leider so, daß ich nur mit Worten sprechen kann. Mit mißdeutbaren Worten. Ich ersticke an Worten… Doch ich kann der Wahrheit näherrücken. Es gibt einen unendlichen und ewigen Profundus des Seins. In einer Offenbarung erscheint die Materie, und Universen dehnen sich aus. So strahlend hell! Aus der strahlend hellen Energie tritt neue Materie hervor, und die Universen selbst lösen sich wieder in Energie auf oder werden als Energie remanifestiert, während das kosmische Kontinuum sich hebt und schimmert. Gestern und Morgen, das Heute und das Licht aus meinen Augen, das Blut aus meinen Adern – alles ist eins, das sich vielfältig offenbart, gerinnend und sich verflüssigend, sich scheinbar bewegend und auf der Stelle verharrend. Es ist ein Eines, das so erscheint, daß wir es als Wechsel sehen; als Vielfalt und Wechsel; und irgendwo in ihm, als äußerstes Wunder, liegt die Kraft der Güte. Besser gesagt, das Atom hat einen Aspekt des Guten…« Er brach ab. Einen Augenblick lang hing das Echo seiner Stimme noch im Raum. Jetzt kamen nur noch Tropfen. Wie laute Pulsschläge fielen sie in die Schüssel. Lange Zeit währte jetzt das Schweigen; doch Inglis war immer noch am Leben. Seine Augen blieben offen, schlossen
sich nur für Sekunden. Sein Kopf sank tiefer. Ich spürte, daß dies seine letzten Worte gewesen waren. Ich sah zu, wie er langsam dahinschwand. Seine Augen blieben jetzt länger geschlossen. Sein Kopf sank noch tiefer. Doch plötzlich bewegte er wieder die Lippen. Den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, sagte er: »Vergib mir.« Wieder kehrte Stille ein. Das Tropfen wurde unregelmäßiger und schwächer. Aus unendlicher Ferne drang das Brausen der großen Stadt zu mir, die uns umgab: das Rollen eines vorbeifahrenden Lastwagens, das schwache Dröhnen einer Düsenmaschine am Himmel. Wir saßen regungslos in unseren Sesseln – in ohnmächtiger Regungslosigkeit. Die Sekunden verrannen. Das Tropfen hörte auf. Und da versuchte Inglis noch einmal, den Kopf zu heben. So mühsam, so schrecklich mühsam. Seine Augen öffneten sich. Er richtete sie auf die gegenüberliegende Wand. Ich sah, wie sie sich auf etwas hefteten, das näher zu kommen schien, bis sein Blick auf einer leeren Stelle verharrte – einen Punkt dicht über dem Boden, nur einen Meter von ihm entfernt. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken. Die blutunterlaufenen Augen saugten sich an diesen Punkt fest, als wäre er das einzige, was vom Universum übrigblieb. Meine eigenen Augen wanderten zwischen der leeren Stelle und den gebannt starrenden Augäpfeln hin und her. Unbekannte Kräfte schienen die letzte Zelle meines Körpers zu durchdringen. Inglis raffte sich mit letzter, schier unmenschlicher Kraft auf. Er sah uns an und rief triumphierend: »Seht ihr?« Ich sah nichts. Wieder starrte er auf die leere Stelle. Wieder drehte er uns den Kopf zu und rief: »Hört ihr?« Ich hörte nichts. »Es ist die Botschaft – endlich – klar und deutlich! Sie besuchen die Erde! Sie sind schon in der Stadt! Sie sind nicht
unfreundlich! Sie sind anders, aber nicht minderwertig! Seid freundlich und gut zu ihnen! Tötet sie nicht! Tötet sie nicht!« Das waren seine letzten Worte. Er atmete flach. Langsam sank sein Kopf auf seine Brust hinunter – tiefer, immer tiefer – während seine Augen sich nach oben drehten – immer noch auf die leere Stelle gerichtet – immer noch – noch… Er saß still, die Augen offen, das Kinn auf der Brust. Ein paar Herzschläge lang sah ich ihn noch an. Dann stand ich auf und beugte mich über ihn – tief, ganz tief über sein wundervolles, von Qualen gemartertes Haupt. Dr. Whitman stand neben mir. Ich drückte ihm die Augen zu. Dr. Whitman sagte: »Mit Bluttransfusionen könnte ich ihn zurückholen. Wenn man mir zehn Minuten Zeit läßt, könnte ich seinen Körper noch retten. Aber seinen Geist zwingen wir damit nicht mehr in seinen Körper zurück…« Ich stand da, entrückt auf eine höhere Ebene des Bewußtseins. Und dann hörte ich ein Klicken hinter mir. Ich drehte mich um. Willie stand im Zimmer. Er zückte eine Kamera. Er war bis zu uns vorgedrungen und hatte sein Foto geschossen. Ich schlug ihn. Ich schlug ihn mit der Faust. Ich entriß ihm die Kamera und zerschmetterte sie an der Wand. Ich rannte auf die Straße hinaus. Ein Polizeiwagen stand vor dem Haus. Mein Wagen ebenfalls. Stoßstange an Stoßstange mit dem Streifenwagen. Ein paar Lastwagenfahrer drängten sich um ihn. Ich sprang in meinen Wagen, startete den Motor und bewegte mich zentimeterweise vorwärts. Widerwillig wichen die aufgeregten Männer zur Seite. Die Abenddämmerung brach bereits herein. Ich raste zum Büro. Die Wesen aus dem All sind in der Stadt. Ich habe eines von ihnen gesehen. Ich sah es durch die Beine einer
Menschenmenge. Es hatte fette, gewundene Bartfäden. Die Menge stieß es mit Stöcken und Latten! Der Lokalredakteur saß in einem Kreis aufgeregter Mitarbeiter. Ich rief ihm zu, was ich wußte. In dem Durcheinander konnte er unmöglich verstanden haben, was ich sagte. Aber er las es mir am Gesicht ab und deutete auf meinen Schreibtisch. Ich bin mit meinem Artikel zu Ende. Das ist die Botschaft. Hört sie, ihr Bewohner der Erde, hört sie! Die Wesen aus dem All kommen zu Besuch. Sie sind nicht unfreundlich. Sie sind anders als wir, aber nicht minderwertiger als wir. Mörder, seid gut zu ihnen! Zeigt euren guten Willen! Tötet sie nicht! Tötet sie nicht!
Originaltitel: DEATH OF A SENSITIVE. Übersetzt von Bodo Bautnann.
A. Bertram Chandler STRANDGUT
Das blonde Mädchen stand auf dem Bootsdeck neben der Ladeluke 3, als es den Dritten Offizier an den Rand der Kommandobrücke gehen sah. Was der Mann in der Hand trug, ließ sich eindeutig als eine Ginflasche erkennen. Der Dritte schleuderte die Flasche auf das Meer hinaus, sah zu, wie sie ein gutes Stück von der Bordwand entfernt ins Wasser klatschte und davontrieb. Dann kehrte er ins Ruderhaus zurück. Später am Tag, es war Nachmittag geworden, waren das blonde Mädchen und der Dritte Offizier Spielpartner beim Deck-Golf. »Sagen Sie mal, Jimmy«, meinte sie. »Ihr Offiziere nehmt euch aber allerlei Freiheiten heraus.« »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich meine, daß Sie auf der Brücke trinken. Heute vormittag sah ich, wie Sie eine leere Flasche über Bord warfen.« »Leer war sie, das stimmt«, entgegnete er. »Aber die haben wir nicht auf der Brücke geleert. Sie gehörte dem Maat. Und sie enthielt eine Mitteilung.« »Wie romantisch! Von einem Korsar? Die Karte eines vergrabenen Seeräuberschatzes?« »Nein. Nur Datum, Zeit und Angabe der Position beim Aussetzen. Dient der Messung der Meeresströmungen. Die kartographischen Institute brauchen solche Angaben für ihre Seekarten – falls man die Flaschen jemals findet. Die können ja weiß Gott wohin abgetrieben werden.« »Ah, so ist das…«
Jimmy Furness wälzte sich auf die Seite. Der kleine, grasbewachsene Hügel, auf dem er lag, war alles andere als eine bequeme Couch. Bestimmt hatte der Stein, auf dem er gelegen hatte, einen blauen Fleck auf seiner Hüfte hinterlassen. Sein rechter Arm, auf den das Mädchen seinen Kopf gelegt hatte, wurde allmählich taub. Und jetzt war es ihr auch noch in den Sinn gekommen, über Astronomie zu plaudern. Die war genauso anstrengend wie die Blonde auf dem Schiff – wie hatte sie nur noch geheißen? – die sich viel zu sehr für Meteorologie interessiert hatte. »Und der helle da oben?« fragte das Mädchen. »Das ist der Jupiter«, sagte Furness. »Wohnt da jemand?« »Wohl kaum. Meines Wissens ist der einzige andere Planet unseres Sonnensystems, auf dem man Spuren von Leben vermutet, der Mars.« »Ja, die Kanäle…« »Falls das wirklich Kanäle sein sollten…«, begann er und merkte, daß er sich wider Willen für das Thema zu erwärmen begann. »Wenn man die neuesten Berichte der Astronomen liest, muß man annehmen, daß es wenigstens eine Milliarde Planeten in unserer Galaxis gibt, die erdähnliche Verhältnisse aufweisen. Auf ihnen könnte es Leben geben, wie wir es kennen. Alle Sterne am Himmel, die wir sehen können – einmal abgesehen von den Planeten unseres Sonnensystems – sind Sonnen, um die Planeten kreisen.« »Und was sind Sternschnuppen?« »Das sind doch keine Sterne, Liebling. Das sind lediglich Brocken kosmischer Materie, die in das Schwerefeld der Erde eindringen und beim Sturz durch die Atmosphäre unter der Reibungshitze aufglühen, während sie herabfallen – « »Schau doch!« unterbrach sie ihn. »Da ist eine!« »Mein Gott!« rief er. »Die kommt genau auf uns zu!« Sein Instinkt riet ihm, aufzuspringen und wegzulaufen, aber die
Vernunft sagte ihm, daß es zwecklos sei. Er packte das Mädchen und riß sie zu sich herum, so daß sie auf dem Gesicht lag. Er warf sich auf sie, um sie zu schützen, was sinnlos war, wenn der Gegenstand genau auf sie fiele – sie aber auch vor umherfliegenden Trümmern schützen könnte, falls der Einschlag in der Nähe erfolgte. Er hatte die Augen geschlossen, dennoch durchdrang das gleißende Licht des Meteoriten seine Lider. Ein Brausen lag in der Luft, und er spürte die Hitze auf seinem Rücken. Dann schlug der Meteorit ein. Die Druckwelle riß sie von der Erde hoch und schleuderte sie einige Meter weit. Furness erholte sich als erster. Er stand auf und taumelte zu der Stelle, wo das Mädchen lag. Er kniete neben ihr nieder und versuchte sie aufzurichten. »Madge«, sagte er erschüttert. »Madge, ist was passiert?« »Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube nicht.« Furness merkte plötzlich, daß er ihr Gesicht sehr viel deutlicher erkennen konnte als vorhin im Sternenschein. Er wandte sich um und suchte die Stelle, wo der Meteorit eingeschlagen war. Das Ding glühte noch, und während es abkühlte, schien die Strahlung nur noch stärker zu werden. Plötzlich begannen Blitze aufzuzucken. Irgendwie kam Furness der Gedanke, daß die Blitze Morsezeichen sein könnten. Aber das war doch unmöglich. Trotzdem kamen die Blitze in regelmäßigen Zeitabständen, mal lang, mal kurz. Diese Regelmäßigkeit ließ sich nicht einfach durch den Prozeß der Abkühlung erklären. »Das müssen wir uns ansehen«, sagte er noch etwas benommen. »Tu’s lieber nicht«, warnte das Mädchen. Er beachtete ihre Warnung nicht, richtete sich auf und ging zu dem kleinen Krater hinüber. An seiner tiefsten Stelle lag der Meteorit. Ein eiförmiger, hellglühender Gegenstand. Das Licht, das er aussandte, schien zu pulsieren, und mit jedem stärkeren Aufleuchten schien die Helligkeit zuzunehmen. Das
Licht wurde so grell, daß Furness die Augen bis auf schmale Schlitze schließen mußte, je näher er herankam. Und dann fiel ihm auch das Geräusch auf, ein nicht abreißendes hohes Pfeifen, das schon im Ultraschallbereich zu liegen schien. »Das gefällt mir nicht«, sagte er plötzlich und rannte zu der Stelle zurück, wo das Mädchen lag. »Was ist denn?« fragte sie. »Das ist kein Meteorit. Muß irgendein Flugkörper sein – oder ein Geschoß. Möglich, daß es jeden Augenblick explodiert.« »Was sollen wir tun?« »Nichts wie nach Hause«, sagte er. »Zum Haus deiner Eltern ist es nicht weit. Ich rufe die Polizei an.«
Natürlich verlangten Madges Eltern eine Erklärung, als sie sahen, in welchem Zustand sich ihre Tochter befand. Furness mußte alle seine Überredungskünste aufbieten, bevor man ihm überhaupt erlaubte zu telefonieren. Er rief das nächste Polizeirevier an. »Ja«, sagte er, »auf der Wiese hinter Hammans Wald. Nein, keine Sternschnuppe! Könnte eine Rakete sein, deren Steuerung versagt hat. Vielleicht mit einem Atomsprengkopf. Schicken Sie jemand hin, der das Ding beobachtet. Und lassen sie keine Neugierigen ran. Ja, ich komme mit. Ich bin bei der Familie Wendell. Ja, Rankin’s Lane… Zehn Minuten. Gut, ich warte.« Während er auf die Ankunft des Streifenwagens wartete, ging Furness mit Mr. Wendell hinaus in den Garten. Sie schauten zu Hammans Wald hinüber. Der helle Schein war deutlich erkennbar. Es blitzte regelmäßig auf wie das Richtfeuer eines Flughafens. »Jimmy«, sagte Mr. Wendell. »Meinen Sie, ich sollte Madge und ihre Mutter wegbringen? Falls das Ding explodiert…«
»Ich glaube, es handelt sich um eine Rakete«, sagte Furness. »Und wenn es eine ist, dann kann es nur eine von den unsrigen sein. Und sie leuchtet und pfeift deshalb, damit man sie gleich findet, falls sie niedergeht…« »Vielleicht bringen sie was darüber im Fernsehen«, meinte Mr. Wendell. Sie gingen wieder ins Haus. Wendell schaltete den Fernseher ein. Aber auf keinem der Kanäle kam eine Nachricht. Vielmehr war der Empfang erheblich gestört. Verzerrungen huschten in regelmäßigen Abständen über den Schirm, begleitet von einem lauten Knacken. Furness begriff, daß der Rhythmus der Störungen genau der Strahlungsfrequenz des unbekannten Gegenstandes entsprach. Draußen hielt ein Wagen. Jemand kam den Gartenweg zum Haus entlang. Es läutete. »Das ist die Polizei«, sagte Furness. »Ich gehe schon.« Mr. Wendell folgte ihm zur Tür. »Inspektor Welsh«, wandte er sich an den Mann in Uniform, der geläutet hatte. »Sollen wir das Haus verlassen?« »Falls das nötig sein sollte, Mr. Wendell, werden wir es Ihnen rechtzeitig sagen. Und Sie sind Mr. Furness? Sie haben das Ding herunterkommen sehen? Wenn Sie uns bitte begleiten würden – « »Nicht schwer zu finden«, sagte Furness. Er zeigte auf den Lichtschein hinter dem Dunkel des Waldes. »Aber ich begleite Sie gern.«
»Gefällt mir nicht«, sagte der Inspektor nach einer Weile. »Fällt auch nicht unter meine Zuständigkeit. Ich kann nur die Straße sperren lassen und einen Posten aufstellen. Wir fahren inzwischen zum Revier zurück und unterrichten die nächste Heeresdienststelle.«
»Oder die Luftwaffe«, schlug Furness vor. »Nicht schlecht«, sagte der Polizeibeamte. »Fällt wahrscheinlich mehr in ihr Gebiet.« Sie stiegen ein. Während sie durch die stillen Straßen der kleinen Ortschaft fuhren, sagte keiner ein Wort. Als sie das Revier betraten, kam ihnen ein Polizist entgegen. »Es geht uns zwar nichts an«, sagte er zu seinem Kollegen, »aber ununterbrochen rufen hier Leute an und beschweren sich, daß ihre Fernsehgeräte und Radios gestört werden…« »Das hängt mit dem Ding zusammen«, sagte der Inspektor. »Rufen Sie in Wainham an. Ich möchte mit dem Offizier vom Dienst sprechen – glaube, das ist Captain Boyle. Lassen Sie sich jedenfalls mit ihm verbinden.« Es dauerte nicht lange, dann war die Verbindung hergestellt. Der Inspektor gab seinen Bericht durch, dann holte man Furness ans Telefon, damit auch er sagte, was er gesehen hatte. Anschließend ergriff wieder Inspektor Welsh den Hörer, sprach noch ein paar Minuten und legte auf. »Fahren wir wieder zu Hammans Wald, Mr. Furness«, sagte er. »Die wollen ein paar Leute mit dem Hubschrauber schicken.« Furness stand neben dem Inspektor und sah den Helikopter kommen. Im Schein des Lichtes aus dem Aufschlagkrater sah der Hubschrauber aus wie ein gigantisches silbrig schimmerndes Insekt am Nachthimmel. Langsam senkte er sich herab und setzte etwa fünfzig Meter von der Aufschlagstelle entfernt auf dem Boden auf. Zwei dunkle Gestalten sprangen heraus, und kaum daß sie die Erde berührt hatten, hob der Helikopter wieder ab und flog in Richtung Wainham davon. Furness und der Inspektor gingen auf die beiden Männer zu. »Ich bin Inspektor Welsh«, sagte der Polizist. »Mr. Furness hier hat das Ding herunterkommen sehen.«
»Mein Name ist Brown«, sagte der größere der beiden Männer. »Wing Commander Brown. Das ist Rottenführer Kennedy.« Er ging auf den Krater zu. »Sie haben es also runterkommen sehen, Mr. Furness. Hielten sie es für eine Rakete?« »Nein«, sagte Furness nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Mir ist nicht aufgefallen, daß es einen Antrieb gehabt hätte. Alles deutete darauf hin – jedenfalls bis es aufschlug – daß es sich um einen ganz normalen Meteoriten handelte. Nach allem, was ich schon darüber gelesen habe…« »Haben Sie die Brillen, Kennedy? Wir haben auch für Sie und Mr. Welsh welche mitgebracht. Es wäre besser, wenn Sie sie…« Die polarisierten Gläser halfen tatsächlich. Jetzt war es möglich, den glühenden Gegenstand genau zu betrachten. Die vier Männer erreichten den Rand des Kraters und gingen vorsichtig hinunter. Furness war überrascht, wie wenig er die Hitze spürte. Er stellte fest, daß der Gegenstand fast völlig abgekühlt war. »Keine Anzeichen einer Brennkammer«, sagte der Wing Commander. »Spricht der Geigerzähler an, Kennedy?« »Keine Reaktion.« »Sie haben vermutlich ein Feldtelefon mitgebracht, Inspektor. Wir hatten ursprünglich vor, unsere Funkgeräte einzusetzen, aber das Ding stört zu stark…« »Ein Feldtelefon…«, murmelte der Inspektor betroffen. »Ich glaubte, Sie würden…« »Na schön, dann muß es eben ohne Telefon gehen. Wenn das Ding hochgeht, nimmt es uns mit, und die Nachwelt wird nie erfahren, was wir getan haben, um die Tapferkeitsmedaille posthum zu verdienen. Haben Sie Ihr Maßband dabei, Kennedy? Einen Meter dreißig lang, etwa einen Meter Durchmesser an der dicksten Stelle. Einen Krach macht das
Ding. Wenn das Pfeifen so weitergeht, kriege ich noch teuflische Kopfschmerzen – « »Das sieht doch aus wie Schriftzeichen an der Seite hier«, unterbrach ihn der Inspektor. »Ziemlich verwischt, aber…« »Sie haben recht, Inspektor. Könnte das russisch sein? Nein, aber irgendwie vertraut kommen mir die Zeichen doch vor… fast wie…« »Dieses Zeichen da könnte man für ein griechisches pi halten«, meinte Furness. »Ja, tatsächlich«, gab Brown zu. »Inspektor, ich glaube, es besteht keine Gefahr, daß die Gegend hier durch eine Atomexplosion vernichtet werden könnte. Trotzdem soll die Straße gesperrt bleiben oder was sie sonst noch veranlaßt oder nicht veranlaßt haben, und halten Sie die Neugierigen fern. Morgen strömen sie in Scharen herbei, glauben Sie mir das.« »Was haben Sie vor, Sir?« »Kennedy und ich bleiben hier und versuchen herauszufinden, was sich herausfinden läßt. Der Helikopter wird Geräte und Apparate bringen und was sonst noch dazugehört. Und dann… tja, ich vermute, daß diese Sache die höchsten Stellen interessieren wird. Ach ja, Furness… ich nehme an, der Inspektor weiß, wo wir Sie erreichen können.« »Innerhalb der nächsten vierzehn Tage, ja«, sagte Furness. »Später nicht mehr. Dann ist mein Landurlaub um.« »Royal Navy?« »Nein, Handelsmarine.« »Danke, Mr. Furness. Wir werden Sie benachrichtigen, falls wir sie brauchen sollten. In der Zwischenzeit – sprechen Sie nicht über das, was sie erlebt und gesehen haben.« Der Funkstreifenwagen brachte Furness zum Haus seiner Eltern. Und weil er es ablehnte, auf die Fragen seines Vaters und seiner Mutter zu antworten, beschwor er bei den braven Leuten den Eindruck herauf, er habe bei den Vorbereitungen
eines Raketenangriffs zugesehen oder die Vorhut eines Invasionskorps von Marsmenschen beobachtet.
Am Tag darauf sah Furness das Ei aus dem Weltall zum letzten Male. Er aß in Ruhe sein Frühstück, als Welsh ihn abholte. »Ziehen Sie sich rasch an, Mr. Furness«, sagte der Inspektor. »Draußen beim Krater hat sich hohes Getier eingefunden. Die wollen gern hören, was Sie gesehen haben.« »Darf ich noch meinen Toast aufessen?« fragte Furness. Und seine Mutter wollte wissen, ob es wohl Krieg geben würde. Jimmy fahre zur See, und… »Ich weiß wirklich nicht, was es zu bedeuten hat, Mrs. Furness«, sagte der Inspektor. »Eines kann ich Ihnen aber mit Gewißheit sagen: diese Rakete oder was immer es auch sein mag, stammt nicht aus Rußland oder Amerika. Und eine von uns ist es auch nicht. Bitte, beeilen Sie sich, Mr. Furness.« »Ich komme ja schon«, sagte Furness und wischte sich mit der Serviette die Marmelade vom Mund. Dem Inspektor fiel es offensichtlich sehr schwer, ihm nicht hinauf in sein Zimmer zu folgen. Oben angekommen konnte Furness seine Aufregung nicht mehr unterdrücken, die er in Gegenwart des Inspektors nicht hatte zeigen wollen, riß sich beinah Morgenrock und Pyjama vom Körper und zog sich an; hellgraue Flanellhosen und einen Pullover. Als er die Treppe hinunterging, hörte er, wie Welsh immer noch versuchte, seiner Mutter auszureden, daß der Ausbruch eines Krieges unmittelbar bevorstand. Die beiden Männer verließen das Haus und stiegen in den Wagen. Mit einer Geschwindigkeit, die jedem Zivilisten den Führerschein gekostet hätte, rasten sie zur Einschlagstelle hinaus. Furness staunte, als er die Mengen von Menschen und Fahrzeugen sah, die um den Krater herumstanden. Er entdeckte
die Uniformen aller drei Waffengattungen, dazwischen Offiziere von der Nato. Ein Posten kam ihnen entgegen, als der Wagen hielt. Der Inspektor bellte den Soldaten an, der darauf sagte: »Gehen Sie gleich hinüber, Sir. Den Professor finden sie im Bombenkrater.« Welsh und Furness bahnten sich einen Weg durch die Menge. Den Krater selbst hatte man freigehalten. Nur drei Zivilisten standen unten bei dem seltsamen Ei. Es glühte noch, sandte seine Blitze aus, wie Furness bemerkte, nur daß die Lichtintensität nachgelassen zu haben schien, vermutlich wegen der Helle des Tageslichts. Auch schien es, als sei das hohe Pfeifen schwächer geworden. Der Inspektor ging auf den ältesten der drei Männer zu. Er grüßte und sagte: »Ich bringe Ihnen Mr. Furness, Sir.« »Oh. Ja. Danke, Inspektor.« Furness blickte den Wissenschaftler an. Er erkannte auf den ersten Blick den weißen Bürstenhaarschnitt, die dünnen, zerfurchten Gesichtszüge. Dieses Gesicht hatte er schon oft in den Zeitungen gesehen. »Äh, Mr. Furness… Sie haben dieses… äh… Ding landen sehen, wie?« »Ja, Sir.« »Aus welcher Richtung ist es gekommen?« »Aus Osten, Sir. Ich beobachtete gerade den Jupiter, und als ich es sah, befand es sich wenige Bogensekunden unter dem Planeten.« »Ah. Sind Sie Amateurastronom?« »Nein Sir. Navigator bei der Handelsmarine.« »Aha. Nun – « »Professor!« brüllte plötzlich einer. »Hinlegen. Es rührt sich!« Furness lag schon auf dem Bauch, da hörte er ein scharfes Knacken. Vorsichtig hob er den Kopf, blickte hin zu dem Ei. Es war in vier gleichmäßige Teile auseinandergefallen. Noch hing weißer Rauch über dem Krater, der sich jedoch
rasch auflöste. Furness stand auf und blickte in den jetzt offenen Behälter. Innen schimmerte es metallisch gelb, und er sah Bogen, die wie Papier aussahen. Einer der Wissenschaftler untersuchte bereits den seltsamen Schatz. Er wandte sich zu Furness um. Auf seiner Handfläche lagen einige goldene Scheiben. »Münzen«, sagte er. »Münzen. Sehen Sie sich das an!« Furness ergriff eines der Goldstücke und drehte es neugierig zwischen den Fingern. Auf der einen Seite war ein behelmter Männerkopf, auf der anderen eine Galeere, eine Bireme. »Griechisch?« murmelte er. »Aber – « Der Professor schob ihn zur Seite. »Das Geld ist unwichtig, Burgess!« fuhr er seinen Assistenten an. »Das fliegt uns nicht davon. Die Papiere, Mann! Die Papiere!« »Was ist das nur für eine Sprache?« fragte Burgess, ohne sich an jemand bestimmten zu wenden. Er schwenkte einen der Bogen. »Erst hielt ich es für russisch, aber das ist es nicht.« »Meine Herren!« Furness und die drei Wissenschaftler drehten sich um. Der Mann, der eben herangetreten war, schien jemand von Bedeutung zu sein. Sein schwarzer Anzug und der schwarze Homburg wirkten an ihm wie eine Uniform, und auf seiner Aktentasche prangte das königliche Wappen. »Meine Herren«, sagte er noch einmal. »Ich muß darauf bestehen, daß diese… diese Beweisstücke sofort nach Whitehall gebracht werden.« Er blickte Furness an. »Ich muß weiter darauf bestehen, daß alle nichtautorisierten Personen das Gelände augenblicklich verlassen.« »Inspektor!« »Ja, Sir?« »Sorgen Sie bitte dafür.«
»Das betrifft Sie, Mr. Furness«, sagte der Inspektor in entschuldigendem Ton. »Kommen Sie, ich veranlasse, daß man Sie nach Hause bringt.« Während seiner restlichen Urlaubstage kaufte sich Furness jede Zeitung, die er auftreiben konnte, um etwas mehr, um überhaupt etwas über den geheimnisvollen Körper zu erfahren. Fast jeden Abend traf er Welsh im Rose and Crown, um den Inspektor auszuhorchen, was man denn erfahren habe. Aber der Inspektor wußte genau so wenig wie er, konnte nur berichten, daß man die Sache den Physikern und Sprachwissenschaftlern übergeben hatte. Furness hütete sich zu erwähnen, daß er versehentlich eine der Münzen in die Tasche gesteckt hatte, als der Gentleman von der Regierung so unversehens im Krater aufgetaucht war. Er trug sie als Talisman immer bei sich.
Der Archäologe stand auf dem Bootsdeck neben der Ladeluke 3 und sah den Dritten Offizier an den Rand der Kommandobrücke gehen. Was der Mann in der Hand hatte, ließ sich eindeutig als Ginflasche erkennen. Der Dritte schleuderte die Flasche auf das Meer hinaus, sah zu, wie sie ein gutes Stück von der Bordwand entfernt ins Wasser klatschte und davontrieb. Dann kehrte er ins Ruderhaus zurück. »Ich muß sagen«, wandte sich der Archäologe an den Ersten Offizier, an dessen Tisch er zu essen pflegte, »Ihre Offiziere nehmen sich doch allerlei Freiheiten heraus – « »Wie meinen Sie das?« fragte der Erste Offizier. »Ich meine, daß sie trinken, während sie auf der Brücke sind. Vorhin beobachtete ich, wie der Dritte die leeren Flaschen über Bord warf.«
»Eine leere Flasche war das schon, das ist richtig«, schaltete sich der Maat ein. »Aber die haben wir nicht auf der Brücke geleert. Sie gehörte mir, um genau zu sein, und es steckte eine Mitteilung drin.« »Habe gar nicht gewußt, daß das zwanzigste Jahrhundert noch so romantisch ist. Korsaren? Die Karte eines vergrabenen Seeräuberschatzes?« »Nein, Professor. Nur Datum, Zeit und Angabe der Position beim Aussetzen. Dient der Messung der Meeresströmungen. Die kartographischen Institute brauchen solche Angaben für ihre Seekarten – falls man die Flaschen jemals findet. Die können ja weiß Gott wohin abgetrieben werden…« »Ah, ich verstehe«, sagte der Wissenschaftler. »Da fällt mir eine ziemlich seltsame Geschichte ein, mit der ich vor einigen Jahren zu tun hatte. Es war in der Nähe von Wainham, wo der Luftwaffenstützpunkt ist. Es – « Er brach ab. »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf. War damals streng geheim.« »In der Nähe von Wainham«, sagte der Erste Offizier langsam. »Kann das die Sache mit dem Flugkörper aus dem – Weltall gewesen sein?« »Tut mir leid, ich darf nichts sagen.« »Kommen Sie doch mal mit in meine Kabine«, sagte der Erste Offizier. »Wir machen eine Ginflasche auf, und dann zeig ich Ihnen was.« Er ging die Leiter hinauf zu seiner Kabine. Nachdem sein Gast Platz genommen hatte, öffnete er den Getränkeschrank und holte Gläser und Flaschen heraus und schenkte ein. Er ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und nahm einen kleinen, metallisch schimmernden Gegenstand heraus. Er reichte ihn den Archäologen. »Hat man Ihnen eine von diesen da gezeigt?« fragte er. Der Wissenschaftler betrachtete die Münze mit dem Bildnis des behelmten Mannes auf der einen und der Galeere auf der
anderen Seite. »Woher haben Sie das? Das kann doch kein Schwindel gewesen sein. Ganz bestimmt nicht…« »Ich habe gesehen, wie der Körper gelandet ist. Dann war ich mit im Krater. Sir Humphrey Williams hatte mich hinbestellt, weil er von mir wissen wollte, aus welcher Richtung das Ding gekommen ist. In diesem Augenblick brach es auseinander. Einer seiner Assistenten reichte mir diese Münze. Und dann kam einer vom Ministerium und schickte mich weg. Ich habe nie erfahren, was bei der Sache herausgekommen ist.« »Die auch nicht«, sagte der Wissenschaftler und lachte leise. »Bis sie jemand zuzogen, der sich mehr mit der Vergangenheit als mit der Zukunft beschäftigte. Oh… leicht war’s nicht. Ich mußte vom verhältnismäßig modernen Griechisch Homers weit in die Geschichte zurückgehen. Natürlich hatten auch Grimms Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeit des Lautwandels etwas damit zu tun – aber davon werden sie nichts wissen. Ich mußte berücksichtigen, daß Zeitabschnitte absoluter Barbarei dazwischenlagen, in denen nur eine Handvoll des Schreibens kundiger Priester die Geschichte überlieferten.« Er hielt die Handfläche hoch, auf der die Goldmünze lag, und zeigte mit seinem runzeligen Zeigefinger auf die Schrift, die um den Rand herumlief. »Wissen Sie, was das heißt? Ich übersetze es Ihnen. Republik Atlantis Dreizehnhundertundvierzehn – « »Und was stand auf den Papieren?« »Sie haben es mir vorhin selbst gesagt, Mr. Furness.« »Ich soll Ihnen das gesagt haben?« »Ja. Datum, Zeit und Angabe der Position – und das Versprechen einer Belohnung, falls man die Unterlagen ohne Verzögerung zurück nach Port Anachreon schickte. Und dann noch eine Menge über Sonnenenergieströmungen und so
weiter. Ich kann Ihnen sagen, die Physiker führten sich auf wie die Verrückten…« »Aber das Schiff«, sagte Furness. »Das Schiff, von dem diese Nachricht stammte…« »Lassen Sie mich nachdenken… ah ja… Atlanta… unterwegs von der Erde nach Prokyon IV – « Furness füllte die Gläser nach. »Ginflaschen sind billiger«, meinte er. »Und die brauchen auch nicht so lange, bis sie jemand findet.«
Originaltitel: DRIFT. Copyright © 1957 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juni 1957.
Übersetzt von Walter Spiegl.
H. Beam Piper SKLAVEN DER ZEIT
Kiro Soran, Captain der Wache, stand im Schatten des Verandadaches, den weißen Umhang über die Schulter geworfen, damit man den violetten Saum seiner Tunika sah. Gedankenverloren strich er mit der Handfläche über die Griffschalen seines Revolvers, während er die vier Männer am Tisch beobachtete. »Und zehn mal zehn sind hundert«, murmelte einer der mit blauen Blusen bekleideten Schreiber und stellte eine Rolle Goldmünzen zu den anderen auf den Tisch. »Neunzehnhundert«, sagte sein Gegenüber, ein Mann in einem schmutzigen, gestreiften Burnus, nahm mit spitzen Fingern einen Stein aus der Truhe, die vor ihm stand, und warf ihn über die Schulter. Er deutete auf den Stein, der noch in der Truhe lag. Es war der letzte. »Noch einmal hundert«, befahl er. Der eine Schreiber zog einen Querstrich auf seiner Tafel. Der andere stapelte Münzen auf – zehn und zehn und noch einmal zehn. Dosu Golan, der neue Plantagenverwalter, schlug ungeduldig mit der Reitpeitsche gegen seine blankgeputzten Stiefelschäfte. »Das macht mich nervös«, sagte er in einer ganz anderen, fremden Sprache. »Ich weiß, daß die Sklavenwirtschart in diesem Sektor eine Selbstverständlichkeit ist und wir uns den örtlichen Gepflogenheiten anpassen müssen. Aber mir wird jedesmal übel, wenn ich mit diesen Schweinen um den Preis eines Menschenlebens feilschen muß. Auf dem Zarkantha-Sektor war der Mensch wenigstens frei. Er verkaufte uns nur seine Arbeitskraft.«
»Ja, umherstreifende Tagelöhner«, erwiderte der Captain der Wache in der gleichen Sprache. »Ich will mal die menschlichen Erwägungen ganz beiseite lassen. Der Aufwand für eine Obstplantage könnte bestimmt geringer sein, wenn es keine Sklaverei gäbe. Sie brauchen die Leute ja nur im Frühjahr und zur Ernte. Sklaven müssen Sie nicht nur bezahlen, sondern das ganze Jahr durchfüttern, unterbringen, kleiden, verarzten…« »Zwanzighundert Obus«, unterbrach der eine Schreiber, das Geld zählend. »Das ist die volle Summe, nicht wahr, Coru-hinIrigod?« »Das ist die volle Summe«, bestätigte der Sklavenhändler. Der eine Schreiber schob die übriggebliebenen Münzen zusammen, der andere trug sie zu einer mit Eisenbändern beschlagenen Kiste, warf sie hinein und ließ das Vorhängeschloß einschnappen. Zwei Wächter, die bisher an der Wand gelehnt hatten, richteten sich auf, hängten die Gewehre über die Schulter und trugen die Kiste ins Haus. Der Sklavenhändler und sein Begleiter standen auf und rafften das Geld in ihre Ledertasche. Coru-hin-Irigod verbeugte sich vor dem Plantagenverwalter und dem Captain der Wache. »Die Sklaven gehören jetzt Euch, edle Herren«, sagte er. Weitere Männer kamen jetzt über den Hof: sechs in gestreiften Burnussen und mit umgehängten Karabinern, zwei Wächter in blauen Blusen und roten Kappen, die das Bajonett auf die Gewehre gesteckt hatten. Sie begleiteten einen Mann im weißen Umhang. Die Gruppe teilte sich vor der Veranda – die sechs Sklaventreiber gingen zu der Stelle weiter, wo ihre Pferde angebunden waren. Der Mann in Weiß und seine zwei Wächter stiegen die Stufen zum Haus hinauf. »Hoffentlich beleidige ich die edlen Herren nicht«, sagte Coru-hin-Irigod, »wenn wir um Erlaubnis bitten, uns zu verabschieden. Ich und meine Leute haben einen scharfen Ritt
vor uns, falls wir Careba noch vor Eintritt der Dunkelheit erreichen wollen. Der Herr, der große Gott, der gütige Gott Safar wache über Euch, bis wir uns wiedersehen.« Urado Alatana, der Aufseher, betrat die Veranda, als die beiden Sklavenhändler die Treppe hinuntergingen. »Hast du dir die Leute gut angesehen, Radd?« fragte ihn der Captain der Wache. »Meinst du, ich bin so verrückt und lasse diese Banditen mit zweitausend Obus abziehen – vierzigtausend ParaZeitverrechnungseinheiten – , ohne mich zu überzeugen, was wir für unser gutes Geld bekommen? Es ist gutes Material – sauber, kräftig, offensichtlich gesund. Betragen sich ordentlich. Ich habe alles getan, was man in diesem Fall macht, während man sie von ihren Ketten befreite. Nur in ihre Einzelteile habe ich sie nicht zerlegt. Möchte nur gern wissen, wo dieser Sklavenhändler Coru-hin-Dideldumm oder wie er heißt die Leute eingekauft hat. Sie stammen nicht von hier. Viel dunkler. Sie unterhalten sich auch in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Manche von ihnen tragen nur einen Lendenschurz und sonderbar geformte Sandalen. Einige sind ausgepeitscht worden. Man sieht die Striemen noch. Vielleicht aufsässige Leute, mit denen wir Schwierigkeiten bekommen werden. Pah! Wenn du mich fragst, diese Caleras haben sie nur ausgepeitscht, weil ihnen das Spaß macht. Ekelhafte Kerle. Sadistische Bestien.« »Die armen Teufel!« sagte Dosu Golan. Der Captain von der Wache drehte sich ihm zu. »Kommst du mit und schaust dir die Sklaven an, Dos?« fragte er. »Geh schon voraus, Kiro. Ich komme später nach.« »Kannst du dich immer noch nicht aufraffen, dem lebenden Inventar deiner Firma ins Auge zu sehen?« fragte der Captain mit sanftem Vorwurf. »Wenn du dich nicht gleich daran gewöhnst, tust du es nie.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Dosu Golan, der Coruhin-Irigod nachblickte, wie er mit seinen Begleitern vom Hof trabte und auf der Straße dem Pferd die Sporen gab. Er klemmte die Reitgerte unter den Arm. »Also gehen wir…« Der Aufseher verschwand im Haus, während der Captain und der Verwalter die Verandastufen hinuntergingen und über den Hof schritten. Ein großer Wagen mit Orangen rumpelte vorüber. Er wurde von vier Pferden gezogen und von einem Sklaven gelenkt, der einen blauen Kittel und einen Strohhut trug. Blauer Rauch kräuselte sich aus den Kanonenöfen in der offenen Küche; und ein paar Sklaven hackten daneben Feuerholz. Dann kamen sie zum Palisadenpferch aus zugespitzten Holzstämmen. Ein Sergeant der Wache salutierte. Kiro Soran erwiderte den Gruß. Der Mann trug eine blaue Jacke mit roten Litzen. Er war mit einem Revolver bewaffnet. Er riegelte das Tor auf und winkte seinen Leuten zu, sich mit ihren Gewehren so aufzustellen, daß sie in die Menge feuern konnten, falls die Sklaven sich auf ihre neuen Herren stürzen sollten. Kiro Sorans Hand schwebte über dem Revolvergriff, obwohl er spürte, daß ihnen von den Neuen keine Gefahr drohte. Es waren hundert Männer und Frauen, die unter den aufgespannten Leinenplanen kauerten oder sich vor dem Wasserfaß anstellten. Verstohlen musterten sie die beiden Männer, die auf sie zukamen. Wahrscheinlich erwarteten sie Hiebe oder Stockschläge. Als sie ausblieben, schienen die Sklaven aufzuatmen. Wie der Aufseher schon gesagt hatte, sahen die Neuen gesund und kräftig aus. Die meisten waren fast nackt. Kinder oder alte Leute befanden sich nicht unter ihnen. »Radd hat recht«, sagte der Captain zu dem neuen Verwalter. »Sie sind nicht von hier. Die Haut ist viel dunkler. Anderer Gesichtsschnitt. Herzförmig statt oval. Auch andere Nasen.
Die Augen sind braun statt schwarz. Ich habe solche Leute schon einmal gesehen. Das heißt…« Er stockte. Ein Verdacht keimte in ihm auf. Nein, das war fantastisch, unmöglich! Er ging näher an eine Gruppe von etwa einem Dutzend Sklaven heran, der Verwalter dicht hinter ihm. Zwei von ihnen hatte man rücksichtslos ausgepeitscht. Das konnte noch nicht lange her sein. Die Striemen sahen eigenartig aus – keine Schwellungen, sondern Blasen, als sei die Haut verbrannt. Er mußte sie zum Arzt schicken. Dann schnappte er ein paar Brocken der Unterhaltung auf. Sein Verdacht wurde zur Gewißheit. »Diese hier, die geschlagen worden sind, tragen Kleidung aus gutem Stoff und haben einen stolzen Gang. Sie sehen uns ernst und streng an; aber nicht tückisch oder grausam. Das sind die Herren ihres Volkes. Die anderen Sklaven sind nur Diener und Lakaien.« Der Captain packte den Verwalter am Ärmel und zog ihn beiseite. »Hast du verstanden, was sie gesagt haben?« fragte er erregt. Dosu Golan schüttelte den Kopf. »Das ist Kharanda – ein Dialekt, der von einem Volksstamm gesprochen wird, der im Tal des Ganges lebt. Im Indien des Kholghoor-Sektors auf der Vierten Ebene!« Dosu Golans Gesicht war einen Moment lang ohne Ausdruck. »Du meinst, sie stammen nicht von dieser Zeittangente?« sagte er erschrocken. »Ich habe zwei Jahre auf der Vierten Ebene im KholghoorSektor bei der Para-Zeit-Polizei gearbeitet, ehe ich diesen Job hier annahm«, erwiderte der Mann, der sich Kiro Soran nannte. »Und noch etwas. Diese Striemen stammen von einer elektrischen Peitsche. Das sind nicht die Spuren der Ochsenziemer, die von den Caleras benutzt werden.« Der Plantagenverwalter brauchte nur fünf Sekunden, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Folgerungen waren erschreckend. »Kiro – das gibt einen schrecklichen Skandal,
ein Erdbeben bis hinauf in die Zentrale auf unserer Zeittangente«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich tun soll…« »Aber ich weiß, was ich zu tun habe!« erwiderte der Captain und rief dem Mann am Tor in der Landessprache zu: »Sergeant! Laufen Sie zum Wachhaus und alarmieren Sie Sergeant Adarada! Er soll sich mit zwanzig seiner Leute auf die Pferde schwingen und die Caleras verfolgen, die uns die Sklaven verkauft haben. Sie sind auf der Straße zum Fluß geritten! Er soll sie alle wieder zurückholen – besonders ihren Anführer, Coru-hin-Irigod! Ich will ihn lebend haben, damit er meine Fragen beantworten kann. Anschließend benachrichtigen Sie noch den Herrn Aufseher, Urado Alatena. Er soll zu uns in den Sklavenpferch kommen. Dann kehren Sie auf Ihren Posten zurück!« »Jawohl, Captain!« Die Wachen waren alle Leute aus Yarana. Die konnten die Caleras nicht ausstehen. Der Sergeant salutierte schneidig, machte kehrt und lief davon…
»Als nächstes müssen wir diese Sklaven isolieren«, sagte Kiro Soran. »Du mußt so rasch wie möglich einen genauen Bericht an die Firma schicken. Ich werde sofort den Transfer zur Polizeizentrale machen und den Vorfall dem Sektoren-Chef melden. Dann…« »Augenblick mal, Kiro«, protestierte Dosu Golan. »Schließlich bin ich hier der Verwalter, wenn ich auch neu bin. Entscheidungen treffe ich…« Kiro Soran schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Dosu. Nicht in diesem Fall. Du kennst die Bedingungen, die deine Firma bei meiner Einstellung akzeptieren mußte. Ich bin gleichzeitig Repräsentant der Para-Zeit-Polizei. Ich melde mich zum aktiven Dienst zurück, sobald ich in der Zentrale bin. Du bist dir ja über die Lage im klaren: wir haben hier hundert Männer
und Frauen, die von einer Zeittangente zur anderen befördert wurden. Die Welt, von der diese Leute stammen, existiert überhaupt nicht in diesem Raum-Zeit-Kontinuum! Es gibt nur einen Weg, auf dem diese Leute hierhergekommen sein können – auf dem gleichen Weg wie wir! In einem GhaldronHesthorschen Para-Zeit-Transferfeld! Du kannst die Sache also drehen und wenden wie du willst – es läuft immer nur auf das eine hinaus: das ist ein Fall für die Para-Zeit-Polizei. Deswegen kannst du auch gleich in deinem Bericht an die Firma hineinschreiben, daß ich in den aktiven Polizeidienst zurückgekehrt bin. Die Gehaltszahlungen an mich werden ab sofort eingestellt. Und bis jemand, der einen höheren Rang hat als ich, hierhergeschickt wird, untersteht ab sofort alles meiner Befehlsgewalt. Para-Zeit-Transfergesetz Artikel 17, Paragraph 238.« Der Plantagenverwalter nickte. Kiro Soran wußte, was der andere jetzt empfand. Er legte dem jüngeren Mann die Hand sanft auf die Schulter. »Du verstehst doch – es geht leider nicht anders, Dosu. So lauten nun mal die Vorschriften.« »Ich weiß es, Kiro. Du kannst dich auf mich verlassen.« Er betrachtete die dunkelhäutigen Sklaven. Abscheu und Entsetzen spiegelten sich auf seinem Gesicht. »Wenn man sich überlegt, daß Leute von uns zu so etwas fähig sind! Ich hoffe, du erwischst diese Teufel! Verläßt du unsere Zeittangente gleich?« »In ein paar Minuten. Während meiner Abwesenheit soll sich der Doktor mal die Striemen genauer ansehen. Die Wunden können leicht eitern. Gut, daß der Arzt zu unseren Leuten gehört.« »Ja, selbstverständlich. Ich werde diese Sklaven von den anderen isolieren lassen. Und wenn Adarada Coru-hin-Irigod zurückbringt, lasse ich die Sklavenhändler einsperren, bis du wiederkommst. Ich nehme an, du willst die ganze Bande
narkohypnotisieren und verhören.« Im gleichen Moment betrat der Aufseher der Sklaven, in dieser Welt als Urado Alatena bekannt, den Sklavenpferch. »Was ist los, Kiro?« fragte er. Der Para-Zeit-Mann berichtete, was er festgestellt hatte. Der Aufseher stieß einen leisen Pfiff aus und betrachtete die Sklaven. »Ich wußte ja, daß da etwas nicht stimmte«, sagte er. »Dosu – das ist wirklich keine angenehme Aufgabe für dich! Erst zwei Tage Plantagenverwalter und schon passiert so eine Schweinerei!« »Er kann nichts dafür«, sagte Kiro. »Auf mich wird sich der Zorn der Firma entladen. Aber immer noch besser, es trifft mich als den guten alten Tortha Karf, unseren obersten Chef. Gut. Haltet die Ohren steif, bis ich zurückkomme!« Er wandte sich ab, drehte sich aber sogleich wieder um. »Noch etwas: wir müssen den Eingeborenen eine Erklärung geben. Wartet mal… Ja – ihr erzählt den Wachen, daß diese Sklaven vom asiatischen Festland stammen und zu einem Volk gehören, das mit dem unseren freundschaftlich verbunden ist. Sorgt dafür, daß ein geschwätziger Sklave alles mithört. Sagt, daß diese Sklaven von Piraten entführt worden sind, mit denen wir in bitterer Feindschaft leben. Ich glaube, diese Erklärung wird alle befriedigen.« Auf dem Weg zum Verwaltungshaus sah er eine neugierige Ansammlung von eingeborenen Sklaven, die hinüber zu den Palisaden starrten. Die Wachen hatten die Gewehre von der Schulter genommen und die Bajonette aufgepflanzt. Niemand hatte natürlich eine Ahnung, was sich zugetragen hatte. Doch sie schienen alle zu wissen – vielleicht durch eine Art Intuition – daß etwas sehr Schlimmes passiert war. Was würden die Eingeborenen erst denken, wenn plötzlich neue Leute hier eintrafen – Leute, die aus dem Nichts zu kommen schienen?
Verkan Vall wartete, bis sich die zierliche dunkeläugige Frau am runden Tisch aus der Drehschüssel bedient hatte. Dann kam das Kabarett zu ihm. Er legte kalten Wildschweinbraten auf seinen Teller und fragte seinen Nachbarn: »Möchtest du auch was davon haben, Dalla?« Er nahm noch ein Stück Schinken und goß Weinsoße darüber. »Nein. Gib mir lieber etwas von dem Hasen«, sagte das schwarzhaarige Mädchen neben ihm. »Dazu einen Löffel Artischockengemüse.« Sie seufzte. »Von Schweinefleisch habe ich schon jetzt genug. Wir werden es einen ganzen Monat täglich vorgesetzt bekommen.« »Ich dachte, die Eingeborenen im Dwarma-Sektor leben vegetarisch«, sagte Jandar Jard, der Bühnenbildner. »Trifft das nicht für alle Völker zu, die Blutvergießen verabscheuen?« »Die Leute in Dwarma kennen in dieser Beziehung kein Tabu. Sie dürfen Tiere schlachten«, klärte ihn Bronnath Zara, die dunkeläugige Frau, auf. »Sie sind nur sehr friedliebend. Eine Rasse, die den Krieg verabscheut. Als ich den DwarmaSektor besuchte, gab es einen schrecklichen Skandal in dem Dorf, wo ich wohnte. Ein Bauer und ein Schlächter prügelten sich, weil sie sich über den Preis für ein Schwein nicht einigen konnten. Da hätten sie die Leute mal sehen sollen! Das Ereignis liegt zwei Jahre zurück, aber die Einheimischen entrüsten sich heute noch über diese Prügelei.« »Ich dachte, die Leute dort wissen gar nicht, was Geld ist«, sagte Dalla, Verkan Valls Frau. »Es gibt dort auch kein Geld«, bestätigte Zara. »Man kennt nur den Tauschhandel. Was werdet ihr beide, Vall und du, denn tun, um euren Lebensunterhalt zu bestreiten? Ich meine, in den Augen der Eingeborenen?« »Oh, ich habe meine Mandoline dabei. Ich habe alle traditionellen Dwarma-Lieder durch hypnomechanisches Training gelernt«, erwiderte Dalla. »Und die Trans-Zeit-
Reiseagentur rüstet Vall mit einem Werkzeugkasten aus. Er wird Geräte reparieren und Zimmermannsarbeiten verrichten.« »Eine gute Wahl. Da seid ihr überall willkommen«, sagte Zara, die Bildhauerin. »Eine Sängerin nimmt man überall umsonst auf. Und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie unpraktisch diese Leute dort in handwerklichen Dingen sind! Sie verstehen sich nur aufs Blumenstecken und Sticken. Reist ihr von Dorf zu Dorf?« »Ja. Wir sind ein Liebespaar, das sein Heimatdorf verlassen hat, um Valls frühere Frau nicht durch unsere Gegenwart unglücklich zu machen. So lautet die offizielle Version.« »Großartig!« rief Zara begeistert. »Das entspricht hundertprozentig dem romantischen dwarmanischen Nationalcharakter. Sonst reisen nämlich die Dwarmaner nicht gern. Sie haben ein Sprichwort: ›Glücklich die Bäume, weil sie an einem festen Ort wurzeln. Unglücklich die Winde, sie müssen immer wandern.‹ Aber eure Geschichte ist natürlich ein guter Grund, es den Winden gleichzutun.« Thalvan Dras, der Gastgeber, lachte. Er war ein kräftiger Mann mit schwarzem Bart. Er trug einen langen roten Überwurf mit goldener Schärpe. »Vall flickt Kessel und Dalla singt dazu auf der Mandoline – ich kann mir das Bild plastisch vorstellen. Na ja, wenigstens bekommt ihr es dort nicht mit der Polizei zu tun. Ich glaube, so etwas gibt es im Dwarma-Sektor gar nicht.« »Oh, nein!« sagte Bronnath Zara. »Sie haben gar keinen Begriff dafür in ihrer Sprache. Wenn jemand etwas falsch macht oder etwas Übles tut, kommen alle Nachbarn und reden auf ihn ein. Das tun sie so lange, bis der Übeltäter sich schämt. Dann verzeihen sie ihm alle, und anschließend wird ein Fest gefeiert. Es ist ein bezauberndes Volk – freundlich und sanft. Aber nach einem Monat habt ihr das Land gründlich satt. Sie haben absolut keinen Respekt vor dem Bedürfnis, allein zu
sein. Tatsächlich halten sie es für anstößig, wenn ein Mensch sich absondert.« Einer von Thalvan Dras’ Dienern kam herein, hüstelte verlegen und sagte: »Ein Visifonruf für Seine Durchlaucht, den Mavrad von Nerros.« Vall kaute in aller Ruhe an seiner Wildschweinschnitte weiter. Der Diener wiederholte seine Ankündigung etwas lauter. »Du bist gemeint!« rief Thalvan Dras über den Tisch. Verkan Vall sah ihn verblüfft an; dann grinste er. Es war schon so lange her. Er hatte ganz vergessen, daß er zum Hochadel gehörte und einen Titel besaß. »Vall scheint sich nicht zu erinnern, daß er von edlem Geblüt ist«, meinte ein Mädchen lachend, die ihm schräg gegenüber saß. Es trug ein durchscheinendes Gewand und sonst nichts auf der Haut. »Das würde dem Mavrad von Mnirna und Thalvabar bestimmt nicht passieren«, lachte Jandar Jard. Thalvan Dras warf ihm einen giftigen Blick zu. Dann dozierte er – mehr zur Belehrung seines adeligen Gastes Verkan Vall als zur Zurechtweisung des spöttischen Jandar Jard –, welche Bedeutung den Adelstiteln auch heute noch zukäme. Sie brächten Verantwortung und Prestige mit sich, was ein Adeliger nie vergessen dürfe. Jard hatte einen Fehler gemacht, dachte Vall, während er dem Diener aus dem Saal folgte. Jard hatte die Kulissen für ein Musikdrama entworfen, das in zehn Tagen hier in Dhergabar Premiere haben sollte. Thalvan Dras war nachtragend. Ein Wort von dem Mavrad von Mnirna und Thalvabar genügte, und ein Dutzend Kritiker würden Jandars Bühnenbilder buchstäblich in der Luft zerreißen. Andererseits konnte es sich auch für Jandar bezahlt machen, wenn er Thalvan Dras am Bart zupfte. Denn auf jeden Kritiker, der sich bei dem reichen Adeligen einschmeicheln wollte, kamen mindestens zwei, die den Mavrad nicht ausstehen konnten. Sie würden Jandar Jard nur zu gern
unterstützen, und in der Schlacht der Rezensenten bekämen dann die Kulissen mehr Publicity als das Stück selbst.
In der Visifonkabine wartete ein Mädchen in einer grünen Bluse und den Abzeichen der Para-Zeit-Polizei auf ihn. Sie blickte ihm vom Bildschirm entgegen, dessen Hintergrund grün war, mit schwarzen und goldenen Querstreifen. »Hallo, Eldra«, begrüßte er das Mädchen. »Hallo, Vall! Tut mir leid, daß ich dich stören muß; aber der Chef will dich sprechen. Moment, bitte.« Das Bild zerfiel in kaleidoskopartige Farbblitze und bekam dann wieder Umrisse. Jetzt blickte ihn ein Mann an. Er war schon in den sogenannten besten Jahren, stand dicht vor seinem dreihundertsten Geburtstag. Sein eisengraues Haar begann sich zu lichten, und auch ein Doppelkinn zeichnete sich bereits deutlich ab. Dieser Mann hieß Tortha Karf und war Chef der Para-Zeit-Polizei – Verkan Valls unmittelbarer Vorgesetzter. »Hallo, Vall. Ich bin froh, daß ich dich endlich erreiche. Wann tretet ihr eure Urlaubsreise an – Dalla und du?« »Sobald das Bankett vorüber ist. Ich schätze, in einer Stunde. Wir nehmen eine Rakete bis nach Zarabar, machen den Transfer zum Passagier-Terminal 16 und von dort weiter in den Dwarma-Sektor.« »Nun, Vall – mir ist das wirklich unangenehm«, sagte Tortha Karf. »Aber ich muß dich bitten, auf dem Weg zum Raketenhafen noch einmal in die Zentrale zu kommen. Es ist etwas passiert – sehr unangenehme Geschichte – , und ich brauche deinen Rat.« »Hm – Chef – darf ich Sie daran erinnern, daß ich diesen Urlaub bereits viermal verschoben habe? Er ist seit vier Jahren fällig.«
»Ja, Vall, das weiß ich. Dalla und du – ihr müßt wirklich einmal Zeit füreinander haben. Aber ich möchte, daß du dir die Sache anhörst, ehe du aufbrichst.« »Unsere Rakete geht in zwei Stunden.« »Vielleicht dauert es ein bißchen länger. Falls ja, kannst du und Dalla ja zum Polizei-Terminal transferieren, dann mit der Rakete bis zur Zarabar-Koordinate reisen und von dort zum Passagier-Terminal 16 transferieren. Bring Dalla gleich in die Zentrale mit. Das spart uns Zeit.« »Dalla wird nicht sehr glücklich sein«, sagte Valla. »Nein, das fürchte ich auch.« Tortha Karf blickte sich besorgt um, als müsse er schon jetzt den Schaden schätzen, den die wütende Dalla in seinem Büro anrichten könnte. »Nun, versuch so rasch wie möglich hierherzukommen.« Thalvan Dras dozierte immer noch, als Vall in den Saal zurückkehrte. Diesmal ging es um Dinge, die ihm nicht behagten. »… es beunruhigt mich, daß so viele unserer Künstler ihre Motive – ja, sogar ihre Technik – aus außerzeitlichen Quellen beziehen. Ich verdamme die außerzeitliche Kunst keineswegs. Ihr alle wißt, wie eifrig ich Kunstwerke der Para-Zeit-Welt sammle –, aber unsere eigenen Künstler sollten doch wenigstens ihre künstlerischen Anliegen mit unseren eigenen Mitteln ausdrücken.« Vall beugte sich über seine Frau. »Wir müssen aufbrechen«, flüsterte er. »Aber unsere Rakete geht doch erst in zwei Stunden…« Thalvan Dras schwieg und sah verärgert zu ihnen hinüber. »Ich muß in die Zentrale, ehe wir fliegen. Wir gewinnen Zeit, wenn du mitkommst.« »Ach, Vall!« Sie blickte ihn enttäuscht an. »War das schon wieder Tortha Karf, der dich angerufen hat?« Sie stand auf. »Es tut mir schrecklich leid, Dras«, sagte Vall zum Gastgeber. »Tortha Karf hat angerufen. Es sind noch ein paar Dinge zu klären, ehe ich die Heimat-Zeittangente verlasse. Wenn du
unseren aufrichtigen Dank und unsere Bewunderung für das herrliche Bankett entgegennehmen…« »Keine Ursache, Vall. Brogoth, möchtest du…« Er lachte leise. »Ich bin so daran gewöhnt, Brogoth Zaln um mich zu haben, daß ich nie daran denke, er könnte auch mal Urlaub machen. Warte – einer meiner Diener wird sofort einen Wagen für dich bereitstellen.« »Mach dir keine Mühe. Wir nehmen ein Lufttaxi.« »Aber du kannst doch unmöglich mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fahren!« Der bärtige Adelige war schockiert. »In ein paar Minuten steht eines meiner Fahrzeuge für dich bereit!« »Tut mir leid, Dras. Die Sache ist sehr dringend. Wir nehmen ein Taxi auf dem Dach. Macht es gut, alle miteinander! Tut mir wirklich leid, daß wir so plötzlich aufbrechen müssen. Aber wir sehen uns gleich, wenn wir wieder zurückkommen. Das verspreche ich euch!«
Dalla blickte auf die grünen Zinnen und Mauern der Para-ZeitZentrale, die wie eine Festung über der Stadt aufragte. Sie kam sich vor wie eine Gefangene, die kurz nach dem Ausbruch erwischt wird. »Ich wußte es«, sagte sie, während die Mauern immer näher kamen. »Ich wußte, daß er wieder etwas finden würde. Er will uns unbedingt auseinanderbringen – so wie vor zwanzig Jahren.« Vall drückte seine Zigarette aus und sagte nichts. Es stimmte nicht, was sie sagte – und Dalla wußte, daß es nicht stimmte. »Wirklich, Vall. Er hat mich nie gemocht«, fuhr sie fort. »Ich glaube, er ist eifersüchtig auf mich. Du bist sein Nachfolger, wenn er in den Ruhestand geht, und er glaubt, ich übe nicht den richtigen Einfluß auf dich aus…« »So ein Blödsinn, Dalla! Der Chef hat dich immer gern gehabt«, widersprach Vall. »Meinst du, er hätte dich sonst auf
seine Farm eingeladen? Das hängt doch alles nur mit unserem Beruf zusammen. Da gibt es keinen Feierabend. Die Schwierigkeiten in der Para-Zeit nehmen kein Ende. Das mußt du doch verstehen…« Die Musik im Taxi verstummte. »Para-Zeit-Zentrale liegt jetzt unter uns«, verkündete eine angenehme weibliche Stimme. »Welche Landebrücke bitte?« Vall beugte sich vor und drückte auf die Knöpfe des Computers. »Danke«, sagte die weibliche Stimme. Das Gebäude unter ihnen schien sich dem Taxi entgegenzurecken, während es an Höhe verlor. Dann wurde das Anti-Schwerkraft-Feld abgeschaltet, die Kabinentür rollte auf, und das Taxi sagte: »Auf Wiedersehen! Hoffentlich beehren Sie uns bald wieder!« Sie verließen die Landebrücke, betraten den AntiSchwerkraft-Schacht und schwebten nach unten. Sie verließen den Schacht vor einem breiten Korridor und gingen bis zur Tür von Tortha Karfs Büro. Vall ließ Dalla den Vortritt. Tortha saß hinter einem halbkreisförmigen Tisch und diktierte. Als er die beiden sah, stellte er das Gerät ab. Er winkte ihnen zu, die brennende Zigarette in der Hand. »Setzt euch. Ich bin gleich so weit.« Er stellte das Gerät wieder an, diktierte etwas über Arbeitsmethodik – weniger auf die Roboter verlassen, mehr auf den eigenen Grips, wenn wichtige Nachrichten ausgewertet werden mußten. »Verteiler an alle Gebietsvertreter der Sektoren-Chefs«, beendete er das Diktat und wandte sich dann an seine Besucher. »Es tut mir wirklich leid, daß ich euch belästigen mußte«, sagte er. »Zigaretten?« Dalla schüttelte nur den Kopf und setzte sich bequem im Sessel zurück. Doch dann raffte sie sich wieder auf und saß kerzengerade. »Ich will euch den Urlaub nicht verpatzen, Vall«, sagte Tortha Karf. »Aber ich brauche deine Hilfe, ehe ihr die Heimat-Tangente verlaßt.«
»In anderthalb Stunden geht die Rakete nach Zarabar«, erinnerte Dalla den Chef ihres Mannes, wie knapp ihre Zeit bemessen war. »Macht euch deswegen keine Sorgen. Wenn ihr die Linienrakete verpaßt, könnt ihr eine Stunde später mit der Polizeirakete fliegen und seid doch noch eher in Zarabar«, sagte Tortha Karf. Dann wandte er sich an Vall. »Folgendes ist passiert«, begann er. »Wir haben einen unserer Agenten an den Para-Zeit-Nahrungsmittelkonzern als Captain der Wachmannschaft überstellt. Er arbeitet auf einer Obstplantage im Westen Nordamerikas im Esaron-Sektor der Dritten Ebene und inspizierte gerade eine Lieferung neuer Sklaven, als ihm die Sprache der Sklaven auffiel. Sie unterhielten sich auf – Kharanda.« Dalla begriff die Zusammenhänge noch vor ihrem Mann. Sie war zuerst stutzig, dann trotz ihrer Abneigung gegen Polizeiarbeit entsetzt. Tortha Karf erläuterte, wo und in welchem Zeitsektor diese Sprache gesprochen wurde. »Und ein Irrtum ist ausgeschlossen. Skordan Kiro beherrscht Kharanda und hat es zwei Jahre lang selbst gesprochen. Er meldete sich sofort zurück zum aktiven Dienst, ließ die Sklaven von den anderen Arbeitern isolieren, verhaftete die Sklavenhändler und machte den Transfer zum PolizeiTerminal, um den Vorfall zu melden. Der alte Vulthor Tharn setzte Kiro als Leiter der Plantage im Esaron-Sektor ein und unterstellte ihm eine Gruppe von Detektiven und Psychisten.« »Wann war das?« fragte Vall. »Gestern. Tag eins-fünf-neun. Gegen fünfzehn Uhr Ortszeit.« »Dreiundzwanzighundert Dhergabar-Zeit«, murmelte Vall. »Richtig. Ich hörte eben erst davon. Die Meldung kam heute morgen mit den allgemeinen Nachrichten. Die Spalte sah ganz harmlos aus. Kein Dringlichkeitsvermerk oder Kennsymbol für die Roboter. Zum Glück war ein Mann auf Draht. Er entdeckte
die Meldung und gab sofort Anweisung, uns eine Kopie des Originals zu schicken.« »Es ist lange her, daß wir so etwas aufgreifen mußten.« Vall betrachtete gedankenverloren die Glut seiner Zigarette. Dalla zündete sich eine Zigarette aus ihrer Packung an. Vall und Tortha Karf sprachen über technische Probleme, über Taktik und Methoden, den wahrscheinlichen Umfang der kriminellen Organisation und weshalb die Sklaven von Indien bis zur Westküste von Nordamerika verschleppt worden waren. »Im Esaron-Sektor finden Sklaven immer einen Käufer«, erklärte Vall. »Dort gibt es so viele unabhängige Staaten und Dialekte, daß Menschen von anderen Zeittangenten nicht weiter auffallen.« »Hinzu kommt die Invasion der Barbaren im KholghoorSektor. Sklaven sind dort sehr billig zu haben«, sagte Tortha Karf. Dalla wollte sich eigentlich aus dem Gespräch heraushalten. Doch ihre Neugierde war zu groß. Sie hatte anderthalb Jahre im Kholghoor-Sektor gelebt, um die angeblich psychischen Kräfte der eingeborenen Priester zu erforschen. Die Phänomene hatten sich als Schwindel entpuppt: die Prophezeiungen beruhten nicht auf Telepathie, sondern auf zweideutige Mutmaßungen, und die Wunder waren Taschenspielertricks, keine Psychokinese. »Was ist denn das für eine Invasion?« fragte sie. »Ein Nomadenvolk aus Zentralasien – die Croutha – drangen vor drei Monaten durch den Khyberpaß nach Süden vor, wendeten sich nach Osten und erreichten das Quellgebiet des Ganges. Vermutlich haben sie bereits den halben Weg bis zum Delta zurückgelegt. Ihr Anführer nennt sich Llamh Droogh der Rote. Eine Reihe unserer Para-Zeit-Handelsgesellschaften decken uns mit Anträgen ein, Feuerwaffen in den Kholghoor-
Sektor einführen zu dürfen, um ihre Niederlassungen am Ganges zu verteidigen.« Dalla nickte. Der Kholghoor-Sektor der Vierten Ebene gehörte zur Indus-Ganges-Irriwady-Gruppe – eine Zivilisation, die sich wahrscheinlich als Spätepoche auf dem indischen Subkontinent entwickelt hat, als die übrige Welt noch in der Barbarei der späten Steinzeit oder frühen Bronzezeit steckte. Die Kharandas waren Dalla auf Grund ihrer Forschungsarbeiten vertraut. Sie hatten eine vormechanische Zivilisation entwickelt mit hervorragenden handwerklichen Fähigkeiten, Schneidwerkzeugen und -waffen und Tieren als Energiegrundlage ihrer Wirtschaft. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was für ein Chaos dort herrschte: die Straßen verstopft mit Flüchtlingen; die in den Wäldern versteckten Transporter; die auf der Lauer liegenden Sklavenfänger… Aufpassen, Dalla! Dieser alte Schuft will dich doch nur ködern, indem er an deine Gefühle appelliert. »Wie soll ich Ihnen jetzt helfen, Chef?« fragte Vall. »Einmal möchte ich gern wissen, was sich daraus entwickeln könnte. Zweitens wünsche ich Aufklärung darüber, weshalb Vulthor Tharn sich so lange Zeit ließ, Skordran Kiros Meldung weiterzugeben…« »Ich kann die zweite Frage sofort beantworten«, erwiderte Vall. »Vulthor Tharn wird in ein paar Jahren pensioniert. Er hat nie einen Fehler gemacht und sich – im passiven Sinn – gut gehalten. Er möchte seine guten Zensuren nicht im letzten Augenblick verderben.« Tortha Karf nickte. »Das habe ich mir gleich gedacht. Ich mache dir einen Vorschlag, Vall. Könnt ihr beide von hier aus zum Polizei-Terminal transferieren und zum Novilan-Äquivalent Weiterreisen? Du verschaffst dir an Ort und Stelle einen Überblick über die Situation, gibst einen Bericht an mich durch und reist dann mit einer Rakete zum Zarabar-Äquivalent weiter. Von dort aus läuft alles wie
geplant. Du trittst deinen Urlaub im Dwarma-Sektor an und verlierst höchstens acht oder zehn Stunden…« »Vierundzwanzig Stunden wäre realistischer geschätzt, Chef«, unterbrach Vall seinen Vorgesetzten. »Ich muß im Esaron-Sektor zu der Plantage transferieren. Was meinst du dazu, Dalla? Bist du mit diesem Umweg einverstanden?« Sie zögerte einen Moment. Er wollte seinem Chef die Bitte nicht abschlagen und überließ ihr die Entscheidung. Das war nicht fair. Sie war wütend. »Ich weiß, es ist eine Zumutung, Dalla«, mischte sich Tortha Karf wieder ein. »Aber es ist sehr wichtig, daß wir einen zuverlässigen und schnellen Lagebericht erhalten. Wahrscheinlich steckt mehr dahinter, als uns lieb sein kann. Handelt es sich um eine Einzelaktion, können wir rasch damit fertig werden. Aber ich glaube das nicht. Alle Indizien weisen auf eine großangelegte Verbrecherorganisation hin. Massenentführungen von einer Zeittangente zur anderen ist eine große Gefahr. Das Geheimnis der Para-Zeit-Reise ist gefährdet. Du wirst einsehen, was das für uns bedeutet.« »Lassen wir einmal die moralischen Aspekte außer acht«, sagte Vall. »Die verstehen sich von selbst.« Sie nickte. Seit mehr als zwölftausend Jahren führte ihre Rasse ein parasitäres Dasein. Ihre, Valls und Tortha Karfs Vorfahren hatten damit begonnen, die unzähligen Welten auszubeuten, die als Alternativen auf den Zeittangenten der anderen Dimension existierten. Doch intelligente Parasiten gehen mit ihren Wirten vorsichtig um. Sie schädigen sie nicht ernsthaft und tarnen sich so gut, daß man sie nicht erkennt. »Wir könnten den Umweg machen, Vall«, sagte sie. Sie war auf sich selbst böse, weil sie nachgab. »Ich spreche Kharanda und bin mit der Mentalität dieser Rasse vertraut. Wenn du die Sklaven verhören willst, kann ich dir helfen. Außerdem bin ich als Narkohypnose-Spezialistin ausgebildet.«
»Das ist großartig, Dalla!« sagte Tortha Karf begeistert. »Warte. Ich werde den Polizei-Terminal verständigen, daß sie für euch eine Rakete bereitstellen.« »Ich brauche eine hypnomechanische Unterweisung in Kharanda«, sagte Vall. »Dalla, hast du Acalan gelernt?« Sie schüttelte den Kopf, und Vall sagte zu Tortha Karf: »Die Reise bis zum Novilan-Äquivalent dauert mit der Rakete ungefähr vier Stunden. Lassen Sie die hypnomechanischen Lerngeräte in die Rakete einbauen. Dalla und ich können unterwegs die Sprache lernen. Ich bin also sofort einsatzfähig, wenn wir landen.« »Eine gute Idee«, stimmte Tortha Karf zu. »Ich werde das veranlassen. Und jetzt…« Dalla staunte über sich selbst. Ihr Ärger verflog, sobald sie sich und Vall verpflichtet hatte. Sie war noch nie in einem Polizei-Terminal gewesen. Wer nicht zur Para-Zeit-Polizei gehörte, hatte keinen Zutritt. Und sie hatte sich schon immer gewünscht, den Beruf ihres Mannes einmal näher kennenzulernen und sogar aktiv daran teilzunehmen. Hätte sie sich geweigert, wäre eine nachhaltige Verstimmung eingetreten – ein Zerwürfnis, das ihnen den Urlaub gründlich verdorben hätte. Aber jetzt… Die große, kreisrunde Transporthalle war gedrängt voll. Seit zehntausend Jahren war das nicht anders. Jeden Tag, jede Minute herrschte hier Hochbetrieb. An einem runden Stand in der Mitte meldeten sich die Polizeibeamten ab oder an, wurden von den zylinderförmigen Robotern abgefertigt und unterhielten sich mit den Aufsehern. Einige trugen die reguläre grüne Uniform der Polizei; andere wieder – wie er selbst – waren in Zivil; doch die meisten trugen Kostüme aus den verschiedensten Bereichen der Para-Zeit-Epochen. Da sah man die spitzen Kappen, losen Überwürfe und breiten Goldschärpen des Khiftan Sektors auf der Zweiten Ebene;
Kettenhemden und Eisenhelme aus dem vorarischen Sektor der Vierten Ebene; die kurzen Waffenröcke und Tuniken aus dem alexandrinisch-römischen Sektor der Vierten Ebene; die Filzhüte, Lendenschurze und Nierendolche aus Zarkantha. Als Priester verkleidete Polizisten stolzierten in steifem Goldbrokat umher. Offiziere in bunten Uniformen unterhielten sich mit Landsknechten in Stulpenstiefeln und Samthosen. Pistolen, Schwerter, Bogen und Köcher, Speere und Hellebarden sah man neben Energiestrahlern und Waffen modernster Bauart. Die Fernschreiber ratterten, unzählige Stimmen redeten durcheinander. Dalla sah sich aufgeregt um. Für sie hatte der Urlaub bereits begonnen. Vall atmete auf. Eine Weile lang hatte er befürchtet, sie sei über die Entwicklung der Dinge unglücklich. Er führte sie durch die Menge auf den Stand in der Mitte zu und sprach mit einem der Aufseher. Der Mann deutete auf eine Verbindungstür. Die erste Etappe sollten sie mit einem programmierten Transporter zurücklegen, der nur zwischen der Heimzeittangente und dem Polizei-Terminal verkehrte, von wo aus die meisten Para-Zeit-Polizisten zu ihren Bestimmungsorten in Marsch gesetzt wurden. Er schob Dalla durch die Tür, verriegelte sie hinter sich und überzeugte sich, daß seine Dienstwaffe geladen war, ehe er auf den Startknopf drückte. Theoretisch konnte das Ghaldron-Hesthor-Para-ZeitTranspositionsfeld durch keinen materiellen Gegenstand außerhalb des Feldes beeinflußt werden. In der Praxis jedoch kam es manchmal vor, daß Gegenstände in den Transporter eindrangen. Manche dieser Eindringlinge waren lebendig und gefährlich. Erst vor ein paar Monaten hatten vier Polizisten, die von einem Einsatz zurückkehrten, unfreiwillig ein Souvenir von der Reise mitgebracht – einen toten Löwen. Der Sigmastrahler, den er bei sich trug, war in diesem Fall die einzig mögliche Waffe. Sie wirkte nicht auf die Struktur
anorganischer Materie und konnte deshalb innerhalb eines unter Spannung stehenden Transporters verwendet werden, ohne das Maschennetz zu zerstören. Aber die Strahlen wirkten sofort tödlich auf jedes Lebewesen mit einem zentralen Nervensystem. Deswegen war der Strahler auch eine vorzügliche Waffe – selbst auf einer hochzivilisierten Zeittangente. Denn es konnte keine eindeutige Todesursache nachgewiesen werden, wenn man die Autopsie auch noch so gründlich durchführte. »Wie sieht es im Esaron Sektor aus?« fragte Dalla, während die Transportkuppel um sie herum in kaleidoskopartigem Licht erstrahlte und dann verschwand. »Dritte Ebene. Wahrscheinlichkeit eines gescheiterten Versuchs, vor hunderttausend Jahren diesen Planeten vom Mars aus zu kolonisieren«, antwortete er. »Ein paar Überlebende – eine Raumschiffbesatzung wahrscheinlich – blieb sich selbst überlassen, während die Mutterzivilisation auf dem Mars ausstarb. Die Überlebenden verloren jede Verbindung mit ihrer ursprünglichen Kultur; konnten sich schließlich gar nicht mehr an ihre außerirdische Abstammung erinnern. Vor ungefähr zweitausend Jahren entwickelten sie eine ziemlich hochstehende elektrochemische Zivilisation, entdeckten die Atomenergie und bauten reaktorbetriebene Raumschiffe. Aber sie hatten sich so sehr auf anorganische Chemie konzentriert und dabei die Biochemie sträflich vernachlässigt, daß sie nicht einmal die bakteriologische Ursache von Krankheiten kannten, als sie mit ihrem ersten Raumschiff zur Venus starteten.« »Was passierte, als sie mit dem Erreger des grünen Magenfiebers in Berührung kamen?« fragte Dalla. »Das kannst du dir ja denken. Das erste – und einzige – Raumschiff brachte das Fieber zurück auf die Erde. Niemand wußte natürlich, wo es herkam, und ehe die Epidemie abklang,
hatte sie fast die gesamte Bevölkerung ausgerottet. Da die Überlebenden keinen Begriff von Krankheitserregern hatten, schoben sie die Schuld natürlich auf die Götter. Wie immer suchte man die Ursache bei übernatürlichen Kräften, weil man sich die Zusammenhänge nicht erklären konnte. Daraus entstand ein fanatischer Kult, der sich gegen jede wissenschaftliche Betätigung richtete. Raumfahrt kam unter diesen Umständen natürlich nicht mehr in Frage. Das gleiche galt für die elektrische und atomare Energie. Nur die Dampfkraft und das Schwarzpulver fanden Gnade in den Augen der Götter. Und bis heute ist diese Zivilisation über ihre selbsterzogene Schranke nicht mehr hinausgekommen. Die verhältnismäßig zivilisierten Regionen befinden sich an der Ostküste von Asien und der Westküste Nordamerikas. Die beherrschende Rasse ist in gewisser Weise kaukasisch. Die politischen Organisationen beschränken sich auf Stammesverbände – eine Unzahl von Zwergkönigreichen, Republiken, Fürstentümer, Stadtstaaten, Lehnshoheiten und Raubnester. Die Hauptbeschäftigung ist das Fehdeunwesen – Kämpfe zwischen Gemeinden und Kleinstaaten; Piraterie, Räuberbanden, Sklavenhandel, Viehdiebstähle stehen in üppiger Blüte. Es gibt dort ein paar Dampfeisenbahnen und Dampfboote auf den Flüssen. Wir verkaufen in diesem Sektor Kohle und Fabrikerzeugnisse, meistens im Austausch gegen landwirtschaftliche Produkte. Der Para-ZeitNahrungsmittelkonzern besitzt die Handelslizenz für diesen Sektor.« Sie hatten die zivilisierte Zweite und Dritte Ebene durchstoßen und verließen gerade die Vierte. Die Fünfte Ebene existierte in einer Welt ohne menschliche Bevölkerung. Ab und zu glitten Gebäude, Raketen- und Raumschiffhäfen an ihnen vorüber, als der Transporter sie durch schmale Gürtel der Para-Zeit hindurchführte, wo ihre eigene Zivilisation
Außenposten errichtet hatte – Handelsniederlassung Fünfte Ebene; Passagierhafen Fünfte Ebene; Industriesektor; Versorgungssektor. Endlich kam die Maschendrahtkuppel wieder im wechselnden Farbenspiel zum Vorschein und materialisierte sich. Der Saal glich demjenigen, den sie auf der Heimzeittangente verlassen hatten. Selbst die Menge in den buntgemischten Kostümen war da. Der Raketenhafen lag nur zehn Minuten vom TransporterTerminal entfernt, wenn man das Lufttaxi benutzte. Als sie in die Stratorakete mit den kurzen Stummelflügeln einstiegen, sah Vall, daß ihre zwei Sitze in viereckigen Metallkabinen standen. »Wir haben alles für Sie vorbereitet«, sagte der Pilot. »Dr. Hadron – Sie sitzen links von Ihrem Mann. Ihre Kabine enthält Bänder der acalanischen Sprache, die anderen Bänder des Kharanda. Das ist die Landessprache von Kholghoor auf der Vierten Ebene. Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit vor. Soll ich Ihnen beim Anschnallen behilflich sein?« »Gern. – Dalla, dein Helm sitzt noch nicht richtig.« Dalla schlief bereits, als der Pilot Vall den Helm richtig einstellte und ihm eine Injektion gab. Er spürte nicht mehr, wie die Rakete steil in den Himmel zog. Im Schlaf lernte er Kharanda. Als er die Augen wieder aufschlug, hatte der Pilot ihm den Helm schon abgenommen und löste die Gurte. Dalla neben ihm trank Wein aus einem Becher. Auf dem Landeturm des Hauptquartiers von Novilan-Äquivalent erwartete sie eine kleine Gruppe von Männern. Vall kannte Vulthor Tharn. Dieser stellte ihm Skordran Kirv vor, einen jungen Mann in Reitstiefeln und weißem Umhang. Vall schüttelte dem Mann kräftig die Hand. »Meine Anerkennung, Agent Skordran. Sie haben rasch gehandelt.«
»Ich tat mein Möglichstes. Soll ich Ihnen einen genauen Bericht geben? Bis zum Raumäquivalent unserer Plantage sind wir eine halbe Stunde unterwegs. Dann bleibt uns noch eine halbe Stunde Zeit während des Transfers.« »Ja – berichten Sie mir alles unterwegs.« Er drehte sich Vulthor Tharn zu. »Haben Sie die Kostüme für den Esaron Sektor bereitgelegt?« »Ja. Drüben im Kontrollturm. Ungefähr zweihundert Meilen südlich von hier haben wir einen provisorischen Transporterhafen angelegt. Von dort aus können Sie direkt in die Plantage transponieren.« »Würdest du dich inzwischen umziehen, Dalla?« sagte Vall. »Ich möchte mit Vulthor Tharn unter vier Augen sprechen.« Vall und Vulthor Tharn entschuldigten sich bei den übrigen Männern und gingen bis zum Rand des Landeturms. »Was haben Sie alles unternommen, seit Sie den Bericht von Skordran erhalten haben?« fragte Vall. »Leider scheint die Lage ernster zu sein, als wir zuerst annahmen. Skordran wird Sie ja in alle Einzelheiten einweihen. Er meint, alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß eine große und gutorganisierte Bande von Kriminellen am Werk ist – Leute unserer eigenen Rasse. In Kholghoor auf der Vierten Ebene finden sich Beweise von Vorgängen, die nicht zu den örtlichen Sitten und Gebräuchen passen wollen. Sie widersprechen allen Informationen, die wir bisher von diesem Sektor erhalten haben.« »Gut. Sie leiteten also Skordrans Bericht durch das Robotermeldesystem an die Zentrale in Dhergabar weiter. Was haben Sie noch getan?« »Ich bestätigte Agent Skordran als Leiter der Ermittlungen. Ich stellte ihm zwei Detektive und einen Psychisten zur Verfügung. Dann ließ ich weitere Psychisten
hypnomechanisch in der Landessprache Kharanda ausbilden und schickte sie in den Sektor Esaron. Skordran verfügt jetzt dort über vier Psychisten und acht Detektive. Inzwischen haben wir in der Niederlassung des Nahrungsmittelkonzerns eine Transferstation eingerichtet.« »Warum haben Sie sich nicht ein paar Psychisten vom Hauptquartier für Kholghoor in Ostindien ausgeborgt?« fragte Vall. »Ranthar Jard hätte Ihnen bestimmt ein paar von seinen Leuten abgetreten.« »Oh – das ging nicht ohne weiteres. Ich kann keine andere Dienststelle um Unterstützung bitten, wenn ich dafür nicht die Genehmigung meines Vorgesetzten habe. Schon gar nicht, wenn diese Dienststelle sich auf einem anderen Sektor, ja sogar auf einer anderen Ebene befindet«, erwiderte Vulthor Tharn. »Auch hätte das länger gedauert, als unsere eigenen Leute hypnomechanisch in Kharanda auszubilden.« In diesem Punkt hatte er recht, überlegte Vall. »Haben Sie wenigstens Ranthar Jard alarmiert, damit er weiß, was in seinem Gebiet vorgeht?« fragte er. »Nein!« rief Vulthor Tharn. »Ich bin nicht ermächtigt, gleichrangigen Beamten in anderen Sektoren und Ebenen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich habe meinen Bericht vorschriftsmäßig weitergeleitet. Ich wollte meine Kompetenzen unter keinen Umständen überschreiten.« Und dieser Bericht hat auf dem Dienstweg vierzehn Stunden gebraucht, bis er uns erreichte, überlegte Vall. »Schön. Ich gebe Ihnen also jetzt den Befehl, sich sofort mit Ranthar Jard in Verbindung zu setzen. Schicken Sie ihm alles Material, was über diesen Vorfall bisher gesammelt wurde. Halten Sie ihn ständig auf dem laufenden. Ich bezweifle sehr, daß er etwas Verdächtiges auf einer Zeittangente findet, auf der wir Niederlassungen haben. Diese Bande beschränkt sich wahrscheinlich auf Zeittangenten, die wir bisher noch nicht
erforscht haben. Ich bin davon überzeugt, daß diese Panne, die Skordran Kirv uns gemeldet hat, auf ein Versagen zurückzuführen ist. Jemand hat sich nicht an die Anweisungen der Drahtzieher gehalten, die hinter dieser Sache stecken.« Er sah aus den Augenwinkeln, wie Dalla aus dem Kontrollturm kam – in Reithosen, Schaftstiefeln und weißem Umhang. Sie schnallte sich gerade einen Revolver um. »Ich ziehe mich jetzt um. Sie rufen inzwischen Ranthar Jard an. Wir sprechen uns wieder, wenn ich zurückkomme.«
»Übernehmen Sie jetzt die Leitung der Untersuchung?« fragte Skordran Kirv, als das Lufttaxi von der Startbahn abhob. »Ich denke nicht daran. Meine Frau und ich gehen auf Urlaub, sobald wir uns persönlich von der Lage überzeugt und Tortha informiert haben. Haben Ihre eingeborenen Helfer die Sklavenhändler verhaftet?« »Ja. Gestern nachmittag. Seitdem halten wir sie gefangen. Soll ich Ihnen einen chronologischen Bericht geben oder nur eine Zusammenfassung?« »Berichten Sie, was Sie für wichtig halten. Versuchen Sie, von diesem isolierten Vorfall auf größere Zusammenhänge zu schließen.« »Ja – die Sache scheint ganz groß aufgezogen sein«, sagte Skordran Kirv. »Die Bande muß mindestens hundert Mitglieder haben, wenn nicht sogar ein Vielfaches davon. Ihre Basen müssen auf einer Zeittangente der Fünften Ebene liegen, wo sie einen Luftfrachter von mindestens fünftausend Tonnen einsetzen. Ihr Operationsgebiet liegt auf einer Anzahl von Tangenten im Sektor Kholghoor und Esaron.« Verkan Vall nickte. »Ich habe mir gleich gedacht, daß hier ein Verbrechen großen Stils vorliegt.«
»Das ist noch lange nicht alles. Im Kholghoor Sektor nennt man diese Bande die Kapuzenhändler. Wir haben die Bezeichnung der Einfachheit halber übernommen. Diese Händler treten wie Mitglieder einer Sekte von Zauberern auf. Sie tragen schwarze Kutten mit Kapuzen und Gesichtsmasken, die mit Leuchtsymbolen bestickt sind. Sie arbeiten mit Lautsprechern, ionisierten Gasen, Energiewaffen und anderen mechanischen Tricks. Damit jagen sie den Crouthas natürlich einen heillosen Schrecken ein. Sie gehen immer nach der gleichen Methode vor: zuerst schlagen sie ihr Lager im Wald in der Nähe einer Kharanda-Stadt auf, die kurz vorher von den Crouthas erobert wurde. Dann tauchen sie bei den Crouthas auf, schüchtern sie mit ihren Taschenspielertricks ein und tauschen Waren gegen gefangene Eingeborene. Als Tauschobjekte verwenden sie vorwiegend Waffen – wahrscheinlich Steinschloßgewehre und Musketen – und Schwarzpulver.« Das bestätigte den Verdacht, daß die Gangster auf Zeittangenten operierten, die bisher noch nicht erschlossen waren. Der Para-Zeit-Polizei war bisher nicht bekannt gewesen, daß die Crouthas Feuerwaffen besaßen. »Sobald die Bande eine entsprechende Anzahl von Sklaven eingetauscht hat«, fuhr Skordran Kirv fort, »transponieren sie die Leute zu ihrer Basis, die ich auf der Fünften Ebene vermute. Dort kommen sie in ein Lager. Die Sklaven, die wir bisher verhört haben, sind auf dem Luftwege nach Nordamerika verfrachtet worden, wo man sie wieder in ein Lager steckte. Von dort aus wurden sie auf die Zeittangente des Esaron Sektors transponiert, wo ich sie entdeckte. Angeblich sollen sich immer zwei- bis dreitausend Menschen in dem nordamerikanischen Lager befinden. Sie werden in kleinen Gruppen auf andere Zeittangenten transponiert,
während Lufttransporte aus Indien ständig für Nachschub sorgen. Unsere Gruppe von Sklaven stammte aus einer Lieferung für einen eingeborenen Stammeshäuptling, einen Calera namens Nebu-hin-Abenoz. Er residiert in einer Stadt in den Bergen, knapp fünfzig Meilen von der Plantage entfernt. Ursprünglich gehörten zweihundertfünfzig Menschen zu dieser Lieferung. Der Sklavenhändler Coru-hin-Irigod hat davon hundert übernommen und an unsere Plantage verkauft.« Das Lufttaxi verlor rasch an Höhe. Unter ihnen war die Landschaft mit Transporterrampen übersät, die alle räumlich mit Polizeiposten oder Operationsbasen zusammenfielen. Diese Massierung von Transportern war nicht ungewöhnlich. Die Westküste von Nordamerika war in vielen Para-Zeit-Sektoren als Zentrum der Zivilisation bekannt. Doch während die Transportbasen der Handels- und Reiseunternehmen auf ein paar hundert Zeittangenten der Fünften Ebene verteilt waren, konzentrierten sich die Einsatzbasen der Para-Zeit-Polizei auf eine einzige Zeittangente. Das Antigrav-Taxi kreiste jetzt um ein neunzig Meter hohes Stahlgerüst. Darauf befand sich ein Transportereinlaß, der räumlich synchron war mit dem Dachgeschoß eines Hochhauses in der Para-Zeit. Ein Mann in Polizeiuniform erwartete sie. Sie betraten den Transporter – eine fünfzehn Meter hohe Metalldrahtkuppel, die auf einem rotmarkierten Kreis stand. Das Energiefeld der Kuppel konnte auf eine andere Zeittangente versetzen. Der Polizist schaltete das Transpositionsfeld ein. »Das Schlimmste kommt noch«, fuhr Skordran Kirv fort. »Wir müssen annehmen, daß Nebu-hinAbenoz, der Abnehmer für die importierten Sklaven auf meiner Zeittangente den Sklaventransporter gesehen hat. Vielleicht weiß er sogar, wie der Transporter funktioniert.«
»Wenn das zutrifft, müssen wir den Mann gefangennehmen, sein Gedächtnis löschen oder ihn notfalls töten«, sagte Vall. »Was wissen Sie über den Mann?« »Die Stadt, in der er residiert, liegt in den Bergen. Sie ist von einer Stadtmauer umgeben. Die Einwohner sind alle miteinander verwandt, da die Stadt nicht sehr groß ist. Coruhin-Irigod zum Beispiel – der Sklavenhändler in unserem Gewahrsam – ist der Sohn einer Schwester von Nebu-hinAbenoz’ Frau. Alle Leute, die zu dieser Sippschaft gehören, sind Banditen, Sklaventreiber, Wilddiebe und was weiß ich noch alles. Seit zehn Jahren kauft Nebu-hin-Abenoz seine Sklaven von Lieferanten, deren Identität nicht ermittelt werden konnte. Früher waren diese Sklaven meistens von weißer Hautfarbe. Nur selten entdeckte man Leute mit brauner Hautfarbe darunter – wahrscheinlich Polynesier. Schwarze waren nie darunter – in diesem Sektor gibt es keine Neger. Offenbar haben sich die Sklavenhändler davor gehütet, Neger zu liefern, um sich nicht den lästigen Fragen der Eingeborenen auszusetzen. Erst seit kurzem tauchten nun Sklaven aus dem Kholghoor Sektor auf. Wir haben Coru-hin-Irigod unter Narkohypnose verhört. Er hält die Sklaven schlicht und einfach für Ausländer, die eine andere Sprache sprechen.« »Zehn Jahre geht das schon! Und erst jetzt stoßen wir darauf!« sagte Vall. »Das ist kein Ruhmesblatt für unseren Polizeidienst. Ich wette, die Sklavenbevölkerung auf den Esaron-Zeittangenten muß für jeden Anthropologen ein Alptraum sein.« »Wenn dieser Sklavenhandel seit mindestens zehn Jahren blüht, müssen inzwischen Millionen von Menschen als Sklaven von einer Zeittangente auf die andere verschleppt worden sein!« sagte Dalla.
»Du hast vollkommen recht«, entgegnete Vall. »Und die einzige Spur, die wir bisher besitzen, scheint dieser Nebu-hinAbenoz zu sein. Wie geht er bei seinen Geschäften vor?« »Alle zehn Tage versammelt er zehn oder fünfzehn Männer um sich. Sie machen eine Tagesreise in die Berge. Die Caleras sind ausgezeichnete Reiter und besitzen gute Pferde. Sie können dabei ohne Mühe bis zu fünfzig Meilen zurücklegen. Nebu-hin-Abenoz nimmt jedesmal einen großen Sack voll Geld mit – Goldmünzen. Bei Einbruch der Dunkelheit schlägt er in den Bergen ein Lager auf. Nach kurzer Zeit tauchen dann ein paar Männer in der Tracht der Caleras bei ihm auf. Er geht mit ihnen aus dem Lager und kehrt nach ungefähr einer Stunde zurück – begleitet von acht oder zehn Fremden in Caleratracht und ein paar hundert Sklaven. Die Sklaven sind immer in Gruppen zu zehn aneinandergekettet. Nebu-hin-Abenoz bezahlt, setzt den Termin für das nächste Zusammentreffen fest und bringt mit seinen Leuten die Sklaven nach Careba. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß diese Sklaven bisher nur an die Bergwerke östlich von Careba verkauft wurden. Unsere sind die ersten, die hierher an die Küste geliefert wurden.« »Deswegen sind wir auch nicht früher auf diesen Handel gestoßen. Der Transporter trifft also alle zehn Tage ein – immer an der gleichen Stelle?« – »Ja. Ich habe mir auch schon einen Plan zurechtgelegt, wie man die Burschen schnappen kann«, sagte Skordran Kirv. »Ich brauche dafür aber noch mehr Leute und Material.« »Fordern Sie alles an«, erwiderte Vall. »Sie bekommen höchste Dringlichkeitsstufe, bis dieses Verbrechen aufgeklärt ist.« Im gleichen Moment wurde die Maschendrahtkuppel wieder sichtbar und materialisierte sich. Ein grünes Licht leuchtete auf. Sie befanden sich jetzt in einem großen Schuppen. Das Dach war mit Stroh gedeckt. Vergitterte kleine Fenster hoch oben unter der Decke ließen spärliches Licht
herein. Die Wände bestanden aus ungebrannten Lehmziegeln. Es war kühl im Raum, die Luft schwer vom Geruch der Zitrusfrüchte. Weidenkörbe, mit Orangen gefüllt, standen in langen Reihen an den Wänden. Neben dem gerade materialisierten Transporter stand ein zweiter. Davor saßen zwei Männer in weißen Umhängen und Reitstiefeln, unterhielten sich und rauchten eine Zigarette. Skordran Kirv stellte Vall die beiden Männer vor – Detektiv Gathon Dard und Spezialagent Krador Arv. Er fragte die beiden, ob sich etwas Neues ereignet habe. Krador Arv schüttelte den Kopf. »Nichts. Von den Sklaven müssen noch vierzig verhört werden. Aber die Aussagen bleiben sich ziemlich gleich. Es sind immer dieselben beiden Zeittangenten, von denen sie herstammen.« »Diese Leute«, erklärte Skordran Kirv, »arbeiteten vor ihrer Verschleppung als Tagelöhner auf dem Gut eines Edelmannes der Kharanda-Rasse an der großen Gangesschleife. Die Croutha-Horden überfielen die Ländereien vor ungefähr zehn Tagen absoluter Zeitrechnung. Die Sklaven berichten von dem Überfall in zwei Versionen. Neun von zehn Sklaven erzählen, die Frau des Edelmannes habe sich mit einem Dolch erstochen, nachdem die Crouthas ihren Mann getötet hatten. Der zehnte behauptet, die Frau sei von den Crouthas entführt worden. Das kann sich natürlich nur auf zwei verschiedenen Zeittangenten ereignet haben. Die Sklaven, die von dem Selbstmord der Frau berichten, wissen nichts von Feuerwaffen. Die Crouthas haben sie mit Speeren und Schwertern überwältigt. Die anderen, die von der Entführung berichten, behaupten, die Crouthas seien mit Musketen und Pistolen bewaffnet gewesen. Wir bereiten gerade eine Ergänzung der beiden Aussagen vor.« »Die Eingeborenen hier werden mißtrauisch«, sagte Gathon Dard, »weil plötzlich so viele fremde Leute auf der Plantage auftauchen.«
»Das müssen wir in Kauf nehmen«, erwiderte Vall. »Wenn die Verhöre noch nicht abgeschlossen sind, möchte ich daran teilnehmen.« Die schweren Tore am anderen Ende des Schuppens waren von innen verriegelt. Krador Arv sperrte eine kleine Seitentür auf und ließ Vall, Dalla und Gathon Dard hinaus. Im Hof war eine Gruppe von Sklaven gerade damit beschäftigt, Orangen von einem Wagen zu laden und in Körben zu verstauen. Sie wurden von eingeborenen Wächtern mit umgehängten Gewehren beaufsichtigt, die streng darauf achteten, daß die Sklaven dem Schuppen nicht zu nahe kamen. Ein Mann im weißen Umhang und Reitstiefeln beobachtete wiederum die Wächter aus dem gleichen Grund. Er kam auf Vall zu und stellte sich vor. »Ich bin Golzan Dos. Auf dieser Zeittangente heiße ich Dosu Golan. Ich bin der Verwalter dieser Plantage.« »Eine peinliche Geschichte«, sagte Vall. »Tut mir leid für Ihre Firma. Aber vielleicht trösten Sie sich damit, daß uns die Sache noch viel härter trifft.« »Haben Sie eine Ahnung, was jetzt aus den Sklaven werden soll?« fragte Golzan Dos. »Ich muß Sie daran erinnern, daß meine Firma vierzigtausend Verrechnungseinheiten für die Leute ausgegeben hat. Meine Zentrale wünscht genauen Bericht, wie sie das Geld zurückbekommen kann.« Vall schüttelte den Kopf. »Darüber kann ich nicht entscheiden. Das muß Ihre Firma der Para-Zeit-Kommission vortragen. Aber ich bezweifle, daß Ihre Firma einen Schaden erleiden wird. Sie haben korrekt gehandelt und die Sklaven in Übereinstimmung mit den örtlichen Gepflogenheiten eingekauft. Haben Sie schon einmal mit. Coru-hin-Irigod geschäftlich zu tun gehabt?« »Ich bin neu hier. Mein Vorgänger hat sich vor zwanzig Tagen das Genick gebrochen. Sein Pferd trat in ein Erdloch und warf ihn ab.« Skordran Kiv beantwortete Valls Frage.
»Ein paarmal. Bisher hat er nie verdächtige Ware geliefert. Nur Einheimische. Wir haben Coru-hin-Irigod über diesen Punkt gründlich ausgehorcht. Er sagt aus, es sei das erstemal, daß er eine Ladung ›Ausländer‹ in der Nähe der Küste verkauft habe.«
Das Verhör fand im Herrenhaus der Plantage statt – in den geheimen inneren Räumen, wo die Männer wohnten, die von der Heimzeittangente stammten. Skordran Kirv benutzte einen Türaktivator, um den verborgenen Eingang zu öffnen. »Ich muß Sie warnen, daß jedes gesprochene Wort in Hörweite eines Narkohypnotisierten…«, sagte Skordran Kirv. »… wie eine hypnotische Suggestion wirkt«, fuhr Valla fort. »… unter allen Umständen vermieden werden soll, falls eine Suggestion nicht beabsichtigt ist«, schloß Dalla. Die drei blickten sich an und lachten. Skordran Kirv öffnete jetzt noch eine zweite Tür und trat zur Seite. Vor ihnen lag der Freizeitraum der Männer. Man hatte die Möbel in eine Ecke geschoben, bis nur noch vier Tische übriggeblieben waren. Sie waren durch Wandschirme voneinander getrennt. An jedem Tisch saßen sich ein Psychist von der Para-Zeit-Polizei und ein Sklave gegenüber. Ein Aufnahmegerät registrierte alles, was an dem Tisch gesprochen wurde. An einem langen Tisch an der gegenüberliegenden Wand saßen vier Männer und zwei Mädchen. Sie hatten zwei Landkarten vor sich ausgebreitet und verglichen sie mit den Niederschriften der Aussagen. »Phraktor Vuln«, stellte sich einer der beiden Männer vor, die Topographie und Zeittangenten miteinander verglichen. »Wir werten die Aussagen aus. Ich bin Synthetiker.« Er nannte die Namen seiner Mitarbeiter. Vall wollte seine Untergebenen gleich darauf hinweisen, daß Dalla nicht zum Vergnügen mitgekommen war. Er erwähnte,
daß sie die Kharanda beherrschte, auf der Vierten Ebene in Kholghoor gelebt und den Doktortitel als Psychistin erworben hatte. Außerdem sei sie seine Frau. Damit war von vornherein jedes Mißverständnis ausgeschlossen. »Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen gekommen?« fragte Vall. »Die Sklaven stammen von zwei verschiedenen Zeittangenten. Auch die Kapuzenhändler traten in zwei Gruppen auf.« Phrakor Vuln deutete auf die Aussagebogen. »Das schließen wir aus den Beschreibungen der Männer. Außerdem wurden die Sklaven von beiden Zeittangenten von den Crouthas innerhalb der gleichen Zeitperiode verkauft.« Vall nahm einen Ermittlungsbogen, der die Aussage eines der Sklaven kritisch bewertete. Er stammte von einem Mann, der von der Entführung seiner Herrin berichtete. »Die Beschreibung der Feuerwaffen ist ziemlich genau«, murmelte er. »Auch von elektrischen Peitschen ist hier die Rede. Möchte nur wissen, wo die herstammen.« »Hier sind die Skizzen, die wir auf Grund der Aussagen angefertigt haben«, sagte eines der Mädchen und schob einen Stoß Zeichenblätter über den Tisch. Die Skizzen waren mit weichen Bleistiften gezeichnet worden. Radierspuren zeugten von häufigen Korrekturen. Es hatte sich ein Bild von einer Peitsche herauskristallisiert, die einen zylinderförmigen Griff besaß, ungefähr dreißig Zentimeter lang und mit einem Druckschalter ausgerüstet war. »Das Modell kenne ich. Stammt aus dem Khiftan Sektor der Zweiten Ebene«, sagte Vall. »Die Peitschen bestehen, aus geflochtenem Kupfer- oder Silberdraht. Im Griff steckt eine nukleare Energiezelle, ein Umwandler und eine Batterie. Die Peitschen erhitzen sich bis auf zweihundert Grad Celsius. Damit kann man verheerende Brandwunden schlagen.« »Das ist bestialisch!« rief Dalla.
»Alles, was aus dem Khiftan Sektor stammt, ist bestialisch«, sagte Skordran Kirv. Er streifte die Sklaven an den Tischen mit einem Blick. »Die Leute dort sehen noch recht gut aus. Aber andere tragen schreckliche Brandnarben am Körper.« Vall studierte die anderen Skizzen. Die eine zeigte eine Muskete mit breitem Kolben und dickem Lauf, der mit Metallbändern am Schaft befestigt war. Der Zündmechanismus war nur durch Punkte angedeutet. Es mußte sich um ein Steinschloß handeln. Die andere Zeichnung stellte eine Pistole dar, die nach dem gleichen Prinzip arbeitete. »Kein Problem. Solche Feuerwaffen habe ich auch in meiner Sammlung.« Vall gab die Skizzen zurück. »Vormechanische Periode oder erste Anfänge mechanischer Produktion. Diese Dinger hätten sie auch im Kholghoor Sektor herstellen können, wenn die Kharandas gelernt hätten, Schwefel, Kohlenstoff und Salpeter im richtigen Verhältnis zu mischen.« An einem Tisch ging das Verhör gerade zu Ende. Der Psychist hatte aus dem Sklaven alles Wissenswerte herausgeholt. Er stand auf und befahl dem Sklaven mit einer Handbewegung, sich ebenfalls zu erheben. »Jetzt folgst du diesem Mann«, sagte er auf Kharanda und deutete auf einen der Detektive in der Uniform eingeborener Wächter. »Du wirst ihm vertrauen. Er ist dein Freund und wird dir nichts tun. Wenn du diesen Raum verläßt, wirst du alles vergessen, was hier geschehen ist. Du erinnerst dich nur daran, daß man deine Wunden behandelt und dir Wein zu trinken gegeben hat. Du wirst deinen Kameraden erzählen, daß man dich freundlich aufgenommen hat und sie nichts von uns zu befürchten haben. Auch wirst du nicht versuchen, die Markierung vom Rücken der linken Hand abzuwischen.« Während der Detektiv den Sklaven aus dem Raum führte, kam der Psychist zum langen Tisch und lieferte das Protokoll ab. Er zündete sich eine Zigarette an. »Selbstmordversion«,
sagte er zu dem Mädchen, das das Protokoll entgegennahm. »Neue Aspekte?« »Nur Kleinigkeiten. Sie betreffen diese ZeittangenteÜbergabe der Sklaven an die Caleras. Ich glaube, wir werden kaum noch etwas Interessantes erfahren.« »Das bleibt abzuwarten«, widersprach Phrakor Vuln. »Vielleicht hat gerade der letzte Zeuge etwas gesehen, was den anderen verborgen geblieben ist.« Wieder verließ ein Sklave den Raum. Der Verhörleiter kam zum Tisch und lieferte das Protokoll ab. »Entführungsgeschichte. Der Mann ging neben dem CrouthaWächter, der mit seiner Flinte auf ein Wildschwein schoß. Das geschah auf dem Weg in das Lager der Kapuzenhändler. Die bisher beste Beschreibung der Feuerwaffen. Kein Zweifel mehr, daß es sich um Steinschloßflinten handelte.« Erst jetzt erkannte er Verkan Vall. »Oh – hallo. Was halten Sie von den Aussagen? Sie sind doch Experte auf diesem Gebiet!« »Ich müßte die Waffen sehen. Diese Leute besitzen noch keinen Sinn für Technik. Ihre Begriffe sind verschwommen, die Vergleiche vage. Viele Epochen und Völker stellten Steinschloßwaffen her. Eine genaue Bestimmung ihrer Herkunft ist an Hand dieser Skizzen unmöglich.« Der nächste Psychist lieferte seinen Protokollbogen ab, dann der letzte vom vierten Tisch. Eine Weile saßen sie alle am Tisch, tranken Kaffee und unterhielten sich. Auf ein Zeichen hin wurde ein neuer Schub von vier Sklaven hereingeführt – zwei Männer und zwei Frauen. Eine von den Frauen war mit den elektrischen Peitschen der Kapuzenhändler übel zugerichtet worden. Trotz aller Versicherungen ihrer Leidensgenossen hatten sie Angst. »Wir tun euch nichts«, beruhigte sie einer der Psychisten. »Wir wollen eure Wunden behandeln. Hier ist die Medizin. Zuerst wird sie auf der Haut prickeln. Aber jede gute Medizin
tut das. Dann spürt ihr gleich keine Schmerzen mehr. Aber zuerst sollt ihr euch mit Wein stärken.« Zwei Detektive nahmen sich der Sklaven an. Sie schenkten erst Wein in Bechern aus und versorgten dann die Wunden. Dabei gaben sie den Sklaven geschickt eine Injektion und führten sie zu den vier Tischen im Raum. Vall und Dalla sahen einem Psychisten zu, der eine kleine Lampe einschaltete. »Jetzt ruhst du dich aus«, sagte der Psychist. »Du ruhst dich aus und läßt die Medizin wirken. Du bist müde und schläfrig. Schau hierher auf das magische Licht, das deiner Seele Frieden bringt. Schau hierher auf das Licht. Schaue… auf… das… Licht.« Vall und Dalla gingen zum nächsten Tisch. »Hast du dich am Kampf beteiligt?« »Nein, Herr. Wir waren Bauern, keine Krieger. Wir besaßen keine Waffen, wußten auch nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Wir streckten ihnen die leeren Hände entgegen und wurden verschont.« »Was ist mit eurem Herrn geschehen – dem Grafen von Ghromdour und seiner Gemahlin?« »Einer der Crouthas tötete ihn mit einem Wurfbeil. Da zog die Gräfin einen Dolch und nahm sich selbst das Leben.« Der Psychist machte ein rotes Kreuz auf dem Fragebogen und schrieb mit roter, nicht abwaschbarer Kreide eine Nummer auf die linke Hand des Sklaven. Vall und Dalla hörten jetzt am dritten Tisch zu. »Sie hatten die üblichen Waffen der Crouthas bei sich, Herr. Aber auch die Waffen der Kapuzenhändler trugen sie entweder im Gürtel oder an einem Riemen über der Schulter.« Ein blaues Kreuz auf dem Fragebogen; eine blaue Nummer auf dem Handrücken. Sie hörten sich die beiden Versionen des Überfalls auf das Landgut, an. Dann kam der Marsch in die eroberte Stadt Jhirda. Ein zweiter Marsch durch den Dschungel zum Lager
der Kapuzenhändler. »Die Diener der Kapuzenhändler ließen sich erst sehen, als die Crouthas wieder abgezogen waren. Sie waren ganz anders angezogen. Sie trugen kurze Jacken, Hosen, kurze Stiefel und kleine Waffen im Gürtel…« »Und sie schwangen Peitschen, die wie Feuer brannten. Wir wurden alle mit diesen schrecklichen Geiseln gezüchtigt, wovon du dich selbst überzeugen kannst, Herr…« »Die Crouthas hatten uns zu zweit mit einem Joch um den Hals zusammengespannt. Doch die Diener der Kapuzenhändler nahmen uns das Joch wieder ab und fesselten uns mit Ketten – immer zehn an einer Kette. Diese Ketten trugen wir noch, als wir hier im Lager eintrafen…« »Sie töteten meine Tochter, meine kleine Zhouzha!« schluchzte die Frau mit den Brandwunden auf dem Rücken. »Sie rissen sie aus meinen Armen; und ein Diener der Kapuzenhändler – möge Khokhaat seine Seele verschlingen! – schlug ihr den Schädel entzwei. Ich bäumte mich auf, um mein Kind zu retten. Sie warfen mich zu Boden und schlugen mich mit den Feuerpeitschen, bis ich ohnmächtig wurde. Dann schleppten sie mich in den Wald – zusammen mit den anderen, die an meiner Kette hingen.« Sie legte den Kopf auf die Arme und weinte bitterlich. Dalla trat vor, ließ sich von dem Psychisten die Lampe geben und hob mit der anderen Hand den Kopf der Frau. Sie richtete den Strahl der Lampe auf die Augen der Sklavin. »Trauere nicht mehr um dein Kind«, sagte sie. »Schon verblaßt die Erinnerung an alles, was du im Lager der Kapuzenmänner erlebt hast. Du weißt nur noch, daß dein Kind in Sicherheit ist. Und jetzt ist deine Tochter ein Traum – eine Hoffnung, die eines Tages in Erfüllung gehen wird. Du wirst eine Tochter gebären.« Wieder ließ sie das Licht aufblitzen und gab die Lampe dem Psychisten zurück. »Nun erzähle uns, was im Wald passiert ist. Was hast du dort gesehen?« Der
Psychist nickte, machte eine Eintragung im Protokoll und hörte zu, während die Frau erzählte. Sie schluchzte nicht mehr. Vall ging zum langen Tisch. »Die Sklaven waren noch an die Ketten der Kapuzenhändler gefesselt, als man sie hierherbrachte. Wo sind die Ketten jetzt?« »Die liegen im Transporterraum«, erwiderte Skordran Kirv. »Sie können sie dort besichtigen. Wir wollten sie nicht in diesem Raum lagern; sonst hätten die armen Teufel gedacht, wir wollten sie wieder aneinanderketten. Die Ketten sind sehr leicht, aber fest. Irgendeine Stahllegierung. Mit Stahlsägen und Feilen kann man ihnen nichts anhaben. Mit einem Atombrenner braucht man fünfzehn Sekunden, um ein Kettenglied durchzuschmelzen. Jede Kette weist im Abstand von neunzig Zentimetern einen Schäkel auf, mit einem Weicheisenbolzen vernietet. Die Bolzen sind mit einem automatischen Niethammer gesetzt worden. Sie ließen sich leicht bearbeiten. Wir haben sie mit einem Kaltmeißel ohne weiteres gesprengt.« »Schicken Sie die Ketten zum Dhergabar-Äquivalent, Polizei-Terminal, damit das Material analysiert werden kann. Sie haben doch vorhin von einem Plan gesprochen, wie man den Transporter abfangen könnte, der die Sklaven für Nebuhin-Abenoz auf diese Zeittangente bringt. Wie sieht dieser Plan aus?« »Coru-hin-Irigod und seine Leute stehen immer noch unter Hypnose. Ich möchte sie hypnotisch so behandeln, daß sie uns ein Signal geben, sobald Nebu-hin-Abenoz wieder einen Zug in die Berge unternimmt. Ein paar von unseren Leuten beziehen in den Wäldern um Careba Posten, empfangen das Signal und schicken eine Kugeldepesche zum PolizeiTerminal. Von dort aus könnte eine Einsatzgruppe mit einem fahrbaren Transporter Nebu-hin-Abenoz unterwegs abfangen,
seine Leute kampfunfähig machen, ihnen die Kleidung und Pferde wegnehmen und, selbst als Sklavenhändler verkleidet, den Transporter der Kapuzenmänner erwarten.« »Ich stimme zu – mit einer Ausnahme. Wir sollten uns nicht auf Signale des hypnotisierten Coru-hin-Irigod verlassen. Schicken wir lieber gleich ein paar von unseren Leuten nach Careba mit, die mit Minisendern ausgerüstet sind.« Skordran Kirv nickte. »Das geht ohne weiteres. Wir richten Coru-hin-Irigod so ab, daß er sie als Freunde akzeptiert und sich in Careba für sie verbürgt. Unsere Leute können sich ja als Händler ausgeben, die Sklaven kaufen wollen. Careba besitzt einen Markt, und Händler sind dort immer willkommen. Sie haben Waffen zu verkaufen – Revolver und Repetiergewehre. Jeder Carebaner wird sofort einen Revolver oder ein Gewehr kaufen, wenn die Waffen besser sind als seine eigenen. Wir können die Revolver und Gewehre vom Handelshafen VierNull-Sieben anfordern. Die Reit- und Packpferde kaufen wir hier.« Vall nickte. »Der Posten mit dem Sender steht in Sichtoder Empfangsweite von Careba. Ein zweiter Posten befindet sich im Polizei-Terminal. Sie bekommen alles, was Sie brauchen, um Nebu-hin-Abenoz’ Bande auszuschalten und den Transporter sicherzustellen: Schlafgas, Paralysatoren, Energiewaffen, Antigrav-Gerät, alles. Haben Sie keine Hemmungen, Geräte zu verwenden, die nicht dem örtlichen Stand der Zivilisation entsprechen. Diese Vorschriften gelten für Sie jetzt nicht. Aber versuchen Sie, den Transporter möglichst unbeschädigt in die Hand zu bekommen. Man kann die Ausgangszeittangente an der Einstellung der Steuerskalen erkennen. Und darauf sind wir ja besonders scharf – die Basis der Gangster zu ermitteln.« Dalla und der Polizeibeamte, der das Verhör geleitet hatte, kamen jetzt zurück zum langen Tisch. Das Verhör der Frau war abgeschlossen. »… diese erbarmenswerten Geschöpfe«,
murmelte Dalla. »Was für Teufel sich hinter den Kapuzenmännern verstecken – unglaublich!« »Solche Geschichten hören wir uns jetzt seit acht Stunden an. Manche Aussagen waren noch viel schlimmer als die Geschichte dieser Frau.« »Schade, daß Sie nicht von Ihrem Urlaub zurückkommen anstatt ihn anzutreten, Vall«, sagte Skordran Kirv. »Die Sache ist für mich viel zu groß und weitreichend. Ich würde lieber mit Ihnen zusammen arbeiten, als mit jedem anderen.« »Vall!« sagte Dalla. »Du kannst doch jetzt nicht einfach auf Urlaub gehen…« »Aber, Liebling!« sagte Vall und hoffte, daß sein Erstaunen überzeugend wirkte. »Willst du unseren Urlaub zum drittenmal verschieben? Es läßt sich gar nicht absehen, wann ich wieder dazu Gelegenheit bekomme, wenn ich mich jetzt in diese Sache einlasse. Und dann kommt bestimmt im RhogomInstitut irgend etwas dazwischen, was dir keine Zeit läßt…« »Vall, du weißt ganz genau, daß ich mich im Dwarma Sektor nicht erholen kann, wenn ich dauernd an diese scheußlichen Geschichten denken muß…« »Also gut. Dann vergessen wir vorläufig den Urlaub. Möchtest du hierbleiben und mir bei der Arbeit helfen? Es wird kein Vergnügen sein; aber wir bleiben wenigstens zusammen.« »Natürlich! Ich möchte mithelfen, diese Teufel zu entlarven.« »Gut. Ich werde so bald wie möglich zum Polizei-Terminal zurückkehren, wenn ich mir hier einen Überblick verschafft habe. Dann berichte ich Tortha Karf. Ich sage ihm, daß ich den Fall übernehme. Du bleibst inzwischen hier. Du kannst ja bei den Verhören mitarbeiten. In etwa zehn Stunden bin ich zurück. Dann transponieren wir gemeinsam nach Kholghoor im Ostindischen Sektor und sprechen mit Ranthar Jard. Möglich, daß sich dort ein brauchbarer Hinweis finden läßt…«
»Vielleicht kommen Sie doch früher zu Ihrem Urlaub, als Sie ahnen, Dr. Hadron«, wandte sich Skordran Kirv an Dalla. »Sobald wir einen Transporter der Sklavenhändler erbeutet haben, verrät uns der Steuercomputer, auf welcher Zeittangente die Gangster operieren. Dann haben wir sie!« »Kennen Sie die Parabel vom Schlangenbeschwörer, Skordran? Ich hörte sie im indo-turanischen Sektor. Ein Schlangenbeschwörer wollte eine Schlange vom Boden aufheben und entdeckte, daß er einen Elefanten am Schwanz hielt. Wir wollen uns dieses Gleichnis gut merken, solange wir nicht wissen, wohin die Spur führt.« Im einhundertundsiebten Stockwerk des Para-ZeitVerwaltungsgebäudes bewunderte sich Yandar Yadd im Spiegel. Die Kappe mit der silbernen Feder saß genau richtig; die kurze Jacke war der letzte Schrei, und die Waffe am Gürtel… Eigentlich war das gar keine Waffe. Nur im übertragenen Sinne. In diesem Sinne war sie geradezu verheerend. Die Waffe war ein tragbares Sendegerät. Er brauchte nur den kleinen Finger zu bewegen, und er war mit dem tri-planetarischen Nachrichtennetz verbunden. Dann dauerte es keine Stunde, und alle Bewohner der Erde, des Mars und der Vernus hörten die Stimme von Yandar Yadd. Was Yandar Yadd auf Band diktierte, war immer Sensation. Kein Wunder also, daß man im Para-Zeit-Verwaltungsgebäude Yandar Yadd mit größter Zuvorkommenheit behandelte. Yandar Yadd lächelte sich im grünen Spiegel zu und blickte auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten vor 1000. Er hatte eine Verabredung mit Baltan Vrath, dem Chef der Finanzverwaltung. Aber erst zur vollen Stunde. Er blickte sich um. Er stand direkt vor der Tür der Schadenersatzabteilung. Er stieß sie auf, ging durch das Vorzimmer in das Büro. Sphabron Larv stritt sich mit Varkar Klav, dem Finanzinspektor. Varkar versuchte, seine bürokratische Würde zu bewahren. Sphabron
Larv, ein junger Reporter, der sich seine Sporen erst verdienen mußte, war außer sich. Mit der Faust hämmerte er auf den Schreibtisch. »Sie müssen!« brüllte er. »Das ist ein öffentliches Dokument! Ich habe ein Recht darauf, es zu sehen! Soll ich erst zum Verwaltungsgericht gehen und mir eine einstweilige Verfügung holen? Sie wissen, was das bedeutet! Ehe noch der Tag vorüber ist, gibt es eine Anfrage in der Kammer, weshalb ich das Gericht einschalten mußte!« »Was gibt’s denn, Larv?« fragte Yandar Yadd. »Versucht der Inspektor, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen?« Sphabron Larv drehte sich um. Seine Augen leuchteten auf, als er seinen Chef erkannte. »Heute morgen wurde eine Schadenersatzforderung eingereicht. Ich wollte eine Kopie davon sehen. Doch Varkar weigert sich. Was glaubt er denn, wo wir hier sind? In einer Diktatur der Vierten Ebene?« »Was für eine Forderung ist das?« fragte Yandar Yadd. »Der Para-Zeit-Nahrungsmittelkonzern – eine von Thalvans Konzerntöchtern – stellte eine Schadenersatzforderung in Höhe von vierzigtausend Verrechnungseinheiten. Ein Plantagenverwalter des Unternehmens hat für diese Summe auf der Dritten Ebene des Esaron Sektors hundert Sklaven eingekauft. Die Para-Zeit-Polizei beschlagnahmte die Sklaven, unterzog sie einem narkohypnotischen Verhör und transponierte sie zum Polizei-Terminal.« Yandar Yadd bewahrte die Maske des unbeteiligten Zuhörers. »Hm. Warum tun die Para-Polypen so etwas? Die Sklaverei ist im Esaron Sektor ein unentbehrliches Übel. Unsere Leute müssen Sklaven kaufen, wenn sie ihre Plantage bewirtschaften wollen.« »Das weiß ich«, sagte Sphabron Larv. »Und deswegen möchte ich die Forderung sehen. Irgend etwas stinkt hier: entweder die Sklaven – oder die Behandlung der Sklaven
durch unsere Leute. Vielleicht stinkt es sogar bei der ParaPolizei. Ich muß das wissen.« »Larv, ich schließe mich Ihrem Standpunkt an. Ich möchte es jetzt auch wissen!« Yandar Yadd beugte sich über den Schalter: »Varkar, bekommen wir jetzt den Wisch zu sehen, oder muß ich eine Geschichte diktieren, daß Sie sich weigern, uns die Forderung zu zeigen?« »Die Para-Zeit-Polizei hat mich gebeten, die Sache vertraulich zu behandeln«, sagte Inspektor Klav. »Dringt sie an die Öffentlichkeit, ist das ein schwerer Rückschlag für die polizeilichen Ermittlungen.« »Hm«, schnaufte Yandar Yadd verächtlich. »Wer gibt mir die Garantie, daß die Öffentlichkeit bloß nichts erfahren soll, weil die Polizei versagt hat? Nun hören Sie mal zu, Varkar. Wer bezahlt Sie denn? Sie und die Para-Zeit-Polizei und die ParaZeit-Kommission und Heimzeittangenten-Verwaltung? Wer wohl? Wir – die Öffentlichkeit! Diese Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu wissen, was die Verwaltung tut. Und ich werde dafür bezahlt, daß sie das erfährt. Zum letztenmal – zeigen Sie uns jetzt die Forderung oder nicht?« »Ich kann Ihnen nur im Vertrauen…« »Pah! Diese Masche zog bei mir schon vor fünfzig Jahren nicht mehr, als ich so alt war wie Larv hier. Das müssen Sie schon mir überlassen, was ich weitergebe und was nicht.« »Also gut«, gab Varkar Klav nach und deutete auf einen Leseschirm, während er auf einen Knopf drückte. »Ich hoffe, Sie werden einsehen, wenn Sie das lesen, daß Diskretion unbedingt…« Yandar Yadd hörte gar nicht hin. Als der Schirm aufleuchtete, machte er davon eine Fotokopie. Die beiden Journalisten starrten auf den Schirm. Yandar Yadd riß das Mikrofon vom Gürtel und schaltete auf Sendung. »Marva!« rief er, ehe das Mädchen im Nachrichtenbüro sich melden konnte, »nimm das sofort für die nächste Sendung auf!
Fertig? Text: Am Nachmittag des Eins-Fünf-Neun-Tages wurde auf einer Zeittangente im Esaron Sektor der Dritten Ebene eine sensationelle Entdeckung gemacht. In der Para-Zeit haben Unbekannte einen Sklavenhandel riesigen Ausmaßes aufgezogen. Außenagent Skordran Kirv von der Para-ZeitPolizei wollte seinen Augen nicht trauen, als er auf einer Obstplantage des Para-Zeit-Nahrungsmittelkonzerns die neu eingetroffenen Sklaven inspizierte…« Slagath Trod saß allein in seinem Büro. Der Appetit war ihm vergangen. Er ließ das Essen auf dem Teller unberührt. Er starrte auf den Monitor, der mit einer Kamera hinter dem Platz des Präsidenten der Exekutiv-Kammer zehn Stockwerke tiefer gekoppelt war. Um 1000 Uhr waren die zweitausend Sitze der Abgeordneten noch leer gewesen. Fünfzehn Minuten später waren die Nachrichten über die Schirme gekommen. Jetzt, um 1430 Uhr, waren mindestens drei Viertel der Stühle besetzt. In den Korridoren eilten golddoublierte Roboter hin und her, nahmen Zettel entgegen oder lieferten sie ab. Ein Bote glitt gerade auf den Stuhl des Abgeordneten Hasthor Flan zu und neigte den Kopf, damit der Abgeordnete auf Band flüstern konnte. Wahrscheinlich wieder eine Nachricht für ihn, dachte Trod. Er hatte mindestens fünf Dutzend Anrufe bekommen, seit die Bombe geplatzt war. Die Leute sind mißtrauisch, hellhörig. Eigentlich war diese Krise für seine Zwecke ideal. Als Führer der Opposition konnte er sie leicht ausschlachten, um Premier zu werden. Er hörte eine Weile dem Mitglied der Zentristen-Partei zu, der auf dem Rednerpult stand. Er konnte die Argumente des Abgeordneten mit hundert Worten in der Luft zerreißen. Aber er wagte es nicht. Die Regierung zog sich auf die gleiche Linie zurück, die er auch der Kammer empfehlen wollte: man sollte diese Affäre nicht hochspielen. Sie war ein einmaliges und außerordentliches Ereignis. Man mußte Sündenböcke finden, die Öffentlichkeit beruhigen und
dann alles vergessen. Er wunderte sich, was wohl inzwischen mit dem Dummkopf geschehen war, der die Sklaven aus dem Kholghoor Sektor auf eine landwirtschaftlich genutzte Zeittangente transponiert hatte. Ein Summer ertönte, und einen Moment glaubte er, Hasthor Fans Bandaufnahme würde ihm überspielt. Doch dann erkannte er seinen Irrtum. Es war der Summer seiner Geheimtür, die nur mit einem Sondersiegel den Zutritt erlaubte. Salgath Trod drückte auf einen Knopf und entriegelte die Tür. Der junge Mann mit der lose übergeworfenen Toga war ein Fremder. Wenigstens waren ihm seine Stimme und sein Gesicht fremd. Doch Stimmen konnte man mit mechanischen Mitteln verändern, und ein erfahrener Kosmetiker verwandelte jedes Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Der junge Mann sah wie ein Student, ein Angestellter oder irgendein kleiner Beamter aus. Die Toga bauschte sich ein wenig über der linken Achselhöhle. Aber selbst die Togen der ehrenwertesten Mitglieder des Hauses bauschten sich manchmal an dieser Stelle. »Guten Tag, Abgeordneter«, sagte der Fremde und ließ sich Salgath Trod gegenüber am Schreibtisch nieder. »Ich habe eben mit jemand gesprochen, den wir beide gut kennen.« Salgath Trod bot Zigaretten an. Er gab zuerst dem Fremden Feuer, dann sich selbst. »Was sagt denn unser gemeinsamer Freund dazu?« fragte Trod und deutete auf den Monitor. »Unser gemeinsamer Freund ist gar nicht glücklich darüber.« »Glauben Sie vielleicht, ich würde vor Freude an die Decke springen?« erwiderte Salgath Trod gereizt. »Wenn ich könnte, wie ich wollte, stünde ich jetzt dort unten auf der Rednertribüne und forderte die Regierung heraus. Das erwarten auch meine Parteifreunde. Sie wundern sich bereits,
weshalb ich es nicht tue. Meine Gegner wundern sich erst recht. Und es wird nicht lange dauern, bis sie den Grund erraten, warum ich schweige.« »Warum tun Sie es dann nicht?« fragte der Fremde gelassen. »Unser gemeinsamer Freund hält das nämlich für eine ausgezeichnete Idee. Das Leck ist zu groß. Man kann es nicht mehr stopfen. Selbst die Regierung sieht das ein. Also bleibt nur die zweitbeste Lösung – zum Angriff übergehen und die Krise ausschlachten…« Salgath Trod lächelte grimmig. »Ich soll mich also an die Spitze der Kampagne stellen und die Leute in die richtige Marschrichtung lenken? Wunderbar… solange ich nicht über etwas stolpere. Dann rollt die ganze Affäre über mich hinweg wie eine Bisonherde auf der Fünften Ebene.« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte der Fremde und lachte selbstbewußt. »Unser gemeinsamer Freund hat noch mehr Freunde, die in der Kammer sitzen. Hören Sie. Greifen Sie die Para-Zeit-Polizei an – besonders Tortha Karf und Verkan Vall. Beschuldigen Sie die beiden der Nachlässigkeit und Unfähigkeit. Nebenbei verlangen Sie noch, daß ein Untersuchungsausschuß eingesetzt werden soll. Und sehen Sie zu, daß die Vertrauensfrage gestellt wird. Wenn der Regierung in einer Abstimmung das Mißtrauen der Kammer ausgesprochen wird…« Salgath Trod nickte. »Das würde die Sache wenigstens verzögern. Und wenn sich unser gemeinsamer Freund still im Hintergrund hält, kann ich vielleicht die Regierung stürzen.« Er blickte wieder auf den Monitor. »Nathav, dieser alte Narr, hat mit seiner Rede erst angefangen. Es wird eine Stunde dauern, bis ich zu Wort komme. Genügend Zeit, um eine Rede vorzubereiten. Kurz und bissig…« »Sie müssen aber vorsichtig sein. Bei Ihrem politischen Ruf wäre es gefährlich, die Krise herunterzuspielen. Sie können
keinen Standpunkt vertreten, der sich mit der Politik der Regierung vereinbaren läßt. Dafür ist die Enthüllung einer verbrecherischen Verschwörung viel zu weit gediehen. Doch vermeiden Sie sorgfältig Hinweise, die Verkan Vall und Tortha Karf auf eine neue Spur bringen könnte.« Salgath Trod nickte nur. »Verlassen Sie sich auf mich. Ich schaffe das schon.« Der Fremde ging. Salgath Trod schaltete auf Bildempfang. So blieb er unterrichtet, was unten in der Kammer vorging. Die Situation behagte ihm gar nicht. Wie leicht konnte er etwas Falsches sagen. Wenn er doch wenigstens gewußt hätte, wer die Boten schickte, die durch seine Geheimtür kamen…
Coru-hin-Irigod stützte seinen schmerzenden Kopf auf beide Hände und blinzelte in das Sonnenlicht. Warum hatte er gestern nur so viel von dem süßen Branntwein getrunken? Er saß eine’ Weile auf dem Bettrand und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Dann – in jäher Panik – schob er beide Hände unter das Kopfkissen. Die schweren vierläufigen Pistolen waren da; aber – das Geld! Fieberhaft durchwühlte er Kissen und Deckbett, schleuderte die Kleidungsstücke beiseite, die auf dem Boden verstreut lagen. Doch die Geldkatze war nirgends zu sehen. Zweitausend Goldobus, der Preis von hundert Sklaven! Er vergaß seine Kopfschmerzen und spannte den Hahn seiner Pistole. Doch dann warf er sie wieder aufs Bett und lachte. Natürlich! Er hatte das Geld dem Plantagenverwalter zur Aufbewahrung gegeben! Wie hieß er doch gleich? Dosu Golan. Er hatte ihm den Geldsack vor dem Gelage gegeben, weil er in der eisenbeschlagenen Truhe der Plantage sicherer war als an seinem Gürtel. Ein tüchtiger Schreck ist auch für etwas gut. Er macht den Kopf klar, vertreibt den Kater. Und da war noch
etwas – etwas sehr Erfreuliches… O ja – da stand es ja, neben dem Bett. Er hob den funkelnagelneuen Repetierstutzen auf, öffnete den Verschluß nur so weit, daß er die Patrone in der Kammer sehen konnte, und ließ ihn wieder einrasten. Die zwei Jeseru-Händler aus dem Norden – wie hießen sie doch gleich? – Ganadara und Atarazola. Das war wirklich eine Glückssträhne. Sie hatten ihm dieses wunderbare Gewehr gegeben und wollten ihn zurück nach Careba begleiten. Sie hatten hundert Repetiergewehre dabei und zweihundert sechsschüssige Revolver, die sie gegen Sklaven eintauschen wollten. Der große Gott Safar segne sie beide! Man würde sie in Careba jubelnd empfangen! Die Sonne fiel durch das Fenster auf seinen Begleiter, Faruhin-Obaran, der immer noch schlief. Draußen erwachte die Plantage zum Leben. Man hörte das Klappern von Pfannen. Holz wurde gespaltet. Er ging zu Faru-hin-Obarans Bett und packte den Schläfer bei den Knöcheln. »Wach auf, Faru!« rief er. »Steh auf und vertreibe die Alkoholnebel aus deinem Schädel! Wir müssen heute nach Careba zurückreiten!« Faru fluchte, setzte sich auf und tastete nach seinen Hosen auf dem Boden. »Was für einen Tag haben wir heute?« fragte er. »Einen Tag später, du Dummkopf!« Coru-hin-Irigod runzelte die Brauen. Er konnte sich jetzt deutlich erinnern. Ja, er hatte die Sklaven verkauft… Aber dann? Er hatte getrunken. Nach einer Weile würde ihm schon alles wieder einfallen.
Verkan Vall rieb sich müde die Augen. »So kommen wir nicht weiter!« stöhnte Ranthar Jard. »Wir wissen natürlich, daß sie auf Zeittangenten operieren, die wir noch nicht erschlossen haben. Die Waffenlieferung an die
Crouthas beweist das. Es gibt keine einzige Feuerwaffe auf den Zeittangenten, auf denen unsere Leute mit Genehmigung der Kommission arbeiten. Und wenn man überlegt, daß es insgesamt drei Milliarden Zeittangenten im Einzugsgebiet der Croutha-Invasion gibt…« »Wenn wir eine Methode finden, wie man diese Zahl begrenzt halten könnte…« überlegte einer von Ranthar Jards Leuten. »Das versuchen wir seit zwölf Stunden, Klav«, unterbrach Vall. »Bis jetzt ist uns noch nichts eingefallen.« Dalla hatte sich bisher aus dem Gespräch herausgehalten. Sie saß auf einer Couch an der Wand und studierte Berichte, Akten, Synopsen. Sie blickte auf. »Ich habe mir stundenlang hypnomechanischen Religionsunterricht über die Götter im Kholghoor Sektor geben lassen«, sagte sie, »ehe ich dort Phänomene der Psychokinese und Prophetie studierte. Vor sechshundert oder achthundert Jahren gab es im Gebiet der Kharandas unzählige Religionskriege, Häretiker, Sekten und Schismen. Egal, wie geschlossen der Kholghoor Sektor in soziologischer Hinsicht sein mag – was ihre Religion betrifft, ist das Territorium in unzählige Enklaven und Regionen aufgeteilt.« »Das stimmt«, Ranthar Jards Gesicht hellte sich auf. »Unsere Hagiologen wissen davon ein Lied zu singen. Wir sollten sie zu den Verhören hinzuziehen. Eine Zusammenstellung der Protokolle bringt uns vielleicht einen Schritt weiter.« »Keine schlechte Idee«, meinte Vall. »Und unser erster Gedanke war auch nicht so übel. Politik. Wir fragen sie aus, wie ihr König heißt, welche Geschichten man sich über ihn erzählt, was seine Familie treibt und so fort.« Ranthar Jard studierte die Karte an der Wand. »Die Crouthas sind nur bis hierher gekommen – bis dicht vor Nharkan. Wenn wir nun ein paar von unseren Detektiven nachts auf den Zeittangenten absetzen, die uns vielversprechend erscheinen,
könnten sie bei den Steuereintreibern vorsprechen, ob sie einen Grafen Ghromdour nördlich von Jhirda kennen. Auch das könnte zu etwas führen.« »Ich will mich ja nicht vor der Arbeit drücken«, sagte ein Detektiv und räusperte sich. »Aber ist es wirklich nötig, daß wir versuchen, die Zeittangenten der Kapuzenhändler zu finden? Wenn man die Burschen vom Esaron Sektor aus in die Zange nimmt, ist unsere Ermittlung doch reine Zeit- und Geldverschwendung!« »Marv, in unserem Beruf verläßt man sich nie auf eine Spur allein«, sagte Ranthar Jard. »Nehmen wir mal an, Skordran Kirvs Einsatzgruppe entdeckt die Operationsbasis der Gangster in Nordamerika. Wer garantiert dafür, daß sie nicht im letzten Moment per Funk ihre Leute warnen, die in Indien die Sklaven einkaufen? Nein, wir müssen beide Basen gleichzeitig angreifen.« »Richtig«, sagte Vall. »Außerdem müssen wir reinen Tisch machen. Die Sklavenlager der Kapuzenhändler im KholghoorSektor sind das eigentliche Krebsgeschwür, das wir beseitigen müssen. Haben Sie auch genügend Leute und Material für ein großes Kommandounternehmen, Jard?« Ranthar Jard zuckte die Achseln. »Ich kann ungefähr fünfhundert Mann und die nötigen Transporter aufbieten. Dazu ein paar hundert Luftlandesoldaten mit Flugbooten.« »Das reicht nicht. Skordran Kirv hat eine Division zur Verfügung: eine Panzerbrigade; eine Fallschirmjägerbrigade und ein Panzerregiment der Luftlandetruppe. Dazu das erforderliche Ghaldron-Hesthor-Gerät für simultane Transposition.« Ein Summ ton kam aus der Sprechanlage. Ranthar Jard drückte auf den Knopf. »Was gibt’s?« »Visifonruf, äußerst dringend, für Verkan Vall vom NovilanÄquivalent. Wohin soll ich durchstellen?«
»Hierher in Kabine sieben.« Ranthar Jard deutete auf die Tür an der gegenüberliegenden Wand und nickte Vall zu… Gathon Dard und Antrath Alv, alias Ganadara und Atarazola, saßen leicht in den Sätteln. Sie trugen die rostbraunen Umhänge mit den spitzen Kapuzen, die für die Jeseru-Stämme im Norden des Landes charakteristisch waren. Im Vergleich zu den Caleras mit ihren buntgestreiften Burnussen und Sonnenhüten sahen sie geradezu finster aus. In den Gewehrschuhen am Sattel steckten kurze, mehrschüssige Karabiner. Sie trugen schwere Revolver am Gürtel und lange Messer. Jeder zog sechs beladene Packpferde hinter sich her. Coru-hin-Irigod ritt neben Ganadara und deutete auf den Saumpfad vor sich. »Von hier ab«, sagte er auf Acalan, der Landessprache auf diesem Sektor der nordamerikanischen Westküste, »können wir das Tal von Careba überblicken. Mit den Packpferden werden wir noch eine gute Stunde brauchen. Dann wollen wir rasten, den Becher kreisen lassen und feiern.« Ganadara nickte. »Wir müssen unseren Göttern danken – und deinen, Coru-hin-Irigod –, daß sie uns zusammengeführt haben. Solche Sklaven, wie du sie an die Ausländer auf der Plantage verkauft hast, würden oben im Norden einen hohen Preis erzielen. Die Männer sind kräftig und scheinen für die Feldarbeit geeignet zu sein. Die Weiber sind hübsch und wohlgestaltet. Meine Frau wird nicht gerade erbaut sein, wenn ich eine Bettsklavin mitbringe.« Coru-hin-Irigod lachte. »Für deine Frau habe ich etwas Passendes – eine erstklassige Reitpeitsche.« Er beugte sich aus dem Sattel und köpfte einen Kaktus mit der Gerte. »Wir Männer in Careba haben mit unseren Frauen nie Schwierigkeiten.« »Beim großen Safar – wenn ihr noch zweifelt, ob ihr in Careba willkommen seid«, rief ein Calera hinter den beiden
verkleideten Agenten der Para-Zeit-Polizei, »braucht ihr nur eure Packtaschen zu öffnen! Solche Gewehre und Revolver sehen wir in unserem Land selten – und wenn, dann sind es nur alte und ausgeleierte Schießprügel, die schon durch viele Hände gewandert sind. Gewehre, die siebenmal schießen, ohne daß man sie von der Schulter nehmen muß. Beim großen Safar!« Er warf begeistert den Arm in die Luft. Der Saumpfad wurde breiter. Nach einer Weile konnten sie alle nebeneinander reiten und hinübersehen zu den rohen Lehmziegelmauern der Stadt Careba, die wie ein Schwalbennest an der gegenüberliegenden Talwand klebte. Die Reiter stiegen ab und zogen ihre Sattelgurte fester. Ein paar Caleras halfen Ganadara und Atarazola, die Säcke und Taschen der Packpferde festzuzerren. Als sie wieder aufsaßen, neigte Atarazola den Kopf, hob den linken Ärmel vor das Gesicht und sprach leise vor sich hin. Die Caleras beobachteten ihn neugierig, und Coru-hin-Irigod erkundigte sich, was dies bedeuten solle. »Er betet«, log Ganadara. »Er dankt den Göttern, daß wir lebend eure Stadt erreicht haben und bittet sie, sie mögen uns noch oft hierherführen – mit Gewehren und Revolvern, versteht sich.« Der Sklavenhändler nickte wohlwollend. Auch die Caleras waren ein frommes Volk und wollten es mit ihren Göttern nicht verderben. »Möge Safars Hand sich mit den Händen deiner Götter zu diesem Zweck vereinigen«, sagte er. »Die Götter wachen über uns«, erwiderte Atarazola und warf den Kopf in den Nacken. »Sie sind uns nahe. Sie flüsterten Worte des Trostes und der Hoffnung in mein Ohr.« Ganadara nickte. Die Götter, die seinem Begleiter eben Hoffnung und Trost gespendet hatten, waren zwei Para-ZeitPolizisten, die sich eine Meile von hier entfernt in den Felsen versteckt hielten. »Mein Bruder«, sagte er zu Coru-hin-Irigod,
»steht bei unseren Göttern in hoher Gunst. Viele Leute meines Stammes kommen zu ihm, daß er für sie betet.« »Ja, das hast du mir bereits erzählt, wie ich mich erinnere«, murmelte Coru-hin-Irigod. Dieser Satz war in der Pseudoerinnerung enthalten, die man dem Sklavenhändler in der Hypnose eingetrichtert hatte. »Ich diene dem Gott Safar, wie alle Bewohner von Calera; doch ich habe vernommen, daß die Götter der Jeseru gute Götter sind und es mit ihren Anhängern ehrlich meinen.«
Eine Stunde später feuerte Coru-hin-Irigod vor den Stadtmauern alle vier Läufe seiner Pistole ab und rief: »Öffnet! Öffnet für Coru-hin-Irigod und die Jeseruhändler, Ganadara und Atarazola, seine Freunde!« Ein schwarzbärtiges Gesicht erschien über den Lehmzinnen der Mauer, rief einen Gruß und brüllte Befehle. Die Stadttore öffneten sich. Nachdem die Karawane das Stadttor passiert hatte, schoben nackte Sklaven die Torflügel wieder zu und verriegelten sie von innen. Die beiden Para-Zeit-Polizisten waren mit dem Stadtbild einigermaßen vertraut – durch Luftaufnahmen, sahen sich aber trotzdem neugierig um. Der Marktplatz wimmelte von Menschen – Caleras in gestreiften Burnussen; Leute aus dem Osten und Süden in Pluderhosen und gestickten Blusen; Bergbewohner in Jacken aus Wildleder. Heute war Markttag. Sklaven wurden feilgeboten, von ihren Eigentümern mißtrauisch bewacht, von Kaufwilligen prüfend betastet. Alle Sklaven stammten offenbar aus dieser geographischen Zone dieser Zeittangente. »Schaut nicht hin«, meinte Coru-hinIrigod verächtlich. »Das ist nur der klägliche Rest. Der Markt ist fast vorüber. Wir begeben uns in das Haus von Nebu-hinAbenoz. Dort treffen sich alle bedeutenden Männer. Sie können dir die gewünschte Ware liefern. Inzwischen werden
meine Diener eure Pferde und Waffen in mein Haus bringen. Ihr seid natürlich meine Gäste, solange ihr in der Stadt weilt.« Man konnte Coru-hin-Irigod die Pferde ruhigen Gewissens anvertrauen. Er war zwar ein Mörder, ein Bandit und Sklavenhändler; doch er würde sich nie den Zorn der Götter und Menschen zuziehen, indem er seine Gäste betrog. Gastfreundschaft war in diesem Lande heiliges Gebot. Die Gefolgsleute des Händlers nahmen die Packpferde beim Zügel und führten sie fort. Ganadara und Atarazola folgten ihrem Gastgeber und dessen Begleiter, Faru-hin-Obaran, zum Hause des Nebu-hin-Abenoz. Wie alle anderen Gebäude in der Stadt war auch das Haus des Nebu-hin-Abenoz aus Lehmziegeln erbaut und glich mit seinem flachen Dach und den Schießscharten in den Wänden eher einer Festung als einer Stadtwohnung. Die massiven Torflügel in der Hofmauer standen offen. Sechs schwerbewaffnete Caleras standen hier Posten. Sie begrüßten Coru und Faru mit ihren Namen und die beiden Fremdlinge mit ihrer Stammesbezeichnung. Die vier ritten bis in den Stall hinein, wo die Sklaven ihnen aus dem Sattel halfen und die Pferde versorgten. Mindestens fünfzig Pferde standen schon im Stall. In einem Vorzimmer mußten sie ihre Waffen ablegen. Dann traten sie durch einen weiten Mauerbogen in einen schattigen Innenhof, wo etwa vierzig Männer versammelt waren. Sie standen in Gruppen beisammen, kauerten auf Kissenbergen auf dem Boden, rauchten Zigarren oder tranken aus kleinen silbernen Tassen. Die meisten von ihnen trugen die Tracht der Caleras. Doch es gab auch Männer in Pluderhosen oder im Kostüm weit entfernter Bergstämme, die sich unter die Caleras gemischt hatten. Alle redeten, oft die Worte mit lebhaften Gesten unterstreichend. Gathon Dard fing ein paar Wortfetzen auf, als sie sich durch die Menge drängten. Es ging um den Handel mit Sklaven, um
Pferde, Banditenüberfälle und Blutfehden. Auch von Waffen und Frauen war die Rede. Ein alter Mann mit weißem Bart und ungewöhnlich sauberem Burnus trat ihnen in den Weg. »Gott zum Gruß, Herr meiner Tochter – du bist endlich zurück! Wir haben uns schon Sorgen gemacht!« »Ganz ohne Grund, Vater meines Weibes«, erwiderte Coruhin-Irigod. »Wir verkauften die Sklaven für einen trefflichen Preis und feierten in guter Gesellschaft die ganze Nacht durch. Die Gäste gefielen uns so sehr, daß wir zwei von ihnen gleich mitgebracht haben – Atarazola und Ganadar, Männer vom Stamm der Jeseru! Trete etwas zur Seite, Cavu-hinAvaron, Vater der Mutter meiner Söhne – ich muß dir etwas sagen!« Er faßte seinen Schwiegervater beim Ärmel und winkte Gathon Dard und Antrath Alv, ihm zu folgen. »Sie haben Waffen mitgebracht«, raunte er seinem Schwiegervater zu. »Sie möchten dafür ausländische Sklaven – die gleichen, die ich unten auf der großen Ebene verkauft habe. Die Waffen solltest du sehen! Es sind Repetiergewehre und sechsschüssige Revolver, die aus einem Land jenseits des Meeres stammen! Und dazu viel Munition, in Säcken verpackt.« »Gott Safar segne euch!« rief der Alte mit blitzenden Augen. »Nennt euren Preis. Ihr sollt nicht mit schamroten Gesichtern heimkehren, weil wir eure Waren nicht zu schätzen wußten! Im Gegenteil! Geht und kommt recht oft wieder! – Du, Herr meiner Tochter, wirst die beiden mit Nebu-hin-Abenoz bekanntmachen. Doch kein Wort davon, was für Waffen sie mitgebracht haben. Es sind zu viele Fremdlinge in der Nähe. Sagt nur, ihr bietet Gewehre zum Tausch.« Gathon Dard nickte. Offensichtlich fand hier in Careba hinter den Kulissen ein Machtkampf statt. Coru-hin-Irigod und sein Schwiegervater gehörten zur Partei des Nebu-hin-Abenoz. Sie wollten dafür sorgen, daß die Repetiergewehre und Revolver
in die richtigen Hände kamen. Nebu-hin-Abenoz saß auf einem Hocker am anderen Ende des Hofes. Sein mit Silberfäden durchzogener Bart war viereckig gestutzt, und zwischen buschigen brauen ragte eine Habichtsnase hervor. Fünf andere Caleras saßen um ihn herum, tranken Wein und rauchten den schwarzen Tabak, der hier im Lande angebaut wurde. Als Cavu-hin-Avoran und sein Schwiegersohn sich näherten, hörten die Männer um Nebu-hin-Abenoz auf zu reden. Der Herr von Careba hörte schweigend zu, während Cavu-hinAvoran die Fremdlinge vorstellte. Dann stand er auf und klopfte den Fremden wohlwollend auf die Schultern. »Gut, gut«, sagte er. »Wir sind mit den Sitten eures Volkes wohl vertraut. Männer der Jeseru sind ehrliche Händler. Leider kommt ihr nur selten hier herauf in die Berge. Ihr seid uns immer willkommen. Wir brauchen Waffen. Doch was die Sklaven anbelangt, die ihr kaufen wollt, so haben wir im Augenblick nur noch wenige. Wenn ihr acht Tage warten könnt…« »Careba ist eine Stadt, die uns gefällt«, sagte Ganadara. »Wir können warten.« »Gut, gut. Bis dahin haben wir genügend Sklaven. Was für Waffen habt ihr mitgebracht?« »Pistolen und Gewehre, Herr der Schwester meines Vaters«, antwortete Coru-hin-Irigod rasch. »Die Packtiere stehen im Stall meines Hauses. Unsere Gäste werden bei mir wohnen. Wir können euch einige der Waffen zeigen – eine Stunde nach dem Abendgebet.« Nebu-hin-Abenoz maß den Sohn seines Schwagers mit einem durchdringenden Blick. Dann nickte er. »Vielleicht ist es besser, wenn ich selbst in dein Haus komme. Dann könnte ich gleich die ganze Ladung sehen. Was meinst du dazu?« »Das ist gut«, mischte sich Cavu-hin-Avoran ein. »Auch ich werde dort sein.« Er drehte sich zu Gathon Dard und Antrath
Alv um. »Ihr wart lange unterwegs, meine Freunde. Kommt mit mir, damit ihr euch stärken und am kühlen Wein laben könnt. Bis heute abend, Nebu-hin-Abenoz!« Er führte seinen Schwiegersohn und die beiden Händler zu einem Mauerbogen an der Seite des Hofes, wo Weinfässer aufgebockt standen. Becher und Krüge lagen in einem Korb. Sie füllten einen Krug mit Wein, nahmen Becher und ließen sich auf den Kissen nieder. Während sie die Becher voll Wein schenkten, drängten sich drei Männer durch die Menge und gingen auf Nebu-hin-Abenoz zu. Sie trugen Kostüme, die Gathon Dard nicht kannte – kleine runde Kappen mit flatternden bunten Bändern; lange weiße Gewänder mit weiten Ärmeln. Einer von ihnen trug goldene Ringe in den Ohrläppchen. »Nebu-hin-Abenoz?« fragte einer und verneigte sich. »Wir kommen von weither aus den Städten der Usasu. Wir haben viel Goldobusse mitgebracht. Wir suchen ein schönes Mädchen als erste Konkubine für den Sohn unseres Königs. Er ist dem Kindesalter entwachsen und mannbar geworden.« Nebu-hin-Abenoz nahm eine Silberpfeife aus einem Becken und zündete sie an. Er blickte dem Rauch mit gerunzelten Brauen nach. »Männer der Usasu, ihr habt eine schwere Verantwortung auf euch geladen«, sagte er. »Die Zukunft eures Königreiches ruht auf euren Schultern. Denn der Charakter eines jungen Mannes wird von seiner ersten Konkubine viel stärker geformt als von seinen Lehrern. Wie alt ist der Sohn des Königs?« »Sechzehn, Nebu-hin-Abenoz.« »Dann sucht ihr also ein Mädchen, das etwas älter ist als er. Sie muß in den Künsten der Liebe erfahren sein; doch arglos im Herzen. Sie muß klug sein, doch lenkbar; sanft und zärtlich, doch mit eigenem Willen begabt…«
Die drei Männer in den weißen Gewändern bewegten sich unruhig auf der Stelle. Doch plötzlich – wie drei Marionetten – hoben sie die rechte Hand zum Mund, griffen dann in den linken Ärmel und zogen lange Messer heraus. Wie von einer Feder geschnellt, stürzten sie sich auf Nebu-hin-Abenoz, hieben und stachen auf ihn ein. Gathon Dard sprang auf die Füße und warf den Weinkrug auf die Mörder. Auch Antrath Alv griff sofort ein. Inzwischen hatten sich die Männer um Nebu-hin-Abenoz von ihrem Schrecken erholt und warfen sich auf die Angreifer. Einer der drei Mörder drehte sich um und schlitzte einem Calera den Bauch auf, der ihn mit den Armen umfassen wollte. Ehe er die Klinge wieder frei bekam, schlug ihm ein anderer Calera eine Flasche über den Kopf. Gathon Dard ging den zweiten Mörder von hinten an, drückte ihm den Unterarm gegen die Kehle und packte sein rechtes Handgelenk. Der Mann wehrte sich, wurde dann schlaff und fiel auf das Gesicht. Der dritte Angreifer stach immer noch auf den Stammeshäuptling ein, als Antrath Alv ihm einen Handkantenschlag ins Genick versetzte. Er fiel um und lag regungslos da. Nebu-hin-Abenoz war tot. Mindestens an zwanzig Stellen hatten ihn die Mörder getroffen. Die Kehle war dreimal durchschnitten und der Kopf fast ganz vom Rumpf getrennt. Der verwundete Calera lebte noch. Man bettete seinen Kopf auf ein Kissen und rief eine Frau herbei, die ihn verbinden sollte. Doch er starb, noch ehe die Frau kam. Die drei Mörder waren tot. Außer ein paar Schnittwunden auf dem Kopf des einen, der die Flasche über den Schädel bekommen hatte, war keine Wunde an ihnen zu entdecken. Cavu-hin-Avoran trat einem von ihnen fluchend ins Gesicht. »Wir haben diese Stinktiere viel zu schnell getötet!« tobte er. »Wir hätten sie lebend fangen sollen, um sie langsam und
qualvoll umzubringen, wie sie es verdient haben!« Er schilderte in der blumenreichen Sprache des Bergvolkes verschiedene Todesarten. »Ich hätte nicht geglaubt, daß ich so fest zugeschlagen habe!« entschuldigte sich der Calera, der mit der Flasche eingegriffen hatte. »Ich dachte natürlich nur an das Leben Nebu-hinAbenoz. Gott Safar nehme ihn gnädig bei sich auf!« Antrath Alv beugte sich über den Mann, den er mit dem Handkantenschlag gefällt hatte. »Ich habe ihn nicht getötet«, sagte er. »Wenn ich kräftig zugeschlagen hätte, wäre sein Genick gebrochen. Das ist aber nicht der Fall. Siehst du?« Er bewegte den Kopf des Toten hin und her. »Ich glaube, die drei haben Gift geschluckt, ehe sie zu den Messern griffen!« »Sie haben die Hand zum Mund geführt – ich sah es ganz deutlich!« rief einer von den Caleras. »Seht doch nur, wie fest sie die Zähne zusammenbeißen!« Er nahm ein Messer zur Hand, schob es zwischen die Zähne eines Toten und zwängte ihm die Kiefer auseinander. Er roch an den Lippen und blickte in den Mund. »Zähne und Zunge sind verfärbt! Und aus dem Mund kommt ein seltsamer Geruch!« Antrath Alv flüsterte seinem Kameraden zu: »Halatan.« Gathon Dard nickte. Das war ein Gift von der Ersten Ebene. »Aber, beim heiligen Namen des Gottes Safar, was sind das nur für Leute?« fragte Coru-hin-Irigod. »Ich würde zwar mein Leben riskieren, um meinen Feind zu töten – aber so leichtfertig könnte ich es nicht wegwerfen!« »Sie wußten, daß wir sie töten würden. Sie nahmen Gift, um rasch und schmerzlos zu sterben«, murmelte einer von den Caleras. »Vielleicht wollten sie auch nicht den Namen des Volkes nennen, das sie hierhergeschickt hat! Auf der Folter wären sie wahrscheinlich nicht standhaft geblieben«, rief ein älterer Mann in der Tracht eines Edelmannes aus dem Südosten. »An eurer Stelle würde ich sofort nachforschen,
woher sie stammen, damit ihr wißt, wo eure Feinde wohnen!« Gathon Dard untersuchte eine der Mordwaffen – ein Klappmesser mit breiter Klinge, die von einer Feder bewegt wurde. Der Griff war aus Perlmutt, mit Messing unterlegt. »Auf allen meinen Reisen«, sagte er, »ist mir noch nie ein Messer dieser Art begegnet. Sagt, Coru-hin-Irigod, wißt Ihr eigentlich, aus welchem Land die ausländischen Sklaven, die Nebu-hin-Abenoz verkauft hat, stammen?« »Ihr glaubt«, rief ein Calera, »sie könnten mit dieser Tat zusammenhängen?« »Durchaus. Ich vermute, das waren gar keine echten Sklaven, sondern Kriegsgefangene. Nehmen wir einmal an, unter den Sklaven, die Nebu-hin-Abenoz weiterverkauft hat, befand sich eine Person hoher Abkunft – der Sohn eines Königs oder Priesters«, sagte Gathon Dard. »Beim Gott Safar – du kannst recht haben! Und jetzt lebt dieses Volk – wie immer es sich nennt – in Blutfehde mit uns!« rief Cavu-hin-Avoran erschrocken. »Dein Rat ist gut Fremder! Wir müssen die Sache gründlich überlegen. Es ist schlimm, wenn man unbekannte Feinde hat!« »Seht nur!« rief einer der Caleras, der die Leichen zu entkleiden begann, »das sind gar keine Leute aus den UsasuStädten! Sie stammen nicht aus unserem Land. Sie sind nicht beschnitten!« »Viele von den Sklaven, die Nebu-hin-Abenoz aus den Bergen zu uns brachte, waren nicht beschnitten«, murmelte Coru-hin-Irigod. »Jeseru… Ich glaube, du hast die Wahrheit erraten.« Er runzelte die Stirn. »Glaubst du, sie sind jetzt zufrieden? Oder werden sie mit ihrem Haß uns alle verfolgen?« »Schwer zu sagen«, meinte Antrath Alv. »Ihr Caleras verehrt zwar nicht unsere Götter; aber ihr seid unsere Freunde. Laßt mich beiseite treten, damit ich zu unseren Göttern beten kann.
Ich werde sie um Rat bitten, wie wir uns vor den Nachstellungen unserer Feinde schützen können!« Ein dünner Regen fiel auf den Landeturm des PolizeiTerminal in Dhergabar-Äquivalent, als Vall und Dalla aus der Rakete stiegen. Unten, auf dem schwarzen Asphalt, stand Tortha Karf, die Schultern unter dem langen Mantel gebeugt, die flache Kappe tief in die Stirn gezogen. Er schüttelte Vall kräftig die Hand und küßte Dalla auf beide Wangen. »Das Taxi wartet drüben«, sagte er und deutete auf das Roboter-Fahrzeug. »Gestern war nicht gerade ein guter Tag für uns, nicht wahr?« »Weiß Gott«, sagte Vall. Sie stiegen in das Taxi, und es schoß steil auf eine Höhe von sechshundert Metern hinauf, ehe es sich sanft hinuntersenkte zum Hauptquartier, das nur eine Meile entfernt lag. »Noch ist der Wind nicht ganz aus unseren Segeln. Ranthar Jard hat eigene Ideen entwickelt, die er jetzt in seinem Sektor in die Tat umsetzt. Vielleicht stößt er auf eine Zeittangente in Kholghoor, wo die Kapuzenhändler operieren. Wenn wir sie nicht dort erwischen, wo sie ihre Sklaven abliefern – vielleicht fassen wir sie in ihrem Versteck.« »Es sei denn, sie haben sich zurückgezogen, weil ihnen die Luft im Bau zu heiß wurde«, sagte Tortha Karf. »Ich bezweifle das, Chef«, widersprach Vall. »Wir kennen natürlich die wahren Schuldigen nicht und wissen nicht, was sie vorhaben. Doch der Apparat und der Aufwand ist viel zu groß. Sie werden weitermachen, schon der großen Gewinne wegen, die dieses Unternehmen abwerfen muß. Sie glauben sich bestimmt wieder in Sicherheit, nachdem sie den einzigen Zeugen, der mit ihnen Kontakt hatte, ausgeschaltet und die Lieferungen auf die von uns entdeckte Zeittangente eingestellt haben.« »Hm. Und was plant Ranthar Jard?« »Er versucht, die Zahl der möglichen Zeittangenten zu begrenzen, von denen aus die Kapuzenmänner operieren
könnten. Zu diesem Zweck fragt er die Sklaven aus, wie ihr König oder Stammesfürst heißt, was sie über den Herzog von Jhirda wissen und die Feudalherren aus ihrer nächsten Nachbarschaft«, erwiderte Vall. »Auf Grund solcher Hinweise wird er auf den entsprechenden Zeittangenten Luftaufnahmen machen lassen. Erhält er Bildmaterial, das einen Croutha mit Feuerwaffen zeigt, wissen wir, daß wir eine von den Kapuzenhändlern benutzte Zeittangente aufgespürt haben.« »Klingt recht einfach«, sagte der Chef. Das Lufttaxi landete, und Tortha Karf half Dalla beim Aussteigen. »Hoffentlich denkt ihr auch daran, wie verschwindend klein eure Chancen sind, die richtige Zeittangente zu finden.« Sie gingen hinüber zum Antigrav-Schacht und schwebten hinunter in das Stockwerk, wo Tortha Karf ein Büro mit der gleichen Ausstattung besaß wie auf der Heimzeittangente. »Trotzdem bleibt uns keine andere Wahl.« »Mich verfolgt die ganze Zeit ein Gedanke«, sagte Dalla, als sie sich an dem hufeisenförmigen Schreibtisch im Chefzimmer niederließen. »Die Nachricht von dem Verbrechen wurde auf der Heimzeittangente erst am späten Morgen des Eins-SechsEins-Tages ausgestrahlt. Nebu-hin-Abenoz wurde gegen siebzehn Uhr Ortszeit ermordet. Das entspricht ungefähr ein Uhr morgens – heutiges Datum – nach DhergabarZeitrechnung. Die unbekannten Gangster hatten also genau vierzehn Stunden Zeit, die Nachrichten abzuhören, sie zu ihren Operationsbasen zu übermitteln, die drei Männer für ihren Mordauftrag zu hypnotisieren, sie zu verkleiden und auf die Esaron-Zeittangente zu transponieren. Von dort aus bis Careba brauchten sie sicher auch noch ein paar Stunden…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, das war eine Blitzoperation. Sehr rasche Arbeit.« Tortha Karf warf Verkan Vall einen Blick zu. »Deine Frau ist eine ausgezeichnete Detektivin, Vall«, sagte er.
»Sie hat uns im Esaron und Kholghoor Sektor großartig unterstützt. Sie möchte mir helfen und an dem Fall bis zu seiner Lösung mitarbeiten. Ich bin froh, daß ich sie mitgenommen habe.« Tortha Karf nickte. »Wir sind natürlich froh, wenn wir Hilfe bekommen. Ich glaube, Dalla ist eine wesentliche Unterstützung für unsere Arbeit. Wir werden sie offiziell in den Polizeidienst übernehmen. Gib ihr eine Funktion, einen Titel – ernennen wir sie zum Chefassistenten.« Er schüttelte Dalla die Hand. »Ich bin glücklich, dich in meinem Stab aufnehmen zu können.« Dann drehte er sich wieder Vall zu. »Yandar Yadd hat dafür gesorgt, daß die Geschichte überall bekannt wurde. Etwas Dümmeres, Gewissenloseres ist mir bisher nicht begegnet…« Karf konnte vor Entrüstung nicht weitersprechen. »Es dauerte vierzehn Stunden, bis mich Skordrans Bericht erreichte.« »Golzan Doth schickte seinen Bericht an seine Firma zur gleichen Zeit ab, als Skordran Kirv seine Meldung durchgab.« »Das ist die Erklärung«, sagte Tortha Karf. »Ich wünschte, es wäre anders; aber leider… leider. Verdammt – da steckt also ein ausgedehntes Spionagesystem dahinter. Ihre Spitzel sitzen überall. Kein Zweifel, daß wir es mit einer mächtigen Organisation, zu tun haben. Am liebsten würde ich jeden Angestellten des Konzerns, der Golzan Doths Bericht gelesen hat, narkohypnotisch verhören. Leider können wir so etwas auf der Heimzeittangente nicht machen. Hinzu kommen die politischen Verwicklungen…« »Was für Verwicklungen, Chef?« Tortha Karf verzog das Gesicht. »Salgath Trod«, sagte er erbittert. »Er löste alles aus. Zuerst – nachdem Yandar Yadd die Bombe platzen ließ – gab es nur unorganisierten Widerstand in der Kammer. Ein paar Proteste und dergleichen. Salgath wartete bis zum Nachmittag, als die Anhänger der
Regierungspartei sich wieder von dem Schlag erholt hatten und sich auf eine Marschroute geeinigt hatten. In diesem Augenblick trat er auf die Rednertribüne. Die Zentristen und gemäßigten Rechten versuchten es mit dem Appell an die Vernunft. Das hatte den gleichen Erfolg, als wolle man einen Waldbrand auf der Fünften Ebene mit einem Handfeuerlöscher ersticken. Salgath gelang es, einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung einzubringen. Das bedeutet, daß die Regierung in zehn Tagen sich der Abstimmung stellen muß, ob sie noch das Vertrauen der Kammer genießt. Salgath hat nur die Radikalen und ein paar abtrünnige Zentristen hinter sich. Ich bezweifle, daß er genügend Stimmen sammeln kann, um die Regierung zu stürzen. Trotzdem macht er uns mit seinem Antrag die Hölle heiß.« »Vielleicht wollte Salgath mit seinem Antrag nichts anderes bezwecken«, murmelte Vall. »Das haben wir bereits in Rechnung gestellt«, sagte Tortha Karf. »Im Augenblick laufen diskrete Ermittlungen, mit welchen Leuten Salgath Trod verkehrt, woher er sein Einkommen bezieht und so weiter. Bis jetzt haben wir nichts Verdächtiges gefunden. Trotzdem machen wir uns in dieser Beziehung Hoffnungen.« »Ich glaube, wir sollten unsere Nachforschungen auf die Heimzeittangente konzentrieren«, sagte Vall. Tortha Karf blickte ihn überrascht an. »So? Weshalb?« Vall stopfte umständlich seine Pfeife. »Wir wissen, daß wir es mit einer mächtigen kriminellen Organisation zu tun haben. Nennen wir sie den Sklavenkonzern – der Einfachheit halber. Die Leute, die diesen Konzern leiten, sind nicht dumm. Die Tatsache, daß sie zehn Jahre lang unentdeckt und unbehelligt Sklaven in den Esaron Sektor liefern konnten, beweist das. Sie haben Nebuhin-Abenoz rasch und gründlich ausgeschaltet – haben ihn ermordet, obwohl zwei Detektive der Para-Zeit-Polizei in der
Nähe waren. Sie haben die Croutha-Invasion im indischen Kholghoor Sektor ausgenützt. Alles das deutet in die gleiche Richtung. Ich habe eine lange Erfahrung mit illegalen und subversiven Organisationen, die im Para-Zeitgefüge operieren. Dabei stellte ich fest, daß sie nur erfolgreich waren, wenn sie sich an bestimmte Grundregeln – oder Prinzipien – hielten. Diese Grundregeln blieben sich immer gleich. Erstens – mit Zellen arbeiten: kleine Gruppen, die selbständig handeln. Sie unterstützen sich zwar gegenseitig, bleiben aber voneinander isoliert, und keine Zelle weiß, aus welchen Leuten sich eine andere Zelle zusammensetzt. Zweitens – kein Kontakt nach oben: Die Anführer verkehren mit ihren Untergebenen nur über neutrale Schaltstationen oder über Verbindungsleute, die keine Ahnung haben, für wen oder was sie arbeiten. Drittens – rücksichtslose Beseitigung von Zeugen oder möglichen Verrätern: Nebu-hin-Abenoz’ Schicksal ist ein Beweis für diese Handlungsweise. Ich gehe jede Wette ein, daß uns eine Operation im ParaZeitgefüge nicht viel einbringen wird. Wenn wir zum Beispiel ein paar Kapuzenmänner fangen oder eine Bande, die Sklaven an Leute wie Nebu-hin-Abenoz verkauft, sie narkohypnotisieren und verhören, dann können sie uns höchstens die Namen ihrer Zellenmitglieder nennen, und der Zellenleiter weiß nur, daß er von Zeit zu Zeit von einem Fremden besucht wird, der neue Befehle überbringt, oder daß er im Notfall eine Deckadresse benachrichtigen kann. Die Leute, auf die es wirklich ankommt, sitzen alle auf der Heimzeittangente – viele von ihnen wahrscheinlich in einflußreichen Stellungen. Wenn wir einen von diesen Leuten entlarven und narkohypnotisch verhören, lösen wir eine Kettenreaktion aus und können so den ganzen Sklavenkonzern aufrollen.«
»Und wie kommen wir an diese Leute heran?« fragte Tortha Karf. »Sollen wir sie über die Sendestationen auffordern lassen, sich zu melden?« »Sie hinterlassen Spuren. Das können sie gar nicht vermeiden. Zum Beispiel bin ich davon überzeugt, daß Salgath Trod irgendwie zum Sklavenkonzern gehört. Wahrscheinlich sind andere prominente Politiker und einflußreiche Geschäftsleute ebenfalls daran beteiligt. Suchen Sie nach Unregelmäßigkeiten oder ungewöhnlich hohen Summen im Zahlungsverkehr. Zum Beispiel nach Überweisungen in ObusWährung im Esaron Sektor. Oder nach großen GoldbarrenTransaktionen.« »Hm – richtig. Und wenn dieser Konzern wirklich umfangreiche Basen im Para-Zeitgefüge unterhält, muß er auch Geräte besorgen, die er sich nur auf der Heimzeittangente beschaffen kann«, sagte Tortha Karf nachdenklich. »Ersatzteile für Transporter; Feldgeneratoren und so weiter. So etwas kann man sich nicht in irgendeinem Laden besorgen.« Dalla beugte sich vor und ließ ihre Zigarette in den Aschenbecher fallen. »Schauen Sie sich mal im Büro für psychologische Hygiene um«, sagte sie. »Ich glaube, dort werden Sie auf eine echte Spur stoßen.« Vall und Tortha Karf drehten sich rasch nach ihr um. »Nur weiter«, ermunterte Tortha Karf sie. »Ich glaube, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Die Köpfe dieses Unternehmens«, sagte Dalla, »müssen zweifellos als kriminell eingestuft werden. Sie begehen vielleicht niemals selbst eine verbrecherische Tat; aber sie geben die Befehle dazu und profitieren davon. Sie müssen also den Willen und die Psychologie eines Verbrechers besitzen. Wir bezeichnen nun einen Menschen als kriminell, wenn er psychologische Züge trägt, die eindeutig antisozialer Natur sind. Sie sind gewöhnlich paranoid – übertriebener Egoismus; Mißachtung der Rechte des anderen; Unfähigkeit, die soziale
Notwendigkeit anzuerkennen, daß eine Gemeinschaft nur auf gegenseitige Unterstützung, Vertrauen und Zusammenarbeit aufgebaut werden kann. Auf der Heimzeittangente besitzen wir universale psychologische Testmethoden, um diese abartigen Merkmale zu erkennen und zu beseitigen.« »In diesem Fall scheinen die Testmethoden aber versagt zu haben«, murmelte Tortha Karf und schnippte dann plötzlich mit den Fingern. »Aber natürlich! Wie blind kann der Mensch denn eigentlich sein?« »Wir müssen das sofort untersuchen«, sagte Verkan Vall. »Lassen Sie feststellen, wie diese Leute durch die Maschen der Psychotests schlüpfen konnten. Das führt uns dann zu der Frage, wer sich diesen Tests entziehen konnte und wo die Person im Büro für psychologische Hygiene sitzt, die gar nicht dahingehört.« »Ich glaube, Sie müssen die Untersuchung im Büro für psychologische Hygiene mit großer Härte durchführen«, sagte Dalla ernst. »Ein psychologischer Test ist immer nur so gut wie die Leute, die ihn durchführen. Es ist kaum auszudenken, was geschieht, wenn kriminelle Personen diese Tests anwenden…« »Wir haben Freunde im Exekutivrat«, sagte Tortha Karf. »Ich werde dafür sorgen, daß dieser Punkt gleich in der nächsten Ratssitzung auf die Tagesordnung kommt.« Er blickte auf die Uhr. »In drei Stunden. Dieser Antrag ist gleichzeitig ein politischer Schachzug. Er bringt Salgath Trod in eine prekäre Lage. Er kann nämlich auf der einen Seite nicht Ermittlungen gegen die Para-Zeit-Polizei fordern und auf der anderen Seite eine Überprüfung des Büros für psychologische Hygiene ablehnen. Sind sonst noch Fragen offen, über die wir uns unterhalten müssen?« »Ja – die hundert Sklaven, die wir aus dem Esaron Sektor transponiert haben«, sagte Vall. »Was soll mit ihnen
geschehen? Und falls wir tatsächlich die Zeittangente entdecken, auf der die Sklavenhändler ihre Basen errichtet haben, kommen noch Tausende hinzu.« »Wir können sie nicht auf ihre Zeittangenten zurückschicken, was für sie das beste wäre«, meinte Tortha Karf. »Wo sind die Sklaven jetzt?« »Polizei-Terminal, Nharkan Äquivalent.« »Laß sie vorläufig dort. Vielleicht müssen wir eine neue Zeittangente für sie erschließen, bevor sie nach Hause zurückkehren können. Vall, diese Sache ist längst kein Routinefall mehr. Sie ist so groß, daß wir einen eigenen Stab dafür bilden. Du übernimmst die Leitung, Vall. Du richtest dein Hauptquartier hier ein und nimmst dir so viele Leute, wie du brauchst. Und vergiß nicht: zur Vertrauensfrage kommt es in zehn Tagen, am Morgen des Eins-Sieben-Eins-Tages. Ich bitte dich nicht um Wunder; aber wenn wir bis dahin den Fall nicht geklärt haben, geht es uns an den Kragen.« »Ich weiß. Dalla, du transponierst am besten mit dem Chef zur Heimzeittangente. Hier kannst du mir im Augenblick sowieso nicht helfen. Schlafe dich aus und versuche, für uns beide heute abend bei Thalvan Dras eine Einladung zum Essen zu bekommen.« Er wendete sich wieder Tortha Karf zu. »Dras gibt sich zwar mit Geschäften selbst nicht ab; aber ihm gehört der Para-Zeit-Nahrungsmittelkonzern. Vielleicht kann er feststellen – oder uns dabei helfen –, wie der Bericht über die Sklaven in seiner Firma an die Öffentlichkeit dringen konnte.« »Ich glaube, ein Anruf bei ihm genügt«, meinte Dalla lächelnd. »Wenn die Aufregung auf der Heimzeittangente so groß ist, wie ich erwarte, wird Dras uns nur zu gern zum Essen einladen, um etwas zu erfahren.«
Salgath Trod schob ungeduldig die Tonbandspulen und Papiere beiseite. »Was haben Sie denn anderes erwartet?« fragte er. »Das war der einzig logische Schritt. Das Büro für psychologische Hygiene soll jeden Zeitgenossen aufspüren, der zuerst auf seine eigenen Interessen schaut. Dann machen sie einen frommen, gesetzestreuen Mitläufer aus ihm. Diese Bekehrungsstätte für gesetzestreue Staatsbürger hat eine Menge Leute durch die Maschen gehen lassen. Für Tortha Karf ist das ein ausgezeichneter Vorwand.« »Dieser Vorwand ist ein Ärgernis für uns alle«, sagte der junge Mann mit der weiten Toga. »Ich möchte mich meinen Psychotests nicht noch einmal unterziehen – schon gar nicht bei einem pflichtbewußten Beamten, der nicht mit sich reden läßt. Und Sie möchten das auch nicht.« »Ich habe schon etwas vorbereitet, um dem Antrag die Spitze zu nehmen«, sagte Salgath Trod. »Ich werde die wissenschaftliche Grundlage dieser Testmethoden angreifen. Ich berufe mich auf Dr. Frasthor Klav. Er hat schon immer behauptet, daß kriminelle Tendenzen durch die Umwelteinflüsse hervorgerufen werden und daß Psychotests und Persönlichkeitsanalysen wertlos sind, weil sich die totalen Umwelteinflüsse von Tag zu Tag verändern – ja sogar von Stunde zu Stunde…« »Kein brauchbarer Weg«, sagte der namenlose junge Mann, Bote eines ebenso namenlosen anderen Mannes. »Frasthor ist ein Phantast. Kein angesehener Psychologe oder Psychist nimmt seine Thesen wirklich ernst. Außerdem wollen wir das Büro für psychologische Hygiene gar nicht angreifen. Die Leute, die dort mit sich reden lassen, sind unsere Sicherheitsgarantie. Sie haben uns alle ein Zeugnis gegeben, daß wir geistig sauber sind, und das können wir jederzeit vorlegen. Nein, wir müssen das Pferd anders aufzäumen. Wir
müssen den Vorfall im Esaron Sektor als einmalig hinstellen – als ein Ereignis, an dem die Para-Zeit-Polizei selbst schuld ist. Die Sklavenhändler seien verkleidete Polypen. Und es könne nicht die Schuld des Büros für psychologische Hygiene sein, daß es die verbrecherischen Neigungen innerhalb der ParaZeit-Polizei nicht entdeckt hat, weil die Para-Zeit-Polizei ihren eigenen Spezialisten für diese Tests verwendet. Behauptung: Die Para-Zeit-Polypen haben ihr eigenes Personal nicht sorgfältig genug psychologisch überprüft.« »Wie wollen wir denn die Öffentlichkeit davon überzeugen?« fragte Salgath Trod kopfschüttelnd. »Sie werden morgen früh in der Kammer eine Ansprache halten. Schlachten Sie die neuen Enthüllungen über die Kapuzenhändler aus. Behaupten Sie, unter diesen Kapuzen verberge sich niemand anders als die Para-Polizei. Weshalb auch nicht? Sie haben ihre eigenen Wartungsräume für Transpositionsgeräte in ihren Polizei-Terminals. Sie besitzen eigene Fabriken, um von jedem Gegenstand, jedem Gerät, jeder Waffe, die in der Para-Zeit vorkommen, Duplikate anzufertigen. Sie wissen ganz genau, auf welchen Zeittangenten und Sektoren lizensierte Unternehmen arbeiten dürfen. Wer hindert eine Bande von skrupellosen Para-Polypen daran, sich auf ein paar ungenutzten Zeittangenten im Kholghoor Sektor festzusetzen, Gefangene von den Crouthas zu kaufen und sie in den Esaron Sektor zu verfrachten?« »Weshalb sollten sie dann die Sache aufdecken, wenn die Polizei selbst dafür verantwortlich ist?« fragte Salgath Trod. »Es hat eben jemand versagt und Sklaven auf eine wirtschaftlich genutzte Zeittangente im Esaron Sektor transponiert. Besser noch – der Para-ZeitNahrungsmittelkonzern hat eine Plantage auf einer Zeittangente errichtet, die von der Polizei bisher illegal mit Sklaven beliefert wurde. Nebenbei bemerkt – das ist
tatsächlich geschehen. Einer von unseren Leuten macht den Fehler, diese Zeittangente nicht sofort von der Liste zu streichen, als sich der Konzern dort niederließ.« Der junge Mann machte eine ungeduldige Handbewegung. »Skordran Kirv, der nicht gerade der Hellste ist, entdeckt also diese Sklaven und erzählt Golzan Doth davon, dem neuen Verwalter. Der meldet die Sache sofort seiner Geschäftsleitung. Es läßt sich also nicht länger verschweigen, und Tortha Karf schüchtert die Öffentlichkeit mit Märchen von einer gigantischen Verschwörung ein, um noch mehr Geld und noch mehr Macht an sich zu reißen.« »Wie lange, glauben Sie, wird man mir diese Geschichte glauben?« fragte Salgath Trod. »Auch die parlamentarische Immunität ist nicht unverletzlich. Früher oder später muß ich die Behauptung als offizielle Anklage vor einem Untersuchungsausschuß erheben. Das bedeutet narkohypnotisches Verhör für mich. Und dann kommt alles heraus.« »Sie werden Beweise erhalten«, sagte der junge Mann. »Wir werden ein paar von diesen Kharandas präparieren, die Verkan Vall nicht erwischt hat. Sie werden unter Narkohypnose angeben, daß die Kapuzenhändler einmal ihre schwarzen Umhänge abgelegt haben. Unter den Roben kamen grüne ParaZeit-Polizeiuniformen zum Vorschein. Können Sie mir folgen?« Salgath Trod brummelte etwas Unhöfliches vor sich hin. »Das ist einfach lächerlich! Ich nehme an, Sie wollen diese Kharandas einer Gehirnwäsche unterziehen und ihnen anschließend ein neues Gedächtnis eingeben. Wie lange, glauben Sie, hält das vor? Ungefähr dreimal zehn Tage. Es gibt nämlich keine totale Gehirnwäsche – nur eine Erinnerungsunterdrückung und eine Pseudogedächtnisüberlagerung. In einem kleinen Polizeirevier kann man dieses
Pseudogedächtnis nicht knacken – darin stimme ich Ihnen zu. Aber ein erfahrener Psychist weiß spätestens nach fünf Minuten, ob ein narkohypnotisierter Zeuge falsche oder echte Erinnerungen mit sich herumschleppt. Und dann – nach geraumer, aber nicht zu langer Zeit – schält er ihm die falschen Erinnerungen und Blocks ab wie Zwiebelschalen. Wie stehen wir dann da?« »Einen Moment mal, Abgeordneter, diesen Vorschlag habe nicht ich ausgebrütet«, sagte der junge Mann frostig. »Das ist eine Entscheidung von oben – von ganz oben.« »Ist mir egal, woher sie kommt«, sagte Salgath Trod bissig. »Dieser Vorschlag ist idiotisch. Ich will nichts damit zu tun haben.« Das Gesicht des Besuchers wurde starr. Die respektvolle Höflichkeit verschwand. Seine Stimme klang hart wie Eisschollen, die sich übereinanderschieben. »Salgath, das ist ein Befehl der Organisation. Man widersetzt sich nie den Befehlen der Organisation – so wenig, wie man die Organisation verlassen kann. Also seien Sie vernünftig, Abgeordneter. Sie werden tun, was man Ihnen sagt.« Er holte eine Tonbandspule aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Hier haben Sie das Konzept für Ihre Rede. Geben Sie die Rede in Ihren eigenen Worten, aber sinngetreu wieder.« Er beobachtete Salgath Trod eine Weile. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was passiert, wenn Sie das nicht tun«, fügte er hinzu. »Sie können sich das selbst ausmalen.« Danach drehte er sich um und verschwand durch die Geheimtür. Salgath Trod starrte ihm nach. Er streckte die Hand nach der Spule aus, zuckte jedoch zurück, als wäre sie radioaktiv verseucht. Er blickte auf seine Uhr. Es war erst 16.00 Uhr.
Das grüne Luftboot ging auf der Landefläche nieder. Verkan Vall öffnete die Tür. »Soll ich Sie später wieder abholen?« fragte der Pilot. »Nein, vielen Dank, Drenth. Meine Frau und ich sind heute abend eingeladen. Anschließend werden wir eine Runde durch die Nachtklubs machen. Morgen früh werden sich alle Kommentatoren, die zur Opposition halten, ereifern, daß ich mich auf die faule Haut lege statt den Sklavenkonzern zu bekämpfen. Warum soll ich mich noch schlechter machen, als ich schon bin. Wenn ich mit dem Luftboot herumgondle, amüsiere ich mich ›auf Kosten des Steuerzahlers‹.« »Ich wünsche Ihnen wenigstens viel Vergnügen«, sagte der Pilot lächelnd. »Soll ich Sie anmelden?« Er griff zum Radiofon. »Vielen Dank, Drenth.« Kandagro, sein menschlicher Diener, erwartete ihn bereits sechs Stockwerke tiefer an der Wohnungstür. »Ihre Frau zieht sich gerade um«, meldete er. »Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie heute abend zum Essen bei Thalvan Dras in dessen Wohnung eingeladen sind.« Vall nickte. »Ich werde mit ihr darüber sprechen. Lege inzwischen meine Paradeuniform heraus – kurze lacke, Stiefel, Energiestrahler.« Der Diener trat in eine Nische, von der aus man die Ankleidezimmer erreichte. Er wandte sich nach rechts. Vall ging links in das Ankleidezimmer seiner Frau. »Hier bin ich!« rief Dalla aus dem Bad. Sie lag auf einer Couch und wurde von ihrer Dienerin Rendarra massiert. »Na, wie ist es dir ergangen?« fragte sie. »Ich habe eine eigene Abteilung bekommen. In jeder Dienststelle sitzt ein Verbindungsmann. Auf diese Weise werde ich sofort unterrichtet, wenn etwas geschieht. Was gibt es hier auf der Heimzeittangente. Ich habe die Nachrichten im Para-Zeit-Polizei-Hauptquartier verfolgt. Scheinen ja viele
Einzelheiten durchgesickert zu sein – Kholghoor Sektor, Kapuzenhändler und so weiter. Wie ist das passiert?« »Der Para-Zeit-Nahrungsmittelkonzern ist daran schuld. Sie haben heute eine Pressekonferenz abgehalten. Wahrscheinlich fürchten sie, man könne sie der Mitwisserschaft anklagen und wollten vor der Öffentlichkeit eine weiße Weste bewahren. Alle unsere Leute sind von dieser Zeittangente wieder abgezogen worden. Nur zwei Detektive blieben auf der Plantage zurück.« »Ich weiß.« Er lächelte. »Was ist mit dem Essen heute abend bei Dras?« »Oh, nichts leichter als das.« Dalla legte sich auf die Seite. »Ich rief Dras an und sagte ihm, unser Urlaub sei verschoben worden. Er lud uns zum Essen ein, ehe ich eine Andeutung machen konnte. Was wirst du anziehen?« »Paradeuniform. So kann ich auch bei Tisch eine Waffe tragen, ohne daß es auffällt. Ich halte es im Augenblick nicht für klug, unbewaffnet in der Öffentlichkeit aufzutreten – selbst hier auf der Heimzeittangente. Besonders auf der Heimzeittangente«, ergänzte er lächelnd.
Salgath Trod verließ sein Luftboot auf dem Dach des Hauses, wo er wohnte. Dann schickte er es in die Garage, wo der Roboter es parkte. Verstohlen warf er einen Blick nach oben, als er auf den Antigrav-Schacht zuging. Mindestens ein Dutzend Boote schwebte über dem Dach. Eines von ihnen konnte ihm ohne weiteres vom Para-Zeit-Gebäude bis hierher gefolgt sein. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß er beschattet wurde, seit der unbekannte Bote ihm den Befehl der Organisation überbracht hatte. Bis er morgen früh seine Ansprache hielt oder zu erkennen gab, daß er sich weigerte,
diese Ansprache zu halten, konnte er sich in Sicherheit wiegen. Dann aber… Er hatte in seinem Büro über seine Lage nachgedacht und sie Punkt für Punkt analysiert. Dann hatte er noch einmal von vorn angefangen und war zum gleichen Ergebnis gekommen. Die Organisation zwang ihn, eine Anklage zu erheben, von der er wußte, daß sie falsch war. Das war die Voraussetzung. Die Folge war: die Organisation würde ihn töten, sobald er seine Anklagerede gehalten hatte. Das war eben der Nachteil, wenn man sich mit solchen Leuten einließ. Man war austauschbar. Eines Tages stellten sie fest, daß man überflüssig war. Und war man überflüssig, dann… Aber was konnte man dagegen unternehmen? Eine Anklage in der Kammer gegen die Regierung, die Para-Zeit-Kommission oder eine Behörde dieser Kommission bedeutete so viel wie eine Anklage vor Gericht. Der Abgeordnete, der diese Beschuldigungen erhob, wurde automatisch zum öffentlichen Ankläger. Er mußte seine Anklage unter Narkohypnose wiederholen. Unter Narkohypnose würde aber die ganze Wahrheit herauskommen – angefangen vom ersten illegalen Handel mit indoturanischem Opium, das aus dem Khiftan Sektor abgezweigt und auf der Zweiten Ebene im luvarischen Kaiserreich Sektor verkauft wurde. Als nächstes käme der Schmuggel von radioaktiven Giften und schließlich die Sache mit den Sklaven. Er würde zwar nicht viele Namen nennen können – die Organisation schirmte ihre Zellen sorgfältig voreinander ab –, aber er wußte über alle Geschäfte der Organisation Bescheid, wo sie stattfanden, wann und in welchen Abschnitten des ParaZeitgefüge. Nein. Die Organisation würde dieses Risiko nie eingehen. Sie konnte die Gefahr bannen, indem sie Salgath Trod tötete, sobald er seine Rede gehalten hatte. Das ganze Gerede, man würde ihm Beweise zur Verfügung stellen, war reiner Unsinn.
Man wollte ihm nur Sand in die Augen streuen, damit er das Schlachthaus nicht sah. Sie würden ihn töten, damit seine Rede glaubhafter erschien. Sein Mörder würde zweifellos die grüne Uniform der Para-Zeit-Polizei tragen und selbstverständlich ihrerseits von einem weiteren Mörder umgelegt werden. Einer von seinen drei Dienstboten, ein schlankes braunes Mädchen, das Haushälterin, Gastgeberin und Geliebte zugleich war – empfing ihn an der Wohnungstür. Er küßte sie flüchtig auf die Wange und schloß die Tür hinter sich ab. »Du siehst müde aus«, sagte sie besorgt. »Ich werde Nindrandigro rufen, damit er dir eine Flasche Wein bringt. Inzwischen legst du dich hin und ruhst dich bis zum Essen aus.« »Nein, nein – ich brauche eine Flasche Brandy.« Er ging zur Bar, holte eine Flasche und ein Glas heraus und schenkte sich ein. »Wann ist das Essen fertig?« »In einer halben Stunde.« Salgath Trod trank und ging dann zu einem abstrakten Gemälde in Rot und Apfelgrün, das gerahmt an der Wand hing. Er schob es beiseite, hielt sein Identitätssiegel an die Tür des Safes, der dahinter lag, holte ein paar Banknoten heraus und drückte sie dem Mädchen in die Hand. »Hier, Zinganna, nimm. Geh mit Nindrandigro und Calilla heute abend aus. Kommt nicht vor Mitternacht zurück. Vertreibt euch die Zeit so angenehm wie möglich. Ich muß heute nacht noch etwas Dringendes erledigen und will nicht gestört werden. Ich werde mich um das Abendessen selbst kümmern. Und halte mir die anderen Diener vom Leibe. Du kannst das Geld bis auf den letzten Rest verbrauchen.« Das Mädchen zählte die Banknoten. »Oh, vielen Dank, Trod!« Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn stürmisch. »Ich werde es den anderen sagen!« »Und amüsiere dich gut, Zinganna.« Er umarmte sie noch einmal. »Und jetzt geh – ich muß mich auf meine Arbeit konzentrieren.« Als sie das Zimmer verlassen hatte, goß er sich
noch einen Brandy ein. Er zog seinen Energiestrahler aus dem Schulterhalfter und überprüfte ihn. Er schaltete die Fensterabschirmung ein und die äußeren Beobachtungsschirme. Er zündete sich eine Zigarre an, legte die Waffe vor sich auf den Tisch und wartete, bis das Hauspersonal die Wohnung verlassen hatte. Es gab nur einen Weg, um die Sache lebend zu überstehen. Das wußte er. Er goß sich noch ein Glas Brandy ein. Es gehörte viel Mut dazu, sich zu stellen. Psycho-Rehabilitation war eine schreckliche Tortur. Ein Jahr lang würde er qualvolle Schmerzen aushalten müssen – sowohl körperlich wie auch geistig. Sie waren schlimmer als das Folterrad im Khiftan Sektor. Der Psychotherapeut würde seine intimsten Geheimnisse ans Licht zerren, und am Ende ging ein Mann aus den Qualen hervor, der nicht mehr Salgath Trod war, ihm auch nicht ähnlich, und er würde sich mit diesem Fremden vertraut machen und ein neues Leben beginnen müssen. Im Beobachtungsmonitor sah er die Tür zu den Dienstbotenzimmern. Sie ging auf. Zinganna kam heraus, im schwarzen Abendkleid und schwarzem Samtmantel. Hinter ihr Calilla, das Hausmädchen und Nindrandigro. Salgath Trod wartete, bis die drei im Antigrav-Schacht verschwanden. Dann stellte er das Visifon an, schaltete auf abhörsicheren Richtstrahl, tastete eine Kombination ein und wartete. Ein Mädchen mit grüner Uniformjacke blickte ihn vom Schirm an. »Para-Zeit-Polizei«, sagte es, »Büro von Polizeichef Tortha.« »Ich bin Abgeordneter Salgath Trod«, sagte er. »Ich bin seit fünfzehn Jahren in krimineller Weise mit der Organisation verbunden, die für den Sklavenhandel verantwortlich ist, der auf der Dritten Ebene im Esaron Sektor entdeckt wurde. Ich überstelle mich bedingungslos der Polizei. Ich erkläre mich bereit, ein narkohypnotisches Geständnis abzulegen und alle Folgen auf mich zu nehmen, die sich aus dem Geständnis
ergeben. Sie müssen mir Polizeischutz gewähren. Ich könnte zwar meine Wohnung allein verlassen, würde aber nicht lebend in Ihrem Hauptquartier eintreffen…« Das Mädchen hatte zuerst mit gelangweiltem Ausdruck zugehört. Doch jetzt sagte sie hastig: »Einen Moment, Abgeordneter Salgath. Ich werde Sie mit Chef Tortha verbinden.«
Das Essen wurde mit einer halben Stunde Verspätung serviert. Die Gäste warteten im Wohnzimmer und nippten an ihren Gläsern. Heute gaben nicht die Künstler den Ton an, die sonst bei Thalvan Dras eingeladen waren. Die meisten Gäste stammten aus Politik oder Wirtschaft. Thalvan Dras hatte Vall und Dalla in ein Gespräch verwickelt. Brogoth Zaln, sein Privatsekretär, und Javrath Brend, sein Finanzberater, hörten zu. »Ich sehe gar nicht ein, weshalb man so viel Trara macht«, sagte ein Bankier, der zu ihrer Gruppe stieß. »Schließlich waren diese Leute auf ihrer Zeittangente ebenfalls Sklaven, und im Esaron Sektor geht es ihnen bestimmt besser als in den Gefangenenlagern der Crouthas. Besteht da überhaupt ein Unterschied zu unseren eigenen Methoden? Wir verschleppen doch auch die Primitiven von der Vierten Ebene auf die Fünfte, wo sie für uns arbeiten müssen.« »Trotzdem besteht da ein wesentlicher Unterschied, Farn«, widersprach Javrath Brend. »Wir holen diese Leute von der Vierten Ebene aus einer steinzeitlichen Umwelt heraus und transponieren sie auf unsere eigene Fünfte Ebene, deren Zeittangenten ja zum großen Teil nichts anderes sind als Verlängerungen unserer Heimzeittangente. Das Transpositionsgesetz für das Para-Zeitgefüge wird auf diese Weise also in keinem Fall verletzt.
Außerdem brauchen wir Arbeitskräfte für Aufgaben, die Denkvermögen und Entscheidungsfreiheit verlangen. Roboter können nicht überall eingesetzt werden.« »Würden die Eingeborenen im Esaron Sektor ihre Sklaverei nicht mit den gleichen Gründen rechtfertigen wie wir?« fragte eine Dame, die zur gemäßigten Linken in der Kammer gehörte. »Nein, das können sie nicht«, gab Dalla zur Antwort. »Die Menschen, die wir auf die Fünfte Ebene holen, werden nicht geschlagen, gefoltert oder gefesselt. Sie werden nicht von ihren Familien oder Freunden getrennt. Wenn wir Arbeitskräfte auf der Vierten Ebene rekrutieren, nehmen wir ganze Stämme. Sie kommen freiwillig zu uns. Außerdem…« Einer von Thal van Dras’ schwarzgekleideten Dienern, der von der Vierten Ebene stammte, ging auf Vall zu. »Ein Visifonruf für Sie«, flüsterte er. »Polizeichef Tortha Karf ist am Apparat. Wenn Sie mir bitte folgen wollen…« In einer Schirmzelle vor dem Wohnzimmer blickte ihn Tortha Karf von der Mattscheibe an. Er saß hinter seinem Schreibtisch und spielte mit einem Stift. »Hallo, Vall. Wir haben eine interessante Neuigkeit.« Er sprach mit einstudierter Gelassenheit. »Ich kann hier nicht weiter darüber sprechen. Ich schicke dir ein Lufttaxi. Bring Dalla auch mit. Ich bin davon überzeugt, es wird sie ebenfalls interessieren.« »In Ordnung. Wir warten auf dem Dach.« Dalla war noch mitten in der Unterhaltung. Sie erläuterte die Methoden der Kapuzenmänner und berichtete von dem Kindermord. In diesem Moment trat Vall auf den Gastgeber zu. »Dras, es ist einfach schrecklich«, sagte er seufzend. »Das ist schon das zweitemal, daß Dalla und ich aufbrechen müssen. Sei uns bitte nicht böse. Polizisten und Ärzte müssen jederzeit abrufbereit sein – sind gezwungenermaßen unzuverlässige
Gäste. Denkt an uns, wenn ihr die Tafelfreuden genießt. Wir beide müssen uns wahrscheinlich mit einem Becher Kaffee zufrieden geben.« »Oh, ihr Bedauernswerten!« sagte Thalvan Dras. »Es tut mir ebenfalls schrecklich leid. Wir haben uns alle so darauf gefreut – Brogoth! Holen Sie ein Luftboot aus der Garage!« »Nicht nötig, ein Polizeiboot holt uns ab. Es landet wahrscheinlich in diesem Augenblick auf dem Dach«, sagte Vall. »Gute Nacht. Dalla – kommst du?« Sie mußten zwei Minuten warten, ehe das grüne Polizeiboot landete und über die regennasse Landefläche glitt. Sie liefen darauf zu; Vall half Dalla auf den Rücksitz und zog die Kabinentür zu. Erst dann erkannte er Tortha Karf, der in der Ecke kauerte. Er hielt den Finger an die Lippen und wartete so lange, bis das Boot wieder über der Stadt schwebte. »Ich Wollte euch so rasch wie möglich persönlich ins Bild setzen«, sagte er. »Deine Vermutungen über Salgath Trod haben sich bestätigt. Ein paar Minuten vor meinem Anruf stellte er sich als Zeuge zur Verfügung. Er sagte, dieser Skavenhandel sei das Werk einer Vereinigung, die er ›Organisation‹ nennt. Er habe seit Jahren Befehle von dieser Organisation entgegengenommen. Auch sein Angriff auf die Regierung und der Mißtrauensantrag wurden von der Führung der Organisation befohlen. Jetzt ist er überzeugt, daß sie ihn zwingen wollen, falsche Anklage gegen die Para-Zeit-Polizei zu erheben. Anschließend würden sie ihn ermorden, damit er seine Anklage nicht unter Narkohypnose wiederholen muß. Deshalb hat er sich der Polizei gestellt und möchte als Zeuge in Schutzhaft genommen werden.« »Wieviel weiß er über die Organisation?« fragte Vall. »Wohl nicht so viel, wie er behauptet. Aber er möchte natürlich seinen Kurswert in unseren Augen hinaufschrauben. Trotzdem – ein Mann von so großem politischen Einfluß müßte eine ganze
Menge wissen. Außerdem ist er seit fünfzehn Jahren in die Machenschaften dieser Organisation verwickelt.« »Wir können ihn vor seiner eigenen Bande schützen. Aber wird er auch die Psycho-Rehabilitation umgehen können?« »Nein. Er weiß das. Er ist bereit, sich dieser Behandlung zu unterziehen. Er scheint wirklich zu glauben, daß ihm sonst nur die Wahl bleibt, von seinen Auftraggebern ermordet zu werden. Er wird wohl recht haben.« Die grünen Türme des Para-Zeit-Gebäudes ragten unter ihnen auf, in helles Flutlicht getaucht. Das Luftboot neigte sich nach unten und hielt auf eine Landefläche zu. »Warum opfern die einen wertvollen Komplizen wie Salgath Trod, um eine fadenscheinige Anklage gegen uns vorzubringen?« fragte Vall kopfschüttelnd. »Ha, das haben wir dem glänzenden Einfall unserer neuen Mitarbeiterin zu verdanken!« lachte Tortha Karf und nickte Dalla zu. »Heute morgen hat Zortan Harl den dringenden Antrag eingebracht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der das Büro für psychologische Hygiene unter die Lupe nehmen soll. Der Antrag wurde angenommen. Dies ist die Antwort darauf. Die Organisation hat Angst. Wie Dalla vorhersagte, will sie verhindern, daß wir herausfinden, auf welche Weise Leute mit potentiellen kriminellen Anlagen durch die Maschen der Psychotests schlüpfen konnten. Salgath Trod wird jetzt geopfert, um unsere Ermittlungen zu blockieren oder zu verzögern.« Vall nickte. Sie waren inzwischen gelandet. Wenn man auf die richtige Spur bei den Ermittlungen stieß, konnte man immer mit einem glücklichen Zufall rechnen. Sie stiegen aus. Das Boot glitt hinüber in die Bereitschaftshalle. Ja, das war endlich der Durchbruch. Egal, wie sorgfältig die Organisation ihre Zellen abgedichtet hatte – ein Mann wie Salgath Trod mußte eine Menge wissen. Er würde Namen nennen, und wenn
die Träger dieser Namen unter Narkohypnose verhört wurden, kamen weitere Namen ans Licht. Die Kettenreaktion der Geständnisse würde erst enden, wenn die letzten Namen verraten waren. Dicht vor ihnen war ein weiteres Polizeiflugboot gelandet. Drei Männer kletterten heraus. Zwei von ihnen trugen die grüne Uniform der ParaZeit-Polizei, der dritte trug Arbeitskleidung und war mit Handschellen gefesselt. Zuerst glaubte Vall, man habe Salgath Trod in Verkleidung hierhergebracht. Doch sofort erkannte er seinen Irrtum: der Gefangene war kurz und gedrungen und glich nicht im entferntesten dem schlanken, eleganten Politiker. Die beiden Männer, die den Gefangenen hierhergebracht hatten, unterhielten sich mit Leutnant Sothran Barth vor dem Antigra-Schacht. Während Dalla, Vall und Tortha Karf über die Landebahn gingen, hob das Flugboot wieder ab. »Die kommen gerade vom Industriesektor Zwanzig-Vier, Chef«, meldete Leutnant Sothran. »Ist etwas für Verkan Valls Abteilung.« »Der Gefangene ist ein Prole namens Yandragno«, erklärte einer der Beamten, die den Gefangenen begleitet hatten. »Die Gendarmerie im Industriesektor hat ihn aufgegriffen, als er Höllenkraut-Zigaretten vom Mars an die Mädchen in einer Textilfabrik im Kangabar-Äquivalent verkaufen wollte. Captain Jamzar vermutet, er hat sie von einem Mittelsmann der Organisation gekauft.« Irgend etwas stimmte hier nicht, dachte Verkan Vall. Zuerst konnte er nicht sagen, was ihn stutzig machte. Er musterte die beiden Polizisten und ihren Gefangenen, konnte aber nichts Verdächtiges an ihnen entdecken. Dann kam ein drittes Flugboot herunter. Die Kabinentür öffnete sich, und ein Polizeioffizier sprang heraus. Als nächster folgte ein elegant gekleideter Zivilist. Vall erkannte sofort Salgath Trod. Noch ein Polizist kletterte aus
der Kabine. Erst jetzt wurde Vall klar, was seinen Verdacht erregt hatte. Erst vor einer halben Stunde hatte Salgath Trod zum erstenmal den Begriff Organisation erwähnt. Vorher hatte die Para-Polizei diesen Begriff noch nie gehört. Wenn die Polizisten echt gewesen wären, hätten sie vor einer halben Stunde noch im Transporter gesessen, auf dem Wege vom Industriesektor zwanzig-vier auf der Fünften Ebene hierher auf die Erste Ebene. Seine Hand zuckte zum Schulterhalfter. Er zog den Energiestrahler, als die Ereignisse sich überstürzten. Die Handschellen fielen von den Gelenken des Gefangenen. Er riß einen schweren Neutronenstrahler unter seiner Jacke hervor. Vall, der seinen Strahler inzwischen entsichert hatte, tötete den Mann, ehe er die Waffe in Anschlag bringen konnte. Aber auch die falschen Polizisten hatten ihre Strahler gezogen und zielten in Salgath Trods Richtung. Man sah keine Mündungsblitze, hörte keinen Knall. Nur das Licht, das im Visier aufblitzte, zeigte dem Schützen, daß sich die Waffe entlud. Es blitzte zum zweitenmal in Verkan Valls Visier auf, als er den linken Polizisten im Fadenkreuz hatte. Dann starrte er genau in die Waffe des zweiten Polizisten. Wahrscheinlich war das der letzte Eindruck, den er aus diesem Leben mitnehmen würde. Er versuchte, seinen Strahler herumzuschwenken. Die Zeit stand still. Seine Arme waren wie Blei. Dann bewegte sich etwas Bläuliches, Schimmerndes vor ihm – Dallas Mantel –, und der Strahler wurde dem als Polizist verkleideten Mörder aus der Hand geschlagen. Die Zeit faßte wieder Tritt, hatte ihren normalen Rhythmus. Vall ließ seine Waffe fallen und rannte. Mit den Fingern der Linken packte er den Mann in der grünen Uniform bei der Nase, die Rechte setzte er ihm hart in die Magengrube. Der Mann riß den Mund auf. Eine grüne Kapsel flog heraus – so groß wie eine Bohne. Er versetzte dem Mann einen Leberhaken und einen
Handkantenschlag ins Genick. Der falsche Polizist blieb bewußtlos auf der Landebahn liegen. Vall bückte sich und hob vorsichtig mit einem Papiertaschentuch die ausgespuckte Kapsel vom Boden auf. Sie war unbeschädigt. Er wickelte sie in das Taschentuch ein und sah sich um. Die anderen beiden Attentäter waren tot. Tortha Karf beugte sich über sie, drehte sich um und fluchte. Vall folgte seinem Blick. Der Polizeioffizier, der zuerst aus dem Flugboot gestiegen war, war tot. Desgleichen ihr wertvoller Kronzeuge, der Abgeordnete Salgath Trod. Wie Nebu-hin-Abenoz, einhunderttausend Para-Jahre von hier entfernt, war auch Trod vor den Augen der Polizei ermordet worden… All das hatte sich innerhalb von dreißig Sekunden abgespielt. Dalla ließ ihre Schultertasche, mit dem sie dem Attentäter den Strahler aus der Hand geschlagen hatte, fallen und bückte sich nach der Waffe. Vall hob seinen eigenen Strahler auf, betrachtete ihn prüfend und steckte ihn ins Schulterhalfter. Sothran Barth, der Leutnant vom Dienst auf dem Landefeld, rief Befehle. Bereitschaftspolizisten stürzten aus dem Gebäude und kletterten in die startklaren Luftboote, um das Flugboot zu verfolgen, mit dem die Attentäter gelandet waren. »Barth!« rief Vall, »haben Sie eine Injektionsspritze und eine Schlafmittelampulle in Ihrer Tasche? Geben Sie diesem Kerl eine Spritze. Er ist nur betäubt. Gehen Sie vorsichtig mit ihm um. Er ist ein wichtiger Zeuge.« Er sah sich auf dem Landefeld um und seufzte. »Leider der einzige Hinweis, der uns geblieben ist.« Er bückte sich, um Dalla beim Aufheben des Inhalts ihrer Handtasche zu helfen. Sothran Barth gab indessen dem bewußtlosen Attentäter eine Injektion. Dann ging der Leutnant zu dem Toten in der grünen Uniform und öffnete ihm den Mund. Darin hatte er ebenfalls eine Giftkapsel, die noch
unversehrt war. Tortha Karf sah dem Leutnant zu, wie er das Beweisstück vorsichtig aus dem Mund des Toten entfernte. »Offenbar aus dem gleichen Stall wie die drei Mörder im Esaron Sektor, die den Sklavenhändler erstachen«, sagte er. »Gleiche Arbeitsmethode.« Der Tote in Zivil mußte die Kapsel bereits zwischen den Zähnen gehabt haben, als ihn der Energiestrahl tötete. Die Kapsel war zerbrochen, Zunge und Zähne waren verfärbt. Ein Detektiv kam aus dem Bereitschaftsraum und wandte sich an Tortha Karf: »Visifonruf für Sie. Ein Redakteur vom Nachrichtenfunk. Er möchte gern eine Stellungnahme von Ihnen. Er bekam gerade einen Wink, daß Sie den Abgeordneten Salgath in Gewahrsam genommen und heimlich seine Wohnung durchsucht haben.« »Da steckt die Organisation dahinter!« sagte Vall. »Sie wissen nicht, ob das Attentat geglückt ist. Sie hoffen von uns zu erfahren, ob es ihre Mörder geschafft haben.« »Keinen Kommentar«, winkte Tortha Karf ab. »Sagen Sie in der Vermittlung Bescheid. Keine Stellungnahmen. Aber« – er sah auf die Uhr – »um 2330 geben wir eine Presseerklärung heraus. Bis dahin können wir uns auf eine Linie einigen. Leutnant Sothran! Sie übernehmen jetzt wieder das Landefeld! Schaffen Sie die Leichen weg. Kein Wort von diesem Zwischenfall darf nach außen dringen! Totale Nachrichtensperre. Vall und du, Dalla – ihr kommt mit hinunter in mein Büro.«
Verkan Vall und Dalla saßen in Karfs Büro. Vall diktierte seine Anweisungen in die Sprechanlage und unterhielt sich nebenbei über Visifon mit dem Detektiv, der in Salgath Trods Wohnung zurückgeblieben war. Tortha Karf kam herein und nickte Dalla und Vall zu. »Der Gefangene steht noch unter
Drogeneinfluß«, sagte er. »Ein paar Stunden lang bleibt er vernehmungsunfähig. Die Psychotechniker wollen ihn erst ausschlafen lassen, ehe sie ihn in Hypnose versetzen.« »Die Beamten in Salgaths Wohnung meldeten, daß seine Hausdame und die beiden Dienstboten gegen 1830 die Wohnung mit dem privaten Transporter verlassen haben. Sie sind im Versorgungssektor Eins-Sechs-Fünf. Dort befindet sich ein Erholungs- und Freizeitzentrum. Salgath muß seinem Hauspersonal Urlaub gegeben haben, ehe er Sie anrief.« Tortha Karf nickte. »Ich nehme an, du läßt die drei gerade festnehmen. Die Journalisten bombardieren mich mit Anfragen. Ich mußte sie mit einer vorläufigen Erklärung beruhigen. Salgath Trod wurde nicht verhaftet, kam freiwillig ins Hauptquartier und wird von uns nicht unter Druck gesetzt. Er kann sich frei bewegen.« »Das wird ihm schwerfallen«, sagte Vall. »Haben Sie ihnen das auch verraten, Chef?« »Nein«, sagte Karf mit saurem Gesicht. »Wenn ich nur wüßte, was ich ihnen überhaupt sagen soll, wenn die Stunde der Wahrheit kommt!« »Wir werden Salgaths Tod so lange verschweigen, wie es irgend geht«, antwortete Vall. »Die Organisation weiß bestimmt nicht, was sich hier abgespielt hat. Wir müssen sie überzeugen, daß der Abgeordnete noch lebt und freiwillig aussagt.« »Wie wollen wir das anstellen?« »Vielleicht finden wir jemand in der Truppe, der in anthropometrischer Hinsicht Salgath Trod so sehr ähnelt, daß unsere Kosmetiker einen Doppelgänger aus ihm machen können. Wir behaupten einfach, Salgath befindet sich im Polizei-Terminal und wird narkohypnotisch verhört. Sobald er aus der Narkohypnose erwacht, veranstalten wir eine audiovisuelle Konferenz mit ihm. Damit gewinnen wir Zeit, einen
Doppelgänger zu präparieren. Wir brauchen dazu natürlich Tonbänder mit Salgath Trods Stimme. Seine Reden vor der Kammer und so weiter…« »Gut. Ich werde mich darum kümmern. Sobald du einen Doppelgänger gefunden hast, bereitest du ihn für die Pressekonferenz vor. Mal sehen, wer uns in dieser Sache helfen kann. Lovranth Rolk natürlich. Er sitzt in der Überwachungsabteilung.«
Verkan Vall, Dalla, Tortha Karf und vier andere Beamte beobachteten den Schirm am anderen Ende des Raumes. Die Nachrichten waren eben gesendet worden. Das Bild einer Ansagerin erschien. »Es folgt jetzt eine Erklärung des Chefs der Para-Zeit-Polizei, die er uns für die Spätnachrichten versprochen hat. Sie wurde vor wenigen Stunden im Para-ZeitPolizeipräsidium audio-visuell aufgezeichnet.« Tortha Karfs Gesicht erschien auf dem Schirm. Er berichtete, wie der Abgeordnete Salgath Trod ihn im Hauptquartier angerufen und sich der Mittäterschaft an dem vor kurzem aufgedeckten Sklavenhandel im Para-Zeitgefüge beschuldigt hatte. »Es folgt jetzt eine Aufzeichnung von dem Gespräch, das ich mit Salgath über Visifon um 1945 führte. Um diese Zeit befand sich der Abgeordnete noch in seiner Wohnung.« Dann sah man Salgath Trod hinter seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Das Glas und der Energiestrahler auf der Tischplatte waren deutlich zu erkennen. Er begann zu sprechen. »Soweit das Gespräch, das der Abgeordnete Salgath mit mir führte«, sagte Tortha Karf, dessen Gesicht jetzt wieder auf dem Bildschirm gezeigt wurde. »Es schloß sich ein Bericht des Abgeordneten Salgath über die verbrecherischen Handlungen an, an denen er teilgenommen hatte. Da er dabei eine Anzahl
von Namen nannte, können wir diesen Teil des Gesprächs nicht senden, um unsere Ermittlungen nicht zu gefährden. Wir wollen die Verdächtigen nicht warnen oder ihren Komplizen Gelegenheit geben, diese Verdächtigen rechtzeitig mundtot zu machen. Wir haben es mit außerordentlich rücksichtslosen Verbrechern zu tun, die heute bereits auf dem Landefeld des Hauptquartiers ein Attentat auf den Abgeordneten Salgath verübten, um seine Aussage zu verhindern. Es gelang uns, die Attentäter zu töten…« Die Schilderung der Ereignisse wich nur in zwei Punkten von der Wahrheit ab: die drei Attentäter waren getötet worden, ehe sie ihren Auftrag durchführen konnten. Man zeigte ein Bild der drei Attentäter auf dem Landefeld des Hauptquartiers. Sie sahen alle drei wie Leichen aus, obwohl einer von ihnen nur betäubt war. Es folgten Nahaufnahmen der drei Gesichter. »Wir nehmen an, daß diese Männer von der Fünften Ebene stammen. Sie handelten wahrscheinlich unter hypnotischem Einfluß oder gehorchten posthypnotischen Befehlen, als sie den selbstmörderischen Überfall ausführten. Falls jemand diese Männer schon einmal gesehen hat, ist es seine Pflicht, die Para-Zeit-Polizei sofort davon in Kenntnis zu setzen.« Damit war die Sendung beendet. Tortha Karf schaltete mit einem Knopfdruck den Schirm aus und lehnte sich zurück. »Man kann nicht aufrichtig genug sein, wenn die Öffentlichkeit Aufklärung verlangt«, meinte Della sarkastisch. »In fünf Minuten ist die Hölle bei uns los«, sagte einer von den Abteilungsleitern. »Ich halte das für einen verrückten Einfall.« »Hoffentlich haben Sie jemand gefunden, der einen überzeugenden Doppelgänger spielen kann«, sagte Lovranth Rolk. »Ja. Einen Agenten vom Außendienst namens Kostran Galth«, antwortete Tortha Karf. »Wir haben alle
Personalangaben der Truppe durch den Computer gejagt. Kostran erfüllt nahezu alle Voraussetzungen. Er befindet sich bereits im Polizei-Terminal und kommt mit der Rakete vom Ravvanan-Äquivalent. Bis 1730 morgen wird alles für die Sendung bereit sein.« »Bis dahin kann er unmöglich Salgaths Stimme und Tonfall einüben«, sagte Dalla. »Die Kosmetiker werden ihn die meiste Zeit für sich beanspruchen.« »Wir haben genügend Tonbänder von seinen Reden und Konferenzen«, sagte Vall. »Unsere Phonetiker können sie in Silben und Laute aufspalten und zu neuen Wörtern und Sätzen zusammensetzen. Kostran wird mit seiner eigenen Stimme sprechen; wir synchronisieren mit den zusammengesetzten Wörtern ein. Ich habe Pol-Term bereits verständigt. Sie stellen das Band zusammen, sobald wir die Rede abgefaßt haben.« »Vielleicht kommen Sie damit durch, aber die Pleite ist um so größer, wenn wir hinterher zugeben müssen, daß Salgath heute dem Attentat doch zum Opfer fiel«, murmelte Zostha Olv, der Chefkoordinator. »Hoffentlich besitzen wir dann noch ein paar Trümpfe, die wir dem Publikum zeigen können.« »Richtig«, stimmte Tortha Karf ihm zu. »Vall – wie steht es mit den Ermittlungen im Kholghoor Sektor? Hat Ranthar Jard schon eine Zeittangente entdeckt, auf der die Kapuzenhändler operieren?« »Leider noch nicht«, antwortete Vall. »Bis jetzt hat er alle Möglichkeiten bis auf einen Subsektor eliminiert. Doch darüber besitzen wir nicht die kleinste Information. Neuland. Ranthar Jard hat alle seine Hagiologen eingesetzt. Sie werten alle Angaben aus, die sie von den Aklaven bekommen haben. Im Augenblick kann er nichts anderes tun als seine Luftaufklärer einsetzen.« »Und mindestens einhunderttausend Zeittangenten abgrasen«, meinte Zostha Olv sarkastisch. Er war ein alter
Mann, hatte eine dünne Nase und einen schmalen, bitteren Mund. »Und wonach sucht er eigentlich?« »Nach Crouthas mit Feuerwaffen«, sagte Tortha Karf. Er blickte Vall an. »Kann er den Kreis nicht enger ziehen? Vielleicht helfen ihm die Aussagen der Sklaven.« »Vielleicht«, sagte Vall und blickte auf die Uhr. »Ich werde sehen, was sich machen läßt. Ich transponiere zum PolizeiTerminal und rufe ihn von dort aus an. Skordran Kirv und Vulthor Tharn ebenfalls. Insgesamt wird das zwei Stunden dauern. Bis dahin tut sich hier sowieso nichts.« Er stand auf. »Wir sehen uns, wenn ich zurück bin.«
Während er zum Polizei-Terminal transponierte, schlief Verkan Vall. In Tortha Karfs Büro im Polizei-Terminal rief er den Nharkan-Äquivalent an. Der Abteilungschef, der Ranthar Jard in der Dienststelle vertrat, hatte einen Becher voll heißen Kaffee vor sich stehen. »Hallo, Verkan Vall! Soll ich Ranthar holen?« »Schläft er? Dann lassen Sie ihn schlafen. Wie weit seid ihr mit euren Ermittlungen?« »Nichts entdeckt. Die Crouthas haben inzwischen die Stadt Sokram eingenommen. Sie liegt gleich hinter der großen Flußschleife. Morgen werden wir den Marktplatz erkunden. Möglich, daß wir dort etwas entdecken.« »Die Kapuzenhändler könnten inzwischen ihr Lager vor der Stadt aufgeschlagen haben«, sagte Vall. »Schließlich müssen die Crouthas ja große Beute gemacht haben.« Vall unterbrach die Verbindung. Dann rief er den NovilanÄquivalent an der Westküste von Nordamerika an. Es war 1530 Ortszeit, als er mit Skordran sprach. »Was ist bei Ihnen inzwischen geschehen, seit Nebu-hin-Abenoz ermordet wurde?«
»Noch in der gleichen Nacht erkundeten wir mit einem Luftboot die Berge und Wälder östlich von Careba. Jagten einer Gruppe Caleras den heiligen Schrecken ihres Gottes Safar ein, weil wir in geringer Höhe flogen. Wir fanden die Stelle, wo der Transporter auf der Zeittangente austritt – ein Kreis von dreißig Meter Durchmesser, wo kein Gras und kein Strauch mehr wächst. Daneben einen Verschlag, in dem man so zweihundert oder dreihundert Sklaven unterbringen könnte. Der Verschlag ist in einem unbeschreiblich schmutzigen Zustand, muß aber in den letzten zehn Tagen nicht mehr benutzt worden sein. Anschließend haben wir von dem gleichen geographischen Ort auf über tausend Zeittangenten Luftaufnahmen gemacht. Dabei entdeckten wir noch dreißig Transporteraustrittstellen mit entsprechenden Sklavenunterkünften. Alle leer. Ich glaube, daß die Sklavenhändler alle Aktionen auf dem Esaron Sektor eingestellt haben – wenn auch nur vorübergehend.« Das hatte Vall bereits befürchtet. Hoffentlich trat der gleiche Fall nicht im Kholghoor Sektor ein. »Geben Sie mir die Zeittangenten durch, auf denen Sie die Transporteraustrittstellen entdeckten.« »Einen Augenblick. Ich übermittle Ihnen die Mikrofilme. Bereit zur Aufnahme?« Vall öffnete eine Klappe unter dem Schirm, überzeugte sich, daß das Aufnahmegerät eingeschaltet war, und nickte. »Das ist alles, was ich im Augenblick habe«, fuhr Skordran fort. »Soll ich meine Leute in Bereitschaft halten?« »Halten Sie sie einsatzbereit, Kirv«, erwiderte Vall. »Sie werden Sie bald brauchen. Rufe später wieder zurück.« Vall legte die Mikrokopie in einen Bildkopierer. Die Vergrößerung nahm er mit in den Transporterraum. Die Zeittangenten waren in Symbolen der Ersten Ebene
ausgedrückt – kurze Symbolgruppen, die unglaublich große Zahlen numerisch exakt wiedergaben.
Dalla hatte sich etwas zu essen bringen lassen. Die Abteilungsleiter waren verschwunden. Nur der Psychist, der den Gefangenen übernommen hatte, befand sich noch in dem Büro. »Die Wirkung der Droge läßt nach«, meldete er, »aber der Mann schläft noch. Er soll von selbst aufwachen, ehe wir ihn in die Mangel nehmen. Man wird mich rufen, wenn es soweit ist.« »Die Opposition behauptet, wir hätten Salgath betäubt und hypnotisiert, als er sein Geständnis ablegte«, sagte Dalla. »Geht das überhaupt? In der Narkohypnose kann ein Zeuge doch gar nicht lügen!« »Das kann er schon«, erwiderte der Psychist, »wenn man ihm eine Pseudoerinnerung eingibt. Doch dazu braucht man viel Zeit.« »Sind Sie in Mathematik bewandert?« fragte Vall den Psychisten. »Für meine Arbeit reicht es.« Vall reichte ihm die Kopie mit den Zeittangentensymbolen. »Erkennen Sie hier einen gesetzmäßigen Zusammenhang?« fragte er. Der Psychist betrachtete das Blatt. »Ja. Ich würde sagen, hier liegt so etwas wie eine geometrische Reihe vor.« Eine Stimme meldete sich im Lautsprecher der Sprechanlage: »Dr. Nentrov, Ihr Patient bewegt sich! Er wird jeden Moment aufwachen!« »Na also«, sagte der Psychist, »es ist soweit. Ich muß mich beeilen.« Er gab das Blatt Papier mit den Symbolen Vall zurück und eilte aus dem Zimmer.
Dalla nahm das Papier und betrachtete es. Vall erklärte ihr, was die Symbole bedeuteten. »Wenn diese Zeittangenten in einer mathematischen Reihe angeordnet sind, beziehen sie sich auf die Basis, von der die Operationen ausgehen«, sagte sie. »Vielleicht rechnet der Computer das für dich aus. Ich würde sagen, daß man zwischen den Sektorentangenten feste Intervalle eingeschoben hat, um die Transpositionseinstellung zu erleichtern.« »Daran habe ich auch schon gedacht. Vielleicht können wir aus den Differenzen die Basis errechnen. Allerdings scheint an dieser Stelle die Serie unterbrochen zu sein. Vielleicht ist das die Zeittangente, auf der Skordran Kirv die Sklaven entdeckt hat.« Er griff nach seiner Pfeife. Im gleichen Moment ertönte der Summer der Sprechanlage. »Verkan Vall hier.« Sothran Barths Stimme meldete sich im Lautsprecher: »Eben wurden die Hausangestellten von Salgath Trod eingeliefert, Sir. Wir haben sie festgenommen, als sie aus dem Haustransporter kamen. Ich glaube nicht, daß sie wissen, was inzwischen vorgefallen ist.« Vall drehte an einem Skalenknopf. Ein Monitor leuchtete auf und zeigte das Landefeld auf dem Dach. Das Polizeiboot war soeben gelandet. Ein Detektiv stand neben der Kabinentür und half dem Mädchen beim Aussteigen, das Salgath Trods Hausdame und Mätresse gewesen war. Sie war wirklich eine Schönheit, dachte Vall.
Das Mädchen saß bereits im Verhörzimmer. Der Detektiv nickte Vall zu, versuchte ein Grinsen zu unterdrücken, als er Dalla hinter Vall hereinkommen sah, und ging aus dem Raum. Vall wartete, bis seine Frau ebenfalls Platz genommen hatte, und holte sein Zigarettenetui aus der Tasche. Er reichte es herum.
»Sie sind Zinganna und gehören zum Haushalt des Abgeordneten Salgath Trod, nicht wahr?« fragte Vall. »Ich bin die Hausdame des Abgeordneten«, erwiderte das Mädchen. »Außerdem seine Mätresse.« Vall nickte. »Was nur wieder einmal den hervorragenden Geschmack des Abgeordneten Salgath beweist.« »Vielen Dank«, sagte sie. »Aber ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß man mich nicht hierhergebracht hat, um mir Komplimente zu machen – nicht wahr?« »Ich fürchte, da haben Sie recht. Haben Sie während der letzten Stunden die Nachrichten gehört?« Das Mädchen richtete sich auf und blickte ihn ernst an. »Nein.« »Nichts, was sich auf den Abgeordneten Salgath Trod bezog?« »Nein. Ich, Nindrandigo und Calilla verbrachten den Abend im Versorgungssektor Eins-Sechs-Fünf. Salgath sagte, er habe noch etwas Geschäftliches zu erledigen und wollte das Hauspersonal aus der Wohnung haben. Die Nachrichten haben wir nicht gehört.« Sie zögerte. »Ist… ist etwas… Schlimmes passiert?« Vall betrachtete sie einen Moment. Dann wechselte er einen Blick mit Dalla. Dallas Sympathie für das Mädchen spürte er sofort. »Zinganna, ich werde Ihnen etwas verraten, was die Öffentlichkeit noch nicht weiß«, sagte er. »Wenn ich Ihnen das verrate, bin ich gezwungen, Sie hier für ein paar Tage festzuhalten. Ich hoffe, Sie werden mir das verzeihen. Wenn ich Ihnen die Wahrheit vorenthalten würde…« »Ihm ist etwas zugestoßen«, unterbrach sie ihn. »Ja, Zinganna. Gegen 2010 heute abend wurde auf den Abgeordneten Salgath ein Attentat verübt.« »Oh!« Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Er ist tot?« Dann die Feststellung: »Er ist tot!«
Lange saß sie so zurückgelehnt auf dem Stuhl, als müsse sie sich erst in der neuen Lage zurechtfinden, sich mit diesem Gedanken vertraut machen, während Dalla und Vall sie schweigend beobachteten. Dann erschauerte sie, betrachtete die Zigarette in ihrer Hand, als wisse sie nicht, wie sie dorthin gekommen war, und warf sie in den Aschenbecher. »Wer hat das getan?« fragte sie. »Die Leute, die ihn mit ihren Waffen töteten, sind ebenfalls tot«, sagte Vall. »Aber wir suchen noch die Leute, die den Befehl zu seiner Ermordung gaben. Ich hoffte, sie könnten uns vielleicht dabei helfen, Zinganna.« Wieder warf er einen Blick auf Dalla. Sie nickte nur. Die Beziehung zwischen Salgath Trod und Zinganna basierte eben nicht nur auf dem Abhängigkeitsverhältnis der Dienerin zu ihrem Herrn. Hier war echte Liebe mit im Spiel. Er erzählte dem Mädchen, was sich zugetragen hatte. Als er berichtete, daß Salgath Trod am Visifon seine Mittäterschaft am Sklavenhandel zugegeben hatte, nickte sie mit zusammengepreßten Lippen. »Ich fürchtete schon, es müsse so etwas sein«, sagte sie. »Seit diese Geschichte aufgedeckt wurde, war er immer so eigenartig – nervös, zerfahren. Ich hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht, daß jemand ihn unter Druck setzte. In der Vergangenheit tat er oft Dinge, die seinem persönlichen Interesse oder seiner politischen Karriere schadeten. Ich glaube, man zwang ihn zu diesen Handlungen. Diesmal gingen sie mit ihren Forderungen wohl zu weit.« Vall setzte seinen Bericht fort. »Wir behalten die Wahrheit vorläufig für uns. Wir verbreiteten, Salgath Trod sei noch am Leben und würde im Polizei-Terminal unter Narkohypnose vernommen.« Sie lächelte bitter. »Das wird seinen Hintermännern zu schaffen machen.« Ihr Lächeln wurde
verächtlich. »Sie bekommen Angst. Und ängstliche Männer machen Fehler. Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen?« »Verraten Sie uns alles, was Sie wissen«, sagte Vall. »Vielleicht können wir aufgrund Ihrer Aussage Verhaftungen vornehmen.« »Ja, ich verstehe.« Sie nahm sich noch eine Zigarette aus dem Etui, das Vall auf den Tisch gelegt hatte. »Trotzdem sollten Sie mir vielleicht lieber eine Narkohypnose geben. So können Sie sich auf alles verlassen, was ich aussage – und ich bin sicher, daß ich nichts vergesse.« Vall nickte und wendete sich Dalla zu. »Kannst du das in die Hände nehmen, Dalla?« fragte er. »Ein audiovisuelles Aufzeichnungsgerät läuft bereits. Alles andere findest du hier.« Er öffnete eine Tischschublade. »Wir sehen uns, wenn du mit dem Verhör fertig bist. Du bringst dann Zinganna zum Polizei-Terminal. Dort werde ich vermutlich auch sein.« Er verließ das Zimmer. Als er das Büro des Chefs betrat, saß Tortha Karf hinter seinem Schreibtisch und malte Männchen. Das heißt, er zeichnete rote Ameisen mit schwarzen Beinen und blau-grüne Köcherfliegen. Nentrov Dard, der Psychist, saß ihm gegenüber und trank neunzigprozentigen Palm-Rum. »Keine Schonung. Heraus damit«, sagte Vall. »Die Erinnerungen des Knaben sind nicht echt«, murmelte Nentrov Dard und füllte sein Glas aus der Flasche nach. »Pseudogedächtnis. Mindestens zehn Schichten übereinander. Dauert eine Woche, bis wir das alles weggeschafft und die Blockierungen entfernt haben. Ich schläferte ihn wieder ein und schickte ihn zum Polizei-Terminal. Ich folge morgen früh nach. Aber wenn Sie sich darauf verlassen haben, daß Sie diesen Kerl auspumpen können, ehe die Regierung die Vertrauensfrage stellt, dann haben Sie Pech gehabt.«
»Und damit sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben – bei den Kapuzenmännern«, sagte Tortha Karf. Er malte eine große schwarze Spinne mit blauen Beinen. Nentrov Dard drückte seine Zigarre aus und stand auf. »Gute Nacht, Chef. Vall – . schick mir niemand vor 1000, um mich zu wecken, sonst verlierst du einen guten Mann – so oder so.« Er ging mit schleppenden Schritten zur Tür. »Die geben nicht auf«, sagte Vall. »Dort können wir sie immer noch schnappen. Sie haben jetzt die beste Gelegenheit, eine Menge Sklaven billig einzukaufen. Die Crouthas sind froh, wenn sie ihre Ware loswerden. Ich transponiere jetzt zum Pol-Term. Wenn Dalla und Zinganna fertig sind, sollen sie nachkommen.«
Im Polizei-Terminal wartete schon Kostran Galth auf ihn – Salgath Trods Doppelgänger. Vall ließ sich zuerst mit Zulthran Torv verbinden, dem Chefmathematiker, der die Computer unter sich hatte. Vall gab ihm die Esaron Zeittangenten durch und erläuterte, was Nentrov dahinter vermutete. Anschließend probte er eine Stunde lang mit Kostran Galth die Rolle, die dieser als Salgath Trod vor der Öffentlichkeit ausfüllen mußte. Dann zog er sich in den Raum hinter dem Büro zurück und legte sich auf die Couch. Es war bereits Mittag, als er wieder erwachte. Er wusch sich, rasierte sich und frühstückte am Schreibtisch, während er sich eine Leitung zum Nharkan-Äquivalent geben ließ. Ranthar Jard meldete sich. »Ihre Idee hat sich bezahlt gemacht«, sagte Jard. »Die Sklaven konnten uns eine Menge über gerodete Felder und neue Plantagen berichten – unter anderem, daß Lord Ghromdour einen neuen Damm bauen ließ, um Wasser für seine Reisfelder zu speichern. Bisher haben wir fünfzehn Aufnahmen vom Marktplatz in Sokram, auf denen Crouthas
mit Feuerwaffen zu sehen sind. Auch die Lager der Kapuzenhändler und Transporterlandestellen sind auf den gleichen Zeittangenten zu erkennen. Hier – ich zeige Ihnen eine Luftaufnahme vom Wald in der Nähe des SokramÄquivalent.« Als das Bild kam, war kein Dschungel zu sehen – nur Stahltürme, Landeflächen und Gebäude, die zu einer Transporterlandestelle gehörten. Die Aufnahme schien aus einem Luftboot gemacht worden zu sein, das in dreitausend Metern Höhe über dem Gebiet kreiste. Ranthar Jard nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Wir bekommen bestimmt noch mehr Aufnahmen mit den Beweisen, die wir brauchen…« »Geben Sie eine Liste Ihrer Zeittangenten an Zulthran Torv durch«, sagte Vall. »Alle Zeittangenten, auf denen Sie etwas entdeckt haben. Er arbeitet gerade an den ausgewerteten Zeittangenten des Esaron Sektors. Wir vermuten, daß alle Zeittangenten nach einem mathematischen Schlüssel ausgewählt wurden. Wir sehen uns in fünf Stunden wieder. Ich komme zu Ihnen, sobald noch ein paar Dinge hier geklärt sind.« Zulthran Torv war ein sehr zurückhaltender, zu Pessimismus neigender Charakter. Doch diesmal war er aufgeregt, als Vall ihn anrief. »Wir haben etwas entdeckt, Vall«, sagte er. »Dr. Nentrov hatte im Prinzip recht – jede Differenz zwischen den Zeittangentenkoordinaten ist ein sehr kleiner, aber genauer Bruchteil der Differenz zwischen kleineren Koordinaten und der Basistangente.« »Sie haben also die Basistangente ausgeknobelt?« fragte Vall. »Ja. Das wollte ich Ihnen gerade mitteilen. Wir knackten sie mit Hilfe der Esaron-Sektor-Koordinaten.« Er gab ihm den Wert der Basis-Zeittangente durch. »Alle Koordinaten…« Vall hörte gar nicht zu.
»Aber das ist doch gar keine Zeittangente von der Fünften Ebene«, sagte er. »Das ist eine Koordinate von der Ersten Ebene!« »Richtig. Erste Ebene – Abzar Sektor.« Vor zwölftausend Jahren war die Welt der Ersten Ebene ausgebeutet und zum Sterben verurteilt. Nachdem die Menschen vor einhunderttausend Jahren die Bodenschätze ihres Heimatplaneten Mars geplündert hatten, landeten sie auf der Erde und setzten dort ihr Zerstörungswerk fort. Die Vorfahren von Verkan Valls Rasse hatten die Gesetze von den parallelen Zeitwelten entdeckt und begann von diesem Tag an, unzählige neue Welten zu erschließen, die auf anderen Zeittangenten in der Wahrscheinlichkeit existierten. Die Bevölkerung des Dwarma Sektors auf der Ersten Ebene schmolz zu einem winzigen Rest zusammen. Sie verließen ihre Städte, gaben ihre Technologie auf und beschränkten sich auf eine Agrarkultur. Friedlich und genügsam lebten sie dahin – und jeder Tag war wie der andere. Für sie stand die Zeit still. Doch die Bewohner von Abzar taten weder das eine noch das andere. Sie hatten ihre Bodenschätze verbraucht. Mit Atombomben, dann mit Schwertern, Keulen und Speeren hatten sie sich bekämpft, bis sie schließlich ausstarben und eine wüste, verbrannte Erde zurückließen. Und in dieser Wüstenei standen riesige leere Städte, die selbst nach zwölf tausend Jahren noch nicht zerfallen waren. Trotzdem dachte niemand daran, diese toten Städte im Abzar Sektor zu besuchen. Dort gab es nichts zu holen oder zu suchen – es sei denn, man brauchte ein Versteck. »Gut, geben Sie die Basistangente an Ranthar Jard im Kholghoor Sektor durch. Auch an Skordran im Esaron Sektor, Novilan-Äquivalent.« Vall saß vor dem Leseschirm in Ranthar Jards Büro und reckte sich, daß die Schultergelenke knackten. Über eine
Stunde lang hatte er die Aufnahmen betrachtet, die seine Leute im Kholghoor-Nharkan-Sektor mit den Himmelsspionen in räumlichen Äquivalent von Sokram gemacht hatten. Eine Bildserie zeigte den Marktplatz der Stadt, aufgenommen aus einer Höhe von rund sechshundert Metern. Die Spuren der Plünderung waren deutlich zu erkennen. Gefangene wurden wie Tiere von den bewaffneten Crouthas zusammengetrieben. Mit der Vergrößerungseinrichtung holte er einzelne Gruppen der Eroberer heraus. Es waren große Männer mit blonden oder rotblonden Haaren, die Pluderhosen und lose Hemden trugen. Viele von ihnen hatten eiserne Helme auf, und alle hatten Langschwerter mit Parierstangen umgehängt. Interessant waren nur die Pistolen, die sie im Gürtel trugen, und die Musketen, mit denen etwa die Hälfte der Krieger ausgerüstet war. Die andere Bildserie zeigte die Lager der Kapuzenmänner mit den Transporterlandestellen. Für jedes Camp hatte man ein breites Oval aus dem Dschungel gebrannt, wahrscheinlich mit schweren Hitzestrahlern. Der Lagerplatz war mit Drahtzäunen umgeben. Leichtmetallbaracken standen darauf. Der Innenraum der gerodeten Flächen wurde von den Sklavenpferchen ausgefüllt. Von jedem Lager führte ein gerodeter Weg zu einem kreisrunden, verbrannten Fleck Erde im Dschungel. Auf zwei dieser Rodungen konnte Vall die Maschendrahtkuppeln der Transporter erkennen. Überall in den Lagern herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen. Ein paar von den Kapuzenmännern gehörten ohne Zweifel zur Zivilisation der Ersten Ebene. »Diese Burschen sehen aus wie Khiftans von der Zweiten Ebene«, sagte Vall. »Schicken Sie von jedem eine Vergrößerung zum Dhergabar-Äquivalent. Haben Sie schon von Zulthran Torv Nachricht bekommen?« »Ja. Abzar Sektor«, bestätigte Ranthar Jard. »Hätte nie gedacht, daß sie auf diese Gegend verfallen. Auf jeden Fall
wissen wir jetzt, wo wir die Burschen zu suchen haben. Ich habe meinen Operationsplan bereits ausgearbeitet, der nur noch Ihrer Zustimmung bedarf. Ich werde ihn dann sofort anlaufen lassen.« Er blickte auf die Uhr. »Die Pressekonferenz mit Salgath ist eben zu Ende gegangen. Eine Übertragung wird jede Minute auf unserer Zeittangente eintreffen. Wollen Sie die Sendung hier in meinem Büro sehen?« »Wir werden jeden Augenblick erfahren, wie unsere Pressekonferenz aufgenommen wurde«, sagte Tortha Karf und blickte auf die Uhr. »Ich muß sagen, das sah recht überzeugend aus«, meinte Zostha Olv, der Chefkoordinator. Das laufende Programm wurde unterbrochen, als habe jemand den Film mit der Schere abgeschnitten. Ein Ansager erschien auf dem Schirm. »Wir unterbrechen unser Programm, um eine wichtige Meldung durchzugeben. Die Salgath-Affäre hat eine sensationelle Wendung genommen. Sie hören einen Kommentar von Yandar Yadd…« Yandar Yadd erschien jetzt auf dem Schirm. »… angebliche Pressekonferenz, die der Abgeordnete Salgath im Polizei-Terminal gegeben hat und die vor einer Stunde auf der Heimzeittangente gesendet wurde. Ich habe zwar keine Ahnung, wer die Pressekonferenz gegeben hat – aber Salgath Trod war das bestimmt nicht!« »So ein Mist!« sagte Zostha Olv. »Er würde nie so etwas behaupten, wenn er es nicht beweisen könnte!« »… etwas Verdächtiges von allen Anfang auf«, fuhr der Reporter fort. »Also ging ich der Sache nach. Sie werden sich erinnern, daß der Schauspieler, der Salgath darstellte, sehr stark mit den Händen gestikulierte, wie es Salgath Trod auch immer zu tun pflegte. Einmal zeigte der Daumen direkt auf die
Kamera. Wir haben dieses Bild herausgeschnitten und zeigen es Ihnen jetzt noch einmal!« Er trat zur Seite. Im Hintergrund stand ein großer Bildschirm. Yandar Yadd drückte auf einen Knopf. Kostran Galth in der Rolle von Salgath Trod erschien auf dem Schirm, die rechte Hand von sich gestreckt. »Nun passen Sie auf. Ich werde die Vergrößerung ganz langsam einschalten, damit Sie klar erkennen, daß es sich immer um die gleiche Aufnahme handelt. Kamera näher!« Yandar Yadd bediente sich eines silbernen Zeigestocks, um seine Ausführungen anhand des Bildes dokumentarisch zu belegen. Die Vergrößerung konzentrierte sich jetzt auf den rechten Daumen – holte ihn heraus, bis er den ganzen Schirm ausfüllte. »Betrachten Sie diesen Daumen«, fuhr Yandar Yadd fort. »Jeder von Ihnen, dem die uralte Wissenschaft der Daktyloskopie geläufig ist, wird sofort erkennen, daß die Hautlinien – die für jeden Menschen charakteristisch sind – hier ein typisches Muster bilden. Man nennt so etwas eine Doppelschleife. Selbst mit der größten Einstellung, die uns hier noch möglich ist, können wir nicht jede Einzelheit herausholen; aber dieses Muster ist unverkennbar. Ich bitte Sie jetzt, sich diese Hautlinienzeichnung genau einzuprägen; während ich Ihnen einen anderen rechten Daumenabdruck zeige – diesmal die beglaubigte Fotokopie des rechten Daumens des echten Salgath Trod!« Die Vergrößerung verschwamm. Eine Karte wurde in das Bild geschoben und dann mit der Vergrößerungselektronik scharf eingestellt. »Sehen Sie sich diesen Daumen genau an. Er zeigt ein anderes Muster. Diese Form der Hautlinie nennt man einen gewölbten Bogen! Die Pressekonferenz war ein aufgelegter Schwindel!«
»Das genügt als Beweis!« sagte Zostha Olv. »Karf, ich habe mich gleich geweigert, bei dieser Sache mitzumachen! Und was tun wir jetzt?« »Ich schlage vor, wir fliegen so rasch wie möglich zum Hauptquartier«, sagte Tortha Karf. »Wenn wir zu lange warten, kommen wir gar nicht mehr bis dorthin.«
»Ich wünschte mir, wir hätten eine genaue Erkundung durchführen können«, sagte Ranthar Jard, der einen der Monitore beobachtete. Man zeigte einen Film vom Abzar Sektor. Ein Luftboot war auf eine Zeittangente des Abzar Sektors transponiert worden und hatte eine Schleife über den Ganges gezogen. Der Fluß war auf dieser Zeittangente nur ein spärliches Rinnsal zwischen tief eingeschnittenen Uferbänken, und das Land links und rechts war mit Dornenbüschen bewachsen. »Die Basis müßte eigentlich hier liegen; aber wir haben leider keine Vorstellung, welche Tarnung diese Burschen verwenden oder welche Veränderungen sie mit der Landschaft vorgenommen haben.« »Nun, das konnten wir nicht wagen. Das Risiko, daß sie uns entdeckt hätten, war zu groß. Das Kommandounternehmen muß den Überraschungseffekt ausnützen. Feste Gebäude werden wir sowieso nicht vorfinden. Die Basis wurde erst vor ein paar Monaten errichtet, als die Invasion der Crouthas begann. Benutzt wird sie höchstens vier oder fünf Monate, solange die Crouthas noch Sklaven im Überfluß anzubieten haben.« Vall deutete auf den Bildschirm. »Wenn die Regenzeit einsetzt, wird das ganze Tal überschwemmt. Sehen Sie nur, wie ausgewaschen der Boden ist. Da kann man nichts hinbauen, was man nicht in einem Tag wieder abreißen und auf eine andere Zeittangente transponieren kann.«
»Ich wünschte, ich könnte losschlagen«, murmelte Ranthar Jard. »Auch das geht leider nicht«, sagte Vall. »Sie kennen Ihre Leute besser als ich. Jemand muß in der Etappe das Kommando führen. Außerdem wird das nicht das letzte Kommandounternehmen werden. Für mich schon. In einem Monat sitze ich hinter dem Schreibtisch im Polizei-Terminal und darf nur noch Befehle unterschreiben.« Er schüttelte Ranthar Jard die Hand, der sich zur Schaltzentrale begab. Verkan Vall verließ die Kommandozentrale und ging auf die Maschendrahtkuppel seines Transporters zu. Die Mitglieder seines Stabes traten ihre Zigaretten aus und folgten ihm in den Transporter. Überall auf dem Gelände des Terminals wurden die Truppen über Lautsprecher aufgefordert, sich sofort an Bord ihrer Transporter zu begeben. Vall betrat die Kommandozentrale des Transporters. Auf einem Schirm konnte er die Kommandozentrale eines anderen Transporters erkennen, der jetzt an der Westküste Nordamerikas auf seinen Einsatz wartete. »Hallo, Verkan Vall!« kam es aus dem Lautsprecher. »Skordran Kirv will Sie sprechen!« Skordran Kirv stand jetzt vor dem Schirm in seiner Kommandozentrale in Novilan Äquivalent. »Hallo, Vall! Bei uns ist alles bereit. Wir können starten, sobald Sie den Befehl geben. Alle Transporter stehen auf Antigrav!« »Ausgezeichnete Arbeit«, sagte Vall anerkennend und nickte dem Mann auf dem Schirm zu. »Wir haben eben noch die letzten Gasbomben in unserem Netz aufgehängt. Jetzt gehen wir auf Antigrav!« Er spürte, wie sich sein Kommandotransporter in die Luft erhob. »Hoffentlich sind Sie nicht enttäuscht, wenn Sie drüben eine Niete ziehen, Skordran!«
»Wir wissen zwar, daß die Organisation den ganzen Esaron Sektor stillgelegt hat«, antwortete Skordran Kirv, achttausend Meilen entfernt, »aber wir werden trotzdem die Küste absuchen. Hier gibt es noch eine Menge Sektoren, wo man Sklaven verkaufen kann.« Auf dem Monitor konnte Vall beobachten, wie sein Transporter senkrecht in die Luft stieg. Auch die Truppentransporter nahmen jetzt ihre vorgeschriebenen Positionen in der Luft ein. »Skordran Kirv – wir sind so weit!« rief Vall und nahm ein zweites Handmikrofon vom Schaltpult. »Alles bereit zur Transposition?« rief er. »Auf mein Kommando: dreißig Sekunden… zwanzig Sekunden… fünfzehn Sekunden… fünf Sekunden… vier… drei… zwei… eins… los!« Alle Schirme erloschen mit einem Schlag. Das Innere des Kommandotransporters ging in ein anderes RaumZeit-Kontinuum über, in einen anderen Bereich der Raum-Zeit. Die Transposition würde eine halbe Stunde dauern, gleichgültig, eine wie große Zeit-Distanz der Transporter zurücklegte. Denn so lange dauerte es, bis das Kraftfeld aufgebaut wurde, die Zeitversetzung erfolgte und das Feld wieder abgebaut wurde. Der grüne Dschungel der unbewohnten Fünften Ebene hüllte sie ein. Ein Planet konnte recht gut allein zurechtkommen, dachte Vall, wenn man ihn in Ruhe ließ. Dann tauchten die Felder und Dörfer der Vierten Ebene auf. Städte wuchsen aus dem Boden und verschwanden wieder – dehnten sich bis zum Horizont aus, als sie die höher zivilisierte Dritte Ebene durchstießen. Eine der Städte wurde aus der Luft bombardiert. Eigenartig, daß man keine Transposition machen konnte, ohne irgendwo auf ein Schlachtfeld zu geraten. Vall und seine Männer zogen Raumanzüge an. Das Land unter ihnen verfärbte sich bereits. Es nahm die öden, ausgetrockneten braunen und gelben Farbtöne des Abzar
Sektors an. Von den anderen Transportern war noch keiner in Sicht. Das rote Licht in der Kuppel flackerte und schaltete dann auf Grün. Im gleichen Augenblick glühte wieder der Maschendraht und wurde festes Metall. Die Schirme leuchteten auf. Vall konnte Skordran Kirv erkennen – über Asien und den Pazifik hinweg –, wie er seinen Helm zuschraubte. Unter ihm schien sich ein leuchtender Punkt zu einem Kreis zu erweitern. Auch die Außenbordkameras arbeiteten wieder. Die Organisations-Basis lag unter ihm – riesige Rechtecke aus Stacheldraht, Baracken aus Metall, die riesige Kuppel des Transporter-Gebäudes für den Kholghoor Sektor, wo alle Transporter zusammenliefen, ein paar kleinere Gebäude daneben, von wo aus Transporter zu anderen Zeittangenten des Abzar Sektors abgingen, die Werkstätten und Unterkünfte, die Flugboothallen und Einkaufszentren, die Docks und die Arsenale – alles das war in den weiß-grünen Nebel des Schlafgases getaucht. Der Ring der Transporter auf neunhundert Meter Höhe spuckte jetzt seine Ladung aus: Luftboote, Luftpanzer und Truppen. Ein Luftboot, das sich im Augenblick der Ankunft der Polizeitruppen außerhalb der Reichweite des Schlafgases befand, versuchte zu fliehen. Drei Polizeiboote rasten hinterher. Die Neutronen-Werfer schleuderten blaue Blitze. Das flüchtende Luftboot löste sich in einem Atomblitz auf. Die drei Polizeiboote drehten ab und flogen langsam zurück. Das DreitausendtonnenPassagierschiff, das man in aller Eile in einen fliegenden Schlachtkreuzer verwandelt hatte, kreiste über dem Gelände. Das große Transporter-Dock, in dessen Bauch das Schiff die Zeit überbrückt hatte, war bereits wieder verschwunden. Es transponierte zurück zum Polizei-Terminal, um dort ein zweites Schiff zu übernehmen. Vall stieg in sein Luftboot und gab dem Piloten ein Zeichen. Das Boot erhob sich ein paar
Zentimeter über den Boden des Transporters, schwebte durch die offene Luke und dann nach unten… Es setzte neben dem großen Transporter-Gebäude auf. Es bot Platz für fünfzig Transporter, und bis auf acht waren alle hier. Ein Transporter mußte gerade erst eingetroffen sein; er war vollgeladen mit bewußtlosen Sklaven. Ein paar Para-Zeit-Polizisten zogen ein Schlafgas-Zelt über das Gelände. Die Polizisten schleppten die betäubten Männer, die zur Organisation gehörten, aus der Station, versiegelten sie und stellten Robot-Wächter mit Gaswerfern auf. Neben den Sklavencamps landeten jetzt die Transporter, die Truppen und Waffen ausgeladen hatten, und übernahmen die bewußtlosen Sklaven. Flugboote suchten nach betäubten Sklavenjägern. Die wurden mit Handschellen gefesselt und in den Sklavenunterkünften gesammelt. Sobald die Wirkung des Gases nachließ, würde man sie narkohypnotisieren und verhören. Vall hatte sich die Lagerhäuser angesehen. Da stapelten sich Pulverfässer, Blei und Schrot, Branntwein, Musketen, Schwerter, Messer und Streitäxte. Diese Waren mußte sich die Organisation zum Teil auf reguläre Weise beschafft haben: von Handelsgesellschaften und Firmen des Industriesektors. Auch Spiegel, billigen Schmuck und Tuche fand er hier. Diese Waren mußten mit einem Schiff von einem anderen Versorgungsdepot hierhergeschafft worden sein. Das Lagerhaus lag zu weit von den Transporter-Stationen entfernt. Vall betrachtete das Landedock neben dem Warenhaus. Irgendwo auf dieser Zeitlinie mußte sich also eine Nachschubbasis befinden… Eine gewaltige Explosion erschütterte die Mauern des Lagerhauses. Vall und seine Leute stürmten ins Freie. Einer von den Polizisten deutete in die Luft. Das DreitausendtonnenSchiff stürzte, brach in der Mitte durch. Ein fremdes Schiff –
ein Frachter – näherte sich rasch dem Gelände. Ein blauer Blitz zuckte aus seinem Bug. Wieder folgte eine Explosion – diesmal senkrecht über ihnen. Alles suchte Deckung. Valls Transporter löste sich in Metallteile auf, die wie heißer Hagel auf sie herunterregneten. Sofort verschwanden alle Transporter, die auf Antigrav über dem Gelände schwebten. Vall nickte. Das war die einzige Möglichkeit, sich dem verheerenden Feuer der Angreifer zu entziehen. Die Transporter änderten die Zeittangente. Aber jetzt waren er und seine Leute isoliert und den Angriffen der Gangster ausgesetzt…
»So war das also«, sagte Dalgroth Sorn, der Beauftragte der Regierung für Para-Zeit-Sicherheitsfragen. Er atmete erleichtert auf. »Ja«, sagte Tortha Karf, »und ich bin bereit, alles unter Narkohypnose zu wiederholen.« »Oh, nun übertreiben Sie nicht, Karf«, sagte Dalgroth Sorn vorwurfsvoll. Über hundert Jahre war er nun schon Tortha Karfs Vorgesetzter. Er sah aus wie ein alter Löwe, der an Verdauungsstörungen litt. »Sie wollten den Gefangenen so lange verstecken, bis sie sein Gedächtnis leergepumpt hatten. Gleichzeitig sollte die Organisation glauben, Salgath wäre noch am Leben und plauderte Geheimnisse aus. Ich bin mit beidem einverstanden. Aber…« Er deutete auf den Monitor in der Ecke des Raumes. Man sah die Rednertribüne in der Abgeordnetenkammer. »Ich bringe diesen Punkt zur Sprache«, sagte ein Abgeordneter der Regierungspartei, »weil die früheren Vorwürfe, wir würden illegale Verhaftungen vornehmen, mit den Vorwürfen gegen die Sendung gestern abend zusammenhängen…«
»Diese Sendung war eine Fälschung«, stichelte ein Abgeordneter der Linken. »Das Geständnis des Abgeordneten Salgath am Abend des Eins-Sechs-Zwei-Tages war keine Fälschung!« erwiderte Nanthav Skov, der Sprecher der Regierungspartei. »Weshalb war es dann nötig, die zweite Sendung zu fälschen?« Ein Licht flammte vor dem Pult des Präsidenten auf. »Ich erteile dem Abgeordneten Hasthor Flan das Wort«, sagte der Präsident. »Ich glaube, ich kann Ihnen Gründe dafür nennen, die jedem zu denken geben werden«, sagte Hasthor Flan eisig. »Als die Para-Zeit-Polizei den Abgeordneten Salgath verhörte – und zwar unter Narkohypnose –, beschuldigte er entweder die Para-Polizei als Ganzes oder ein paar hohe Beamte, die Tortha Karf unbedingt decken mußte. Ich denke da besonders an Verkan Vall. Also töteten sie Salgath und stellten einen Betrüger vor die Kamera…« Tortha Karf verfluchte in alphabetischer Reihenfolge alle Götter der Para-Zeit. Er war erst bei Gott Allah – eine Gottvaterfigur von der Vierten Ebene – angekommen, als ein rotes Licht vor dem Sessel des Präsidenten der Kammer aufleuchtete. Die Stimme eines Roboter-Pagen hallte durch den Verstärker: »Sondermeldung! Gegenstand von größter Wichtigkeit! Alle Nachrichtenschirme der Abgeordneten sofort einschalten mit Rückblende auf 1107. Eine wichtige Sondermeldung ist soeben von Nagorabar, Heimzeittangente, auf dem indischen Subkontinent eingetroffen!« »Sie können mit Ihrer Flucherei aufhören, Karf«, sagte Dalgroth Sorn lächelnd. »Ich glaube, das ist es!« Die erregte Stimme eines Reporters wurde eingeblendet: »Sie verhören immer noch. Das kann noch Stunden dauern. Es sind einfach zu viele Leute. Ich habe keine Ahnung, was diese Leute wissen. Ein Psychist sagte mir, alle erzählen ungefähr
die gleiche Geschichte. Und was das für eine Geschichte ist, kann ich vor Ihnen leider nicht wiederholen. Sie wissen, wieviel Unheil der Kommentar eines bekannten Kommentators angerichtet hat – ich will seinen Namen nicht nennen, und bin nur froh, daß er nicht zu meinem Nachrichtenfunk gehört –, deshalb halten wir uns um so strenger an unsere Schweigepflicht, um die Ermittlungen der Para-Zeit-Polizei nicht zu gefährden. Es gibt genügend anderes zu berichten. Sie haben miterlebt, wie das Schlachtschiff der Polizei von den Gangstern abgeschossen wurde. Kurz darauf traf das zweite Schlachtschiff vom Polizei-Terminal ein. Keine Sekunde zu früh. Es gelang der Polizei, die Abzar Stadt zu orten, das Zentrum der Verbrecherorganisation auf dieser Zeittangente. Von dieser Stadt aus wurde auch der Luftangriff gegen die Polizeitruppen geführt. Wie ich eben erfuhr, hat die Polizei die Stadt jetzt fest in der Hand. Ich glaube nicht, daß beim Verhör der Gefangenen, die man in der Stadt gemacht hat, viel herauskommt. Es ist fast unglaublich, wie sehr die Organisation ihre eigenen Leute im unklaren gelassen hat, von welchen zweifelhaften Elementen sie geleitet wird und welche Ziele sie verfolgt.«
Tortha Karf schloß die Geheimtür hinter sich und schickte einen Robot-Diener aus dem Zimmer, um Getränke zu holen. Verkan Vall nahm seinen Gürtel ab und sank mit einem Seufzer der Erleichterung in einen Sessel. Dalla blickte sich staunend um. »Das hast du nicht erwartet, wie?« fragte Vall lächelnd. »Jetzt gehörst du wirklich zu unserem Haufen. Niemand von der Truppe kennt diesen geheimen Schlupfwinkel des Chefs.«
Der Roboter kam mit den Gläsern und überreichte sie auf einem Tablett. Tortha Karf nahm seinen Drink. »Du behältst alle Truppen und Verbindungsstäbe, die du für dieses Unternehmen zusammengezogen und gebildet hast. Du wirst deine Truppe sogar noch vergrößern. Du verfolgst deine Ermittlungen weiter und greifst sofort ein, wenn neue Spuren auftauchen. Du kümmerst dich nicht um Routineangelegenheiten, sondern ausschließlich um Dinge, die mit der Verbrecherorganisation zusammenhängen. Ich fürchte, da hast du noch viel und lange zu tun.« »Ich habe gehört, daß Sie sofort einem Redner in der Kammer widersprachen, als er behauptete, wir hätten ein großes Verbrechersyndikat zerschlagen.« »Richtig; denn es ist nicht zerschlagen. Das dauert noch lange. Ich würde glücklich sein, wenn du dieser Organisation das Handwerk gelegt hast, sobald ich mein Amt in deine Hände lege. Und selbst dann wird es noch hier und dort isolierte Gruppen geben, die du ausheben mußt.« »Wir haben die Regierung und die Kammer jetzt auf unserer Seite«, sagte Vall. »Seit zweitausend Jahren war das die erste geheime Kabinettsitzung. Ich dachte, ich müsse tot umfallen, als ich hörte, man habe den Antrag angenommen, daß alle Abgeordneten und Regierungsmitglieder sich einem narkohypnotischen Verhör unterziehen sollten.« »Ein paar Abgeordnete und Regierungsmitglieder fallen bestimmt tot um, ehe sie verhört werden können«, prophezeite Dalla. »Es hat schon Tote gegeben«, sagte Tortha Karf ernst. »Ich habe hier eine Liste von einem Dutzend Abgeordneten, die tödliche Unfälle erlitten oder Selbstmord begangen haben. Manche verschwanden spurlos oder starben an unbekannten Ursachen, seit die Nachricht von dem Kommandounternehmen ausgestrahlt wurde. Vier von ihnen sah ich selbst aus der
Kammer rasen, als die Sondermeldung über die Schirme flackerte. Und noch viele andere gute Bekannte sind seitdem wie vom Erdboden verschluckt. Dazu gehört auch dieser Reporter Yandar Yadd. Habt ihr auch gehört, was wir aus den beiden Dienstboten von Salgath Trod herausbekommen haben?« »Nein«, sagte Dalla. »Sie waren Spione für die Organisation. Sie gaben ihre Beobachtungen an eine Dame namens Farilla weiter, die im Prole-Bezirk einen Wahrsagersalon unterhielt. Ihre okkulten Mächte haben sie nicht gewarnt, als wir Detektive los schickten, um sie zu verhaften. Es brachte uns eine Liste mit dreihundert Namen ein – alles Persönlichkeiten aus der Politik, der Industrie und dem öffentlichen Dienst. Die Dienstboten dieser Persönlichkeiten meldeten regelmäßig an diese Dame, was im Haus ihrer Herren vorging. Und diese Dame wiederum glaubte, sie arbeite für das Feuilleton eines Nachrichtendienstes.« »Aus demselben Grunde haben wir jetzt auch einen neuen Butler, Liebling«, unterbrach Vall seinen Chef. »Kandagro war als Spion auf uns angesetzt.« »Wie steht es mit den Operationen auf dem Abzar-Sektor?« fragte Tortha Karf. »Wir treten auf der Stelle. Der Sektor umfaßt ungefähr fünf Milliarden Zeittangenten. Hier scheint auch nicht der gleiche mathematische Schlüssel angewendet worden zu sein wie im Kholghoor und Esaron Sektor. Ich glaube, die Organisation hat sich hier auf einen dicht beieinanderliegenden Gürtel von Zeittangenten beschränkt und springt von einer Tangente zur anderen über eine Schaltzentrale auf der Fünften Ebene.« Tortha Karf nickte. Es war unmöglich, bei der Transposition weniger als zehn Para-Jahre zurückzulegen – oder
einhunderttausend Zeittangenten. Das Transpositionsfeld konnte einfach nicht rascher auf- und abgebaut werden. »Wir vermuten auch, daß diese Abzar-Zeittangente, die wir gesäubert haben, nur für den Sklavenhandel der Kapuzenmänner verwendet wurde. Nichts, was wir dort fanden, war älter als drei oder vier Monate. Und Skordran Kirv fand auf seiner Zeittangente überhaupt nichts – die Organisation hatte alles rechtzeitig abgebaut.« »Er soll sich jetzt auf die Täler des Mississippi, des Missouri und des Ohio konzentrieren«, sagte Tortha Karf. »Ich bin davon überzeugt, daß viele Sklaven an die Khiftans auf der Zweiten Ebene verkauft wurden.« »Sieht ganz danach aus, als ob unser Urlaub erst in ein paar Jahren stattfindet«, sagte Dalla seufzend. »Warum erholt ihr beide euch nicht auf meiner Plantage in Sizilien?« schlug Tortha Karf vor. »Sie liegt auf der Fünften Ebene, und auf dieser Zeittangente gehört die ganze Insel mir allein. Dort kann man euch auch rasch erreichen, wenn etwas Dringendes vorliegt.« »Auch nicht schlechter als der Dwarma Sektor«, meinte Dalla und lächelte. »Chef, dürfen wir ein paar Freunde mitnehmen?« »Natürlich – wen?« »Zinganna und Kostran Galth«, erwiderte sie. »Sie sprechen bereits von einer vorläufigen Heirat.« Ein Telefon-Roboter rollte ins Zimmer. Vor Karfs Sessel blieb er stehen. Tortha Karf nahm den Hörer ab. Die anderen beiden warteten geduldig, bis das Gespräch beendet war. Tortha Karf lehnte sich zurück und seufzte. »In Ftanna ist soeben eine Revolution ausgebrochen. Ftanna liegt im Tsorshay Sektor auf der Dritten Ebene. Viele von unseren Leuten – in der Hauptsache Studenten und Touristen – sind von ihren Transportern abgeschnitten. Auf den Straßen wird gekämpft. Eine recht blutige Angelegenheit, fürchte ich.«
Er trank aus und stand auf. »Ihr bleibt hier. Ich muß nur ein paar Visifon-Gespräche erledigen. Schickt den Roboter in die Küche, damit er euch etwas zu essen macht. Ich bin gleich wieder da…«
Originaltitel: TIME CRIME. Copyright © 1955 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Februar/März 1955. Übersetzt von Bodo Baumann.