Roy Palmer
Kundschafter
Della Rocca, der Korse, deutete mit ausgestrecktem Finger auf
die drei Säcke. Sie lagen auf...
21 downloads
1329 Views
958KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Roy Palmer
Kundschafter
Della Rocca, der Korse, deutete mit ausgestrecktem Finger auf
die drei Säcke. Sie lagen auf der Kühl seiner Galeone, der
„Bonifacio". Prall gefüllt waren sie - mit Schmuck, Münzen und
anderen Kostbarkeiten.
„Das Zeug gehört euch!" rief della Rocca - und schon stürzten
sich seine Kerle auf die Beute.
Lachend und johlend rissen die Piraten die Säcke auf und kippten
den Inhalt auf die Planken. Es trat genau das ein, womit della
Rocca gerechnet hatte. Es gab Streit. Doch der Perlen-Wolf
wollte es so haben. Denn die Kerle mußten von dem Mißerfolg,
den sie gehabt hatten, abgelenkt werden.
Die Hauptpersonen des Romans: Philip Hasard Killigrew - Der Seewolf verfolgt die Piratengaleone „Bonifacio" und entwickelt einen Plan. Della Rocca - Auch der Korse entwickelt Pläne, aber es sind keine, über die seine Horde entzückt sein wird. Ferris Tucker - Der Schiffszimmermann der „Isabella" muß unter Beweis stellen, ob er eine gute Nase für Geheimverstecke hat. Edwin Carberry - Der Profos würde sich gern ein bißchen prügeln, aber das ist bei seinem Auftrag nicht vorgesehen. Zardo - Der Ankerposten auf der „Bonifacio" klaut eine Flasche Wein, bleibt aber wach genug, um ein Feuer zu entdecken.
1. Grölend kramten die Piraten in den Schatzgütern. Plötzlich bückte sich ein Mestize nach einem handgroßen, rechteckigen Relief, das ihm vor die Füße gerutscht war. Er griff danach, hob es auf und betrachtete die kunstvoll getriebene Goldschmiedearbeit. Eine erotische Szene - eine Frau kniete vor einem Mann. Der Mestize blickte verblüfft darauf. Dann begann er wiehernd zu lachen. „Was ist das?" brüllte sein Nebenmann. Er riß ihm das Relief aus der Hand, schaute drauf und stimmte ein röhrendes Gelächter an. „Gib das her!" fuhr der Mestize ihn an. „Das gehört mir!" Er wurde tückisch und griff zum Messer. „Her damit!" Aber der andere Kerl hatte das goldene Bild schon an einen dritten weitergegeben. Jeder der Piraten wollte es haben, und plötzlich war die
Kühl ein Tollhaus. Die Kerle fluchten und brüllten. Sie droschen mit den Fäusten aufeinander ein, die Messer blitzten im Dunkeln. Es war die Hölle.
* Gegen neun Uhr am Abend dieses 13. Juli 1595 segelten die „Isabella IX." und die „Empress of Sea II." westwärts entlang der Nordküste von Kuba. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, und Old O'Flynn hatten mit ihren Crews die Verfolgung von della Rocco aufgenommen. So hatte sich der bisher aus vier Schiffen bestehende Verband aufgelöst. Die „Golden Hen" und die „Le Griffon II." blieben in der Bucht westlich von Havanna vor Anker liegen. Jean Ribault und Edmond Bayeux, die Kapitäne, hatten den Auftrag, noch in der Nähe der Hauptstadt zu verweilen und die weiteren Entwicklungen abzuwar-ten.
Im Prinzip war die Aufgabe, die man hatte bewältigen wollen, erledigt. Havanna befand sich wieder fest in der Hand der spanischen Obrigkeit. Die Rädelsführer des Aufstandes - Alonzo de Escobedo und der dicke Kaschemmenwirt Gonzalo Bastida - waren zum Zappeln an der hohen Pinie vor dem Gefängnis aufgehängt worden. Trupps der Miliz und der Garde kämmten die Stadt nach Plünderern ab. Die Kerkerzellen hatten sich gefüllt. Don Luis Marcelo, der Kommandant der Stadtgarde, nahm kommissarisch die Aufgaben des Gouverneurs wahr. Er versah seine Sache nicht schlecht, dieser Marcelo, besser jedenfalls, als Zweifler und Spötter ursprünglich angenommen hatten. Und Marcelo hatte sich inzwischen auch bei dem deutschen Handelsherrn Arne von Manteuffel für die Unterstützung bedankt. Einen Prunkdegen aus Toledo hatte der Senior Kommandant Arne überreicht, und er hatte auch nicht versäumt, den Deutschen entsprechend zu belobigen. Marcelo konnte ja auch nicht ahnen, daß die „Deutschen", die da so überraschend in der Stadt gelandet waren, in Wirklichkeit englische Korsaren waren, also Erzfeinde der spanischen Nation. Des weiteren war ihm nicht bekannt, daß die Faktorei von Manteuffel nur zur Tarnung aufgebaut worden war. Sie diente Arne von Manteuffel, Jörgen Bruhn, Jussuf und Isabella Fuentes, um die Aktivitäten der Spanier unbehelligt und ungestört aus nächster Nähe beobachten zu können. Das Auslaufen von Schatzkonvois und andere wichtige Neuigkeiten
gaben die „Manteuffels" unverzüglich als Nachricht an den Bund der Korsaren weiter - in deutscher Sprache verfaßt und per Brieftaube. Diese Art der Übermittlung von Informationen hatte sich als zuverlässig, pünktlich und schnell erwiesen. Der Bund der Korsaren, der seinen Stützpunkt auf der Bahama-Insel Great Abaco an der Cherokee-Bucht eingerichtet hatte, war auf diese Weise in der Lage, jedem Konvoi rechtzeitig genug aufzulauern und ihn aufzubringen. Die Zusammenarbeit mit Arne und dessen treuen Kameraden klappte hervorragend. So sollte es auch in Zukunft sein. Deshalb waren Hasard und seine Freunde mit vier Schiffen ausgerückt, als Arnes Notruf bei ihnen eingetroffen war. Havanna glich einem Hexenkessel, als die Männer des Bundes eintrafen. Der Mob plünderte, Gewalt regierte die Stunde. Die Bürger hatten sich in die Residenz zurückgezogen. Eine zweite Bastion im Kampf gegen die Galgenstricke und Schlagetots war das Gefängnis, das dem Direktor Jose Campora unterstand. Ansonsten beherrschte der Pöbel die Häuser und Gassen. Seit in Havanna kein kommissarischer Gouverneur mehr am Ruder war, hatte sich die Lage zugespitzt. Keine Ordnung und Disziplin mehr, keine führende Hand - das hatten die Ratten ausgenutzt. Sie waren aus allen Löchern gehuscht und hatten ihr Werk begonnen. Schließlich entwich Alonzo de Escobedo mit Hilfe von Corda, dem füchsischen Sekretär im Gouverneurspalast, aus dem
Gefängnis, und somit war das Chaos perfekt. De Escobedo hatte sich in den Kopf gesetzt, sich wieder in den Sessel des Gouverneurs von Havanna und Kuba zu hieven. Er wollte um jeden Preis die Residenz stürmen, nachdem ein Angriff auf das Gefängnis fehlgeschlagen war. Hilfe erhielt er von Gonzalo Bastida, der wiederum eine hundertköpfige Truppe aus den Reihen seiner Leibwächter, Schläger und Saufbolde rekrutierte und sie gegen den Palast des Gouverneurs vorschickte. De Escobedo und Bastida wären wohl die neuen Herren der Stadt geworden, wenn die „Deutschen" nicht plötzlich eingegriffen hätten. Diese Männer hatten den Rädelsführern einen dicken Strich durch die Rechnung gezogen. Als erstes hatten sie in der Hafenkneipe des Dicken aufgeräumt. Dann hatten sie die Plaza aufgesucht und de Escobedo „abgeholt". Schließlich hatte Arne von Manteuffel die beiden Oberhalunken dem Gefängnisdirektor Campora übergeben. Campora hatte nicht lange gefackelt. Es war seine Entscheidung gewesen, de Escobedo und Bastida sofort zu hängen. Der Tod der beiden Rädelsführer hatte seine nachhaltige Wirkung auf die übrigen Strolche gehabt. Sie hatten das Weite gesucht. Die Belagerung der Residenz war aufgehoben. Die Bürger waren frei und konnten in ihre Häuser zurückkehren. Don Luis Marcelo schöpfte nicht den geringsten Verdacht, daß mit dem deutschen Handelshaus irgend etwas nicht stimmte. Er war voll des Lobes, bewunderte die Deutschen und sicherte Arne von Manteuffel seine Unterstützung zu.
Campora war ebenfalls begeistert von diesen „Teufelskerlen", ohne deren Hilfe Havanna gewiß gefallen wäre. Besser hätte es für die Faktorei und den Bund der Korsaren nicht enden können. Alles, was der Seewolf und sein Vetter am Tisch im Kontor der Faktorei geplant hatten, war in die Tat umgesetzt worden. Der Vorsicht halber verließen die vier Schiffe noch in der Dunkelheit den Hafen. Hasard zog es vor, die Bucht westlich der Stadt als Ankerplatz aufzusuchen. Allein der Anblick der „Isabella", der „Golden Hen", der „Le Griffon" und der „Empress" hätte die Spanier am Morgen argwöhnisch stimmen können. Es war besser, dieses Mißtrauen erst gar nicht zu wecken. Gewiß, die Schiffe hätten auch sofort zum Stützpunkt an der Cherokee-Bucht zurückkehren können. Aber klüger war es, noch abzuwarten. Erst wenn man ganz sicher war, daß Arne und die anderen in Havanna keiner Gefahr mehr ausgesetzt waren, konnte der Rückzug endgültig erfolgen. Ausharren also - aber es hatte Zwischenfälle gegeben. Die Männer an Bord der vier Schiffe waren alarmiert worden, als im Dickicht nahe der Bucht die ehemaligen Leibwächter des Gonzalo Bastida, Cuchillo und Gayo, ihren Kumpan Sancho töteten. Carberry, Dan O'Flynn und Gary Andrews setzten mit einer Jolle über und töteten Cuchillo und Gayo im Duell. Das war an diesem Abend passiert. Doch damit nicht genug. Ein Trupp Soldaten unter dem Kommando des jungen Teniente Denaro war erschienen und hatte den Tod der drei Leibwächter festgestellt. Denaro hatte die Beutesäcke mitnehmen
lassen. Weit war der Trupp auf dem Rückweg nach Havanna nicht gelangt. Er war auf della Rocca und dessen Piratenmeute gestoßen, was einen mörderischen Kampf zur Folge hatte. Hasard, Dan und Batuti wurden Zeugen dieses Handgemenges. Später erfuhren sie von einem der sterbenden Kerle der Della-RoccaBande, wen sie vor sich hatten. Den „Perlen-Wolf" - aha! Und der Stützpunkt der Piraten befand sich in einer Bucht auf der Nordwestseite der Insel Cozumel. Diese wichtigen Informationen hatten die Männer sich einprägen können - dann war der Pirat gestorben. Sie hatten den Kerl und die anderen Toten in der Grube, in der sich die von della Rocca geborgene Truhe befunden hatte, begraben. Dann wurde an Bord der „Isabella" kurz beratschlagt. Der Seewolf war fest entschlossen, den Hundesöhnen unter dem Kommando des della Rocca auf der Spur zu bleiben. Deshalb ging er mit der „Isabella" und der „Empress" unverzüglich ankerauf, um der „Bonifacio" zu folgen. Jean Ribault und Edmond Bayeux blieben vereinbarungsgemäß in der Ankerbucht zurück, um in dieser Nacht Arne von Manteuffel über das letzte Ereignis zu berichten. Arne würde seinerseits per Brieftaube wiederum die Freunde im Stützpunkt über Hasards neues Vorhaben unterrichten können. Sollte bei Arne von Manteuffel sonst alles in Ordnung sein, dann konnten die „Golden Hen" und die „Le Griffon" zur Cherokee-Bucht zurückkehren. Mit dieser Vereinbarung hatte man sich getrennt.
* Dan O'Flynn hatte in dieser Nacht den Posten des Ausgucks im Hauptmars der „Isabella" übernommen. Immer wieder spähte er mit dem Spektiv voraus. In der Optik herrschte tintenschwarze Finsternis, und doch gab Dan die Hoffnung nicht auf, irgendwann die Hecklaterne des Piratenseglers zu entdecken. Auf der „Empress" waren es die Zwillinge, die als Ausguck die Augen offenhielten. Die „Empress" lag schräg Steuerbord achteraus von der „Isabella". Die Schiffe segelten über Backbordbug liegend mit Steuerbordhalsen fast vorm Wind, der aus Nordosten wehte. Sie liefen beide gute Fahrt. Aber die Männer kannten die „Bonifacio" als Schiff nicht näher. War die Galeone ein ganz normal beschaffenes Schiff, oder hatte della Rocca sie zu einem Schnelläufer mit langen Rahen und großer Segelfläche umgebaut? Möglich war alles - und man mußte auch mit dem Unmöglichen rechnen. Bald aber war es Dan, der seinen Kameraden ein Zeichen gab. „Da ist das Schiff!" meldete er. Soeben hatte er die Piratengaleone an der Grenze der nächtlichen Sichtweite entdeckt. „Sehr gut", sagte Hasard. „Wir haben sie also eingeholt." „Und das ist schon mal sehr beruhigend", meinte Ben Brighton. „Wir hängen uns in das Kielwasser der Galeone und lassen sie nicht mehr aus den Augen." Somit waren alle Zweifel ausgeräumt, die die Bauart und Schnelligkeit der Piratengaleone betrafen. Della Roccas „Bonifacio"
war eine ganz normale Dreimastgaleone. Hasard und seine Mannen waren ziemlich sicher, daß es sich um ein gut armiertes Schiff handelte, wie es bei Freibeuterseglern im allgemeinen der Fall war. Aber die vielen Kanonen, die der Bande im Gefecht gegen Handels galeonen einen unschätzbaren Vorteil sicherten, machten das Schiff nicht gerade leichter. Somit war auch die Geschwindigkeit durch die Last der Stücke beeinträchtigt. Für Piratenführer wie della Rocca war es besser, ein gut bewaffnetes Schiff zu haben als einen wendigen Schnellsegler. Mit seiner Galeone konnte er es mit jedem Spanier aufnehmen, zumal die Spanier selbst auf schnelle Schiffe ohnehin keinen großen Wert legten. Ihre Galeonen waren plump und behäbig, die Karavellen zwar besser manövrierbar, jedoch nur leicht armiert. Della Rocca brauchte also kaum einen Gegner zu fürchten. Nur vor Kriegsschiffen mußte er Respekt haben, und denen würde er tunlichst ausweichen. Kleinere Schnapphahnbanden der Karibik bevorzugten zwar immer noch Schaluppen und Pinassen, um Beuteschiffe zu kapern, doch della Rocca hatte eine zu große Meute. Im übrigen wollte er, so hatte es den Anschein, ganz sichergehen. Die „Bonifacio" war eine schwimmende Festung und nicht so leicht einzunehmen. Man konnte kleinere spanische Stützpunkte angreifen und war außerordentlich beweglich. Jederzeit konnte della Rocca mit seinem Schiff beispielsweise den Atlantik überqueren und zur Alten Welt übersetzen - wenn es ihm in diesen
Gefilden zu heiß wurde. Und er brauchte kaum einen Sturm zu fürchten. Alle diese Überlegungen beschäftigten Hasards Geist, während er mit der „Isabella" in das Kielwasser der „Bonifacio" steuerte. Als Führungshalter hing die „Isabella" nun hinter der Piratengaleone. Della Rocca konnte sie nicht mehr abschütteln. Doch vorerst schien er nicht zu registrieren, was hinter seinem Schiff vor sich ging. Und auch seinen Kerlen waren offenbar weder die „Isabella" noch die „Empress" aufgefallen. Man hatte die beiden Verfolger noch nicht gesichtet. An Bord der „Bonifacio" schien es hoch herzugehen. Johlen und Lachen tönten zu den Schiffen des Bundes der Korsaren. Keiner der Piraten ahnte etwas von den Verfolgern. „Na, die scheinen sich ja gut zu amüsieren", meinte Big Old Shane, der sich soeben zu Hasard und Ben gesellt hatte. „Sie haben zu tun", sagte Ben. Ferris Tucker und Roger Brighton traten ebenfalls zu den drei Männern an die Querbalustrade des Achterdecks. Sie spähten voraus und konnten im Dunkeln die „Bonifacio" wie einen Schemen vor sich erkennen. „Irgendwie scheinen die Kerle abgelenkt zu sein", sagte Ferris Tucker. „Na, großartig. Um so größer ist für sie die Überraschung, wenn sie uns sichten." Roger Brighton lachte leise. „Klar. Für uns ist es auf jeden Fall gut, schon mal zu wissen, daß wir unserem möglichen Gegner an Geschwindigkeit überlegen sind."
„Was bei der ‚Isabella' und erst recht bei der .Empress' gegeben ist", sagte Big Old Shane. „Und wie werden wir den ‚PerlenWolf’ angehen?" wollte Ferris wissen. „Ich nenne ihn eher einen ,PerlenHai' ", warf Ben ein. „Ich auch", pflichtete Hasard ihm bei. „Allerdings bin ich mir selbst noch nicht im klaren, wie wir die Sache am besten anpacken. Ich schätze aber, daß wir noch einige Zeit zum Nachdenken haben." Das Grölen und Lachen, Fluchen und Lärmen an Bord der „Bonifacio" nahm an Lautstärke zu. Shane schüttelte den Kopf. „Was die da wohl treiben? Da scheint es ja wie in einem Tollhaus zuzugehen." „Vielleicht spielen sie mit den Perlen, die sie sich von Kuba geholt haben, Murmeln", sagte Ferris sarkastisch. „Das kann ins Auge gehen", erwiderte Roger. „Wenn die Perlen durch die Speigatten rollen, sind sie sie los." „Ihr Problem", sagte der Seewolf. „Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß della Rocca einen ziemlich großen Schatz zusammengetragen hat. Immerhin hat der sterbende Kerl, der von dem Teniente angeschossen wurde, ja genug darüber ausgesagt." „Daß della Rocca genau Buch führt", entgegnete Ben. „Nicht wahr?" „So ist es", sagte Hasard. „Über jene Stellen, wo die Perlen versteckt sind." „Beim Donner", sagte Shane. „Dieser della Rocca scheint seinen eigenen Kerlen nicht zu trauen. Na, ganz unrecht hat er nicht. Aber irgendwann müßte es den Brüdern doch mal aufgehen, daß er sie um ihren Anteil prellt."
„Wahrscheinlich sind sie so dumm und verblendet, daß es ihnen nicht aufgeht", meinte der Seewolf. „Aber das mit den Perlen ist schon mal etwas, das mich reizt. Nicht nur wegen der Perlen. Aber daß so ein Kerl seine Beute offenbar verstreut über die Karibik an ihren Küsten vergräbt, ist schon reichlich sonderlich." „Ja, das stimmt", sagte Ben. „Es ist das erste Mal, daß ich so etwas höre." „Ganz abgesehen davon, daß dieser della Rocca offenbar total auf Perlen fixiert ist", meinte Roger. „Und er muß sehr präzise Buch führen", brummte Shane. „Sonst findet er seine Schatzverstecke nicht wieder." Ferris grinste breit. „Was wiederum ein Grund wäre, sich ganz gehörig in den Hintern zu beißen." „Ein Narr ist della Rocca gewiß nicht", sagte Hasard. „Er muß des Schreibens und des Rechnens kundig sein, um seine Aufzeichnungen richtig zur Niederschrift zu bringen. Meiner Ansicht nach ist es auch Gerissenheit, daß er es ausschließlich auf Perlen abgesehen hat. Perlen sind am besten zu verstauen." „Und leicht, das wissen wir ja aus eigener Erfahrung", fügte Ben hinzu. „Außerdem haben sie je nach Größe und Güte einen beachtlichen Wert", fuhr der Seewolf fort. „Gegenüber schweren Gold- oder Silberbarren sind sie allemal vorzuziehen. Vielleicht ist dieser Kerl deshalb zum Perlennarren geworden." Shane kratzte sich mit grüblerischer Miene in seinem Bartgestrüpp. „Na, ich weiß nicht. Dann würden ja alle
Schnapphähne der Karibik auf Perlen aussein. Ich glaube, da spielen noch andere Gründe eine Rolle." „Daß della Rocca beispielsweise eine Menge von Perlen versteht?" fragte Hasard. „Ja, so ungefähr." „Dem Namen nach könnte er ein Italiener sein", sagte Ferris. „Vielleicht ein Perlenfischer von Capri", sagte Roger lachend. „Oder von Sizilien", meinte Hasard. „Genausogut könnte er von Korsika oder aus dem Süden von Frankreich stammen. Na, das ist ja auch nicht so wichtig. Wir wissen, daß della Rocca seine Perlen überall gehortet hat. Er verfügt also über unermeßliche Werte, die gut transportabel sind und wenig Platz einnehmen." „Wie die kleine Truhe, die er an der Bucht westlich von Havanna ausgegraben hat", sagte Ben. „So ist es", erwiderte Hasard. „Er konnte sie mit Leichtigkeit handhaben. Nein, dumm ist er ganz gewiß nicht, dieser della Rocca. Mal sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Die nächsten Stunden bringen sicherlich noch einige Neuigkeiten." Shane gab einen dumpfen Laut von sich und wies voraus. „Als allererstes kriegen sich die Kerle ganz gewaltig in die Plünnen, schätze ich." In der Tat - der Krach, der von der „Bonifacio" herüberwehte, hatte noch mehr zugenommen. „Sir", sagte Carberry, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Quarterdeck der „Isabella" stand. „Da vorn ist. der Teufel los. Die Bastarde dreschen sich gegenseitig die Köpfe ein, schätze ich." „Nicht schlecht", entgegnete der Seewolf. „Damit würden sie uns sogar einen Gefallen tun." Wieder
gingen ihm die Perlen durch den Kopf - und gleichzeitig nahm in seinem Geist ein Plan Gestalt an, wie della Rocca am besten beizukommen war. Der Krach an Bord der Piratengaleone entwickelte sich zum Tumult. Ein Höllenlärm - allem Anschein nach der Beginn einer Meuterei. Auf der „Isabella" und auf der „Empress" hoben die Männer lauschend die Köpfe. Gespannt warteten sie darauf, was weiter geschah.
* Der Mestize hätte nicht nötig gehabt, sich mit seinen Kumpanen anzulegen. Er hätte nur nach den anderen Kostbarkeiten des Gonzalo Bastida zu greifen brauchen - nach Goldketten oder Goldbroschen, Diamantschmuck, Silbergeschmeide, Dublonen, Piastern und Dukaten. Die Säcke waren vollständig entleert, die glitzernde Pracht breitete sich auf den Planken der Kühl aus. Wie die Besessenen kramten und wühlten die Kerle in den Reichtümern. Der Mestize aber wollte das Goldrelief haben. Die Gier raubte dem Mestizen fast den Verstand. Er hielt das Messer in der Rechten. Sein Blick war auf das Bild gerichtet. Ein Kerl mit einer schwarzen Augenklappe, Rovigo genannt, hielt es gerade mit beiden Händen hoch und stimmte ein brüllendes Gelächter an. Die anderen Piraten umringten ihn. Einige standen, andere hockten oder knieten auf den Planken. Lachend und kichernd streckten sie die Hände nach dem Relief aus. Jeder versuchte, es Rovigo zu entreißen.
„Na, was ist?" schrie Rovigo. „Ihr seid wohl scharf, was?" Der Mestize arbeitete sich auf die Gruppe zu. „Gib's her!" stieß er wütend aus. „Es gehört mir!" Rovigo hörte nicht auf ihn. Er sprang auf, bewegte das Bild hin und her und beschrieb eine obszöne Gebärde. „Wollt ihr's haben?" rief er. „Ja!" brüllten die Kerle. „Holt es euch!" „Du dreckiger Hund!" keuchte der Mestize. „Gib das Ding raus!" Er war jetzt nahe genug heran Rovigo wandte sich zu ihm um und sah ihn halb verächtlich, halb amüsiert an. „Du? Was willst du denn damit, du Halbaffe?" „Es gehört mir", sagte der Mestize. „Du ziehst dich daran hoch, was?" schrie Rovigo höhnisch. Die anderen lachten und wieherten. Da riß der Mestize das Messer hoch. Es blitzte in seiner Hand auf. Rovigo stieß eine lästerliche Verwünschung aus und trat mit dem rechten Fuß nach dem Mestizen. Der Mestize hackte mit dem Messer nach dem Fuß. Die Klinge schrammte über Rovigos Ferse, Rovigo heulte auf, als steche man ihn ab. Zornig knallte er dem Mestizen das Relief auf den Schädel. Der Mestize sank auf die Planken. Der Schmerz dröhnte in seinem Kopf. Er hatte das Gefühl, sein Schädel platze. Stöhnend streckte er sich auf den Planken aus. „So!" schrie Rovigo. „Der hat sein Fett!" Aber er war für einen Moment unaufmerksam. Ein anderer Kerl war hinter ihn getreten - ein Riese an Gestalt. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und griff mit beiden
Händen nach dem Relief. Diejenigen, die das Manöver beobachteten, prusteten vor Vergnügen. Der Riese packte zu und entriß Rovigo das Goldrelief. Rovigo fluchte. „Du blöder Hund!" brüllte er und fuhr herum. „Rück das sofort wieder raus!" „Was willst du damit?" rief der Riese höhnisch. „Du kannst ja doch nichts damit anfangen!" „Das mußt du schon mir überlassen!" schrie Rovigo. Der Riese hastete zum Backbordschanzkleid der Galeone. Plötzlich tat er so, als wolle er die kostbare Goldschmiedearbeit außenbords befördern. „Schweinkram!" schrie er. „So was hat hier nichts verloren! Wir sind anständige Leute! Weg mit dem Dreck!" Rovigo und zwei, drei andere stürzten sich mit den Messern auf den Riesen. Der setzte sich zur Wehr. Wild hieb er mit dem Goldbild um sich. Zwei Kerle flogen auf die Kühl. Einer landete direkt neben dem Mestizen, der soeben aus seiner Benommenheit erwachte. Richtig bewußtlos war der Mestize nicht gewesen. Es waren nur die Schmerzen, die ihm zugesetzt hatten. Voll Haß stand er auf und blickte sich um. Da - Rovigo setzte dem Riesen zu. Rovigo, dieser Hurensohn! Der Mestize hatte das Messer verloren: Er suchte es, bückte sich, tastete die Planken ab. Er fand seine Waffe nicht wieder, entriß jedoch dem Kerl, der neben ihm gelandet war, den Dolch. Dann stürmte er zu den Kämpfenden. Auch die anderen Piraten waren sich gegenseitig an die Kehlen
gegangen. Nicht alle stritten um das Relief, einige zankten sich um Schmuck, andere konnten sich nicht über Bastidas Geld einigen. Überhaupt, keiner war gewillt, gerecht mit den anderen zu teilen. Jeder war nur darauf aus, soviel wie möglich zusammenzuraffen. So war es auch in Bastidas Kaschemme gewesen. Nachdem die Plünderer erfahren hatten, daß der dicke Wirt und de Escobedo aufgehängt worden waren, hatten sie nichts anderes im Sinn gehabt, als soviel Beute wie möglich an sich zu reißen und damit zu türmen, ehe es zu spät war. Gold und Silber, Juwelen und Perlen säten Haß und Streit, verwandelten die Menschen in Bestien. Wie von Sinnen stachen und prügelten die Schnapphähne aufeinander ein. Vergessen war die Kumpanei, die sie verband. Plötzlich waren sich alle spinnefeind, und jeder dachte nur noch an seinen persönlichen Anteil, der so groß wie möglich ausfallen sollte. Rovigo stach dem Riesen das Messer in den Rücken. Der Riese gab einen gurgelnden Laut von sich. Das Goldrelief entglitt seinen schlaff werdenden Fingern. Um ein Haar wäre es außenbords gefallen, wenn einer der Kerle es nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte. Der Kerl lachte wie ein Irrer und führte eine Art Tanz auf. Doch seine Freude war von kurzer Dauer. Plötzlich tauchte ein glatzköpfiger Bulle neben ihm auf und entriß ihm das Bild. Blitzschnell bückte sich Rovigo, um einem letzten Fausthieb des Riesen, der auf seine Schläfe gezielt war, zu
entgehen. Er packte die Beine des Riesen und hievte den Mann hoch. Ein anderer eilte Rovigo zu Hilfe, und gemeinsam wuchteten sie den Riesen über das Schanzkleid. Ein Röcheln war das letzte, was die Piraten von ihrem Spießgesellen vernahmen, dann klatschte der Riese auch schon ins Wasser. Rovigo schaute sich nach dem Relief um und entdeckte es in den Fäusten des Bullen. Ein lüsterner Ausdruck trat in die Züge des Glatzkopfes. Er leckte sich die Lippen. Mit einem Satz war Rovigo bei dem Kerl. Er wollte das Relief wieder in seinen Besitz bringen, hatte aber nicht mehr auf den Mestizen geachtet, der plötzlich vor ihm auftauchte. Mit haßverzerrtem Gesicht bewegte er sein Messer und zischte: „Jetzt bist du dran, verdammter Hurensohn!"
2. Old Donegal Daniel O'Flynn, Eigner und Kapitän der flinken „Empress of Sea II.", konnte den von der „Bonifacio" herüberschallenden Lärm natürlich genauso deutlich hören wie die Männer der „Isabella". „Hol's der Henker", sagte er mit halb verwunderter, halb schadenfroher Miene. „Das ist ja ein feines Wutgebrüll. Sollten sich die Kerle etwa in die Haare geraten sein?" Martin Correa grinste. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein lichkeit, Sir." „Da laust mich doch der Affe". „Eher das Fell", erwiderte Philip junior.
„Quatsch", sagte sein Bruder Hasard. „Das Fell juckt höchstens. Außerdem haben wir keinen Affen an Bord, sondern Plymmie." Old O'Flynn hörte schon gar nicht mehr hin. Er wechselte den Kurs, fiel etwas vom Wind ab und näherte sich von Luv her der „Isabella", bis er auf Rufweite heran war. ,„Isabella'!" rief er. „Warum nutzen wir das nicht aus? Warum, zur Hölle, greifen wir den Torfkahn da vor uns nicht sofort an?" Carberry an Bord der „Isabella" sonst stets ein entschiedener Gegner Old O'Flynnscher Ideen - war ebenfalls Feuer und Flamme. „Ja", sagte er. „Das wäre ganz nach meinem Geschmack. Diese Verfolgung wird ja allmählich langweilig." Der Seewolf winkte jedoch ab. „Ich habe einen anderen Plan", erklärte er. Allerdings blieb ihm keine Zeit, seinen Mannen zu erklären, um welche Art von Plan es sich handelte. Plötzlich machten sie alle die Hälse lang, sowohl an Bord der „Isabella" als auch auf der „Empress". Die Männer der „Isabella" spähten verdutzt über das Steuerbordschanzkleid. Old O'Flynn und seine Mannen blickten über das Backbordschanzkleid. Im selben Moment ertönte aus dem Großmars der „Isabella" ein Ruf. Luke Morgan hatte den Ruf ausgestoßen. Er hatte Dan O'Flynn inzwischen als Ausguck abgelöst. „Deck!" schrie er. „Treibender Gegenstand voraus!" „Gegenstand ist gut", sagte Dan O'Flynn. Er stand neben Carberry auf dem Quarterdeck und hielt nach dem noch nicht identifizierten Objekt
Ausschau, das sich da auf die Schiffe zubewegte. „Halt mich fest!" entfuhr es Ferris Tucker. „Da ist ja 'ne Leiche!" „Jawohl", bestätigte Big Old Shane. „Ein Toter." „Mit einem Messer im Rücken", stellte Dan sachlich fest. „Ein großer Kerl", registrierte Ben Brighton. „Ein Riese." Staunend verfolgten die Männer, wie die Leiche sich näherte und schließlich genau zwischen den beiden Schiffen hindurchtrieb. Das Gesicht konnten sie nicht erkennen, das war nach unten gerichtet und lag somit im Wasser. Deutlich aber war das Messer zu sehen, das aus dem Rücken des Mannes aufragte. „So", sagte Old O'Flynn mit dumpfer Stimme. „Jetzt haben wir die Bescherung." „Was für eine Bescherung?" wollte Carberry wissen. Er hatte natürlich jedes Wort verstanden. „Ist doch klar", erwiderte der Alte düster. „Das weiß jedes Kind. Siehst du nachts 'ne tote Leiche, schnell auf Gegenkurs entweiche." Der Profos reagierte sofort, tippte mit dem Finger an die Stirn und rief: „Kannst du mich sehen, Old Donegal?" „Ja, zum Teufel!" „Du bist verrückt!" „Was fällt dir ein, mir 'nen Vogel zu zeigen?" stieß der Alte hervor. „Hör zu", sagte Carberry. „Leichen sind immer tot." „Was? Willst du wieder mal lästern?" „Von lebendigen Leichen habe ich noch nichts gehört!" entgegnete der Profos. „Deswegen ist das, was du da sagst, Blödsinn!" „Schnickschnack! Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun!"
verteidigte sich Old O'Flynn. „Eine tote Leiche ist genauso schlimm wie eine lebendige! Schnell auf Gegenkurs entweiche, sonst bist du selbst bald dran!" „Du hast ja nicht alle Mucks im Schapp", sagte Carberry verächtlich. „Alles Schwarzmalerei. Spökenstuß! Wegen so einer Leiche sollen wir uns die schönen Perlen durch die Lappen gehen lassen? Bei dir tickt's wohl nicht richtig, was, wie?" „Schluß", sagte der Seewolf. Er mußte wieder mal ein Machtwort sprechen. Old O'Flynn und Carberry konnten stundenlang auf diese Art diskutieren, ohne zu ermüden. „Streitet euch nicht. Wir warten ab, was weiter auf der Galeone geschieht. Offenbar stechen sich die Kerle gegenseitig ab. Ich frage mich nur, warum della Rocca nicht eingreift." „Vielleicht haben sie ihn auch schon abgemurkst", sagte der Profos. „Das glaube ich nicht!" rief Old O'Flynn, der seinerseits jedes Wort mitgehört hatte. „Glauben ist nicht wissen", erwiderte Carberry. „'ne tote Leiche ist Beweis genug!" „Hört auf", sagte Hasard. „Es hat keinen Sinn, jetzt groß herumzudebattieren. Entweder stellt della Rocca die Ordnung an Bord seines Schiffes wieder her, oder aber seine Kerle übernehmen das Kommando. In beiden Fällen setzen wir die Verfolgung fort - und damit basta!" Die Männer schwiegen. Mit gemischten Gefühlen blickten sie dem Erstochenen nach, der achteraus trieb und in der Dunkelheit verschwand. Im Grunde war es ja gut, wenn sich die Piraten gegenseitig umbrachten.
Andererseits aber sollte man Old O'Flynns Einwände doch nicht ganz in den Wind schlagen. Wenn der Alte orakelte, war meistens etwas an der Sache dran. Auf jeden Fall war äußerste Vorsicht geboten. Man durfte den Gegner nicht unterschätzen.
* Della Rocca verfolgte das Treiben an Bord der „Bonifacio" vom Achterdeck aus. Insgeheim grinste er. Er rieb sich sogar die Hände. Ja, er amüsierte sich großartig. Denn seine Rechnung war aufgegangen. Er hätte nichts Besseres tun können, als seiner Meute die drei Säcke mit der Schatzbeute vorzuwerfen. Es war die einzige Möglichkeit, die Kerle von den tatsächlichen Gegebenheiten abzulenken - daß sie nämlich in Havanna für längere Zeit nichts mehr zu suchen hatten. Schließlich hatten die Kerle im Hafenviertel „die Sau loslassen" wollen. Mit anderen Worten: Sie hatten die Kaschemme des Gonzalo Bastida besuchen und kräftig vom Leder ziehen wollen. Wie sie es immer taten, wenn sie nach Kuba segelten. Dann ließen sie bei Bastida die Mäuse auf dem Tisch tanzen, und der Wein und das Bier flossen gallonenweise. Frauen gab es bei dem Dicken auch genug. Jeder kam auf seine Kosten. Wenn der Kurs auf Havanna anlag, herrschte bei den Kerlen Hochstimmung. Doch Bastida war tot, wie man erfahren hatte. Die Kneipe war von Soldaten der Garde besetzt. Garde und Miliz kämmten Havanna ab, jeder Galgenstrick wurde festgenommen und eingesperrt. Daß
es ihm genauso ergehen würde wie Bastida und de Escobedo, stand ebenfalls fest. Folglich mußte man die Stadt und den Hafen meiden. Die Soldaten waren auf jeden Fall in der Überzahl. Della Rocca gab sich in dieser Hinsicht keinerlei Illusionen hin. Natürlich war es auch für ihn ein Mißerfolg. Bastidas Kneipe war für ihn Vorratsdepot und Umsatzquelle zugleich gewesen. Hier hatte er seine Vorräte aufgefrischt und seine Perlen in klingende Münze umgesetzt. Aus der Traum. Sein „lieber Freund" Gonzalo Bastida war erledigt. Es empfahl sich, Havanna auch in den nächsten Monaten zu meiden, denn dort war man mit der Hanfkrawatte zu schnell bei der Hand. Um die Meute bei Laune zu halten, hatte sich della Rocca den Trick mit den drei Säcken ausgedacht. So gab es zwangsläufig Streit unter den Halunken. Genau das hatte der Anführer beabsichtigt. Die Kerle dachten nämlich nicht mehr über die letzte Pleite nach. Vergessen war jetzt, daß die Wein-, Schnaps- und Freudenquelle in Bastidas Kaschemme für immer versiegt war. Man schlug, drosch und stach aufeinander ein, um sich die kostbarsten Reichtümer zu sichern. Am meisten umkämpft war das Relief, das, wenn della Rocca es richtig verstanden hatte, irgendeine unzüchtige Szene darstellte. Allerdings wußte della Rocca auch aus Erfahrung, daß er das Handgemenge nicht auswuchern lassen durfte. Wurde die Sache gar zu hitzig, mußte er als „Schlichter" eingreifen. Wie das vor sich ging? Nun, della Rocca war in der Wahl seiner Mittel
nicht zimperlich. Er handelte nach dem Grundsatz vom Zuckerbrot und der Peitsche. Das Zuckerbrot hatte er den Kerlen vorgeworfen. Jetzt war die Peitsche an der Reihe. Einer der Kerle flog mit dem Kopf voran zwischen die Stufen des Backbordniederganges zur Back. Er blieb stecken, brüllte wie am Spieß und strampelte mit den Beinen. Ein anderer sprang hinzu und trat ihm mit voller Wucht in den Hintern. Da heulte der Pirat. Er ruderte mit den Armen, aber es nutzte nichts. Er konnte sich aus eigener Kraft nicht befreien. Drüben raste ein Galgenstrick mit dem Kopf in die Nagelbank des Großmastes. Della Rocca lachte und hieb sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Großartig! Das war wirklich zum Lachen! Ein dritter Kerl landete in diesem Augenblick gar zwischen den Duchten der auf der Kühl festgezurrten Jolle. Es gab einen dröhnenden Laut, und der Kerl stöhnte auf. Fast wirkte es, als habe er sich das Kreuz gebrochen. Dann aber richtete er sich langsam wieder auf, griff sich einen der Bootsriemen und drosch das Blatt einem anderen, der in die Nähe der Jolle geriet, über den Schädel. Der Getroffene brach zusammen. Der Mann im Boot lachte brüllend. Auch della Rocca lachte immer noch. Herrlich! Man konnte sich wirklich totlachen über diese Idioten! Der Streit auf der Kühl ging weiter und schien kein Ende zu nehmen. Ein paar Kerle rutschten wie die Verrückten über die Planken, um nach den Inhalten der drei Säcke zu grapschen und sie hastig einzustecken. Sie hieben mit den Fäusten aufeinander ein. Von
ehrlicher und redlicher Teilung konnte keine Rede sein. Ja, dachte della Rocca und verschränkte die Arme vor der Brust, so ist das Leben: An sich raffen, was zu erraffen ist, das ist hier die Devise. Einer frißt den anderen auf. Natürlich hatte della Rocca auch deutlich verfolgen können, wie die Kerle den Riesen mit dem Messer im Kreuz außenbords befördert hatten. Della Rocca hatte keine Miene verzogen. Selbst schuld, dachte er, einer weniger, was soll's! Ersatz gibt's immer. Und der Mestize, dieser dämliche Hund! Della Rocca sah, wie er mit Rovigo kämpfte. Aber Rovigo war auf der Hut. So leicht ließ er sich nicht hereinlegen. Blitzschnell zuckte Rovigos Messer vor. Es traf den Mestizen - einmal, zweimal. Der Mestize röchelte. Und dann, ganz unversehens, hatte er das Messer des Gegners im Leib. Er wankte zum Steuerbordschanzkleid und brach dort zusammen. Noch einer weniger, dachte della Rocca und zuckte mit den Schultern. Für dich kriege ich auch Ersatz, sagte er sich. Fahr zur Hölle, Mestize. Fast grüblerisch fuhr sich della Rocca mit den Fingern über die Enden seines sichelförmigen Bartes. Wollte er denn überhaupt Ersatz für die Kerle, die jetzt über den Jordan gingen und außenbords flogen? Es lohnte sich, gründlichere Überlegungen in dieser Richtung anzustellen. Denn im Prinzip war sich der Korse gar nicht so sicher, ob er seine Crew erweitern wollte. Sicherlich würde es nicht schwierig sein, in den einschlägigen Hafenkneipen der Karibik „Nachschub" an Galgenstricken und
Küstenwölfen zu finden. Dort lungerten immer Kerle herum, die weder Furcht noch Skrupel kannten und auf schnelle Beute erpicht waren. Della Rocca brauchte keine Männer zu pressen, um seine Mannschaft zu vergrößern. Es gab genug Leute, die sich bei einem Krug Wein überzeugen ließen, wie gut es sich auf einem Schiff wie der „Bonifacio" leben ließ. Kerle wie den Riesen oder den Mestizen gab es allemal. Halunkenpack, das alles zu gewinnen und nichts zu verlieren hatte. Ihr Leben taugte im Grunde keinen Silberling. Sie konnten noch froh sein, von dem Korsen aufgelesen zu werden, denn ohne ihn hätten sie niemals gewußt, was es hieß, in Saus und Braus zu leben. Auf Cozumel, im Schlupfwinkel, gab es genug zu saufen und sogar Weiber. Den Kerlen mangelte es an nichts. Sie konnten sich wirklich nicht beklagen. Aber richtig dankbar war keiner. Della Rocca wußte es. Im stillen waren die Bastarde wahrscheinlich sogar noch neidisch auf ihn. Der Henker sollte sie holen. Der Korse verachtete seine Kerle. Ob sie nun Rovigo oder Zardo hießen, ob es sich um Hundesöhne wie den Riesen oder den Mestizen handelte - egal. Sie waren alle gleich. Nichts waren sie wert, absolut nichts. Sie waren saudumm und konnten weder lesen noch schreiben oder rechnen. Nicht mal ihre Muttersprache beherrschten sie richtig. An Bord der „Bonifacio" herrschte ein wüstes Durcheinander von verschiedenartigen Dialekten. Eigentlich gab es außer ihm, della Rocca, nur zwei Männer auf diesem
Schiff, die als einigermaßen gescheit zu bezeichnen waren. Da war einmal Moleta, der Bootsmann, der sich im Lesen und Schreiben auskannte und auch mit Zahlen umzugehen verstand. Und Manoel Ribas, der Lotse - ein kluger Bursche. Er hatte sogar eine Schule besucht, hatte er dem Korsen mal erzählt. Ja, auf Ribas hielt della Rocca große Stücke. Auf den konnte er sich verlassen, dessen war er ganz sicher. Moleta hingegen traute er nicht ganz über den Weg. Aber der Bootsmann war immer noch besser als der Rest des Packs. Allesamt blöde Hunde - es war nicht schade um sie, wenn sie krepierten. Wie war das also mit dem Ersatz für die Toten? Della Rocca war sich nicht schlüssig. Vielleicht war es doch richtiger, die Beutezüge abzubrechen und aus der Karibik zu verschwinden. Die Spanier waren wacher geworden. Sie handhabten in allen Stützpunkten ihre Kontrollmaßnahmen schärfer als bisher, das hatten die jüngsten Erfahrungen deutlich genug gezeigt. Damit kündigte sich ein Ende der „goldenen Zeiten" für den Korsen an. Schluß mit den gefahrlosen Raids. Keine Perlen mehr - und wenn man sie doch noch erbeuten wollte, kostete das eine Menge Blut. Solange es sich um das Blut der Bande handelte, war das della Rocca gleichgültig. Aber wenn es ihm selbst an den Kragen ging - was dann? Das Risiko ließ sich nicht mehr kalkulieren. Was auf Kuba geschehen war, glich einem Orakel. Der Schuß, der von dem sterbenden Teniente abgefeuert worden war, hatte zwar einen der Kerle getroffen, aber die Kugel hätte
auch ihn, della Rocca, erwischen können. Mehr noch, vielleicht war sie sogar für ihn bestimmt gewesen. Der Vorfall gab dem Korsen wirklich zu denken. Sollte er etwa seine Haut zu Markte tragen? Auf keinen Fall das kam nicht in Frage. Er hatte ja genug Perlen zusammengetragen und versteckt. Als Beute reichte sie ihm. Schon ein kleiner Teil genügte, ganz Korsika zu kaufen. Korsika - seine Heimat. Immer wenn della Rocca an Korsika dachte, verklärten sich seine Züge. Er war auf der Insel geboren und dort aufgewachsen. Sein Vater war Austernfischer gewesen. Schon als Junge hatte della Rocca in den Muscheln Perlen entdeckt. Ja, er kannte sich in der Materie aus. Die See war sein Element, die Perlen seine große Leidenschaft. Nichts war für ihn kostbarer als Perlen. An ihnen begeisterte er sich mehr als an Gold, Silber oder Edelsteinen. Ja, er würde eines Tages nach Korsika zurückkehren. Vielleicht schon bald. Die Leute - seine Landsleute - würden die Augen aufreißen und staunen. Vor lauter Verwunderung würden sie mit offenen Mündern dastehen. Und della Rocca konnte sie schon tuscheln hören. „Der da - das ist doch der reiche della Rocca!" „Der Herr von Korsika!" „Gott schütze ihn!" Ja, er war steinreich. Und natürlich würde er die Insel kaufen. Berge, Olivenhaine, Strand, Buchten und Dörfer. All das gehörte ihm. Die Frauen würden ihm zu Füßen liegen. Seine Familie sollte die reichste und bedeutendste im ganzen Mittelmeerraum werden.
Aber auch den Bauern, Hirten und Fischern sollte es fortan bessergehen. Sie hatten lange genug unter dem Joch der Besatzer gelitten. Della Rocca würde sie alle ins Meer treiben - Italiener, Franzosen und Spanier. Wer nicht ersoff, der wurde enthauptet. Della Rocca haßte sie alle. Sein Haß würde die fremden Teufel bis in ihre eigenen Länder verfolgen. Blutrache. Della Rocca spürte die Erbschaft seines Volkes. Wen er haßte, dem gönnte er keine Ruhe, bis er ihn nicht gestellt und getötet hatte. Ein della Rocca kannte keine Gnade. Und Korsika gehörte nicht den Fremden, sondern den Korsen. In Gedanken sah sich der Korse auf einem Rappen über die Insel reiten. Er kehrte bei Fischern ein, aß Orade und Umber und trank herben Weißwein. Er besuchte die Bauern und Hirten hoch oben in den Bergen, kostete von dem Schafkäse und von der Wurst, von der es hieß, daß sie stets so frisch sei, daß man den Esel noch schreien höre. Della Rocca, der König von Korsika. Nur so würde man ihn künftig nennen. Er würde der Herrscher sein, der Gott der Korsen. Welche Genugtuung! Della Rocca lachte. Endlich würde die Heimat ihn wiedersehen. Was für ein Triumph! Und eben - wenn er wirklich ostwärts segelte, dann konnte er auf dieses Lumpenpack, das sich großspurig seine Crew nannte, verzichten. Dieses dumme Gesindel. Keiner ahnte etwas von della Roccas heimlichen Plänen. Wie die Narren würden diese Strolche dastehen, wenn sie begriffen, daß ihr Führer nicht mehr unter ihnen weilte. Aber dann war es für sie schon zu spät, noch etwas zu unternehmen.
Und was wollten sie auch unternehmen? Ihn aufhalten, zu sich zurückholen? Della Rocca grinste höhnisch. Dazu waren sie nicht imstande. Und er, der König von Korsika, würde schon zu verhindern wissen, daß sie irgendwelche Aktivitäten in dieser Hinsicht entwickelten. Alles war vorbereitet. Im Stützpunkt von Cozumel lag eine steife, seetüchtige Zweimastschaluppe mit genügend Stauraum für die Perlentruhen. Das Schiffchen war mit sechs Kerlen gut zu segeln. Die anderen konnten zum Teufel gehen oder in der Nase bohren. Della Rocca lachte wieder. Ihm war es egal. Er fand es sogar amüsant, wie verdutzt und betroffen die Kerle dastehen würden, wenn er ihnen den Rücken kehrte. Er brauchte sich nur ihre Mienen vorzustellen -Teufel, wie dämlich sie doch waren. Della Rocca gab sich einen Ruck. Wie auch immer - es wurde jetzt dennoch Zeit, den Kerlen zu zeigen, wer hier der Kapitän war. Er bückte sich und öffnete eine Kiste, die auf dem Achterdeck stand. Auf dem Boden der Kiste lag eine Peitsche mit langem Riemen und dickem Griff. Della Rocca grinste und griff danach.
* Völlig gelassen waren die Bewegungen des Piratenführers, als er mit der Peitsche auf die Kühl hinunterstieg. Die Kerle schienen ihn überhaupt nicht zu sehen. Sie beachteten ihn nicht. Nur Moleta, der Bootsmann, der sich aus der Keilerei herausgehalten hatte, ahnte, was nun geschah.
Manoel Ribas, der Lotse, verfolgte mit spöttischem, schadenfrohem Lächeln, wie della Rocca sich die Bande vornahm. Ribas hatte ebenfalls keinen Wert darauf gelegt, sich mit den anderen um die Beute aus den drei Säcken zu prügeln. Della Rocca blieb stehen, die Beine etwas gespreizt. Ein Kerl rollte ihm vor die Füße - zwei andere hatten ihn mit ihren Fäusten umgehauen. Der Kerl rappelte sich wieder auf und wollte sich auf seine Gegner stürzen, doch genau in diesem Moment hieb della Rocca mit der Peitsche zu. Der Korse nahm genau Maß, bevor er zuschlug. Er verstand es, mit der Peitsche umzugehen. Der Riemen pfiff dem Kerl um die Ohren und holte ihn erneut von den Beinen. Der Pirat schrie auf und schützte sein Gesicht mit den Händen. Krachend landete er auf den Planken. Della Rocca suchte sich ein neues Zielobjekt und drosch wieder mit der Peitsche zu. Dieses Mal holte er gleich zwei Kerle von den Füßen, die fast Brust an Brust standen und wütend mit den Fäusten aufeinander einhieben. Brüllend fielen die Kerle um. Die Peitschenschnur wickelte sich um ihre Waden - ein Ruck genügte della Rocca, und schon lagen sie flach. Der Korse riß die Peitsche hoch und ließ sie wieder durch die Luft sausen. Er schlug nach links und nach rechts und die Piraten stoben auseinander wie flüchtende Ratten. Jetzt begriffen die ersten, was die Stunde geschlagen hatte. Wenn della Rocca zur Peitsche griff, wurde es gefährlich. Rette sich, wer kann, hieß es in solchen Fällen. Doch es war zu spät. Für den Korsen war es eine Kleinigkeit, seine Kerle mit der langen Peitsche zu
erwischen. Einen nach dem anderen traf er. Der Riemen zerfetzte Hemden, ratschte über nackte Haut und hinterließ blutige Striemen. Die Kerle brüllten und fluchten. Sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Einige suchten hinter den Kanonen Deckung. Zu diesen gehörten auch Rovigo, der Mann mit der Augenklappe, und Zardo, ein Kerl mit einem schwarzen Bart. Aber della Rocca entdeckte sie. Er schritt auf sie zu - und wieder pfiff die Peitschenschnur durch die Luft. Zardos linke Schulter wurde getroffen. Rovigo hatte plötzlich eine rote, häßliche Zeichnung auf der rechten Wange. „Schluß jetzt!" schrie della Rocca. „Auseinander, ihr Bastarde!" Mit der züngelnden Peitsche fegte er im Nu die Kühl leer. Wer nicht umgerissen wurde, der flüchtete zur Back hoch. Keiner wagte, gegen den Korsen aufzubegehren. Daß della Rocca bestens mit dem Messer umzugehen verstand, war bekannt. Und auch im Degenkampf war er ein Meister. Kein anderer an Bord der „Bonifacio" konnte so flink wie er die Pistole aus dem Gurt reißen und treffsicher damit feuern. Diese Fähigkeiten waren es, die ihn als Führer einer Horde wie dieser auszeichneten. Seine Autorität war unantastbar - die Kerle kuschten vor ihm. Die Kühl war verlassen. Fast schien es, als habe kein Kampf stattgefunden. Doch die herumliegenden Beutestücke aus den drei Säcken zeugten von dem Geschehen. Und auch das Blut auf den Planken sprach für sich. Außerdem war da noch der tote
Mestize. Verkrümmt lag er vor dem Steuerbordschanzkleid. Della Rocca trat zu dem Toten. Er grinste, spuckte verächtlich aus und rollte die Peitsche zusammen. „Bootsmann", sagte er. „Hier muß aufgeklart werden." „Jawohl", erwiderte Moleta. Er schritt auf den Korsen zu. „Wird sofort erledigt. Soll ich den Kerl über Bord werfen?" „Das tue ich schon selbst", sagte der Korse, hängte sich die Peitsche an den Gurt, bückte sich und hievte den Toten mühelos hoch. Mit Schwung beförderte er ihn außenbords. Nur noch ein Aufklatschen war zu hören, und von dem Mestizen war nichts mehr zu sehen. Della Rocca wischte sich die Hände, als müsse er sie von Staub befreien. „So", sagte er. „Das letzte Wort haben die Haie." Moleta lachte. Er begann, das Beutegut einzusammeln und in dem ersten der drei Säcke zu verstauen. Die Kerle beobachteten ihn dabei und schnitten ratlose Gesichter. „He!" rief della Rocca ihnen zu. „Haltet ihr Maulaffen feil?" „Warum schlägst du uns?" fragte Rovigo, der in diesem Fall den meisten Mut von allen bewies. Della Rocca musterte ihn wie eine häßliche Fliege. „Glaubst du, ich lasse zu, daß ihr euch gegenseitig zerreißt, ihr Hurensöhne?" „Du hast gesagt, das Zeug aus den Säcken gehöre uns", erwiderte Rovigo. „Dabei bleibt es auch." „Warum packst du es dann wieder ein?" wollte ein anderer Kerl wissen.
Della Rocca spuckte wieder aus diesmal in hohem Bogen außenbords. „Da seht ihr, daß ihr von nichts eine Ahnung habt", sagte er höhnisch. „Nichts kapiert ihr, gar nichts. Bloß saufen und huren könnt ihr, das ist, alles." Er stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte die Kerle herausfordernd an, einen nach dem anderen. „Könnt ihr denn ehrlich teilen? Nein. Nicht mal dazu habt ihr das Zeug. Das habt ihr eben bewiesen." „Stimmt nicht", entgegnete Rovigo. „Es hat nur Streit wegen des Bildes gegeben." „Was ist das für ein Bild?" fragte della Rocca. „Sieh es dir doch an!" rief Zardo. „Eine schöne Ferkelei!" fügte Rovigo hinzu. Della Rocca blickte zu Moleta. „Wo ist dieses Bild?" Der Bootsmann hatte es gefunden. Er hatte es sich auch schon angeschaut. „Hier", sagte er grinsend und hielt das Relief hoch. „Gib her!" befahl der Korse. Moleta ging zu seinem Anführer und überreichte ihm das Streitobjekt. Delia Rocca betrachtete es eingehend, dann brach er in ein brüllendes Gelächter aus. „Sehr gut!" rief er. „Da hat ein Goldschmied seine amourösen Erinnerungen festgehalten! Da kann man direkt noch was lernen!" Sofort stimmte auch die Meute in das Gelächter ein. Vergessen war die Keilerei. Ja, della Rocca war doch ein Kerl! Er hatte die Ordnung wiederhergestellt. Bei ihm ging es toll zu, aber alles hatte seine Grenzen. Das sah nun auch der dümmste der Piraten ein.
Della Rocca hatte bereits beschlossen, nach der Peitsche wieder die Zuckerbrot-Taktik einzusetzen. Er nickte, stopfte das Relief in den Hosenbund und trat ganz nach vorn auf die Kühl. Dann winkte er der Bande zu. „Kommt her!" Er deutete auf die Kühl. „Stellt euch hier hin, in Reih und Glied! Ich verteile jetzt das Zeug! Es gehört wirklich euch! Ich will kein einziges Stück davon haben!" Die Kerle ließen sich das nicht zweimal sagen. Mit polternden Schritten verließen sie die Back über die beiden Niedergänge und nahmen wie Soldaten Aufstellung. Della Rocca bedeutete Moleta unterdessen, er möge sich den ersten Sack greifen. So begann die Prozedur. Della Rocca schritt die Reihe seiner Mannen ab, Moleta war hinter ihm. Der Korse griff in den Sack, holte etwas heraus und drückte es dem ersten Kerl in die Hände - einen goldenen Armreif. „Da, werd selig!" Jeder erhielt seinen Teil. Della Rocca bestückte seine Kerle mit Gold, Silber und Juwelen, mit Münzen und Perlen. Zwischendurch mußte der Bootsmann immer wieder den Sack füllen. So ging es weiter, bis nichts mehr von dem Schatz des Gonzalo Bastida übrig war, weder in den drei Säcken noch auf den Planken der Kühl. Nur das Relief hatte della Rocca noch im Bund seiner Hose stecken. Manoel Ribas, der am Ruder der Galeone stand, verfolgte den Vorgang und grinste dazu. Er hob ein wenig den Kopf. Jetzt war er gespannt, was mit dem Relief passierte.
Della Rocca hatte auch dafür die Lösung. „Na, ihr Raufbolde!" rief er. „Seid ihr jetzt zufrieden?" „Ja!" brüllte Rovigo. „Aber da fehlt noch was!" „Was denn?" Grölend und johlend wiesen die Kerle auf das Relief. Della Rocca klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. „Hölle und Teufel, das hätte ich ja fast vergessen!" „Gib's her!" rief Zardo. „Wir nehmen es mit runter ins Logis, damit wir unseren Spaß haben!" Della Rocca kniff die Augen zusammen und fixierte den schwarzbärtigen Kerl. „Was für 'ne Art von Spaß willst du denn haben?" „Ich will mich an dem Bild satt sehen!" „Du bist total bescheuert", sagte der Korse. „So blöd, daß es schon weh tut. Warum schreist du nicht?" „Wieso soll ich schreien?" erkundigte sich Zardo verblüfft. „Vor Schmerzen", antwortete della Rocca. Die Kerle brüllten und grölten vor Begeisterung. Das war wieder mal della Rocca, wie er leibte und lebte. Er sorgte für Ordnung und Disziplin und riß dabei noch seine Witze. Ein Kerl wie Samt und Seide, ein Kerl aus echtem Schrot und Korn. Die Meute lachte und kicherte. Der Korse gab Moleta wieder einen Wink. „Ich will ein Faß Wein hier auf der Kühl haben." „In Ordnung!" rief Moleta. „Zwei Mann sollen das Faß holen", sagte della Rocca. „Rovigo und Cosmas!" schrie der Bootsmann. „Bewegt euch!" Rovigo und Cosmas sausten los. „Rotwein!" brüllte della Rocca ihnen noch nach.
„Rotwein, jawohl!" rief Rovigo. Jetzt war Zardo an der Reihe. Della Rocca holte ihn zu sich heran, drückte ihm das Relief in die Pranken und sagte: „Da! Aber du nimmst es nicht mit nach unten." „Nein?" „Das Bild gehört allen", erklärte della Rocca. „Kapiert?" „Nein." Della Rocca deutete auf den Großmast. „Da nagelst du es fest, und zwar in Augenhöhe. Dann können es alle sehen. Bei Tag und auch bei Nacht. Klar?" Zardo lachte glucksend. „Klar. Wird sofort gemacht." „Hammer her!" befahl Moleta. „Nägel!" Einer der Kerle verschwand im Vordeck. Man konnte seine Schritte poltern hören. Er rutschte aus und knallte irgendwo in der Nähe des Logis hin. Ein dumpfes Krachen ertönte. Der Kerl fluchte - und seine Kumpane lachten laut. Kurz darauf kehrten Rovigo und Cosmas mit dem Faß Wein zurück. Sie rollten es della Rocca genau vor die Füße. Nun erschien auch wieder der Kerl, der im Vordeck verschwunden war. Er brachte einen Hammer und Nägel und drückte sie Zardo in die Hand. Zardo nagelte das Relief mit der unzüchtigen Darstellung in Augenhöhe an den Großmars. Der Korse stach unterdessen das Faß Wein an. Ein Pirat mußte Mucks holen. Della Rocca füllte selbst die Mucks. Dann stießen die Piraten miteinander an. „Prost!" schrie der Korse. „Prost!" brüllten die Kerle. „Es lebe della Rocca!" Der Korse trat zu dem Bild, nickte ihm zu, kippte den Wein hinunter und
rief: „Ich widme unser Kunstwerk dem heiligen Bonifacio, damit er auch ein bißchen Spaß an dem sündigen Bild hat!" „Ja!" grölten die Kerle. Sie lachten wie die Verrückten. „Auf Bonifacio! Der soll auch seinen Jux haben! Hoch lebe della Rocca!" So war die Welt an Bord der Piratengaleone wieder in Ordnung. Della Rocca hatte erreicht, was er beabsichtigt hatte. Er hatte die Kerle abgelenkt. Sie dachten nicht mehr an Kuba, nicht mehr an Havanna und die Kaschemme von Bastida. Jetzt hatten sie ja Beute in Hülle und Fülle, und auch am Wein mangelte es nicht. Weiber kriegten sie auch bald wieder - auf Cozumel. Was wollten sie also noch mehr? Sie konnten zufrieden sein. Und wie sie alle vor della Rocca kuschten! Keiner vergeudete auch nur noch einen Gedanken an den Mestizen oder den Riesen, die abgestochen worden waren. Selber schuld - die Narren hätten besser aufpassen sollen. Dann wären sie jetzt noch am Leben.
3. Della Rocca trank noch zwei Mucks Wein mit den Kerlen, dann schickte er sie auf ihre Posten zurück. Er teilte eine Freiwache ein, die sich im Logis zur Ruhe begeben durfte. Der Korse ließ Manoel Ribas von Moleta am Ruder ablösen - und damit hatte sich der Fall. Er, della Rocca, konnte nun selbst in seinem Allerheiligsten verschwinden. Mit sich selbst zufrieden, betrat della Rocca die Kapitänskammer im Achterdeck der „Bonifacio" und holte eine Flasche Wein aus seinen
privaten Vorräten aus dem Schapp. Er setzte sich ans Pult, trank und dachte wieder an Korsika. Ja, Korsika. Dorthin wollte er sich absetzen. Man mußte die Zeichen der Zeit erkennen und richtig deuten. Die Karibik war nicht mehr das richtige Gefilde für ihn. Zu gefährlich. Irgend etwas schien die Spanier aufgeschreckt zu haben. Sie hatten ihre Wachmaßnahmen verstärkt und verschärft. Sie waren auf der Hut. Es lohnte sich nicht mehr, ihre Stützpunkte zu überfallen. Hölle, die Bastarde setzten jetzt sogar Bluthunde ein, um Angreifer in die Flucht zu schlagen. Nein, es mußte alles anders werden. Korsika wartete auf della Rocca. Ein König kehrte in seine Heimat zurück. Er konnte dort in Freuden leben, und keiner würde ihm in die Quere geraten. Sollte es ihn aber doch reizen, wieder in See zu gehen, so konnte er auch im Mittelmeer seine Beutezüge durchführen. Dort kannte er sich sogar noch besser aus als in der Karibik. Della Rocca seufzte, lehnte sich zurück, nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und überlegte seine nächsten Schritte. Cozumel war sein Ziel. Dort würde er die Kerle richtig betrunken machen. Sie würden sich mit den Weibern vergnügen dürfen. So hielt er sie bei Laune - und lenkte sie wieder vom weiteren Geschehen ab. Während sie betrunken einschliefen, würde er in aller Ruhe mit der Schaluppe davonsegeln. So einfach war das. Diese Tölpel! Sie schöpften nicht den geringsten Verdacht. Wie sollten sie auch? Bislang hatte della Rocca niemals die Absicht gezeigt, seine Bande aufzulösen oder etwas Neues
einzuleiten. Die Kerle gingen logischerweise - ganz einfach von der Voraussetzung aus, daß die Bande auch weiterhin in der bisherigen Form bestehen würde. Della Rocca grinste. Na, die würden sich wundern. Er würde ihnen die Überraschung ihres Lebens bereiten. Als die Flasche leer war, erhob er sich und schritt zum Schott, das auf die Heckgalerie führte. Er öffnete das Schott, trat auf die Galerie und schleuderte die Flasche ins Kielwasser der „Bonifacio". Der Korse stützte sich mit den Händen an der Balustrade ab, atmete ein paarmal tief durch und blickte in die Nacht hinaus. Von den beiden Schiffen, die seiner Galeone folgten, bemerkte della Rocca nichts. Wie sollte er auch? Sie waren zu weit entfernt. So ahnte er nichts von der Überraschung, die auf ihn wartete. Für ihn gab es nur noch einen Gedanken: in die Alte Welt zurückzusegeln. Korsika beherrschte seinen Geist, Korsika war das Ziel seiner Träume. Della Rocca kehrte in die Kapitänskammer zurück und setzte sich auf die Koje. Grinsend tastete er die Kopfvertäfelung der Koje ab. Eine der senkrechten Holzleisten war etwas dunkler als die anderen - eine Folge der häufigen Benutzung. Der Korse schob sie auf und nieder, und bei der Aufwärtsbewegung entstand ein knackender Laut. Links neben der Leiste sprang ein Türchen auf. Della Roccas Geheimversteck. Hier bewahrte er sein „Logbuch der Perlen" auf, in dem er sorgfältig alle Verstecke eingetragen hatte, wo die Truhen mit den Kostbarkeiten vergraben waren. Er griff in das Fach und zog das in
Schweinsleder gebundene Buch heraus. Dann stand er wieder auf, riegelte das Kammerschott zu und setzte sich ans Pult. Im Schein einer Öllampe beugte er sich über die Eintragungen. Sie waren verschlüsselt. Keiner außer ihm konnte damit etwas anfangen, keiner wurde daraus schlau - schon gar nicht die Mitglieder seiner Bande, denn die waren ja allesamt Analphabeten. Della Rocca kannte seine Aufzeichnungen nahezu auswendig. Dennoch bereitete es ihm immer wieder ein gleichsam diebisches Vergnügen, das Buch aufzuschlagen und darin zu blättern. In Gedanken vollzog er die Reise, die erforderlich war, um die Schätze zu heben. Dann vollführte er wieder den „Sprung" nach Europa - und sah sich als reicher Herrscher und König auf Korsika landen. Etwas später, als der Korse das Buch wieder in dem Geheimfach versteckt hatte, streckte er sich auf der Koje aus und schloß die Augen. Sofort schlief er ein. Der Tag war anstrengend gewesen. Della Rocca mußte ruhen und frische Energien schöpfen. Im Mannschaftslogis der „Bonifacio" hockten derweil noch ein paar Kerle zusammen - Rovigo, Zardo und einige andere. Sie waren ziemlich betrunken und wälzten abenteuerliche Pläne „Wie wäre es mit einer kleinen Meuterei?" fragte Rovigo. „Della Rocca hat sich in die Koje gepackt. Der schnarcht schon, da gehe ich jede Wette ein." „Aber er schläft mit einem geschlossenen und einem offenen Auge", erklärte ein anderer Kerl, der ihm gegenüber auf dem Rand seiner
Koje saß. „Ehe du an den rankommst, sticht er dich mit seinem Messer ab, verlaß dich drauf." „Ach, ihr habt ja alle die Hosen voll", sagte Rovigo verächtlich. „Falsch", widersprach Zardo. „Das stimmt nicht. Ich kenne den Korsen besser als du. Fahre schon lange auf dem Kahn. Länger als du." „Unwichtig", brummte Rovigo. „Vor Jahren hat mal ein Kerl versucht, della Rocca umzubringen", sagte Zardo. „Er hat teuer dafür bezahlt. Er wollte della Rocca nachts außenbords stoßen, in einer Gegend, wo es von Haien nur so wimmelte. Aber der Korse war schneller. Er schlug den Kerl zusammen und entwaffnete ihn. Dann ließ er ihn kielholen. Und da kamen die Haie." „Scheiße", sagte Rovigo. „Aber ich hätte Lust, mich auf eigene Beine zu stellen." „Hauen wir doch ab", schlug ein vierter Pirat vor. „Ja, mit der Jolle, was?" Zardo lachte leise. „Ihr seid ganz schön verrückt." „Wir haben genug Gold", entgegnete Rovigo. „Damit kaufen wir uns im nächsten Hafen ein Schiff." Ein dicker Kerl, dem jedes Hemd zu eng war und der deswegen stets mit nacktem Oberkörper herumlief, meinte: „Wir sollten lieber warten, bis wir wieder auf Cozumel sind. Da liegt die Zweimastschaluppe. Warum schnappen wir uns die nicht?" „Das ist auch 'ne Idee", erwiderte Rovigo. „Hört sich gar nicht so schlecht an." „Du machst also mit?" fragte Zardo den Dicken. „Klar." „He", sagte ein anderer, dem schon dauernd die Augen zufielen. „Was
wollt ihr eigentlich? Bei della Rocca haben wir es doch gut. Teufel, das viele Gold. Er ist verdammt großzügig gewesen heute abend. Und ihr wollt abhauen? Ihr seid ja nicht mehr bei Trost." „Du kapierst das alles nicht", sagte Zardo. „Nicht genug Grips", meinte Rovigo. Der Kerl horchte auf. „Wollt ihr mich beleidigen?" Der Dicke winkte ab. „Nicht doch. Penn du nur. Wir hauen uns auch gleich aufs Ohr." „Della Rocca behandelt uns wie Hunde", sagte Rovigo. „Wenn es ihm in den Sinn kommt, drischt er mit seiner Peitsche auf uns los. Wenn er wieder gute Laune hat, wirft er uns ein paar Knochen vor." „Knochen ist gut." Der Dicke kicherte. „Das paßt mir nicht", sagte Rovigo. „Also meuterst du?" fragte Zardo. „Wer ist dabei?" fragte Rovigo. Der Dicke meldete sich. Ein anderer Kerl wollte auch die Hand heben, kippte aber hintenüber und schlief schnarchend in seiner Koje ein. „Zwei Mann sind zuwenig", zischte Rovigo. „Das hat keinen Sinn. Ich würde dem Korsen gern eins überbraten, aber so geht das nicht." „Dann warten wir doch, bis wir wieder auf Cozumel sind", sagte Zardo. „Und da bist du dann mit von der Partie?" fragte Rovigo lauernd. „Ja, klar. Wir klauen die Schaluppe und verduften." „Gut", brummte der Dicke. „Höllisch gut." „Einverstanden", sagte Rovigo. Er spürte nun selbst, wie ihn die Müdigkeit übermannte. Er legte sich in seine Koje, streckte die Beine weit
von sich und dachte: Ihr Narren, ihr taugt alle nichts. Mit euch läßt sich kein Krieg gewinnen. Ihr seid ja so blöd. Dann schlief er ein. Die „Bonifacio" rauschte unter Vollzeug durch die Nacht. Eine neue Trophäe zierte ihren Großmast - das goldene Relief. Hätte Gonzalo Bastida jemals geahnt, in wessen Finger sein sorgsam gehütetes Bild geraten würde, hätte er es sicherlich rechtzeitig irgendwo in den Hügeln von Havanna vergraben. Aber daran hatte er nicht gedacht. Er hatte auch nur ans Raffen gedacht. Seine Schätze hatten ihm kein Glück gebracht, sie hatten ihn ins Verderben gestürzt. Auch den Piraten der „Bonifacio" sollten sie kein Glück bescheren. Della Rocca und seine Kerle aber nahmen fest an, daß ihnen eine rosige Zukunft winke - jeder auf seine Art.
* In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli passierten die Galeone der Piraten und ihre beiden Verfolgerschiffe Kap San Antonio, die westliche Spitze Kubas. Auf der „Isabella" und der „Empress of Sea" waren die Männer auf der Hut. Leicht konnte es jetzt passieren - so hatte Hasard verkündet -, daß della Rocca eine Kursänderung vornahm. In der Tat - Bill, der sich zu dieser Stunde als Ausguck im Großmars der „Isabella" befand, meldete eine halbe Stunde vor Mitternacht, daß die „Bonifacio" merklich abfiele. Der Seewolf wurde benachrichtigt. Er verließ die Kapitänskammer und enterte das Achterdeck, griff zum Spektiv und spähte hindurch.
Nur schwach war die Hecklaterne der Piratengaleone zu erkennen. Dennoch konnte Hasard registrieren, daß Bill sich nicht getäuscht hatte.. „Richtig", sagte er. „Die Kerle ändern deutlich den Kurs - auf Südwest-zum-Westen." Ben Brighton, Shane, Ferris Tucker und Dan O'Flynn waren zur Stelle. Dan rollte eine Karte auseinander, die die Insel Kuba und ihr Seegebiet zeigte. Shane entfachte ein Talglicht. Im dämmrigen Schein der Flamme beugten sich die Männer über die Karte. „Klarer Fall", sagte der Seewolf. „Ich habe keinen Zweifel mehr. Della Rocca, der Perlen-Wolf, hat die Absicht, seinen Stützpunkt auf der Insel Cozumel anzusteuern." „Ausgezeichnet", sagte Ben. „Das ist kein sehr langer Törn. Wir sind also bald am Ziel." „Und wir erfahren, wie es in so einem Piratennest zugeht", bemerkte Dan grinsend. Die Männer lachten leise. Hasard ließ die genaue Position der „Isabella" feststellen, legte den neuen Kurs fest und zeichnete die Daten auf der Karte ein. Die Windrichtung hatte sich inzwischen geändert, der Wind fiel genau von Osten ein. Somit segelten die „Isabella" und die „Empress", nachdem sie auf den neuen Kurs gegangen waren, raumschots über Steuerbordbug. Am Morgen des 15. Juli lag dieser Kurs immer noch an. Nun war der Seewolf vollends sicher, daß Cozumel das Ziel des Piratenführers war. Bis zum Hellwerden hatte Hasard der „Bonifacio" absichtlich etwas mehr Vorsprung gewährt. So war die Freibeutergaleone im Morgengrauen an der südwestlichen Kimm verschwunden.
Dies hatte den Vorteil, daß della Rocca und dessen Kerle die „Isabella" und die „Empress" nicht hinter sich entdeckten. Sie wußten also auch jetzt, im Heraufziehen des neuen Tages, noch nicht, daß sie zwei Verfolger hatten. In der Yucatan-Straße stand eine kabbelige See. Sie wurde von dem Ostwind und der Südpassattrift hervorgerufen, die hier in spitzem Winkel zusammentrafen. Hasard ließ anluven und ging auf Südwestkurs. Er brauchte nicht mehr Fühlung mit dem Schiff des Perlen-Wolfes zu halten. Cozumel war nicht mehr weit entfernt, die Männer des Bundes würden keinerlei Schwierigkeiten haben, die Insel anzusteuern. So durften Hasard, Old O'Flynn und die Crews der beiden Schiffe sicher sein, daß die Piraten sie nicht bemerkten. Della Rocca und die Bande sollten nicht wissen, daß ihnen jemand auf den Fersen saß. Die „Isabella IX." und die „Empress of Sea II." nahmen Kurs auf die südliche Spitze von Cozumel. Die Wind- und Wetterverhältnisse blieben beständig, die Schiffe liefen auch weiterhin gute, zügige Fahrt. Am 17. Juli war es dann soweit: Cozumel, die Insel vor der östlichen Küste von Yucatan, geriet in Sicht. Am Nachmittag dieses Tages rundeten die „Isabella" und die „Empress" ihre südliche Spitze. Hasard befaßte sich wieder intensiv mit der Karte. „Die Insel erstreckt sich in NordostSüdwest-Richtung", sagte er zu seinen Männern. „Sie liegt etwa vierzehn Meilen von der Karibikküste Yucatans entfernt. Ihre Länge beträgt etwa dreißig Meilen, die Breite ungefähr zwölf Meilen."
„Ein ganz schöner Brocken", sagte Carberry, nachdem er die Insel ausgiebig durch das Spektiv betrachtet hatte. „Und was erwartet uns dort außer den Piraten? Ein tückischer Dschungel? Angriffslustige Wilde? Giftige Schlangen?" „Wie üblich müssen wir mit allem rechnen, Ed", erwiderte der Seewolf. „Aber ich hoffe, daß wir statt dessen von schönen Frauen empfangen werden." „Vorerst kann ich kein menschliches Wesen entdecken", sagte der Profos trocken. „Die Insel wirkt, als sei sie unbewohnt. Aber wo ist dieser Perlen-Wolf mit seiner Galeone abgeblieben?" „An der Nordseite", erwiderte Dan O'Flynn. „Dort befindet sich der Schlupfwinkel, wenn man den Worten des Kerls Glauben schenken darf, der uns das verraten hat." „An der Nordwestseite, meine ich", sagte Carberry. „Aha, du kannst dich also daran erinnern?" rief Dan. „Klar." „Warum fragst du dann, wo della Rocca steckt?" fragte Dan verdutzt. Der Profos grinste. „Weil ich es von dir hören wollte." „Allmächtiger", sagte Dan, aber mehr fiel ihm zu so viel Logik auch nicht ein. Die weitere Fahrt der beiden Schiffe verlief problemlos. Kein Späher zeigte sich auf der Insel Cozumel, kein Wachtposten. Unbehelligt und unbeobachtet steuerten die „Isabella" und die „Empress" an der Westküste entlang. Sie lagen jetzt hart am Wind und segelten über Backbordbug. „Della Rocca muß sich sehr sicher fühlen", sagte der Seewolf nach einem neuerlichen Blick durch den Kieker. „Wahrscheinlich ist er in
seinem Stützpunkt noch nie angegriffen worden. Deshalb hält er es nicht für nötig, rund um die Insel Wachen aufzustellen." „Er braucht seine Kerle ja auch für seine Beutezüge", sagte Ben. „Wir wissen nicht, wie groß die Bande ist", sagte Hasard. „Ich schließe nicht aus, daß ein Teil der Kerle im Schlupfwinkel zurückbleibt, während die anderen auf Beutejagd gehen. Aber das sind natürlich nur Vermutungen. Gewißheit erhalten wir erst, wenn wir die Meute aufstöbern und in ihrem Unterschlupf beobachten können." „Das soll heute nacht geschehen?" fragte Ferris Tucker. „Ja." „Und wann greifen wir an?" fragte Shane. „Ob wir überhaupt angreifen, hängt von den Gegebenheiten ab", erwiderte der Seewolf. „Mal sehen, vielleicht finden wir ja auch della Roccas Perlen-Buch." „Das wäre zu schön, um wahr zu sein", sagte Dan andächtig. „Wo der Kerl seine Aufzeichnungen wohl versteckt hält", sagte Ferris Tucker, „an Bord der Galeone oder an Land?" „Eher an Bord des Schiffes", erwiderte Hasard. „Schließlich muß er ständig darüber verfügen können." Die Männer blickten ihren Kapitän an. Big Old Shane lachte plötzlich dröhnend. „Ich höre Glocken läuten", sagte er. „Du hast wohl schon einen Plan, was?" „Ja", erwiderte Hasard schlicht. „Und?" sagte Ben. „Willst du ihn uns nicht verraten?" Hasard grinste. „Später." Da waren sie wieder - die tausend Teufel, die in seinen eisblauen Augen
blitzten. Nur zu gut kannten die Männer der „Isabella" diesen Ausdruck. Der Seewolf hatte einen seiner verwegenen Einfälle gehabt. Aber noch wollte er damit nicht herausrücken. Nun gut - sie drängten ihn nicht. Zum entsprechenden Zeitpunkt würde er sie schon darüber aufklären, was er vorhatte. Die „Empress" segelte der „Isabella" inzwischen lotend voraus. Beide Schiffe steuerten weiterhin nordostwärts. Sie gingen dicht unter Land, und die Männer hielten nach einer geeigneten Ankerbucht Ausschau. Es begann bereits zu dämmern, da entdeckte Philip junior voraus ein Stück Land, das sich wie ein Damm in die See schob. „Eine Landzunge", sagte er und nahm das Spektiv zu Hilfe. „Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich dahinter eine Bucht." Kurz darauf bestätigte Bill von der „Isabella", daß sich jenseits der Landzunge tatsächlich die Umrisse einer recht geräumigen Bucht abzeichneten. Von seinem Posten im Großmars aus konnte er das halbkreisförmige Ufer deutlicher erkennen als Philip junior von der „Empress" aus. Der Seewolf enterte in den Hauptmars auf und nahm die Bucht in Augenschein. „Die scheint für uns geeignet zu sein", stellte er fest. „Wir laufen sie an." Im Büchsenlicht tasteten sich die Männer mit ihren Schiffen an die Landzunge heran. Old O'Flynn ließ ständig die Wassertiefe ausloten. Noch reichte sie aus. Die „Isabella" und die „Empress" rundeten die Spitze der Zunge, und nun hatten sie die Einfahrt der Bucht direkt vor sich.
Noch bestanden Bedenken wegen der Tiefe des Wassers. Aber bald konnten die Männer alle Zweifel ausräumen. Eine natürliche Fahrrinne führte in die Bucht. Günstiger hätte man es nicht treffen können. Auch die Bucht selbst stellte sich als tief und groß genug heraus. Die „Isabella" und die „Empress" fanden ausreichend Platz. Sie drehten bei, die Segel wurden aufgegeit, und dann fielen die Anker. Im Hereinbrechen der Dunkelheit lagen die Schiffe still und schwojten nur noch leicht an ihren Ankertrossen. Hasard ließ Old O'Flynn und die Mannen der „Empress" an Bord der „Isabella" kommen. Auf dem Achterdeck fand eine kurze Beratung statt. „Die Bucht liegt gut versteckt", sagte Old O'Flynn. „Was Besseres hätten wir nicht finden können." „Ja", pflichtete der Seewolf ihm bei. „Sie wird durch die Landzunge hervorragend abgedeckt. Hier sind wir sicher - und geschützt vor eventuell vorbeisegelnden Wachbooten der Piraten." „Ich glaube nicht, daß della Rocca die Insel durch Wachboote sichert", sagte Ben. „Aber man kann ja nicht vorsichtig genug sein." „Eben", sagte Hasard. „Wir dürften auch nicht mehr allzuweit vom Schlupfwinkel der Piraten entfernt sein. Nach meiner Schätzung liegt diese Bucht bereits an der oberen Hälfte der Insel." „Weiter wagen wir uns nicht vor?" fragte Big Old Shane. „Jedenfalls nicht mit den Schiffen", entgegnete der Seewolf. „Wir dürfen nicht riskieren, unvermutet auf das Versteck der Bande zu stoßen."
„Genau", sagte Big Old Shane. „Denn die genaue Position kennen wir ja noch nicht. Wir wissen nur, daß sich der Stützpunkt im Nordwesten der Insel befindet. Das ist alles." „Das Nest der Ratten muß also noch gefunden werden", sagte Old O'Flynn. „Dann auf zu frischen Taten!" Hasard lächelte. „Du hast es zu eilig. Lassen wir noch eine Stunde verstreichen. Wenn es richtig dunkel ist, forschen wir die Umgebung ab."
4. Als es dunkel war, ließ der Seewolf die kleine Jolle der „Isabella" ausschwenken und abfieren. Dann brach er mit zwei Begleitern zur Erkundung des nördlichen Bereiches der Insel auf - mit Dan O'Flynn und Martin Correa. Beide versahen bei der nun beginnenden Fahrt ihre Funktionen als „Lotsen" und machten sich auf diese Weise mit dem „Revier", in dem es aktiv zu werden galt, so vertraut wie möglich. Es war eine dunkle Nacht. Der Mond war von Wolken verhangen. Gut für die drei Männer in dem Boot der Gegner konnte sie unmöglich entdecken. Doch die Finsternis hatte auch ihre Nachteile für Hasard, Dan und Martin, denn für sie galten die gleichen Bedingungen. Hasard vertraute dabei jedoch den scharfen Augen von Dan O'Flynn. Und wie üblich enttäuschte Dan ihn nicht. Er fand sich auch im Stockdunkeln noch zurecht. Die drei hatten das Segel der Jolle gesetzt. Lautlos glitt das Boot in Ufernähe nordostwärts. Aufmerksam hielten die Männer die Augen nach allen Seiten offen. Doch es tat sich
nichts. Kein anderes Boot tauchte auf, ganz zu schweigen von der Galeone der Piraten. Die „Bonifacio" ankerte im Schlupfwinkel, und aller Wahrscheinlichkeit nach dachten della Rocca und seine Kerle nicht im Traum daran, nach etwaigen Gegnern Ausschau zu halten. Stimmen waren von der Insel nicht zu hören. Auch der Schein von Lagerfeuern war nirgends zu sehen. Zu früh - Hasard und seine beiden Männer mußten noch weiter vordringen. Schweigend spähten sie voraus. Finsternis deckte alles zu. Nicht einmal das Ufer von Cozumel war zu erkennen. Fast schien es, als existiere die Insel nicht. Zwei Stunden verstrichen. Dann, endlich, richtete Dan sich kerzengerade auf seiner Ducht auf. „Da!" sagte er gedämpft. „Da vorn ist was! Ein Licht!" „Ich seh' nichts", murmelte Martin Correa. „Ich auch noch nicht", sagte der Seewolf. „Aber keine Sorge, Dan irrt sich nicht." „Da könnt ihr sicher sein", sagte Dan grimmig. „Wie spät mag es sein? Doch noch vor Mitternacht, nicht wahr?" „Ja", antwortete Hasard. Dan wies nach Steuerbord voraus. „Da ist es", sagte er noch einmal. „Könnt ihr es jetzt sehen?" „Schwach", erwiderte der Seewolf. „Na, es geht so", meinte Martin. Die drei Männer gingen mit der Jolle dichter unter Land. Bald darauf sichtete Dan eine kleine Bucht. Die steuerten sie an. Kurz darauf befanden sie sich in der Bucht, und das Boot glitt durch die schwache Dünung auf einen Streifen Strand zu, der sich zwischen Felsen
abzeichnete. Knirschend schob es sich mit dem Bug auf den Sand. Hasard, Dan und Martin stiegen aus und zogen die Jolle an Land. Sie nahmen den Mast und das Segel weg und tarnten ihr Fahrzeug, so gut es ging. Dan deutete auf die Felsen, die sich wie Buckel in der Nacht abzeichneten. „Hier oben, weiter im Norden, scheint die Insel immer felsiger zu werden", raunte er Hasard und dem Spanier zu. „Das bedeutet, wir haben mehr Versteckmöglich keiten, wenn wir uns anschleichen." „Aber wir können auch leichter stolpern", erwiderte Hasard. Er entblößte seine Zähne. „Also aufpassen. Klar?" „Klar, Sir", murmelten Dan und Martin. Nun begann der zweite Teil des nächtlichen Unternehmens. Die drei pirschten zu Fuß weiter. Sie folgten dabei dem Verlauf des Ufers. Weiter im Inneren der Insel war es im Dunkeln zu leicht möglich, sich zu verzetteln und die Orientierung zu verlieren. Daher war es ratsam, sich in der unmittelbaren Nähe der Küste zu halten. Wenn sie auch stellenweise nicht zu erkennen war das Rauschen der Brandung verriet den Männern, daß die See nah war. Etwa eine halbe Stunde verstrich, dann hörten die drei vor sich undeutliche Stimmen. Hasard gab seinen beiden Kameraden ein Zeichen. Sie verharrten. „Vorsicht jetzt!" zischte der Seewolf. Sie schlichen geduckt weiter. Die Stimmen klangen etwas lauter, doch was gesprochen wurde, konnten Hasard, Dan und Martin immer noch nicht verstehen. Aber sie vernahmen Gelächter - und die Stimmen von Frauen.
„Aha", flüsterte Dan. „Hier gibt es also wirklich Frauen." „Eine tolle Überraschung", meinte Martin sarkastisch. Kurze Zeit darauf war über den Felsen, die sich vor den Männern erhoben, der zuckende rötliche Schein von Feuer zu sehen. Inzwischen hatte die Lautstärke der Stimmen noch mehr zugenommen. Hasard, Dan und Martin ließen sich vorsichtshalber auf den Boden sinken. Den Rest der Strecke, die sie noch von ihrem Ziel trennte, legten sie robbend zurück. Einzelne Worte der Männer und Frauen, die da offenbar an einem oder mehreren Lagerfeuern zusammenhockten, waren zu verstehen. „He!" brüllte ein Kerl auf spanisch. „Gib die Flasche her, du Hundesohn!" „Laß mich erst saufen!" grölte ein anderer. „Habt ihr denn nur das Saufen im Kopf?" kreischte eine Frau. „Ach, halt 's Maul!" erwiderte der erste Sprecher. „Man hört's", raunte Hasard voller Ironie, „da ist eine vornehme Gesellschaft versammelt." „Ja, das sind kultivierte, feine Leute", meinte Dan. „Von denen kann man noch was lernen." Martin lachte leise. „Und was für ein Kauderwelsch sie reden. Das ist eine Mischung der übelsten Dialekte." „Wir befinden uns also in bester Gesellschaft", murmelte der Seewolf. „Na, das habe ich auch nicht anders erwartet." Zwischen Felsen und Büschen robbten sie weiter. Es ging höher hinauf, das Gelände stieg stark an. Das Licht der Feuer wurde intensiver. Die Stimmen waren nun laut, und
jedes Wort von dem, was die Piraten von sich gaben, war genau zu verstehen. Hasard, Dan und Martin schoben sich noch ein paar Yards weiter dann waren sie an einem scharfen Abbruch angelangt. Sie duckten sich tiefer und spähten über den Rand in der Bucht, die sich etwa zehn Yards unter ihnen ausdehnte. Da grinsten sie alle drei. Sie hatten den Schlupfwinkel der Della-RoccaBande gefunden.
* Die Bucht war das ideale Versteck. Wie die Ankerbucht der „Isabella" und der „Empress" wurde sie von einer Landzunge mit hohem Baumbestand zur See hin abgeschirmt. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn irgend jemand die Piraten hier entdeckte. Der Seewolf deutete auf die Landzunge. „Seht ihr die Einfahrt?" flüsterte er. „Ja", erwiderte Dan leise. „Sie ist noch schmaler als die Passage, die in unsere Bucht führt." „Verdammt eng", urteilte Martin. „Aber immer noch breit genug, um eine Galeone von dem Kaliber durchzulassen." „Ein wirklich guter Platz", raunte Hasard. „Della Rocca hat eine kluge Wahl getroffen, das muß man ihm lassen." „Er ist ja auch kein Dummkopf", wisperte Dan. „Er schreibt Bücher über Perlenverstecke und gräbt seine Schatztruhen an allen möglichen Stellen ein, statt sie einfach so herumstehen zu lassen." „Ein feiner Kerl", murmelte Martin. „Ihm gilt meine ganze Hochachtung."
Die Männer schwiegen und beobachteten. Ihr Blick wanderte zu den Hütten, die an Land standen. Zwischen diesen Hütten und einem Landesteg, der in das Wasser der Bucht ragte, brannte ein großes Feuer. Also doch nur ein Feuer, dachte der Seewolf, nicht mehrere, wie wir angenommen haben. Über dem Feuer wurde auf einem Drehspieß ein Schwein gebraten. Es war der Schein dieses Feuers, den Dan von See aus gesichtet hatte. Die Flammen hatten den Kundschaftern als Wegweiser gedient - ohne sie hätten sie bei dieser Finsternis den Schlupfwinkel schwerlich gefunden. Der Duft des Schweinebratens wehte zu den Beobachtern hoch. Fett tropfte von dem Tier in die Glut, es zischte, und dicke Rauchschwaden stiegen hoch. Ein Kerl drehte den Spieß. Ein anderer stach immer wieder mit einer riesigen Gabel in den Braten, um zu prüfen, ob er gar war. Eine Frau mit langen roten Haaren tanzte lachend und kichernd um das Feuer. Die Piraten grölten und klatschten zu der Vorstellung. Schließlich sprang einer von ihnen auf, packte die Frau bei den Hüften und zog sie mit sich zu Boden. Er preßte ihr eine Flasche an die Lippen und heulte vor Begeisterung, als ihr der Rotwein über die Wangen lief. „Na, das sind wirklich paradiesische Zustände", murmelte der Seewolf. „Wein, Weib, Tanz und Gesang. Es mangelt an nichts." „Da kann man richtig neidisch werden", flüsterte Dan. „Na, wie ist es?" fragte Martin gedämpft. „Wollen wir zu ihnen gehen und sie um einen Schluck aus der Pulle bitten?"
Dan lachte leise. Hasard blickte zu der Galeone. Sie ankerte mitten in der Bucht. Aber da war noch ein zweites Schiff - eine zweimastige Schaluppe. Sie lag nicht weit von der „Bonifacio" entfernt vor Anker. An Deck beider Segler waren die Gestalten der Ankerwachen zu erkennen. Hasards Augen richteten sich wieder auf das Treiben am Strand. Die Kerle waren jetzt dichter um das Lagerfeuer zusammengerückt. Der Schweinebraten schien inzwischen gar geworden zu sein. Ein Kerl stach ihn mit einem langen Messer an und schnitt die ersten Stücke ab. Jeder wollte der erste sein, als es an das Verteilen ging. Gierig griffen die Piraten nach den dampfenden Stücken. »Guten Hunger", sagte Dan ironisch. „Die Burschen scheinen einen gesegneten Appetit zu haben." Martin Correa flüsterte: „Welcher von ihnen ist nun eigentlich della Rocca?" „Siehst du den Kerl mit dem Sichelbart?" raunte der Seewolf. „Ja." „Das ist er." „Brutal sieht er aus", murmelte Martin. „Und er dürfte auch nicht so leicht zu überrumpeln sein. Vor dem müssen wir uns in acht nehmen. Wir dürfen ihn auf keinen Fall unterschätzen." „Ganz meine Meinung", entgegnete Hasard verhalten. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, della Rocca auf Anhieb wiederzuerkennen. Hasard, Batuti und Dan waren Zeugen gewesen, als der Korse mit seinen Kerlen unweit der Bucht westlich von Havanna über den Trupp Soldaten hergefallen war.
Trotz der Dunkelheit hatten die drei von der „Isabella" die Gesichter der Kerle sehen können. Wer ihr Anführer war, war leicht zu bestimmen gewesen. Und auch jetzt schloß man unschwer aus dem Benehmen des Korsen, wer das Sagen hatte. Da hockte er - groß und selbstgefällig. Ein Kerl brachte ihm ein prächtiges Stück Schweinebraten. Della Rocca packte lachend zu und biß hinein. Dann kaute er auf dem Fleisch herum und spülte den Bissen mit Wein hinunter. Einige Piraten fingen wegen der Bratenteile Streit an. Sie brüllten sich an und wurden handgreiflich. Zwei hieben mit den Fäusten aufeinander ein, ein dritter zückte sein Messer. Eine der Huren rückte von ihnen weg, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel in den Sand. Die ganze Meute stimmte ein grölendes Gelächter an. Della Rocca griff zu einer Peitsche, die zusammengerollt neben ihm lag. Nur einmal schwang er sie und ließ die Schnur in der Luft klatschen - und schon herrschte wieder Frieden. Die Kerle, die sich in die Wolle geraten waren, duckten sich. Sie ließen voneinander ab und setzten sich wieder hin. „Na also", brummte Dan. „Man muß sich eben nur den nötigen Respekt verschaffen. Die Peitsche scheint mehr zu bewirken als eine neunschwänzige Katze." „Eine richtige Bullenpeitsche", meinte Martin. „Die Kerle kuschen vor dem Korsen", murmelte der Seewolf. „Er hat sie völlig in der Hand. Dann war es auch keine Meuterei, die an Bord der Galeone ausgebrochen war."
„Die haben sich bloß um die Beute gezankt", flüsterte Dan. „Vielleicht hatte unser Perlen-Wolf sie sogar absichtlich dazu angestiftet", sagte Hasard. „Zuzutrauen wäre es ihm." „Warum hätte er so etwas tun sollen?" fragte Martin. „Ganz einfach", erwiderte Hasard. „Um sie abzulenken. Sie waren nach Kuba gesegelt, um die Perlen aus dem Versteck zu holen. Anschließend wollten sie bestimmt nach Havanna, um kräftig zu bechern. Daraus wurde nichts. Folglich mußte della Rocca sie irgendwie auf andere Gedanken bringen." So gesehen, schien della Rocca ein wahrer Teufel zu sein, dem es an Phantasie nicht mangelte. Hasard, Dan und Martin beobachteten, was weiter am Ufer der Bucht geschah. Sie zählten die Kerle. Es waren mehr als zwei Dutzend. Neun oder zehn Huren leisteten ihnen Gesellschaft. Diese Frauen schienen zur „Stammbesatzung" zu gehören und waren nicht erst seit kurzer Zeit hier. Ihre Art der Selbstdarstellung, ihr sicheres Auftreten und ihre Ortskenntnis zeugten davon, daß sie ständig in dem Schlupfwinkel wohnten. Die drei Männer verfolgten, wie sich eine der Huren vom Feuer erhob und zu den Hütten lief. Sie verschwand in der einen Behausung und erschien kurz darauf wieder im Freien. Sie hatte zwei Laibe Brot geholt und sie sich unter die Arme geklemmt. Als sie zu den Kerlen ans Feuer zurückkehrte, wurde sie mit lautem Johlen begrüßt. Die Piraten griffen nach den Broten und brachen sie in Stücke. Jetzt stopften sie sich
abwechselnd Fleisch und Brot zwischen die Zähne. „Das ist schmackhafter", raunte Dan. „Sie scheinen von allem genug zu haben." „Da bin ich mir nicht so sicher", entgegnete Hasard gedämpft. „Ich nehme an, daß sie Kuba nicht nur wegen der Perlen angelaufen haben. Wahrscheinlich wollte della Rocca in Havanna auch Vorräte einkaufen. So dumm, daß er das Nützliche nicht mit dem Sinnvollen verbindet, ist er nämlich nicht." „Aber jetzt ist er leer ausgegangen", sagte Martin Correa. „Ich verstehe. Das bedeutet, daß der Proviant der Bande nicht mehr unbegrenzt anhält." „Es muß also was geschehen", sagte Dan. „Aber was? Will der Korse bald wieder auslaufen?" „Das können wir nur erraten", antwortete der Seewolf. Sein Blick wanderte über die nahen Dünen, die in der Nacht wie große dunkelgraue Wellen aussahen. Hier Felsen, dort Sand sehr unterschiedlich fiel diese Landschaft aus. Hier waren im wahrsten Sinne des Wortes alle Möglichkeiten geboten. Und auch an Vegetation mangelte es nicht. Es lohnte sich, ein wenig darüber nachzudenken. „Was unternehmen wir also?" wollte Dan wissen. „Ich weiß schon, was wir zu tun haben." „Ehe della Rocca wieder verschwindet, nicht wahr?" fragte Martin. „Ja, selbstverständlich." Dan grinste. „Aber du willst uns immer noch nicht verraten, was du planst?" „Laßt euch doch ein wenig auf die Folter spannen."
„Hölle", brummte Dan. „Das halte ich nicht mehr lange aus." „Wie viele Ankerwachen siehst du eigentlich an Bord der Schiffe?" flüsterte der Seewolf. Dan hatte keine Mühe, dies zu erkennen. „Ein Posten steht auf der Kühl der Galeone, einer ist an Bord der Schaluppe", erwiderte er, „Das ist kein großes Problem", meinte Hasard. Dan lachte leise. „Nein? Aha, mir geht allmählich ein mehrarmiger Kerzenleuchter auf." „Man könnte dem Posten eins überbraten", überlegte Martin mit halblauter Stimme. „Aber der Rest der Bande darf natürlich nichts merken." „Je mehr sie trinken, desto mehr läßt auch ihre Aufmerksamkeit nach", erklärte der Seewolf. „Doch ich glaube nicht, daß das ausreicht. Man muß sie anders ablenken. Es gibt da einige Möglichkeiten." „Ein Täuschungsmanöver", sagte Dan. „Ja, so ungefähr." „Na, die werden staunen", raunte Dan grinsend. „Das gibt noch einen herrlichen Tanz." „Die Kerle fühlen sich völlig sicher", sagte Hasard. „Wie in Abrahams Schoß. Sie rechnen mit keinem Überfall. Ihre Erfahrung sagt ihnen, daß kein Mensch die Bucht entdecken wird, geschweige denn die Schiffe. „Warum sollten sie also besorgt sein?" „Sie haben ja nicht mal Posten aufgestellt, die die Hüttensiedlung abschirmen", sagte Dan. „Für uns ist das ein großer Vorteil." Hasard nickte. „Wir sind völlig ungestört. Wir können die ganze Nacht hier zubringen, sie kommen
nicht auf den Gedanken, daß sie beobachtet werden." Die drei blickten wieder zu den Schiffen. Auf der Schaluppe schien der Ankerposten inzwischen eingeschlafen zu sein. Man konnte nur noch seine zusammengesunkene Gestalt erkennen. An Bord der „Bonifacio" bewegte sich der Posten von der Kühl zum Backbordniedergang der Back und stieg aufs Vorschiff. Er blieb stehen und gähnte. Dann setzte er sich. Er schien zum Ufer zu schauen. Sicherlich beneidete er insgeheim die Spießgesellen, die der Völlerei frönen durften, während er dazu verdammt war, sich einen Teil der Nacht mit der Wache um die Ohren zu schlagen. Della Rocca schleuderte einen abgenagten Schweineknochen in den Sand, trank Rotwein hinterher und versetzte der Hure, die sich auf seinem Schoß niedergelassen hatte, einen derben Klaps. Sie kreischte. „Kerls!" schrie der Korse. „Holt ein Faß Rum, zum Teufel!" „Rum!" grölten die Kerle. Ja, Rum her!" Zwei Piraten rannten los und verschwanden in einer der Hütten. Nur wenige Augenblicke verstrichen, dann erschienen sie wieder und rollten ein Faß vor sich her. So schnell sie konnten, stießen sie es durch den Sand auf das Lagerfeuer zu. Ihre Kumpane erwarteten sie mit gierigen Blicken. „Hoch della Rocca!" brüllten die Kerle. „Es lebe der Perlen-Wolf!" Der Korse stieß die Hure von seinem Schoß. Sie jammerte ein bißchen, wälzte sich im Sand und rappelte sich wieder auf. Kichernd stolperte sie hinter dem Anführer her. Der Wein hatte ihren Geist bereits
umnebelt. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Della Rocca beugte sich über das Faß und stach es selbst an. Der Rum schoß aus dem Spundloch. Ein Kerl fing das kostbare Naß mit einer Muck auf. Della Rocca rammte den Zapfhahn in das Loch und winkte Cosmas heran - Cosmas erhielt den Auftrag, für alle die Becher zu füllen. „Hurra!" heulte einer der Piraten. „Ein dreifaches Hurra!" „Für della Rocca!" brüllte ein anderer. „Hoch die Becher!" kreischte die Hure, die della Rocca nachgelaufen war. „Hoch!" tönte die Bande, und dann wurde wieder reihum getrunken. Die Kerle gossen sich den scharfen Schnaps in die Kehlen, als wären sie kurz vorm Verdursten. „Aha, aha", sagte Hasard. „Die Feier geht erst richtig los. Bald sind sie alle sturzbetrunken." „Das wird 'ne feine Orgie", murmelte Dan. „Sollten wir das nicht ausnutzen?" „Es ist zu riskant", erwiderte Hasard. „Zu dritt können wir nicht viel ausrichten, falls uns die Kerle doch entdecken. Nein, ich habe eine bessere Idee." „Hört mal", sagte Martin Correa plötzlich. „Was ist denn das?" Sie schwiegen und lauschten. Unter ihnen ertönte aus einer der Hütten ein seltsames Geräusch - eine Art Schnaufen und Grunzen. Es ging fast in dem Grölen und Lärmen der Piraten unter, war aber dennoch von Hasards, Dans und Martins Versteck aus deutlich genug zu vernehmen. „Das ist ein Schweinekoben", raunte der Seewolf seinen beiden Begleitern zu. „Die Kerle betreiben also Viehhaltung zum Eigenbedarf."
„Somit ist der Vorrat an Frischfleisch gesichert", murmelte Dan. „Aber irgendwann gibt's auch keine Schweine mehr, wenn die Halunken fleißig eins nach dem anderen schlachten." „Ich schätze, daß die Flüssigvorräte eher zur Neige gehen als die Nahrung", sagte der Seewolf und deutete zu den Piraten, die den Rum wie Wasser tranken. „Und wenn es keinen Wein, kein Bier und keinen Schnaps mehr gibt, kann della Rocca seine Kerle nur noch schwerlich bei Laune halten. Dann muß er sich was einfallen lassen." „Er wird sich was einfallen lassen", sagte Martin. „Einen Plan hat er bestimmt schon. Wetten?" „Du hast recht", erwiderte Hasard. „Und ich finde, wir haben jetzt genug gesehen. Dan, präge dir die schmale Zufahrt in die Lagune genau ein." „Schon geschehen", entgegnete Dan. „Und merke dir die Ankerposition der Galeone." „In Ordnung." „Dann los", flüsterte Hasard. „Wir ziehen uns wieder zurück." Kurz darauf entfernten sie sich von der Bucht und traten den Rückmarsch zu dem Versteck der Jolle an. Der Rückweg erschien ihnen kürzer als der Herweg. Trotz der anhaltenden Finsternis fanden sie sich inzwischen bedeutend besser zurecht. Cozumel war ihnen jetzt schon fast vertraut. Unbehelligt erreichten Hasard, Dan und Martin die kleine Jolle. Sie schoben sie ins Wasser, setzten Mast und Segel und legten vom Strand ab. Nach Mitternacht waren sie wieder bei der „Isabella IX." und der „Empress of Sea II." in der versteckten Bucht. Sie gingen
längsseits, enterten auf und berichteten den Freunden, was sie beobachtet hatten.
* Della Rocca wankte mit einer vollen Muck zu seinem Lagerplatz zurück. Schwer ließ er sich in den Sand sacken und kippte über die Hälfte des Rums hinunter. So ließ es sich leben. Er hatte das Faß Rum spendiert, damit die Kerle ihre Freude hatten. Sollten die Vorräte doch zur Neige gehen! Zur Hölle damit! Ihn kümmerte es einen Dreck! Die Idioten sollten sich selbst um Nachschub kümmern. Er segelte mit der Schaluppe davon, aber er überließ ihnen immerhin die „Bonifacio". Das war schon mehr als großzügig. Alles in allem mußten die Bastarde ihm dankbar sein, auch wenn er sie im Stich ließ. Der Rum steigerte della Roccas Euphorie. Korsika! Der Gedanke an die Heimat ließ ihn nicht mehr los. Was war Cozumel im Vergleich zu Korsika? Ein Dreck. Ein elendes Eiland, wo es nur ein paar dreckige Hütten, grunzende Schweine und Lumpengesindel gab. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen. Er, der Perlen-Wolf, war zu Höherem geboren. Korsika, das Königreich. Die schönste aller Inseln - die Perle der Perlen. Ja, natürlich würde er in Bonifacio an der Südküste landen, in seinem Heimatort. Er war schon lange fort, und doch würden die Leute ihn wiedererkennen. Della Rocca - ein Name, den man nicht vergaß. Er hatte noch Verwandte dort. Sie würden ihn mit offenen Armen empfangen. Die ganze
Hafenstadt würde ihm zu Füßen liegen. Ein Pirat? Ha! Ein Pirat war auf Korsika nur dann ein Verbrecher, wenn er aus einem anderen Land stammte. Die schlimmsten Galgenstricke waren Franzosen, Italiener und Spanier. Ein korsischer Freibeuter jedoch war ein Volksheld. Er wurde gefeiert und verehrt. Alle waren stolz auf ihn. Er behielt seine Beute nur zu einem Teil für sich - den Rest verteilte er an die Armen. Della Rocca hatte allerdings nicht vor, sehr viel von seinem Perlenschatz abzugeben. Ich bin doch nicht verrückt, dachte er. Vielleicht zehn Perlen würde er opfern, um seine Angehörigen glücklich zu stimmen. Den Rest behielt er für sich. Und natürlich mußte er sich auch wieder nach einem geeigneten Versteck für die Truhen umschauen. Aber er wußte schon, wo er die Truhen eingraben würde. Vor der Südküste von Korsika, nicht weit von Bonifacio entfernt, gab es eine kleine Insel. Sie hieß Cavallo. Das bedeutete „Pferd". Kein Mensch wußte, warum, zum Teufel, eine Insel ausgerechnet Pferd hieß, aber das spielte keine Rolle. Viel mehr zählte, daß das Eiland verlassen war. Kein Mensch hauste dort. Dazu war sie zu unwirtlich, diese Insel. Nicht mal Piraten mochten auf Cavallo verweilen, denn dort gab es weder einen Baum noch einen Strauch. Nur Sand und Steine. Der Wind pfiff über die Insel hinweg, und im Grunde diente dieser Fleck im Mittelmeer nur den Vögeln als Nistund Brutstätte. Wenn er dort seine Perlen eingrub, würde kein Mensch auf die Idee
verfallen, jemals nach ihnen zu suchen. Das wäre also schon mal geregelt, dachte der Korse. Er leerte seine Muck und streckte sich auf dem Boden aus. Sein Blick war zum Nachthimmel gerichtet. Korsika, mein Himmelreich, dachte er. Plötzlich krachte dicht neben ihm etwas mit dumpfem Laut zu Boden. Unwillkürlich fuhr della Rocca zusammen. Er griff nach dem Messer, zückte es, fuhr herum. Er starrte der Hure, die vorher auf seinem Schoß gehockt hatte, direkt ins Gesicht. Sie schwitzte. Ihre Haare waren zerzaust. Sie grinste. „He", sagte sie mit schwerer Zunge. „Was ist denn mit dir los?" „Paß auf!" zischte er. „Was - was - soll denn das – Mmesser?" lallte sie. „Um ein Haar hätte ich dich abgestochen", sagte er. „Hab' ich dich so er-schreckt?" Sie kicherte. „Halt dein Maul!" fuhr er sie an. „Dann stopf es mir doch", sagte sie lachend. „Hau ab!" „Rocca", sagte sie und griff nach ihm. „Mein liebes R-Rockilein. Warum bissu denn so böse zu deiner lieben Anita?" „Sei endlich still." Ein lüsterner Ausdruck trat in die Züge der Hure. „Willste mich los sein?" „Ja." „Dann schlag mich." „Wenn du weiter so frech bist, kriegst du die Peitsche", sagte der Korse wütend. „Ja", sagte Anita. „Hau mich mit der Peitsche." Er kippte ihr den letzten Tropfen Rum, der noch in der Muck war, ins
Gesicht. „Du perverses Biest! Los, hol noch was zu saufen!" „Das - schaff ich nicht!" keuchte sie. Della Rocca griff nach der Peitsche. „Willst du wohl gehorchen?" Er schlug in den Sand, der Sand wirbelte hoch. „Wird's bald?" „Nein!" kreischte sie. Der Korse sprang auf und trieb die Frau mit der Peitsche hoch. Er dirigierte sie vor sich her - sie lachte und jammerte abwechselnd. Die Kerle und die Weiber bogen sich wiehernd und prustend. Sie amüsierten sich großartig. Anita füllte einen ganzen Krug mit Rum, dann torkelte sie zu della Rocca zurück. „Isses so g-gut?" lallte sie. Er hatte wieder auf dem Boden Platz genommen und aß noch ein Stück Braten. Das flackernde Licht des Feuers warf zuckende Muster auf sein Gesicht und ließ es wie eine dämonische Fratze erscheinen. „Ja. Gut. Her mit dem Zeug. Ich habe Durst." Anita kippte den Rum in seine Muck. Della Rocca trank. Der Rum brannte in seiner Kehle. Gut, dachte er, sehr gut. Wie wohl das tut. Sie ließ sich neben ihm nieder und drängte sich mit der Hüfte gegen ihn. „Du - du wolltest mir noch was erzählen." „Klar. Weißt du, wo Bonifacio liegt?" „So heißt doch das Schiff." „Kluges Kind. Und was ist Bonifacio?" fragte er sie. Anita kicherte. „Ein Heiliger. Du hast ihm das Bild gewidmet - äh, geweiht. Ach, is' ja egal." „Bonifacio ist ein Ort." „Wie? Wo?" „Auf Korsika." „Wo is'n das, Korsika?"
„Korsika ist meine Heimat", erklärte della Rocca grinsend. „Bonifacio ist ein Hafen. Cavallo ist eine Insel. Und du bist eine blöde Gans." „Du bist gemein", sagte die Hure. „Und du hast mir was versprochen. Du wolltest mir was erzählen. Über das verdammte Bild. Das Dingsbums. Das Re-Relief." Der Korse lachte. „Was willst du denn über das Bild wissen?" „Was drauf ist." „Sieh es dir doch selbst an", schlug er vor. „Es hängt aber am Mast der Galeone", sagte sie. „Na und?" Er hob die Muck an ihre Lippen und flößte ihr Rum ein. „Das ist doch kein Beinbruch. Du kannst doch schwimmen, oder?" „Ja, das kann ich." Der Rum lief Anita über das Kinn. Sie wischte ihn mit dem Handrücken ab. „Aber warum pu-pullst du mich nich' mit dem Boot hi-hin?" Della Rocca lachte wieder. „Weil ich keine Lust dazu habe. Ich kenne das idiotische Bild ja schon. Ich bin nicht neugierig drauf." „Ich schwimme nicht hin", erwiderte die Hure mit beleidigtem Gesicht. „Ich bin doch nich' le-lebens-müde. In der Bucht sind Haie." „Nicht um diese Zeit." „Das lüg-st du ..." „Ich lüge nie", entgegnete della Rocca schroff. „Nachts schlafen die Haie, das weiß jeder. Außer dir. Du bist eben doch eine dumme Gans." Anita schmollte eine Weile, aber es dauerte nicht mehr lange, und sie hielt es vor Neugierde nicht mehr aus. Sie wollte das Relief sehen. Plötzlich richtete sie sich auf und versuchte aufzustehen. Es gelang nicht. Sie kippte um und landete im Sand.
„He!" brüllte der Korse. Er hieb sich vergnügt mit der Hand auf den Oberschenkel und wollte sich ausschütten vor Lachen. Anita gab nicht auf. Mühsam rappelte sie sich vom Strand auf. Sie fluchte und kicherte abwechselnd, dann rannte sie zum Wasser - vorbei an den vom Rum völlig betrunkenen Piraten und Frauen. Keiner war mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Einige lagen, vom Schnaps völlig betäubt, am Boden, streckten Arme und Beine von sich und schnarchten. Kaum einer registrierte noch richtig, was Anita unternahm. Della Rocca erhob sich. Auch er hatte erhebliche Schwierigkeiten, die Balance zu halten. Doch es gelang. Er wankte hinter der taumelnden Hure her. Das Feuer war nun weit heruntergebrannt. Nur noch wenige kleine Flammen züngelten, der Rest war Glut. Der Braten, halb aufgezehrt, erkaltete. Anita blieb dicht vor der rauschenden Brandung stehen und zog sich aus. Sie verlor dabei erneut das Gleichgewicht und fiel hin. Aber nichts konnte sie aufhalten. Sie riß sich die letzten Sachen vom Leib, dann rannte sie ins Wasser. Der Korse lachte. Er zog sich selbst aus und eilte ihr nach. Sie schien es nicht zu bemerken. Anita tauchte bis zum Kopf unter und begann zu schwimmen. Mit wenigen kräftigen Zügen war della Rocca hinter ihr. Er tauchte und griff nach ihrem Bein. Anita schrie gellend auf. „Ein Hai! Ein Hai!" kreischte sie. An Land reagierte keiner darauf. Die Kerle und die Weiber waren zu betrunken. Auf der Zweimastschalup
pe schlief der Posten tief und fest. Nur die Ankerwache der „Bonifacio" schreckte hoch und stürzte ans Schanzkleid. „Was ist denn los?" rief der Kerl. Della Rocca schoß neben Anita aus dem Wasser hoch. Sie war wie von Sinnen und schlug wild um sich. Der Korse packte ihre Handgelenke und hielt sie fest. „Alles in Ordnung!" rief er dem Wachtposten zu. „Penn weiter, du Sack!" Anita tauchte unter und schluckte Wasser. Plötzlich sackte sie tiefer. Della Rocca griff ihr unter die Achseln und brachte sie zum Ufer. Hier schleppte er sie auf den Strand und gab ihr einen Schlag aufs Hinterteil. Die Hure spuckte das Salzwasser aus, das sie getrunken hatte. Sie keuchte, drehte sich auf den Rücken, blieb liegen und atmete tief durch. Sie war jetzt wieder einigermaßen nüchtern. „Da habe ich dir einen schönen Schrecken eingejagt, was?" sagte der Korse grinsend. „Du verdammter Bastard", flüsterte sie. „He!" Er fuhr hoch und griff nach ihrem Hals. „Wage bloß nicht, mich zu beleidigen!" „Ich - mache ja nur Spaß", keuchte sie. „Und du willst das Relief immer noch sehen?" fragte er. „Ja." „Morgen früh", brummte della Rocca, dann ließ er sich auf sie sinken.
5.
Am nächsten Morgen, dem Vormittag des 18. Juli, ließ Hasard die Mannen der „Empress of Sea II." wieder an Bord der „Isabella IX." kommen. In der Kapitänskammer fand erneut eine Lagebesprechung statt. Kriegsrat wurde gehalten. Della Rocca und dessen Kerlen sollte es nun an den Kragen gehen allerdings nicht auf die direkte, sondern auf die „feine englische" Art, wie der Seewolf insgeheim bereits beschlossen hatte. „Natürlich könnten wir mit beiden Schiffen in die Bucht der Piraten segeln und das Feuer eröffnen", erklärte er seinen Mannen. „Aber das halte ich in diesem Fall nicht für angebracht. Ich finde sogar, es ist unsinnig. Eine kleine Kriegslist ist da besser und gescheiter." „Aha", sagte der alte O'Flynn breit grinsend. „Jetzt erfahren wir also endlich etwas von deinem Plan." „Ich kann mir schon in etwa vorstellen, wie der aussieht", meinte Ferris Tucker. „Wir nehmen uns die Galeone heimlich vor und kramen ein wenig herum, um della Roccas Perlen-Buch zu finden. Richtig?" „Goldrichtig", entgegnete der Seewolf. „Aber ich habe mich für eine kombinierte Aktion entschieden. Während einige von euch die ,Bonifacio' entern, unternehmen ein paar andere ein Ablenkungsmanö ver." „Na, da wären ja wohl ein paar Flaschenbomben angebracht", sagte der Profos. „Wir lassen sie zwischen den Dünen hochgehen. Oder zwischen den Felsen. Ist ja egal, wo." „Dazu sind mir die Flaschenbom ben zu schade", erwiderte Hasard. „Ich weiß etwas Besseres." Er
entwickelte seinen Plan, über den er anfangs bei der Verfolgung der „Bonifacio" nachgedacht hatte. Die Männer lauschten mit konzentrierten Mienen. Sie schwiegen und unterbrachen ihren Kapitän nicht. Erst als Hasard geendet hatte, sagte Big Old Shane lachend: „Beim Donner, das ist ein reichlich verwegener Plan! Aber er gefällt mir! Und wie er mir gefällt!" „Wieder mal typisch der alte Seewolf", kommentierte Ben Brighton. „Na, das haben wir doch gern, oder?" „Und ob!" stieß Old O'Flynn hervor. „Ich finde den Plan ausgezeichnet." „Also hat keiner vor euch Einwände?" fragte Hasard. Keiner antwortete darauf. Die Mannen grinsten nur. Und mit einemmal tanzten auch in ihren Augen die tausend Teufel. Es galt, della Rocca und die Piraten gründlich an der Nase herumzuführen und obendrein zum Narren zu halten. Wenn die Galgenstricke schließlich erfuhren, wie ihnen geschehen war, würden sie ganz schön dumm dreinschauen. „Nein", entgegnete Old O'Flynn schließlich. „Ich glaube, keiner von uns hat was an deinem Plan auszusetzen. Oder hat vielleicht einer einen besseren Vorschlag?" „Nicht die Bohne", erwiderte Carberry. „Allerdings kann ich mich erinnern, daß du lieber entweichen wolltest, Donegal, wegen der Leichen." „Sprich doch nicht in der Mehrzahl", sagte der Alte zischelnd. „Von einer toten Leiche war die Rede, nur von einer. Warum mußt du immer gleich so maßlos übertreiben?"
„Von lebendigen Leichen habe ich noch nichts gehört", sagte Carberry drohend. Einige der Anwesenden verdrehten die Augen. Shane stöhnte dumpf. Hasard junior ließ einen Seufzer vernehmen. Sein Vater lächelte und wandte sich an Carberry und Old O'Flynn. „Nun fangt nicht schon wieder an, ihr beiden", sagte er. „Die Sache mit dem Toten ist doch längst vergessen." „Klar", erwiderte der Alte. „Aber es hat noch keiner auf meine Frage geantwortet." „Dad", sagte Dan O'Flynn. „Keiner von uns hat einen Gegenvorschlag. Wir sind alle einverstanden. Am besten wäre es, wenn wir gleich loslegen würden." Ferris Tucker sagte: „Aber wir sollten vorher noch was futtern. Diese Piraten leben wie Gott in Frankreich. Und wir? Wir sollten uns auch den Bauch vollschlagen, ehe wir in die Schlacht ziehen." „Ganz meine Meinung", sagte Martin Correa lachend. „Im übrigen hat der Anblick des schönen Schweinebratens heute nacht bei mir ein ziemliches Magenknurren verursacht." „Undankbare Bande", sagte der Profos. „Als ob ihr nie was zu essen kriegt." Er blickte jedoch an sich hinunter und beklopfte seinen Magen. „Allerdings habe ich auch schon ein Loch im Bauch. Ich glaube, es geht auf die Mittagsstunde zu." In der Tat - schon kurze Zeit darauf rief der Kutscher zum Backen und Banken. Die Männer versammelten sich auf der Kühl der „Isabella" und nahmen die Mahlzeit zu sich. Mac Pellew und der Kutscher hatten einen schmackhaften Eintopf
mit Linsen, Bohnen und Speck zubereitet. Er mundete den Männern ausgezeichnet. Sie tranken Bier zu dem Gericht und zum Abschluß jeder einen Brandy. Dann besprachen sie Einzelheiten ihres Vorhabens, und Hasard bestimmte die Männer, die das Unternehmen durchführen sollten.
* Es war nur eine kleine Crew, die am Nachmittag mit der Jolle aufbrach. Fünf Männer enterten in das Boot ab: Dan O'Flynn, Ferris Tucker, Carberry, Martin Correa und Gary Andrews. Sie nahmen auf den Duchten Platz, legten von der „Isabella" ab und winkten den Kameraden noch einmal zu. „Mast- und Schotbruch!" rief Hasard ihnen nach. „Wird schon schiefgehen!" erwiderte der Profos. Wenig später hatte die Jolle die Ankerbucht der „Isabella" und der „Empress" verlassen und segelte nach Nordosten. Es war derselbe Törn wie in der vergangenen Nacht das Ziel war die kleine Bucht, in der Hasard, Dan und Martin als Späher an Land gegangen waren. Ein warmer Tag, doch die Sonne erschien nur selten. Wolken trieben am Himmel. Der Wind wehte nach wie vor aus Osten. Eine Verschlechterung des Wetters würde, so schätzten die Männer, noch nicht eintreten, es blieb beständig. Aber es kündigte sich wieder eine finstere, mondlose Nacht an. Dan hielt die ganze Zeit über mit dem Spektiv Ausschau. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der Insel. Immerhin war es möglich, daß
della Rocca inzwischen doch Posten aufgestellt hatte. Die fünf in der Jolle mußten zumindest damit rechnen. Aus diesem Grund war keine Vorsichtsmaßnahme übertrieben. Doch es zeigte sich nach wie vor kein Mensch auf Cozumel. So gesehen, schien die Insel wirklich verlassen zu sein. Wer nicht eingeweiht war und von dem Schlupfwinkel der Freibeuter wußte, der segelte an diesem Eiland in der Überzeugung vorbei, daß hier nur Tiere lebten. Dan, Ferris, der Profos, Martin und Gary steuerten die kleine, versteckte Bucht an. Carberry ließ seinen Blick noch einmal über die See wandern, ehe sie mit der Jolle durch die Einfahrt lavierten. „Kein Schiff zu sehen", stellte er beruhigt fest. „Della Rocca hockt noch in seinem Nest, und Dons, die uns in die Quere geraten könnten, tauchen auch nicht auf." „Das wäre wohl auch ein starkes Stück", entgegnete Gary. „Wenn ausgerechnet jetzt Dons erscheinen würden, meine ich." „Das müßte mit dem Teufel zugehen", sagte Ferris. „Ja, es wäre wirklich ein Zufall", sagte Dan. „Die Dons würden sicherlich gern eine Hetzjagd auf della Rocca veranstalten. Aber sie wissen nicht, wo sie ihn suchen sollen. Da haben wir ihnen schon einiges voraus." Sie lachten. Die Jolle glitt in die Bucht. Ein paar Möwen und andere Seevögel stiegen zwischen den Felsen und hinter den Dünen auf, das war alles. Sonst rührte sich nichts. Die Bucht war ein ruhiger Platz. Keiner störte die kleine Crew. Die Männer richteten sich auf ein paar Stunden Wartezeit ein. Sie
vertäuten die Jolle, gingen an Land, befaßten sich routinemäßig mit ihren Waffen. Alles hatte seine Richtigkeit. Die Musketen und Pistolen waren geladen und feuerbereit, die Säbel und Messer scharf gewetzt. Genug Pulver und Kugeln hatten die Männer auch bei sich - und Höllenflaschen natürlich. Ferris Tucker trug sie bei sich. So waren sie auf jede Art von Überraschung gefaßt und konnten sich verteidigen, wenn unvermutet Gegner auftauchten. Doch es blieb alles ruhig. Die Männer sahen sich die Umgebung an, zunächst Carberry und Dan, dann Ferris, Martin und Gary. Es tat sich nichts. Nur Vögel kreisten über Cozumel, und im Sand und zwischen den Steinen waren hin und wieder Eidechsen und Schlangen zu beobachten, die vor den Zweibeinern Reißaus nahmen. „Das ist schon fast langweilig", sagte Ferris. „Ich kann kaum erwarten, daß es richtig losgeht." „Sicher pennen die Piraten noch ihren Rausch aus", meinte Carberry. „Es muß ja ziemlich hoch hergegangen sein letzte Nacht." „Allerdings", erwiderte Martin Correa. „Ich schätze, am Ende waren sie alle stockbetrunken." „Auch die Frauen?" wollte Ferris wissen. „Ja, die auch", antwortete Dan. „Wie es sich für solche Ladys gehört. Und della Rocca ist der Größte. Er säuft am meisten, scheint aber auch das beste Durchhaltevermögen zu haben." Carberry grinste verächtlich. „Na, ist ja fein, daß er so viel verträgt. Bald braucht er ein ganzes Fäßchen Rum, um seine Niederlage zu überwinden." „Vorausgesetzt, es klappt alles", warf Gary ein.
Der Profos zwinkerte ihm zu. „Das haut schon hin, keine Sorge." „Und wenn wir das Buch nicht finden?" fragte Ferris. „Mann, du alter Klampenhauer", sagte Carberry. „Du bist doch gerissen genug. Du weißt, wo du nachsehen mußt. Mit Geheimverstek ken hast du doch deine Erfahrungen." Ferris mußte lachen. „Allerdings. Aber es besteht auch immer noch die Möglichkeit, daß unser Freund, der Perlen-Wolf, seine Aufzeichnungen irgendwo vergraben hat und nicht an Bord seines Schiffes versteckt hält." „Das glaube ich nicht", brummte der Profos. Damit war für ihn das Thema vorläufig abgeschlossen. Der Tag ging zur Neige. Im Westen senkte sich die Sonne, die nun unter Wolkenbänken hervorglitt, der See entgegen. Der Himmel färbte sich rötlich, dann blaßgrau. Lange Schatten krochen auf Cozumel zu. Es wurde rasch dunkel. Carberry rieb sich die Hände. „Auf geht's, Freunde", sagte er. „Wir trennen uns also wie vereinbart." „Aye, Sir", entgegnete Dan grinsend. „Und wir wünschen euch viel Erfolg." „Danke, gleichfalls", sagte der Profos. Er streckte Ferris die Hand entgegen. „Aber eins hätten wir fast vergessen. Gib mir ein paar von deinen Höllenflaschen. Wenn's dick kommt, könnten wir sie gebrauchen." Der rothaarige Riese überreichte Carberry drei Flaschenbomben. Carberry nahm sie entgegen und verstaute sie in seinen Taschen. Die Männer tauschten noch ein paar Worte, dann kletterten Dan O'Flynn und Ferris Tucker in die Jolle und legten vom Ufer ab. Ferris übernahm
die Pinne, Dan setzte das Segel. Das Boot glitt aus der Bucht auf die See. Carberry schickte der Jolle einen letzten Blick nach. Dann wandte er sich zu Gary Andrews und Martin Correa um. „Martin, du übernimmst die Führung", sagte er. „Du kennst dich ja bereits aus." „Aye, Sir", antwortete der Spanier. Die drei marschierten los - in Richtung Nordosten, wo sich der Schlupfwinkel der Piraten befand. Die Nacht fiel beinah übergangslos mit düsteren Schleiern. Es wurde stockdunkel. Dennoch hatte Martin keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufin den. Er schritt zügig voraus. Carberry und Gary waren dicht hinter ihm, ständig darum bemüht, den Anschluß nicht zu verlieren. Schweigend näherten sich die drei dem Lager der Piraten. Bald konnten sie einen schwachen rötlichen Schein vor sich erkennen. „Aha", sagte Martin gedämpft. „Die Sefiores haben also wieder ein Feuer angezündet." „Ob sie wieder ein Schwein braten?" fragte Gary leise. „Hast du schon wieder Hunger?" zischte der Profos. „Nein, ich frage nur so." „Kann schon sein", erwiderte Martin. „Aber ein Saufgelage wie das letzte veranstalten sie bestimmt nicht." „Weil sie noch dicke sind?" Der Profos lachte leise. „Oder weil wir sie davon abhalten? Na, das ist ja egal. Die Hauptsache ist, daß alles so abläuft wie geplant." Sie zogen es vor, wieder zu schweigen. Je näher sie dem Schlupfwinkel der Bande kamen, desto leichter war es, sich zu
verraten. Inzwischen stellte sich wieder die Frage, ob della Rocca nicht vielleicht doch rund um den Stützpunkt Wachen postiert hatte. Carberry, Gary und Martin verhielten sich wachsam und vorsichtig. Sie lauschten den Stimmen, die sie bald hören konnten, bewegten sich geduckt voran und blieben immer wieder stehen, um die „Lage zu peilen", wie Carberry es nannte. Doch die Sorglosigkeit von della Rocca schien keine Grenzen zu kennen. Nirgends war ein Wachtposten zu entdecken. Die Piraten schienen nicht einmal mit der Möglichkeit zu rechnen, daß irgendein Fremder auf einer anderen Seite der Insel landen könnte. Das war ein gravierender Fehler. Ein Fehler, den der Korse noch schwer bereuen sollte.
* Um Mitternacht hatten Ed Carberry, Martin Correa und Gary Andrews einen Punkt erreicht, der sich etwa drei bis vier Meilen östlich der Ankerbucht des Korsen befand. Bei dem Platz handelte es sich um einen Hügel. Er war wie geschaffen für ihr Vorhaben. Sie stiegen auf die Kuppe des Hügels und konnten das Feuer, das im Versteck der Piraten flackerte, nun deutlicher sehen. Carberry betrachtete eine Weile den zuckenden Schein. Er glaubte sogar, die Umrisse der Bucht erkennen zu können. „Alles in Ordnung", sagte er. „Gleich werden die Seniores staunen. Sie glauben wohl, daß sie mit Feuer bestens umgehen können. Na,
vielleicht stimmt's ja auch. Aber wir können noch viel besser zündeln als sie. Wetten?" „Wetten?" erwiderte Gary. „Fangen wir an?" Carberry nickte. „Es geht los. Wir machen ein Feuerchen, und das nicht zu knapp." Die drei Männer begannen, die Umgebung nach brennbarem Material abzusuchen. Holz war genug vorhanden - morsches Zeug, das auf dem Boden zwischen Bäumen und Büschen herumlag. Sie brauchten es nur aufzusammeln. Auf der Kuppe des Hügels bauten Carberry, Gary und Martin einen regelrechten Scheiterhaufen. Im Zentrum lagerten sie dürres Geäst auf dem Untergrund, das als Zunder zu dienen hatte. Rundherum und darüber schichteten sie die größeren Stücke auf. Zuletzt schleppte Carberry ein paar dicke Baumstümpfe heran, die er allerdings noch zurückhielt. „Anzünden, Freunde", sagte er. Martin Correa hielt ein Stück Feuerstahl bereit. Gary Andrews schlug mit einem Flint dagegen. Sie brauchten einige Zeit, um die Funken auf den Zunder überspringen zu lassen. Dann aber klappte es. Der Zunder fing Feuer, begann zu knistern und zu brennen. „Der Rest ist ein Kinderspiel", sagte der Profos. Gary und Martin richteten sich auf. „Vorausgesetzt, unser Feuerchen geht nicht wieder aus", sagte Gary. „Nicht bei diesem Wind", erwiderte Carberry. Er sollte recht behalten. Der Ostwind fachte die Flammen an. Immer höher stiegen sie auf, und die Äste begannen zu lodern. Der Scheiterhaufen knackte und
prasselte. Es wurde sehr warm, dann so heiß, daß man es in der unmittelbaren Nähe des Feuers nicht mehr aushielt. Die drei Männer mußten zurücktreten. Carberry hievte jetzt die Baumstümpfe in die Flammen. Sie faßten ebenfalls Feuer, trocken genug waren sie. Die Männer traten noch etwas weiter zurück und betrachteten ihr Werk. Die Rechnung ging auf. Der Wind aus Osten ließ das Feuer fauchen. Damit nicht genug. Erste Funken flogen durch die Luft und senkten sich auf die Büsche. Auch die Büsche waren trocken. Auf der Insel schien es seit einiger Zeit nicht geregnet zu haben. Das wirkte sich günstig für das Vorhaben der Männer des Bundes der Korsaren aus. Der Wind trieb die Flammen immer tiefer ins Buschwerk - und damit in Richtung auf die Ankerbucht der Piraten. Carberry, Gary Andrews und Martin Correa standen noch kurze Zeit da und beobachteten, wie sich das Feuer zum Buschbrand ausweitete. Dann setzten sie sich ab - im Eilmarsch in Richtung Süden. Auf dem ersten Teil dieser Strecke verwischten sie noch ihre Spuren. Später war dies nicht mehr erforderlich. Von einer Anhöhe aus richtete Carberry sein Spektiv auf die Ankerbucht. „Kannst du was sehen, Ed?" „Ich glaube, da ist schon der Teufel los", entgegnete der Profos. „Sie laufen am Ufer auf und ab." „Und sie schreien", sagte Martin. „Ja, jetzt kann ich es auch hören", sagte Gary. „Sie fluchen und brüllen", sagte Carberry grinsend. „Die Wuhling
nimmt immer mehr zu. So ist's richtig." „Sie werden sich fragen, wie so ganz von selbst ein Buschbrand ausbrechen konnte", sagte Martin. „Na, es liegt eben an der Trockenheit. Eine andere Erklärung gibt es nicht." „Selbstentzündung", brummte Ed Carberry. „Della Rocca wird zwar nicht so recht daran glauben, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig. Durch Blitzschlag sind die Flammen jedenfalls nicht entstanden. Und Fremde treiben sich auf Cozumel nicht herum, was, wie?" „Nein", erwiderte Gary lachend. „Wir sind für den Perlen-Wolf so was wie Gespenster. Wir sind unsichtbar." „Los, hauen wir ab", sagte der Profos. „Sonst entdecken uns die Halunken doch noch, und es ist aus mit dem Mummenschanz und der Geisterspielerei." Sie marschierten weiter schnurstracks nach Süden. Hinter ihnen war das Prasseln und Knistern des Feuers zu vernehmen. Das Schreien und Fluchen der Piraten rückte allmählich näher. Die Flammen stiegen immer höher. Bald schien der ganze Hügel, auf dem die drei Männer ihren Scheiterhaufen errichtet hatten, zu brennen. Carberry, Gary Andrews und Martin Correa wanderten an der kleinen Bucht, die ihnen am späten Nachmittag als Versteck gedient hatte, vorbei. Die Vereinbarungen lauteten, daß sie sich zu Fuß zur Ankerbucht der Schiffe zurückziehen sollten. Es hatte wenig Sinn, auf Dan und Ferris zu warten. Wie lange ihr Unternehmen im Schlupfwinkel der Piraten dauern würde, konnte man schlecht schätzen. So war es besser und
ratsamer, wenn Carberry und seine beiden Kameraden schon jetzt zur „Isabella" und zur „Empress" zurückkehrten. Sie grinsten sich zu. „Nun mal ehrlich", sagte der Profos. „War das nicht eine feine Zündelei?" „Ja", antwortete Gary. „Man kann richtig seine Freude daran finden." „Noch besser wäre es, wenn der Wind die Flammen genau in das Piratennest tragen würde", meinte Martin. „Ich stelle mir vor, wie die Dächer der Hütten Feuer fangen. Das würde die Kerle so richtig auf Trab bringen." „Mal abwarten, was noch passiert", sagte Carberry. „Auf jeden Fall sind die Bastarde erst mal abgelenkt." Er zog eine der Höllenflaschen aus der Tasche und wog sie in der Hand. „Mir hätte es ganz gut gepaßt, wenn es noch mehr Klamauk gegeben hätte. Aber wir haben unsere Anweisungen. Und daran halten wir uns." „Wir müssen uns daran halten", entgegnete Gary. Er lachte. „Klar, dir juckt es mächtig in den Fingern, Ed. So eine kleine Keilerei mit der Bande wäre nicht schlecht gewesen, was?" „Du hast es erfaßt", sagte der Profos. „Aber Hasard hat recht. Ein Kampf läßt sich vermeiden. Und das beste an unserem feinen Plan ist, daß della Rocca und seine Horde überhaupt nicht mehr aus dem Staunen rauskommen - weder jetzt noch später, wenn sie richtig merken, was los ist." „Dieser Teil von Hasards Plan scheint zu klappen", sagte Martin Correa. „Ich bin wirklich zufrieden, daß alles so reibungslos abläuft." „Ich auch", meinte Gary. „Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben."
„Wieso?" Carberry stieß einen grollenden Laut aus. „Es ist doch Abend. Finsterer könnte es doch nicht sein." „Das klingt mal wieder logisch", erwiderte Gary. „So wie die Geschichte mit den toten und lebendigen Leichen." Martin stöhnte auf. „Um Himmels willen, fangt jetzt nicht wieder damit an!" So verging die Zeit. Die Ankerbucht der Schiffe rückte allmählich näher. Etwa anderthalb Stunden sollten verstreichen, nachdem Carberry und seine beiden Begleiter das Feuer entfacht hatten, und das Trio erreichte die Bucht. Hier holten die Kameraden sie mit der großen Jolle der „Isabella" vom Ufer ab. Kaum waren der Profos, Gary und Martin an Bord, berichteten sie den Freunden, wie sie ihren Teil des Planes erledigt hatten. Jetzt waren Ferris und Dan am Zuge - und alle drückten ihnen die Daumen, daß ihr Unternehmen klappte.
6. Della Rocca hatte an diesem Abend nur eine Ankerwache eingeteilt: Zardo. Zardo, der Schwarzbart, versah mürrisch seinen Dienst an Bord der „Bonifacio". Die Zweimastschaluppe hingegen ankerte ohne Posten in der Bucht. Der Korse hielt es für völlig unnötig, auch die Schaluppe bewachen zu lassen. Zardo hingegen war der Ansicht, daß auch die Galeone keine Ankerwache nötig hatte. Und ausgerechnet ihn hatte della Rocca auswählen müssen. Eine Gemeinheit
war das! Zardo wollte wie am Vorabend mit den anderen feiern. Aber der Korse war nicht zu erweichen gewesen. Er hatte ihn zu dem langweiligen Dienst auf der „Bonifacio" verdonnert. Und hier hockte Zardo nun wie ein Trauerkloß. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt und barg das Kinn in den Händen. Mist, elender, dachte er. Immer wieder spähte Zardo zum Ufer. Da ging es bereits wieder hoch her. Della Rocca hatte noch ein Schwein schlachten lassen. Den ganzen Nachmittag über waren einige Kerle damit beschäftigt gewesen, es auszunehmen und abzubrühen. Jetzt drehte sich das Vieh am Spieß über dem Lagerfeuer. Und der Wein floß wieder in Strömen. Die Kerle grölten und lachten. Die Huren waren ausgelassen, sie kreischten und suchten sich ihre Freier. Man mußte die Feste eben feiern, wie sie fielen. Zardo dachte daran, wie herrlich das Besäufnis der letzten Nacht ausgefallen war. Er hatte sich mit einer üppigen Schwarzhaarigen vergnügt, die auf den Namen Carmela hörte. Carmela war so voll gewesen wie er, aber irgendwie hatten sie es geschafft, in eine der Hütten zu kriechen. Dort hatten sie sich geliebt. Dann waren sie beide eingeschlafen und hatten bis zum Morgen geschlummert. Entsagungsvoll verfolgte Zardo das Treiben an Land. Er stieß einen Seufzer aus. Warum hatte er nicht eine Flasche Wein mitgenommen? Zur Hölle, della Rocca merkte doch nichts davon, wenn er auf Wache soff.
Der Korse schäkerte wieder mit Anita herum. Sie waren beide angeheitert, aßen gemeinsam ein Stück Schweinefilet und lachten albern. Vielleicht finde ich ja irgendwo 'ne Flasche, dachte Zardo. Er verließ seinen Posten und stieg in das Vorschiff hinunter. Hier nahm er sich als erstes die Kombüse vor und stöberte in den Schapps herum. Er entdeckte ein paar Flaschen. Doch sie enthielten Öl und Essig. So schnell gab Zardo nicht auf. Er schritt zur Vorratskammer. Aber das Schott war mit einem dicken Schloß aus Eisen fest verriegelt. Scheißkram, dachte Zardo. Natürlich wußte er, daß der Kerl, der auf der „Bonifacio" als Koch, Feldscher und Proviantmeister eingesetzt war, seine genauen Anweisungen hatte. Wehe, er ließ sich was klauen! Della Rocca machte ihn persönlich dafür haftbar. Dann mußte der Kerl nach der Peitsche tanzen. Und weil er das nicht wollte, sorgte er lieber dafür, daß keiner der Piraten etwas klauen konnte. Zardo setzte seinen Weg fort. Sir eher, es war ihm bekannt, daß della Rocca in der Kapitänskammer erhebliche Privatvorräte an Wein und Schnaps aufbewahrte. Aber dort einzudringen war gleichzusetzen mit Selbstmord. Der Korse bekam es garantiert heraus. Und dann gab es keine Gnade mehr für den Kerl, der das gewagt hatte. Er konnte sich gleich eine Kugel durch den Kopf jagen. Das war sogar noch besser für ihn. Lieber suchte Zardo das Logis auf. Er legte sich auf die Planken und kroch ein wenig herum. Schließlich zog er grinsend eine Flasche unter
einer der Kojen hervor. Rovigo hatte sie dort versteckt. Rovigo, du Hundesohn, dachte Zardo. Na, du kriegst deinen Hals ja heute nacht voll genug. Da kannst du dem alten Zardo schon mal einen guten Schluck gönnen, was? Kichernd kehrte Zardo mit der Flasche an Oberdeck zurück. Er enterte auf die Back und schaute sich aufmerksam um. Nein, keiner hatte bemerkt, daß er kurz verschwunden war. Wer denn auch wohl? Della Rocca? Der kümmerte sich doch nicht um seine Ankerwache! Also - die Flasche. Zardo entkorkte sie und rieb mit dem Korken am Glas herum. Das gab einen quietschenden Laut. Zardo lachte leise. Diese Musik hörte er gern. Er schnupperte an der Flaschenmündung und sog den Geruch des Weines ein. Ein guter Tropfen, dachte er. Gut, gut, Rovigo. Du bedienst dich nicht schlecht, was? Zardo nahm einen Probeschluck zu sich. Er setzte die Flasche wieder ab und gab einen zufriedenen Laut von sich. Wirklich - das war ein edler Tropfen. Malvasia seiner Ansicht nach oder aber San Jueves, ebenfalls ein süffiger Rotwein. O doch, mit Weinen kannte er sich aus. Da konnte ihm keiner was vorerzählen. Während am Strand der Lärm immer mehr zunahm, leerte Zardo in aller Gemütsruhe die Flasche Wein. Nun, was war schon so eine Flasche für einen Kerl wie ihn? Zardo konnte den Wein gallonenweise saufen, es machte ihm nichts aus. Erst wenn er dann Rum soff, geriet die Welt aus den Angeln. Dann konnte es leicht passieren, daß Zardo einfach umkippte und einschlief. Wenn er wieder
aufwachte, hatte er entweder einen Brummschädel, oder er fühlte sich sauwohl. Eins von beidem. Zardo ließ den letzten Tropfen Wein über seine Lippen rinnen. Die Flasche war leer. Man konnte sie nicht auswringen. Es kam kein Wein mehr heraus. Mist, dachte er. Dann warf er die Flasche außenbords, wo sie mit einem leisen Plätschern in den Fluten untertauchte. Zardo gähnte. Müde war er. Ein bißchen Schlaf tat jetzt gut. Später suche ich mir noch eine Flasche, dachte er. Dann sank er mit seligem Grunzen in Morpheus' Arme. Er träumte davon, wie er durch eine riesige Weinkellerei spazierte, ein Faß nach dem anderen anstach und den kühlen Wein aus einem bauchigen Krug probierte. Etwas später zuckte er zusammen. Die Pflicht rief ihn nun doch wieder wach. Er dachte an della Rocca und an das, was geschah, wenn ihn der Korse beim Pennen auf Wache erwischte. Zardo schreckte hoch und blickte über das Schanzkleid zum Ufer. Dort wurde grölend gefeiert. Keiner beachtete ihn. Also konnte er doch noch eine Runde schlafen. Doch etwas anderes erregte Zardos Aufmerksamkeit. Oben, im Inneren der Insel, flackerte etwas rötlich auf. Feuer, dachte Zardo. Flammen, die sich dem Schlupfwinkel der Bande zu nähern schienen. Plötzlich begriff Zardo. „Feuer!" brüllte er. Dann noch einmal, diesmal lauter: „Feuer! Feuer!" Zuerst hatte es den Anschein, als hätte man ihn an Land nicht verstanden. Dann aber sprangen sie auf - della Rocca, Rovigo und einige andere Kerle. Sie drehten sich um
und erblickten das lodernde Feuer. Auch die Huren wandten die Köpfe. „Feuer!" Ein einziger Schrei gellte über die Bucht. Die Piraten fluchten und brüllten. Della Rocca überschrie sie alle - er gab seine Befehle. „Das Feuer löschen, ihr Hurensöhne!" brüllte er. Auch aus den Hütten stürzten nun Weiber und Kerle. Sie riefen und fluchten durcheinander. Es herrschte größte Aufregung. Das Fest war gestört. Zardo auf der Back der „Bonifacio" fuchtelte wie ein Besessener herum und wies zum Landesinneren. „Da! Oben! Auf dem Hügel! Da brennt es!" schrie er. Seine ganze Konzentration galt dem Feuer. „Löschen!" Della Rocca trat einem der Kerle in den Hintern. Der Kerl stürzte in den Sand. Die anderen torkelten und taumelten durcheinander. Löschen - aber mit was? Die Verwirrung wuchs. Keiner wußte so recht, was er tun sollte. Della Rocca rannte zu den Hügeln hinauf. Er wußte, was der Wind anrichten konnte. Das Feuer loderte schon hoch genug. Ein paar Funken genügten, und schon standen auch die Hütten in Brand. Das mußte verhindert werden - und wenn er das Feuer austrampeln mußte. Zardo war derart von dem Geschehen gefesselt, daß er nicht merkte, was hinter seinem Rücken geschah. Eine Jolle glitt lautlos in die Bucht. An Bord befanden sich Dan O'Flynn und Ferris Tucker. Ihr Ziel war das Heck der „Bonifacio".
* Um Mitternacht standen Dan und Ferris mit der Jolle querab der
Ankerbucht der Piraten und warteten ab. Als sie weiter östlich das beginnende Feuer sahen, stießen sie sich mit den Ellenbogen an. „Na also", sagte Dan. „Der alte Ed, Gary und Martin haben ganze Arbeit geleistet." „Teil eins des Plans klappt vorzüglich", erwiderte der rothaarige Riese grinsend. Sie steuerten mit dem Boot auf die Einfahrt der Bucht zu - unter Segel. Zu diesem Zeitpunkt begann der Ankerposten vorn auf der Back der „Bonifacio", sein „Feuer, Feuer!" zu brüllen. Am Ufer der Bucht entstand Panik. Der Ankerposten deutete landeinwärts und zeigte, wo es brannte. „Sehr schön", sagte Dan. „Hasard hatte wirklich recht. Die Kerle sind völlig aus dem Häuschen. Das kommt davon, wenn man nur ans Saufen denkt." „Ja", pflichtete Ferris ihm bei. „Wein und Rum können einen ganz' schön betäuben." Das Boot glitt auf die Galeone der Piraten zu. Der Mann auf der Back drehte sich nicht um. Er bemerkte die beiden Männer nicht. Sein Blick war die ganze Zeit über zum Land gerichtet. Dan und Ferris legten mit der Jolle am Heck der „Bonifacio" an. Und der Kerl auf der Back war immer noch vollauf mit dem Feuer beschäftigt, das inzwischen immer höher aufloderte. Dan und Ferris waren völlig ungestört. Sie konnten in Ruhe ihre „Arbeit" verrichten. Ferris hätte auch seine Höllenflaschen am Ruder der Galeone befestigen und zum Explodieren bringen können - keiner hätte ihn daran gehindert. Zardo, der Ankerposten, schon gar nicht.
Wie die Katzen enterten Dan und Ferris am Ruder der „Bonifacio" hoch. Sie kletterten an der Heckgalerie nach oben und schwangen ihre Beine über die Balustrade. Nun pirschten sie zum Schott. Dan spähte durch die Bleiglasfenster ins Innere der Kapitänskammer. Ferris schob sich neben ihn. „Und?" raunte er. „Nichts", erwiderte Dan gedämpft. „Die Kammer ist leer." „Dann nichts wie rein!" Dan brach das Schott auf und schlüpfte als erster durch den Spalt ins Innere. Ferris folgte ihm. Jetzt befanden sie sich in der Kammer des Kapitäns - punktgenau, wie Dan im stillen feststellte. Ferris riegelte das Schott ab, das auf den Mittelgang des Achterkastells führte. Damit waren sie ungestört. „Eine runde Sache", sagte Dan. Er tastete auf dem Pult herum, fand ein Talglicht und entfachte es. „Der Korse ist an Land, was?" „Ja", erwiderte Ferris. „Er ist nämlich nicht an Bord." „Logisch." „Wie die Sache mit der toten Leiche." „Fängst du jetzt auch schon davon an?" zischte Dan. Sie lachten leise und begannen mit ihrem Werk. Ferris schaute sich überall genau um. Er ging in die Hocke, klopfte die Planken ab und kroch im Raum herum. Dan befaßte sich mit den Schapps und der Koje. „Und?" fragte Ferris. „Bis jetzt nichts", entgegnete Dan. „Und wie sieht's bei dir aus?" „Keine Hohlräume." „Lassen sich die Planken nicht bewegen?" fragte Dan.
Ferris schüttelte den Kopf. „Nein. Sind alle festgenagelt. Hier unter den Planken ist rein gar nichts. Trübe Aussichten." „Willst du etwa schon aufgeben?" Ferris erhob sich. „Unsinn." Er griff nach dem Talglicht, hielt es hoch und sah sich erneut um. Diesmal betrachtete er die Wände und die Decke der Kammer. „Vertäfelte Seitenwände", murmelte er. „Aha." „Und was bedeutet dieses ,Aha'?" wollte Dan wissen. „Abwarten." „Ich habe Geduld." „Im Moment scheint mir das nicht der Fall zu sein", entgegnete der rothaarige Riese grinsend. Er schritt mit dem Talglicht in der Hand auf und ab. „Ich bin der geduldigste Mensch auf der Welt", sagte Dan. „Nur mag ich nicht so gern auf die Folter gespannt werden." „Unsinn", sagte Ferris. „Ich halte dich nicht hin, keine Angst. Aber sieh dir mal diese Wände an. Was hältst du davon?" „Du meinst, sie könnten hohl sein?" „Irgendwo könnte es einen kleinen Hohlraum geben, meine ich, groß genug, um ein Buch oder Schriftrollen darin zu verstecken." „Ja, aber da können wir lange suchen." „Wir haben noch Zeit", sagte Ferris. „Nicht die ganze Nacht über." „Hör mal, ich habe doch eine gute Nase", sagte Ferris. „Und du vertraust mir doch auch, wie?" „Ja", flüsterte Dan. „Aber wenn wir noch länger so laut herumquatschen, entdeckt uns der Posten doch noch." „Der hat genug mit der Beobachtung des Feuers zu tun", erwiderte Ferris grinsend.
Dan grinste ebenfalls. „Also schön. Streng dich an. Schließlich bist du ein gewichster Schiffszimmermann, der sich auch mit Geheimverstecken auskennt. Nun mach deinem Beruf schon Ehre." „Nicht drängeln", sagte Ferris. Er arbeitete sich an der Wand entlang - bis zur Koje. Hier verharrte er und kniete sich auf das Lager. Dan beobachtete ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Kurz darauf wurde Ferris Tucker fündig - an der Kopfvertäfelung der eingebauten Koje. Die Vertäfelung bestand aus Kassettenmustern, die sich durch Leisten voneinander abhoben. „Abrakadabra", sagte Ferris. „Sesam, öffne dich!" „Mann", sagte Dan. „Du gehst mir auf den Geist." „Kann ich nun zaubern oder nicht?" Ferris' Finger fuhren über die Leisten. „Das kann nicht mal mein Dad." „Sieh dir mal diese Leiste hier an." Ferris hob das Talglicht etwas an und beleuchtete die Leiste, die er meinte. Dan beugte sich zu ihm hinunter. Da sah er, was der Schiffszimmermann meinte. Eine Leiste war dunkler als die anderen. Auf den ersten Blick wirkte es, als habe man sie aus irgendeinem Grund stärker gebeizt als die anderen oder mit einer anderen Farbe gestrichen. Aber der Grund für die Verfärbung war ein anderer. „Die wird oft benutzt", sagte Ferris. „Deshalb ist sie so dunkel. Ich nehme aber nicht an, daß della Rocca sie aus reiner Freude am Vergnügen streichelt." „Na, versuch's doch mal", forderte Dan den Freund auf. „Ob sie sich wohl bewegt?"
„Darauf würde ich einiges verwetten." Ferris umfaßte die Leiste mit Daumen und Zeigefinger. Die Leiste stand senkrecht. Ferris drückte dagegen, bewegte die Hand auf und nieder - und die Leiste glitt lautlos hoch. Dann ertönte ein knackendes Geräusch. „Na, ich hab's ja gesagt", murmelte Ferris. „Bist eben doch ein Meister deines Faches", sagte Dan grinsend. Durch das Knacken schien hinter der Holzvertäfelung etwas auszurasten - und links neben der Leiste sprang ein Türchen auf. Die beiden Männer senkten die Köpfe noch etwas tiefer und blickten wie gebannt in die Öffnung. „Aha, aha", flüsterte der rothaarige Riese. „Achtung", warnte Dan. „Es könnte auch eine Falle sein." „Was für eine Falle denn wohl?" fragte Ferris leise. „Na, es könnte beispielsweise eine Schlange in dem Fach sein." „Eine giftige?" Ferris lachte und schüttelte den Kopf. „Ach wo. Della Rocca als Piratenkapitän hat schon selbst genug Gift im Leib. Der braucht keine Schlange." Scheinbar völlig unbekümmert griff Ferris in die Öffnung. Er war aber doch auf der Hut, bereit, die Hand blitzartig wieder zurückzuziehen, falls irgend etwas geschah. Doch es regte sich nichts in dem Geheimfach. Ferris' Finger ertasteten einen Gegenstand. Ganz vorsichtig griff er danach und zog ihn heraus. Mit dem Stolz des Finders wies er ihn im Licht der Lampe vor. „Ein Buch", flüsterte Dan. „Ganz in Schweinsleder gebunden", raunte Ferris.
„Na, wenn das nichts ist." „Na los!" drängte Dan. „Schau doch mal rein." Ferris schlug das Buch auf. Sie warfen beide einen Blick hinein - nur ganz kurz. Dann grinsten sie bis zu den Ohren. „Daraus soll einer schlau werden", sagte Ferris. „Klar, della Rocca hat einen Code benutzt, damit ihm keiner auf die Schliche kommt", erwiderte Dan. „Aber wir werden diesen Code schon knacken. Auf jeden Fall handelt es sich um Karten, also um das Buch der Perlen." „Nur was die Zahlenreihen bedeuten, ist ein Rätsel." „Laß uns erst mal verschwinden", sagte Dan. „Alles Weitere wird sich schon noch ergeben." Ferris überreichte das Buch mit feierlicher Geste Dan. Der ließ es unter seinem Wams verschwinden. Ferris wollte das Geheimfach wieder schließen, aber in diesem Moment ertönten Geräusche. Durch das Geschrei der Kerle an Land waren deutlich andere Laute zu vernehmen - Schritte an Bord der „Bonifacio". Ferris griff zum Messer. Dan zückte seinen Degen. Sie schlichen zum Schott, lehnten sich dagegen und lauschten. Die Schritte näherten sich dem Achterdeck, dumpf und polternd. Sie verharrten. Das Achterdecksschott wurde geöffnet. „Was tun?" zischte Dan. „Das muß der Posten sein." „Warte mal", brummte Ferris. „Wenn er zu nah heranrückt, müssen wir ihn überwältigen. Falls er merkt, daß das Schott zugeriegelt ist, schöpft er sicherlich Verdacht, daß etwas nicht stimmt." Reglos standen Dan und Ferris am Schott. Ferris hielt sich bereit, das
Schott blitzschnell zu entriegeln. Dan stand auf dem Sprung. Kam der Pirat ganz dicht heran, würde er sich mit einem Satz auf ihn werfen. Das wichtigste war, daß er den Mann sofort zum Verstummen brachte. Zardo, der Wachtposten, stand im offenen Achterdecksschott und überlegte. Jetzt, da er Feueralarm gegeben hatte, war an Land der Teufel los. Er selbst hatte aber nichts mehr zu tun. Und er dachte nicht daran, zum Ufer zu pullen und seine Kumpane beim Löschen des Brandes zu unterstützen. " Erstens hatte er seine Befehle. Er hatte Ankerwache - und wehe, er rührte sich vom Fleck. Zweitens hatten die Kumpane im Lager ja ihren Spaß gehabt. Jetzt sollten sie mal tüchtig schuften, das tat ihnen gut. Zu tun gab es für Zardo also nichts mehr. Er hätte jetzt gern noch ein bißchen Wein getrunken. Aber weder in der Kombüse noch im Logis ließ sich auch nur eine halbe Flasche Wein auftreiben. Was sollte er unternehmen? Sollte er doch mal in der Kapitänskammer nachschauen, ob es was zu klauen gab? Lieber nicht. Zardo rammte das Schott wieder zu. Er drehte sich um und marschierte zurück zur Back. Hier nahm er wieder seinen Posten ein. Zur Hölle mit dem Wein - es war besser, nichts zu klauen. Della Rocca würde es merken, wenn er in seinem Allerheiligsten herumschnüffelte. Und er würde ihn, Zardo, dafür zur Rechenschaft ziehen. Nein, es lohnte sich nicht. Der Korse verstand in solchen Dingen absolut keinen Spaß. Er würde den Schwarzbart töten. Und das war ein zu hoher Preis für eine Flasche Wein.
So hatte Zardo eben offiziell nur seine übliche Kontrollrunde unternommen. Alles in Ordnung an Bord der „Bonifacio". So dachte er und verschränkte grinsend die Arme vor der Brust. Schadenfroh verfolgte er das aufgeregte Treiben an Land. Na, ihr faulen Säcke, dachte er, nun tut mal schön was. Ferris und Dan atmeten unterdessen auf. Der Posten hatte sich wieder entfernt. Es herrschte Stille an Bord der Piratengaleone. Ferris verschloß sorgfältig das Geheimfach und schaute sich um. Alles sah so aus wie vorher, als sie eingetreten waren. Nichts hatte sich verändert. Dan entriegelte das Kammerschott. Die beiden nickten sich zu. Ferris löschte das Talglicht und stellte es wieder auf das Kapitänspult. Wenige Minuten darauf saßen sie wieder in der Jolle und legten vom Heck der „Bonifacio" ab. Niemand bemerkte sie. An Land hatten die Piraten alle Hände voll zu tun. Auf der Back der Galeone hockte der Posten, aber er dachte nicht daran, mal einen Blick zur Zufahrt der Bucht zu werfen, wo jetzt das Boot in die Nacht hinausglitt. Landeinwärts wütete ein Buschbrand, der sich unaufhaltsam westwärts schob. Die Hölle war los auf Cozumel. Die Kerle waren schier aus dem Häuschen. Keiner von ihnen wußte, ob sie es wirklich schaffen würden, das Feuer zu löschen - auch della Rocca nicht.
* Auch die Schweine waren wie von Sinnen und tobten im Koben herum. Sie spürten die Hitze des Feuers und
gerieten in Panik. Sie stießen Schreie aus, die fast wie die verzweifelten Hilferufe von Menschen klangen. Die Tiere drängten sich zusammen, zerquetschten sich fast gegenseitig. Wild grunzend warfen sie sich gegen die Tür des Kobens. Cosmas, der Pirat, sah es und eilte auf den Koben zu. „He, zum Teufel!" brüllte er. „Was soll das denn?" Der Riegel der Tür gab nach. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Ein größeres Ferkel quetschte sich nach draußen und rannte quiekend über den Strand. Cosmas fluchte und warf sich gegen die Pforte. Es gelang ihm, sie wieder zuzudrücken. Die Piraten blickten nur verdutzt auf das davonrasende Ferkel. Keiner reagierte richtig. Nur Anita hatte die Geistesgegenwart, etwas zu unternehmen. Das Ferkel schoß genau auf sie zu. Die Hure stieß einen Schrei aus - und warf sich auf das Tier. Das Ferkel quietschte in panischer Angst und wollte sich ihrem Griff entwinden. Aber Anita war zäh und ließ nicht locker. Mit beiden Händen packte sie das eine Hinterbein des Tieres. Das Ferkel strampelte und zappelte, konnte sich aber nicht befreien. Schreiend rannte es weiter und zerrte Anita hinter sich her. Anita verlor das Gleichgewicht und stürzte. Das Ferkel schleppte sie hinter sich her. Es war kaum zu glauben, welche Kraft das Tier entwickelte. Anita schrie um Hilfe. Die anderen Huren waren auf das Geschehen aufmerksam geworden und rannten hinter Anita und dem Schwein her. Carmela kriegte das Tier als erste zu fassen. Sie hielt das zweite Hinterbein fest. Jetzt stoppte
das Ferkel. Seine Vorderläufe kratzten hilflos im Sand. Die anderen Huren waren heran. Sie lachten, packten das Ferkel gemeinsam, hoben es hoch und trugen es zum Koben zurück. Anita fluchte und klopfte sich den Sand vom Kleid. Della Rocca scheuchte seine Kerle unterdessen hoch und quer durch das Lager. Aber sie schienen nicht recht parieren zu wollen. Er mußte wieder mal die Peitsche zu Hilfe nehmen. Mit tüchtigen Hieben jagte er die Kerle zu den Dünen hinauf. „Löschen!" brüllte er. „Beeilt euch!" Cosmas stand immer noch am Schweinekoben und sicherte die Tür zusätzlich ab, so gut es ging. Della Rocca geriet in seine unmittelbare Nähe, schien ihn aber nicht zu sehen. Cosmas begann zu schwitzen. Hölle, wenn der Korse ihn jetzt entdeckte! Die Huren trugen das zappelnde, quiekende Ferkel auf den Koben zu. Della Rocca warf ihnen einen fragenden, verständnislosen Blick zu. Er sah das Schwein. Sein Blick wanderte zum Koben und erfaßte Cosmas, der sich wie unter Schmerzen zu winden begann. „Was tust du denn da?" schrie della Rocca. „Die Schweine brechen aus!" heulte Cosmas verzweifelt. „Die Schweine?" Der Korse drosch mit der Peitsche auf den Kerl ein. „Du hast sie wohl nicht mehr alle, was? Hier brennt gleich alles ab, und du denkst an die verdammten Schweine!" „Laß ihn doch in Ruhe!" schrie Anita. „Die Schweine sind auch wichtig!"
Della Rocca verpaßte Cosmas noch einen Hieb, dann schlug er auch nach Anita. Die Huren schrien auf. Das Ferkel zappelte wie verrückt. Fast gelang es ihm, sich zu befreien. Cosmas rannte geduckt zu seinen Kumpanen. Was die vorhatten, glaubte er ihren Mienen abzulesen. Am liebsten hätten sie die Flucht ergriffen - weg vom Feuer und mit den Booten zur „Bonifacio" und der Zweimastschaluppe! Della Rocca lief seinen Kerlen nach. Ihr verdammten Bastarde, dachte er wild, disziplinloses Pack! Euch mache ich fertig, wenn ihr nicht gehorcht!
Die Huren warfen sich gegen die Tür des Kobens. So verhinderten sie, daß auch die anderen Schweine ausbrachen. Anita, Carmela und eine dritte beförderten das Ferkel über die Umzäunung zu den anderen Tieren. Dann verbarrikadierten sie mit vereinten Kräften den Koben, so daß sich der „Lebendproviant" aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Hinter den Dünen wütete der rote Hahn. Das Feuer rückte auf den Schlupfwinkel der Piraten zu. Eine Flammenhölle - ein glutiger Wall, der nach Hütten, Menschen und Tieren griff. Della Rocca sah es seinen Kerlen an: Sie waren von Panik erfüllt und hatten Angst um ihr Leben...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 524
Feuer frei für della Rocca
von Fred McMason Zuerst hatte Zardo, der Ankerwächter auf der „Bonifacio", den fürchterlichen Schrei gehört - aus dem Achterdeck der Galeone. Dann entschloß er sich nach sekundenlangem Zögern, nachzusehen. Und so stieg er auf die Kühl hinunter. Er hatte gerade den Niedergang hinter sich, als er abrupt stehenblieb. Er glaubte, ein Monster vor sich zu sehen, ein wildes, unbändiges Monster, das zudem noch einen Tobsuchtsanfall hatte und Amok lief. Zardo wagte keine Bewegung mehr. Er starrte nur entsetzt auf das, was da plötzlich geifernd und brüllend an Deck erschien. Der Kapitän war es, della Rocca, der mit den irrlichternden Augen eines Wahnsinnigen aus dem Schott zum Achterdeck hervorbrach... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen. Wenn nicht, dann wenden Sie sich bitte an die Vertriebsabteilung des Erich Pabel Verlags GmbH, Postfach 1780, 7550 Rastatt.