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ja.>] 14 ich glaube das is das geht mir so- (-) auf=n (…) (-) 15 ich kann mich auf der arbeit überhaupt nich [konzentrieren-] (-) 16 Ä: [ja:. ] 17 Ä: waRUM lassen=s sich denn scheiden: guten morgen.> (0.5) setzen sie sich mal. (0.1) mh? < ich bin mit mei ich hab also wahnsinnige> MAgenschmerzen es liegt (0.2) nich daran.> (1.2) was? (0.4) daran würde das eigentlich nich scheitern. na dann woran SCHEItert=s denn dann,= =ihr seid doch beide noch JUNG was? (0.7) wie lange sind sie verheiratet? im mai sind (0.2) sind=s zwei jahre. ZWEI jahre. (0.4) und=s hat von anfang an nich hingehauen? doch. doch äh die erste zeit da ging es aber was denkt ihr> was könnte das SEIN ((Zeigegeste)) paul ((zeigt auf SM2, nickt ihm zu)) vielleicht dass die einfa:ch(.); jetzt bei irgendwelchen verANstaltungen irgendwelche fEstedes die des (.) also teilweise organiSIER=n ((SM1 nickt leicht)) mit diesem geschichtlichen HINtergrund den wir besprochen haben= =den ihr da als text habt, em sich für=ne geschichte> überhaupt AUSdenken soll= =könnte; deswegen hab ich gesagt des buch nicht LESen= =< emm was müssen wir noch mal machen?> ((gähnt)) < okay.> NOCH fragen? is klar was ihr MACHen sollt? neeWAS hast du nicht verstANden iris? ja ALLes; würd ich sagen>= =gAnz genau; du stellst dir VOR= =< also von DAher-> (0.5) s=echt SCHAde, dass das jetzt nicht geKLAPPT hatANdererseits hab ich jetzt auch mehr ZEIT, ja>] [mit de]nen ich KANN? .h dann könn=WIR halt schon vom ersten tAg an nich. und dann PASST des auch. > piano, leise <
In einigen Fällen wird innerhalb des multi-unit-Turns vom Sprecher zunächst ein Turn der Adressatin zitiert bzw. deren Handeln beschrieben, bevor eine denn-Frage folgt. #3 EK004–2224 „Nacht“ 01 T: du kennsch weder I:HN, (-) 02 du kennsch ihn NET, (-) 03 warum sag=sche jetzt des isch ne SCHLAFbekanntschaft? 04 <
b) Eine zweite Art des Rückbezugs ist situational: Hier bezieht sich die denn-Frage auf ein Ereignis bzw. auf einen Sachverhalt, bei dem der Produzent der Frage davon ausgeht, dass es für beide Beteiligte gewusstermaßen
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salient und gegenwärtig relevant ist. Diese Art des situationalen Bezugs kann sich entweder auf ein Erlebnis bzw. eine Handlung des Adressaten oder auf ein von den Interaktionsbeteiligten unabhängiges Ereignis beziehen, von dem aber der Adressat im Gegensatz zum Frageproduzenten genauere Kenntnis hat. #4 AA BI 01 (Gesprächsbeginn) 01 Ä: so na:? (0.2) was führt sie denn hierher? #5 AA BI 03 14 Ä: was is n das hier für n kleines LOCH?
c) In der Literatur m.W. nicht beschrieben ist eine dritte Art des Rückbezugs: der Rückbezug auf einen Turn des Frageproduzenten selbst. Bemerkenswert viele denn-Fragen werden innerhalb eines multi-unit-Turns produziert, wobei sie sich auf vorangehende Einheiten des komplexen Turns selbst beziehen. Ihr Antezedent kann in einer Beschreibung einer Handlung oder in einem Zitat einer Äußerung des Sprechers selbst, der Adressatin (siehe #3) oder einer dritten Person bestehen (siehe #6) oder in der Schilderung eines Sachverhalts. Darüber hinaus gibt es auch einige Fälle, in denen sich die denn-Frage auf einen früheren Turn des Sprechers selbst bezieht. Solche denn-Fragen innerhalb von multi-unit Turns sind meistens nicht adressiert. Sie werden als rhetorische Fragen in Argumentationen oder Erzählungen eingebaut, wo sie Bewertungen und Emotionen ausdrücken oder der Re-Inszenierung von kognitiven Prozessen dienen. Ein Beispiel dafür ist der folgende Ausschnitt aus einem biographischen Interview zur Wende: #6 BR006A „Skandale“ Hm aber da hatte ooch noch niemand Vorstellungen äh, was draus werden könnte. Es war noch so, es kamen immer mehr Schweinereien raus, die die Umwelt betrafen oder irgendwelche Korruptionen oder irgendwelche andern Skandale ja, und da hab ich immer noch gedacht, na wo soll denn das noch hinführn, wenn … Ich hab nich damit gerechnet, dass die sofort irgendwie demnächst abtreten. Irgendwie ’ne Forderung, die ich denn mal mit unterschrieben habe, dass die SED ihren Vormachtsanspruch aufgibt und sich sozusagen einreiht unter die andern Parteien und und dass dass die das Neue Forum und Demokratischer Aufbruch, dass das zugelassen werden sollte, dacht ich na ja, vielleicht könn die was erreichen.
Im Folgenden wird der retrospektive Bezugspunkt von denn-Fragen als „retrospektiver Kontext“ bezeichnet, sofern nicht auf spezifische Fälle (wie einen vorangehenden Partnerturn, ein Selbstzitat etc.) Bezug genommen wird. Die grundlegenden Eigenschaften des Rückbezugs von denn-Fragen
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werden zunächst anhand einer Fallanalyse dargelegt. Anschließend werden anhand weiterer Fälle Varianten des Gebrauchs von denn herausgearbeitet. Ausschnitt #7 gibt den Beginn eines Arzt-Patient-Gesprächs wieder. Die Patientin klagt, dass sie bereits seit 14 Tagen an einer Erkältung leide. Der Arzt geht nicht direkt auf den Bericht ihrer erfolglosen Eigentherapieversuche („hustentee getrunken“, Z. 10) ein, sondern refokussiert mit einer denn-Frage nach weiteren Symptomen die Beschwerdenanamnese. #7 IA MR 01 P: 02 03 A: 04 05 P: 06 07 08 09 10
A:
11 12 13 14 15 16
A: A: P: A: P: P:
P: A: P:
01 (Gesprächsbeginn) gutn tag doktor ich bin nämlich so erKÄ:Ltet; (-) ich [wird ] de erKÄLtung gar net los. [hmja,] a:ch du LIEber gott; (–) hab se schon vierzehn TAche hab [ich=s] schon hinner mir; (0.8) [hmja;] QUÄLT sie schon richtig- (.) JA ja; (1.2) mhmmhm; (0.8) dann hab ich immer schon HUStentee getrunken und Alle[s abber’] (-) [mhm, ] was haben sie denn außer hUsten NOCH für beschwErden- (1.0) och gott soweit= =KOPFschmerzen oder [SCHNUPfen oder- ] [mhm; mh-] [ja das is das is ] [(…) ] schnupfen eigentlich !GAR! nicht- (.) also nurmehr- (0.3)
Die denn-Frage („was haben sie denn außer husten noch für beschwerden“, Z. 12) erfragt nicht, ob die Patientin weitere Symptome hat, sondern sie präsupponiert dies. Mit denn rahmt der Arzt die Frage als Schlussfolgerung aus dem vorangehenden Turn der Patientin.4 Denn fungiert hier also als konklusiver Konnektor, die W-Frage fordert zu einer weiteren Präzisierung des aus dem Partnerturn gefolgerten Sachverhalts auf. Denn wird hier argumentativ eingesetzt: Die Frage wird als Aktivität gerahmt, die durch den Vorgängerturn, auf den denn anaphorisch verweist, motiviert und legiti4
So auch GRAMMIS, Systematische Grammatik: Nicht vorfeldfähige Adverbkonnektoren vom Typ der Abtönungspartikeln, 2004, http://hypermedia.ids-mannheim.de/pls/public/sysgram. ansicht?v_id=2701 (Stand: 24.5.2008), dessen Bestimmung von denn als Indikator einer Konklusion allerdings nicht für alle Fälle gilt: „Das Begründungs-denn macht aus seinem internen Konnekt eine Begründung, während das konklusive denn aus seinem internen Konnekt eine Konklusion aus dem externen Konnekt macht, deren Gültigkeit z. B. in einem Entscheidungsfragesatz als internem Konnekt erfragt wird und in einem Ergänzungsfragesatz als Präsupposition induziert wird.“
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miert ist. Die Legitimation besteht dabei darin, dass sich die Frage darauf richtet, dass die Adressatin einen Sachverhalt präzisieren soll, der aus ihren vorangegangenen Turns zu inferieren ist und dessen Bekanntheit und Explizierbarkeit vom Fragenden ihr offenbar aufgrund ihres Turns als „zu wissen“ zugeschrieben wird. Der Adressatin der denn-Frage wird also Präzisierungswissen unterstellt, das mit der denn-Frage erfragt wird. Denn ist somit ein Verfahren der Verstehensdokumentation: Der Fragende zeigt an, dass er aufgrund des Partnerturns davon ausgeht, dass die Partnerin über den von ihr zuvor angesprochenen Sachverhalt mehr weiß, als sie bis dato zum Ausdruck gebracht hat. Dies scheint ganz generell die retrospektive diagnostische Funktion von denn zu sein, im Unterschied zu anderen in Fragen verwendeten Modalpartikeln (wie etwa, wohl, vielleicht): Der Fragende geht bei denn-Fragen auf jeden Fall davon aus, dass die Befragte eine Antwort geben kann (vgl. König 1977; Thurmair 1989 und 1991). Wie gelangt der Produzent der denn-Frage zur Überzeugung, dass die Produzentin des Turns, auf den sich die denn-Frage zurückbezieht, über weiteres einschlägiges Wissen verfügt? Im Ausschnitt #7 beruht die Unterstellung, dass die Patientin weitere Symptome zu berichten hat, offenbar darauf, dass die Patientin über eine schwere Belastung durch die Erkältung geklagt hat („bin ja so erkältet“, Z. 01), bisher aber nur ein Symptom indirekt benannt hatte („hustentee getrunken“, Z. 10). Mit der präsupponierenden Nachfrage zeigt der Arzt nun an, dass er davon ausgeht, dass bei einer derart hochgestuften Klage auch mehr als nur ein Symptom vorliegen muss, um diese Klage zu rechtfertigen. Diese interaktionsgeschichtliche Motivation der Unterstellung greift auf das geteilte Wissen über das abstrakte Konzept „Erkältung“ zurück, welches beinhaltet, dass eine Erkältung verschiedene landläufig bekannte Symptome beinhalten kann. Zwei davon erfragt der Arzt dann auch als mögliche Kandidaten: „kopfschmerzen oder schnupfen“ (Z. 14). Für den Arzt folgt die Frage nach weiteren Symptomen („außer husten“, Z. 12) aus dem frame „Erkältung“ und aus der Implikationslogik seiner Stellung in einer kategorialen Abstraktionshierarchie, die beinhaltet, dass eine „Erkältung“ meist mehrere unterschiedliche „Symptome“ hat. Angesichts der Nennung von bisher nur einem Symptom entsteht kommunikativ eine Präzisierungserwartung: Der Arzt zeigt mit der dennFrage an, dass angesichts der Klage der Patientin weitere Symptome zu erwarten sind und dass sie selbst weiß, dass sie mit ihren bisherigen Schilderungen Anlass zu dieser Erwartung gegeben hat. Insofern muss hier die obige Behauptung, die denn-Frage beziehe sich auf den Vorgängerturn der Adressatin, ergänzt werden: Wohl ist dieser der Auslöser und direkter Antezedent, auf den die denn-Frage zurückverweist, doch legitimiert sich die in
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der denn-Frage enthaltene Präsupposition erst durch den Rückbezug auf die vorhergehenden Turns der Patientin, vor allem durch ihren Initialturn, mit dem sie die Beschwerdenschilderung eröffnete. Wir sehen hier also, dass es im strengen Sinne nicht ein einziges Antezedens gibt, sondern dass sich die denn-Frage gerade aus der Relation zwischen dem Antezedens im Nahkontext und weiteren Handlungen der Adressatin motiviert. Die Verwendung von denn indiziert also die konversationelle Buchführung der InteraktionsteilnehmerInnen (vgl. Brandom 2000; 2001): Der Fragende zeigt an, dass er nun einen Aspekt erfragt, hinsichtlich dessen die Adressatin nach dem, was sie bisher gesagt hat, auskunftsfähig sein müsste. Denn ist also nicht nur ein Konnektor, sondern auch eine epistemische und normative Partikel. Denn ist ein Marker von epistemic stance (vgl. Chafe/ Nichols 1986), es zeigt ein Verständnis der konversationellen Implikationen von Handlungen bzw. propositionalen Einstellungen (der Partnerin) an. Es indiziert Annahmen des Sprechers über den (obligatorischen bzw. wahrscheinlichen) Zusammenhang zwischen geschilderten Sachverhalten bzw. Handlungen der Partnerin und den Relevanzen, die aus ihnen sowohl sachlich als auch für die Interaktion folgen. Darüber hinaus markiert denn unterstellten common ground, das heißt verständigungsrelevante Zuschreibungen. Denn zeigt nicht nur eine Konklusion über Wissen der Adressatin an, es unterstellt ihre Geteiltheit. Genereller: Denn-Fragen sind ein Verfahren, um anzuzeigen, welche in der Frage formulierte Dimension von Sinngehalten (Mitbedeutungen, Implikat(ur)en, Präsuppositionen etc.) als latenter Teil der kondensierten Bedeutung eines Turn mitverstanden und als Teil seiner kommunikativ relevanten Bedeutung unterstellt wird.5 Der Sprecher macht mit der denn-Frage deutlich, dass durch den bisherigen Interaktionsverlauf und die in ihm initiierten joint projects bestimmte Begründungs-, Explikations-, Referenzklärungs-, Detaillierungs- und andere Verpflichtungen entstanden sind, die die Adressatin nach Auffassung des Sprechers im retrospektiven Kontext eingegangen ist und die sie nun einlösen muss, um die Gültigkeit ihres Turns zu erweisen.6 Die retrospektiv orientierte Unterstellung von Geteiltheit hat eine projektive Implikation für das Anschlusshan5
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Vergleiche dazu allgemein Fetzer/Fischer (2007: S. 1–13); Fischer (2007: S. 47–66); Burkhardt (1982: S. 85–112), der diese Funktion sprechakttheoretisch als „Vollzug präsuppositionaler Akte“ bezeichnet und Abtönungspartikeln ganz generell zuschreibt. Diese Zuspitzung ist eine Konsequenz aus den zwei bereits von Thurmair festgestellten grundlegenden allg. Eigenschaften von denn-Fragen: 1. denn indiziert, dass die Frage lokal kohärent ist, dass sie an einen vorangehenden Turn bzw. eine intersubjektiv saliente Relevanz der Situation anknüpft, 2. denn zeigt an, dass der Sprecher davon ausgeht, dass der Befragte die Antwort kennt. Da sich denn aber nicht auf eigens vorangegangenes Handeln, sondern, spezifischer, stets auf vorgängige Partneraktivitäten bezieht (Handlungen, thematische Gehalte, Inferen-
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deln: Sie unterfüttert die konditionelle Relevanz der denn-Frage, da die Adressatin als Person positioniert wird, deren gemeinsam gewusste Verpflichtung es ist, die noch ausstehende Information, die erfragt wird, zu liefern. Denn ist damit ein Verfahren der Positionierung (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004; Bamberg/Georgakopoulou 2008): Aufgrund der gleichartigen epistemischen Positionierung von Sprecher und Adressatin wird dieser die normative Position zugeschrieben, eine Bringschuld gegenüber dem Sprecher zu haben. Denn ist eine autoargumentative Partikel:7 Der Fragende zeigt an, dass er nicht aus eigenem, kontingenten Interesse etwas erfragt, sondern dass es sich um einen Aspekt handelt, der auch für die Adressatin selbstverständlich für ein hinreichendes Verständnis des retrospektiven Kontexts nötig ist. Die Frage wird damit als nicht vom Fragesteller zu rechtfertigen, sondern durch den retrospektiven Kontext motiviert gerahmt. In interaktionszeitlicher Hinsicht ist denn also ein Verfahren, Vergangenes zukunftsrelevant, d. h. projektiv implikativ für den folgenden Anschluss zu machen. Denn-Fragen sind Nachfragen, die sich auf Aspekte eines bereits begonnenen bzw. den InteraktantInnen bekanntermaßen anstehenden joint project beziehen, die bislang nicht bzw. nicht hinreichend behandelt wurden. Denn-Fragen sind Verstehensdokumentationen, die anzeigen, dass der Sprecher erkannt hat, dass eine bestimmte sachliche, semantische oder pragmatische Dimensionen von Sinngehalten relevant für das Verständnis der Partnerin (d. h. ihres Handelns, Anliegens, Standpunkts etc.) ist, die jedoch noch nicht genügend instanziiert ist, um aus Sicht des Sprechers dafür zu sorgen, dass er sie hinreichend verstehen kann (vgl. Redder 1990: S. 35 ff.). Das Verhältnis zwischen dem für das Verständnis Fehlenden und demjenigen, was als bereits verstanden dargestellt wird, hängt vom syntaktischen Fragetyp ab: a) Ergänzungs-denn-Fragen zeigen an, welche Wissensdimension für das bessere Verständnis relevant ist, nicht aber, ob etwas bzw. was hinsichtlich dieser Dimension bereits verstanden wurde (s. oben #1–5 und #7). Die konkreten Sinngehalte, die in denn-Fragen als weiter bestimmungsbedürftig angesprochen werden, sind natürlich vollkommen kontext- und interaktionssequenzabhängig. Es lassen sich jedoch einige rekurrente semanti-
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zen), zeigt es dann, dass der Partner mehr zu dem sagen kann und auch sollte, was er zuvor in die Interaktion eingebracht hat. Vergleiche dazu Thurmair (1991: S. 377–387). Zum Argumentieren in Interaktionen siehe bspw. Deppermann (2003: S. 10–26) und Mazeland, in diesem Band.
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sche und pragmatische Defizitkonstellationen identifizieren, die durch denn angezeigt werden: – Mangelnde referenzielle Spezifikation oder mangelnde Genauigkeit der Beschreibung: Mit der denn-Frage wird angezeigt, dass die Antezedentien zu vage, zu abstrakt oder nur negativ bestimmt sind bzw. dass relevante Spezifikationen (z. B. von Ort, Zeit, Akteur, Instrument etc.) fehlen. – Mangelnde Kohärenz zwischen (Darstellungen von) Sachverhalten bzw. zwischen Handlungen, die inkohärent, widersprüchlich, unmotiviert etc. erscheinen. – Mangelnde Voraussetzung, Begründung bzw. Rechtfertigung für eine Handlung bzw. Darstellung (s. a. Bublitz 1978: S. 58 ff.; Franck 1980: S. 223 f.; Zifonun et al. 1997: S. 1225). b) Entscheidungs-denn-Fragen bieten dagegen die hypothetische Instanziierung einer Wissensdimension zur Ratifikation an, sie erfragen also deren Wahrheit aus Sicht der Partnerin. Die Instanziierung bezieht sich auf eine Voraussetzung des retrospektiven Kontexts bzw. auf etwas, dessen Vorliegen aus ihm geschlussfolgert werden kann (vgl. Franck 1980: S. 224 und GRAMMIS 2004). Mit Alternativfragen wird keine neue Information als solche erfragt, sondern die Beurteilung der Wahrheit der Information, die in der Frage selbst als deren propositionaler Gehalt formuliert wird. #8 AA BI 01 124 Ä: ich meine w:enn ich sie jetzt KRANKschreibe. (-) tu ich ihnen denn=n geFALLN damit?
Alternativ- wie Ergänzungsfragen zeigen oftmals, dass der Fragende eine Schlussfolgerung aus dem Sachverhalt bzw. der Aktivität gezogen hat, auf die sich die denn-Frage bezieht. Sie indizieren somit komplexe Konstellationen dessen, was bereits verstanden wurde, was inferiert wurde, was noch nicht verstanden wurde und noch verstanden werden soll und was als geteiltes Wissen über die interaktiven Handlungsverpflichtungen des Partners im Rahmen der Durchführung eines joint projects angesehen wird.
4. Handlungstypen von denn-Fragen und ihre sequenziellen Implikationen Denn-Fragen unterscheiden sich darin, wie der retrospektive Kontext bewertet wird. Dies kann sowohl das Bezugsereignis selbst als auch die Tatsache, dass (aus Sicht des Sprechers) die mit der denn-Frage erfragte Information
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fehlt, betreffen. Unterschiedliche denn-Fragen liegen daher auf einem normativen Kontinuum der Bewertung: Sie reichen von schwerer Kritik über Reparaturinitiation bis zur Einladung an die Partnerin, aus ihrer Sicht Relevantes weiter auszuführen (vgl. Redder 1990: S. 65 ff.). Welche Art von Handlung mit der denn-Frage ausgeführt wird, hängt von der ausdrucksseitigen Gestaltung der Frage ab und vor allem davon, ob und wie sehr der retrospektive Kontext vom Sprecher nach intersubjektiv verfügbaren Maßstäben als defizitär bewertet wird. Die Position einer denn-Frage auf dem normativen Kontinuum hat sequenzielle Implikationen: Je nach Handlungstyp der Frage werden andere Anschlusshandlungen der Partnerin projiziert. a) Am negativen Ende des normativen Kontinuums liegen Fälle, in denen der retrospektive Kontext als moralisch zuzuschreibendes Versagen bewertet wird. Die denn-Frage wird hier zum Vorwurf (vgl. Günthner 2000, Kap. 2.3.2.4). Im folgenden Ausschnitt zitiert die Tochter eine abwertende Bezeichnung, die die Mutter für ihren Freund benutzt hatte: #3 EK004–2224, „Nacht“ 01 T: du kennsch weder I:HN, (-) 02 du kennsch ihn NET, (-) 03 warum sag=sche jetzt des isch ne SCHLAFbekanntschaft? 04 <
Die formelhafte Konstruktion „was soll denn des-“ indiziert hier zusammen mit dem Abwertungsausdruck „schlafbekanntschaft“, der auf die Tochter provokativ wirken muss, dass es sich um einen Vorwurf handelt. AdressatInnen reagieren auf Vorwürfe, die gegen sie gerichtet sind, mit Selbstkorrekturen (wie in die Mutter in #3, Z. 06), Rechtfertigungen, Gegenvorwürfen oder Entschuldigungen (vgl. Goffman 1974; Günthner 2000). Wenn der Vorwurf aufgrund von geteiltem Wissen als evident und nicht durch eine Rechtfertigung oder Erklärung heilbar erscheint, verliert sie interaktional den Charakter einer Frage, die eine Antwort konditionell relevant macht. Sie wird zu einer „rhetorischen“ Frage bzw. zu einer Exklamation, da Sprecher und Hörerin wechselseitig die projizierte Antwort und deren Bewertung kennen (vgl. Redder 1990: S. 73 ff.).8 Bezieht sich der Vorwurf dage8
Allerdings trifft es nicht zu, dass (wie Redder meint) für die Exklamationsfunktion der intonatorische Halbschluss zwingend sei. Exklamatorische denn-Fragen werden sowohl mit steigender Abschlussintonation (#9) als auch mit schwebender oder fallender Abschlussintonation (#10) produziert. Das gleiche gilt übrigens auch für die Fragefunktion, die sehr häufig mit anderen Einheitenabschlussintonationsverläufen als der stark ansteigenden „Frageinton-
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gen auf Nichtanwesende, wird er interaktional zu einer Klage. Ein Beispiel dafür ist #9. #9 MAFD9B 2036.36 „armer otto“ 158 HE: un die hod vun ihrm vun dem soim geld gelebd 159 wenn er owends noch was esse gewolld hod 160 hod=a NISCHDS mehr griggd. 161 MÜ: ja ja. 162 LM: [ah ja.] 163 HE: [om om ] FERNseh:. 164 KR: ja was is=n des für=n MANN? [(…) ] 165 IN: [was is=en des für=n] MANN? (-) 166 frag ich mich [AUCH. ] 167 KU: [ah ja des: en DEBB. ] 168 HE: [des: is=n DEBB hear?]
Die geteilte Bewertung wird hier durch die Wiederholung der Frage (Z. 164 f.) und durch die Explikation der mit ihr kommunizierten Abwertung durch die Rezipientinnen (Z. 167 f.) zum Ausdruck gebracht. Ob sie als Klagen oder als Vorwürfe eingesetzt werden – interessant an den „rhetorischen“ denn-Fragen im Korpus ist, dass auf sie stets eine Reaktion erfolgt, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass der Produzent die Antwort und vor allem die Bewertung des in der Frage angesprochenen Sachverhalts als evident voraussetzt. Fragen, die offensichtlich als „rhetorische“ produziert wurden, werden, zumindest wenn sie einen Sprecherwechsel projizieren, als negativ bewertende Assertionen behandelt (Koshik 2005), die eine Reaktion relevant machen. Handelt es sich um Vorwürfe, reagiert die kritisierte Adressatin (s. #3, Z. 06). Richten sie sich als Klagen gegen Dritte, erfahren sie entweder Bestätigung wie in #9 oder sie werden zum Anlass einer Verhandlung der Bewertung und zur Suche nach Gründen wie im folgenden Fall. Denis (DE), Knut (KN) und Frank (FR) sind auf einer Reise und beobachten Jugendliche ihres Alters. #10 01 02 03 04 05
JuK17 Mongos DE: die kommen ja grad von der SCHUle heim, (.) ham die SAMstags schule? (.) oder was? (-) KN: was sind denn DES für mongos. (.) FR: vor drei JAHren hättste wohl, (.)
ation“ realisiert wird. Die exklamatorische Interpretation hängt in #8 und #9 ausschließlich von der Semantik ab. Allerdings ist es sicher möglich, dass die Intonation in semantisch und sequenziell weniger eindeutig evaluativen Fällen für die Vereindeutigung der Funktion der denn-Frage sorgt. Vgl. Redder (1990: S. 73).
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Arnulf Deppermann äh, (.) komm HIER, (.) hättste momentan AUCH noch schule gehabt.
Knuts Frage „was sind denn des für mongos.“ (Z. 04) ist offenbar keine Frage nach einem fehlenden Grund für den von Denis festgestellten Sachverhalt, sondern die pejorative Kategorisierung „mongos“ zeigt an, dass es aus Sicht von Knut eben gerade keinen vernünftigen Grund gibt, warum die Jugendlichen samstags in die Schule gehen. Dass es sich hier um eine Exklamation handelt, die keine Antwort relevant macht, sondern eine geteilte Bewertung und damit Zustimmung projiziert, zeigt auch Franks Reaktion. Er gibt keine Erklärung für den von Denis festgestellten Sachverhalt, sondern er widerspricht Franks Bewertung mit dem Einwand, dass vor einigen Jahren auch in Deutschland samstags noch Schule war (der Sachverhalt also keineswegs so unsinnig und abnorm ist, wie Knut meint). Auch nicht-adressierte, „rhetorische“ denn-Fragen, auf die keine Reaktion der Gesprächspartnerin erfolgt, da sie im Kontext eines längeren, noch unabgeschlossenen multi-unit turns (v. a. innerhalb biographischer Erzählungen, Vorträge, argumentativer Stellungnahmen) produziert werden und die daher keine Antwortgelegenheit projizieren, erfahren eine responsive Behandlung, und zwar durch den Produzenten selbst. Dieser gibt eine Begründung oder einen erläuternden Hintergrund für die in der rhetorischen Frage implikatierte Antwort und Bewertung. Ein Beispiel aus einem zeitgeschichtlichen Interview zur Wende: #11 BR006A „das Ende“ 01 TR und die haben alle gesagt dass es das ENde is. 02 Und dass mit sozialismus nichts mehr is, 03 und ja hier noch was auf die beine zu stellen ginge deshalb nich mehr, 04 weil keen GELD dafür da is. 05 GM HM. 06 TR und jemanden dafür motivieren, 07 das ginge schon gar nich, 08 wer sollte denn das machen. 09 die es e DE: die war total durch. 10 GM HM. 11 TR die es pe de: die fing gerade an. 12 die hatte aber keine Lust, sich da vor irgend=nen KARren spannen zu lassen und wurde außerdem vom westen bezahlt. 13 ja und wer sollte das denn machen, 14 wer sollte das volk irgendwie überzeugen und äh 15 wer sollte das alles bezahlen? 16 es stellte sich ja dann langsam raus,
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wie das in den betrieben aussah, dass alles bis zum geht nich mehr RUNtergewirtschaftet war.
Der Erzähler stellt im Zug seiner Erzählung hier selbst mehrfach Fragen (Z. 08, 13), die evidentermaßen eine negative Antwort projizieren. Jeweils anschließend (Z. 09–12 und 16–18) liefert er Gründe für die von ihm selbst nicht formulierte, erschließbare negative Antwort. Denn-Fragen in multi-unit turns sind zwar keineswegs immer Vorwürfe. Sie indizieren jedoch einen Angriff auf eine implizite Gegenposition, gegen die der Sprecher mit seinem Turn argumentiert. Auch im Falle der vorwurfsvollen oder „rhetorischen“ denn-Fragen scheint also eine Verpflichtung, Stellung zu nehmen, gegeben zu sein bzw., soweit kein Sprecherwechsel projiziert ist, vom Sprecher auch für sich selbst durch die Frage im Sinne einer Verpflichtung zu einem account für die Antwort etabliert zu werden.9 b) In der Mitte des normativen Kontinuums liegen die Fälle, in denen sich denn-Fragen auf Erwartungen beziehen, die aus Sicht des Sprechers durch vorangegangene Turns und Ereignisse relevant wurden, die aber im bisherigen Interaktionsverlauf noch nicht hinreichend erfüllt wurden. Denn-Fragen fungieren dann als Reparaturinitiation (vgl. a. Franck 1980: S. 225). Sie halten die Themen- und Handlungsprogression an (vgl. Redder 1990: S. 33 f.) und zeigen, dass es geteiltes Wissen sei, dass etwas durch den retrospektiven Kontext relevant gemacht wurde und nun von der Partnerin zu liefern sei. Denn-Fragen betreffen in dieser Funktion oft Verstehensprobleme, dass nämlich ein vorangegangener Turn nicht hinreichend in Bezug auf die gemeinsam verfolgten Interaktionszwecke sei (vgl. Redder 1990: S. 35–42), weil er referenziell unbestimmt, zu unpräzise, lückenhaft, im Interaktionszusammenhang unklar ist oder weil die Intention und Motivation des Partners nicht zu rekonstruieren ist (vgl. Abschn. 2). Gleichzeitig verdeutlicht die denn-Frage, dass es auch der Partnerin klar sein sollte, dass hinreichende Verstehensvoraussetzungen geschaffen werden müssen und dass sie daran mitarbeiten muss, bevor ein Thema bzw. Handlungskomplex abgeschlossen und zum nächsten übergegangen werden kann. Das Design der denn-Frage indiziert häufig, ob dem Produzenten des Verstehensgegenstands (d. h. in der Regel der Adressatin der Frage) oder dem Rezipienten 9
Um zu beurteilen, ob sich denn-Fragen in diesem Merkmal der Antwortverpflichtung von anderen „rhetorischen“ Fragen unterscheiden, müsste ein systematischer Vergleich durchgeführt werden. Koshik zeigt für englische Daten, dass rhetorische Fragen durchaus oft, aber nicht immer eine Reaktion hervorrufen und oft zur Elizitierung von Selbstkorrekturen der Adressatin eingesetzt werden. Vgl. Koshik (2005).
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(der Frageproduzenten) die Schuld für die Entstehung des Problems zugeschrieben wird. Die Reparaturinitiation kann daher eindeutig als Kritik am Versagen der Partnerin kontextualisiert werden: Der Partnerin wird mit der Reparaturinitiation bedeutet, dass sie unkooperativ gehandelt habe, indem sie einen Beitrag produziert habe, der in Bezug auf die beiderseits bekannten Erfordernisse für adäquates Handeln defizitär sei. Ein Beispiel dafür ist #12 aus einem Schlichtungsgespräch. Frau B2 hatte ihrem Kontrahenten, Herrn Beck, vorgeworfen, ihr behindertes Kind beleidigt zu haben. Als der Schlichter sie auffordert, den Vorwurf genauer darzulegen, präsentiert sie eine sehr abstrakte und vage Darstellung, in der die problematischen Handlungen des Gegners nicht konkret bezeichnet werden. Der Schlichter (C) fordert sie zur Präzisierung auf (Z. 184): #12 Schlichtung 3001.01 Schnellredner 173 B2: des gSCHPRÄSCH- (-) 174 des hat MEHR böses gebracht als GUtes- (-) 175 weil die familie beck SAche gebracht hat. 177 also perSÖNliche sache über unser familie= 178 =un mir habe e behindertes KIND (.) 179 wenn man dann nicht mehr weiter weiss und dann e behindertes KIND angreift- (-) 180 und auf DAS hie war ja dann des. (-) 181 dass ISCH ihn anghalte hab morgens- (-) 182 <
Dieser Fall ist ein schönes Beispiel für den Ausdruck von Ungeduld, der denn-Fragen öfters zugeschrieben wird (so schon Behaghel 1928: S. 115). Abgesehen davon, dass die meisten denn-Fragen nichts mit Ungeduld zu tun haben, sehen wir auch an diesem Fall, dass nicht der Gebrauch von denn allein Kritik und Ungeduld kontextualisiert. In #12, Z. 184 sorgt die Ko-Okkurrenz mit anderen Gestaltungsverfahren wie Wiederholung, Verumfokus und namentlicher Adressierung im Kontext einer offenbaren Reparaturinitiation in dritter Position (relativ zur Darstellungsaufforderung des Schlichters) für den Ausdruck ungeduldiger Kritik an einer mangelnden Partnerdarstellung. Trotzdem bleibt die Reparaturinitiation gegenüber dem mitschwingenden Vorwurf dominant, denn die denn-Frage macht eine korrigierende Antwort relevant, die dann auch von B2 geliefert wird.
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Werden denn-Fragen als Reparaturinitiatoren eingesetzt, muss dies aber keineswegs Kritik kontextualisieren. Beispiele dafür sind #7 oder #13: #13 Innsbruck 17B Schillinge 01 DE: <
Auch ohne deutliche ausdrucksseitige Markierungen (wie in #12, Z. 184) kann aus denn-Fragen oft eine indirekte Kritik geschlussfolgert werden. Diese mögliche Rezeption und folglich ihr Einsatz zur (negierbaren) Andeutung von Kritik beruht auch darauf, dass denn-Fragen der Partnerin eine wechselseitig bekannte Darstellungsverpflichtung zuschreiben (vgl. Abschn. 2). Da denn auf die Verpflichtung der Partnerin verweist, präsupponiert die denn-Frage, dass die Partnerin der Verpflichtung bisher noch nicht genügend nachgekommen ist, obwohl der retrospektive Kontext Anlass genug war, dies zu tun. M.a.W.: Die denn-Frage als solche kann als implizite Kritik verstanden werden, denn hätte die Partnerin die intersubjektiv bekannten Erwartungen erfüllt, wäre sie nicht nötig geworden. Denn kann also als ein Index der Erinnerung an geteilte Handlungskriterien, die bisher nicht erfüllt wurden, verstanden werden. Ein Beispiel für diesen latent kritischen Einsatz von denn in Fragen ist das Beispiel #14. Der Dozent Hans (HA) hatte den Studenten Anton (AN) kritisiert, er verhalte sich widersprüchlich (Z. 01–16). Anstatt auf den Vorwurf einzugehen, produziert der Student eine Reparaturinitiation, die sich darauf richtet, dass der Dozent den Vorwurf explizieren solle (Z. 17/19). #14 Pitching_Taschendieb_00:26:02 –00:26:55 01 HA: mich interessiert SEHR, 02 (—) herr MAHler; 03 (1.7) <
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10 11 12 13 14 15 16 17 17 18 19 20 21 22 23 24
(—) äh das is meine beOBachtung. RA: mhm, HA: (—) äh und- (2.2) mich mich interesSIERT, (–) wie sie sich SELBST <
Die denn-Frage wird hier offen als Reparaturinitiation produziert, die darauf abzielt, den Turn des Dozenten besser zu verstehen. Sie kann aber auch als Vorwurf an den Dozenten, seine Kritik sei zu vage und ungenau, verstanden werden. Die denn-Frage etabliert zwar primär die konditionelle Relevanz für eine Selbstreparatur des Dozenten (die auch in Z. 20 f. erfolgt), latent ist sie aber auch ein Konter gegen dessen Inkonsistenzvorwurf, dem der Student mit dem Gegenvorwurf unklarer Ausdrucksweise begegnet.10 Denn-Fragen als Reparaturinitiatoren können also zur Elizitation der Präzisierung von Formulierungen eingesetzt werden, die aufgrund ihrer Kondensiertheit oder Unklarheit für die Zwecke des Gesprächs nicht hinreichend verständlich sind. Diese Fragen aspektualisieren den Bezugsturn und führen damit zu einer semantischen, sachlichen oder pragmatischen Differenzierung und zur Explikation von Hintergründen. Sie sind daher oft nicht nur ein Verfahren der lokalen Reparatur, sondern führen zu einer weiteren thematischen Vertiefung. c) Denn-Fragen können eingesetzt werden, um die Partnerin dazu einzuladen, ein Thema (weiter) auszuführen, welches aufgrund des geteilten Wis10
Das Lachen, mit dem der Mitstudent PT (Z. 18) auf den ersten Teil von ANs Reparaturinitiation („muss ich erst mal verstehen was sie meinen“, Z. 17) reagiert, deutet an, dass PT diese wohl als raffinierten Konter gegen den Dozenten versteht. Die Raffinesse liegt darin, dass diese Art der Replik nicht sanktionierbar ist, da AN den Dozenten nicht offen angreift, sondern markiert seine Kooperativität und das Interesse am genauen Verständnis des Dozenten demonstriert. Genau damit gibt er aber indirekt zu verstehen, dass dieser sich defizitär ausgedrückt habe. Eine ausführlichere Analyse des Falls findet sich in Deppermann/Schmitt (i. Dr.).
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sens über den retrospektiven Kontext offenbar für sie relevant ist. Sie müssen insofern nicht auf den retrospektiven Kontext als Problemquelle (trouble source bzw. repairable, Schegloff et al. 1977) zurückverweisen, sondern sie können ihn als Anlass behandeln, um mehr über die Erfahrungen, Absichten, Motive, Gedanken usw. zu erfahren, die in Bezug auf diesen Kontext relevant sind. Dieser Einsatz von denn-Fragen zielt also auf Elaboration ab, setzt dabei aber wie in allen anderen Fällen voraus, dass es geteiltes Wissen ist, dass für die Partnerin eine intersubjektiv bekannte Verpflichtung bzw. ihr Eigeninteresse an der Elaboration besteht. Dieser zur Elaboration einladende Gebrauch von denn-Fragen ist typisch für situative denn-Fragen, mit denen ein Thema oder das Gespräch als solches eröffnet wird. Ein Beispiel sind Eröffnungsfragen im Arzt-Patient-Gespräch: #4 AA BI 01 Ä: 02 P: 03 Ä: 04 P:
01 (Gesprächsbeginn) so na:? (0.2) was führt sie denn hierher? (2.0) <
Solche Gesprächs- oder Themeneröffnungsfragen sind häufig formelhaft (wie ist=s/war=s/geht=s/steht=s denn (so)?). Die denn-Frage zeigt an, dass der Fragende annimmt, dass es relevante Partner-Ereignisse gibt, von denen er noch nichts weiß, über die die Adressatin aber vermutlich gern reden möchte. Im Arzt-Patient-Gespräch etwa ist diese Unterstellung durch den Gesprächsanlass und das vorangehende Handeln der Patientin, ihr Ersuchen um Behandlung, motiviert. Diese denn-Fragen können daher als Ausdruck von Empathie und Interesse erscheinen (so Dittmann 1980 und Diewald 2006). Auch hier bleibt aber die Grundfunktion von denn, der Partnerin eine ihr selbst bekannte Antwortverpflichtung zuzuschreiben, bestehen. Expansionseinladungen mit denn-Fragen treten daher in Interviews, im Unterschied zu anderen Kontexten, häufig auch im Kontext von Themenwechseln auf. Ein Beispiel für einen solchen lokalen Themenwechsel (hier vom Thema „Spiele“ zum Thema „Hochzeit“) findet sich im folgenden Ausschnitt aus einem biographisch-kulturhistorischen Interview: #15 Interaktion OS003 „Hochzeit“ 01 Int:also das PAschen war WÜRfeln, [nicht? 02 Erz: [das woar das das woar das WÜRfeln. 03 das hat mit !DIE!ser- (–) 04 äh pascherEIen-
42 05 06 07 08 09 10 11
Arnulf Deppermann <
Die mit denn angeschlossene Frage zeigt an, dass der Interviewer diese lokal nicht kohärente, das Thema wechselnde Frage als Teil des übergreifenden joint project versteht, innerhalb dessen die Kooperation des Erzählers erwartet wird. Ganz generell sind die zur Elaboration einladenden denn-Fragen sehr häufig in Gattungen zu finden, die spezialisiert sind auf die Erkundung der mentalen Welt der Befragten (ihre Erinnerungen, Meinungen, Gefühle etc.), also alle Arten von Interviews, Verhöre, medizinische Beschwerdenschilderungen, Therapieerzählungen, Beratungen etc. Auch diese denn-Fragen haben also etwas mit Verstehen zu tun. Sie betreffen jedoch nicht Probleme beim Verstehen einer Partner-Handlung oder eines Partner-Turns. Sie vertiefen stattdessen, welche Bedeutung der Gesprächszweck selbst und die in ihm verhandelten Themen für die Gesprächspartnerin haben. Insofern zielen sie auf ein besseres Verständnis der Partnerin ab.
5. Präferenzstruktur und Begründungsbedürftigkeit von denn-Fragen In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass denn-Fragen indizieren, dass bekannt ist, dass die Partnerin die Verpflichtung hat, weitere verstehensnotwendige Informationen, die aufgrund des retrospektiven Kontexts nötig geworden sind, aber noch nicht vorliegen, zu liefern. Diese These kann erklären, warum denn-Fragen weder in einem dispräferierten Format produziert noch beantwortet werden und warum denn-Fragen von ihrem Produzenten selbstinitiativ kaum einmal begründet oder erläutert werden. Das Konzept der „Dispräferiertheit“ wurde für reaktive Turns entwickelt. Dort bezeichnet es die markierte Realisierung eines second pair-part, welcher zum einen als Aktivität im Gegensatz zu einer anderen Alternative interaktionsstrukturell nicht präferiert ist (z. B. Zustimmung vs. Widersprechen) und sich zum anderen durch bestimmte Gestaltungsmerkmale wie Verzögerung, abschwächende Modalisierung, Indirektheit, Selbstabbrüche und -reparaturen sowie die Angabe von accounts für die Handlung auszeichnet (vgl. Levinson 1990: S. 331 ff.; Pomerantz 1984; Bilmes 1988). Das
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Konzept der „Dispräferiertheit“ lässt sich aber auch auf Aktivitäten wie Fragen, die gemeinhin als first pair-parts betrachtet werden, beziehen. Auch diese können sowohl interaktionsstrukturell dispräferiert, d. h., als aktivitätsbezogener oder thematischer Anschluss unerwartet, für die Adressatin heikel oder adversativ sein, als auch in Hinblick auf ihre Formulierung durch die gleichen Markiertheitsmerkmale wie dispreferred second pair-parts gekennzeichnet sein (also Selbstabbruch, Verzögerung etc.). Bemerkenswerterweise ist Letzteres bei denn-Fragen nicht der Fall, obwohl sie in interaktionsstruktureller Hinsicht durchaus oft erwartungsinkongruent sind. So werden denn-Fragen durchaus nicht nur in Streitgesprächen, sondern auch in kooperativen Gesprächen adversativ, als Vorwürfe produziert. Sie werden aber auch dann nicht in einem dispräferierten Format realisiert. Ein Beispiel dafür ist Ausschnitt #16 (vgl. a. #3): #16 501 502 503 504 505 505 506 507
MAFD1D, Diskurs: 2036.28, Transkript: a.geschlges ZI: <
Obwohl denn-Fragen als Reparaturinitiation nicht-projizierte Anschlusshandlungen sind und Progressionserwartungen zuwider laufen, werden auch sie ohne Merkmale einer Dispräferiertheitsmarkierung produziert (siehe die Bsp. #12–14). Vielmehr gibt es gerade bei den „ungeduldigen“ denn-Fragen gegenläufige Markierungen, die (gerade auch durch denn) signalisieren, dass der Adressat Explikations- etc. Verpflichtungen, die auch für ihn selbst evident sein müssten und schon längst überfällig sind, nicht eingelöst hat (vgl. #12). Der einzige Fall einer dispräferierten Realisierung im untersuchten Korpus ist Ausschnitt #17 aus einem Anamnesegespräch beim Urologen. Der Arzt fragt hier den Patienten nach einer Blasenbildung am Penis, von der ihm die Partnerin des Patienten berichtet hatte: #17 UR HD 08 01 A: DANN <
44 06 07 08 09 10 11 12
Arnulf Deppermann P: A:
P:
hab ich auch FRÜher öfters mal [gehabt.] [ IS es ] denn (-) SO, (-) ja is es denn s hat=s denn SO angefangen- (–) dass es so erst en BLÄSchen <
Mit der denn-Frage (Z. 07–09) vertieft der Arzt ein Thema, das der Patient als nicht mehr aktuell und als bekannte Bagatelle und insofern als nicht vertiefungsbedürftig behandelt hatte (Z. 04 und 06). Die Nachfrage des Arztes ist insofern interaktionsprozessual dispräferiert. Zudem ist es potenziell heikel, dass der Arzt sich auf eine Information der Partnerin über ihn bezieht, obwohl es dem Patienten eventuell nicht bewusst war, dass seine Partnerin mit dem Arzt über dieses Problem sprechen würde. Zusammen mit der Überlappung des Fragebeginns mit dem Vorgängerturn des Patienten (Z. 06–07), auf die der Arzt mit einer Wiederholung des Turnbeginns reagiert, entsteht so eine durch zweifachen Abbruch und Selbstreparatur gekennzeichnete Struktur, die leichte Züge von Dispräferiertheit trägt. Angesichts der Überdeterminiertheit der interaktionsstrukturellen Dispräferiertheit der Nachfrage ist die äußerungsstrukturelle Markierung jedoch relativ gering ausgeprägt. Denn-Fragen werden nur selten vom Sprecher im gleichen Turn begründet oder erläutert.11 Dies deutet darauf hin, dass sie als Fragen eingeführt werden, die evidentermaßen aufgrund des bisherigen Interaktionsverlaufs relevant und verständlich sind und an die Adressatin eine problemlos zu bewältigende Anforderung stellen. Wenn Begründungen und Erläuterungen erfolgen, dann geht damit fast immer eine Vorwegnahme der Antwort oder zumindest die Etablierung einer Antwortpräferenz einher. Ein Beispiel ist Ausschnitt #18 aus einem Therapiegespräch. Die Patientin klagte über starke Schmerzen, die am Morgen nach der letzten Therapiesitzung begannen. Die Therapeutin fragt nunmehr nach dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Sachverhalten:
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Eine Ausnahme sind die nicht-adressierten denn-Fragen innerhalb von multi-unit turns (siehe Abschnitt 3a), auf die hin weitere Ausführungen des Sprechers erfolgen, die eine Antwort bzw. eine Bewertung des mit der „rhetorischen“ Frage angesprochenen Sachverhalts ausdrücken. Diese Fälle sind aber kein Argument gegen die hier vorgebrachte These, dass denn-Fragen eine fraglose Reaktionsverpflichtung beinhalten. Im Gegenteil weist die Selbstresponsivität des Sprechers auf die denn-Frage hin, dass sie nicht einfach als „rhetorische“ Fragen mit selbstevidenter Antwort stehen bleiben können.
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#18 4020.16 Therapie 01 KL: also am ich bin am (-) DONnerstag letzte woche ja bei ihnen gewesen 02 und dann– (-) 03 .hh äh hat das das gespräch hat mich irgendwie=n bisschen arg 04 aufgeRÜTtelt- (.) [muss] ich sagen und’ 05 TP: [mhm.] 06 KL: und PROMPT am nächsten morgen als wenn ich=s geAHNT hätte 07 ich hätt=s ihnen SCHRIFTlich geben kö[nnen-] (-) 08 TP: [mhm; ] 09 KL:.h fingen diese (.) grässlichen= 10 TP: =mhm. 11 KL: SCHMErzen da wieder an. 12 TP: mhm. 13 KL:.hh un die ganze woche das heißt also– (1.1) 14 und mal MEHR mal WEniger, (—) 15 mal gar NICH, (-) aber eben laTENT da:16 TP: mhm; 17 KL: un un heute morgen also masSIV. (–) 18 <
Die Therapeutin macht mit der Begründung „irgendwie hat=s ja was mit dem gespräch zu tun; ne?“ (Z. 22) die in der denn-Frage (Z. 21) enthaltene schlussfolgernde Präsupposition, dass es eine Verbindung zwischen der Therapiesitzung und den folgenden Schmerzen gebe, als Hypothese explizit. Die Begründung selbst wird durch die Modalpartikel „ja“ und die Rückversicherungspartikel „ne?“ als Verweis auf selbstverständlich geteiltes Wissen modalisiert, was die Legitimität der denn-Frage unterstreicht. Noch bevor die Patientin ihre Annahme zur Frage nach dem Zusammenhang ausführen kann, bietet die Therapeutin in Z. 24/26 eine weitergehende psychosomatische Hypothese („punkt/nerv getroffen“) an. Die denn-Frage steht hier also im weiteren Kontext der Verfolgung einer spezifischen Fragestrategie der Therapeutin, die darauf aus ist, die Patientin zur gründlicheren Erforschung der psychischen Ursachen des angenommenen psychosomatischen Zusam-
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menhang zu bewegen. Die Begründung dient hier wie in fast allen anderen Fällen von adressierten denn-Fragen mit account dazu, die Antwort auf die per se offener formulierte denn-Frage durch die Angabe einer folgenden eigenen Annahme (in anderen Fällen: durch Verweis auf relevante Indizien, Nebenbedingungen, Ausschluss von Antwortalternativen) in ihrem Antwortspielraum einzugrenzen bzw. eine engere Antwortpräferenz zu etablieren. Auf denn-Fragen bezogene accounts haben also zumindest primär nicht die Funktion, die Frage als solche erst verständlich und legitim zu machen, sondern sie dienen der Eingrenzung der präferierten bzw. möglichen Antwortalternativen. Die durch ihre kontextuelle Motivation hergestellte fraglose (?) Legitimität von denn-Fragen zeigt sich aber nicht nur in der Gestaltung des Frageturns selbst. Sie zeigt sich genauso in den Reaktionen. Obwohl denn-Fragen interaktionsstrukturell häufig keineswegs projiziert oder erwartbar waren, wird auf sie kaum einmal mit einer Aktivität, die als dispräferiert markiert ist, oder mit anderen Anzeichen von Überraschung oder Irritation reagiert (vgl. die Datenausschnitte in diesem Text).12 Offenbar ist bei dennFragen für die RezipientInnen der relevante retrospektive Kontext, auf den denn zurückverweist, und damit die Motivation der Frage in der Regel ebenso problemlos rekonstruierbar wie die Legitimität der etablierten Antwortverpflichtung.
6. Das strategische Potenzial von denn-Fragen Die mit denn indizierte, als geteiltes Wissen unterstellte normative Verpflichtung für die Adressatin, dem Frageproduzenten eine kontextuell motivierte, verstehensnotwendige Information nachzuliefern, kann auch strategisch verwendet werden. Denn-Fragen unterstellen, dass Sprecher und Adressatin ein gemeinsames interaktives Projekt verfolgen, zu dessen erfolgreicher Durchführung lokal die Antwort der Adressatin vonnöten ist. Die strategische Verwendung besteht nun darin, durch denn ein geteiltes Wissen um die normative Kooperationsverpflichtung der Adressatin zu unterstellen, obwohl man von ihr diese Kooperation nicht erwarten kann bzw. obwohl sie deutlich zeigt, dass sie das interaktive Vorhaben, das der Fragesteller verfolgt, nicht teilt. Die strategische Verwendung besteht also in der Normalisierung von Aktivitäten 12
Dazu passt auch, dass Thurmair (1991) berichtet, dass bei denn-Fragen der Prozentsatz ausbleibender Antworten mit 10 % erheblich geringer ist als bei Fragen ohne denn (33 %). Vgl. Thurmair (1991: S. 377–387).
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mit fraglicher intersubjektiver Akzeptanz und in der kontrafaktischen Konsenssuggestion der gemeinsamen Orientierung auf ein joint project, welches aber de facto nur ein kommunikatives Projekt des Frageproduzenten ist. Ein Beispiel für diesen strategischen Einsatz finden wir in Gesprächen, in denen der Fragesteller das Eindringen in das private Territorium der Adressatin (im Sinne von Goffman 1974) durch denn-Fragen als eine normale, durch den vorangehenden Kontext hinreichend motivierte, dem besseren Verständnis dienende Handlung erscheinen lässt, obwohl keineswegs vorausgesetzt werden kann, dass die Adressatin zu weiteren Auskünften bereit ist. Ausschnitt #1 stammt aus einem Arzt-Patient-Gespräch. Die Patientin hatte die Ärztin wegen Magenschmerzen aufgesucht. Sie erklärte, dass sie diese darauf zurückführe, dass sie Eheprobleme habe. Die Ärztin versucht nun durch eine Reihe von Fragen, mehr über Art und Ursachen der Eheprobleme zu erfahren. #1 AA BI 01 P: 02 03 04 05 P: 06 07 Ä: 08 P: 09 Ä: 10 11 12 13 P: 14 Ä: 15 16 17 P:
01 „scheitern“ hat er ne andre? (0.9) sie auch nich? (1.0) <
Ausschnitt #1, der nur ein kleiner Ausschnitt aus einer langen ärztlichen Fragesequenz zum Thema „Eheprobleme“ ist, zeigt, dass die Patientin die Fragen der Ärztin nur minimal beantwortet, ohne dabei von sich aus die erfragten Aspekte zu elaborieren. So verneint sie in Z. 02, 05, 08, 16 die von der Ärztin angesprochenen möglichen Problemquellen, ohne von sich aus eine ihrer Sicht relevante, positiv formulierte Problemquelle anzugeben. Die minimalen, teils verzögerten, nur nonverbalen und durch Expansionsverzicht gekennzeichneten Reaktionen zeigen, dass die Patientin das Anliegen der Ärztin, die Eheprobleme genauer zu erkunden, nicht teilt. Auf die
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denn-Frage nach dem Grund für die Eheprobleme (Z. 09) antwortet sie nicht. Die Ärztin selbst begründet diese Frage mit dem aus ihrer Sicht offenbar widersprechenden Faktum, die Eheprobleme seien in ihrem Alter unwahrscheinlich und daher begründungsbedürftig („ihr seid doch beide noch jung was?“, Z. 10).13 Als die Antwort der Patientin ausbleibt, stellt die Ärztin eine weitere Frage („wie lange sind sie verheiratet?“, Z. 12), mit der sie Hintergrundinformationen elizitiert, auf deren Basis sie die Frage nach der Ursache der Eheprobleme aus anderer zeitlicher Perspektive erneut stellt (vgl. Z. 15). Die denn-Frage steht hier klarerweise im Kontext eines einseitig von der Ärztin konsequent verfolgten kommunikativen Projekts, wobei sie mit der Frage suggeriert, es sei eine kontextuell hinreichend motivierte Verpflichtung der Patientin, weitere Auskunft über ihre Probleme zu geben. Interessanterweise ko-okkurriert denn in der Frage mit dem turn-initialen na, welches ebenso wie denn eine Handlungsverpflichtung der Adressatin indiziert (vgl. Zifonun et al. 1997: S. 398). Dass in diesem Fall tatsächlich eine strategische und nicht nur eine auf einem Missverständnis über die Kooperationsbereitschaft der Adressatin beruhende Verwendung von denn vorliegt, verrät die Ärztin indirekt selbst. Wie in Abschn. 4 ausgeführt, wird für denn-Fragen kaum einmal ein account gegeben. Hier dagegen zeigt die Ärztin mit dem account („ihr seid doch beide noch JUNG“) an, dass ihr selbst die Frage als solche (d. h. nur aufgrund des retrospektiven Kontexts) nicht hinreichend motiviert erscheint und einer zusätzlichen Motivation bedarf (die sie durch den Verweis auf ein Faktum liefert, das aus ihrer Sicht die Eheprobleme besonders erklärungsbedürftig macht). Dies wäre aber nicht nötig, wenn die denn-Frage wäre, als was sie sich selbst rahmt, nämlich eine Frage nach einer verstehensnotwendigen Information, die die Patientin aufgrund des retrospektiven Kontexts bekanntermaßen zu geben verpflichtet ist.
7. Fazit In diesem Beitrag wurde zu zeigen versucht, dass denn-Fragen eine zeitlich doppelte indexikalische Funktion auszeichnet: Denn zeigt an, dass der Sprecher aufgrund eines retrospektiven Kontexts prospektiv weitere verstehensnotwendige Information benötigt und die Partnerin dergestalt positioniert, dass es geteiltes Wissen sei, dass sie die Verpflichtung habe, diese Informa13
Die ganze Fragesequenz kann (von der Patientin) tendenziell als skeptisch und kritisch verstanden werden. Der account „ihr seid doch beide noch JUNG“ (Z. 11) deutet in der Tat darauf hin, dass die Ärztin der Patientin den Vorwurf macht, noch keine hinreichenden Gründe für eine gescheiterte Ehe zu haben.
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tion zu liefern. Die retrospektive Verknüpfungsfunktion von denn in Fragen impliziert also unmittelbar ihre initiative und prospektive Funktion. M.a.W: Mit denn wird die interaktive Vergangenheit als Motiv benutzt, um die interaktive Zukunft zu projizieren. Am Beispiel von denn ist damit zu zeigen, wie eine primär epistemisch operierende (und darüber hinaus recht unauffällige) sprachliche Form zur normativen Fremdpositionierung eingesetzt wird. Dies geschieht durch den Verweis auf eine kontextuelle argumentative Legitimation, der aber nicht explizit gemacht wird. Es konnte gezeigt werden, dass diese retrospektiv-prospektive Funktion in unterschiedlichen Handlungen, die mit denn-Fragen vollzogen werden können und die auf einem normativen Kontinuum liegen, welches von Vorwurf über Reparaturinitiation bis hin zur Expansionseinladung reicht, in gleicher allgemeiner, aber kontextspezifisch adaptierter Weise wirksam ist. Für nicht-adressierte, oftmals „rhetorische“ Fragen innerhalb von multi-unit turns konnte gezeigt werden, dass denn auch hier eine, diesmal auf den Sprecher selbst gerichtete, Begründungsverpflichtung nach sich zieht. Präferenzstrukturelle Analysen, Beobachtungen zur Produktion von accounts im Kontext von denn-Fragen und der Aufweis der strategischen Nutzbarkeit von denn wurden als weitere Belege für die allgemeine Funktion von denn herangezogen. Auf der Basis dieser Untersuchung stelle ich nun noch einige allgemeinere Überlegungen zur Bedeutungsbeschreibung von Modalpartikeln und zur Frage nach dem Verhältnis zwischen sequenzieller Projektion von Interaktionsverläufen und den Notwendigkeiten und Verfahren der Herstellung von Intersubjektivität an. a) Zur Frage der Bedeutungsbeschreibung Insbesondere bei Partikeln und Diskursmarkern sind Probleme von Vagheit bzw. Polysemie die Regel (vgl. Fischer 2006a sowie Imo, Meer und Spreckels, alle in diesem Band). Kaum eine Abhandlung zu Modalpartikeln kommt ohne eine Diskussion des Problems der Bedeutungsbeschreibung aus. Die Vielfalt der pragmatischen Funktionen der Äußerungen, in denen sie vorkommen, die Schwierigkeit, die funktionale Rolle der Partikel als solcher zu isolieren, der Rekurs auf einseitige Datensamples, theorieabhängige Restriktionen und Präferenzen für die Bedeutungsbeschreibungen und weitere Probleme führen zu einem sehr uneinheitlichen Bild (vgl. Fischer 2006a). Bei denn ist das nicht anders: In der Literatur finden sich sehr unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Funktions- und Bedeutungszuschreibungen. Weitgehender Konsens besteht, dass denn grundsätzlich eine rückverweisende bzw. situationsdeiktische Funktion in Bezug auf einen vorangehenden bzw. aktuellen Kontext habe (König 1977; Franck 1980:
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S. 222 f.; Hentschel/Weydt 1983; Weydt 2007; Zifonun et al. 1997: S. 1225–1230) bzw. präsupponiere, dass eine solche bestehe (Burkhardt 1982) und die Äußerung aus diesem Kontext folge und nicht-initial sei (Diewald 2006). Darüber hinaus wurden denn spezifischere Bedeutungen zugeschrieben: Es könne Kenntnisnahme und den Ausdruck eigener Betroffenheit durch einen Sachverhalt (Dittmann 1980), Freundlichkeit (Hentschel/Weydt 1983; Neuendorff 1989) bzw. Höflichkeit (Bublitz 1978:61 ff.), Ungeduld (Behaghel 1928), Überraschung/Erstaunen (Bublitz 1978: S. 58 ff.; Hentschel/Weydt 1983; Dittmann 1980), eine rhetorische Frage mit Negationsimplikation (Dittmann 1980; Franck 1980: S. 225 f.; Diewald 2006: S. 421 f.) oder einen Vorwurf (König 1977; Dittmann 1980; Günthner 2000) ausdrücken. Die Frage ist nun, wie diese verschiedenen, teils widersprüchlichen Funktionen von denn zustande kommen. Manche Auffassungen differenzieren hier zwischen verschiedenen Fragetypen. So nehmen Hentschel/Weydt (1983) eine zweistufige Bedeutungszuweisung an: Denn habe die generelle Bedeutung, dass der Sprecher auf einen „äußeren Anlass“ für seine Frage verweist; vermittelt über einen „pragmatischen Mechanismus“, für den der jeweilige Kontext und die verschiedenen Bedeutungsquellen des Fragesatzes verantwortlich seien, erhalte denn in Ergänzungsfragen die Bedeutung „Freundlichkeit“, in Entscheidungsfragen dagegen die Bedeutung „Erstaunen“. Diese Abhängigkeit vom Fragetyp konnte in dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Korpus ebenso wenig festgestellt werden wie die Abhängigkeit von der Kombination „Fragetyp x abschließende Grenzintonation“, die Dittmann (1980) annimmt. Dagegen bestätigen die hier untersuchten Daten seine Meinung, dass denn in Abhängigkeit von Proposition und Kontext zum Indikator eines Vorwurfs werden kann. Aus den hier vorgelegten Analysen ergibt sich das Bild, das zwischen drei Bedeutungsquellen zu unterscheiden ist (vgl. ähnlich Deppermann/Elstermann 2008; Fischer 2006b): – Lexemspezifische Bedeutung: Denn ist ganz allgemein eine kohäsive Markierung, die auf einen retrospektiven Kontext verweist, welcher als für die Adressatin problemlos rekonstruierbar behandelt wird. Diese ganz generelle Funktion teilt die Modalpartikel denn mit dem homonymen Begründungskonnektor denn (vgl. Weydt 2007). Beide stammen etymologisch aus der gleichen indogermanischen Wurzel *to und gehen auf den temporalen Konnektor ahd. danne zurück (Wegener 2000). – Konstruktionsspezifische Bedeutung: Spezifischer für die Modalpartikel denn, d. h. die Konstruktion „denn in Fragen“ gilt, dass es eine indexikalische Anweisung an die Adressatin ist, diesen Kontext in der gemeinsamen Interaktionsgeschichte und/oder in salienten Ereignissen und
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Handlungen zu suchen und dabei auf das als geteilt unterstellte Wissen über die beteiligungsrollenspezifischen Aufgaben im Rahmen von joint projects zurückzugreifen, aus der die mit der Frage etablierten Antwortverpflichtungen legitimiert sind, deren Erfüllung zum hinreichenden Verständnis für den Frageproduzenten nötig sind. Die Konstruktion „denn in Fragen“ hat damit eine retrospektive konnektive Bedeutung, eine prospektive normative Bedeutung und eine epistemische Bedeutung, die sich auf die Unterstellung von gemeinsamem Wissen über relevante retrospektive Kontexte und über die Erfordernisse von joint projects bezieht. Denn ist aber nicht mehr als eine indexikalische „Suchanweisung“ (Burkhardt 1982:109), es zeigt selbst nicht, welches der retrospektive Kontext ist, welcher Art die Verknüpfung ist und wie dieser Kontext bewertet wird. An „denn in Fragen“ an sich hängen also nur die drei genannten Funktionen, spezifischere Bedeutungen als Einstellungsmarker entstehen nur kontextabhängig. Auch impliziert denn allein keine spezifische Antwortpräferenz (vgl. Franck 1980: S. 223). Dass „denn in Fragen“ als solches somit indexikalisch relationierende, aber keine autosemantischen und (psycho-)referenziellen Funktionen hat, per se also nur synsemantisch funktioniert, ist gerade angesichts seiner häufig produzierten klitischen Variante =n nicht besonders verwunderlich. Die Modalpartikel denn ist eine semantisch leichte, relativ unspezifische Markierung, die jedoch als grammatikalisierte Variante des temporalen Konnektors erkennbar bleibt, was sich z. B. in den Verwendungsrestriktionen für denn in nicht-initialen Positionen zeigt (vgl. Wegener 2002). Die durch denn angezeigte motivierende Verknüpfung der Frage mit dem Präturn ist aber bspw. längst nicht so spezifisch wie durch also. Das zeigt, dass die Frage eine Schlussfolgerung expliziert. Äußerungs- und interaktionskontextspezifische Bedeutungen: Die in der Literatur oft aufgeführten spezifischeren und teils widersprüchlichen Bedeutungen von denn als Marker der epistemischen oder emotionalen Einstellung zum retrospektiven Kontext und zur Adressatin (wie Erstaunen, Freundlichkeit, Vorwurf, Dringlichkeit) sind nicht „denn in Fragen“ als solchem zuzuschreiben, sondern sie entstehen durch spezifische Verwendungskontexte (s. a. Thurmair 1991). Relevant sind dabei zum einen verschiedene Ko-Okkurrenzen von denn mit Merkmalen der Äußerungsgestaltung wie Wiederholungen und na (Dringlichkeit), pejorativen Ausdrücken, der Präsupposition eines negativen Sachverhalts und formelhaften Wendungen wie was soll denn das? (Vorwurf; vgl. Dittmann 1980). Zum anderen ist die spezifischere Bedeutung von denn als Einstellungsmarker abhängig vom retrospektiven Kontext, ins-
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besondere seiner Erwartungskongruenz und seiner Wertung. Die vorgelegte Untersuchung zeigt aber, wie perspektivisch unterschiedlich die Interpretation von denn sein kann und dass der folgende Interaktionsprozess daher mindestens ebenso wichtig für die lokale Interpretation von denn ist: Das Beispiel der offenkundig als „rhetorisch“ produzierten, d. h. eine eindeutige Antwort und Wertung implizierenden dennFragen zeigt, wie anders diese oft von den AdressatInnen aufgenommen und interpretiert werden (nämlich als „echte“ Begründungs- oder Informationsfragen, Anlässe zur Rechtfertigung, bestreitbare Präsuppositionen bekundende Äußerungen etc.). b) Aus der Untersuchung von denn-Fragen lassen sich einige interessante Überlegungen zum Verhältnis zwischen Projektion und Verstehenssicherung in Interaktionen gewinnen. Denn-Fragen sind vielfach keine projizierten Aktivitäten – im Gegenteil, sie unterbrechen eine erwartete Handlungsprogression und gehen stattdessen zu einem vorgängigen Kontext zurück. Sie redefinieren durch und für sich selbst retrospektiv den relevanten Kontext, auf den sie sich zurück beziehen, und legitimieren sich und die Projektionsdurchbrechung damit selbst. Wenn sie so im Widerspruch zu etablierten Projektionen stehen, bedeutet dies zu Teilen immer auch eine Redefinition des bisherigen Interaktionsverlaufs, dessen selbstevidente Zulänglichkeit als Verstehensgrundlage mit ihnen vom Sprecher in Frage gestellt wird. Diese Redefinition wird zwar mit der denn-Frage an spezifische Merkmale des lokalen retrospektiven Kontexts gebunden, ihre Legitimation erfordert aber letztlich eine generellere Verankerung in der essentiellen Rolle, die die Herstellung von Intersubjektivität für die Interaktionsprogression spielt. DennFragen verweisen auf Annahmen darüber, welche joint projects mit der gegenwärtigen Interaktion bearbeitet werden und welche Kooperations- bzw. Beteiligungsverpflichtungen dies für die Partnerin beinhaltet, um dem Frageproduzenten zu einem für die erfolgreiche Durchführung des kommunikativen Projekts nötigen Verständnis zu verhelfen. Diese Verpflichtungen erwachsen nicht einfach aus allgemeinen Handlungsschemata, sie sind stets situierte, lokale Verpflichtungen, da sie sequenziell und thematisch anhand eines konkreten retrospektiven Kontexts relevant werden. Doch diese Verpflichtungen entstehen nicht einfach evidentermaßen im Interaktionsprozess: Mit einer denn-Frage wird ein bestimmter vorgängiger Kontext so perspektiviert, dass er als ein aufgrund von geteiltem Wissen hinreichender Anlass für eine Expansionsverpflichtung der Adressatin erscheint. Dieses Verfahren trägt paradoxe Züge. Die denn-Frage suggeriert, dass der Partnerin eine Expansionsverpflichtung bekannt ist. Wäre dies aber so,
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wäre sie ihr wohl schon eigenständig nachgekommen und die denn-Frage wäre nicht nötig. Denn erweist sich als ein Verfahren der kontrafaktischen Unterstellung von Intersubjektivität: Es drückt ein bestimmtes Verständnis des common ground erst aus (vgl. Diewald 2006) und aktualisiert diesen damit für die Partnerin erkennbar (vgl. Pittner 2007), es bildet aber nicht einfach einen unabhängig von der Äußerung bestehenden common ground ab. Kontrafaktisch ist es nicht nur, weil der Interaktionsverlauf dieses vermeintlich geteilte Wissen bis dato gerade nicht belegt, sondern vor allem auch, weil Intersubjektivität in der Interaktion immer bloß punktuell und einseitig unterstellbar bzw. beanspruchbar ist. Der Gebrauch von denn reflektiert gewissermaßen die grundlegende Paradoxie von Interaktion als solcher, immer auf Intersubjektivität angelegt zu sein, während doch die TeilnehmerInnen immer nur über standpunktgebundene Einschätzungen derselben geben, doch nie über sie selbst verfügen können. Diese Einschätzungen selbst sind aber nicht nur subjektiv, sondern als beobachtbar kommunizierte selbst folgenreich für die wechselseitige Orientierung, da sie Intersubjektivitätsdefizite ebenso wie -erwartungen anzeigen und damit signalisieren, welche Kooperationsleistungen der Partnerin notwendig sind, um aus der Sicht des Sprechers Intersubjektivität zu erreichen. Diese Abhängigkeit von der Partnerperspektive ist einerseits Resultat des epistemischen Dilemmas, dass Intersubjektivität nie als solche festgestellt, sondern nur standpunktgebunden eingeschätzt werden kann. Die standpunktgebundene Dokumentation von Verstehen und verstehensbezogenen Unterstellungen (wie durch denn) ist andererseits vor allem selbst für das Phänomen der Entstehung von Intersubjektivtität in seiner prozessualen Seinsweise (vgl. dazu Deppermann 2008; Schegloff 1992; Schneider 2004) konstitutiv, da Intersubjektivität nie unabhängig von den verdeutlichten Einschätzungen der TeilnehmerInnen, ob sie gegeben ist, existieren kann (vgl. Fischer 2007). Die Möglichkeit der Entstehung der im strikten Sinne als solcher nie verifizierbaren Intersubjektivität beruht nämlich auf genau solchen Verstehensdokumentationen wie denn-Fragen, die anzeigen, dass die Partnerin noch etwas für das hinreichende lokale Verständnis des Sprechers tun muss und dass der Sprecher davon ausgeht, dass ihr diese Verpflichtung normativ selbstverständlich ist. Denn-Fragen erscheinen damit als Grammatikalisierungen einer selbstverständlichen Ausrichtung der Interaktion auf die Erzielung von Intersubjektivität, die sich eben darin zeigt, dass SprecherInnen ihre AdressatInnen ganz selbstverständlich für ihr Verstehen in die Pflicht nehmen können. Denn ist ein sprachstrukturell bereit gestelltes Verfahren, diese kontextuell motivierte Verpflichtung zur Hilfe beim Verstehen im Dienste der intersubjektiven Bearbeitung von joint
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Arnulf Deppermann
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Konstruktion oder Funktion? Erkenntnisprozessmarker („change-of-state tokens“) im Deutschen1 Wolfgang Imo In diesem Beitrag geht es darum, anhand empirischer Daten zu untersuchen, wie mit Hilfe bestimmter Partikeln oder floskelhafter Ausdrücke von Interagierenden die Beseitigung von Wissensasymmetrien signalisiert werden kann. Wissensasymmetrien kommen zwar in jeder Alltagsinteraktion vor (vgl. Deppermann, in diesem Band), sie sind allerdings ein wesentlicher – wenn nicht sogar definitorischer – Bestandteil von Argumentationen. So sieht Deppermann (2003: S. 22) Wissensasymmetrien als einen „Aspekt der pragmatischen Einbettung von Argumentieren. Nicht nur ist es so, dass Argumentierende über unterschiedliches Wissen verfügen. Argumentieren ist vielmehr häufig gerade ein Verfahren, um Wissensdifferenzen zu überbrücken.“ Gleiches gilt auch für die Präsentation von und Reaktion auf Positionierungen und Positionen im Gespräch. Dazu gehört, dass eine Position an sich zunächst erkannt werden muss, dass man also wissen muss, welche Position die Gesprächspartner jeweils vertreten. Die zentrale Rolle, die die Beseitigung von Wissensdifferenzen – auch in Bezug auf das Wissen um die Positionen der Gesprächspartner – in Argumentationen spielt, legt nahe, dass sich für das Problem, eine Behebung dieser Differenz den GesprächspartnerInnen anzuzeigen, eine rekurrente kommunikative Lösung herausgebildet hat.2 Eine solche Lösung stellt die Kategorie „change-of-state token“ (Heritage 1984) – die ich im Folgenden in Anlehnung an Begriffe wie „Diskursmarker“ (Gohl/Günthner 1999) oder „Disfluenzmarker“ (Fischer 1992) als „Erkenntnisprozessmarker“ bezeichnen werde – zur Verfügung.3 1
2
3
Der Beitrag ist im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts „Grammatik in der Interaktion: Zur Realisierung fragmentarischer und komplexer Konstruktionen im gesprochenen Deutsch“ unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Günthner entstanden. Ein früher Hinweis auf die Notwendigkeit eines solchen Mechanismus findet sich in Sacks/ Schegloff/Jefferson (1974: S. 709). Das Turn-taking System stellt konsequent die „possibility of local monitoring for hearing, understanding, agreement etc.“ zur Verfügung. Unter einer weiteren Perspektive könnte man die Frage stellen, inwieweit change-of-state tokens als Manifestation der Kategorie der „Mirativität“ (d. h. des „grammatical marking of unexpected information“) nach DeLancey (1997) und Lazard (1999) zu fassen sind. DeLancey (1997: S. 36) definiert die Funktion der Markierung von „Mirativität“ darin, anzuzeigen
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1. Das change-of-state token oh im Englischen Der Ausdruck „change-of-state token“ geht auf eine Untersuchung von Heritage (1984) zurück, in der er die Funktionen und sequenzielle Platzierung der Partikel oh in englischer Alltagskonversation untersucht. Dabei stellt er fest, dass oh dazu verwendet werden kann, „some kind of change of state“ (Heritage 1984: S. 299) zu signalisieren. Ein solcher Zustandswechsel kann sich auf das Wahrnehmen neuer Informationen beziehen, auf das Gewinnen neuer Erkenntnisse oder generell darauf, vorherige Gesprächsbeiträge als informativ zu kennzeichnen: Evidence from the placement of the particle is used to propose that its producer has undergone some kind of change in his or her locally current state of knowledge, information, orientation or awareness. (Heritage 1984: S. 299)
Heritage stellt drei große Bereiche fest, in deren Kontext das change-of-state token oh verwendet wird: Zum einen im Bereich der Quittierung von Informationen, dann im Kontext von Reparaturen und zuletzt mit der Funktion, ein Verstehen zu signalisieren („display of understanding“). Im Kontext von Informationen wird nach Heritage die Partikel oh am häufigsten verwendet: „A major conversational environment in which ‚oh‘ regularly occurs is in response to informings.“ (Heritage 1984: S. 300) Dabei soll „oh“ zum einen dazu dienen, einen vorangegangenen Sprecherbeitrag als informativ zu markieren („‚oh‘ is used to mark the receipt of the informing delivered in the preceding turn or turns“; Heritage 1984: S. 301) und zum anderen, zu zeigen, dass die Information ausreichend war und keine weitere Information notwendig ist. Es hat also auf sequenzieller Ebene eine rückblickende und abschließende Wirkung: Die Handlung Informieren des Gesprächspartners wird durch oh als zufriedenstellend und abgeschlossen gekennzeichnet und somit beendet. Allerdings ist das Muster „Information – oh“ in den meisten Fällen dreiteilig, da auf das oh meist eine Bewertung darüber folgt, ob die Information vom Rezipienten als gut oder schlecht eingestuft wird: „‚[O]h‘ receipts are commonly combinded with assessment components to give an oh-plus-assessment turn structure“ (Heritage 1984: S. 302). Die Rezipienten einer Information verwenden also oh dafür, zu signalisieren, dass die Information, die sie erhalten haben, für sie neu – und somit relevant – war.4 „that the proposition is one which is new to the speaker, not yet integrated into his overall picture of the world.“ Allerdings ist das Konzept der Mirativität selbst umstritten und bedarf weiterer Forschung: „On the whole, mirativity as such seems to be only rarely and doubtfully grammaticalized […]. This conclusion is provisional: since evidentiality and related phenomena are now attracting more attention, let us hope that future research may expand the documentation and refine the analysis“ (Lazard 1999: S. 107).
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Wenn eine Information dagegen bereits bekannt oder aber nicht relevant ist, wird statt oh eine andere Partikel – und zwar meist eines der klassischen Hörersignale – verwendet: In sum, it is proposed that „oh“ specifically functions as an information receipt that is regularly used as a means of proposing that the talk to which it responds is, or has been, informative to the recipient. Such a proposal is not accomplished by objects such as „yes“ or „mmm hm“, which avoid or defer treating prior talk as informative. […] Finally, „oh“ may be used by recipients to highlight or „foreground“ particular elements of an informing. (Heritage 1984: S. 307)5
Ein Kontext, in dem oh regelmäßig vorkommt, um neue Informationen zu quittieren, ist der von Frage-Antwort-Sequenzen. Auch hier wird oh dazu verwendet, eine Antwort als befriedigend (also als erwünschte Information) zu markieren, während durch andere Gesprächspartikeln oder dadurch, dass überhaupt keine Reaktion auf die Antwort erfolgt, angezeigt werden kann, „that an answer was not, or not yet, informative or, alternatively, that a prior question-formed utterance did not request information“ (Heritage 1984: S. 312).6 Auf Grund der Tatsache, dass Datenanalysen darauf hinweisen, dass im Anschluss an eine Frage-Antwort-Sequenz fast immer eine Reaktion auf die Antwort erfolgt (sei es durch ein change-of-state token, eine Bewertung oder ein Sich-Bedanken), ist dabei zu überlegen, ob man nicht von vornherein statt von einem zweiteiligen Nachbarschaftspaar von einer dreiteiligen Sequenzstruktur (Frage – Antwort – Reaktion7) ausgehen muss. Zusammenfassend für die Abfolge aus Information und Partikel „oh“ kann gesagt werden, dass nach Heritage (1984: S. 315) – durch oh immer ein „change of state of information“ markiert wird, – oh sequenziell auf die Information folgt und die sequenzielle Rolle von oh darin besteht, eine „retrospective reconfirmation of both the prior and the current knowledge states of the participants“ durchzuführen und 4 5
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Mit anderen Worten: „‚[O]h‘ is a strong indication that its producer has been informed as a result of a prior turn’s talk.“ Hier zeigt sich ein ähnliches Phänomen wie bei Bewertungen, bei denen durch neutrale Partikeln wie ja oder mhm meist eine gegenläufige Bewertung eingeleitet wird, während eine gleichlaufende Bewertung deutlich intensivere Ausdrücke (absolut, genau etc.) benötigt. Siehe hierzu auch die Untersuchungen zu Bewertungssequenzen von Auer/Uhmann (1982) und Pomerantz (1984). Heritage geht allerdings nicht auf unterschiedliche prosodische Realisierungsweisen des oh ein. Insofern bleibt hier offen, ob die prosodische Realisierungsweise von oh irrelevant ist, oder ob durch unterschiedliche Formen von oh nicht auch zusätzliche Informationen in Bezug auf die Adäquatheit der Information oder sogar eine fehlende Adäquatheit der Antwort (z. B. durch ein in starker Frageintonation realisiertes „oh“) signalisiert werden kann. Oder, wie Heritage (1984: S. 336) feststellt, von einer „prototypical Q-A-‚Oh‘ structure.“
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–
nicht nur die Person, die oh äußert, sich selbst als Empfänger einer neuen Information darstellt, sondern zugleich auch den Informationsgeber als effektiv und kompetent markiert. Die Funktions- und Bedeutungszuschreibung von oh kann also nur in Bezug auf die gesamte Informationssequenz geschehen. Neben dem sequenziellen Muster Information – oh beschreibt Heritage als weitere Muster die Abfolgen Reparaturinitiierung – Reparatur – oh8 sowie das „display of understanding“ (Heritage 1984: S. 323), das aus der Sequenz „Beitrag eines Gesprächspartners A – oh des Gesprächspartners B, mit dem er signalisiert, dass der Gesprächsbeitrag von A verstanden wurde“, besteht. In allen drei Bereichen (Informationen, Reparaturen und „displays of understanding“) hat oh eine sequenzterminierende Funktion: „[T]he particle does not, of itself, request, invite, or promote any continuation of an informing“ (Heritage 1984: S. 324).9 Allerdings bedeutet das nicht, dass oh stets allein stehend geäußert wird und danach die GesprächsteilnehmerInnen eine andere Sequenz beginnen. Gerade weil durch das oh ein Erkenntnisgewinn angezeigt wird und die genaue Art der gewonnenen Erkenntnis für die anderen Gesprächsteilnehmer nicht erkennbar ist, folgt dem oh fast immer eine Elaboration oder eine Bewertung der Art des Erkenntnisgewinns, den der Sprecher soeben hatte. Die Person, die oh äußert, stellt sich selbst nicht nur als Empfängerin einer neuen Information dar, sondern markiert zugleich auch den Informationsgeber als effektiv und kompetent: „By means of the particle, the alignment of the speakers in their sequencespecific roles is confirmed and validated.“ Dieses Muster ist interaktional stabil. Wenn ein Sprecher ein oh äußert, wartet der andere meist diese Elaboration oder Bewertung ab, oder – sequenziell ebenso auffällig – versucht mit einem „rush-through“ (Schegloff 1998: S. 241) seinen Turn zu behalten. Diese projizierende Komponente von oh kann auf der anderen Seite von den Interagierenden bewusst dazu benutzt werden, um eine erhaltene Information als negativ zu bewerten: Wenn der Sprecher nach dem oh nicht weiterspricht, wird das von dem Informationsgeber als Hinweis darauf interpretiert, dass die Information negativ bewertet wird (auch hier findet sich wieder das allen Bewertungssequenzen gemeinsame Muster, dispräferierte Bewertungen mit neutralen Gesprächspartikeln oder Pausen einzulei8 9
Für eine Analyse speziell dieses Musters im Deutschen siehe Betz/Golato (2008). Im Fall von Reparaturen hat oh die interaktional wichtige Funktion, als „sequence exit device“ einen „mutually ratified exit from repair sequences“ durchzuführen und so das Gespräch fortzusetzen.
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ten).10 Zudem ist bei oh festzustellen, dass es auf unterschiedliche kommunikative Gattungen reagiert. Institutionelle Kontexte (Gericht, Klassenzimmer, Arzt-Patienten-Befragung) fallen auf, weil dort das oh als Reaktion auf eine Information nicht geäußert wird. Die Struktur Information + oh + Bewertung/Elaboration ist also typisch für informelle Gespräche, während die Abwesenheit der Partikel und der folgenden Bewertung die Interagierenden darauf hinweist, „that something other than conversation is in progress.“ Insofern kann das change-of-state token oh als ein Element gewertet werden, das dazu beiträgt, institutionelle Kommunikation hervorzubringen (im Sinne eines „talking into being“ (vgl. Boden 1994)). Heritages (1984) Fazit der Untersuchung von oh in englischen Gesprächen ist, dass es sich bei dieser Partikel um eine höchst konventionalisierte Routine handelt, die in feste sequenzielle Strukturen eingebettet ist und den Interagierenden den Informationsaustausch und die Bewältigung von Reparaturen erleichtert, indem sie zugleich sequenzterminierende und bewertungsprojizierende Funktionen hat. Although it has been almost traditional to treat „oh“ and related utterances (such as „yes“, „uh huh“, „mm hm“, etc.) as an indifferentiated collection of „back channels“ or „signals of continued attention“, the observations […] suggest that such treatments seriously underestimate the diversity and complexity of the tasks that these objects are used to accomplish. In both their variety and their placement in a range of sequence types, these objects are used to achieve a systematically differentiated range of objectives which, in turn, are specifically consequential for the onward development of the sequences in which they are employed. Within this collection, „oh“ is unique in making a change-of-state proposal which is most commonly used to accept prior talk as informative.11 (Heritage 1984: S. 336)
Während es im Englischen also eine strikte Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlichen Partikeln zu geben scheint und oh dabei hoch rekurrent und extrem verfestigt ist, ergibt sich für das Deutsche ein weitaus komplexeres Bild, wie die folgende Analyse zeigen wird. Inwieweit die Ergebnisse von Heritage auf das Deutsche übertragen werden können, muss durch eine detaillierte Untersuchung verschiedener Partikeln herausgefunden werden, die in deutschen Gesprächen mit der Funktion verwendet werden, einen Wechsel des Informationszustands anzuzeigen. 10 11
Das gilt sowohl für englische Bewertungssequenzen (Pomerantz 1984) als auch für deutsche (Auer/Uhmann 1982). Diese Einschätzung wird von Jefferson (2002) durch ihre detaillierte Analyse der Partikeln yes und no bestätigt. Beide Partikeln werden jeweils als „continuer“ und „affiliative“ eingesetzt, anders als oh jedoch nicht als change-of-state tokens (in Jeffersons Terminologie: „acknowledgement tokens“).
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Dabei geht es zunächst darum, eine kontrastive Analyse zum Englischen durchzuführen. Im Anschluss daran steht die Frage im Mittelpunkt, wie man im Rahmen der Construction Grammar (Croft 2002, Croft/Cruse 2004, Langacker 1987, 1999) mit diesen Partikeln umgehen kann. Handelt es sich bei der Kategorie change-of-state token um eine Konstruktion? Die von Heritage (1984: S. 336) postulierte Beschränkung dieser Funktion auf eine einzige Partikel – oh – die er als „unique in making a change-of-state proposal“ klassifiziert, legt es für das Englische nahe, tatsächlich von einer aus nur einem einzigen Element bestehenden Konstruktion auszugehen. Im Deutschen können jedoch so viele Partikeln dafür eingesetzt werden, einen Informationszustandswechsel anzuzeigen, dass es scheint, dass „Erkenntnisprozessmarker“ eher eine Funktion als eine Konstruktion ist. Hinzu kommt noch, dass es im Deutschen sowohl semantisch leere Partikeln (oh, ah, ach so etc.) gibt, die die Funktion haben können, einen Wechsel im Informationszustand anzuzeigen als auch semantisch aufgeladene Floskeln (ich verstehe; ehrlich?, echt?), bei denen Funktion und Semantik zusammenfallen. Allerdings muss gesagt werden, dass Heritage auch im Englischen vorkommende Floskeln wie I see nicht in seine Untersuchung mit einbezogen hat. Seine Aussagen haben also bestenfalls Geltung für die erstere Gruppe semantisch leerer Partikeln. Zudem zeigt eine detaillierte Untersuchung deutscher Erkenntnisprozessmarker, dass die einzelnen Partikeln jeweils leicht unterschiedliche Bedeutungen haben und somit bedeutungs- und funktionsdifferenzierend eingesetzt werden können. Die Konstruktion „Erkenntnisprozessmarker“ umfasst also als – wie im Folgenden gezeigt wird – eine gesprächsspezifische Wortart mehrere Einträge.12
2. Mögliche Erkenntnisprozessmarker im Deutschen Zwei große Gruppen von Ausdrücken eignen sich dafür, als konventionalisierte Erkenntnisprozessmarker im Deutschen verwendet zu werden. Zum einen kommen dafür – in Anlehnung an die Untersuchung von Heritage (1984) – Partikeln wie ach (so, ja), oh, aha und ah in Frage,13 zum anderen aber auch Ausdrücke mit einer eigenen Semantik. Dabei kann es sich um Modalwörter bzw. modale Adverbien handeln (echt?, wirklich?, ehrlich?) 12 13
Die Frage der Bestimmung und Abgrenzung von Konstruktionen wird unter anderem auch von Deppermann, Günthner, Meer, Spreckels und Stoltenburg (dieser Band) aufgegriffen. So sieht beispielsweise Egbert (2004: S. 1478; S. 1491) ach und ach so im Deutschen als äquivalente Ausdrücke zum „change-of-state token“ oh.
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oder um Phrasen ((ich) verstehe). Am Ende der Skala, die von semantisch leeren Partikeln über semantisch volle unflektierbare Wörter zu semantisch ebenfalls vollen verfestigten Phrasen geht, stehen dann komplette Metakommentare, die entweder auch einen gewissen Formelcharakter haben (das ist ja ganz was Neues) oder komplett frei gebildet werden (was du mir jetzt sagst, wusste ich noch nicht). Diese letzten Typen freier Metakommentare werde ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht betrachten. Relevant sind hier nur die Partikeln, Adverbien, Modalwörter und verfestigten Phrasen, die als Erkenntnisprozessmarker verwendet werden. Das der Arbeit zu Grunde liegende Korpus umfasst ca. 35 Stunden Gesprächsaufzeichnungen. Darunter befinden sich Aufzeichnungen aus zwei Staffeln der Fernsehsendung Big Brother, Radio Phone-in- und Interviewsendungen, Familiengespräche und Freundesgespräche. Die Daten stammen aus unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen, unter anderem Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Brandenburg, der Schweiz und Österreich. In den Daten wurde nach folgenden Ausdrücken gesucht.14 a) Partikeln ach so 38 Fälle aha 25 Fälle oh (nein, ja) 25 Fälle ach 17 Fälle ah (ja, so) 12 Fälle b) Modalwörter/Adverbien/Floskeln echt? 67 Fälle (davon 52 in Big Brother) ehrlich? 3 Fälle wirklich? 4 Fälle (nur in Big Brother) (ich) versteh(e) 4 Fälle (nur in Domian) Es wurden nur diejenigen Verwendungsweisen mit in die Daten aufgenommen, bei denen ein Aspekt der Quittierung einer neuen Information im weitesten Sinne relevant war.
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Die Auswahl stützt sich auf die Auflistung von möglicherweise auf Grund ihrer Funktion in Frage kommenden Interjektionen und Partikeln in deutschen Grammatiken. Ich danke den TeilnehmerInnen der Datensitzung des DFG-Projekts „Grammatik in der Interaktion“ für ihre Hinweise und Vorschläge in Bezug auf die Datenauswahl.
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2.1 Funktional als Erkenntnisprozessmarker eingesetzte Partikeln Dass es Ausdrücke für die von Heritage (1984) beschriebene Funktion, einen Wechsel im Informationsstand anzuzeigen, geben muss, wird auch von Grammatiken des Deutschen berücksichtigt. So führt beispielsweise Weinrich (2005: S. 837 f.) ach, ah und aha in dieser Funktion an: Die Dialogpartikeln ach und ah, die auch als Interjektionen gebraucht werden, drücken Überraschung aus. Die häufigere Form ist ach. Mit ihr reagiert ein Dialogpartner auf einen für ihn unerwarteten Dialoginhalt. Die Überraschung kann sich auch auf ihn selber beziehen, wenn ihm etwa plötzlich etwas einfällt. […] Die Dialogpartikel ah wird seltener gebraucht als ach. Sie drückt ebenfalls Überraschung aus, nicht selten mit einer freudigen Nuance. […] Die stärkste Überraschung drückt aha aus („Aha-Effekt“). Zugleich besagt diese Dialogpartikel, dass die überraschende Information einen bestehenden Informationsmangel oder Unverständnis beseitigt hat.
Die Definition, die Weinrich hier für ach, ah und aha gibt, deckt sich weitgehend mit der, die Heritage für das Englische oh festgestellt hat.15 Im Folgenden werden nun die Partikeln hinsichtlich ihrer Verwendungsweise als Erkenntnisprozessmarker analysiert. 2.1.1 ach so Die Partikel (bzw. Partikelkombination) ach so liefert die meisten Fälle eines durch eine Partikel realisierten Erkenntnisprozessmarkers.16 Wie das von Heritage beschriebene oh ist ach so ebenfalls immer sequenzterminierend, d. h. eine Informationssequenz im weitesten Sinne wird als beendet markiert. Allerdings wird ach so häufig allein stehend verwendet: In nur 18 Fällen folgt der Partikel eine Bewertung oder eine Frage bzw. Aussage, mit der die empfangene Information überprüft wird, bei den übrigen 20 Fällen wird das Gespräch ohne weiteres Eingehen auf die Sequenz Informationsempfang – Informationsquittierung fortgesetzt. Die folgenden drei Beispiele stammen aus unterschiedlichen Folgen der Radio Phone-in Sendung Domian. Es ist nicht verwunderlich, dass vor
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Weinrich (2005: S. 859) führt noch eine umfangreiche Liste weiterer „expressiver Interjektionen“ an, die allerdings seiner Ansicht nach nicht dazu verwendet werden, den Empfang von Informationen/Reparaturen zu quittieren, sondern die „emotionales Interesse beim Hörer erzeugen“ und „Überraschung“ ausdrücken sollen. Zu diesen Interjektionen zählt er unter anderem auch oh, oho, oha und dutzende andere. Aufgrund der hohen Frequenz (gekoppelt mit einer eigenen Funktion) werte ich ach so als eigene Partikel und nicht lediglich als Variante von ach. Auch die Ergebnisse einer detaillierten konversationsanalytischen Studie von Betz/Golato (2008) zeigen, dass ach und ach so deutlich unterschiedliche Funktionen haben.
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allem in Radio Talk- und Beratungssendungen viele Erkenntnisprozessmarker auftreten, da die Grundstruktur dieser Radioformate darin besteht, dass ein Anrufer oder eine Anruferin eine Episode aus ihrem Leben erzählen, die für den Moderator oder Berater zwangsläufig neue Information sein muss. Beispiel 1 Domian Priester 77 D aber du kÖnntest ihn doch mal beSUchen, 78 hmmm ich mein ein PRIEster kann doch eine FRAU mal empFfAngen in der WOHnung? 79 Do JA, (.) 80 aber das is bei ihm im moment AUCH schlecht, 81 Do mhm, 82 weil (.) er kriegt jetzt auch83 nen neuen berEIch zugeTEILT, 84 D mhm, 85 Do [.hh ] und ähm (.) seine wohnung oder sein HAUS, 86 liegt eigentlich diREKT neben dem von- (.) 87 .hh von seinem pasTOR wo er mit zusammenARbeitet88 und äh- (.) 89 D ? ACH so. 90 Do ja, 91 die gemeinde ist sehr KLEIN, 92 .h hellhörig;.hh 93 D .h DANN (.) hm sickert das [schnell durch (.) dann] ist VORsicht geboten, 94 Do [.hhhhh (-) ja geNAU] 95 D kann ich [verSTEhen;] 96 Do [RICHtig; ] Beispiel 1 D 2 3 S 4 D 5 6 S 7 8 9 10 11 12 13
2 Domian Soldat STEfanie FÜNFundzwanzig jahre alt guten MORgen; STEfanie; ja hallo DOmian; hallo STEfanie; .h um WAS geht=s bei DIR; ja wo soll ich ANfangen ehm ich würd ja sagen mein freund is im irak, aber er hat sich KURZfristig vorher von mir geTRENNT, ohne jede VORwahnung aus heiterem himmel, .h tja und jetzt SITZ ich hier und weiß im grunde genommen nich wie es mit IHM weitergeht undD eh mOment mal eh er IS im irak? S ER is im irak er is eh schottischer solDAT, D ? [ach SO;] S [er is ] also in deutschland statioNIERT,
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Wolfgang Imo D ? ach SO; S und eh er gehört halt zu DENjenigen die mit UNten jetzt sind;
In Beispiel 1 berichtet die Anruferin Dorothea (Do) von ihrer Affäre mit einem Priester und beklagt sich, dass sie ihn nur selten treffen kann. Daraufhin stellt Domian in Z. 78 die Frage, warum die Anruferin den Priester denn nicht besuchen kann, da er in seiner Wohnung „doch eine frau mal empFANGen“ könnte. Zunächst antwortet Dorothea, dass es „bei ihm im moment auch schlecht“ sei und dass er „nen neuen bereich zugeteilt“ bekomme. Diese Informationen werden von Domian lediglich mit dem Fortsetzungssignal „mhm,“ (Z. 84) quittiert, woraufhin die Anruferin die offensichtlich nicht ausreichende Antwort weiter ausbaut, was dann in der Aussage dass das Haus des Priesters neben dem des Pastors liegt (Z. 91 f.) gipfelt. Erst auf diese Aussage hin reagiert Domian in Z. 89 mit dem „ach so“, das von einem „display of understanding“ (Heritage 1984) gefolgt wird, nämlich der Schlussfolgerung, dass in einer kleinen Gemeinde Informationen schnell verbreitet werden (Z. 93 f.). In der Systematik von Heritage (1984) handelt es sich um eine Frage-Antwort-Reaktionssequenz. Auf die Frage von Domian folgt die Antwort der Anruferin, die dann von „ach so“ und einem expliziten „display of understanding“ gefolgt wird. Gleichzeitig mit der Markierung der Antwort von Dorothea als informativ akzeptiert Domian durch „ach so“ ihre Argumentation, schwenkt also auf ihre Problemsicht ein. Deppermann (dieser Band) weist darauf hin, dass der „Aufgabe der Verstehensdokumentation“ eine zentrale Rolle in Gesprächen zukommt. So ist „bereits erreichtes, nicht erreichtes, revidiertes, unsicheres oder den eigenen Intentionen nicht entsprechendes Verstehen“ zu signalisieren. Mit Hilfe des „display of understanding“ und dem Erkenntnisprozessmarker ist Domian in Beispiel 2 in der Lage, die Position der Anruferin als nachvollziehbar zu markieren. Der Auszug von Beispiel 2 stammt aus einem Gesprächsanfang der Radio Talk Sendung Domian. Nach den üblichen Begrüßungsformeln und der Aufforderung, den Grund für den Anruf zu nennen (Z. 5) schildert die Anruferin Stefanie (S) kurz ihr Problem. In Z. 10 unterbricht Domian mit einer Verständnisfrage im Sinne einer Reparatureinleitung. Da die Anruferin nicht erwähnt hatte, dass ihr Freund Soldat ist, erscheint der Aufenthalt im Irak während des Krieges (die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2003) äußerst ungewöhnlich. Diese Abweichung vom Erwarteten wird von Domian mit der Betonung auf dem „IS“ (Z. 10) markiert. Die Anruferin repariert dann in der folgenden Zeile die Problemstelle, indem sie die not-
Konstruktion oder Funktion?
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wendige Information, dass ihr Freund schottischer Soldat sei, nachliefert. Diese Information wird von Domian mit „ach SO;“ (Z. 12) quittiert. Die Abfolge hier besteht hier also aus einer Problemstelle, einer Reparaturinitiierung, einer Reparatur und der Quittierung der Reparatur als erfolgreich.17 Im Anschluss daran liefert die Anruferin eine weitere Information, nämlich dass ihr Freund „in deutschland statioNIERT“ sei (Z. 13). Auch diese Information ist für Domian neu und dient der genaueren Einordnung der Beziehung zwischen der Anruferin und ihrem Ex-Freund. Sie wird daher ebenfalls mit dem Erkenntnisprozessmarker „ach SO;“ als neue und potentiell wichtige Information markiert. Die sequenzielle Struktur umfasst die Schritte Information – Quittierung der Information als neu und relevant. Die Funktion bei beiden Fällen in Beispiel 2 besteht darin – ähnlich wie bei den von Heritage beschriebenen Verwendungsweisen von oh – neue Informationen als relevant zu quittieren. Das ist unabhängig davon, ob diese Informationen durch eine Frage oder Reparatur zuvor angefordert oder selbstständig geliefert wurden (wie im zweiten Fall in Beispiel 2). In beiden Fällen steht ach so in Beispiel 2 frei, d. h. es folgt keine weitere Aushandlung, Verständnissignalisierung („display of understanding“) oder Bewertung der gelieferten Information. Wie sieht es nun mit der Bedeutung bzw. Funktion von ach so aus? Zifonun et al. (1997) sehen ach so lediglich als „intensivierende kombinatorische Variante von ach“ (1997: S. 405), wobei SprecherInnen durch ach „einen aktuellen Sprecherbeitrag als erstaunlich oder verwunderlich“ markieren und so „eine Erläuterung elizitieren“ können: „ach wird verwendet, um in einer Situation möglicher oder faktischer Divergenz, eines Reparaturbedarfs oder eines riskanten Übergangs eine kontinuierliche Fortsetzung des Diskurses zu ermöglichen.“ Die deutlich unterschiedlichen Funktionen von ach und ach so legen m. E. jedoch nahe, von zwei unterschiedlichen Partikeln auszugehen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Während Zifonun et al. (1997) die Funktion von ach und ach so lediglich in der Markierung einer Problemstelle als „erstaunlich“ oder „verwunderlich“ verorten, sieht Willkop (1988: S. 216) dagegen die Funktion von ach so darin begründet, zu signalisieren, „dass die eigenen Annahmen – die in starkem Kontrast zu der neuen Information stehen – korrigiert wurden.“ Anders als Zifonun et al. (1997), die ach (so) nicht als Erkenntnisprozessmarker klassifizieren in dem Sinne, dass eine neue Information akzeptiert 17
Vgl. die Analyse von Betz/Golato (2008), in der ach so im Kontext von Reparaturen untersucht wird. Dabei hat ach so die Funktion, die Reparatursequenz als zufriedenstellend zu beenden: „Achso removes epistemic asymmetry and closes the ongoing repair sequence.“
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wurde – statt dessen wird lediglich Verwunderung markiert –, sieht Willkop (1988) die Funktion eines Erkenntnisprozessmarkers, der neue Informationen anzeigt, im Vordergrund. Noch weiter geht dabei Bredel (2000: S. 410), die die Bedeutung bzw. Funktion von ach so wie folgt beschreibt: Mit dem Ausdruck ach so gibt der Hörer dem Sprecher zu verstehen, […] dass er erst nach einer spezifischen Umstrukturierung seines Wissens ein Verstehen der Sprecheräußerung erreicht hat. Umgekehrt erhält der Sprecher mit dem hörerseitigen ach so […] Einblick in die hörerseitige Verstehensarbeit: Er weiß nun, dass spezifische hörerseitige Annahmen das Verstehen blockiert haben, dass der Hörer aber nun das sprecherseitig gegebene Wissen übernommen und so ein Verstehen erreicht hat.
Durch ach so wird also eine „Äquilibrierung von Handlungslinien“ (Bredel 2000: S. 411) der Interagierenden durchgeführt, d. h. die Divergenz von Einschätzungen oder Informationsständen wird durch eine Konvergenz ersetzt. Gerade im Bereich des Argumentierens erfüllt die Partikel ach so daher wichtige Funktionen: „Argumentieren geht stets von einem Handlungsproblem aus: Ein Plan ist zu entwickeln, ein Erwartungsproblem ist zu rechtfertigen oder ein Dissens ist zu bereinigen“ (Deppermann 2003: S. 22). Durch ach so kann nicht nur ein Dissens bereinigt werden, sondern zugleich angezeigt werden, dass die Erwartungen nun auf der gleichen Linie mit denen der anderen Gesprächsteilnehmer liegen und dass der Argumentationsplan nun gemeinsam fortgeführt werden kann. Die Klasse der Erkenntnisprozessmarker stellt daher ein zentrales „Schmiermittel“ („Verstehensdokumentationen“ nach Deppermann (dieser Band)) für die Aushandlung von Argumentationssequenzen dar. Dabei sorgen sie dafür, dass Positionierungen überhaupt erst möglich und als solche erkennbar werden, so dass interaktive Störungen („Positionierungen haben u. a. die Funktion, interaktive Störungen zu bearbeiten“; Spreckels, in diesem Band) durch Metakommunikation beseitigt werden können. Wenn man sich die oben zitierten Beispiele ansieht, kann vor allem Beispiel 1 als typische Illustration von ach so im Sinne Bredels (2000) gesehen werden. Der Rat von Domian, dass die Anruferin ihren Freund öfter besuchen sollte, wird abgelehnt, und erst nachdem Domian zusätzliche Informationen erhalten hat (die kleine Gemeinde macht ein Treffen risikoreich) und er dieses Argument mit ach so akzeptiert hat, sind beide Gesprächspartner wieder auf einer Handlungslinie, die die Fortführung des Gesprächs und vor allem eine potentielle Beratung von Seiten Domians erst ermöglicht, da Domian nun nach anderen Lösungsmöglichkeiten suchen kann. Weniger deutlich ist diese Funktion der Äquilibrierung von Handlungslinien dagegen im zweiten Beispiel. Der erste Fall in Z. 12 entspricht zwar
Konstruktion oder Funktion?
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noch der Analyse Bredels (2000), dass nämlich eine Verstehensblockade gelöst und eine Äquilibrierung der Handlungslinien vorgenommen wurde (Domian kann ohne die Information, dass der Freund der Anruferin nicht Abenteuerurlaub im Irak macht, sondern dienstlich dort ist, dem Gespräch nicht sinnvoll folgen). Im zweiten Fall in Z. 14 dagegen beseitigt die Information, dass der Freund in Deutschland stationiert ist, keine Verstehensblockaden, sondern liefert eher eine zusätzliche Information, die im Verlauf des weiteren Gesprächs relevant werden könnte. Während die prototypische Bedeutung von ach so also mit „ich habe eine neue und relevante Information erhalten, die ein Verstehensproblem gelöst hat und die es ermöglicht, deiner Argumentation zuzustimmen“ angegeben werden kann, finden sich in manchen Fällen auch weniger spezielle Bedeutungen wie „ich habe eine (neue und relevante) Information erhalten“, die der Basisbedeutung der meisten Erkenntnisprozessmarker entspricht. Spreckels (dieser Band) weist darauf hin, dass im Kontext von Positionierung ein weites Spektrum an Formen nötig ist: „In meiner Untersuchung geht es weniger um Formen der sozialen Positionierung im Sinne der Identitätskonstitution […], sondern um subtilere Formen der Stellungnahme zum aktuellen Interaktionsgeschehen. Auf Möglichkeiten, wie mit solchen subtilen Bedeutungs- und Funktionsnuancen umgegangen werden kann, werde ich im Fazit näher eingehen.“ 2.1.2 aha Ähnlich wie ach so von Zifonun et al. (1997: S. 405) lediglich als Variante von ach gesehen wird, wird dort auch aha als Variante von ah aufgefasst. Allerdings werden vier Formen von aha mit – je nach prosodischer Realisierung – eigenen Funktionen aufgelistet: mit final fallender Betonung als „Grundform der Problemlösung“, mit steigend-fallender Kontur als „überraschende Problemlösung“, mit fallend-steigender Kontur als „Unsicherheit über Lösung“ und mit steigender Kontur als „Zweifel an Lösung, Fortsetzung der Suche“ (Zifonun et al 1997: S. 388). In den untersuchten Daten wurde aha in neun Fällen in einer fallenden, in 14 Fällen in einer steigenden (oder gleichbleibenden) und in zwei Fällen in einer steigend-fallenden Kontur realisiert. Während man für die fallend realisierten Partikeln in allen Fällen durchaus die Einordnung als „Grundform der Problemlösung“ bzw., weiter gefasst, die neutrale Quittierung einer Information als zutreffend belegen kann, und auch in den beiden Fällen, in denen aha in einer steigend-fallenden Intonation geäußert wird, das Moment der Überraschung stark ist,
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kann für die steigend realisierten Fälle die Einordnung als „Zweifel an der Lösung, Fortsetzung der Suche“ nicht durchweg bestätigt werden. Folgendes Beispiel aus einer Folge der Radio Phone-in Sendung Domian illustriert den Fall, dass durch die Partikel aha tatsächlich über das bloße Quittieren einer neuen Information hinaus diese Information dahingehend markiert wird, dass sie ein tieferliegendes Problem nicht behebt. Beispiel 3 Domian Stubenfliege 308 D DENKST du hallO? 309 halLO? 310 IHR stUbenflIEgen, 311 kommt (.) auf mich ZU: ich bin ein frEUnd, 312 oder wie wie DENKST du mit dEnen? (.) 313 M ich BRAUCH das gar nicht dEnken, (.) 314 die kommen von SELber an; 315 D ? aha, (.) 316 jA vIElleicht RIECHST du irgendwie ganz gEIl für die; (.) 317 kann ja SEIN; (.) 318 M .h NEIN; (.) 319 also da muss ich dich be- äh BITter enttÄuschen; (.) 320 D das WEIßT du ja gar nich,
Der Anrufer Martin (M) ist der Ansicht, dass er mit Stubenfliegen telepathisch kommunizieren kann. Er macht dies daran fest, dass die Fliegen immer zu ihm kommen und ihn morgens wecken. Domian (Z. 308) greift die Behauptung des Anrufers auf, dass er mit den Fliegen kommuniziere. Nach der Inszenierung einer fiktiven Kommunikation von Martin mit den Fliegen (Z. 308–311) stellt Domian in Z. 312 die Frage, wie der Anrufer die telepathische Verbindung zu den Fliegen genau herstellt. Martin weist die Inszenierung in Z. 313 allerdings zurück, indem er sagt, dass er nicht aktiv an die Fliegen denkt, sondern dass die Fliegen „von SElber“ (Z. 314) ankommen. Diese Information wird von Domian in Z. 315 mit „aha,“ quittiert, gefolgt von einer alternativen Interpretation: Die Fliegen würden zu dem Anrufer kommen, weil dieser „ganz gEIl für die“ (Z. 316) rieche. Durch das aha markiert Domian also einerseits den Empfang einer neuen Information, der ein Überraschungsmoment innewohnt (durch die Antwort impliziert der Anrufer, dass er in Wirklichkeit gar nicht mit den Fliegen telepathisch kommuniziert) und signalisiert andererseits durch die steigende Intonation, dass das Grundproblem (nämlich wieso die Fliegen zu dem Anrufer kommen) noch nicht gelöst ist. Ein Lösungsvorschlag wird dann im Folgenden von Domian präsentiert.
Konstruktion oder Funktion?
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In manchen Fällen lässt sich allerdings diese zusätzliche Funktion, nach einer anderen Lösung für ein Problem zu suchen, trotz steigender Intonationskontur nicht feststellen. Beispiel 4 stammt aus einem Familiengespräch aus Brandenburg. Beispiel 4 Brandenburg Getränkebehälter 423 T die nennen sich och nIch (.) äh WÄRmehal424 na (.) MAma hat doch so ne425 O ach WÄRmekanne; 426 T JA. 427 die NENnen sich auch nich so (.) äh:428 die halten429 die nennen sich NUR, (.) 430 TEEbe- äh äh (.) geTRÄNkebehÄlter; 431 O aha, 432 [(also das is) (.) WÄRme.] 433 E [damit sagen se NICH AUs,] 434 dass det ding wArm oder KALT hält; 435 O ? aha, 436 E wenn de aber von der verpAckung davon AUSgehst, 437 dann isset DEIN pech. 438 O jajaja.
Die Tochter (T) und die Oma (O) unterhalten sich darüber, dass Kunden durch irreführende Werbung über den Tisch gezogen werden. Die Tochter führt als Beispiel an, dass manche Geschäfte als „Getränkebehälter“ gekennzeichnete Kannen verkaufen, die aussehen wie Thermoskannen, die aber die Getränke nicht warm bzw. kalt halten können. In Z. 427 f. weist die Tochter darauf hin, dass man diese Kannen daran erkennen kann, dass sie lediglich als „geTRÄNkebehälter“ (Z. 430) bezeichnet werden. Diese Information wird von der Oma mit „aha,“ (Z. 431) als neue Information markiert. In Z. 432 setzt die Oma zu einer Schlussfolgerung dessen an, was man aus der Bezeichnung „Getränkebehälter“ ableiten kann. Parallel dazu liefert die Tochter aber diese Schlussfolgerung selbst (Z. 433 f.), was von der Oma wieder mit einem „aha,“ (Z. 435) quittiert wird. Die Funktion, Zweifel an einer Lösung und die Fortsetzung der Suche nach einer Lösung zu signalisieren, ist hier nicht vorhanden. Auch die Komponente der Überraschung ist hier stark zurückgenommen. Die Aussage von Weinrich (2005: S. 837), dass aha „die stärkste Überraschung“ ausdrücke, trifft für dieses Beispiel nicht zu. Da sich die Familienmitglieder darüber unterhalten, dass immer wieder jemand auf die Werbung hereinfällt (so eine Aussage der Oma selbst kurz zuvor im Gespräch) kann das Aufdecken eines weiteren Werbebetrugs nicht mehr als völlig überraschende Information gewertet werden.
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Das Bedeutungsspektrum von aha schwankt also beträchtlich. Die minimale Bedeutungskomponente besteht darin, den Empfang einer neuen Information zu quittieren. In fast allen Fällen tritt als zweite Bedeutungskomponente das Signalisieren von Überraschung hinzu, und je nach prosodischer Realisierung können weitere Bedeutungen hinzukommen, wie die Ankündigung, dass die Information nicht zur Lösung eines dem Gespräch zu Grunde liegenden Problems geführt hat. Welche der Bedeutungskomponenten relevant gesetzt wird, ist einerseits von der prosodischen Realisierung der Partikel aha abhängig, andererseits aber auch vom Kontext, in dem sie geäußert wird (wie Beispiel 4 zeigt, in dem der Aspekt der Überraschung auf Grund der vorangegangenen Äußerungen unwahrscheinlich ist). 2.1.3 oh Anders als im Englischen spielt die Partikel oh im Deutschen nicht die zentrale Rolle als wichtigster Erkenntnisprozessmarker.18 Sie taucht nur an dritter Stelle in den Daten auf. Von den insgesamt 25 Fällen werden sieben allein stehend realisiert (d. h. sequenzterminierend), in sieben Fällen wird die Floskel oh (mein) Gott realisiert und in elf Fällen folgt der Partikel eine Erklärung, Bewertung oder Frage. Folgendes Beispiel illustriert die Verwendung von oh zusammen mit einer Bewertung in der Funktion, einen Informationswechsel anzuzeigen. Das Beispiel stammt aus einem Gespräch zweier Freunde während einer Autofahrt. Beispiel 5 Autotour Kippenanzünder 1165 H weisch was SCHAde isch dass der (.) KIPpenanzünder (.) net geht. 1166 W waRUM? 1167 H und zwar weil ich dieses ding dabei hab ich habs repaRIERT; (.) 1168 des MEgaphon; 1169 W ? OH: ja SCHAde. 1170 H NÄGSCHT jahr
18
Das könnte mit der sehr allgemeinen Funktion von oh zusammenhängen, die nach Zifonun et al. (1997: S. 390) folgende ist: „Der Sprecher ist von Ereignissen, Handlungen oder Empfindungen in besonderer Weise tangiert und signalisiert dies dem Adressaten.“ Dadurch, dass auch externe Veränderungen, die nichts mit einer durch eine Information verursachte Wissensveränderung zu tun haben, durch oh markiert werden können, bieten sich im Deutschen andere, spezialisiertere Erkenntnisprozessmarker an. Ein Beispiel für einen Fall, der den Bereich eines reinen, interaktional orientierten Erkenntnisprozessmarkers bereits verlässt, ist die weiter unten analysierte Floskel oh Gott.
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In Z. 1165 bringt H ein neues Thema in das Gespräch, indem er W die Frage „weisch was SCHade isch“ stellt,19 die er sofort selbst beantwortet. W versteht zunächst nicht, warum es ein Problem ist, dass der Zigarettenanzünder nicht funktioniert, und fragt daher in Z. 1166 nach dem Grund. In Z. 1167 liefert H dann diesen Grund (er hat ein Megaphon, das an den Zigarettenanzünder angeschlossen werden kann). W quittiert diese Information mit der Äußerung „OH: ja SCHAde“ (Z. 1169). Dabei dient die Partikel oh dazu, die Antwort von H als erfolgreich zu markieren, also zu signalisieren, dass W nun eine noch ausstehende und relevante Information erhalten hat. Zugleich wird dadurch allerdings auch noch zusätzlich Bedauern markiert, was vor allem durch die markierte Dehnung geschieht.20 Durch die Partikel ja signalisiert W dann eine Übereinstimmung mit der in Z. 1165 von H gelieferten Bewertung, die durch das „SCHAde“ dann nochmals explizit aufgenommen wird. Ein besonderer Fall bei der Partikel oh ist die Herausbildung der Floskel oh (mein) Gott. Mit dieser Phrase kann ebenfalls eine Änderung im Informationsstand angezeigt werden. Allerdings kommt in den Daten kein einziger Fall vor, bei dem die Floskel zur Quittierung einer Information verwendet wird, die ein Sprecher oder eine Sprecherin von den Gesprächsteilnehmern erhalten hat. Entweder wird oh (mein) Gott dazu verwendet, lediglich eine Bewertung zu einem vorangegangenen Gesprächsbeitrag zu liefern (also die gleiche emphatische Einschätzung zu markieren), oder es wird zwar – wie in folgendem Beispiel aus einer Folge von Big Brother – eine neue Information angezeigt, die aber nicht von anderen Gesprächsteilnehmern geliefert wurde. Beispiel 6 Big Brother oh mein Gott 75 Sbr weil die kraft steckt in mir SELber. 76 Ver ja; (.) 77 ja KLAR. 78 Sbr so. 79 deswegen hab ich den auch <
19
20
Diese Frage kann mit Schegloff (2007: S. 37) als „pre-telling“ bzw. „pre-announcement“ bezeichnet werden: „Announcement sequences are ones which tellers launch to convey ‚news‘ on their own initiative.“ Der Erkenntnisprozessmarker oh ist in vielen Fällen nur schwer von der Bedauern ausdrückenden Interjektion oh (eine „expressive Interjektion“ nach Weinrich 2005: S. 859) zu unterscheiden. Dabei ist vor allem die prosodische Realisierung für solche Amalgamisierungen der beiden Konstruktionen Erkenntnisprozessmarker und Interjektion verantwortlich. Zur prosodischen Realisierung und der damit durchgeführten Hybridisierung von Konstruktionen besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, weswegen ich an dieser Stelle lediglich auf das Phänomen hinweisen kann.
74 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89
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Jrg Ver
?
Jrg
hähä:. ((lacht)) ich hatte zum beispiel mal ne meDAILle, ne, die hab ich ja verLOren, ne, und da dacht ich mir oh mein GOTT, jetzt hast die verLOren, ne? was für=ne meDAILle?
Sabrina, Verena und Jürgen unterhalten sich über Amulette und deren Wirkung. In Z. 82 setzt Verena mit einer eigenen Geschichte ein, die sie mit „zum beispiel“ in die Sequenz der von den anderen bereits erzählten Geschichten über Amulette einbettet. Ihre Erzählung erfolgt in drei Schritten: Zuerst setzt sie das Thema („ich hatte … ne meDAILle“; Z. 82), dann folgt das eigentlich Erzählenswerte („die hab ich ja verLOren“; Z. 84) und in Z. 86 reagiert sie mit „oh mein GOTT“ auf den damaligen Wechsel ihres Informationsstandes, den sie hier wieder inszeniert. Durch die Floskel macht sie ihren früheren Zustand präsent, das oh dient dazu, zu markieren, dass sie gerade eine neue Information erhalten hatte (allerdings eine Information, die sie nicht von einem Gesprächspartner bekommen hatte), und mit mein Gott wird diese neue Information als negativ bewertet. Die Phrase oh (mein) Gott weist also durchaus Ähnlichkeiten zu der Partikel oh auf; auch hier kann eine neue Information markiert werden,21 es fehlt allerdings in diesem Beispiel der direkte interaktionale Bezug, d. h. die Struktur A liefert eine neue Information – B quittiert die Information liegt nicht vor. Aus diesem Grund – und wegen der anderen Funktion (Markierung von Emphase) – werde ich diese Floskel nicht zur Klasse der Erkenntnisprozessmarker rechnen. Die Kernbedeutung von oh in diesen Kontexten kann damit angegeben werden, dass der Sprecher sagt: „Ich habe eine Information erhalten und diese Information war für mich neu/relevant/wichtig bzw. betrifft mich stark.“ Dabei sind Überlappungen mit der Bedauern ausdrückenden Interjektion oh eher die Regel als die Ausnahme.
21
In den meisten Fällen wird allerdings mit oh mein Gott lediglich eine Bewertung zu einer Geschichte eines Gesprächspartners oder einer Gesprächspartnerin geliefert. Die Quittierung einer neuen Information ist dabei nebensächlich oder überhaupt nicht vorhanden, was man auch daran erkennen kann, dass oft schon vor oh mein Gott andere – „echte“ – Erkenntnisprozessmarker wie oh geäußert wurden, also in der Art oh. oh mein Gott.
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2.1.4 ach Die Partikel ach wird zuweilen mit ach so zusammen analysiert (vgl. Zifonun 1997). Wie Bredel (2000) und Betz/Golato (2008) zeigen, hat ach so allerdings eine eigene Semantik, die die Partikel von ach abhebt. Folgendes Beispiel aus einer der Radio Phone-in Sendungen „Domian“ illustriert das: Beispiel 7 Domian Schlafapnoe 292 .hhhhh schlAfen KANN ich, 293 ja. 294 aber äh irgendwIE äh setzt es TROTZdem ab m zu mal AUs noch bei mir, 295 ja, 296 P irgendwie will diese funkTION hier hinten mit meiner297 ich weiß, 298 ob das vom HALS her, 299 wie das vom HALS her is; 300 dass ich da: nicht (.) nich weiter wEIter Atme. 301 und dann (.) werde ich auch mal RUCKartig wach, 302 ich merke [dann das ] gerät303 D ? [ach TROTZ-] 304 TROTZ des gerätes a [(hm)-] 305 P [TROTZ] des gerätes. 306 es baut DRUCK auf Ohne Ende, 307 D ? ACH. 308 P aber irgendwie ver=äh mm will ich net ATmen. 309 ja? 310 D mhm. 311 (1.0) 312 .hhh hat ham die Ärzte das äh im (.) im viSIER? 313 WISsen die das? 314 dieses probLEM?= 315 P ja die wissen die wissen DAS;
Der Anrufer Peter (P) erzählt von seinem Schlaf-Apnoe-Syndrom, das dazu führt, dass er manchmal im Schlaf aufhört, zu atmen. Aus diesem Grund muss er beim Schlafen eine Atemmaske tragen, die ihm die Luft in die Lungen pumpt, falls er aufhört, selbst zu atmen. Domian fragt ihn, ob ihn das Gerät nicht beim Schlafen störe, was der Anrufer verneint (Z. 292). Er fährt dann fort zu berichten, dass er trotz des Gerätes Aussetzer beim Atmen habe und versucht, den Grund für die Atemblockade zu beschreiben (Z. 296 f.). In Z. 303 unterbricht Domian mit der verwunderten Äußerung „ach TROTZ- TROTZ des gerätes a (hm)-“, auf die der Anrufer mit einer bestätigenden Wiederholung („TROTZ des gerätes.“) reagiert. In Z. 306 klärt Peter die Situation: Das Gerät arbeitet zwar weiter, „es baut DRUCK auf
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ohne Ende“, schafft es aber nicht, die Luft in die Lungen zu pumpen. Diese Erklärung wird von Domian mit „ACH.“ (Z. 307) quittiert. Die Verwendungsweisen von ach in diesem Beispiel zeigen, dass die Funktion – anders als bei ach so – nicht darin besteht, eine Äquilibrierung von Handlungslinien durchzuführen und von Divergenz auf Konvergenz umzuschalten. Domian quittiert mit beiden ach lediglich eine neue und überraschende Information, oder, um es mit Zifonun et al. (1997: S. 405) auszudrücken: „Der Hörer markiert mit einem Element der Formklasse ACH einen aktuellen Sprecherbeitrag als erstaunlich oder verwunderlich und kann so eine Erläuterung elizitieren.“ Genau diese Funktion, eine Erläuterung zu elizitieren, wird durch das erste ach auch geleistet. Domians Verwunderung, dass der Anrufer trotz des Gerätes Aussetzer beim Atmen hat, zieht die Erläuterung Peters, dass das Gerät zwar arbeite und der Druck ständig steige, die Luft aber nicht durch die Luftröhre kommen kann, nach sich. Die Grundbedeutung von ach kann also angegeben werden mit: „Ich habe eine Information erhalten und finde sie erstaunlich und verwunderlich.“ Diese Bedeutung deckt sich mit der Funktion, die Betz/Golato (2008: S. 9) für ach im Kontext von Reparaturen beschreiben konnten: „Ach, on the other hand, indicates that information has been received but not necessarily understood. […] Ach+further talk retains the existing asymmetry by treating the new knowledge in question as still provisional, and is thus expansion-relevant.“ 2.1.5 ah (ja, o. k., so) An vierter Stelle in Bezug auf die Häufigkeit steht die Partikel bzw. die Partikelgruppe ah (ja/o. k. so). Dabei steht ah allerdings fast nie allein (nur ein Fall liegt in den Daten vor), sondern wird immer in Kombination mit ja, so bzw. o. k. geäußert. Ein deutlicher Unterschied im Vergleich zu den Daten, die Heritage (1984) analysiert hat, besteht darin, dass im Deutschen durch die Kombination von ah mit ja, mit dem sonst vor allem bekanntes Wissen angezeigt wird, der Empfang einer neuen Information markiert wird. Folgendes Beispiel stammt aus einer Radio Beratungssendung des BR (Von Mensch zu Mensch). Beispiel 8 Von Mensch zu Mensch Mutter 92 B .hh (.) HAM’s den EIndruck daß die mUtter- (.) 93 .h äh ihnen GUT will? 94 oder will sie SCHLECHT. 95 äh un:: w- greift sie nach em schlechten MITtel, 96 weil sie [(nit) GUT will,] 97 A [mei MUDda]
Konstruktion oder Funktion? 98 99 100 101 102 103 104 105 106
A B A B B
?
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sie hat IMmer scho (.) schlechtwas SCHLECHtes von mir gwollt. mhm. sie hat mich DAmals oft Angezeigt, über SACHen was gar net gstImmt hat. AH ja. (1.5) waren sie schon mal bei am Eheberater; mit äh wegen der ihrer Ehesache;
Die Anruferin (A) sucht bei dem Berater (B) um Hilfe, weil sie von ihrem Mann bedroht wird und sich von niemandem unterstützt fühlt, und sie zudem das Gefühl hat, dass ihre Mutter ihr immer Steine in den Weg legt. Der Berater fragt in Z. 92 f. nach, ob die Mutter absichtlich der Anruferin schade, oder ob sie gute Absichten habe, die lediglich schlechte Folgen haben. Die Anruferin stellt zunächst (Z. 98 f.) fest, dass ihre Mutter sie nicht leiden könne (sie hat „IMmer scho (.) schlecht- was SCHLECHtes von mir gwollt“). Diese Information reicht dem Berater noch nicht aus, was durch das Rückmeldesignal „mhm.“ (Z. 100) signalisiert wird. Rückmeldesignale dieser Art dienen dazu, SprecherInnen zum Weiterreden aufzufordern. Die Anruferin führt in den Z. 101 f. dann auch einen Grund für ihre Einschätzung an, warum sie der Meinung sei, dass ihre Mutter ihr gegenüber schlechte Absichten habe: Sie hat ihre eigene Tochter bei der Polizei angezeigt (und, wie die Anruferin sagt, noch dazu mit einer Falschaussage). Erst auf diese Information hin signalisiert der Berater durch das „AH ja“ (Z. 103), dass er einen Wechsel in seinem Informationsstand erhalten hat, dass also die Antwort der Anruferin ausreichte, um seine Frage von Z. 92 f. zufriedenstellend zu beantworten. Die von Heritage (1984) beschriebene sequenzterminierende Wirkung von Erkenntnisprozessmarkern wird hier besonders deutlich. Die Anruferin spricht nach dem „AH ja“ des Beraters (anders als nach dem „mhm.“ von Z. 100) nicht weiter, sondern wartet darauf, dass der Berater nun den Turn übernimmt, was er in Z. 105 mit einer neuen Frage auch tut. Unterstützt wird die sequenzterminierende Wirkung von „AH ja“ auch durch die fallende Intonation, die Abgeschlossenheit signalisiert. Das Beispiel ist insofern typisch für alle Fälle, in denen ah als Erkenntnisprozessmarker verwendet wird, als in allen vorliegenden Belegen ah (ja/ o. k./so) mit fallender Intonation realisiert wird, die Sequenz neue Information – Quittieren der Information immer beendet wird und nie eine Bewertung, Frage o. ä. nachgeliefert wird. Die Partikel(kombination) ah (ja/ o. k./so) hat also lediglich die Funktion, eine neue Information neutral als
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ausreichend zu quittieren und die Sequenz damit zu beenden.22 Insofern unterscheidet sie sich von anderen Partikeln wie oh, denen häufig eine Bewertung oder Frage folgt, die sich auf den Informationsaustausch bezieht. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch Zifonun et al. (1997: S. 386): Mit Elementen der Formklasse AH bringt ein Sprecher den Eintritt eines mindestens im Ansatz positiv gewerteten Ereignisses zum Ausdruck. Der Sprecher markiert einen mindestens ansatzweise positiven Erwartungskontrast, der sich auf ein äußeres oder ein mentales Ereignis bezieht.
Die Komponente des „positiven Erwartungskontrastes“23 ist hier dafür verantwortlich, dass als Erkenntnisprozessmarker eingesetztes ah ohne weitere Klärung, Erläuterung oder Nachfragen eine Sequenz abschließen kann. Die Grundbedeutung von ah (ja/so/o. k.)24 kann somit mit „ich habe eine Information erhalten und habe keine weiteren Fragen dazu“ angegeben 22
Gleiches gilt im Übrigen auch dann, wenn die Formel ah so geäußert wird. Im folgenden Beispiel aus der Radio-Sendung Domian erzählt der Anrufer von seinem Hausgeist. Die Information, dass der Anrufer „gegen die WAND geschlagen“ hat (Z. 87) wird von Domian mit aha noch als überraschende Aussage gewertet (Z. 88), die Folgeäußerung „und der hat Ruhe gegeben“ (Z. 89) dagegen nur noch mit einem neutralen „ah so“ (Z. 90) quittiert, dem direkt eine neue Frage folgt, die nicht auf die Reaktion des Anrufers gegenüber des Klopfen des Hausgeistes, sondern auf die Geräusche des Geistes selbst abzielt: Domian Hausgeist 83 J 84 85
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J D J D
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irgendwann wars mir zu VIEL; aber (.) sehr viel SCHNELler als bei ihr; [also] zwölf jahre << lachend > [ hätt ich sicher NICHT] gewartet. > [mhmh] [hmh hmh] un ich hab gegen die WAND geschlagen; aha, und er hat RUhe gegeben. ah so; (.) ähm beschreib mal das geRÄUSCH was du in der wand gehört hast. [.hh, ja des war]
In Beispiel 8 besteht die positive Erwartung des Beraters darin, dass er hofft, eine einfache Beratungssituation vorzufinden. Die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zweifelsfrei gestört ist, ermöglicht dem Berater, direkt auf externe Hilfsstellen zu verweisen. Er muss sich nicht mehr mit einer langwierigen Analyse des Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter aufhalten. Die Partikeln ja und vor allem okay werden häufig dazu verwendet, eine Zustimmung mit einer Argumentation oder Handlung des Gesprächspartners zu signalisieren (zu okay siehe Fischer 2006b). Das erklärt, warum der neutrale Erkenntnisprozessmarker ah häufig mit diesen Partikeln kombiniert wird: Die Bedeutungen der kombinierten Partikeln verstärken sich gegenseitig und erleichtern die Einordnung der Handlung, die damit durchgeführt wird: „Secondly, and related to this, several linguistic resources are typically co-selected in discour-
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werden. Anders als bei oh (vgl. Abschnitt 3.) fehlt die Komponente, dass die Information als neu, wichtig oder besonders relevant markiert wird. 2.2 Adverbien/Phrasen als Erkenntnisprozessmarker Neben Partikeln wie ah, ach, ach so, oh und aha gibt es auch noch zahlreiche Adverbien oder Phrasen, die eine ähnliche Funktion haben können. Aus Platzgründen kann auf diese Formen nicht detailliert eingegangen werden. Es handelt sich unter anderem um die Formen echt, ehrlich, wirklich und verstehe. Dabei kann allerdings nur verstehe als typischer Erkenntnisprozessmarker gewertet werden, der der sequenziellen Abfolge Information – Erkenntnisprozessmarker entspricht. Allerdings kommt verstehe in den Daten nur äußerst selten vor: Der einzige Sprecher, der in den vorliegenden Daten diese Form überhaupt produziert, ist der Moderator Domian, der insgesamt vier mal verstehe als Erkenntnisprozessmarker verwendet: Beispiel 9 Domian Jungs 43 D eh alles MÄNner oder gemixt? 44 R eh MÄNner. 45 D nur MÄNner? 46 R ja. 47 D wie KOmisch dass die keine frauen da; 48 na o.K:. 49 R ah doch die haben SCHON frauen aber die sind dann separAt oder wie. 50 D ? verSTEhe. (.) 51 also fufzehn JUNGS warn da.
Der Anrufer Richard (R) berichtet von seinen Erfahrungen als Pornodarsteller. Domian fragt nach, ob beim Casting auch Frauen anwesend waren, und wundert sich (Z. 45 und 47), dass nur Männer dort warteten. In Z. 49 gibt Richard die Erklärung, dass sich die Frauen „separAT oder wie“ vorstellen mussten. Die Information wird von Domian mit „verSTEhe“ (Z. 50) quittiert. Mit dem „also“ in Z. 51 führt er den Anrufer dann von der klärenden Nebensequenz wieder auf seine Geschichte zurück.25 Verstehe wird hier neutral zur Quittierung einer neuen Information verwendet, es folgt keine weitere Problematisierung und verstehe hat somit eine ähnliche Funktion wie die Partikel ah („ich habe eine Information erhalten und habe keine weiteren Fragen dazu“). Das explizitere verstehe kommt allerdings nur in Beratungsgesprächen, nicht aber in den privaten Gesprächen vor.
25
se. Such resources will often mutually influence what aspects of their meaning potentials are reinforced in the situated utterance.“ (Linell 2005: S. 165) Eine detailliertere Analyse dieses Beispiels findet sich in Imo (2007).
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Die übrigen untersuchten Formen (echt, ehrlich und wirklich) können nicht mehr zu dem Kernbereich der Erkenntnisprozessmarker gerechnet werden. Zwar wird auch mit ihnen der Empfang einer neuen Information quittiert und zugleich Überraschung ausgedrückt, durch die Frageform entsteht aber eine andere Struktur, nämlich: 1 neue Information 2 echt/ehrlich/wirklich 3 Antwort Dadurch, dass fast immer eine Antwort auf die – meist mit steigender Intonation realisierten – Ausdrücke folgt und diese Formen nicht die sequenzterminierende Wirkung von typischen Erkenntnisprozessmarkern haben, gehören sie eher zu den reparaturinitiierenden Gesprächspartikeln. In Anlehnung an das von Antaki/Wetherell (1999) beschriebene Muster der „show concessions“ könnte man hier von „show repairs“ reden, also von Reparatursequenzen, deren Hauptaufgabe im Ausdruck des Erstaunens und des Unglaubens besteht: Beispiel 10 echt Big Brother 95 Vero was habt IHR den hier aufgebaut? 96 Vere das is unsere WOCHenaufgabe. 97 Vero ? ECHT? 98 Vere jaha ne BAHN. 99 Vero ne eisenbahnSCHIEne? 100 Vere jaHA. Beispiel 11 ehrlich Big Brother 421 Adr ich hasse unpünktlichkeit (.) OHne ende, 422 ne? 423 Sbr ? EHRlich? 424 Adr mhm. 425 und da habe ich noch zu ihm geSAGT, Beispiel 12 wirklich Big Brother 214 Vero das PIEKT so, 215 und DAnach war das weg bei mir. 216 Vere ? nee WIRKlich? 217 Vero ja. 218 Vere ah DANkeschÖn; 219 Vero na KLAR.
In allen drei Fällen wird eine Information zwar auch quittiert, im Vordergrund steht jedoch der Ausdruck des Erstaunens und die Elizitierung einer Erklärung, Antwort oder Hintergrundinformation. Ein ähnliches Phänomen beschreibt Günthner (2000: S. 250 f.) im Rahmen von Beschwerdegeschich-
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ten unter dem Stichwort der „Synchronisation von Affekten“: Im Kontext von Beschwerdeerzählungen teilen die RezipientInnen häufig durch „Entrüstungsausrufe“ und „Entrüstungsformeln“ (z. B. wirklich) den GesprächspartnerInnen mit, dass sie die Bewertung des Erzählers oder der Erzählerin teilen. Diese Entrüstungsformeln können auch zu regelrechten „Entrüstungsdialogen“ ausgebaut werden, in denen die RezipientInnen mit „Formen eines gespielten Zweifels“ eine „potentielle Unglaubwürdigkeit“ andeuten und so die „Ungeheuerlichkeit“ des Fehlverhaltens, über das berichtet wird, markieren. In den hier vorgestellten Beispielen wird ebenfalls ein gespielter Zweifel ausgedrückt und die Funktion besteht darin, die Äußerungen der Gesprächspartner als unglaublich oder verwunderlich zu kennzeichnen. Durch den sich deutlich von den übrigen Erkenntnisprozessmarkern unterscheidenden sequenziellen Ablauf und die besonderen Funktionen (eventuell auch die Korrelation mit bestimmten Gesprächsmustern oder Gattungen) muss man davon ausgehen, dass es sich bei echt, wirklich und ehrlich um eine andere Konstruktion handelt als um Erkenntnisprozessmarker.
3. Fazit Heritage (1984) suggeriert eine enge Form-Funktions-Verbindung in seiner Analyse der Partikel oh, da er ihr exklusiv die Funktion zuschreibt, eine Veränderung im Informationsstand desjenigen auszudrücken, der oh äußert: Die Partikel oh sei „unique in making a change-of-state proposal“ (Heritage 1984). In den deutschen Daten finden sich dagegen eine Reihe von unterschiedlichen Partikeln, die alle zur Signalisierung eines Wechsels des Informationsstandes verwendet werden können. Die erste Frage, die sich aus Sicht der Construction Grammar (Croft 2002, Croft/Cruse 2004; Langacker 1987, 1999) aufdrängt, ist die nach dem konstruktionalen Status der Erkenntnisprozessmarker.26 Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass „Erkenntnisprozessmarker“ lediglich eine Funktion in Gesprächen ist, die durch unterschiedliche sprachliche Mittel ausgefüllt werden kann. Eine detailliertere Analyse ergibt jedoch, dass man von einer Grundbedeutung ausgehen kann (nämlich dem Markieren einer vorangegangenen Äußerung 26
Auf die Problematik der Annahme der Construction Grammar, dass jede Konstruktion eindeutige Form-Funktions-Beziehungen haben sollte und von anderen Konstruktionen klar abgrenzbar sein sollte, wird auch in den Beiträgen von Deppermann, Günthner, Meer und Spreckels (dieser Band) eingegangen.
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als neuer Information) sowie einer sequenziellen Grundstruktur (Information – Quittieren der Information (– Bewertung der Information) – neue Sequenz), die alle hier vorgestellten Formen teilen. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, den Begriff „Erkenntnisprozessmarker“ als Kategorienbegriff parallel zu den Begriffen „Modalpartikel“, „Diskursmarker“ oder „Adverb“ zu verwenden.27 Fischer (2006a: S. 442) kommt in ihrer Untersuchung von Diskurspartikeln zu einem ähnlichen Ergebnis: Die einzelnen Funktionen in Gesprächen und Argumentationen (wie beispielsweise „repair marker“) haben ihren Niederschlag in abstrakten Konstruktionen gefunden: „The constructions are word-class specific but not lexeme specific.“ Das bedeutet, dass, wenn eine Partikel in einer bestimmten Funktion verwendet wird, sie die Grundbedeutung und Grundstruktur einer abstrakten Konstruktion wie „Reparaturmarker“, „Disfluenzmarker“ oder „Erkenntnisprozessmarker“ annimmt. Die Merkmale der schematischen Konstruktion „Erkenntnisprozessmarker“ sind folgende: Erkenntnisprozessmarker Morphologie Partikeln; feste Phrasen Bedeutung „ich habe eine Information erhalten“ Funktion Signalisieren eines „change of state of information“ Sequenzstruktur Information ? Erkenntnisprozessmarker ? (Bewertung/Kommentar) ? Ende der Informationssequenz Prosodie aktiviert zusätzliche Bedeutungsanteile Kontext aktiviert zusätzliche Bedeutungsanteile Zu der Grundbedeutung, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass eine Partikel als „Erkenntnisprozessmarker“ wahrgenommen wird, kommen nun folgende Aspekte hinzu: i. die invariante Grundbedeutung der einzelnen Partikeln; ii. der Kontext; iii. die prosodische Realisierung. Fischer (2000: S. 442) stellt im Gegensatz zu Heritage (1984) beispielsweise fest, dass im Englischen ein „change of state“ durchaus mit unterschiedli27
Die Aufnahme von „Erkenntnisprozessmarkern“ als Wortart würde somit die schrittweise Ausweitung der Restklasse der Partikeln in immer detaillierter beschrieben Partikelklassen (Antwortpartikeln, Gradpartikeln, Modalpartikeln, Negationspartikel, Fokuspartikel etc.) weiter vorantreiben. Mehr zu der Problematik auch in Fußnote 28.
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chen Partikeln realisiert werden kann, dass diese Partikeln allerdings immer jeweils eigene Bedeutungsnuancen der Grundbedeutung hinzufügen: For instance, […] the function to signal successful perception, understanding, and topic continuity, can also be fulfilled by other discourse particles, such as hmm, oh, or well. However, all four discourse particles may do so in different ways, because of their different invariant meaning aspects […].
Diese „invariant meaning aspects“ sind dafür verantwortlich, dass mit ach so zusätzlich signalisiert werden kann, dass man der Argumentation eines Gesprächspartners zustimmt, mit aha Überraschung und sogar eine weitere Problemlösungssuche markiert werden kann, mit ach eine Information als erstaunlich bzw. verwunderlich und mit oh eine Information als neu, wichtig und/oder relevant gekennzeichnet wird. Die Partikel ah stellt in diesem Spektrum den unmarkierten bzw. reduziertesten Fall zur Verfügung, durch den eine Information lediglich quittiert wird, sonst aber keine weiteren Einordnungen vorgenommen werden. Gerade im Kontext von Argumentationen liefern die unterschiedlichen Erkenntnisprozessmarker durch ihre jeweils eigene zusätzliche Semantik das Inventar, um feinste Nuancen einer Reaktion auf ein Argument zu realisieren. So reicht die Palette von einer bloßen Kenntnisnahme einer Information über die Kennzeichnung als relevant, neu, erstaunlich oder überraschend bis hin zur Signalisierung der Zustimmung zu der Argumentation des Gesprächspartners („Äquilibrierung von Handlungslinien“ (vgl. Bredel 2000)). Der Kontext und die prosodische Realisierung stellen den Bereich dar, der für die Interpretation der Erkenntnisprozessmarker jeweils lokal notwendig ist. Er beschränkt oder ermöglicht die Aktivierung der unterschiedlichen semantischen Komponenten, die von Fischer (2000) als „invariant meaning aspects“ und von Norén/Linell (2007) als „meaning potential“ bezeichnet werden: A definition of meaning potential might run as follows: The meaning potential of a lexical item or a grammatical construction is the set of properties which together with contextual factors, including features of the linguistic co-text as well as various situational conditions, make possible all usages and interpretations of the word or construction that language users find reasonably correct, or plainly reasonable in the actual situations of use.
Die schematische Konstruktion „Erkenntnisprozessmarker“ stellt also die Basisbedeutung, grundlegende Funktion und die sequenzielle Struktur zur Verfügung (nach Fischer 2000: S. 121 die „conceptual background structure“). Die Bedeutungsaspekte der einzelnen Partikeln, die als Erkenntnisprozessmarker eingesetzt werden können („the invariant contribution of the discourse particle lexeme“; Fischer 2000: S. 121), stellen die Gesamtheit
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aller möglichen Bedeutungsnuancen tatsächlich realisierter Erkenntnisprozessmarker. Die Prosodie aktiviert in manchen Fällen zusätzlich bestimmte Bedeutungen, und der Kontext („structural context“; Fischer 2000: S. 121) zieht schließlich die Grenzen für die möglichen Bedeutungsaspekte. Die Konstruktion „Erkenntnisprozessmarker“ ist somit vor allem vergleichbar mit anderen gesprächstypischen Konstruktionen wie „Modalpartikel“, „Diskursmarker“ oder „Antwortpartikel“.28 Alle diese Konstruktionen zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie ein weites Funktionen- und Bedeutungsspektrum haben und stark kontextabhängig sind. Durch die Berücksichtigung aller unterschiedlichen linguistischen Teilebenen (Sequenzstruktur, Funktion, Prosodie und Semantik) ist es jedoch möglich, auch für diese anscheinend nur schwer zu klassifizierenden Partikeln die Zuordnung zu Konstruktionen vorzunehmen. Ein Desiderat besteht meines Erachtens darin, die Klasse der Partikeln (vor allem der Gesprächspartikeln) – ausgehend von ihren Funktionen – weiter zu ordnen29 und entsprechend benachbarte Konstruktionen (wie, im Falle von oh, Bedauern ausdrückende Interjektionen)30 im Sinne der Construction Grammar (also unter Berücksichtigung aller relevanten Teilebenen wie Prosodie, Funktion, Semantik, Syntax, Kontext und Morphologie) zu beschreiben. Der Vorteil einer solcherart geordneten Beschreibung der Partikeln besteht darin, dass im Anschluss daran Hybridisierungen und Amalgamierungen von Partikeln detaillierter beschrieben und Einflüsse, die von Prosodie und Kontext ausgehen, besser erkannt werden können. Um das zu erreichen, ist es aber notwendig, die Partikeln nicht länger als „Läuse im Pelz der Sprache“ (Eisenberg 1999: S. 207) zu klassifizieren: „Wusste man früher ein Wort nicht recht einzuordnen, so erklärte man es zum Adverb. Heute sagt man meist, es sei wohl eine Partikel.“ Nur eine holistische Beschreibung, die besonderen Wert auf die Funktion, den Kontext bzw. die Sequenzialität und die Prosodie legt, ist dazu geeignet, die Einordnung auch der (morpho)syntaktisch notorisch schwierig zu beschreibenden Partikeln vorzunehmen. Dabei kann man nicht umhin, den funktionalen Verwendungskontext als zentralen Beschreibungsaspekt zu berücksichtigen. Erkenntnisprozessmarker bilden eine Kategorie der gesprochenen Sprache bzw., um genau zu sein, der 28
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Es mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, „Erkenntnisprozessmarker“ gleichwertig neben „Modalpartikel“ zu stellen. Beide sind aber unter die Oberklasse der Gesprächspartikeln zu fassen und haben bestimmte interaktionale bzw. textuelle Funktionen. Untersuchungen zu Modalpartikeln ergeben zudem, dass diese Wortart – genau wie Erkenntnisprozessmarker – ebenfalls unscharfe Ränder hat (vgl. Ickler 1994; Imo 2008). Diesen Wunsch äußern auch Betz/Golato (2008). Einen Überblick über Interjektionstypen liefert Nübling (2004).
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Sprache-in-Interaktion. Sie sind daher maßgeblich daran beteiligt, „joint projects“ (Clark 1996 und Deppermann in diesem Band) zu erzeugen: „Die standpunktgebundene Dokumentation von Verstehen […] ist selbst für das Phänomen der Entstehung von Intersubjektivität in seiner prozessualen Seinsweise […] konstitutiv.“ (Deppermann, in diesem Band). Um auf der Basis unterschiedlicher Positionen zu einer Übereinstimmung, zu einem common ground zu kommen, muss das Verstehen (sowie die Akzeptanz) von Argumentationsschritten sowie von Positionierungsschritten signalisiert werden. Für genau solche Aufgaben haben sich die Partikeln herausgebildet (vgl. auch die Analyse der Modalpartikel denn von Deppermann in diesem Band), die von der monologisch orientierten Linguistik auf Grund ihrer Blindheit gegenüber der Dialogizität von Sprache auch für lange Zeit unverständlich blieben. Neuere Untersuchungen zeigen dagegen den hohen Stellenwert dieser „Läuse“, der sich daher auch in einer angepassten Wortartenbeschreibung zeigen sollte. Literatur Antaki, Charles/Wetherell, Margaret, „Show Concessions“, in: Discourse Studies 1/1999, S. 2–27. Auer, Peter/Uhmann Susanne, „Aspekte der konversationellen Bewertungen“, in: Deutsche Sprache 10/1982, S. 1–32. Betz, Emma/Golato, Andrea, „German ach und achso in repair uptake: Resources to sustain or remove epistemic asymmetry“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27/2008, S. 7–37. Boden, Deidre, The business of talk: Organization in action, Cambridge 1994. Bredel, Ursula, „Ach so – Eine Rekonstruktion aus funktional-pragmatischer Perspektive“, in: Linguistische Berichte 184/2000, S. 401–421. Clark, Herbert H., Using Language, Cambridge 1996. Croft, William, Radical Construction Grammar, Oxford 2002. Croft, William/Cruse, Alan D., Cognitive Linguistics, Cambridge 2004. DeLancey, Scott, „Mirativity: The grammatical marking of unexpected information“, in: Linguistic Typology 1/1997, S. 33–52. Deppermann, Arnulf, „Desiderata einer gesprächanalytischen Argumentationsforschung“ in: Arnulf Deppermann/Martin Hartung (Hrsg.), Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien, Tübingen 2003, S. 10–26. Egbert, Maria, „Other-initiated repair and membership categorization – some conversational events that trigger linguistic and regional membership categorization“, in: Journal of Pragmatics 36/2004, S. 1467–1498. Eisenberg, Peter, Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart 1999. Fischer, Rotraut, „Disfluenz als Kontextualisierungshinweis in telefonischen Beratungsgesprächen im Rundfunk“, in: KontRi 23/1992, S. 1–41. Fischer, Kerstin, „Discourse particles, turn-taking, and the semantics-pragmatics interface“, in: Revue de Sémantique et Pragmatique 8/2000, S. 111–132.
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„Unscharfe Ränder“ – Einige kategoriale Überlegungen zu Konstruktionen mit dem Diskursmarker „ja“ in konfrontativen Talkshowpassagen Dorothee Meer 1. Einleitung Schaut man sich die Klassifikation der Wortarten im Deutschen entsprechend der Fünf-Wortarten-Lehre bei Hans Glinz an (1970; 1971), so wird aus der Perspektive einer Grammatik der gesprochenen Sprache relativ schnell deutlich, dass die Einheitlichkeit und Systematik der morphologischen Bestimmung anhand des Kriteriums der „Flektierbarkeit“ durch die Zusammenfassung aller nicht-flektierbaren Wortarten unter die Kategorie „Partikel“ erreicht wird. Glinz selber beschreibt diese Sammelklasse aufgrund ihrer fehlenden „Formveränderung“ als „eine Art ‚Restkategorie‘“ für all die Wörter, die „formal am wenigsten herausgearbeitet und inhaltlich am freiesten ausgefüllt“ sind (Glinz 1970: S. 34). Für den vorliegenden Zusammenhang ist hierbei von Bedeutung, dass Glinz neben den Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen als vierte Untergruppe die Interjektionen zu den Partikeln zählt. Konkret heißt es hierzu: Im Gespräch, für Begrüßung, Abschied, Gefühlsausdruck usw. können die Interjektionen sehr wichtig sein – aber im Rahmen der Grammatik braucht man sich nur am Rande mit ihnen zu befassen. (Glinz 1994: S. 29)
Nun kann diese Einschätzung natürlich nicht losgelöst von der Tatsache betrachtet werden, dass der Gegenstand der Glinzschen Überlegungen die Arbeit an einer standard- und d. h. schriftsprachlichen Grammatik darstellt. Dennoch werden die Folgen einer solchen Orientierung für den Bereich der Wortarten deutlich, wenn man berücksichtigt, dass sich die Mehrzahl der Arbeiten im Zusammenhang mit der Bestimmung von Wortarten in der gesprochenen Sprache seit den 70er Jahren mit eben dieser grammatikalisch marginalen fünften Wortartklasse befasst hat. Explizit zu nennen sind hier über die erwähnten Interjektionen hinaus die Modal- und Abtönungspartikeln, Hörerrückmeldungen, Gliederungssignale und die Vergewisserungs-
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partikeln.1 Ohne an dieser Stelle auf die Abgrenzungs- und Systematisierungsprobleme zwischen den angesprochenen Wortarten insgesamt eingehen zu wollen, wird allein anhand der Aufzählung unterschiedlicher Typen von Gesprächspartikeln deutlich, dass aus der Perspektive der Analyse der gesprochenen Sprache eine Beschäftigung mit der Dominanz einer vorrangig morphologischen Kategorisierung der Wortarten sinnvoll ist. Ausgehend von diesen Überlegungen wird es im Weiteren darum gehen, die Frage einer kategorialen Systematisierung von Partikeln im Hinblick auf ihren Gebrauch in der gesprochenen Sprache zu untersuchen. Dies soll exemplarisch geschehen am Beispiel der Nutzung der Partikel „ja“ im Vor-Vorfeld syntaktischer Einheiten in Täglichen Talkshows. Schaut man sich hierzu vorliegende Untersuchungen an, so wird das oben angesprochene Problem einer zu groben Systematik auch bezogen auf die Partikel „ja“ deutlich: Über ihre primäre Funktion als Antwort- und Bestätigungspartikel hinaus wird sie als Modal- und Abtönungspartikel, als Gliederungssignal, Sprechersignal, Hörersignal, als Augment und als Tag bzw. Questiontag untersucht. Noch vielfältiger wird die terminologische und begriffliche Bandbreite, wenn man sich auf die Bestimmung der Partikel im Vor-Vorfeld syntaktischer Einheiten beschränkt. Hier wird „ja“ von Schwitalla (1976) als „Eröffnungs- und Konsenssignal“ gefasst, von Burkhardt (1982) als „Gesprächswort“, Gülich (1970), Koerfer (1979), und Willkop (1988) sprechen von „Gliederungssignal“, Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997) von „Responsiv“, und Weinrich (2005) behandelt „ja“ in dieser Position als „Diskurspartikel“. Problematisch ist diese Benennungsvielfalt vor allem deshalb, weil sich hinter den genannten Termini jeweils unterschiedliche Begrifflichkeiten verbergen: Während sich Weinrich mit seinen Hinweisen auf die Dialogpartikel „ja“ auf deren Betrachtung als Eröffnungselement beschränkt, untersuchen Willkop und Zifonun et al. „ja“ unter den Benennungen „Gliederungssignal“ bzw. „Responsiv“ in seiner Funktion als Antwortpartikel, als Hörerrückmeldung, als Element des Vor-Vorfelds, als Augment und als Interjektion. Trotz dieser ähnlich weiten begrifflichen Extension werden Responsive von Zifonun et al. (1997: S. 367) dann aber als eigene Wortartklasse begriffen, wohingegen Willkop (1988: S. 44) davon ausgeht, dass „ja“ als Gliederungssignal unterschiedlichen Wortarten zuzurechnen sei. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es speziell aus der Perspektive der Analyse gesprochener Sprache sinnvoll ist, an theoretischen Zugän1
Siehe dazu auch Deppermann, Spreckels und Stoltenburg in diesem Band.
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gen zur Beschreibung von Partikeln in der gesprochenen Sprache im Allgemeinen und der Partikel „ja“ im Besonderen zu arbeiten. Ziel ist es hierbei, einen Zugang zu wählen, der nicht primär morphologisch orientiert ist, sondern es ermöglicht, alle kommunikativ relevanten Funktionen kategorial angemessen zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive sollen im Folgenden einige Überlegungen aus dem Bereich der Construction Grammar vorgestellt werden, die es erlauben, den empirischen Ansatz der Analyse gesprochener Sprache mit grundsätzlichen Annahmen eines Grammatikkonzepts zu verknüpfen (Abschnitt 2). Über diese Darstellung einiger konzeptioneller Überlegungen hinaus, wird es daran anschließend darum gehen, die Konstruktion „Diskursmarker“ als ein Vorkommen der Partikel „ja“ auszugliedern und sowohl terminologisch als auch begrifflich zu bestimmen. Diese Annahmen sollen anhand einer kontrastiven Analyse von „ja“ als Antwortund Bestätigungspartikel und als Diskursmarker exemplarisch verdeutlicht werden (Abschnitt 3 und 4). Die empirische Grundlage dieser Überlegungen bildet ein Korpus von 13 Täglichen Talkshows („Daily Talk“), die zwischen 1998 und 2007 aufgezeichnet und transkribiert wurden.2 Die Untersuchung von „ja“ in diesem konkreten medialen Zusammenhang ist im Hinblick auf eine genauere Beschreibung der Funktionen des Diskursmarkers „ja“ (in Abgrenzung zur Antwort- und Bestätigungspartikel) deshalb relevant, weil „ja“ gerade in konfrontativen Talkshowpassagen, anders als in seiner Funktion als Antwort- und Bestätigungspartikel, häufig dazu genutzt wird, Vorwürfe oder Widerspruch einzuleiten. Insoweit wird anhand dieses Materials zu zeigen sein, dass „ja“ als Element des Vor-Vorfelds keineswegs nur positiv bestätigende Funktionen erfüllt, sondern dass das Potenzial der Partikel gerade in ihrer Ambiguität und Polyfunktionalität zu suchen ist. Diese Annahme sollen über die vorhergehenden exemplarischen Analysen hinaus anschließend aus medientheoretischer und analytischer Perspektive (Abschnitt 5) verdeutlicht werden, indem aufgezeigt wird, wie die Gesprächsbeteiligten das diskursive Potenzial des Diskursmarkers „ja“ gleichermaßen dazu nutzen (können), Konsens und Dissens zu markieren. Insoweit wird hier zu zeigen sein, dass „ja“ auch als interaktives Mittel der 2
Zehn dieser transkribierten Talkshows stammen aus meinem eigenen Korpus, drei weitere Aufnahmen stammen von Studierenden und wurden mir über das Forschungslabor „Gesprochene Sprache“ von Susanne Günthner zur Verfügung gestellt. Hierfür möchte ich ihr ebenso danken wie ihr und allen weiteren Teilnehmer/inne/n der Arbeitssitzungen im Rahmen des DFG-Projekts „Grammatik in der Interaktion“. Ohne die kontinuierliche und unterstützende Auseinandersetzung in diesem Rahmen würde es diesen Artikel nicht geben.
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Selbst- und Fremdpositionierung ambige Potenziale enthält.3 Diese Beobachtungen werden in einem letzten Schritt im Hinblick auf die kategorial ausgerichtete Ausgangsfrage zusammengefasst (Abschnitt 6).
2. Construction Grammar – Ansätze zu einer Grammatik der Gesprochenen Sprache 2.1 Theoretische Grundannahmen Ausgehend von der oben geschilderten Schwierigkeit, kommunikativ hoch polyfunktionale Partikeln aus grammatisch-kategorialer Perspektive terminologisch und begrifflich einheitlich zu fassen, wird es in diesem Abschnitt darum gehen, einige Überlegungen aus dem Bereich der Construction Grammar vorzustellen, die es erlauben, empirische Beobachtungen aus dem Bereich der Analyse gesprochener Sprache mit grundsätzlichen Annahmen eines Grammatikkonzepts zu verknüpfen.4 Eine solche Kombination aus einem qualitativ-empirischen und einem grammatik-theoretischen Ansatz ist schon deshalb notwendig, weil in vorliegenden Arbeiten zur Analyse gesprochener Sprache immer wieder unterstrichen worden ist, dass es nur ausgehend von einer Kombination korpusbasierter und kategorialer Überlegungen möglich ist, dem Ziel einer „Grammatik der gesprochenen Sprache“ näher zu kommen. Konkret die Nutzung des Konzepts der Construction Grammar bietet sich hierbei deshalb an, weil die Vertreter/innen der Construction Grammar (in unterschiedlicher Radikalität) mit dem Anspruch auftreten, ein gebrauchsorientiertes Modell („usage-based model“) der Beschreibung grammatikalischer Prozesse zu entwickeln (Langacker 1999; 2000).5 So heißt es bei Ronald W. Langacker: „In a usage-based model substantial importance is
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Der Begriff der Positionierung wird hier im Sinne Deppermanns und Lucius-Hoenes genutzt: Es sollen darunter direkte und indirekte Formen der interaktiven und diskursiven Zuschreibung eigener und fremder Positionen verstanden werden (Deppermann/LuciusHoene 2002: S. 196). Siehe dazu auch die im deutschsprachigen Bereich erschienen Sammelbände/Monographien: Birkner (2008); Deppermann (2007); Deppermann/Fiehler/Spranz-Fogasy (2006); Günthner/Imo (2006); Imo (2007); Fischer/Stefanowitsch (2006). Auch wenn dieser Anspruch von den (vorrangig amerikanischen) Vertreter/inne/n der Construction Grammar in unterschiedlichem Umfang eingelöst wird, so deutet ausgehend von den bisher vorliegenden Arbeiten im deutschsprachigen Raum jedoch alles darauf hin, dass hier gerade die Kombination aus Korpusorientierung und Grammatiktheorie als der entscheidenden Mehrwert des Ansatzes wahrgenommen und genutzt wird.
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given to the actual use of the linguistic system and a speakers knowledge of this use“ (Langacker 1999: S. 91).6 Ausgehend von dieser Annahme stellt Imo (2007: S. 36) heraus, dass im Rahmen der Construction Grammar konkrete „‚Äußerungstypen‘ im Sinne der Performanz und nicht etwa ausgedachte, an einer idealisierten Standardsprache orientierte Sätze im Sinne der Kompetenz“ die Grundlage einer weiteren Begriffsbildung darstellen. Im Anschluss an Croft definiert er in der Folge den Begriff der Konstruktion als „utterance type“ (Croft 2002: S. 11). Entscheidend ist hierbei die Annahme, dass grammatikalische Strukturen dem realen Sprechen nicht vorgelagert sind, sondern – wie Haspelmath annimmt – erst als „Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ entstehen (Haspelmath 2002: S. 263). Damit geht es aus methodischer Perspektive darum, ausgehend von konkreten Gesprächsdaten grammatische Strukturen in ihrem konkreten kommunikativen Vollzug zu bestimmen. Diesem Anspruch wird die Construction Grammatik immer dort gerecht, wo ausgehend von konkreten Sprachdaten rekurrente Äußerungstypen als „Konstruktionen im Vollzug“ analysiert werden und es so gelingt, aufzuzeigen, dass es sich hierbei um Form-Bedeutungs-Einheiten handelt, die von Sprecher/inne/n systematisch und kontextsensitiv zur Realisierung ihrer konkreten kommunikativen Ziele eingesetzt werden. In Abgrenzung zu herkömmlichen Grammatikkonzeptionen ist es hierbei entscheidend, dass die Beschreibung konkreter Konstruktionen nicht auf die sprachlichen Teilebenen der Morphologie oder Syntax beschränkt wird. Stattdessen wird jede Konstruktion als komplexe Ganzheit grammatischer und interaktionaler Merkmale begriffen und kategorial sowohl anhand ihrer morphologischen und syntaktischen Eigenschaften als auch im Hinblick auf ihre Semantik, Pragmatik, Funktion, Sequenzialität und Prosodie erfasst.7 Konstruktion sind somit rekurrente sprachliche Muster, die sich im Hinblick auf die Gesamtheit der genannten sprachlichen Ebenen als Einheit („Gestalt“) erweisen und als solche von Sprecher/inne/n gelernt, eingesetzt und verstanden werden. Ein großer Vorteil dieses Ansatzes besteht also darin, dass es ausgehend von der Konzeption der „Gebrauchsorientierung“ („usage-based model“) möglich wird, grammatische Konstruktionen im Vollzug anhand empirischer Daten zu ermitteln. Damit deutet sich eine theoretische Lösungsperspektive für ein Problem an, das die Grammatikschreibung der gesproche6 7
Siehe dazu auch Croft/Cruse (2004: S. 28). Siehe dazu Deppermann (2006: S. 48–56); Imo (2007: S. 26–41).
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nen Sprache ansonsten kontinuierlich begleitete: So kollidierten beim Versuch der Entwicklung einer „Grammatik der gesprochenen Sprache“ immer wieder die an der Standardsprache orientierten schriftsprachlichen Normen mit der funktionalen Vielfalt beobachtbarer sprachlicher Verhaltensweisen realer Sprecher- und Hörer/innen. An dieser Stelle eröffnet die Construction Grammar eine Perspektive, die im Anschluss an Barth-Weingarten in Abgrenzung zu traditionellen Verfahren darauf hinausläuft, dass ähnliche grammatische Phänomene (Konstruktionen) ausgehend von gesprochenen Daten zunächst einmal gesammelt und in einem zweiten Schritt als skalierte Phänomene mit Übergängen zu anderen Konstruktionstypen bestimmt werden (Barth-Weingarten 2006). Dieses Vorgehen erlaubt es nicht nur, die langsame Herausbildung neuer Konstruktionen im Rahmen von Sprachwandelphänomenen zu beschreiben, sondern ermöglicht es darüber hinaus, Konstruktionen als kontextuell bedingte, gradierte Kategorien zu fassen. Ein solcher Ansatz reagiert auf die Beobachtung, dass bei der Anwendung traditioneller Kategorien (nicht nur auf Daten der gesprochenen Sprache) sich vermeintlich feststehende Normen immer wieder als „brüchig“ bzw. „fuzzy around the edges“ (Langacker 1987: S. 14) erweisen. Diesem Phänomen der „fuzzy boundaries“ (Barth-Weingarten 2006) tritt die Construction Grammar mit einem Konzept entgegen, das der Vorstellung „grammatischer Regelhaftigkeit“ die Idee „gradierter Kategorien im Sinne eines Prototypenansatzes“ (Barth-Weingarten 2006: S. 84) mit „fließenden Übergängen zu anderen Konstruktionstypen“ gegenüberstellt (Barth-Weingarten 2006: S. 88).8 Diese Annahmen sollen nun im Folgenden im Hinblick auf die Beschreibung der Partikel „ja“ genutzt werden, indem es anhand der Untersuchung meines Korpus darum gehen wird, aus der Vielzahl möglicher Vorkommensweisen der Partikel in einem ersten Schritt zwei Realisierungsweisen begrifflich und terminologisch als selbständige Konstruktionen auszugliedern.9 Konkret handelt es sich hierbei zum einen um „ja“ als „Antwort- und Bestätigungspartikel“, zum anderen um „ja“ als Element des VorVorfelds syntaktischer Einheiten. Solche Vor-Vorfeldelemente möchte ich im Anschluss an Auer und Günthner als die Konstruktion „Diskursmarker“ begreifen und unter Bezug auf die dargestellten Überlegungen der Construction Grammar kurz skizzieren.10 8 9
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Siehe dazu auch Günthner in diesem Band. Bezüge und Abgrenzungshinweise zu anderen Konstruktionen der gleichen Partikel werden im Rahmen der konkreten Analysen zwar vereinzelt berührt, im vorliegenden Beitrag jedoch nicht weiter untersucht. Siehe dazu über Auer/Günthner (2005) hinaus: Günthner/Imo (2003).
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2.2 Zur Konstruktion „Diskursmarker“ „Diskursmarker“ werden von Auer und Günthner als kurze lexikalische Einheiten im Vor-Vorfeld gesprochen-sprachlicher Einheiten bestimmt, die vorrangig über ihre Funktion für die Gesprächsorganisation definiert sind. In diesem Sinne rahmen diese Konstruktionen die ihnen folgenden Äußerungen, indem sie anzeigen, in welchem Verhältnis die Folgeäußerungen zu ihrem unmittelbaren Kontext stehen (Auer/Günthner 2005: S. 335). Aus wortartentheoretischer Perspektive ist hierbei entscheidend, dass eine Vielzahl von Diskursmarkern homonym mit anderen Wortarten und aus diachroner Perspektive aus diesen entstanden sind (Auer/Günthner 2005: S. 336; S. 348 f.). Diese Entwicklung fassen die Autor/inn/en im Anschluss an Hopper als Form der Dekategorisierung (Hopper 1991), indem sie herausstellen, dass es sich bei Diskursmarkern um sprachliche Zeichen handelt, die sich „aus zentraleren grammatischen Kategorien (…) in Richtung auf eine weniger zentrale grammatische Kategorie (nämlich die Randkategorie Diskursmarker)“ entwickeln (Auer/Günthner 2005: S. 348). Die Annahme einer durch Formen der Dekategorisierung entstandenen neuen Wortartklasse „Diskursmarker“ gewinnt über den sprachhistorischen Zusammenhang hinaus unter Bezug auf synchrone Analysen dadurch an Überzeugungskraft, dass neben den von Auer/Günthner völlig zu Recht betonten Unterschieden zwischen der Ursprungskonstruktion und der neuen Konstruktion dennoch Reste der ursprünglichen Wortartklasse zu beobachten sind. Diese werden aus empirischer Perspektive immer dort besonders deutlich, wo konkrete Realisierungen einer Konstruktion nicht eindeutig der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet werden können, sondern Merkmale beider Konstruktionen nachweisbar sind. Günthner und Imo bezeichnen solche Vorkommen als „Zwischenstufen“ (Günthner/ Imo 2003: S. 14) und meinen damit diskursive Phänomene im Übergang zwischen zwei Wortartklassen. Die Diagnose solcher Zwischenstufen oder Übergangsphänomene schließt unmittelbar an die weiter oben angesprochene Feststellung fließender Übergänge bzw. kategorial „unscharfer Ränder“ zwischen unterschiedlichen Konstruktionen an. Die Beobachtung von Zwischenstufen stützt in diesem Zusammenhang nicht nur die These der „Dekategorisierung“, indem sie die verbleibenden Gemeinsamkeiten zwischen der Ursprungskonstruktion und der neu entstandenen Konstruktion hervorhebt, sondern es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass diese beobachtbaren Übergangsphänomene ihre Ursache in der kommunikativen Komplexität konkreter Gesprächssituationen haben.
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Bevor im Folgenden jedoch das Phänomen der Zwischenstufe im Hinblick auf den Diskursmarker „ja“ genauer betrachtet werden soll (Abschnitt 4), wird es im nächsten Kapitel zunächst darum gehen, die behaupteten Prozesse der Dekategorisierung unter Bezug auf das vorliegende Korpus zu verdeutlichen. Hierzu soll die Partikel „ja“ in der Funktion eines Diskursmarkers mit der aus diachroner Perspektive ursprünglicheren Konstruktion „Antwort- und Bestätigungspartikel“ konfrontiert werden.
3. Konstruktionen mit „ja“: Eine erste kategoriale Abgrenzung Ausgangspunkt der folgenden kategorialen Überlegungen bildet die angesprochene Annahme von Auer und Günthner (2005: S. 349), dass der Prozess der Dekategorisierung mit einem Ausbleichen der ursprünglichen Semantik und einer Zunahme diskursfunktionaler Aufgaben verknüpft sei. Damit soll es im nächsten Schritt darum gehen, diese Annahmen anhand des empirischen Material des zugrunde liegenden Korpus bezogen auf Konstruktionen mit „ja“ als „Antwort- und Bestätigungspartikel“ und als „Diskursmarker“ zu überprüfen. Beim folgenden ersten Transkriptauszug aus der Talkshow „Oliver Geißen“ handelt es sich um eine Sendung, bei der es um die Klärung der Vaterschaft der eingeladenen Gäste geht. Vor Beginn des folgenden Transkriptauszugs hat der Talkgast Stefanie (S) berichtet, dass sie bei einem ihrer beiden Kinder nicht sicher ist, ob ihr Freund Stefan tatsächlich der Vater ist, da sie zum Zeitpunkt der Zeugung eine Affäre gehabt habe (sie sei „zweigleisig gefahren“). Auf diese Feststellung bezieht sich die folgende Frage des Moderators Oliver Geißen (O): (Bsp. 1) 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77
O
S
O O
was WAR denn dieses das zweigleisig fahrn. was ist denn da genau pasSIERT, is es EINmal passiert; is es HÄUfiger passiert, is HÄUfiger passiert. ich war mit dem zuSAMmen jetz knapp=n jahr, (1.5) hab den stefan au in einigen dingen ANgelogen; meinen JETzigen freund. [u:nd weil ] [das lief paralLEL,] du warst ein jahr lang mit dem andern zuSAMmen,
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S O
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UND auch mit stefan. JA. (2.0) und wieso hat stefan das nich MITgekriegt;
Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist die Reaktion von Stefanie (S) in Zeile 79. Stefanie reagiert hier positiv bestätigend mit einem prosodisch abgeschlossenen „JA.“11 auf die Nachfrage des Moderators in Zeile 76 ff., ob er sie richtig verstanden habe, dass sie parallel zu ihrem Freund noch eine weitere Beziehung gehabt habe. Damit handelt es sich bei der Reaktion von S auf pragmatischer Ebene um den zweiten Teil eines Frage-Antwort-Formats, mit dem die Angesprochene den vermuteten propositionalen Gehalt der redeauffordernden Frage des Moderators (O) bestätigt (semantischer Ebene). Syntaktisch betrachtet bildet das „JA.“ somit (wenn auch in elliptischer Form) eine syntaktische Einheit, mit der auf sequenzieller Ebene das durch die Frage initiierte Muster abgeschlossen wird. Diese Beobachtungen werden auf prosodischer Ebene dadurch unterstrichen, dass das „JA.“ als eigenständige Intonationskontur realisiert wird, der eine 2-sekündige Pause folgt, bevor der Moderator ausgehend von dieser bestätigten Annahme im nächsten Schritt seine Rekonstruktion der Problemsituation fragend weiterführt. Insgesamt kann die Partikel „JA“ damit unter Bezug auf alle relevanten sprachlichen und kommunikativen Ebenen als Antwort- und Bestätigungspartikel bestimmt werden. Zusätzlich ist festzuhalten, dass die Bestätigungspartikel aus sequenzieller Perspektive primär rückbezügliche (retraktive)12 Funktionen erfüllt, indem sie eine vorher eröffnete konditionelle Relevanz einlöst. Damit wird zwar die Grundlage für eine weitere Prozessierung des Gesprächs gelegt, die unmittelbare Funktion der Bestätigungspartikel besteht jedoch darin, retraktiv eine eröffnete Leerstelle zu füllen. Diese exemplarische Charakteristik eines ersten Transkriptauszugs soll nun in einem nächsten Schritt mit einem zweiten Gesprächsbeispiel konfrontiert werden, in dem sich neben einem Vorkommen der Partikel „ja“, das ebenfalls bestätigende Funktionen erfüllt, ein weiteres „ja“ findet, dessen Funktionen sich deutlich vom vorherigen unterscheiden. Der folgende
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Immer dann, wenn ein konkretes „ja“ zitiert wird, wird es im Weiteren mit doppelten Anführungsstrichen gekennzeichnet. Soll die Partikel „ja“ allgemein als Element einer Wortartklasse betrachtet werden, so wird es wie bisher auch mit einfachen Anführungsstrichen gekennzeichnet. Ich übernehme diese Begrifflichkeit von Auer (2000, 2005), ohne dessen im engen Sinne syntaktischen Anschlussüberlegungen in diesem Artikel gleichermaßen zu nutzen.
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Transkriptauszug ist der Talkshow „Britt“ entnommen. Auch in dieser Sendung wird das Thema „Wer ist der Vater meines Kindes“ behandelt. Konkret geht es der Moderatorin Britt (Br) darum, die Beziehung ihres Gastes Indra (In) zu ihrem Exfreund Michael (Mi) zu klären. Indra hat Michael vorgeworfen, sie geschlagen zu haben. Dies gibt Michael im ersten Turn des folgenden Transkriptauszugs (in Zeile 202 f.) zwar zu, formuliert in Zeile 204 ff. jedoch gleichzeitig einen Gegenvorwurf gegen Indra (In): (Bsp. 2) 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222
mi
br mi br
mi
in br
es STIMMT, JA? aber sie muss auch daZU sage, dass sie manchma so weit gegange IS, dass sie au auf MICH eingedrosche hat. sie hat mich geNAUso geschlage; ich WEISS dass ich n fehler war gemacht habdass ich sie geSCHLAgen hab; dazu STEH ich. eHE aber das heißt ECHT, =das tut mir auch LEID, =ihr habt euch beide an einen punkt jeweils geBRACHT dass dem andern SO die worte fehlten, dass man NICH anders konnte. JA. (.) geNAU, also norMALERweise bin ich kein mensch der draufschlägt. ÜBERhaupt net; ja SCHEINbar ja SCHON,
Für den vorliegenden Zusammenhang interessieren die beide Vorkommen von „ja“ zum einen in Zeile 217, zum anderen in Zeile 222. Die Partikel „JA.“ in Zeile 217 erfüllt die gleichen Antwort- und Bestätigungsfunktionen wie das in Beispiel 1 analysierte „JA“. Michael (Mi) bestätigt mit seinem prosodisch erneut abgeschlossenen Gebrauch der Partikel die vorhergehende Hypothese der Moderatorin (Br) und kommt damit ihrer indirekten Aufforderung zur Stellungnahme positiv bestätigend nach. Das „JA“ füllt damit eine durch die Moderatorin eröffnete Leerstelle und stellt eine vollständige und in sich abgeschlossene Turnkonstruktionseinheit dar. Daran ändert auch das anschließende, die Bestätigung verstärkende „genau“ von Michael in Zeile 219 nichts, das dem vorhergehenden „JA“ lediglich Nachdruck verleiht, ohne damit jedoch die Vollständigkeit der vorher bestätigten Proposi-
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tion zu relativieren oder in ihrem semantischen Gehalt zu verändern. Wie im ersten Beispiel besteht auch hier die Funktion der Partikel primär darin, die Verpflichtungen einer bestehenden konditionellen Relevanz einzulösen. Die Ausrichtung der Bestätigungspartikel kann damit erneut als retraktiv beschrieben werden. Ausgehend von diesen Befunden stellt sich die Beschreibung des Auftretens des zweiten turneinleitenden „ja“ in Zeile 222 des vorliegenden Transkriptauszugs grundsätzlich anders dar. Im Gegensatz zu den beiden vorher analysierten Vorkommen von Antwort- und Bestätigungspartikeln fällt an diesem turneinleitenden Auftreten von „ja“ im Vor-Vorfeld der anschließenden syntaktischen Einheit auf, dass es weder auf eine vorher eröffnete Leerstelle reagiert noch auf der Ebene des propositionalen Gehalts etwas positiv bestätigt. Im Gegenteil: Das einleitende „ja“ in Zeile 222 wird von der Moderatorin Britt (Br) dazu genutzt, die vorhergehende Selbstpositionierung ihres Gasts Indra (In), sie sei „kein mensch der draufschlägt“, zurückzuweisen. Damit stellt das einleitende „ja“ also keine rückbezügliche Bestätigung der vorher geäußerten Proposition dar, sondern es leitet genau entgegengesetzt projektiv einen anschließenden, wenn auch abgeschwächten Widerspruch in Form einer Fremdpositionierung („SCHEINbar ja schon,“) ein.13 Diese Beschreibung des „ja“ als projektives Element des Vor-Vorfelds einer syntaktischen Einheit wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass das „ja“ prosodisch und syntaktisch in das folgende Syntagma integriert ist. Die vorhergehende Charakteristik macht deutlich, dass die Partikel „ja“ alle weiter oben genannten Merkmale der Konstruktion „Diskursmarker“ enthält: Es handelt sich um eine kurze lexikalische Einheit im Vor-Vorfeld einer syntaktischen Einheit. Die Funktion des „ja“ kann an dieser Stelle als dominant metapragmatisch beschrieben werden, da das „ja“ dazu genutzt wird, die folgende syntaktische Einheit einzuleiten und zu projizieren. Damit rahmt die Partikel die Folgeäußerung, indem sie ankündigt, dass noch etwas kommt, wodurch das projizierte Folgesyntagma selber hervorgehoben und verstärkt wird. Auf eben diese Art der kommunikativen Wirkung auf einer primär metapragmatischen Ebene heben Auer und Günthner ab, wenn sie von einer Zunahme diskursfunktionaler Aspekte bei gleichzeitigem Ausbleichen der Ursprungssemantik beim Übergang von der Ursprungskonstruktion (hier: Antwort- und Bestätigungspartikel) zu Diskursmarkern sprechen
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Auf die Spezifik der anschließenden Modal- bzw. Abtönungspartikel „ja“ möchte ich an dieser Stelle nicht speziell eingehen.
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(Auer/Günthner 2005: S. 348 f.). Diese Annahme ist im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Transkriptauszug auch insoweit relevant, als dem einleitenden „ja“ auf semantischer Ebene keine bejahende Bedeutung im Sinne eines propositionalen Gehalts zugesprochen werden kann. Die Wirkung des einleitenden „ja“ besteht vielmehr in der Verstärkung des propositionalen Gehalts des anschließenden Widerspruchs, eine Wirkung, die durch das Auftreten der Abtönungspartikel „ja“ in Zeile 217 zusätzlich unterstrichen wird. Trotz dieser für mein Korpus typischen Formen des Einsatzes des Diskursmarkers „ja“ zur Projektion und Verstärkung eines anschließenden Widerspruchs unterstreichen vorliegende Untersuchungen zum Gebrauch der Partikel „ja“ als Element der Gesprächsorganisation nahezu durchgängig die insgesamt positiv bestätigenden Aspekte der Partikel „ja“ und argumentieren hierbei vor allem mit den positiven atmosphärischen Wirkungen auf der Ebene der Gesprächsorganisation. So heißt es beispielsweise bei Willkop: „Fast alle Vorkommen der Partikel lassen sich eindeutig mit dem Begriff der ‚Bestätigung‘ beschreiben“ (Willkop 1988: S. 106). In die gleiche Richtung argumentiert Weinrich, wenn er feststellt, dass die Partikel „ja“ in turneinleitender Position dazu geeignet sei, „den bestehenden Gesprächskontakt sowie das Einverständnis mit der Rollenverteilung und dem Rollenwechsel im Dialog“ zu bestätigen (Weinrich 2005: S. 836). Ohne zu bestreiten, dass der Einsatz des Diskursmarkers „ja“ eine solche positiv bestätigende atmosphärische Wirkung erfüllen kann,14 machen die Gespräche meines Korpus doch gleichzeitig deutlich, dass die Funktion der Partikel „ja“ im Rahmen seiner Nutzung als Diskursmarker keinesfalls eine solche Wirkung haben muss. Diese Annahme soll im nächsten Schritt anhand eines weiteren typischen Auszugs aus einer Täglichen Talkshow verdeutlicht werden. Es handelt sich um einen Transkriptauszug aus der Talkshow „Andreas Türck“, in der es thematisch um die Frage geht: „Sind Frauen dümmer als Männer?“ Unmittelbar vor dem folgenden Auszug hat ein Mann einem moslemischen Gast, der die These vertreten hatte, dass Frauen dümmer seien als Männer, den Vorwurf gemacht, dass er mit dieser Position gegen den Koran verstoße, der ihm die Auflage mache, Frauen zu respektieren. Der Moderator (Mo) unterbricht diesen Mann und fragt einen anderen Gast (Ga), wie er dies sehe.
14
Dies soll ganz im Gegenteil in Abschnitt 5.2.1 aufgezeigt werden.
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(Bsp. 3) 0315 0316 0317 0318 0319 0320
Mo Ga Mo Ga
was meinst denn DU. ja er redet nur MÜLL hier. [das ] hat doch gar nichts mit reliGION zu tun. [waRUM?] das is ne EINstellung. IS doch so.
Wie im vorherigen Transkriptauszug fällt auch hier in Abgrenzung zum Vorkommen von Antwort- und Bestätigungspartikeln auf, dass das einleitende „ja“ von Ga in Zeile 316 keine eigenständige Turnkonstruktionseinheit im Rahmen eines Musters bildet. Es stellt alleine keine sinnvolle Reaktion auf die vorhergehende Redeaufforderung des Moderators dar, sondern fungiert auch hier als turneinleitendes, syntaktisch projektives Element an der Schnittstelle eines Sprecherwechsels. Auch wenn in diesem Zusammenhang nicht bestritten werden soll, dass das „ja“ als turneinleitende Partikel interaktionell die Bereitschaft unterstreicht, den Turn zu übernehmen (Weinrich 2005: S. 836), so wäre die Annahme, dass das „ja“ damit gleichzeitig auch eine positive Bestätigung der Gesprächsbeziehung darstelle, aus semantischer Perspektive im vorliegenden Fall abwegig. Vielmehr ist gerade im Hinblick auf das projizierte Folgesyntagma herauszustellen, dass die dominante Funktion des „ja“ vielmehr darin besteht, den propositionalen Gehalt des anschließenden Vorwurfs in Form einer deutlich negativen Fremdpositionierung zu verstärken, indem er diese (projektiv) ankündigt. Über die Feststellung hinaus, dass der Diskursmarker „ja“ im vorherigen Beispiel dominant projektive Funktionen erfüllt, die in diesem Fall in einer Verstärkung des anschließenden Vorwurfs bestehen, verdeutlicht das analysierte Transkriptbeispiel aber auch, warum Auer/Günthner im Hinblick auf die Kategorie „Diskursmarker“ immer nur von einem Ausbleichen der Ursprungssemantik (hier: der Bejahung) und nicht von einem vollständigen Verlust dieser Funktion ausgehen: Dieser Effekt wird im vorhergehenden Fall nachvollziehbar dadurch erzielt, dass das einleitende „ja“ zumindest auf interaktioneller Ebene die Funktion erfüllt, die Turnübernahme zu bestätigen. Auf gesprächsorganisatorischer Ebene sind damit Reste einer (retraktiven) Funktion der Bestätigung erkennbar, auch wenn diese kommunikativ nicht dominieren. Gleichzeitig deutet diese Beobachtung darauf hin, dass der Diskursmarker „ja“ durch das Zusammenspiel verschiedener Ebenen (hier: der semantischen und der gesprächsorganisatorischen) somit unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllt. Im vorliegenden Fall kann der Gast (Ga)
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mit seinem turneinleitenden „ja“ einerseits den Gesprächskontakt auf interaktioneller Ebene bestätigen, während er mit dem gleichen „ja“ einen massiven Vorwurf projiziert und diesen durch die Projektion zusätzlich verstärkt. Damit kann der Diskursmarker „ja“ an dieser Stelle aufgrund der aufgezeigten Potenziale als ambig (uneindeutig/mehrdeutig) bezeichnet werden. Zusammenfassend haben die bisherigen Überlegungen zu den Möglichkeiten der begrifflichen und terminologischen Abgrenzung des Diskursmarkers „ja“ von der homonymen Antwort- und Bestätigungspartikel zunächst einmal Unterschiede zwischen beiden Konstruktionen unterstrichen. Deutlich geworden ist hierbei, dass die gesprächsorganisatorischen Funktionen des Diskursmarkers nicht primär in seinen rückbezüglichen Aspekten zu sehen sind, sondern vorrangig in seiner projektiven, das Folgesyntagma verstärkenden Leistungen. Der Nachweis dieser Unterschiede kann nur unter Berücksichtigung aller sprachlichen Ebenen im Sinne des gestaltorientierten Ansatzes der Construction Grammar erfolgen. Hierbei hat die differenzierte Betrachtung des Diskursmarkers „ja“ anhand gesprächsorganisatorischer und semantischer Aspekte aufgezeigt, dass der Diskursmarker zwar durchaus „Reste“ seiner Ursprungsfunktionen (im letzten Beispiel: Bestätigung auf der Ebene der Gesprächsorganisation) aufweisen kann, dass diese aber keineswegs dazu führen müssen, die dominant projektiven Funktionen (hier: Projektion eines Vorwurfs bzw. einer von der vorherigen Selbsteinschätzung abweichenden Fremdpositionierung) zu neutralisieren. Dass dem Diskursmarker dadurch ein ambiges Potenzial zukommt, soll im Folgenden anhand weiterer Transkriptauszüge genauer betrachtet werden.
4. „Unscharfe Ränder“ oder „Konstruktionen im Übergang“ – „ja“ zwischen Projektion und Retraktion Über die beobachteten „Reste“ von gesprächsorganisatorischer Bestätigung hinaus finden sich im Rahmen meines Korpus immer wieder Fälle, in denen die Partikel „ja“ nicht nur ein ambiges Potenzial aufweist, sondern auch aus kategorialer Perspektive nicht eindeutig als Diskursmarker bzw. als Antwort- und Bestätigungspartikel bestimmt werden kann. Auch die sich hieraus ergebende Art der kategorialen Ambiguität (Uneindeutigkeit/Mehrdeutigkeit) einer „Konstruktionen im Übergang“ (zwischen zwei Konstruktionen), die im Anschluss an Günthner und Imo als „Zwischenstufen“ gefasst werden können (Günthner/Imo 2003: S. 14), sollen nun anhand eines weiteren Transkriptauszugs betrachtet werden.
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Konkret handelt es sich um eine Sequenz aus der Talkshow „Sonja“ zum Thema „Ich will ein Kind, aber keine Frau“. Nachdem der erste Talkgast Kaletto (Ka) seine Position dargestellt hat, dass er gerne zusammen mit seinem Freund ein Kind adoptieren würde, ruft die Moderatorin (Mo) ihren zweiten Gast, Eske (Es), alleinerziehende Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, auf die Bühne und formuliert die folgende erste Frage: (Bsp. 4) 0191 Mo 0192 0193 0194 Es 0195 0196
ESke; du hast eh MITverfolgen können, wie die mEI:nung (.) von kaLETto ist? ja ich hab nich alles ganz verSTANDen, aber so in ETwaJA-
Das turneinleitende „ja“ von Eske in Zeile 194 bildet aus vielerlei Gründen eine Art ambige Zwischenstufe zwischen „ja“ als Diskursmarker und „ja“ als Antwortpartikel. Zunächst einmal formuliert die Moderatorin (Mo) in den Zeilen 191 ff. unmittelbar vor Eskes (Es) Reaktion eine Bestätigungsfrage (Verbzweitstellung mit Frageintonation), die sinnvoll mit einem „ja“ oder mit einem „nein“ beantwortet werden kann. Insoweit wäre es einleuchtend, das einleitende „ja“ von Eske rückbezüglich (retraktiv) als Antwort auf diese Frage zu betrachten. Gleichzeitig finden sich jedoch mehrere Hinweise, die eine solche Lesart als nicht ausreichend erscheinen lassen: Zum einen ist das einleitende „ja“ nicht als eigenständige Intonationskontur realisiert, sondern als integrierter Bestandteil der folgenden syntaktischen Einheit („ja ich hab nich alles ganz verSTANDen,“). Obgleich sich eine solche intonatorische Integration von „ja“ als Antwort- und Bestätigungspartikel in meinem Korpus vereinzelt findet, spricht gegen eine eindeutige Bestimmung des „ja“ als Bestätigungspartikel im vorliegenden Fall zusätzlich, dass der propositionale Gehalt des Folgesyntagmas „ich hab nich alles ganz verSTANDen,“ eine Interpretation des „ja“ als positive Bestätigung aus semantischer Perspektive eher zweifelhaft erscheinen lässt. Diese Annahme wird sequenziell auch dadurch unterstrichen, dass Eske ihre Festlegung auf ein (alles in allem dann doch) bestätigendes „ja“ im Verlauf ihres Turns schrittweise prozessiert, indem sie in Zeile 195 ihre Ersteinschränkung („ich hab nich alles ganz verSTANDen,“) zu einem diese Aussage abschwächenden „aber so in ETwa-“ umformuliert, bevor sie die Frage der Moderatorin in Zeile 196 abschließend mit einem insgesamt zustimmenden „JA“ positiv bestätigt. Auch wenn die Identität zwischen dem einleitenden und dem abschließen-
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den „ja“ als Hinweis für einen zweifachen Gebrauch einer Antwortpartikel interpretiert werden könnte, so entkräftet dies jedoch keineswegs die genannten Hinweise darauf, dass das „ja“ als turneinleitendes Element genutzt wird, um das folgende Syntagma zu projizieren. Diese Abwägungen zusammenfassend kann man festhalten, dass eine eindeutige Bestimmung des turneinleitenden „ja“ nicht möglich ist und die konkrete Funktion des „ja“ tatsächlich in einem Changieren zwischen den beiden Konstruktionen „Diskursmarker“ und „Antwort- und Bestätigungspartikel“ zu sehen ist. Auch dieses Changieren erweist sich aber wie die weiter oben beobachtete Ambiguität als funktional, weil es dazu führt, dass das turneinleitende „ja“ gleichzeitig in der Lage ist, retraktiv die vorherige Frage zu bejahen und projektiv die anschließende (differenzierte) Antwort zu projizieren. Über diese erneute Polyfunktionalität hinaus verdeutlicht diese Beobachtung, dass es jenseits der identischen morphologischen Oberfläche eine funktionale Schnittmenge zwischen den untersuchten Konstruktionen Antwortpartikel und Diskursmarker gibt, die in Abhängigkeit von bestimmten kommunikativen Bedingungen dazu führen kann, dass eine polarisierende Klassifikation eines Vorkommens nicht sinnvoll ist. Im Hinblick auf den vorliegenden Gesamtzusammenhang sprechen Mischformen wie die hier betrachtete jedoch nicht gegen die Annahme einer eigenen Konstruktion „Diskursmarker“, sondern bestätigen deren Bestimmung als ein Ergebnis von Dekategorisierungsprozessen. Für die oben angesprochenen Fragen der Theoriebildung im Hinblick auf eine Grammatik der Gesprochenen Sprache unterstreichen sowohl die im vorhergehenden Abschnitt beobachteten Vagheitspotenziale als auch die hier in diesem Abschnitt betrachteten Übergangsphänomene einige entscheidende Annahmen aus dem Bereich der Construction Grammar: – Zunächst einmal werden die beobachtbaren Formen der Ambiguität des Diskursmarkers „ja“ ausgehend von dem weiter oben dargestellten Konzept der Construction Grammar kategorial beschreibbar. Der entscheidende Mehrwert dieses Ansatzes ist an dieser Stelle darin zu sehen, dass es auf der Grundlage eines Ebenenmodells der Erfassung konkreter Konstruktionen nicht notwendig ist, die auf unterschiedlichen Ebenen beobachtbaren, teils nicht deckungsgleichen Funktionen der Partikel auf eine Funktion einzuschränken. Vielmehr wird die empirisch beobachtbare Polyfunktionalität kategorial beschreibbar und kommunikativ erklärbar. – Ausgehend von der These einer „Grammatik in und durch Gebrauch“ wäre dann im Weiteren davon auszugehen, dass diese Formen der Poly-
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funktionalität von Sprachbenutzer/inne/n im Laufe von Sprach- bzw. Gebrauchserwerbsprozessen systematisch erworben und kommunikativ genutzt werden. In diesem Zusammenhang muss eine Grammatik der gesprochenen Sprache dazu in der Lage sein, potenziell divergierende Funktionen einer Konstruktion zu beschreiben und kategorial zu fassen. Diese Anforderung erfüllt die Construction Grammar in der hier dargestellten Form, indem sie ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, das die empirisch beobachtbaren Eigenschaften einer Konstruktion als Potenziale ihrer Realisierung begreift. In eine ähnliche Richtung verweisen die Beobachtungen im Hinblick auf Übergangsphänomene zwischen zwei Konstruktionen. Auch hier wird die Relevanz einer nicht normativ vorgehenden Grammatik deutlich, indem die vorhergehenden Beobachtungen in diesem Zusammenhang aufzeigen, dass es notwendig ist, Konstruktionen nicht nur intern als potenziell polyfunktional, sondern im Anschluss an Barth-Weingarten auch in Abgrenzung nach Außen als ein gradiertes Phänomen mit Übergängen zu anderen Konstruktionen zu begreifen. Entscheidend ist hierbei, dass die Existenz von Übergangsphänomenen im Zusammenhang mit grammatischen Beschreibungen konkreter sprachlicher Realisierungen keinen prinzipiellen Grund darstellt, auf die begriffliche Bestimmung konkreter Konstruktionen zu verzichten. Vielmehr muss die grundlegende Begrifflichkeit zur Beschreibung prototypischer Konstruktionen die kategorialen Grundlagen schaffen, um mit Mehrdeutigkeit und „kategorialen Unschärfen an den Rändern“ umgehen zu können.15
Die Folgen des beschriebenen Mehrwerts an terminologischer Präzision für die Untersuchung meines konkreten Gegenstands bestehen im Anschluss an die bisherigen Beobachtungen vor allem darin, dass Ambiguitäten nicht per se als disfunktional angesehen und kategoriale Übergangsphänomene nicht künstlich vereindeutigt werden müssen, sondern in ihrer Mehrdeutigkeit und Funktionalität kategorial beschreibbar werden. Ausgehend von diesen aus grammatiktheoretischer Perspektive methodisch grundlegenden Feststellungen sollen im nächsten Schritt die behaupteten funktionalen Aspekte eines potenziell mehr- und sogar uneindeutigen Gebrauchs des Diskursmarkers „ja“ unter Bezug auf die Gattung der Täglichen Talkshow aus medientheoretischer Perspektive genauer betrachtet werden. 15
Siehe dazu auch Günthner und Spreckels in diesem Band.
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5. Zur Funktion von Ambiguität und Vagheit in Täglichen Talkshows In ihren Überlegungen zu Relevanz von „Ambiguities we live by“ plädieren Nerlich und Clarke für eine Aufwertung der Mehrdeutigkeit im Zusammenhang mit der Analyse gesprochener Sprache. Dort heißt es: Contrary to some older theories of implicature und some newer theories of relevance, we argue that people who engage in conversation do not always strive for rationality and relevance, that they do not always intend words to have one meaning and „disambiguate“ polysemious words automatically in context. The use and understanding of polysemious words may have costs in terms of processing time, but what Kittay (1987) calls „purposive ambiguity“ has important semantic, pragmatic and conversational benefits, such as reinforcing the semantic links between the nodes in a network of senses, strengthening the social bonds between those who exploit polysemy in conversation, and helping to negotiate crucial junctures between conversational turns. (Nerlich/Clarke 2001: S. 1)
Für meinen Zusammenhang entscheidend ist hierbei sowohl der Zweifel der Autor/inn/en an der generellen Angemessenheit der (auf Grice verweisenden) dominierenden Eindeutigkeitspostulate pragmatischer Forschung16 als auch der hieran anschließende Hinweis, dass der kommunikative Nutzen des Gebrauchs ambiger sprachlicher Mittel vielfältig sei. Diese Annahme, die ausgehend von den bisherigen Beobachtungen an Bedeutung gewinnt, soll im Folgenden erneut im Hinblick auf das untersuchte Korpus genutzt werden, indem anhand eines weiteren Transkriptauszugs gezeigt wird, dass kommunikative Mehrdeutigkeiten und Vagheiten keinen „ärgerlichen Rest“ einer Grammatik der gesprochenen Sprache darstellen, sondern als funktionales Potenzial authentischer Kommunikation erfasst werden müssen.17 Ausgehend von dieser Feststellung soll nun die Frage diskutiert werden, welchen funktionalen Nutzen gerade dem Diskursmarker „ja“ im Rahmen des Formats der Täglichen Talkshow zukommt. Zu diesem Zweck sollen in einem ersten Schritt einige Überlegungen zur Spezifik des Formats des „Daily Talks“ skizziert werden (Abschnitt 5.1), bevor diese Überlegungen erneut am Beispiel konkreter Talkshowauszüge diskutiert werden (Abschnitt 5.2). 16 17
Siehe dazu auch Meer (1998: S. 137) im Hinblick auf die potenzielle Ambiguität von Hörerrückmeldungen. In diesem Zusammenhang weist auch Günthner auf den funktionalen Nutzen von Phänomenen wie Ambiguität und Polyfunktionalität hin, wenn sie schreibt: „Vagheit, Ambiguität und Polyfunktionalität sind in der alltäglichen Kommunikation nicht etwa als (bloße) „Störfaktoren“ bzw. „Performanzprobleme“ zu betrachten, sondern als interaktive Ressourcen, die Interagierende verwenden, um bestimmte kommunikative Ziele zu erreichen.“ (Günthner 2003)
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5.1 Formatspezifische Charakteristik des „Daily Talks“ Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die inzwischen reichhaltige Literatur zu „Talkshows“ im Allgemeinen und „Tägliche Talkshows“ im Speziellen eingehen zu wollen,18 sollen zwei Aspekte des „Daily Talk“ herausgestellt werden, die für diesen Gesprächstyp charakteristisch und im Hinblick auf den Aspekt der Vagheit im Zusammenhang mit dem Diskursmarker „ja“ von Bedeutung sind. Es handelt sich zum einen um die gattungsspezifische Notwendigkeit Täglicher Talkshows, Showgäste im Hinblick auf eine bestimmte Thematik dazu zu veranlassen, sich redend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu positionieren, zum anderen um die damit verbundene Strategie, die Gäste mit eben dieser Selbstpositionierung zu einer konfrontativ angelegten Auseinandersetzung mit anderen Gästen und deren Positionen zu veranlassen. Im Hinblick auf die angesprochene Notwendigkeit, Talkgäste mit ihren Formen der (thematisch gebundenen) Selbstdarstellung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu präsentieren, thematisieren Untersuchungen moderner Medienangebote gerade im Bezug auf Tägliche Talkshows immer wieder den Aspekt der „Talking Cure“, des quasi therapeutischen „Reden-Machens“ eines Moderators vor einem Millionen-Publikum (Niehaus 2001: S. 144 ff., Brock/Meer 2004: S. 194, Brock 1996: S. 163 f.). Entscheidend im Hinblick auf die vorliegenden Überlegungen ist dabei vor allem, dass eine solche quasi-therapeutische Präsentation eines Gastes im Rahmen einer Talkshow nur dann erfolgreich möglich ist, wenn es den Moderator/inn/en gelingt, ihre Gäste (für eine begrenzte Zeitspanne) mit immer neuen Redeaufforderungen zu einer Expansion ihrer Position zu veranlassen. Neben Mitteln der Raumnutzung und der Kameraführung sind aus gesprächsorganisatorischer Perspektive hierbei vor allem sprachliche Aktivierungsformen relevant, die den Gast dazu anhalten, sich selbst kommunikativ zu inszenieren (Meer 2003, Meer/Bohn 2004). Klemm weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade die redeauffordernden Fragestrategien der Moderator/inn/en eines der charakteristischen Merkmale so genannter Confrontainment-Formate darstellen, zu denen der Daily Talk ebenfalls gezählt werden muss (Klemm 1996: S. 138). Man kann in den hiermit verbundenen Formen des moderierenden Reden-Machens mit Foucault durchaus einen institutionsunabhängig zu beobachten18
Aus gesprächsanalytischer Perspektive soll an dieser Stelle exemplarisch auf die Texte von Klemm (1996), Schütte (2002) und Seifried (2000) verwiesen werden. Aus stärker medientheoretischer Sicht seien die Veröffentlichungen von Fromm (1999), Parr/Thiele (2001) und Plake (1999) genannt.
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den zentralen Mechanismus moderner Gesellschaften diagnostizieren (Foucault 1977, 1983).19 Für die Position der Gäste bedeutet dies aber im Gegenzug, dass diese gewillt und in der Lage sein müssen, auf die Redeaufforderungen der Moderator/inn/en für eine begrenzte zeitliche Dauer aktiv zu reagieren. Tun sie dies nicht (oder können sie es nicht), so fällt es vor dem Hintergrund der spezifischen medialen Bedingungen in den Aufgabenbereich von Moderator/inn/en, durch gezielte Fremdpositionierungen der Gäste weitere Stellungnahmen zu prozessieren. Im Zusammenhang mit Täglichen Talkshows ist hierbei zu beachten, dass die Talkgäste in ihrer Mehrheit medial völlig unerfahren sind und nicht selten auch über wenig Erfahrung mit anderen Formen der thematisch orientierten kommunikativen Selbstdarstellung verfügen. Insoweit kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Moderator/inn/en mit immer neuen Interventionen zu einer Expansion weiterer Ausführungen beitragen (müssen). Aus gesprächsorganisatorischer Perspektive entscheidend ist hierbei, dass die beschriebene Notwendigkeit des „Redens“ bzw. „Reden-Machens“ im Rahmen Täglicher Talkshows nicht unabhängig von einer zweiten Notwendigkeit betrachtet werden kann, die darin besteht, dass der Talkmaster die Talkgäste konfrontativ in Auseinandersetzungen verwickelt (Meer 2003, Meer/Bohn 2004). Klemm sieht hier zu Recht eine unmittelbare Verbindung zwischen den aktivierenden Fragestrategien von Moderator/inn/en und Formen der Provokation und Konfrontation „der Gäste mit Aussagen der Gegner, mit Sachverhalten oder auch eigenen Äußerungen“ (Klemm 1996: S. 139). Hierbei sind allerdings nicht nur die konfrontierenden Redeaufforderungen der Moderator/inn/en von Belang, sondern auch die gezielte Kombination von Talkgästen, die dezidiert unterschiedliche Positionen einnehmen und alleine dadurch die prozessierten Selbstpositionierungen der übrigen Gäste bereits in Frage stellen. Diese personengebundene Repräsentation unterschiedlicher Positionen bildet die Grundlage für die konfrontativ-redeauffordernde Moderationsstrategie, die die „Talking Cure“ des Daily Talks zum „Action talking“ machen (Niehaus 2001: S. 139 ff.). Mittels dieser Strategien verfolgen Moderator/inn/en das Ziel, einzelnen Gästen mit unterschiedlich aggressiven Mitteln ihre individuelle „Wahrheit“ zu Themen wie „Wer ist der Vater meines Kindes – Britt deckt auf“ oder „Ihr Homos kotzt mich an“ zu „entlocken“. Ziel dieser Prozesse ist hierbei die 19
Diese grundsätzliche institutionstheoretische Annahme erweist sich auch im Hinblick auf konversations- und gesprächsanalytische Arbeiten zu institutioneller Kommunikation als tragfähig. Siehe dazu Drew/Heritage (1992), ten Have (1999), Meer (1998).
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Bestimmung allgemein akzeptabler gesellschaftlicher Wahrheitswerte in Form von mehr oder weniger akzeptablen Positionen und Verhaltensweisen, etwa zu Fragen der Vaterschaft oder des Umgangs mit gesellschaftlichen Minderheiten.20 Vor dem Hintergrund dieser knappen Hinweise auf die für Tägliche Talkshows konstitutiven Aspekte wird es im Weiteren darum gehen zu zeigen, dass gerade der Diskursmarker „ja“ durch seine wortartspezifische Ambiguität dazu geeignet ist, sowohl den Mechanismus des Reden-Machens in Täglichen Talkshows zu rahmen als auch Gesprächspartner/innen aktiv in konfrontative Auseinandersetzungen zu verwickeln. Hierbei wird im Laufe der weiteren Argumentation zu zeigen sein, dass es sich um ein gattungsspezifisches Positionierungspotenzial von Diskursmarkern handelt. 5.2 Ambiguität und ihre Potenziale – Gattungsspezifische Überlegungen zum Einsatz des Diskursmarkers „ja“ Ausgehend von den Überlegungen zu den Spezifika Täglicher Talkshows liegen die interaktionellen Probleme dieses Formats auf der Hand: Indem es darum geht, eine wie immer geartete „Wahrheit“ in Form von Selbst- und Fremdpositionierungen konfrontativ an die Oberfläche zu bringen, ist es dringend notwendig, die Beteiligten erfolgreich zum Reden anzuhalten. Gerade diese Bereitschaft ist vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Konfrontation interaktionell jedoch immer gefährdet. Vor dem Hintergrund dieser medialen Situation sollen nun im Folgenden unterschiedliche Formen der Nutzung des Diskursmarkers „ja“ betrachtet werden. In einem ersten Beispiel werden hierbei bestätigende Aspekte des Diskursmarkers in den Blick genommen (5.2.1), in einem zweiten Beispiel dessen funktionalen Möglichkeiten in Konfrontationssituationen (5.1.2). 5.2.1 Formen der Fremd- und Selbstbestätigung Beim folgenden Transkript handelt es sich um einen Auszug aus der weiter oben bereits angesprochenen Talkshow „Oliver Geißen“, in der es unter dem Titel „Vaterfreuden“ um die Klärung einer unklaren Vaterschaft geht. Im Mittelpunkt steht erneut die Frage von Steffi (Sf ), ob Nadine, das 20
Der Begriff der „Wahrheit“, der hier im Sinne Foucaults als diskursiver Bereich des zu einem gegebenen Zeitpunkt gesellschaftlich „Sagbaren“ und „Denkbaren“ begriffen wird (Foucault 1982: S. 24 f.), ist gerade im Zusammenhang mit Täglichen Talkshows unmittelbar evident, wenn man berücksichtigt, dass der Einsatz von Lügendetektoren unter Titeln wie „Britt – Heute sagst du die Wahrheit“ oder „Britt deckt auf“ in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Siehe zu den hiermit verbundenen zwingenden Subjekteffekten auch Seifried (1999).
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Jüngste ihrer fünf Kinder mit ihrem Lebensgefährten Wolfgang, tatsächlich von Wolfgang ist. Im ersten Turn schildert Steffi ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang: (Bsp. 5) 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321
Sf
O St O St
wenn ich dann so äh die kinder äh ANschau halt, die drei äh:hm sind BLOND blauäugigdie nadine is mehr DUNkel; ähbraune AUgen; dunkle HAAre halt, okay die JÜNGste; die NAtalie; die hat AUCH braune augen; aber ich bin mir halt nich SIcher; und ich würd=s gerne WISsen; und es QUÄLT mich halt die ganze zeit, undja verSTEH ich; =ja naDINE halt auch ne; =ja wie geht denn WOLFgang damit um dass ähja er sacht is meine TOCHter, und es BLEIBT meine tochter halt ne? aber wissen möchte er=s AUCH bestimmt;
Schaut man sich nun den mehrfachen Einsatz des Diskursmarkers „ja“ in den Zeilen 316 bis 319 an, so fällt auf, dass die Partikeln auch hier projektiv zur Einleitung eines Folgesyntagmas genutzt werden. Sie erfüllen erneut die Funktion, die Bereitschaft zur Turnübernahme abzusichern. Hierbei gehen die Partikeln schon aufgrund ihrer Häufigkeit in diesem Kontext eine Verbindung ein, die auf interaktionaler Ebene so etwas wie eine „positive Grundhaltung der Gesprächsbeteiligten“ erkennen lässt. Die Frage ist jedoch, wie dieser Gesamteindruck im Detail entsteht. Hier zeigt sich zunächst einmal auf gesprächsorganisatorischer Ebene, dass in den Zeilen 316 und 319 mit dem „ja“ eine vorzeitige Turnübernahme eingeleitet wird, während die einleitenden „ja“ in den Zeilen 217 und 218 einen schnellen Anschluss bilden. Trotz dieser erhöhten Bereitschaft zur Turnübernahme auf Seiten beider Gesprächspartner/innen deutet auf semantischer Ebene nichts auf einen „kontroversen Kampf ums Rederecht“ hin. Vielmehr fällt im Hinblick auf den propositionalen Gehalt der durch „ja“ projizierten Folgesyntagmen auf, dass diese sowohl bezogen auf den Moderator als auch bezogen auf den Gast Steffi durch ein hohes Maß
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an Empathie gekennzeichnet sind. Während die beiden mit „ja“ projizierten Turns des Moderators in den Zeilen 316 und 318 darauf abzielen, Verständnis zu markieren und eine Anteil nehmende Redeaufforderung zu formulieren, geht es Steffi in den Zeilen 317 und 319 darum, die Position ihrer Tochter und ihres Lebensgefährten möglichst empathisch nachvollziehbar darzustellen und damit auch sich selbst als inzwischen geläuterte Ehefrau (und Mutter) zu positionieren. Damit entsteht die Wahrnehmung einer positiven Gesprächsatmosphäre dadurch, dass die Diskursmarker die bestätigende Bedeutung der projizierten Folgesyntagmen verstärken, ohne jedoch selber einen positiv bestätigenden semantischen Gehalt auszuweisen. Das, was ausgehend von der vorliegenden Forschungsliteratur bisher also als semantisches Potenzial des turneinleitenden „ja“ selber beschrieben wurde, erweist sich ausgehend von meinem Material vielmehr als eine indirekte Folge der spezifischen projektiven und damit diskursorganisatorischen Wirkung des Diskursmarkers „ja“. Dieser trägt durch seine das Folgesyntagma unterstützenden selbstund fremdbestätigenden Aspekte damit auf für Talkshows typische Weise dazu bei, dass das Gespräch trotz des brisanten und potenziell gesichtsbedrohenden Themas interaktionell nicht gefährdet ist. Dass dies aber eben nur ein Aspekt des Potenzials des Diskursmarkers ist, soll im folgenden Abschnitt abschließend untermauert werden, indem anhand eines deutlich konfrontativen Transkriptauszugs aus genau umgekehrter Perspektive aufgezeigt wird, dass die projektiven Potenziale von „ja“ auch dazu beitragen können, negativ abwertende Propositionen zu verstärken und damit die gattungsspezifische Konfrontation in Täglichen Talkshows anzuheizen. 5.2.2 Formen des Widerspruchs Der folgende Transkriptauszug ist der Talkshow „Britt“ entnommen, in der es unter dem Titel „Heute sag ich Dir die Meinung“ um eine Aussprache zwischen zwei Freundinnen, Daniela und Jennifer, geht. Daniela (Da) hat Jennifer (Je) vorgeworfen, Lügen über sie zu verbreiten. Nachdem sie ihre Position dargestellt hat, bittet die Moderatorin (Mo) Jennifer auf die Bühne: (Bsp. 6) 86 87 88 89 90
Je Mo
Je
HALlo. HEI. (-) tja irgendwie LÄUFTS nicht so gut bei euch oder? es is-
110 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Dorothee Meer Mo Je
Da Je Da Je Da
=woran LIEGT das. sie LÜGT aber auch; das STIMMT nich dass ich sage dass dassalso dass DU sags ich labere nur scheiße; das STIMMT nich daniela ja warum sagen das ANdere zu mir, ja du hörs IMma nur auf andere; <
Zunächst einmal projiziert das erste „ja“ in Zeile 96 eine Rückfrage von Daniela, die darauf abzielt, die vorherige Behauptung von Jennifer in den Zeilen 93 ff. in Frage zu stellen und die eigene Aussage, Jennifer verbreite Lügen über sie, zu rechtfertigen. Kommunikativ hat die Rückfrage damit die Funktion eines Widerspruchs, der die eigene Position untermauern soll. Das einleitende „ja“ unterstreicht den Widerspruch. Ähnliches lässt sich auch zum zweiten „ja“ in Zeile 97 sagen. Hier wird nun aus umgekehrter Perspektive der Diskursmarker von Jennifer dazu genutzt, das Folgesyntagma in Form eines Gegenvorwurfs („ja du hörs IMma nur auf andere;“) zu verstärken. Hierbei geht es ihr darum, die eigene Position zu untermauern und die Position Danielas zu untergraben, indem sie diese als „unkritisch“ und „leichtgläubig“ darstellt. Diese Annahme wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass die Vehemenz des Vorwurfs in der anschließenden Intonationseinheit in Zeile 99 durch eine akzentuierte und lauter gesprochene Widerholung des „IMmer“ unterstrichen wird. Ebenso lässt sich im Hinblick auf das dritte Auftreten des Diskursmarkers „ja“ in Zeile 101 festhalten, dass auch hier das einleitende „ja“ die Funktion erfüllt, die anschließende Erneuerung des Vorwurfs zu verstärken. Retraktive Funktionen erfüllen die Diskursmarker auch hier nur auf gesprächsorganisatorischer Ebene, indem sie die Bereitschaft zur Turnübernahme und damit zur Fortsetzung des Gesprächs anzeigen. Die Funktion dieses erneut ambigen Potenzials (Bestätigung der Gesprächsbereitschaft bei gleichzeitiger Projektion massiver Vorwürfe und abwertender Fremdpositionierungen) liegt in Anbetracht der konkreten Situation auf der Hand: Indem die beiden Protagonistinnen die ihnen zugedachte mediale Funktion erfüllen, die Position ihres Gegenübers mit Angriffen zu attackieren, gefährden sie gleichzeitig die Tragfähigkeit ihrer Beziehung. Ein Gesprächsabbruch muss aus medialer Sicht aber dennoch verhindert werden, da nicht der Konflikt, sondern dessen kommunikative
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Inszenierung medial relevant ist. Die ambigen Potenziale des Diskursmarkers „ja“ sind in solchen Zusammenhängen kommunikativ vor allem deshalb so nützlich, weil sie dazu führen, die Proposition des Folgesyntagmas – hier der Vorwürfe – zu verstärken, obwohl sie gleichzeitig auf gesprächsorganisatorischer Ebene die Bereitschaft zur Fortsetzung des Gesprächs (hier: des Disputs) signalisieren. Die Mehrdeutigkeit stellt somit keinen Störfaktor dar, sondern erweist sich als Ressource, die von den Gesprächspartnerinnen funktional zur Erfüllung divergierender institutioneller und gattungsspezifischer Anforderungen („Gesprächsfortführung trotz Beschimpfung“) genutzt wird.
6. Fazit Die Überlegungen des vorliegenden Beitrags zusammenfassend kann aus methodischer Perspektive bezogen auf Konstruktionen mit „ja“ die Annahme herausgestellt werden, dass es ausgehend von einigen Überlegungen aus dem Bereich der Construction Grammar möglich ist, sich Phänomenen der gesprochenen Sprache aus grammatiktheoretischer Perspektive zu nähern. Den entscheidenden Mehrwert der Construction Grammar bildete hierbei im vorliegenden Zusammenhang die kategoriale differenzierte Ausweitung einer morphosyntaktischen Betrachtungsweise auf die kommunikativ entscheidenden Ebenen der Semantik, Pragmatik, Sequenzialität und Prosodie. In diesem Zusammenhang konnte ausgehend von konkreten empirischen Daten gezeigt werden, dass es unter Nutzung dieses Modells im Hinblick auf die Konstruktion des Diskursmarkers „ja“ in Abgrenzung zur Konstruktion des Antwort- und Bestätigungspartikel „ja“ möglich ist, klare kategoriale Abgrenzungen vorzunehmen und zur Definition einer einzelnen Konstruktion zu kommen, von der angenommen wird, dass diese von Sprachbenutzer/inne/n als Gestalt erworben, angewandt und verstanden wird. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass gerade die differenzierte Beschreibung einzelner Konstruktionen es ermöglicht, Misch- oder Übergangsvarianten, die sich aus Prozessen der Dekategorisierung ergeben, zu beschreiben. Für die Untersuchung der Partikel „ja“ war hierbei entscheidend, dass sich solche Übergangsphänomene aus kommunikativer Perspektive keineswegs als störend erweisen, sondern die so entstehenden Mehrdeutigkeiten aus kommunikativer Perspektive funktional sind. Dies gilt auch für einen anderen Aspekt der Ambiguität, der im Hinblick auf den Diskursmarker „ja“ immer dort zu beobachten war, wo ausgehend von der Analyse
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seines Auftretens auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche (retraktive oder projektive) Funktionen nachgewiesen werden konnten. Die Nützlichkeit der hieraus resultierenden Ambiguitäten (Mehrdeutigkeiten) und deren kommunikatives Potenzial konnte aus gattungsspezifischer Perspektive unter Bezug auf Tägliche Talkshows vor allem dort verdeutlicht werden, wo sie von Gesprächspartner/inne/n durch die spezifische Projektion von Selbst- und Fremdpositionierungen dazu genutzt wurden, institutionell und medial widersprüchliche kommunikative Anforderungen parallel zu erfüllen. Insoweit erwies sich das Ambiguitätspotenzial des Diskursmarkers nicht nur als kommunikativ, sondern auch als institutionell und gattungsspezifisch funktional.
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„ich hab einfach gedacht“ – Stellungnahme und Positionierung durch einfach in Erklärinteraktionen Janet Spreckels 1. Einleitung Erklärungen treten im Gespräch immer dann auf, wenn zwischen den Interaktionspartnerinnen1 eine Wissensasymmetrie herrscht. In der Regel ist es das Hauptziel von Erklärprozessen, dieses Wissensgefälle auszugleichen. Obwohl besonders in der jüngeren Forschungsliteratur betont wird,2 dass der Erklärprozess ein interaktiver ist, den die Erkläradressatin mehr oder weniger aktiv mitgestaltet, weist die Konstellation in institutionellen Erklärinteraktionen (wie z. B. in der Schule) den Gesprächspartnerinnen zunächst einmal bestimmte Positionen zu: Es gibt eine erklärende Person und eine bzw. mehrere, denen etwas erklärt wird. Erklärende haben jedoch sehr unterschiedliche Möglichkeiten, diese Rolle auszufüllen: Sie können die Konstellation hierarchisch gestalten, indem sie belehrend auftreten,3 oder kooperativ, indem sie das Gegenüber an der Wissensfindung bzw. -aushandlung aktiv teilhaben lassen. Die jeweilige Ausgestaltung der beteiligten Rollen kann von mehreren Faktoren abhängen: vom individuellen Gesprächsverhalten, von Situationsgegebenheiten, institutionellen Bedingungen etc. Umgekehrt wirkt sich das Erklärgelingen auf das interaktive Verhalten und das Verhältnis der Gesprächspartnerinnen aus. Eine Person, die den Erklärgegenstand souverän beherrscht, dazu über Erklärkompetenz verfügt und den Wissenshorizont der Adressatinnen realistisch einschätzen kann, wird die Rolle der Erklärenden anders ausfüllen als eine Person, bei der diese Faktoren in geringerem Maße erfüllt sind. D. h. abgesehen von den durch die Erklärsituation vorgegebenen Rollen der Erklärenden und den Erkläradressaten können sich die beteiligten Personen mithilfe verschiedener verbaler und nonverbaler Mittel zueinander, zur Erklärsituation, zum Erklärgegenstand und zu anderen Aspekten der Interaktion positionieren und zu ihnen Stellung nehmen. Dies kann explizit erfolgen oder aber auf 1 2 3
Ich verwende im Folgenden überwiegend das generische Femininum. Vgl. z. B. Klein (2001), Renkl (1997), Seedhouse (2004). In nicht-institutionellen Situationen gelten andere Höflichkeitsmaximen für den Ausgleich von Wissensgefälle, vgl. Keppler/Luckmann (1991: S. 149).
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eher subtile Weise mithilfe sehr unterschiedlicher verbaler und nonverbaler Strategien. Ich möchte im Folgenden untersuchen, inwiefern die Abtönungspartikel einfach bzw. Konstruktionen, an denen sie Teil hat (einfach mal, nich einfach), in institutionellen Erklärinteraktionen auch zur Stellungnahme und zur Selbst- und Fremdpositionierung eingesetzt werden können. Der Ausdruck einfach kommt im geschriebenen und besonders im gesprochenen Deutsch in vielfältigen Erscheinungsformen vor: als Adjektiv, Adverb, Abtönungspartikel,4 Steigerungs- oder Diskurspartikel. In der Forschungsliteratur ist häufig darauf hingewiesen worden, dass zwischen den Partikeln und ihren Gegenstücken in anderen Wortarten eine semantische Beziehung besteht, die allerdings unterschiedlich definiert worden ist (vgl. Autenrieth 2002: S. 55). Um der Semantik und Pragmatik der Abtönungspartikel einfach näher zu kommen, wird kurz das gleich lautende Adjektiv diskutiert und anhand einer neueren Definition werden allgemeine Merkmale von Abtönungspartikeln dargestellt. Dabei wird u. a. deutlich werden, dass die genannten Kriterien nicht immer zu einer eindeutigen Abgrenzung der Abtönungspartikeln von anderen Wortarten (z. B. den Adverbien) führen. Im empirischen Teil werden daher auch solche Fälle berücksichtigt, bei denen die Konstruktion einfach zumindest eine Abtönungspartikel sein könnte, also ein „partikelhaftes Wort“ darstellt.5 Selbst wenn einfach eindeutig als Abtönungspartikel klassifiziert werden kann, ist die konkrete Bedeutungs- und Funktionsbeschreibung äußerst schwierig: Die „Funktion der Abtönungspartikeln läßt sich […] nur grob bestimmen“ (Zifonun et al. 1997: S. 59). Diese Feststellung gilt für sämtliche Partikeln auch zehn Jahre später noch: „die Bedeutung von Partikeln ist nicht-referentiell und abstrakt, so dass es a priori schwierig ist, verschiedene lexeminhärente Bedeutungen zu unterscheiden“ (Diewald 2007: S. 137). Durch die Analyse individueller Vorkommen der Abtönungspartikel einfach im Dialog soll unter Berücksichtigung des konkreten Äußerungskontextes die jeweilige Funktion herausgearbeitet werden. Im Sinne der Konstruktionsgrammatik (z. B. Croft 2001) betrachte ich die Konstruktion einfach dabei als ein Ganzes, deren prosodische, semantische, syntaktische und funktionale Merkmale Teil des größeren Ensembles sind. Die Bestimmung 4
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In Anlehnung an die Mehrheit der Forschungsliteratur werden die Termini „Modalpartikeln“ und „Abtönungspartikeln“ im vorliegenden Beitrag synonym verwendet (vgl. z. B. Eisenberg 1999: S. 233, Pittner/Berman 2007: S. 24, Zifonun et al. 1997). Neben „modale Partikeln“ und „Modalpartikeln“ finden sich die Bezeichnungen „Satzpartikeln“ und einige andere. Die Bezeichnung „Abtönungspartikel“ geht auf Weydt (1969) zurück. Auch Franck (1980: S. 238) weist auf die schwierige Abgrenzung der Modalpartikel und des Satzadverbs einfach hin.
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der Semantik und der kommunikativen Funktion6 der Abtönungspartikel einfach im Interaktionsgeschehen soll daher in Auseinandersetzung mit all diesen Merkmalen geschehen.7 Die Analyse macht deutlich, dass einfach (und entsprechende Konstruktionen) in der gesprochenen Sprache auf eine Art und Weise verwendet wird, die mit den Regeln der deutschen Standardgrammatik nicht zu beschreiben sind. Da Partikeln genuin gesprochensprachliche Elemente sind, soll die Abtönungspartikel einfach nicht als dekontextualisierte lexikalische Einheit betrachtet, sondern in ihrem „natürlichen Erscheinungsfeld“, der dialogischen gesprochenen Sprache, als ein Mittel der Interaktionsgestaltung untersucht werden. Die gesprächsanalytische Untersuchungsmethode hat den Vorteil, dass der Kontext grammatischer Phänomene berücksichtigt werden kann, der bei der funktionalen Beschreibung von Konstruktionen eine große Rolle spielt. In der jüngeren Forschungsliteratur wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der Grammatiken bei der Darstellung grammatischer Phänomene bislang nicht den Blick über die Satzebene hinaus berücksichtigt (vgl. Gohl 2006) und darüber hinaus häufig mit ausgedachten Beispielsätzen arbeitet (Imo 2006). Es herrschen also Defizite bei der kontextgebundenen Analyse grammatischer Phänomene, so auch von einfach, welche der vorliegende Beitrag auszugleichen helfen soll. Am Beispiel von einfach soll eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem kommunikativen Muster des Erklärens8 und dem Gebrauch von Abtönungspartikeln als Ausdruck von Stellung und Positionierung. Das Datenkorpus umfasst Videoaufzeichnungen von Erklärinteraktionen im schulischen Kontext, die aus zwanzig Schulstunden à 45 Minuten entnommen sind. Die erklärende Person ist meistens dieselbe Lehrerin; es wird jedoch auch eine Interaktion in den Blick genommen, in der ein Schüler erklärt. Die Untersuchungsmethode ist die Gesprächsanalyse, angereichert mit ethnographischen Informationen zu den Erklärinteraktionen.
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Diewald/Fischer (1998: S. 75) differenzieren den pragmatischen Funktionsbereich von Partikeln in a) die diskursive Funktion, also deren Aufgaben bei der Organisation und Strukturierung des Gesprächsverlaufs, und b) in ihre Funktion als Modal- bzw. Abtönungspartikeln. Ich werde diese beiden Funktionen in meiner Untersuchung von einfach zusammenfassen. Vgl. dazu auch den Begriff des „meaning potential“, wie ihn Imo (in diesem Band) in Anlehnung an Norén/Linell (2007) diskutiert. Vgl. dazu auch den Beitrag von Kern (in diesem Band), der sich ebenfalls mit Handlungen des Erklärens und Rechtfertigens im Türkendeutschen auseinandersetzt.
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2. Zur Klassifikation von Partikeln Obwohl heute eine Fülle an Forschungsliteratur zu dieser „widerspenstigen“ Kategorie (Autenrieth 2002: S. 1) vorliegt, wurden die Partikeln von der Sprachwissenschaft lange Zeit ignoriert bzw. gar als lästig wahrgenommen. In ihrem jüngst erschienenen Beitrag zur Wortart „Abtönungspartikel“ schildert Gabriele Diewald (2007) die Entwicklung der Partikeln aus ihrem Schattendasein als „Flickworte“ (Reiners 1943) und „Füllsel“ (Thiel 1962) hin zu einer wichtigen „Restklasse“, so Peter Eisenberg (1999: S. 207). Sogar Eisenberg verwendet nur vier Jahre zuvor noch die Bezeichnung der Partikeln als „Zaunkönige und Läuse im Pelz der Sprache“ (1994: S. 206). Die zunächst widerwillige Auseinandersetzung mit dieser „Restklasse“ ist auf ihre äußerst schwierige Abgrenzung von anderen Wortarten und die ebenso schwierige Bestimmung ihrer Semantik und Pragmatik zurückzuführen. Erst in den letzten vier Jahrzehnten sind die Abtönungspartikeln (und auch Partikeln insgesamt) ins Interesse der Sprachwissenschaft gerückt. Dieses Interesse geht einher mit der Hinwendung der Linguistik zur gesprochenen Sprache seit der „pragmatischen Wende“ in den 1970er Jahren, denn im gesprochenen Deutsch kommen Partikeln besonders häufig vor „und sind dort keineswegs, wie früher angenommen, unnütze Füllwörter“ (Duden 2005: S. 597). Statt dessen hat die „überkommene Auffassung von der relativen Bedeutungslosigkeit der Abtönungspartikeln“ in den meisten pragmatisch orientierten Arbeiten „einer Vielfalt von Bedeutungsund Funktionszuschreibungen Platz gemacht“ (Diewald 2007: S. 122), von denen einige in diesem Beitrag diskutiert werden sollen.9 Heutzutage werden die Abtönungspartikeln als eine relativ geschlossene Subklasse der Partikeln betrachtet (vgl. Diewald 2007). Allgemein unterscheidet man zwischen einer Kerngruppe, d. h. häufig vorkommenden und prototypischen, und einer kleineren Gruppe an peripheren Abtönungspartikeln. Zur Kerngruppe zählen: aber, auch, bloß, denn, doch, eben, eigentlich, etwa, halt, ja, mal, nur, schon, vielleicht, wohl. Bei den peripheren Vertretern – wie fein, ganz, gerade, gleich, einfach, erst und ruhig – ist die diachrone Entwicklung zur abtönenden Funktion noch nicht so weit fortgeschritten wie bei den gerade genannten.10 Häufig ist in der Forschungsliteratur von 9
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Vgl. auch die Beiträge von Deppermann und Meer (in diesem Band), die ebenfalls Partikeln (denn bzw. ja) ins Zentrum ihrer Untersuchung stellen. Auch Bücker, Imo und Stoltenburg (dieser Band) gehen in ihren Analysen von randständigen Konstruktionstypen und Diskurswörtern auf die Positionierungsfunktion von Partikeln ein. Diese Einteilung übernehme ich von Diewald (2007: S. 118). Wie viele Aspekte dieser Wortklasse ist auch diese Einteilung in der Forschungsliteratur unterschiedlich. So findet man
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einem „Übergangsstatus“ zwischen adverbialer und abtönender Funktion die Rede (vgl. Autenrieth 2002: S. 4). Diese Gruppe ist aufgrund des anhaltenden Grammatikalisierungsprozesses weniger geschlossen als die Kerngruppe und wurde bislang auch in geringerem Maße untersucht, so auch die hier im Fokus stehende Abtönungspartikel einfach. 2.1 Eine Definition von Abtönungspartikeln Wie bereits angedeutet, ist die Kategorisierung und Abgrenzung der (Abtönungs)Partikeln bis heute ein viel diskutiertes und ungelöstes Problem. Dennoch hat es in der kurzen Forschungsgeschichte dieser „widerspenstigen“ Wortart verschiedene Definitionen gegeben, die im Wesentlichen die gleichen Merkmale nennen. Ich beziehe mich in meiner Untersuchung auf die Definition von Diewald (2007: S. 128): Die Abtönungspartikeln sind nicht-flektierende Elemente, die nicht satzgliedfähig, nicht erfragbar und nicht erstellenfähig [sic!] sind, sondern im Mittelfeld auftreten, den ganzen Satz „modifizieren“ bzw. Äußerungsskopus haben, eine nicht-referentielle, relationale und sprecherbezogene Bedeutung aufweisen und affin zu bestimmten Satzarten/Satzmodi sind.
Diese (und einige zusätzliche) Kriterien werden üblicherweise zur Abgrenzung der Abtönungspartikeln von konjunktionalen und adverbialen Funktionen verwendet und sollen auch die Ausgangsbasis für die vorliegende Untersuchung bilden. Diewald und Fischer (1998: S. 79) weisen darauf hin, dass die Kriterien zwar in prototypischen Fällen, aber nicht in jedem Fall zu einer klaren Abgrenzung der verschiedenen Funktionen führen. Am schwierigsten sei es, Abtönungspartikeln von den Adverbien und von anderen Partikeln, wie den Gradpartikeln oder Diskurspartikeln, abzugrenzen. Da „gerade in dialogischen Texten […] Übergangsfälle und Grenzverwischungen ausgesprochen zahlreich“ seien (ebd.), gilt diese Schwierigkeit auch für die vorliegende Untersuchung, der ein gesprächsanalytischer Zugang zu der Verwendung von einfach zugrunde liegt. Der Untersuchungsz. B. geringfügige Unterschiede bei Helbig/Buscha (2002) und Zifonun et al. (1997: S. 1541). Weydt/Hentschel (1983: S. 4) zählen zur ersten Gruppe, die sie „Abtönungspartikeln im engeren Sinne“ nennen, neben den oben genannten auch noch erst, ruhig und, interessanterweise, auch einfach. Eisenberg (1999: S. 233) differenziert gar nicht zwischen zentralen und peripheren Abtönungspartikeln, und der Grammatikduden listet nur die häufigsten Abtönungspartikeln, also die Kerngruppe, auf (Duden 2005: S. 598). Abgesehen von Weydt/Hentschel (1983) wird die Partikel einfach nie zu der Kerngruppe gezählt. Im Gegensatz zu anderen Partikeln wie mal, halt, doch etc. wird die Abtönungspartikel einfach in ihrem gesamten Band jedoch sehr stiefmütterlich behandelt, was darauf hindeutet, dass sie auch von der Partikelforschung als eine Randerscheinung wahrgenommen und eher selten zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird.
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fokus liegt aber auf der kommunikativen Funktion von einfach im konkreten Kontext und nicht auf der grammatischen Kategorisierung, weshalb bei der Analyse all jene Fälle in Betracht gezogen werden, bei denen die Konstruktion als Abtönungspartikel fungieren könnte, unabhängig davon, ob das Wort einfach eindeutig dieser Wortart zuzuordnen ist. 2.2 Merkmale der Abtönungspartikeln Im Folgenden werden kurz einige der in der Definition genannten Merkmale der Abtönungspartikeln in Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsliteratur diskutiert, die für die empirische Untersuchung im zweiten Teil dieses Beitrags relevant sind. Schließlich soll erklärt werden, inwiefern die gängigen Definitionen bereits einen möglichen Zusammenhang zwischen der Abtönungspartikel einfach und der Positionierung bzw. Stellungnahme implizieren. Die morphologisch-syntaktischen Kriterien der Definition (nicht-flektierbar, nicht satzgliedfähig, nicht erfragbar, nicht erststellenfähig und die typische Mittelfeldposition) werden an dieser Stelle nicht vertieft. Stattdessen sollen die teilweise widersprüchlichen Aussagen zum Bedeutungsspektrum und Funktionsbereich der Abtönungspartikeln diskutiert werden. Es hat in den vergangenen Jahren verschiedene Vorschläge gegeben, sich der schwierig zu erfassenden Bedeutung von Abtönungspartikeln anzunähern. Eines der zentralen Probleme besteht darin, dass Abtönungspartikeln stets mehrere Bedeutungsvarianten ausweisen, wie die folgenden Sätze zeigen: „Wie hieß doch deine Schwester?“, „Komm doch rein!“ oder „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“. Um dieser Bedeutungsvarianz gerecht zu werden, hat die Sprachwissenschaft u. a. zwei Ansätze hervorgebracht. Der bedeutungsmaximalistische Ansatz, wie ihn etwa Helbig (1994) vertritt, nimmt mehrere Bedeutungen pro einzelner Modal- bzw. Abtönungspartikel an. Autenrieth (2002: S. 1) weist jedoch darauf hin, dass bedeutungsmaximalistische Ansätze den Nachteil haben, „dass sie fast ausschließlich von deskriptivem Nutzen sind und nur sehr wenig über das Zustandekommen der verschiedenen MP-Varianten [ModalpartikelVarianten, J. S.] sowie das Zusammenspiel von semantischen und pragmatischen Bedeutungskomponenten aussagen“. Solche Zusammenhänge könnten nur aufgedeckt werden, wenn eine strenge Trennung zwischen Semantik und Pragmatik vorgenommen würde (ebd.), wie es bei bedeutungsminimalistischen Ansätzen das Ziel sei. Hier wird meist nur eine Bedeutung pro Abtönungspartikel angenommen und die Bedeutungsvarianz durch die Interaktion mit anderen, meist nicht-semantischen Komponenten erklärt. Dieser letzte Ansatz wird in der Linguistik mehrheitlich vertreten. Diewald
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weist jedoch in jüngerer Zeit darauf hin, dass die Annahme einer Grundbedeutung pro Partikellexem unterspezifizierend sei und bedeutungsminimalistische Ansätze die zahlreichen Vorkommensrestriktionen der Abtönungspartikeln nicht erklären könnten (2007: S. 133). Sie schlägt deshalb (wie schon in ihrem Beitrag mit Fischer von 1998) vor, eine relationale Bedeutung (d. h. die Verweisstruktur) als „semantische Basisstruktur“ aller Abtönungspartikeln anzusetzen und darauf aufbauend die jeweilige lexemspezifische Bedeutung (den denotativen Gehalt) zu untersuchen, um so zu einer Beschreibung konkreter Äußerungsbedeutungen der Abtönungspartikeln zu gelangen. Diewald geht dabei davon aus, dass jede Bedeutungsvariante einer Abtönungspartikel als kontrollierte Spezifizierung des relationalen Basisschemas gesehen wird (2007: S. 134). In jedem Fall müsse die nötige Kontextinformation mit in das Beschreibungsschema einfließen, wie es nur in pragmatisch ausgerichteten Untersuchungen, wie der vorliegenden, der Fall sein kann. 2.3 Allgemeine Bedeutung und Pragmatik von Abtönungspartikeln Obwohl die Forschungsliteratur zu den Abtönungspartikeln seit ihrem Beginn immer wieder darauf hinweist, dass sich die Funktion dieser Wortart allgemein nur grob bestimmen lässt, findet man wiederkehrende Bedeutungs- bzw. Funktionsaspekte dieser Wortart. Ein wichtiges Kriterium, welches in der Forschungsliteratur wiederholt als Abgrenzungskriterium zu anderen Wortarten genannt wird, ist die Tatsache, dass Abtönungspartikeln stets einen maximalen Bezugsbereich haben, d. h. sie beziehen sich auf den Satz als kommunikative Einheit, während die Bezugseinheit der entsprechenden Wortdubletten in ihrer ursprünglichen Funktion (z. B. Adjektiv) in der Regel begrenzter ist (vgl. Zifonun 1997: S. 1228). Abtönungspartikeln haben mindestens Satzskopus, meist sogar Äußerungsskopus. Dieser weite Skopus trennt sie u. a. auch von Intensitätspartikeln (z. B. sehr) und Gradpartikeln wie sogar. Die Reichweite der Abtönungspartikeln ist ein Grund dafür, dass ihre Semantik so schwer zu fassen ist. Folglich gilt es, ihr Bezugselement im kommunikativen Gefüge zu bestimmen. In der ursprünglichen Definition von Weydt (1969: S. 68) „Abtönungspartikel [sic!] sind unflektiertbare Wörtchen, die dazu dienen, die Stellung des Sprechers zum Gesagten zu kennzeichnen. …“ findet sich ein deutlicher Hinweis auf ihre kommunikative Funktion. Dieser Bedeutungs- oder Funktionsaspekt der Abtönungspartikeln ist in der Forschungsliteratur häufig aufgegriffen worden, z. B. von Eisenberg (2004: S. 233). Mit der Abtönung eines Satzes teilt eine Sprecherin der Adressatin mit, „wie er [bzw. sie] mit
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der Satzbedeutung umzugehen hat oder welche Relevanz sie für ihn [bzw. sie] nach der Sprecherintention haben soll“ (2004: S. 234). Auch Zifonun et al. (1997: S. 59) schreiben, dass sie „zur Einpassung der kommunikativen Minimaleinheit in den jeweiligen Handlungszusammenhang bei[tragen], indem sie auf den Erwartungen und Einstellungen des Sprechers und der Adressaten operieren.“ Doherty (1985) bezeichnet sie daher auch als „Einstellungspartikeln“. Die Duden-Grammatik weist darauf hin, dass Abtönungspartikeln „sehr differenzierte Einstellungen, Annahmen, Bewertungen und Erwartungen des Sprechers bezüglich des geäußerten Sachverhalts, teilweise auch seine Erwartungen an den Hörer“ ausdrücken (2005: S. 597). Eine der wenigen, welche die sprecherbezogene bzw. -basierte Orientierungsfunktion der Abtönungspartikeln in jüngster Zeit als „problematisch“ bezeichnet, ist Diewald (2007: S. 123). Allerdings gibt auch sie dieses Kriterium in ihrer eigenen Definition nicht völlig auf, denn sie bezeichnet Abtönungspartikeln als „Elemente, die … eine nicht-referenzielle, relationale und sprecherbezogene Bedeutung aufweisen …“ (2007: S. 128, Hervorheb. von J.S.). Für sie ist jedoch die relationale Funktion „die Kernfunktion aller Abtönungspartikeln“ (2007: S. 130). Mit „relational“ meint sie, dass Partikeln die Funktion ausüben, eine „Äußerung mit einem Sachverhalt zu verknüpfen, den der Sprecher als relevant, im Raum stehend, betrachtet und auf den er die partikelhaltige Äußerung bezieht“ (Diewald/Fischer 1998: S. 82).11 Diese indexikalische Komponente, d. h. die Verweisfunktion auf eine (noch) nicht vertextete Vorgabe, die allen Abtönungspartikeln gemeinsam ist, hat zur Konsequenz, dass „die partikelhaltige Äußerung als zweiter, d. h. als reaktiver Gesprächszug in einer unterstellten dialogischen Sequenz“ erscheint (Diewald 2007: S. 130). Interessant ist daran nun, dass dies keineswegs der tatsächlichen Situation entsprechen muss: „durch das Setzen einer Abtönungspartikel kann der Sprecher einen nicht-initialen Zug simulieren und damit die unterschiedlichsten pragmatischen Wirkungen erzielen (höflicher, stärker partnerorientiert, unsicher, ungeduldig usw.)“ (ebd.).12 Genauer betrachtet, hängt die relationale Komponente der Abtönungspartikeln eng mit der sprecherbezogenen zusammen, denn es wird ein gemeinsamer Bezugsraum etabliert zwischen Sprecherin und Hörerin. Es ist genau diese Funktionskomponente, die für die vorliegende Analyse von ein11 12
Es handelt sich hierbei also um eine besondere Form des interaktiven „tying“ (Sacks 1992), wie es Günthner (in diesem Band) für „Adjektiv + dass-Satz“Konstruktionen herausarbeitet. Vgl. dazu auch Zifonun et al. (1997: S. 614): Mit Abtönungspartikeln rekurriert der Sprecher auf nicht-propositionale Weise auf im Interaktionsraum etablierte Erwartungen unterschiedlicher Art.
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fach von Relevanz ist. Für einfach ließe sich die implizierte Proposition grob als „Das ist (zu) schwer/schwierig/komplex“ formulieren, welche besonders in schulischen Erklärsituationen seitens der Lernenden häufig expressis verbis hervorgebracht wird. Lehrerinnen sehen sich ständig mit der Befürchtung oder dem Vorwurf ihrer Schülerschaft konfrontiert, dass neue Lerninhalte oder Aufgaben (zu) schwer seien. Schülerinnen nutzen diesen Einwand, um sich ggf. einer Aufgabenbearbeitung zu entziehen oder Hilfestellung von der Lehrperson einzufordern. Die Tatsache, dass Lehrende in Erklärinteraktionen häufig die Abtönungspartikel einfach verwenden, lässt vermuten, dass sie damit den omnipräsenten Einwand ihrer Schülerinnen antizipieren und ihn vorweg zu nehmen versuchen, bevor er explizit geäußert wird. Gleichzeitig beziehen Erklärende dadurch Stellung zum Erklärprozess, zu den Erkläradressatinnen und zum Erklärgegenstand und positionieren sich damit im Interaktionsgeschehen. Diese grobe Funktionsbeschreibung muss natürlich noch differenzierter, je nach kommunikativem Kontext, betrachtet werden, denn in Erklärinteraktionen kommen verschiedene andere Sprechhandlungen vor. Weil das Problem der eindeutigen Isolation des Erklärens gegenüber ähnlichen Handlungen, wie dem Beschreiben, Begründen, Erläutern, Schildern, Argumentieren etc., in der Forschungsliteratur bereits wiederholt beschrieben wurde, verzichte ich an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion.13 Bei der Analyse einzelner Vorkommen von einfach wird jedoch versucht, den konkreten Handlungszusammenhang der partikelhaltigen Äußerung genauer zu bestimmen.
3. Überlegungen zum Forschungsstand und zur Methode 3.1 einfach in propositionalem Gebrauch Mit Zifonun et al. (1997: S. 1231) gehe ich davon aus, dass die Abtönungspartikel einfach aus dem gleich lautenden Adjektiv entstanden ist. Um sich der semantischen und pragmatischen Beschreibung der Abtönungspartikel einfach in der gesprochenen Sprache zu nähern, ist es daher hilfreich, zunächst das Adjektiv bzw. Adjektivadverb kurz in den Blick zu nehmen. Anders als die Abtönungspartikel modifiziert einfach in dieser Verwendung ein Element der Proposition und verfügt über polyseme Varianten. Die folgenden Beispiele übernehme ich in Anlehnung an Autenrieth (2002: S. 64):
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Vgl. z. B. Abraham (2008), Hohenstein (2006), Rehbein (1984).
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Kontext für Adjektive/ Adjektivadverbien
Bedeutung
ersetzbar mit schlicht14
a) Er springt einen einfachen Salto.
Antonym zu „doppelt/mehrfach“ ≠ komplex
nein
b) Der Redner drückte sich bewusst einfach aus.
≠ kompliziert
ja
c) Die Klausuren sind in diesem Jahr besonders einfach gewesen.
≠ schwierig
nein
d) Michael kleidet sich sehr einfach. e) Verona hat ein sehr einfaches Gemüt.
ggf. evaluativ, ≠ besonders
ja
Abb. 1: Verwendungsbeispiele von propositionalem einfach Die Beispiele zeigen, dass auch dem Adjektiv einfach (mindestens) vier unterschiedliche Bedeutungen zugrunde liegen, die allerdings zusammenhängen, denn Sachverhalte, die nicht komplex sind, sind i. d. R. auch nicht kompliziert. Solche, die nicht kompliziert sind, sind meist auch nicht schwierig (zu erfassen, bewältigen). Entscheidend für die konkrete Bedeutung ist also auch bei der propositionalen Verwendung von einfach der jeweils durch die Bezugsgröße gebildete Kontext. Während einfach in den Beispielsätzen a-e) eindeutig der Wortart Adjektiv bzw. Adjektivadverb zuzuordnen ist, weisen Zifonun et al. (1997: S. 1231) darauf hin, dass es (besonders in der gesprochenen Sprache) zahlreiche Fälle gibt, in denen der Übergang zur abtönenden Funktion fließend ist. Auch Thurmair (1989: S. 131) stellt fest, dass sich gerade an der Abtönungspartikel einfach der Prozess der Übertragung von der propositionalen auf die illokutive Ebene und damit das Entstehen einer Modalpartikel gut zeigen lässt. Gleichzeitig führt dieser Übergangsstatus von einfach dazu, dass „sich bei der konkreten Bedeutungsbeschreibung und Entscheidung, wie viele Bedeutungsvarianten anzunehmen sind, mehr Schwierigkeiten und Unklarheiten als bei den meisten anderen MP [Modal- bzw. Abtönungspartikeln, J.S.]“ ergeben (Franck 1980: S. 238).
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Um der Bedeutung von einfach näher zu kommen, bietet es sich (auch später bei der Abtönungspartikel) an, semantisch ähnliche Wörter zum Vergleich heranzuziehen. Die Substitution an dieser Stelle zeigt, dass schlicht in einigen, nicht aber in allen Kontexten als Synonym von einfach fungieren kann.
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3.2 Untersuchungen zu einfach Um sich der Aufgabe der Bedeutungs- und Funktionsbeschreibung von Abtönungspartikeln zu nähern, arbeiten verschiedene Grammatiken und Wörterbücher mit der Paraphrase von Sätzen, in denen Abtönungspartikeln auftreten (z. B. die Duden-Grammatik 2005: S. 598), oder mithilfe der Substitution durch bedeutungsverwandte Partikeln oder Wortgruppen. Das große Duden-Wörterbuch (1999: S. 943) gibt die Bedeutungsvielfalt der Partikel einfach recht verkürzt wieder: „drückt eine [emotionale] Verstärkung einer Aussage, einer Behauptung, eines Wunsches aus“ und nennt die Beispiele „Das ist einfach (ganz und gar) unmöglich!“ und „Er lief einfach (ohne weiteres) davon.“ Das Wörterbuch für Deutsch als Fremdsprache (Götz et al. 2002) ist da schon differenzierter und konstruiert immerhin vier verschiedene Kontexte für einfach. Dennoch spiegeln beide Wörterbuchdefinitionen deutlich die Defizite wider, die auftreten, wenn sprachliche Ausdrücke aus ihrem kommunikativen und funktionalen Kontext herausgeschnitten werden und auf konstruierten Beispielsätzen basieren. Eine der wenigen Untersuchungen, die sich (neben anderen Aspekten) etwas ausführlicher mit der Abtönungspartikel einfach auseinandersetzt, ist die Arbeit von Autenrieth (2002).15 Allerdings beruhen auch ihre Beobachtungen nicht auf authentischem Datenmaterial, sondern größtenteils auf „introspektiven Daten“ (2002: S. 56), was für die Analyse einen großen Unterschied macht. Ein Defizit eines solchen Vorgehens liegt z. B. darin, auf die Intonation verzichten zu müssen, die aber durchaus bedeutungsrelevant sein kann. So hebt z. B. Franck (1980: S. 256) die besondere Beziehung zwischen Intonation und Modalpartikel-Vorkommen hervor. Die Mehrzahl der Untersuchungen weist darauf hin, dass Abtönungspartikeln meist unbetont vorkommen und nur selten betont. Solche Unterschiede können nur bei einem empirischen Ansatz, der mit Ton- bzw. Videoaufnahmen arbeitet, systematisch beschrieben werden. Eine der ersten Untersuchungen, die für einen konversationsanalytischen Ansatz zur Systematisierung von Abtönungspartikeln plädiert und einfach ebenfalls mit in den Blick nimmt, ist die Arbeit von Franck (1980). Der Titel ihrer Untersuchung „Grammatik und Konversation“ lässt Parallelen zu demjenigen Ansatz vermuten, der in jüngerer Zeit von Selting und Couper-Kuhlen unter dem Namen „Interaktionale Linguistik“ programmatisch formuliert worden ist (2000). So findet sich z. B. in Günthner/Imo (2006) eine Reihe von empirischen Untersuchungen, in denen die Inter15
Sie spricht allerdings von Modal- und nicht von Abtönungspartikeln.
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aktionale Linguistik und die Konstruktionsgrammatik kombiniert werden. Die einzelnen Arbeiten basieren ebenfalls – wie der vorliegende Beitrag – auf der Einsicht, dass grammatische Phänomene nicht abgekoppelt vom Lexikon und ihrem konkreten Vorkommen in der Sprache untersucht werden sollten (vgl. auch Deppermann 2007). Obwohl die genannte Arbeit von Franck (1980) diese Einsicht teilt, basiert ihre Untersuchung im Wesentlichen auf Beispielen aus Interviews, Theaterstücken und Comic-Strips. Damit sind zwar zumindest dialogische Kontexte für die Untersuchung von Modalpartikeln gegeben, aber es handelt sich um Formen sekundärer, weil künstlich erzeugter bzw. (bei den Interviews) nachträglich „bereinigter“ Mündlichkeit. In der Forschung besteht also nach wie vor ein Defizit in der empirischen und kontextgebundenen Analyse von grammatischen Phänomenen, an welches der vorliegende Beitrag anknüpfen soll. 3.3 Konstruktionen Mit Croft (2001) und Croft/Cruse (2004) gehe ich davon aus, dass das Feld der Konstruktionen weit ist und auch eingliedrige Elemente eine Konstruktion (im Sinne der Radical Construction Grammar) bilden können: „everything from words to the most general syntactic and semantic rules can be represented as constructions“ (Croft 2001: S. 17). Diese Betrachtungsweise, die den Unterschied zwischen Syntax (bzw. Grammatik) und Lexikon aufhebt, führt zu einem „Syntax-Lexikon-Kontinuum“, wie es bereits von Langacker (1987) vertreten wird. Croft führt in diesem Kontinuum neben komplexeren Einheiten wie idiomatischen Ausdrücken und Phraseologismen auch „atomistische“ Einheiten wie (traditionelle) syntaktische Kategorien, Wörter oder sogar morphologische Elemente als eigene „Konstruktionstypen“ auf. Einziges Kriterium ist, dass all diese (grammatischen) Konstruktionen „pairings of form and meaning“ sind, „that are at least partially arbitrary“ (Croft 2001: S. 18). Dies ist bei Abtönungspartikeln wie einfach oder auch halt (vgl. Imo 2006) der Fall. Ich gehe in meiner Untersuchung von der syntaktischen Kategorie „Abtönungspartikel“ aus. Als Vertreter der peripheren Abtönungspartikeln, deren Grammatikalisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, unterscheidet sich einfach jedoch von den prototypischen z. B. insofern, als der semantische Gehalt von einfach zu Gunsten von pragmatischen Funktionen (Einbindung der Äußerung in den Interaktionszusammenhang, Modifizierung von Illokutionstypen etc.) zwar zurücktritt, wie es für Abtönungspartikeln typisch ist, aber die semantische Grundbedeutung noch nicht so verblasst ist wie bei den zentralen Abtönungspartikeln (vgl. Authenrieth 2002).
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Aus diesem Grund fasse ich meinen Untersuchungsgegenstand nicht als übergeordnete schematische Konstruktion, sondern als spezifische Konstruktion auf, d. h. als „atomic and specific“ (Croft 2001: S. 17). Es wird ein „usage-based model“ der Konstuktionsgrammatik (vgl. Croft 2001) zugrunde gelegt, bei dem es darum geht, Äußerungen mit einfach zu untersuchen, die in der empirisch beobachtbaren Interaktion auftreten. Konstruktionen sollen dabei als holistische Einheiten gesehen werden, d. h. als Einheit syntaktischer, morphologischer, phonologischer, semantischer, pragmatischer und diskursiv-funktionaler Eigenschaften. Daher lohnt es sich, wie die Untersuchung zeigen wird, den unmittelbaren und größeren Verwendungskontext der Konstruktion in den Blick zu nehmen, um den spezifischen Verwendungsweisen von einfach in der Interaktionsrealität gerecht zu werden. Die Untersuchung soll, grob gesprochen, einen empirischen Beitrag zur Untersuchung tatsächlicher Verwendungen von grammatischen Phänomenen in der (schulischen) Kommunikation leisten. 3.4 Abtönungspartikeln in Erklärinteraktionen In der Forschungsliteratur zum Handlungsmuster des Erklärens ist wiederholt auf die Tatsache hingewiesen worden, dass es sich nie um eine ein-eindeutige Musterrealisierung handelt, sondern dass es mannigfaltige Realisierungsformen des Handlungsmusters „Erklären“ in der kommunikativen Realität gibt.16 Dennoch bietet diese Aktivität immerhin einen groben Bezugsrahmen zur Bedeutungs- und Funktionsbeschreibung von einfach. Günthner (2006: S. 1) weist darauf hin, dass „sprachliche Strukturen eng mit ihrer emergenten, prozesshaften, kommunikativ-dialogischen Produktion, mit kognitiven Aspekten sowie mit den spezifischen kommunikativen Mustern und Gattungen, in denen sie auftreten und die sie mit konstituieren, verwoben sind.“ Es ist anzunehmen, dass Sprecherinnen bestimmte sprachliche Elemente oder Konstruktionen in gewissen kommunikativen Mustern bevorzugt verwenden, um dort spezielle kommunikative Aufgaben zu bewältigen. Imo (2006) zeigt z. B., dass die Modalpartikel „halt“ bevorzugt zur Präsentation von Geschichten in einem informellen Kontext eingesetzt wird. Auch Diewald und Fischer (1998: S. 96 f.) sehen einen Zusammenhang zwischen der Textsorte und der Verwendung von Partikeln: „Textsortenspezifische Untersuchungen reduzieren die Komplexität der zu bewältigenden Beschreibungsaufgabe, indem z. B. bestimmte Kommunikationsziele vorausgesetzt werden, die die Interpretationen der Partikeln beeinflussen können. […] In dem Maße, in dem sich Modalpartikeln auf 16
Vgl. in jüngerer Zeit z. B. Hohenstein (2006).
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vorausgesetzte Annahmen des Hörers beziehen, sind auch sie an Textsorten gebunden, die in eine Sprecher-Hörer-Situation eingebunden sind“. Die Beschränkung auf das Handlungsmuster des mündlichen Erklärens führt vermutlich dazu, das weite Bedeutungsspektrum der Abtönungspartikel einfach eingrenzen zu können. 3.5 Positionierung Die Grundthese des vorliegenden Beitrags ist es, dass eine der vielen Funktionen der Abtönungspartikel einfach im Erklärprozess die der Positionierung ist. „Positionierung“ fasse ich dabei mit Kallmeyer (1996) als ein gesprächsrhetorisches Verfahren auf, bei dem Sprecherinnen sich selbst und anderen im Gespräch sprachlich-kommunikativ jeweils Positionen zuordnen. Ziel ist es, die Verfahren der Gesprächspartnerinnen zu beschreiben, mit denen sie ihre Interessen unter den speziellen Bedingungen von Erklärinteraktionen durchzusetzen versuchen. In meiner Untersuchung geht es also weniger um Formen der sozialen Positionierung im Sinne der Identitätskonstitution (vgl. Davies/Harré 1990), sondern vielmehr um subtilere Formen der Stellungnahme zum aktuellen Interaktionsgeschehen. Die theoretische Auseinandersetzung mit den Abtönungspartikeln hat gezeigt, dass sie u. a. die Stellung der Sprecherin zum Gesagten kennzeichnen. Dabei nehmen sie implizit Bezug auf „pragmatisch präsupponierte Einheit(en)“ (vgl. Diewald 2007), die im Raum stehen und die die Sprecherin als relevant für das Interaktionsgeschehen betrachtet. Man könnte daher sagen, dass Stellungnahme und Positionierung als funktionale Teilaspekte bereits in der Definition der Abtönungspartikeln verankert sind. In Erklärinteraktionen müssen sich die Beteiligten entsprechend der zu diesem Handlungsmuster gehörenden Beteiligungsrollen positionieren. Mit „Wörtchen“ wie einfach positionieren Sprecherinnen nicht nur eine Äußerung im Interaktionsprozess und in Hinblick auf mögliche im Raum stehende Propositionen (und ggf. auch auf nicht-propositionale Aspekte wie Affekt, konnotative Bedeutungen etc.), sondern sie beziehen auch selbst Position zu diesem Prozess und dessen Gelingen bzw. Misslingen. Positionierungen haben u. a. die Funktion, interaktive Störungen zu bearbeiten (vgl. Wolf 1999), gleichzeitig sind sie m. E. auch Ausdruck solcher Störungen. In schulischen Erklärkontexten sollten Lehrpersonen die souveräne Rolle der erklärenden Person einnehmen. Gelingt dies nicht, so wird die Lehrperson versuchen, diese Störung sprachlich zu bearbeiten. Einfach bildet dabei eine subtile Form, zum Erklärprozess und den Erkläradressatinnen Stellung zu beziehen. Wie dies im Einzelnen aussehen kann, sollen die Analysen im empirischen Teil zeigen.
„ich hab einfach gedacht“
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4. Empirischer Teil Die folgenden Beispiele sind einer Erklärsequenz im Deutschunterricht entnommen worden. Es handelt sich um eine Videoaufzeichnung einer Deutschstunde in einer achten Gesamtschulklasse. Thema der Unterrichtseinheit, der diese Sequenz entnommen wurde, ist das Drama „Wilhelm Tell“ von Schiller. Innerhalb der Unterrichtseinheit handelt es sich um die zweite Stunde, wobei der vorliegende Ausschnitt ca. 20 Minuten nach Unterrichtsbeginn aufgezeichnet wurde. Die Betrachtung einer längeren Sequenz erlaubt es,17 die Entstehungsbedingungen der einzelnen Erklärungen bzw. Erklärversuche im Gesamtkontext in den Blick zu nehmen, was für die Analyse der Konstruktion einfach von Bedeutung ist. Man könnte grob sagen, dass die Lehrerin in diesem Gesprächsausschnitt zwei Aufgaben zu bewältigen versucht: Einerseits führt sie einen für die Schülerinnen neuen Gegenstand ein (nämlich den Aufbau eines klassischen Dramas), andererseits versucht sie, den Schülerinnen eine Aufgabe zu erklären, die sie zu diesem neuen Gegenstand ausführen sollen, nämlich stichpunktartig selbst eine mögliche Handlungsskizze in das (noch leere) Schema des klassischen Dramas zu schreiben. Auch ohne didaktisches Handlungswissen lässt sich an der sprachlichen Oberfläche ablesen, dass es sich um eine äußerst problematische Erklärsequenz handelt. Dies zeigt sich in verschiedenen Aspekten, z. B. gibt es auffallend viele Wiederholungen. So wird der Arbeitsauftrag „ihr sollt euch […] überlegen“ allein in den ersten 35 Zeilen sechs Mal reformuliert (vgl. Z. 13, 19, 24, 29, 32, 35). Darüber hinaus kommt es zu weiteren Reformulierungen, häufigen Satzabbrüchen, ungrammatischen Formulierungen und Reparaturen. Diese können zum Teil auf das schnelle Sprechtempo der Lehrerin zurückgeführt werden, sie sind aber auch ein Indikator für die sich als schwierig gestaltende Erklärung. Ein weiteres Indiz sind die (kritischen) Rückfragen der Schülerinnen, die sich auf Aspekte der Durchführung (Z. 54), auf die Aufgabenstellung (Z. 64), auf den Gegenstand selbst (Z. 84) bzw. auf alle diese Aspekte zusammen beziehen (vgl. Z. 101, in der eine Schülerin, nachdem bereits eine Stillarbeitsphase über mehrere Minuten stattgefunden hat, behauptet, sie habe „alles“ nicht verstanden). Schließlich kann auch die Abtönungspartikel einfach, so meine These, als Ausdruck der Bedrängnis der Lehrerin
17
Die komplette Sequenz befindet sich im Anhang.
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gedeutet werden. Um diese Behauptung plausibel zu machen, sollen im Folgenden die einzelnen Vorkommen von einfach detailliert untersucht werden. Mit Fischer/Diewald (1998) und Diewald (2007) gehe ich von der relationalen Bedeutung als „semantischer Basisstruktur“ von einfach aus und versuche darauf aufbauend die jeweilige lexemspezifische Bedeutung im konkreten Äußerungsgefüge zu ermitteln. Abgesehen von diesem Verweischarakter und von der vagen Intuition, dass in allen Fällen ein Bedeutungsaspekt der Adverb-/Adjektiv-Bedeutung von einfach mitspielt, d. h. eine der „Vollbedeutungen“ (≠ schwer/≠ schwierig/≠ kompliziert/≠ besonders, s. o.), lässt sich keine allgemeine Bedeutungsumschreibung geben, die auf alle Vorkommen von einfach in der obigen Sequenz anwendbar wäre. Zur Untersuchung werden aus diesem Grund zusätzliche Analysekriterien herangezogen: – Person – Tempus – Modalverben/Satzmodus – ggf. Kombination mit anderen Abtönungspartikeln/Sprachmaterial – inhaltliche Kriterien des propositionalen Gehalts – verbaler und nicht-verbaler Kontext – Intonation Die erste Verwendung von einfach tritt zu Beginn der Sequenz auf: (1) „einfach mal aufgelegt“ 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12
((Gemurmel, L legt OHF mit Schema der Dramenform auf)) sch::t; (3.0) L paulIna? Pau schuldigung; L ich hab euch HIER em ein klAssisches schema eines (.) :DRAmas (.) ? einfach mal aufgelegt= =ihr kriegt das auch gleich als em als koPIE, (.) jedes oder die MEISten dramen zu der zeit hambesteh=n aus fünf AKten? und sind genau so aufgebaut; was ihr jetzt MACHen sollt, L
Die Abtönungspartikel tritt hier in Verbindung mit der ersten Person und dem Vollverb „auflegen“ im Perfekt auf. Es handelt sich um einen Aussagesatz, und die Partikel wird, wie häufig in der gesprochenen Sprache, mit der Abtönungspartikel mal kombiniert (vgl. Zifonun et al. 1997:
„ich hab einfach gedacht“
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S. 614 f.),18 wobei beide unbetont sind. Aus pragmatischer Perspektive ist diese Aussage eine Beschreibung ihres Handelns: Die Lehrerin verbalisiert ihr Tun. Paraphrasiert man den Satz ohne Abtönungspartikeln („Ich habe euch hier ein klassisches Schema eines Dramas aufgelegt.“), so lässt sich die konkrete Abtönungsfunktion des tatsächlichen Satzes besser herausarbeiten. Die Lehrerin scheint damit eine Art Vorläufigkeit auszudrücken, was auch mit der Platzierung der Äußerung im kommunikativen Gefüge, nämlich direkt zu Beginn der Erklärsequenz, übereinstimmt. Die anschließende Äußerung in Zeile 8 bringt diese Vorlauffunktion zu ihrem eigentlichen Tun durch das Adverb „gleich“ explizit zum Ausdruck. Da Lehrerinnen häufig damit konfrontiert sind, dass Schülerinnen ihnen nicht aufmerksam zuhören, sondern sehr schnell die ungeduldige Frage aufkommt, was denn nun mit einem neuen Gegenstand/einer Übung/einer Aufgabe etc. zu tun sei, ist dies eine typische Erscheinung von schulischen Erklärinteraktionen. Die nicht-vertextete, aber relevante Proposition bzw. die „pragmatische präsupponierte Einheit“ (Diewald 2007, s. o.), an welche die Lehrerin hier durch die Äußerung anknüpft, ergibt sich also aus dem Erfahrungswissen der Lehrerin über diesen Situationstyp im Unterrichtsgeschehen. Der Kontext, in dem die Äußerung mit der Partikel steht, stützt diese Interpretation, denn die Äußerung der Lehrerin bildet den Einstieg in eine komplexe Erklärung, die in Zeile 12 einsetzt. Den Aspekt der Vorläufigkeit bringt die Lehrerin an diversen anderen Stellen der Erklärsequenz auch explizit mit Temporaladverbien zum Ausdruck: Z. 25: „ich erKLÄR=s aber gleich noch mal“, Z. 31: „wir besprechen nachher“, Z. 60: „nachher“, Z. 62: „wir brAUchen=s hinterher noch mal“, 63: noch=n paar sachen“, Z. 72: „wir beSPRECHen nachher“, Z. 85: „ich wollte eigentlich den aufbau HINterher besprechen“. Die auffällig häufige Referenz auf Vorläufigkeit ist meines Erachtens ein Ausdruck der problematischen Strukturierung dieser Erklärinteraktion. Im zweiten Beispiel liegt eine andere Verwendungsweise von einfach vor. (2) „einfach überlegen“ 27
L
28 29
L
30
18
?
<
Sie verzeichnen diese Kombination allerdings gerade nicht für den Aussagemodus, sondern für den Aufforderungs- und Wunschmodus.
132 31 32 33 34 35
Janet Spreckels wir besprechen nachher noch mal m –n klassischen drAmenaufbau, und ihr sollt euch überLEGen PRO kapItel oder PRO AKT, das sind normalerweise mehrere szenen, braucht ihr jetzt aber alles nicht MAchen= =ihr sollt euch nur=ne HANDlung überlegen;
Die Verwendung der 2. Person Plural mit dem Modalverb sollen (und dem Vollverb überlegen) zeigt den Aufforderungsmodus dieser Äußerung an. Es handelt sich um eine klassische Instruktionshandlung, wie sie für den Schulunterricht und speziell für Aufgabenerklärungen typisch ist. Warum erfolgt hier jedoch die Abtönung durch einfach? Ein wichtiger Hinweis auf die Semantik und Pragmatik dieser Verwendung von einfach ergibt sich durch die sequentielle Analyse der Vorgängeräußerungen, denn die Instruktion in Zeile 29 ist die vierte von sechs Reformulierungen ihres Arbeitsauftrags „ihr sollt (…) euch (…) überlegen“. Hatte die Lehrerin den Auftrag ursprünglich ohne Abtönungspartikel formuliert (Z. 13), so modifiziert sie ihn in Zeile 19 mit praktisch und spezifiziert ihn gleichzeitig mit selber. In Zeile 24 reformuliert sie den Auftrag mit dem Wörtchen nur; diese Formulierung wiederholt sie in Zeile 35 wortwörtlich.19 All die sprachlichen Modifizierungen in den Zeilen 19, 24, 29 und 35 haben eine abtönende Funktion. Ebenso wie nur den Inhalt der Aufgabenstellung einschränkt, bewirkt die Konstruktion einfach hier eine Einschränkung der Aufgabe. Abgetönt wirkt sie „harmloser“ und beinhaltet den Appell an die Schülerinnen, sich von der (in Wirklichkeit nämlich äußerst anspruchsvollen und komplexen) Aufgabe nicht einschüchtern zu lassen. Es schwingt hier ein Teil der Vollsemantik des Adjektivs (im Sinne von „≠ kompliziert“) mit. Gleichzeitig positioniert sich die Lehrerin auf diese Weise zu ihrer Aufgabenerklärung, wobei nicht ersichtlich ist, ob sie mit den auffällig vielen Abtönungen auf einen erwarteten Einspruch der Schülerinnen reagiert, oder nicht vielmehr auf ihre allmählich einsetzende, eigene Erkenntnis, dass die Aufgabe gar nicht so „einfach“ ist, wie sie hier dazustellen versucht. In jedem Fall leistet sie einiges, um den Umfang und den Anspruch der Aufgabe zu relativieren, z. B. durch Adversativkonstruktionen („nicht x, sondern nur y“, vgl. Z. 21, 23/24, 34/35, 127/128). Diese Einschränkung wird später in der Schülerinnenerklärung (Z. 110/111) aufgegriffen. 19
Da das semantische Bezugselement hier „ne handlung“ („und kein ganzes Drama“) ist, handelt es sich bei nur um eine Fokuspartikel und nicht um eine Abtönungspartikel mit Satzskopus. Auch für einfach lässt sich in Zeile 22 diskutieren, ob es sich nicht um ein Modaladverb handelt, welches sich auf das Verb überlegen bezieht.
„ich hab einfach gedacht“
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Gemeinsam haben die beiden bisher genannten Verwendungsweisen von einfach, dass sie jeweils unmittelbar nach einer nonverbalen Handlung auftreten. In Zeile 7 schließt die Äußerung mit der Partikel einfach an das Auflegen der Folie an, in Zeile 29 an das Fokussieren des Tageslichtprojektors. Einfach könnte daher auch als eine Art „verbaler Einstieg“ in eine neue Sprechhandlung fungieren.20 Ähnlich wie in Beispiel (2) handelt es sich bei den beiden folgenden Verwendungen von einfach ebenfalls um Instruktionshandlungen. (3) „einfach hinten drauf“ 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
L
=also wirklich nur stichpunktartig WAS passiert; ja? Sm1 die soll=n wir da: REINquetschen? [(also da-)] L [ihr könnt ]auch=n EXtrablatt nehmen; <
Wieder ist die Aufforderung an die Schülerinnen (2. Ps. Plural) gerichtet. In der ersten Äußerung wird das Modalverb „können“ verwendet, im zweiten ein Imperativ. Franck (1980: S. 243) weist darauf hin, dass Sätze, die illokutiv als Aufforderungen erscheinen, durch die Konstruktion einfach zu Ratschlägen abgemildert werden. Diese pragmatische Funktion könnte auch im vorliegenden Fall eine Rolle spielen. Beide Male geht es um einen „einfachen“ Lösungsvorschlag für ein Problem.21 Der sequentielle Entstehungskontext unterscheidet sich insofern von den vorangegangenen Beispielen, als dass die relevante Proposition, auf die mit der Abtönungspartikel unmittelbar reagiert wird, hier sehr wohl expliziert wird. Die Äußerung der Lehrerin stellt eine Replik auf die Frage des Schülers (Z. 54) dar. Das umgangssprachliche Wort „reinquetschen“ verleiht der Frage eine negative Wertung, es impliziert den Vorwurf, dass für die schriftliche Bearbeitung der Aufgabe in dem von der Lehrerin vorgege20 21
Dieser mögliche Zusammenhang müsste allerdings an weiteren Beispielen überprüft werden. Zifonun et al. (1997: S. 1231) zeigen an einem ähnlichen Satz auf, dass neben der Deutung von einfach als Abtönungspartikel auch noch die eines adjektivischen Adverbials möglich sei. Ich neige dazu, das einfach hier als Abtönungspartikel zu sehen, womit es die Behauptung insgesamt als einfache Lösung eines Problems qualifiziert.
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benen Schema nicht genug Platz sei. Die Überlappung in den Zeilen 55/56 ist ein Hinweis darauf, dass die Lehrerin sich besonders bemüht, rasch mit einem Lösungsvorschlag auf das aufgeworfene Problem zu reagieren. Sie spricht diese Passage besonders schnell und macht kaum Pausen zwischen den einzelnen Äußerungen, wie die vielen unmittelbaren Anschlüsse zwischen den Konstruktionseinheiten zeigen. Mittels einer Apokoinukonstruktion in Zeile 56–58 schlägt sie sogar zwei Lösungen vor: ein Extrablatt zu nehmen oder auf der Rückseite des Arbeitsblattes weiter zu schreiben.22 Wieder erfolgt mit dieser Antwort auch eine Positionierung. Mit seiner Nachfrage weist der Schüler die Lehrerin auf ein Defizit bei ihrer Aufgabenstellung hin und bringt sie damit in eine gesichtsbedrohende Situation. Verschiedene Reaktionen wären nun denkbar gewesen, u. a. ein Eingeständnis der zu wenig durchdachten Aufgabenstellung. Indem die Lehrerin jedoch zwei Mal den Ausdruck einfach wählt, spielt sie den Einwand herab und geht in die Defensive. Auf diese Weise positioniert sie sowohl sich selbst als auch den Schüler zum aufgeworfenen Problem. Ihre anschließende Äußerung deckt jedoch abermals die mangelnde Strukturierung ihrer Aufgabe und der Unterrichtsstunde allgemein auf, denn es zeigt sich, dass die Schülerinnen die Aufgabe sogar so ausführen müssen, wie es sich durch die zufällige Rückfrage ergeben hat, da sie „dieses schema nachher auch noch BRAUchen“ (Z. 60). Obwohl die Lehrerin nun vermutlich selbst Defizite erkennt, versucht sie weiterhin den Eindruck aufrecht zu erhalten, die Aufgabe sei „einfach“ (im Sinne von „≠ kompliziert“) durchzuführen. Der folgende Ausschnitt erfolgt nach der Stillarbeitsphase der Schülerinnen. (4) „ich hab einfach gedacht“ 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
22
L
bevor ich jetzt zu jedem EINZELN gehe= =und glaub ich immer dieselben frAgen beantwortewo ist d- ein verSTÄNDnisproblem? was wolltest du grad frAgen alex? Al für was is des DREIeck? L ? ((lacht lautlos)) <
Franck (1980: S. 241) arbeitet einen ähnlichen Bedeutungstypus heraus, bei dem das einfach in der Antwort impliziert, dass die Adressatin eventuell eine andere kompliziertere Antwort erwartet haben könnte.
„ich hab einfach gedacht“ 91 92 93 94 95
Sm L
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dass MEIStens im drItten akt; dann auch der HÖhepunkt kommt, ((macht Trickfilmgeräusch)) DESwegen hab ich des so spitz gemacht, ((deutet mit der Hand Dreieckform an))
Die Rückfragen der Schülerinnen veranlassen die Lehrerin dazu, die Stillarbeitsphase zu unterbrechen und die gesamte Klasse noch einmal zur Aufmerksamkeit aufzurufen. Die Schülerfrage in Zeile 84 zeigt, dass die Basis für die Bearbeitung der Aufgabe, nämlich das Schema, hinterfragt wird. Der Junge versteht nicht, warum die Handlungsskizze in dieses „DREIeck“ eingetragen werden soll, womit das sich zuvor bereits abzeichnende Problem mit der Aufgabenstrukturierung nun ganz offenkundig wird. Das lautlose Lachen der Lehrerin weist darauf hin, dass sie erkennt, wie grundlegend diese Frage ist, und ihre Verlegenheit zum Ausdruck bringt. Ihre folgende Äußerung ist aus pragmatischer Sicht keine direkte Antwort auf die Verständnisfrage des Schülers, sondern eine klassische Begründung bzw. in ihrer Gesamtheit eine Rechtfertigung.23 Die Lehrerin erläutert den Schülerinnen ihr ursprünglich geplantes Vorgehen, „ich wollte eigentlich den aufbau HINterher besprechen“, von dem sie nun aber abweichen muss. Dies wird durch die Abtönungspartikel bzw. das Satzadverb eigentlich in Zeile 85 markiert. In Form einer für Erklärhandlungen typischen wenn-dann-Konstruktion24 begründet sie ihr didaktisches Vorgehen damit, dass sie sich von der Schemavorgabe eine Erleichterung für die Schülerinnen versprochen hatte. Die aktuelle Situation zeigt jedoch, dass die Vorgabe genau das Gegenteil bewirkt hat, nämlich große Verwirrung stiftet. Diese versucht die Lehrerin abzuschwächen, indem sie ihre Aussage in Zeile 86 abermals mit der Partikel einfach abtönt. Die Tatsache, dass diese Passage, ebenso wie das Beispiel (3), besonders schnell gesprochen wird und kaum Pausen eingelegt werden, könnte ein Hinweis auf die zunehmende Rechtfertigungsnot der Lehrerin sein. Wie im ersten Beispiel handelt es um eine Art „account“ (vgl. Heritage 1988), d. h. eine Begründung für ihr eigenes Handeln, die auch syntaktisch dem ersten Beispiel ähnlich ist. Wie in den vorangegangenen Beispielen schwingt hier wieder die Vollbedeutung des Adjektivs mit, denn die von der Lehrerin gewählten Begriffe einfach und leichter stellen das Gegenteil zu der von den Schülerinnen wiederholt aufgezeigten Kompliziertheit und Komplexität der Aufgabenstellung dar. Noch immer gesteht sie mögliche Planungsfehler nicht explizit 23 24
Auch Franck (1980: S. 242) arbeitet Fälle heraus, in denen Formulierungen mit einfach zur Rechtfertigung oder Erklärung einer Handlung des Sprechers dienen. Vgl. Rehbein (1984).
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ein. Stattdessen versucht sie, die Position aufrecht zu erhalten, dass die Aufgabe zumindest in der Planung unkompliziert war. Mit ihren folgenden Ausführungen versucht sie zu begründen („weil“, Z. 90, „deswegen“, Z. 94), dass sie sich beim Stundenablauf etwas gedacht hat. Die letzte Verwendung von einfach in dieser Sequenz erfolgt wieder im Zuge einer Instruktionshandlung. (5) „einfach nur=ne HANDlungsskizze“ 124 L 125 126 ? 127 128 129 130 131 132 133
jetzt überlegst du dir? (2.0) pro: (.) kapitel WAS könnte passieren? einfach nur=ne HANDlungsskizze= =gar nicht ausformulier=n= =nur (.)paar sätze was ma- was passIERT da? ((Iris verzieht das Gesicht)) erstes kapitel als BEIspiel em- (–) familie sitzt am tIsch (.) beSPRICHT (.) <
Vorausgegangen war die Aussage einer Schülerin, sie habe „ALLes“ nicht verstanden (Z. 101), woraufhin die Lehrerin eine Mitschülerin die Aufgabe erklären lässt. Die Lehrerin knüpft daran an, indem sie auf einen Text als Hilfestellung verweist. Syntaktisch handelt es sich in Zeile 126 um eine elliptische Äußerung bzw. eine Fortführung des imperativischen Aufforderungssatzes von Zeile 124: „jetzt überlegst du dir … einfach nur=ne HANDlungsskizze“. In diesem Fall formuliert die Lehrerin in der zweiten Person Singular, weil sich die Aufforderung an eine konkrete Schülerin richtet. Inhaltlich wiederholt sie hier ihre Instruktion aus Zeile 24 und 35: „ihr soll euch nur=ne handlung überlegen“. Verglichen mit den Vorgängeräußerungen schwächt sie diese, am Ende der Erklärsequenz, auf lexikalischer Ebene noch weiter ab. Neben der Konstruktion einfach enthält der Satz zwei Mal die Partikel „nur“, aus der Handlung wird eine Handlungsskizze, diese Formulierung wird noch weiter reduziert in „nur (.) paar sätze“. Weiterhin wird die tatsächliche Aufgabe abermals mit einer nicht geforderten (schwierigeren) kontrastiert: „gar nicht ausformulier=n“ (Z. 127). All diese sprachlichen und rhetorischen Mittel dienen dazu, die geforderte Aufgabe als „einfach“ darzustellen. Auf diese Weise positioniert sich die Lehrerin zu der Aufgabenstellung und gleichzeitig zu den Einwänden der Schülerinnen. Je höher der Druck auf sie wird, desto mehr tendiert sie dazu, die Aufgabe zu relativieren. Indem sie auf ihrer Einstellung beharrt, dass die von ihr gestellte Aufgabe „einfach“ sei, drängt sie die Schülerinnen in die Position, unnötig kompliziert zu denken.
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In sämtlichen Erklärinteraktionen dieser Lehrerin fällt auf, dass sie die Abtönungspartikel einfach fast ausschließlich in metakommunikativen Äußerungen einsetzt und kaum, wenn es um Erklärinhalte geht. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Beispiel 6 (aus einer anderen Sequenz): (6) „nich einfach heiraten“ 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Sm1 SKLAven? so=was wie SKLAven oder so? L also vielleicht nich GANZ so extrem aber (-) ähm (––) schon so dass sie zum BEIspiel; ? sie durften nich einfach HEIratensie mussten ihren herrn FRAgen ob sie die und die frau HEIraten [dürfen: Sm1 [ja aber((S1 meldet sich)) L ? die durften nich einfach WEGziehn; sie durften nicht sagen= =ich will da jetzt woanders HIN (-–-) und so weiterja?
Hier erklärt die Lehrerin den Schülerinnen das Wort „Leibeigene“. Um zu veranschaulichen, wie wenig Rechte sie hatten, verwendet sie zwei Mal die Konstruktion nich einfach + Verb (Infinitiv). Die nicht-vertextete, aber relevante Proposition, an welche die Lehrerin mit dieser Konstruktion anknüpft, ist, dass Menschen heutzutage sehr wohl heiraten bzw. wegziehen dürfen. In dieser Verwendung ist der Aspekt der Positionierung weniger relevant als in den vorangegangen Beispielen. In den metakommunikativen Erklärsequenzen meines Korpus, in denen die Partikel einfach verwendet wird, konnten in erster Linie die beiden Sprechhandlungen herausgearbeitet werden, die auch in den oben diskutierten Bespielen auftraten: Einerseits lassen sich Aussagesätze beobachten, in denen die erklärende Person ihr eigenes Handeln erklärt bzw. begründet oder gar rechtfertigt. Bei diesen Begründungen bzw. „Selbsterklärungen“ verwendet die Lehrerin das Perfekt, denn es geht um bereits vollzogene Handlungen. Die syntaktische Struktur ist folgendermaßen: Personalpronomen (1. Ps. Sg.) + finites Verb + Abtönungspartikel(n) + infinites Verb, d. h. die Abtönungspartikel steht jeweils im Mittelfeld (vgl. Beispiel 1 und 4). Die zweite erklär-affine Sprechhandlung, die in meinem Datenkorpus häufig zu beobachten ist, lässt sich am treffendsten als Aufforderung oder Instruktion (an die Lernenden) bezeichnen, wie sie häufig in schulischen
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Erklärkontexten auftreten.25 Auch in diesen Fällen steht das einfach im Mittelfeld und wird entweder vom Modalverb („können“ oder „sollen“ in der 2. Ps. Pl.) und dem infiniten Prädikatsteil umklammert (vgl. Beispiele 2 und 3), oder die Abtönungspartikel folgt dem Imperativ (vgl. Beispiel 3) bzw. dem Verb im Indikativ Präsens (Beispiel 5).26 Da sowohl Begründungen/Rechtfertigungen als auch Aufforderungen eine besondere Beziehung der Interaktionsparterinnen beinhalten (z. B. im Vergleich zu Sachinformationen), ist es nicht verwunderlich, dass in all diesen Sprechhandlungen auch eine Form der Positionierung (u. a. mittels einfach) vollzogen wird. Abschließend soll noch eine Sequenz untersucht werden, in denen ein Schüler seinen Mitschülerinnen etwas erklärt. (7) „mal ne gAnz einfache frage“ 03
Sm1
04 05 06 07 08 09 10 11 12 1. 13 14
?
15 16
25
Sm2
Sm2?
und (–) am nachmittag dann=en WORKshop oben bei denen ähm zum thema eVENT marketing; (1.0) mal ne gAnz einfache frage; was stellt ihr euch (-) ähm ((macht Zeigegeste, blickt in die Runde)) unter eVENT marketing vor? ((Zeigegeste)) ((meldet sich und schnipst mit den Fingern)) <
Anders als Diewald (2008) es für die Modalpartikel ruhig herausarbeitet, lässt sich einfach in sämtlichen direktiven Sprechakten anwenden. Zwar gibt es Kontexte, in denen die Abtönungspartikeln ruhig und einfach austauschbar wären (z. B. „Ihr könnt einfach/ruhig hinten drauf schreiben.“). Ruhig ist jedoch „auf bestimmte Typen von Erlaubnissen, Ratschlägen, allgemeinen Empfehlungen beschränkt“ (Diewald 2008: S. 42) und tritt daher – anders als einfach – allgemein eher mit den Modalverben können und dürfen auf, seltener mit sollen und vermutlich gar nicht mit müssen. Erklärkontexte sind jedoch eher geprägt von direkten Aufforderungen und Anweisungen, so dass in meinem Korpus die Partikel einfach sehr viel häufiger Verwendung findet als ruhig. Ebenso wie mit einfach reagiert eine Sprecherin mit ruhig auf eine im Raum stehende Annahme, die sich im Falle von ruhig – z. B. in einem Satz wie „Du kannst/darfst ruhig rein kommen.“ – folgendermaßen formulieren ließe: „im Gegensatz zu deiner/irgendjemandes Erwartung … habe ich keine Einwände“ (ebd.). Auch hier liegt natürlich eine Form der Positionierung vor. 26 Diese syntaktische Struktur trifft dann zu, wenn man Zeile 126 als Fortführung der Äußerung in Zeile 124 betrachtet.
„ich hab einfach gedacht“ 17 18
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((SM3 meldet sich, schnipst mit den Fingern)) (und SO was );
Hier übernimmt Schüler1 die Funktion der Lehrperson, denn er berichtet vor der Klasse über sein Berufspraktikum in einer Werbeagentur. Bevor er den Begriff des „Event Marketing“ selbst erklärt, holt er die Meinung seiner Mitschülerinnen ein. Indem er die Frage als eine „gAnz einfache“ bewertet, positioniert er sich zu seinem Erklärgegenstand.27 Gleichzeitig signalisiert der Schüler damit den Mitschülerinnen, dass sie in der Lage sein sollten, den Begriff zu erklären, bewirkt also auch eine Fremdpositionierung. Es ist zu vermuten, dass die Abtönungspartikel im Erklärversuch von Schüler2 das Adjektiv einfach aus der Bewertung der Frage durch Schüler1 (Z. 4) aufgreift. Obwohl die folgende spontane Erklärung des Begriffs durch viele Heckenausdrücke markiert ist („vielleicht“, „irgendwelchen“, „irgendwelche“, „also“) und dadurch vage und unklar wirkt, versucht der Mitschüler durch die Konstruktion einfach der Vorgabe von Schüler1 zu entsprechen.28 Zwar verwendet Schüler2 die Abtönungspartikel einfach hier nicht im Rahmen eines Metakommentars, aber die Schülererklärung zeigt, dass die Konstruktion einfach (Z. 13) aus pragmatischer Sicht in ganz ähnlicher Funktion eingesetzt wird wie von der Lehrerin. Etwas, das offenkundig schwierig ist, wird metasprachlich als einfach deklariert, vermutlich um von tatsächlichen Bewältigungsschwierigkeiten abzulenken.
5. Schlussbetrachtung Sämtliche in meinem Korpus analysierten Fälle von einfach sind unbetont, wie es in der Forschungsliteratur mehrheitlich für Partikeln angenommen wird. Darüber hinaus sind jedoch in der gesprochenen Sprache durchaus Fälle denkbar, in denen die Abtönungspartikel einfach betont vorkommen kann, z. B. in Vorwürfen wie „Könntest du nicht EINFACH mal tun, was ich dir sage?“, die jedoch in meinem Korpus nicht auftreten. Alle Vorkommen von einfach in meinen Daten treten im Mittelfeld auf, wie es in der Definition von Diewald (2007) angeführt wird. Auch in der Schülererklä27
28
Da Adjektive die Funktion haben, Personen oder Dinge näher zu beschreiben, liegt es auf der Hand, dass zumindest die qualifizierenden und die quantifizierenden Adjektive (vgl. Duden-Grammatik 2005: S. 346 ff.) die Sprecherin immer in irgendeiner Weise zum Beschriebenen positionieren. Auch das Wort jetzt (Z. 14) fungiert hier nicht als Temporaladverb, sondern gesprächsstrukturierend, wie Imo (2008) es für das „partikelhafte Wort“ jetzt in der gesprochenen Sprache herausgearbeitet hat.
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rung steht einfach im Mittelfeld, weil die linke Klammer dieses Nebensatzes mit der Subjunktion „dass“ belegt ist. Alle Beispiele haben gezeigt, dass eine oder mehrere der Vollbedeutungen des Adjektivs einfach auch in der Abtönungspartikel mitschwingen. Die Semantik von einfach ist also, wie in der Forschungsliteratur beschrieben, noch nicht so verblasst wie bei den zentralen Abtönungspartikeln. Häufig wird die Konstruktion einfach jedoch gerade dann eingesetzt, wenn kommunikativ interaktionale oder inhaltliche Schwierigkeiten bewältigt werden müssen. Es besteht also ein Gegensatz zwischen dem, was beobachtbar passiert, und dem, was Sprecherinnen vorgeben. Die wiederholte Verwendung von einfach in der sichtlich problematischen Erklärsequenz der Lehrerin drückt ihr Ringen darum aus, die gestellte Aufgabe als einfach darzustellen, was ihr aber nicht gelingt. Man könnte aufgrund meiner Daten sogar behaupten, dass die Abtönungspartikel einfach ein Indikator für kommunikative Schwierigkeiten, d. h. genau das Gegenteil von „Einfachheit“, ist. Diese Beobachtung lässt sich auch auf andere schulische Erklärinteraktionen übertragen und ist keine Besonderheit im Verhalten der Lehrerin aus meinem Datenkorpus.29 Da Erklärungen auf beobachtbaren Erklärerfolg (in Form der reibungslosen Aufgabenbewältigung, der Lernkontrolle etc.) abzielen, bringt die Erklärinteraktion für Erklärende potentiellen Gesichtsverlust mit sich, wenn dieser Erfolg ausbleibt. Statt Probleme zuzugeben, versuchen Lehrende in meinem Korpus u. a. mithilfe der Konstruktion einfach, diese herabzuspielen. Innerhalb von Erklärhandlungen wird sie daher häufig in Äußerungen verwendet, in denen die erklärende Person eine Begründung oder Rechtfertigung für ihr Handeln zum Ausdruck bringt bzw. in denen sie Probleme bei einer Aufgabenerklärung zu entkräften versucht. Die Analyse hat gezeigt, dass für Erklärinteraktionen neben der relationalen Basisstruktur von einfach in den meisten Fällen die spezifischere Komponente der Positionierung – und zwar der Selbst- und Fremdpositionierung – herausgearbeitet werden konnte. Mithilfe der Konstruktion einfach geben Sprecherinnen die Verantwortung an das Gegenüber ab: Wenn als „einfach“ deklarierte Sachverhalte nicht verstanden werden, muss die Rezipientin den Fehler bei sich suchen. Günthners Forderung, sprachliche Strukturen „in ihrer sequentiellen, kontextbezogenen und lebensweltlich verankerten Verwendung“ zu ana29
So zeigen z. B. die (bislang unveröffentlichten) Daten zum Biologieunterricht am Gymnasium von Inga Harren, dass einfach von Lehrerinnen in Erklärinteraktionen z. B. dann eingesetzt wird, wenn die Schülerinnen aufgrund vieler Fachbegriffe den Überblick zu verlieren drohen. Auch hier markiert einfach damit ein problematisches Moment in der Interaktion. Ich danke Inga Harren für die Bereitstellung ihrer Daten.
„ich hab einfach gedacht“
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lysieren (2006: S. 1), scheint ganz besonders auch für Partikeln zu gelten. Da Abtönungspartikeln typisch für den Diskurs sind und sie dort vielfältige Funktionen einnehmen können, kann eine umfassende Analyse ihrer diskursiven und pragmatischen Bedeutung nur auf der Basis von empirischem Datenmaterial stattfinden, wie sie für die peripheren Abtönungspartikeln bislang kaum durchgeführt wurde.30 Literatur Abraham, Ulf, Sprechen als reflexive Praxis. Mündlicher Sprachgebrauch in einem kompetenzorientierten Deutschunterricht, Freiburg 2008. Autenrieth, Tanja, Heterosemie und Grammatikalisierung bei Modalpartikeln. Eine synchrone und diachrone Studie anhand von eben, halt, e(echer)t, einfach, schlicht und glatt, Tübingen 2002. Croft, William, Radical Construction Grammar. Syntactic Theory in Typological Perspective, Oxford 2001. Croft, William/Cruse, Alan D., Cognitive Linguistis, Cambridge 2004. Davies, Bronwyn/Harré, Rom, „Positioning: The Discursive Production of Selves“, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 20/1990, 1, S. 43–63. Deppermann, Arnulf, Grammatik und Semantik aus gesprächsanalytischer Sicht, Berlin, New York 2007. Diewald, Gabriele, „Abtönungspartikel“, in: Ludger Hoffmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wortarten, Berlin, New York 2007, S. 117–141. Diewald, Gabriele/Fischer, Kerstin, „Zur diskursiven und modalen Funktion der Partikeln aber, auch, doch und ja in Instruktionsdialogen“, in: Linguistica 38/1998, S. 75–99. Diewald, Gabriele, „Die Funktion ‚idiomatischer‘ Konstruktionen bei Grammatikalisierungsprozessen – illustriert am Beispiel der Modalpartikel ruhig“, in: Anatol Stefanowitsch/Kerstin Fischer (Hrsg.), Konstruktionsgrammatik II. Von der Konstruktion zur Grammatik, Tübingen 2008, S. 33–57. Doherty, Monika, Epistemische Bedeutung, Berlin1985. Duden, Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache. 8 Bde, Mannheim 1999. Dudenband 4 – Die Grammatik, Mannheim 2005. Eisenberg, Peter, Grundriß der deutschen Grammatik, Stuttgart 1994. Eisenberg, Peter, Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2. Der Satz, Stuttgart 1999. Eisenberg, Peter, Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2. Der Satz, Stuttgart 2004. Franck, Dorothea, Grammatik und Konversation, Königstein/Ts. 1980. Gohl, Christine, Begründen im Gespräch. Eine Untersuchung sprachlicher Praktiken zur Realisierung von Begründungen im gesprochenen Deutsch, Tübingen 2006. Günthner, Susanne, „die Sache ist…“: eine Projektorkonstruktion im gesprochenen Deutsch“, in: gidi-Arbeitspapier Nr. 3, 10/2006. 30
Diewald/Fischer (1998) basieren ihre Untersuchung zwar auch auf natürlichen spontansprachlichen Dialogen, aber sie behandeln die Partikeln aber, auch, doch und ja, die dem Kernbereich der Abtönungspartikeln zuzuordnen sind. Ein Beitrag zur Partikel ruhig von Diewald ist im Erscheinen.
142
Janet Spreckels
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„ich hab einfach gedacht“
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Anhang: Transkript „Fünf Akte“ (transkribiert nach GAT, Selting et al. 1998) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
L L Pau L
((Gemurmel, L legt OHF mit Schema Dramenform auf)) sch::t; (3.0) paulIna? schuldigung; ich hab euch HIER em ein klAssisches schema eines (.) :DRAmas (.) einfach mal aufgelegt= =ihr kriegt das auch gleich als em als koPIE, (.) jedes oder die MEISten dramen zu der zeit hambesteh=n aus fünf AKten? und sind genau so aufgebaut; was ihr jetzt MACHen sollt, ihr sollt em euch überLEGen was ihr em
144
Janet Spreckels
25 26
27
L
28 29
L
30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Sm1 L
=ich erKLÄR=s aber gleich noch mal; ((L teilt restliche Arbeitsblätter aus, Gemurmel der SuS; ca. 2 Minuten später: L legt neue Folie auf OHP mit Arbeitsanweisung für die SuS auf)) <
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Sm2 Rob L
Sw L
L
L
Al L
Sm L Fel L m L Iris
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also ihr solltet es nicht GANZ voll ma(h)len= =wir brAUchen=s hinterher noch mal= =wir schreiben da noch=n paar sachen rein; <
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Janet Spreckels L Iris L Pau
L
Pau L Sw L
Mar L Mar L
pph Alles gibt=s nicht; ganz konKRET, ja was wir :MACHen soll=n? paulina? ja wir müssen halt irgendwie: emin fünf sätzen jewei::ls em. halt. was daZU schreiben, also praktisch. (1.0) also nicht SELbst=n drama schreiben aber halt em (.) so: idEEN halt aufschreiben; <
(ii) „Elliptische“ Konstruktionen als Ressourcen für Positionierungsaktivitäten
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen der Positionierung1 Susanne Günthner DOMIAN (17.3.2004) 1 Dom: SO ihr lieben; 2 schÖ:n dass ihr DA seid. 3 willkommen bei DOmian, „irre dass du dich jetzt grad meldest“ (E-Mail-Kommunikation)
1. Einleitung SprecherInnen verwenden in Interaktionen unterschiedliche Mittel, sich bzw. ihre Äußerungen zu positionieren. Im vorliegenden Beitrag möchte ich auf eine Konstruktion eingehen, die Interagierende zum Ausdruck ihres Standpunktes in informellen Kontexten immer wieder verwenden. Diese kann als sedimentiertes Muster zur Durchführung spezifischer kommunikativer Aufgaben betrachtet werden, auch wenn sie von den Regeln der deutschen Standardgrammatik abweicht: die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion vom Typ „schÖ:n dass ihr DA seid.“ bzw. „irre dass du dich jetzt grad meldest“. Auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung dieser Konstruktion werde ich den Zusammenhang zwischen grammatischen Strukturen und interaktionalen Phänomenen in der kommunikativen Praxis aufzeigen. Hierbei sollen u. a. folgende Fragen aufgegriffen werden: – Welche formalen Merkmale weist die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion im gesprochenen Deutsch auf? – Welche Funktionen hat sie in der Interaktion?
1
Peter Auer, Jörg Bücker, Sandra Dertenkötter, Wolfgang Imo, Andreas Ulrich und Lars Wegner danke ich für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. Die Untersuchung ist im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes „Grammatik in der Interaktion: Zur Realisierung fragmentarischer und komplexer Konstruktionen im gesprochenen Deutsch“ entstanden.
150
Susanne Günthner
–
Handelt es sich um eine Ellipse, und wenn ja, wie sieht die entsprechende Vollform aus? – In welcher Beziehung steht sie zu verwandten Konstruktionen wie Extrapositionen mit es („es ist schön, dass ihr da seid“), Exklamativkonstruktionen vom Typ „wie Adjektiv + dass-Satz“ („wie schön, dass du da bist!“), bewertenden Adjektivphrasen („schön.“) etc.? Die Studie basiert auf Audiodaten (Gespräche von insgesamt 27 Stunden), die in den Jahren 1989–2006 aufgezeichnet wurden. Dabei handelt es sich um informelle Face-to-face-Interaktionen im Familien- und Freundeskreis, institutionelle Gespräche (genetische Beratungsgespräche und Beratungssendungen im Radio), universitäre Sprechstundengespräche,2 Interaktionen aus der Fernsehserie „Big Brother“ sowie Gespräche im Kontext einer Fortbildung für FlugbegleiterInnen3. Darüber hinaus habe ich Daten aus dem Internet (aus E-Mail-Kommunikationen, Chats, Newsgroups, Blogs etc.) hinzugezogen.
2. Die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion als Mittel der Positionierung Syntaktisch auffällig an Äußerungen wie „schÖ:n dass ihr DA seid.“ bzw. „irre dass du dich jetzt grad meldest“ ist zunächst einmal, dass ein durch die Subjunktion dass eingeleiteter Komplementsatz (ein Subjektsatz) einem (prädikativ gebrauchten) Adjektiv folgt; d. h. im Gegensatz zu „Subjektsätzen bei Kopulakonstruktionen“ (Zifonun et al. 1997: S. 1451) bzw. Extrapositionen mit es (Günthner 2007a) wie „es ist unglaublich, dass man das überleben kann“ ist im Fall der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion der „Matrixsatz“ auf eine Adjektivphrase (wie „schÖ:n“, „irre“ etc.) reduziert.4 Topologisch betrachtet weist die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion folgende Struktur auf:5
2 3 4 5
Dorothee Meer danke ich für die Bereitstellung dieses Korpus. Für die Bereitstellung dieser Daten danke ich Kirstin Nazarkiewicz. Hierzu auch Oppenrieder (1991: S. 261), der die Frage stellt, inwiefern es sich bei dieser Konstruktion noch um einen „Subjektsatz“ handelt. Zur Gruppe der „Adjektiv + Komplementsatz“-Konstruktionen gehören auch Strukturen, bei denen der dem Adjektiv folgende Komplementsatz durch eine temporale oder konditionale Subjunktion („wenn“ bzw. „falls“) bzw. durch ein Fragepronomen eingeleitet wird („gut, wenn er das dann auch tatsächlich macht!“; „unklar, warum sie das wissen will“, etc.).
151
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
Vorfeld
Finitum
Mittelfeld
Infiniter VK
Nachfeld
schÖ:n
dass ihr DA seid.
irre
dass du dich jetzt grad meldest
Die IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: S. 440) wie auch Oppenrieder (1991: S. 261) betrachten diese Konstruktion aufgrund der unbesetzten Felderpositionen als Ellipse, bei der das Kopulaverb sowie das Korrelat es getilgt sind. Auch Sprachberatungsstellen klassifizieren sie als „elliptischen Satz“, der um die „mitgedachten“ Elemente es sowie das Kopulaverb (eine Form von sein) „zur Vollform zu ergänzen“ sei (so die Auskunft der Sprachberatungsstelle des Germanistischen Instituts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 7.1.2008 sowie die Sprachberatungsstelle des Duden am 11.1.2008). Die entsprechenden „Vollformen“ wären somit:6 Vorfeld
Finitum
Mittelfeld
Infiniter VK
Nachfeld
es
ist
schÖ:n
dass ihr DA seid.
es
ist
irre
dass du dich jetzt grad meldest
Im Gegensatz zu diesen „Vollformen“ setzt die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion mit dem Mittelfeldelement ein; die Topik- und Verbpositionen bleiben unbesetzt. Im Folgenden sollen nun einleitend einige Gesprächsausschnitte, in denen diese Konstruktion auftritt, genauer beleuchtet werden. Auffällig im vorliegenden Datenmaterial ist, dass sie immer wieder in Begrüßungssequenzen eingesetzt wird. So verwendet auch Domian in seiner Radiosendung die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion u. a. zur Begrüßung der HörerInnen und Anrufenden, wobei es sich meist um Varianten von „schön, dass Ihr da seid“ handelt: DOMIAN (16.10.2007) 1 Dom .hh hier ist die MElanie; 2 auch eine ganz JUNge, 3 (.)
6
Theoretisch möglich wären sicherlich auch „Vollformen“ wie „schön ist es, dass ihr da seid“ bzw. „irre ist es, dass du dich grad meldest“. Da diese Formen jedoch im Datenmaterial nicht auftreten, werden sie nicht berücksichtigt.
152 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Susanne Günthner
Mel: Dom: Mel:
eine ganz junge FRAU; ein junges MÄdel noch; f äh FÜNFzehn jahre; hAllo MELanie; ja HALlo. schön dass du DA bist, =um was GEHTS bei dir? ja also ich war letztes JAHR? im sommer war ich im URlaub?
DOMIAN (17.3.2004) 1 Dom: SO ihr lieben; 2 schÖ:n dass ihr DA seid. 3 willkommen bei DOmian, 4 willkommen beim eins live (.) talk radio= die DIENStagNACHTausgabe, DOMIAN (22.7.2003) 1 Dom: .hh ja meine lieben 2 SCHÖN dass ihr da seid3 willkommen bei DOmian, 4 willkommen beim EIns live talk radio zu unserer MONTAG ausgabe,
Betrachtet man die vorliegenden Äußerungen „schön dass du DA bist,“, „schÖ:n dass ihr DA seid.“ bzw. „SCHÖN dass ihr da seid-“ im Verlauf ihrer Produktion, so liefert der Sprecher mit einem Adjektiv („schön“) zunächst eine Evaluation eines bislang noch nicht thematisierten Sachverhalts. Mit der Realisierung des Adjektivs baut er einen Projektionsrahmen auf, der erst mit der Nennung des evaluierten Bezugsaspekts – eingebettet in einen durch die Subjunktion dass eingeleiteten Subjektsatz – abgeschlossen ist.7 Sequenziell betrachtet findet sich die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion sowohl turninitiierend und damit im Anschluss an den Redezug des Gegenübers (wie in DOMIAN 16.10.2007) als auch turn-intern im Anschluss an eine Turnkonstruktionseinheit (TCU) desselben Sprechers (wie in DOMIAN 17.3.2004 und DOMIAN 22.7.2003). Die Konstruktion besteht somit aus zwei Teilen, wobei der A-Teil den B-Teil metapragmatisch „vorbereitet“ bzw. rahmt:8
7 8
Zu Projektionen in der Interaktion siehe Auer (2002, 2007a,b) sowie Günthner (2008). Siehe Lötscher (1997) zur Schweizerdeutschen Variante „guet, sind sie doo“, wo dem bewertenden Adjektiv ein Syntagma mit Verberstellung folgt.
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
153
TEIL A (evaluierendes) Adjektiv TEIL B mit dass eingeleiteter Subjektsatz. Hinsichtlich des A-Teils zeigen sich (im vorliegenden Datenmaterial) folgende Charakteristika: Bei den auftretenden Adjektiven handelt es sich größtenteils um evaluative Adjektive wie schön, unglaublich, schade, gut, toll, geil, irre, super, klar etc., die in der Regel eine eigenständige TCU als evaluierende Äußerung einnehmen.9 Nach Zifonun et al. (1997: S. 1452) gehören diese zur Einleitungsklasse III der „faktiven Adjektive“; dabei handelt es sich um „Prädikatsausdrücke, die nur faktisch fundiert gebrauchte daßSätze zulassen“.10 Mit faktiven Adjektiven werden „auf der Basis eines als wahr vorausgesetzten Sachverhaltes Bewertungen ausgedrückt (…) wie bedauerlich, bewundernswert, erfreulich, beunruhigend, erstaunlich, gut, normal, richtig, schön, nützlich …“.11 Einige der im A-Teil verwendeten Adjektive treten in den vorliegenden (gesprochenen) Daten zusammen mit Intensivierungsmarkern auf, die den Emphase- bzw. Affektgrad erhöhen („total super, dass…“, „sehr schön, dass…“, „super geil, dass…“). Gelegentlich ist das Adjektiv akzentuiert (es trägt einen Neben- bzw. Hauptakzent, vgl. „schÖ:n dass ihr DA seid.“ bzw. „SCHÖN dass ihr da seid-“), was ebenfalls 9
In den vorliegenden Gesprächen finden sich 37 Belege von „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen, wobei schön am häufigsten auftritt (18 Belege), gefolgt von schade, unglaublich und toll (jeweils drei Belege). Mit je zwei Belegen sind gut, klar, geil, irre und super vertreten. Internetbelege zu zählen macht wenig Sinn, da sie sich nahezu beliebig ergänzen lassen. 10 Gelegentlich finden sich aber auch „Prädikatsausdrücke, die nicht-faktisch fundiert gebrauchte daß-Sätze zulassen“ (Zifonun et al. 1997: S. 1451). Hierzu zählen u. a. die Adjektive möglich, denkbar und unwahrscheinlich, „mit denen Einschätzungen bezüglich verschiedener Arten von Möglichkeit/Notwendigkeit (…) und die solche Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten umfassenden, propositionalen Einstellungen ausgedrückt werden.“ (Zifonun et al. 1997: S. 1451) (vgl. „Möglich, dass man mal ausrastet“. http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,419114,00.html; 28.2.08). Andere Adjektive der Einteilungsklasse II (wie „notwendig/nötig/erforderlich, dass“) werden weder im vorliegenden Datenmaterial verwendet, noch scheinen sie mir für die vorliegende Konstruktion überhaupt in Frage zu kommen. Eine Durchsuchung des Internets nach Verwendungsweisen von notwendig, dass ergab, dass unter 500 Belegen von „notwendig“ kein Fall von notwendig, dass vertreten war (lediglich es ist notwendig, dass). Dies bestätigt die Annahme, dass in Teil A in der Regel jene Adjektive auftreten, die eine eigenständige (evaluative) Handlung darstellen und somit eine eigene TCU einnehmen können. 11 Allerdings werden keineswegs alle faktischen Adjektive in „Adjektiv + Komplementsatz“-Konstruktionen verwendet. So sind Adjektive wie normal und nützlich in der vorliegenden Konstruktion ungebräuchlich bzw. geradezu markiert „*normal/nützlich, dass sie bestanden hat“. Im Internet habe ich lediglich ein Beispiel für „normal, dass“ gefunden, das jedoch dem Telegrammstil zugeordnet werden kann und folglich als Gegenbeispiel wegfällt: „Normal, dass an manchen Tagen keine SS-Beschwerden?“; http://forum.gofeminin.de/forum/ matern1/__f50471_matern1-Normal-dass-an-manchen-Tagen-keine-SS-Beschwerden.html; (28.2.08).
154
Susanne Günthner
zur Intensivierung der Bewertung beiträgt und eine gewisse Nähe zur Exklamation (Zifonun et al. 1997: S. 153 ff.) herstellt. Die Reduktion des Vorlaufsyntagmas (des A-Teils) auf eine Adjektivphrase führt dazu, dass sowohl das Subjekt als auch der Tempus- und Modalbezug implizit bleiben; zugleich wird anhand der Konstruktion kontextualisiert, dass es sich um die Positionierung des/der Sprechenden handelt und diese sich auf den Zeitraum der Sprechsituation bezieht.12 Zu den Verfestigungen der vorliegenden Konstruktion gehören ferner, dass der Komplementsatz stets nachgestellt ist und negierte Varianten im A-Teil fast ausschließlich durch Präfigierung mit „un-“ (wie „unglaublich, dass…“) auftreten.13 In syntaktischer Hinsicht kommt die vorliegende Konstruktion, die in eher informellen Gattungen und Kontexten eingesetzt wird, den sogenannten „randgrammatischen Erscheinungen“ (Fries 1987) nahe: Sie weicht von den „kerngrammatischen“ Regeln (Fries 1987) deutscher Sätze insofern ab, als bestimmte syntaktische Positionen (Topik- und Verbposition) unbesetzt bleiben. Zugleich verdeutlicht die Reaktion der RezipientInnen, dass diese die Konstruktion als vollwertige Äußerung und keineswegs als defizitäre Struktur (oder gar als „Performanzentgleitung“) behandeln. Mit der einleitenden Adjektivphrase positioniert sich der Sprecher bzgl. eines noch zu explizierenden Sachverhalts; d. h. er drückt seinen evaluativen Standpunkt bzw. „stance“14 aus und rahmt damit das folgende (als faktisch konstruierte) Thema.15 Positionierung wird hierbei verstanden als interaktives Mittel zur Markierung von Einstellungen und Bewertungen, die sowohl eigene als auch fremde Handlungen und Sachverhalte betreffen (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: S. 4). Im vorliegenden Fall der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen positionieren sich die SprecherInnen mit der einleitenden Adjektivphrase insofern, als sie einen „subjective point of view or stance to what is being said“ (Traugott 1999: S. 179) zum Ausdruck bringen.
12
13
14 15
Die Merkmale (affektiv aufgeladene Adjektive, Sprecherpositionierung und Verankerung dieser Positionierung im Hier- und-Jetzt der Sprechsituation) weisen eine dezidierte Nähe zu den Exklamativkonstruktionen auf (Michaelis 2001). Eine Suche im Internet zeigt, dass auch hier kaum Formen von „nicht Adjektiv, dass“ zu finden sind. Ein Beispiel sei hier angeführt: „Nicht sehr schön, dass die Wirtschaftskampagne nicht in Einzelmissionen zu spielen ist, sondern eine Mission auf der anderen aufbaut…“ (http://de.answers.yahoo.com/question/index?qid=20061228113030AAzKD2x). Zu „stance“ in der Interaktion siehe Kärkkäinen (2006). Siehe auch Spreckels (in diesem Band) zur Funktion von „einfach“ als Mittel der bewertenden Positionierung.
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
155
2.1 „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen zwischen Projektion und Reaktion Die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion stellt – wie die Datenausschnitte verdeutlichen – eine sedimentierte Form mit spezifischen Funktionen dar: Die SprecherInnen beginnen ihre Äußerung mit einer vorgeschalteten Bewertung eines im Folgeteil zu identifizierenden Sachverhalts. Die die Konstruktion einleitende Adjektivphrase projiziert den Gegenstand der Bewertung; sie ist zeitlinear betrachtet nach „vorne“ gerichtet.16 Im folgenden Ausschnitt, der ebenfalls der Radiosendung DOMIAN entstammt, setzt zunächst die Anruferin Vanessa mit einer „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion ein, die dann von Domians „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion überlappt wird: DOMIAN: MESSIE (30.05.2002) 22 Dom: vaNESsa; 23 NEUNzehn jAhre alt; 24 [M:Orgen;] 25 Van: [ja hallo ] DOmian;= 26 Dom: =hAllo vaNESsa; 27 Van: .h schön dass ich DURCHgekom[men] bin; haha 28 Dom: [schÖn] dass du DA bist; 29 Van: ja.hh also äh: (-) 30 mEIn thema is ähm
Die SprecherInnen produzieren hier eine Paarsequenz bestehend aus Bewertung und Gegenbewertung („first and second assessment“; Pomerantz 1984): Auf den bewertenden Redezug der ersten Sprecherin folgt in Überlappung ein weiterer bewertender Turn des zweiten Sprechers (Auer/Uhmann 1982).17 Die prosodisch integrierten Bewertungsadjektive („schön“ Z. 27; bzw. „schÖn“ Z. 28) bauen insofern einen Projektionsbogen auf, als sie dem Gegenüber signalisieren, dass noch mehr zu erwarten ist und die syntaktische Gestalt erst mit der Produktion des Subjektsatzes, des B-Teils, abgeschlossen ist. Wie Arbeiten der Interaktionalen Linguistik veranschaulichen und wie Auer (2002, 2005, 2007a,b) in seiner Konzeption einer „On line“-Syntax ausführt, bilden Projektionsverfahren ein fundamentales Merkmal der Produktion und Rezeption von Äußerungen. SprecherInnen bauen durch die Produktion syntaktischer Gestalten bestimmte Erwartungen an die Fortsetzung dieser Gestalten auf. Erst die Produktion einer dann mehr oder weniger vorhersagbaren Struktur schließt diese Gestalt ab und löst die Projektion 16 17
Siehe auch Meer (in diesem Band) zu „ja“ als projizierender Partikel. Siehe auch Mazeland (in diesem Band) zu bewertenden Stellungnahmen im Gespräch.
156
Susanne Günthner
ein (Auer 2002, 2005, 2007a,b). RezipientInnen sind im Prozess der Interpretation von Äußerungen insofern auf Projektionen über den weiteren Verlauf der emergenten syntaktischen Struktur angewiesen, als syntaktische Projektionen (in Kombination mit prosodischen und semantischen Verfahren) die Vorhersage von möglichen Redezug-Abschlüssen ermöglichen. Projektionen bilden jedoch nicht nur wichtige interaktionale Verfahren zur Organisation des Turntaking, sondern sie stellen auch wichtige Mittel dar, um Äußerungen anzukündigen, Sachverhalte zu modalisieren, Meinungen zu positionieren, heikle, gesichtsbedrohende Handlungen vorzubereiten und das Gegenüber zu einer bestimmten Reaktion einzuladen (Günthner 2008): While speaking, we constantly foreshadow what is going to come next. We thereby enable our recipients to project these upcoming items, and thereby anticipate next steps, get prepared for dealing with them, and in general, process them more easily. Projections can be weaker or stronger, and the predictability of next items accordingly high or low. However, projection never equals determination, i.e. even a strongly projected next item may not be delivered, either because the speaker has abandoned the project entirely (in which case a fragment will remain) or because s/he chooses to engage on an unlikely project not easily projectable. (Auer 2007: S. 1)
Im vorliegenden Fall der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion wird mit der Produktion des evaluierenden Adjektivs 27 28
Van: Dom:
.h schön -> schÖn ->
ein Projektionsbogen eröffnet, der den Gegenstand der Bewertung erwartbar macht und damit den Folgeteil 27 28
Van: Dom:
dass ich DURCHgekommen bin; haha dass du DA bist;
evaluativ rahmt. Der Sprecher positioniert sich damit bzgl. des Folgeteils. Auch Arbeiten der Konversationsanalyse gehen auf prospektive Evaluationen bzw. „prospective indexicals“ (Goodwin 1996: S. 384) ein, die eine Bewertung bzgl. eines erst im Folgenden produzierten Sachverhalts einführen. So veranschaulicht Sacks (1968–72/92: S. 10 f.), dass SprecherInnen mittels „story prefaces“ („mir ist was Unglaubliches passiert“, „etwas total Verrücktes ist mir heut passiert“ oder „ich hab etwas total Lustiges erlebt“) den RezipientInnen Hinweise geben, wie die folgende Erzählung zu interpretieren ist (als etwas „Unglaubliches“, als „total verrückt“ bzw. als „lustig“). Solche einleitenden Bewertungen einer Folgehandlung liefern den RezipientInnen einerseits den Interpretationsrahmen für die angekündigte Erzählung, andererseits signalisieren sie dem Gegenüber, welche Reaktion von ihm erwartet wird (z. B. eine Entrüstung im Falle der Ankündigung
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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eines „unglaublichen Verhaltens“, ein Staunen im Falle von „etwas total Verrücktem“ oder ein Lachen im Falle der Ankündigung von etwas „Lustigem“).18 Darüber hinaus geben sie Hinweise darauf, wann die Erzählung abgeschlossen ist, nämlich nachdem das „unglaubliche Verhalten“, „das Verrückte“ bzw. „das Lustige“ geliefert wurde. Auch Goodwins (1996) Arbeit zu „prospective indexicals“ thematisiert vorausgehende Positionierungen, die eine längere Sprechhandlung ankündigen: The occurrence of prospective indexicals thus invokes a distributed, multi-party process. The cognitive operations relevant to the ongoing constitution of the event in process are by no means confined to speaker alone. Hearers must engage in an active, somewhat problematic process of interpretation in order to uncover the specification of the indexical that will enable them to build appropriate subsequent action at a particular place. Moreover this analysis is not static, complete as soon as the prospective indexical is heard, but is instead a dynamic process that extends through time as subsequent talk and the interpretative framework provided by the prospective indexical mutually elaborate each other. (Goodwin 1996: S. 372)
Im Unterschied zu den „story prefaces“ bzw. den „prospective indexicals“, bei denen die Positionierungen rein prospektiv ausgerichtet sind, orientieren sich die vorliegenden evaluierenden Adjektive (und damit die A-Teile der Konstruktion) immer wieder an vorausgegangenen Handlungen, wie das folgende Segment verdeutlicht, das einem universitären Sprechstundengespräch entstammt: SPRECHSTUNDENGESPRÄCH: Nr. 1319 168 D: und dann: geb ich Ihnen auch ne harte zeitvorgabe. 169 wieder ne Woche. 170 okay? 171 [also das wochenende] geht drauf. 172 S: <<seufzend> [ja; ich werd (mich) (…) ] 173 D: ja [<
18 19
Hierzu auch Günthner (2000: S. 203 ff.). Da mir dieser Ausschnitt nicht als Audiodatei zur Verfügung steht, kann ich keine Aussagen zur genauen prosodischen Realisierung machen.
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Susanne Günthner
Die Dozentin (D) produziert in Zeile 175 zunächst ihre Bewertung „schön“. Was genau „schön“ ist, kann erst im Fortlauf der Interaktion definitiv erschlossen werden (die Einsicht der Studentin, dass die Hausarbeit überarbeitet werden muss und dabei ein „Wochenende drauf geht“). Hierbei wird ersichtlich, dass die Bewertung nicht nur vorwärts-, sondern zugleich rückwärtsgerichtet ist: Sie bezieht sich auf die vorausgehende Äußerung der Studentin, in der sie betont, dass es ihr nichts ausmacht, dass das Wochenende „drauf geht“ (vgl. Z. 172; 174; der Verweis auf den Rückbezug wird im B-Teil durch das anaphorische Pronomen „das“ expliziert). Ferner verdeutlicht der Ausschnitt, dass die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen keineswegs auf Begrüßungskontexte beschränkt sind. Sie werden auch in anderen sequenziellen Kontexten als Mittel der Positionierung verwendet. Der A-Teil hat im vorliegenden Ausschnitt SPRECHSTUNDENGESPRÄCH: Nr. 13 insofern eine „Scharnierstellung“ inne, als er einerseits eine (vorwärtsgerichtete) Projektion aufbaut und sich zum anderen rückwirkend auf eine vergangene Gegebenheit bezieht: (i) Bezugshandlung (ii) Teil A: evaluierendes Adjektiv (iii) Teil B: mit dass eingeleiteter Subjektsatz. Auch ist der Skopus der vorliegenden Positionierungen kleiner als im Falle der „story prefaces“ und der „prospective indexicals“. Folglich ist die Dekodierungsarbeit der RezipientInnen sequenziell begrenzter. Die Identifikation des angekündigten Sachverhalts erfolgt im selben Redezug, meist sogar in derselben Turnkonstruktionseinheit, wie auch der folgende Ausschnitt zeigt: GEWALT: (2006_02_21) 496 JBK: b- begRENZT NUR auf einen SCHULtyp 497 [und begrenzt NUR auf äh:] 498 PM: [auf (.) auf schultyp und] 499 JBK: (.) auf EINe HERkunft. 500 PM: auch nur auf AUSländer. also501 PM: [mit SICHheiheit NICH.] 502 JBK: [SCHÖN. (-) GUT. ] 503 ja=ja gut=gut dass sie drauf HINweisen. 504 PM: ja. 505 ham sie ne erKLÄRung;
Bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion handelt es sich somit um eine interaktive Gestalt, die sowohl projektive als auch reaktive Vernetzungen herstellen kann: Der projektive Teil besteht darin, dass das Adjektiv eine
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Thematisierung des Bewertungsobjekts durch denselben Sprecher projiziert. Der reaktive Teil kommt darin zum Ausdruck, dass der Sprecher seinen Beitrag (in der Regel) an eine vorausgehende Handlung anbindet und sich durch dieses „tying“ (Sacks 1968–72/92: S. 372) zugleich zum reagierenden Sprecher macht.20 2.2 Zum Rückbezug der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion Wie ausgeführt fungiert die Adjektivphrase in der vorliegenden Konstruktion einerseits als projektives Element, das eine syntaktische Gestalt eröffnet, die erst mit der Produktion des erwartbaren Komplementsatzes abgeschlossen ist. Zum anderen kann sie darüber hinaus zugleich rückwärtsgerichtet sein, indem sie die Positionierung der Sprecherin in Bezug auf eine vorausgehende Handlung (bzw. einen gegebenen Sachverhalt) zum Ausdruck bringt und somit bzgl. der Informationsstruktur nach hinten verweist. Dass die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion sowohl projektiv als auch reaktiv fungiert und von SprecherInnen sowohl vorwärts- als auch rückwärtsweisend eingesetzt wird, wundert insofern nicht, als die Sätze innerhalb der Pragmatik als „konventionalisierte präsuppositions-tragende Äußerungen“ betrachtet werden, wobei typischerweise präsupponiert wird, dass das, was dem Adjektiv folgt, sowohl faktisch als auch bekannt ist (Blommaert/Verschueren 1998: S. 33). Durch die als präsupponiert präsentierte Information im B-Teil bettet der Sprecher die Bewertung in eine faktive Struktur ein und macht seine Positionierung dadurch „less susceptible to questioning or criticism“ (Blommaert/Verschueren 1998: S. 33). Die Bekanntheit des im Komplementsatz thematisierten Sachverhalts gründet in den vorliegenden Gesprächsdaten (in der Regel) darin, dass auf einen bereits thematisierten oder in der Situation gegebenen Sachverhalt Bezug genommen wird.21 Häufig liefern SprecherInnen mit der „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion resümierende Kommentare. Allerdings muss – wie die folgenden Ausschnitte veranschaulichen – das vorausgehende Bezugselement weder adjazent platziert sein noch muss es sich um eine verbale Aktivität handeln. So bezieht sich die Bewertung (Z. 497) im folgenden Ausschnitt nicht etwa auf eine zurückliegende ver-
20
21
Wie Sacks (1968–72/92: S. 372) ausführt, sind Äußerungen häufig so organisiert, dass sie auf eine vorausgehende Handlung reagieren und zugleich eine folgende erwartbar machen. Hierzu auch Meers Analyse der Partikel „ja“ (in diesem Band). Vgl. auch Auer (1998: S. 293), der ausführt, dass abhängige Nebensätze „relativ präsupponierend“ sind; d. h. dass die im Nebensatz enthaltende Information als den GesprächsteilnehmerInnen eher vertraut oder zugänglich eingestuft wird.
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bale Handlung der TeilnehmerInnen, sondern auf das Öffnen einer Flasche mit dem schönen, neuen Flaschenöffner: GEBURTSTAGSFEIER (GEBURTSTAG 2006_02_10) 491 Kris: ja eben, 492 also bräuchte man ja eigentlich nur EIN 493 seminar in deutsch. 494 Anni: ja eben, den rest könnte man theoretisch auch als VORlesung machen; 495 Mela: hehehe(.), 496 hahaha, 497 <
Nach ihrem Lachen produziert Mela das (betonte) Adjektiv „schAde“ (Z. 497); der Gegenstand ihres Bedauerns wird jedoch erst im weiteren Verlauf der Interaktion identifiziert. Mit der Äußerung eines evaluierenden Adjektivs (wie „schAde“) haben die RezipientInnen somit die Aufgabe, der Fortsetzung des Redezugs zu folgen, um den (als „schAde“) bewerteten Sachverhalt („<
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen 381 382 383 384 385 386 387 388
Anni: Evi: Anni: Evi: NÖ: Anni:
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schön (.) dass die so schön SCHWER is; ich weiß gar nich WIE: (.) wie annkatrin die hier hoch geKRIECHt hat. nich allEIne. (0.5) weiß ich n` wahrscheinlich nIch, nee kann überhaupt nIch.
Nachdem Evi die Schwere der Tischplatte thematisiert hat (Z. 379), klopft Anni auf die Platte und äußert zunächst einmal das bewertende Adjektiv „schön“ (Z. 381), dem der Komplementsatz mit dem Bewertungssachverhalt folgt. Wie die bisherigen Ausschnitte verdeutlichen, verwenden SprecherInnen die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion als Ressource, um ihre Position bzgl. eines situativ gegebenen aber noch nicht verbal explizierten Sachverhalts zu markieren. In den vorliegenden Gesprächsausschnitten lag der im B-Teil identifizierte Sachverhalt entweder bereits thematisch im Gespräch vor (wie in den Transkripten SPRECHSTUNDENGESPRÄCH: Nr. 13 und GEWALT), oder er war Teil der Interaktionssituation (wie die vorhandene Tischplatte in EINRICHTUNG: TISCHPLATTE, bzw. die Tatsache, dass die HörerInnen das Radio eingeschaltet haben, bzw. dass die Anruferin in die Sendung durchgeschaltet wurde wie in den DOMIAN-Gesprächen, bzw. das Öffnen der Flasche mit dem neuen Flaschenöffner in GEBURTSTAGSFEIER etc.). Diese Rückverweise werden teilweise durch anaphorische Pronomen („die“, „das“, „da“ etc.) im Komplementsatz expliziert. Sucht man im Internet nach der vorliegenden Konstruktion, so findet man sie gehäuft in Überschriften von Artikeln bzw. zu Beginn von Leserbriefen, Mails, Homepages und Blogs. Doch auch hier hat der A-Teil meist eine Scharnierfunktion inne, da er einerseits den Gegenstand der Positionierung projiziert und sich andererseits an einem als bekannt bzw. zugänglich konstruierten Sachverhalt (einer eingerichteten Website, einer Bekanntmachung, einem Artikel, einer aktuellen politischen Debatte etc.) orientiert. Hierzu einige Beispiele: „Toll, daß wir jetzt eine eigene Website haben“ http://13b.blogdot.de/2006/07/30/toll-dass-wir-jetzt-eine-eigene-websitehaben/ 20.12.2007
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„Toll, dass Sie als Gymnasiallehrer auch dass mehrgliedrige Schulsystem als unzeitgemäß beurteilen. Aber es hat den Anschein, dass hier die Interessengruppen der ‚Gutbetuchten‘ und ‚Intellektuellen‘ viel zu wortund einflussmächtig sind und dafür weiterhin sorgen werden, dass ihre Kinder weiterhin separiert und begünstigt werden. Schade !“ http://kommentare.zeit.de/user/werner-plack/beitrag/ 2007/12/06/ganzheitlich-und-vernetzt. 20.12.2007 „Super dass es das forum gibt!!!!!!!!!!“ http://www.eve-rave.ch/Forum/ftopic9117.html. 18.2.2008 „30. July 2005, 01:06 Wirklich super, dass ihr das für andere Gilden zur verfügung stellt, ich wüsste nicht wie wir es gemacht hätten wenn es soweit wäre…“ http://www.freierbund.de/board/index.php?showtopic=3654&pid= 111123831&mode=threaded&start=. 18.2.2008 „Sehr geil, dass Kingston kommt auch wenn ich ihn lieber beim Carat da gehabt hätte“ http://www.moonsault.de/forum/ showthread.php?s=&threadid=58687. 18.2.08 Auch wenn das Bezugsobjekt der Äußerung nicht unmittelbar vorausgeht, so stellen die (meist affektiv aufgeladenen) A-Teile dennoch eine Anbindung (ein „tying“) an als gegeben präsentierte Tatsachen her (beispielsweise darauf, dass jemand eine Website hat). Gelegentlich finden sich aber auch „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen in Überschriften zu Artikeln, die ein neues Ereignis thematisieren, das nicht bereits Thema einer Diskussion war. Hier wird die Präsupposition des Bekannten rhetorisch eingesetzt: „Unglaublich, dass Ewa das überlebt hat“ http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,466797,00.html. 20.12.2007
3. Formen und Funktionen der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion im Umfeld verwandter Konstruktionen Bei der Suche nach positionierenden Adjektivphrasen trifft man sowohl in den Gesprächs- als auch in den Internetdaten immer wieder auf verwandte Formen, die zahlreiche formale und funktionale Ähnlichkeiten mit der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion aufweisen. Folglich stellt sich die Frage,
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inwiefern „Adjektiv + dass-Satz“-Äußerungen überhaupt eine eigenständige Konstruktion repräsentieren, bzw. in welchem Verhältnis die verwandten Formen zueinander stehen. Einige dieser Formen sollen im Folgenden vorgestellt werden.
3.1 Von „selbstständigen Adjektivphrasen“ zu „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen? Eine mit der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion verwandte Form stellt die selbstständige (bewertende) Adjektivphrase dar, bei der mit der Produktion des Adjektivs die Turnkonstruktionseinheit abgeschlossen ist: PAPST (KARNEVAL 07) 109 Erik: dann is=er ausjeZOgen. 110 Eva: SCHÖ:N. 111 Erik: hihihi (kann) [man so sehn]. GESCHWISTER 25 Erika: 26 Franz: 27 28 Erika:
(SCHWABEN 96) hab echt kein BOCK meh. KLA:R. (-) seh i [au so.] [ähm a:]
DOMIAN-MUT, 124 C: 125 126 Dom: 127 128 C: 129
26.3.2003–3 ich versuch eigentlich Immer.h ehm mich der situatiOn zu [STELLen]; [ach SO; ] MUtig MUtig; .h weil ich einfach DENke eh WArum soll ich jetzt die STRAßenseite wechseln
KINA 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374
KINA Hilla: Sara: Hilla:
hab ich das auch mal geSEHN, wie: da wUrden mhm wEIße nach VORrne geschoben, und- und zwar VOR ein schwarzen. (0.5) I:RRSINNICH! (–) und das ham die auch erzÄhlt, ehm dass ihnen das in schlangen DAUernd; DAUernd passIert=
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KINDERSPIELZEUG: BIG BROTHER (bb1–80)22 934 Vero: wie bitte? 935 Jhn: also ER hat eigentlich wenig mit sowat zu tun jehabt als KIND (-) 936 und ICK eigentlich o:ch nich. 937 Vero: wieso? 938 Jhn: [ja man ] 939 Jrg: [Ätzend;] (-) 940 ich konnt mich nich als Kind für so was beGEISTERN,
Auch hier beginnen die SprecherInnen ihre Turnkonstruktionseinheiten mit (bewertenden) Adjektiven wie „SCHÖ:N“, „KLA:R“, „Ätzend“, „MUtig MUtig“ und „I:RRSINNICH!“. Diese Adjektivphrasen stellen jedoch nicht nur eigenständige Turnkonstruktionseinheiten dar, sondern häufig auch eigenständige Redezüge, mit deren Abschluss ein TRP („transition relevance point“) erreicht ist und das Rederecht zur Disposition steht. Allerdings weisen die Adjektivphrasen in den vorliegenden Fällen eindeutig auf unmittelbar vorausgegangene Äußerungen bzw. Sachverhalte, die zugleich das Thema für die in den Adjektivphrasen geäußerten Bewertungen bilden, zurück; d. h. die Referenten der Bewertungshandlung gelten als unmittelbar gegeben. Behält derselbe Sprecher, der die Adjektivphrase geäußert hat, das Rederecht, so produziert er im Anschluss an das Adjektiv nicht etwa das Thema der Bewertung (wie im Falle der „Adjektive mit dass-Satz“-Konstruktion), sondern er führt eine thematische Umfokussierung (KINDERSPIELZEUG) oder eine Reformulierung und Bestätigung seiner Bewertung (GESCHWISTER und KINA KINA) durch. Eine Umformung der vorliegenden Adjektivphrasen in eine „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion würde insofern eine andere Lesart hervorrufen, als nun die Bewertung nach vorne auf das (als bekannt konstruierte) Thema des B-Teils gerichtet wäre: 26
Franz:
KLA:R. (-) dass i des [au so] seh.
371 Hilla:
I:RRSINNICH! (–), dass die das auch erzÄhlt ham.
939 Jrg:
[Ätzend;] (-), dass ich mich nich als Kind für so was beGEISTERN konnt,
22
Während die Adjektive in den bisherigen Ausschnitten unmittelbar den in der vorausgegangenen Turnkonstruktionseinheit vom Gegenüber bzw. vom selben Sprecher thematisierten Sachverhalt bewertet haben, wird in KINDERSPIELZEUG eine kurze Rückfrage („wieso?“; Z. 937) eingeschoben.
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Im Gegensatz zu den selbstständigen Adjektivphrasen, die sich unmittelbar auf das vorausgehende Thema beziehen und dieses weiterhin aktiviert halten, indem sie es nun (rückwärtsgewandt) evaluieren, greift das bewertende Adjektiv bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion weder ein eindeutig in der vorausgehenden Turnkonstruktionseinheit geäußertes Thema auf noch schließt die Produktion des Adjektivs die Bewertungssequenz ab. Die eröffnete Gestalt ist hierbei vielmehr zeitlich nach vorne gerichtet und kündigt die Produktion des Bewertungsthemas erst an. Die vorliegenden Gesprächsausschnitte weisen ferner darauf hin, dass die SprecherInnen mit der Produktion des bewertenden Adjektivs (in der Regel) prosodische Verfahren zur Kontextualisierung einer Beendigung bzw. Fortsetzung der Bewertungshandlung einsetzen und damit Hinweise darauf liefern, ob das Adjektiv rein rückwärtsgerichtet zu interpretieren ist (und folglich eine eigenständige Turnkonstruktionseinheit repräsentiert) oder aber zeitlich nach vorne projiziert und das Thema der Bewertung erwartbar macht. Im Fall eines ungebundenen Bewertungselements weist dieses (in den vorliegenden Daten) eine finale Intonationskontur auf („SCHÖ:N.“, „KLA:R.“, „Ätzend;“, „MUtig MUtig;“, „I:RRSINNICH!“). Bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion ist das Adjektiv dagegen meist in die Gesamtkontur der Konstruktion eingebunden und repräsentiert prosodisch keine eigenständige Turnkonstruktionseinheit: DOMIAN (16.10.2007) 8 Mel: ja HALlo. 9 Dom: schön dass du DA bist, DOMIAN (17.3.2004) 1 Dom: SO ihr lieben; 2 schÖ:n dass ihr DA seid. DOMIAN (22.7.2003) 1 Dom: .hh ja meine lieben 2 SCHÖN dass ihr da seidDOMIAN: MESSIE (30.05.2002) 27 Van: .h schön dass ich DURCHgekom[men bin; haha 28 Dom: [schÖn dass du DA bist; SPRECHSTUNDENGESPRÄCH: Nr. 13 175 Dom: schön dass Sie das selber auch gesehn haben, GEBURTSTAGSFEIER (GEBURTSTAG 2006_02_10) 497 Mela: <
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Betrachtet man die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion in ihrer zeitlichen Entfaltung, so fällt ferner auf, dass die Subjunktion dass dem Adjektiv in der Regel unmittelbar (ohne Pause) folgt und diese dem Gegenüber in Kookkurrenz mit den prosodischen Kontextualisierungshinweisen (von Unabgeschlossenheit) auch syntaktische Hinweise auf eine unmittelbare Fortsetzung gibt.23 Nun könnte man sich fragen, in welchen Kontexten SprecherInnen statt turnkonstituierender selbstständiger Adjektivphrasen die „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion verwenden. Die Daten weisen darauf hin, dass Letztere vor allem in Fällen, in denen der bewertete Sachverhalt nicht eindeutig aus der vorausgehenden Äußerung bzw. dem unmittelbaren Kontext identifiziert werden kann und die SprecherInnen sich der „Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz/Luckmann 1979: S. 89) nicht sicher sein können, dazu tendieren, den Sachverhalt der Bewertung im Komplementsatz zu explizieren. Während also im Falle der selbstständigen Adjektivphrasen auf ein klar „established topic“ (Michaelis 2001: S. 1043) rückwirkend Bezug genommen wird, wird im Falle der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion das (als bekannt präsentierte) Thema erst noch expliziert. So wäre eine selbstständige Adjektivphrase als Bewertungshandlung in den präsentierten Ausschnitten schwer inferierbar bzw. wäre gar als Bewertung der unmittelbar zurückliegenden Sprechhandlung zu interpretieren:24 GEBURTSTAGSFEIER (verändertes Transkript!) 494 Anni: ja eben, den rest könnte man theoretisch auch als VORlesung machen; 495 Mela: hehehe(.), 496 hahaha, 497 <
23
Allerdings findet sich im vorliegenden Datenmaterial eine „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion, wo dem evaluierenden Adjektiv eine kurze Pause folgt: EINRICHTUNG: TISCHPLATTE (2004) 381 Anni: schön (.) dass die so schön SCHWER is;
24
Doch auch hier wird das Adjektiv zusammen mit dem Komplementsatz in einer Intonationseinheit produziert; d. h. die Prosodie bildet eine wichtige interaktive Ressource zur Kontextualisierung der betreffenden Konstruktion. Da der Internetkommunikation keine prosodische Markierung zur Verfügung steht, verwenden die VerfasserInnen gelegentlich Interpunktionszeichen zur Markierung von (Nicht-)Abgeschlossenheit: So steht im Fall der „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion nach dem Adjektiv meist ein Komma (was auf eine Ausrichtung am Standard der Schriftsprache hinweist); gelegentlich sind das Adjektiv und die Subjunktion dass aber auch ohne Komma aneinandergereiht, was u. U. auf die enge Folgebeziehung von Adjektiv und Komplementsatz verweisen kann (oder aber auf ein Ignorieren der Kommaregeln). Im Fall von SPRECHSTUNDENGESPRÄCH bezieht sich das evaluative Adjektiv tatsächlich auf die vorausgehende verbale Handlung (allerdings nicht auf den propositionalen Gehalt von Ss Aussage, sondern darauf, dass S die Situation gleich einschätzt wie D).
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Wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht, können SprecherInnen in authentischen Gesprächssituationen bei der Produktion selbstständiger Adjektivphrasen tatsächlich Gefahr laufen, dass dem Gegenüber das Referenzthema der Bewertung nicht zugänglich ist und dieser nachhakt: FRAUENFRÜHSTÜCK (1996) 13 Rita: grade auch f- für kettenRAUcher (oder so) 14 oah; 15 HEFtig. 16 Billi: was; 17 Rita: da=DANN d- dass man dann auf[hörn] MUSS. 18 Billi: [mhm.] 19 joah.
Das Bezugsthema der alleinstehenden Adjektivphrase in Zeile 15 („HEFtig.“) ist für Billi nicht identifizierbar, weswegen sie im folgenden Turn nachfragt und eine Korrektur einleitet. Es handelt sich hierbei um die interaktive Aushandlung einer „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion, die dialogisch im Dreierschritt erzeugt wird: HEFtig. (i) evaluierendes Adjektiv: (ii) Nachfrage: was; (iii) Komplementsatz: da=DANN d- dass man dann auf[hörn] MUSS.
Dieses Beispiel verweist auf Hybridfälle im Überlappungsbereich der beiden Konstruktionen „selbstständige Adjektivphrase“ und „Adjektiv + dass-Satz“. Die Grenzen zwischen den Konstruktionen sind also keineswegs starr festgelegt; vielmehr können TeilnehmerInnen im Prozess der Interaktion eine selbstständige Adjektivphrase kollaborativ (u. a. durch Nachfrage) zu einer „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion erweitern.25 25
Allerdings müssen Nachfragen nach dem Bezugsobjekt keineswegs aufgegriffen werden. Im folgenden Ausschnitt wird die Nachfrage von Sabrina (Z. 900) einfach übergangen, und die TeilnehmerInnen albern herum. (Jürgen hat Andrea und Sabrina geärgert, indem er ihre selbstgebackenen Kekse an die Hühner verfüttert hat.) BIG BROTHER: KEKSE (bb1–91) 896 jrg: aufn tisch (.) 897 sbr: hier (-) 898 jrg: ((lacht)) 899 <
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Auch das bereits präsentierte Segment GEWALT veranschaulicht eine lokale Ausweitung der „selbstständigen Adjektivphrase“ zur „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion. GEWALT: (2006_02_21) 501 PM: [mit SICHheiheit NICH.] 502 JBK: [SCHÖN. (-) GUT. ] 503 ja=ja gut=gut dass sie drauf HINweisen. 504 PM: ja.
JBK produziert in Überlappung mit PMs Äußerung die bewertenden Adjektivphrasen „SCHÖN.“ und „GUT.“ (Z. 502). Die prosodische Markierung (erhöhte Lautstärke, starke Akzentuierung und abgeschlossene Intonationseinheiten) indiziert zunächst einmal eigenständige bewertende Sprechhandlungen. Doch im Anschluss an die überlappenden Bewertungsäußerungen greift JBK diese teilweise nochmals auf („gut=gut“) und bindet sie als A-Teil in eine „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion ein: „ja=ja gut=gut dass sie drauf HINweisen.“. Mit der nachträglichen Explizierung des Bezugspunkts der Bewertung stellt sie die Referenz der Bewertungshandlung sicher. Die vorliegenden Ausschnitte FRAUENFRÜHSTÜCK (1996) und GEWALT (2006_02_21) verdeutlichen, dass Konstruktionen keine statischen Gebilde darstellen, sondern als Orientierungsmuster fungieren, an denen sich GesprächsteilnehmerInnen anlehnen und die sie im zeitlichen Prozess der Interaktion dialogisch aufbauen, ergänzen und modifizieren. 3.2 Von der Vollform zur Ellipse? Wie einleitend erwähnt, wird die vorliegende Konstruktion von Grammatiken und Sprachberatungsstellen als elliptische Variante einer Vollform betrachtet, bei der sowohl es als auch das Kopulaverb getilgt wurden (im Sinne von „es ist heftig, dass man dann aufhören muss“ oder „es ist gut, dass sie drauf hinweisen“). Nach Rath (1979), Selting (1997) und Stein (2003) könnte man die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion als „syntaktische Eigenkonstruktion“ kategorisieren und damit als einen Ellipsentyp, der im Gegensatz zur „Konstruktionsübernahme“ zur Füllung seiner unbesetzten Positionen nicht auf die Strukturvorgabe der Vorgängeräußerung zurückgreift.26 Die IDS-Grammatik, die einen Tilgungsansatz (wie ihn die generative Grammatik postuliert) ablehnt, behandelt die Konstruktion als „Struktur-Ellipse“ (Zifonun et al. 1997: S. 433 ff.) und damit als ein 26
Vgl. Selting (1997: S. 136), die in Zusammenhang mit „sogenannten Ellipsen“ u. a. die „bewertende Adjektivphrase und ein Infinitivkomplement“ („SEHR interesSANTmal so MÄNner über dieses Thema zu hörn“) als „syntaktische Eigenkonstruktion“ vorstellt.
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Äußerungsresultat elliptischer Verfahren, das um grammatische Konstruktionselemente reduziert und unter bestimmten Bedingungen (geeignete Textform usw.) grammatisch akzeptabel ist. Ein Verständnis ist nur möglich unter Rückgriff auf sprachliches Strukturwissen; ferner sind andere Wissensressourcen wie Weltwissen oder handlungspraktisches Wissen heranzuziehen. (Zifonun et al. 1997: S. 434)
Wie auch die vorliegenden Beispiele verdeutlichen, handelt es sich bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion in der Tat um ein syntaktisches Muster, das von den Interagierenden als „grammatisch akzeptabel“ behandelt wird und das „unter Rückgriff auf sprachliches Strukturwissen“ problemlos verständlich ist. Im Folgenden soll nun die vermeintliche Vollform, nämlich der „Subjektsatz bei einer (bewertenden) Kopulakonstruktion“ bzw. die „Extrapositionen mit es“27 (vom Typ „es ist schön, dass du da bist“), vorgestellt werden. Im Gesprächsausschnitt LEBEN IM UMBRUCH, der wiederum der Radio-Sendung DOMIAN entstammt, findet sich in den Zeilen 212–213 eine Extraposition mit es: LEBEN IM 203 D: 204 205 M: 206 207 208 D: 209 210 M: 211 D: 212 213 214 215 216 M:
27
UMBRUCH (2007_10_04domian) aber das ist noch nicht so REIF, (.) die gan[ze sache? ] [ne nich so rischtig ] weil (meine) äh dOch auch sehr nachtrAgend ist, und äh sehr STUR ist, .hhhh nu.hh is dein GANzes leben in UMbruch geRAten dadurch; richtisch würds du dennOch sagen, äh es ist gUt, dass es so gekOmmen ist, und ich FÜHL mich eigentlich jetzt GLÜCKlich? (-) im grUnde schOn.
„Extrapositionen“ wie „Es ist gut, dass Paula die Prüfung bestanden hat“ gelten als Sonderform der Ausklammerung: „When for some reason or another it is not convenient to put a content-clause in the ordinary place of the subject, object, etc., the clause is placed at the end in extraposition and is represented in the body of the sentence itself by it“ (Jespersen 1937/65: S. 25). Bußmann (2002: S. 210) beschreibt – in Anlehnung an Jespersen – Extrapositionen folgendermaßen: „Satzwertige Ausdrücke können nach rechts an das Ende des Gesamtsatzes verschoben werden. An der ursprünglichen Stelle kann eine pronominale Kopie, ein Platzhalter -es zurückbleiben“. Inhaltssätze wie „Dass Paula die Prüfung bestanden hat, ist gut.“ werden – so Bußmann (2002: S. 210) – im Falle der Extraposition nach rechts in das Nachfeld verschoben. An der ursprünglichen Stelle (d. h. im Vorfeld) bleibt dann eine pronominale Kopie bzw. das Korrelat es zurück: „Es ist gut, dass Paula die Prüfung bestanden hat.“ (Extraposition).
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Domian setzt in Zeile 212 zu einer Redewiedergabe an, die mit dem Vorlaufsyntagma „es ist gUt,“ beginnt und eine syntaktische Fortsetzung erwartbar macht. Diese Fortsetzungserwartung wird insofern prosodisch gestützt, als das Vorlaufsyntagma, das eine eigenständige Intonationseinheit mit leicht steigender Endintonation enthält, „Unabgeschlossenheit“ kontextualisiert. Der Platzhalter es, der die Position des Subjekts eines adjektivischen Prädikats besetzt, verweist auf das zu erwartende inhaltliche Subjekt und damit auf den Subjektsatz („dass es so gekOmmen ist“; Z. 213). Die Extrapositionskonstruktion besteht also aus zwei Teilen:28 TEIL A (Vorlaufsyntagma) es + Prädikat + Adjektiv TEIL B (Folgesyntagma) mit dass eingeleiteter Subjektsatz Vorfeld
Finitum
Mittelfeld
Es
ist
gUt,
Infiniter VK
Nachfeld dass es so gekOmmen ist,
Im Vergleich zur „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion fällt zunächst auf, dass die beiden Teile (A und B) der Extraposition mit es in zwei verschiedenen Intonationsphrasen produziert werden und damit einen größeren sequenziellen Raum einnehmen. Hinzu kommt, dass der Realisierung des Adjektivs unbetonte, semantisch entleerte Silben („es ist“) vorgeschaltet sind und die Sprecherin nicht unmittelbar mit der Artikulation der Bewertung einsetzt. Ferner sollte nicht unerwähnt bleiben, dass im Falle der Extraposition der Tempusbezug im A-Teil nicht nur expliziert wird, sondern dass durchaus unterschiedliche Tempusformen möglich sind („es war schön, dass…“, „es ist irre gewesen, dass…“). Im folgenden Ausschnitt erzählt Betty ihrer Freundin Sarah von ihrem Ex-Freund, der sich vor kurzem von ihr getrennt hat. Dabei verwendet sie sowohl eine ausgereifte Extrapositionskonstruktion „<
28
(2003_08_31freunde1_b,) <
Hierzu Günthner (2007a).
171
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen 217 Betty: 218 219 220 221 222 Sarah: 223 Betty: 224 225
<
Betty greift in Zeile 217 die Bewertung, dass sie angesichts des Verhaltens ihres Ex-Freundes „trAUrig“ ist (Z. 211), nochmals auf und verwendet hierbei die Extrapositionskonstruktion, die mit einer Bewertung einsetzt: „<
Vorfeld
Finitum
Mittelfeld
Infiniter VK
Nachfeld
Ja
es
is
halt TRAUrig,
da:ss man zweinhalb JAHre zuSAMMN war?
ich mein
Ø
is
ja KLAR?
dass der kontakt !NACH!lässt;(.)
Die Kondensierung der Extrapositionskonstruktion setzt sich insofern fort, als sich im vorliegenden Datenmaterial auch A-Teile finden, bei denen nicht nur das Vorfeld unbesetzt bleibt, sondern auch die Kopula phonologisch reduziert ist. Till und Olli unterhalten sich beim Kochen: KOCHEN (2006_xx_xxkochen) 50 Till: [s mir egAL ich ] 51 bin ja jetzt die GANze zei(h)t da- (1.5)
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Susanne Günthner
52 53 54 55 56
<
Die Beispiele veranschaulichen einen graduellen Übergang des Vorlaufsyntagmas von „es + Prädikat + evaluierendes Adjektiv“ zu einer „selbstständigen Adjektivphrase“ und damit von einer Extraposition mit es zur „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion: äh es ist gUt, is ja KLAR? s=echt SCHAde, schön
dass dass dass dass
es so gekOmmen ist, der kontakt !NACH!lässt;(.) das jetzt nicht geKLAPPT hatdie so schön SCHWER is;
Vorfeld
Finitum
Mittelfeld
Infiniter VK
Nachfeld
es
ist
gUt,
dass es so gekOmmen ist,
is
ja KLAR?
dass der kontakt !NACH!lässt;(.)
s=
echt SCHAde,
dass das jetzt nicht geKLAPPT hat-
schön
dass die so schön SCHWER is;
Im Vergleich zur Extraposition enthält die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion zwar noch den semantisch gewichtigen Teil (das Adjektiv), doch die semantisch „leeren“ Teile – das Korrelat es und die Kopula – fehlen. Auch funktional scheinen sich die verschiedenen Formen zu unterscheiden: Während die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen häufig als (resümierende) Kommentare eingesetzt werden, die aktuelle Gesprächsthemen abschließen, ist dies bei Extrapositionen eher nicht der Fall. Letztere führen meist längere Diskurssequenzen ein, die eine thematische Ausweitung repräsentieren.29 3.3 Welche Vollform ist die richtige? Handelt es sich bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion somit um eine Ellipse einer Extrapositionskonstruktion mit es? Und inwiefern wird die Ellipsenannahme der psychologischen und interaktionalen Realität gerecht? Pragmatisch und interaktional ausgerichtete Studien (Busler/Schlobinski 1997; Selting 1997; Stein 2003) problematisieren zunehmend den Ellipsen29
Siehe Günthner (2007a).
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
173
begriff, der eine Vielzahl formal und funktional unterschiedlicher Formen vereinigt, und sie plädieren letztendlich dafür, diese Formen als „differenzierte Konstruktionen“ (Selting 1997: S. 148 f.), die einer Versprachlichung der betreffenden Information nicht bedürfen (Busler/Schlobinski 1997: S. 102–103), zu beschreiben. Für eine Klassifikation des „Adjektiv + Komplementsatz“-Schemas als eigenständige Konstruktion spricht neben dem Argument der stilistischen und funktionalen Differenzierung, dass die entsprechende Vollform keineswegs so eindeutig – wie oben suggeriert – zu rekonstruieren ist. In einigen Fällen kann die „Adjektiv + dass-Satz“-Äußerung durchaus auch zur „ich finde es ADJEKTIV, dass…“-Konstruktion vervollständigt werden,30 in anderen Fällen ist sie – statt zur vermeintlichen Vollform „es Kopulaverb Adjektiv + dass-Satz“ – eher zur Exklamativkonstruktion „wie Adjektiv + dass-Satz“ zu ergänzen:31 DOMIAN (16.10.2007) 8 Mel: ja HALlo. 9 Dom: {wie/ich finde es/es ist}schön dass du DA bist, DOMIAN (17.3.2004) 1 Dom: SO ihr lieben; 2 {wie/ich finde es/es ist}schÖ:n dass ihr DA seid. DOMIAN (22.7.2003) 1 Dom: .hh ja meine lieben 2 {wie/ich finde es/es ist}SCHÖN dass ihr da seidDOMIAN (30.05.2002) 26 Dom: =hAllo vaNESsa; 27 Van: {wie/ich finde es/es ist}.h schön dass ich DURCHgekom[men bin haha 28 Dom: [{wie/ich finde es/es ist}schÖn dass du DA bist; SPRECHSTUNDENGESPRÄCH: Nr. 13 174 S: [das macht nichts. hihi] 175 D: {wie/ich finde es/es ist}schön dass sie das selber auch gesehn haben, 176 S: ja also;
30 31
Allerdings werden hierbei der Agent der Bewertungshandlung („ich“) wie auch die Aktivität selbst („finde“) expliziert, und der Bewertungsgegenstand erfolgt in einem Objektsatz. Zur Exklamation im Deutschen siehe Krause/Ruge (2004) und Zifonun et al. (1997: S. 153 ff.). Zu Parallelen zwischen den vorliegenden „Adjektiv + dass-Satz“-Äußerungen und exklamativen Konstruktionen siehe auch Oppenrieder (1991: S. 262).
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Susanne Günthner
GEBURTSTAGSFEIER (GEBURTSTAG 2006_02_10) 497 Mela <
TISCHPLATTE (2004) auf jeden fall DIE is ECHT SAU schwEr die plAtte. ((klopft auf tischplatte)) {wie/ich finde es/es ist} schön (.) dass die so schön SCHWER is;
„{wie/ich finde es/es ist} Toll , daß wir jetzt eine eigene Website haben“ „{wie/ich finde es/es ist} Toll, dass Sie als Gymnasiallehrer auch dass mehrgliedrige Schulsystem als unzeitgemäß beurteilen.“ „{wie/ich finde es/es ist} Super dass es das forum gibt!!!!!!!!!!“ „{ich finde es/es ist} Wirklich super, dass ihr das für andere Gilden zur verfügung stellt,“ „{ich finde es/es ist} Sehr geil, dass Kingston kommt auch wenn ich ihn lieber beim Carat da gehabt hätte“32 „{wie/ich finde es/es ist} Unglaublich, dass Ewa das überlebt hat“
Betrachtet man die Verwendung von „wie Adjektiv + dass-Satz“- und „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen in authentischen Gesprächskontexten, so wird ersichtlich, dass sich auch hier der/die SprecherIn mit einer einführenden Bewertung positioniert und erst im Anschluss (d. h. im folgenden durch die Subjunktion dass eingeleiteten Komplementsatz) den Sachverhalt der Bewertung liefert: WIEDERSEHEN (aus: 2003_09_02frauengeschichten) 427 Claire: und er war ganz furchtbar LIE:B und hat mich in den ARM genommmen, 428 und hat gesagt, 429 wie SCHÖN dass du ENDLICH wieder DA: bist (.) und 430 ICH hab AUCH immer gedacht(.) 431 MANN (.) 432 wie TOLL das ist dass er mich Abholt; 433 und dass äh (.) 434 ja dass ich ihn WIEdersE:he und-
Zifonun et al. (1997: S. 674 f.) führen aus, dass wie in solchen „Exklamativsätzen mit daß“ als ein „‚quantopere‘-wie (‚wie sehr, in welchem Maße‘) zu 32
Geht dem Adjektiv ein Intensivierungselement wie wirklich, sehr etc. voraus, ist eine Ergänzung zur Exklamativkonstruktion „wie Adjektiv, dass …!“ nicht möglich.
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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verstehen“ ist und nicht als „‚quomodo‘-wie (‚auf welche Weise‘)“. Die Exklamationsfunktion von wie findet sich sowohl in der rekonstruierten Begrüßungssequenz (Z. 429) als auch in der in Zeile 432 produzierten Cleft-Konstruktion „wie TOLL das ist dass er mich Abholt;“. In beiden Fällen wird durch die W-Deixis (wie) das prädikativ gebrauchte Adjektiv („SCHÖN“, „TOLL“), das zugleich prosodisch durch einen Hauptakzent hervorgehoben wird, intensiviert. Claire hätte hierbei problemlos eine „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion produzieren können: „SCHÖN dass du ENDLICH wieder DA: bist“ bzw. „TOLL dass er mich Abholt“. Sowohl die „wie Adjektiv + dass-Satz“- als auch die „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion enthalten somit ein exklamatives Potential, das allerdings im Falle der vermeintlichen Vollformen („es ist SCHÖN dass du ENDLICH wieder DA: bist“, „es ist TOLL dass er mich Abholt“ bzw. „ich finde es SCHÖN dass du ENDLICH wieder DA: bist“ und „ich finde es TOLL dass er mich Abholt“) verloren geht.33 Im folgenden Ausschnitt verwendet Domian eine „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion: DOMIAN: ZUKUNFTSANGST (15.07.2003) 62 Dom: .hh DAS möchte ich jetzt gar nicht mit dir sO vertiefen63 das ist ja eine ganz neues und und separates THEma, 64 eh ich fi finde=s viel viel intere interessANter dass du sAgst, 65 eh ich habe erKANNT; 66 dass das nIchts für mich ist;
Im Falle der „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion setzt die Turnkonstruktionseinheit mit unbetonten Silben ein, das Agens wird explizit gemacht – was im Gegensatz zur „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion die 33
Siehe auch Pérrennec (2004: S. 131 f.) zu sogenannten „indirekten Exklamativsätzen“. Weitere Beispiele für exklamative „wie Adjektiv, dass…“-Konstruktionen sowie für „ich finde es Adjektiv, dass…“-Konstruktionen finden sich problemlos im Internet: „Wie schön, dass Greenpeace geboren ist…“ http://www.greenpeace4kids.de/themen/weitere_themen/nachrichten/artikel/wie_schoen_dass_greenpeace_geboren_ist/. 11.2.08; „Wie toll dass es hier nicht anders is als in der schule:) Egal was du machst du wirst kritisiert:) Egal wie du dich bemühst Deine Herrscher/innen hassen dich:) Wie gut dass es MP gibt da kann ich mich wie in der Schule fühlen:)“ http://board.mofapower.de/139166.html?=&goto=lastpost 11.2.08; „Glückwunsch zum Erfolg! ich finde es super, dass du das gemacht hast!“ (E-Mail-Kommunikation); „muss echt mal sagen, find das super, dass es das forum gibt und die homepage.“ http://www.eve-rave.ch/Forum/ftopic9117.html. 18.2.08; „Ich finds geil, dass die Reparatur lang nicht so teuer war, wie ich dachte. Und das Schloss schließt sich wie Butter!“ http://www.depechemode-forum.de/forum/showthread.php?p=1429516. 18.2.08.
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Susanne Günthner
Subjektivität der Positionierung hervorhebt –, und der Bewertungssachverhalt erhält Objektstatus. Ferner kann im Falle der „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion das Tempus – wie auch bei der Extrapositionskonstruktion – durchaus variieren (so sind hierbei auch Präteritumformen möglich).34 Der Vergleich der Konstruktionen verdeutlicht somit interaktionale Unterschiede zwischen der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion und ihren vermeintlichen Vollformen („es ist Adjektiv + dass-Satz“- und der „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion): Im Gegensatz zu Letzteren wird bei der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion – aufgrund der Einsparung des Thema-Elements und des Verbs – der Fokus auf das Adjektiv gerichtet. Die Turnkonstruktionseinheit setzt direkt – ohne Einstieg durch semantisch relativ entleerte Elemente wie die Nennung des Agens, des Kopulaverbs, des Korrelats es etc. – mit dem bewertenden Adjektiv ein. Diese formalen Charakteristika der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion tragen erheblich zur Verdichtung, Expressivität und Bewertungsprofilierung der Positionierungshandlung bei (Günthner 2006). Dafür, dass es sich bei der Form „Adjektiv + dass-Satz“ um eine eigenständige Konstruktion und keine Ellipse einer vermeintlichen Vollform handelt, spricht neben den interaktionalen Unterschieden zu möglichen Vollformen auch der hohe Konventionalisierungsgrad der Konstruktion, sowohl bezüglich ihrer Häufigkeit als auch ihres psychologischen entrenchment (Langacker 2000; Deppermann 2008). Die vorliegende Kombination von Adjektiv und Komplementsatz repräsentiert eine sedimentierte Struktur, die den allgemeinen Regeln der Standardgrammatik zwar nicht entspricht, aber dennoch einen Teil des sprachlichen Wissenshaushalts der Interagierenden darstellt. Sie bildet insofern eine symbolische Einheit (Langacker 1987: S. 60 f.), als sie sich durch häufigen Gebrauch derart sedimentiert hat, dass die Form-Funktionszuweisungen gleichsam automatisiert verlaufen (im Sinne einer symbolischen Einheit). Auch wenn die Konstruktion von den Regeln der Standardgrammatik abweicht, handelt es sich dennoch um ein Muster, das „productive, highly structured, and worthy of serious grammatical investigation“ ist (Fillmore et al. 1988: S. 534). Die Annahme, dass „Adjektiv + dass-Satz“-Äußerungen lediglich elliptische Realisierungen von vermeintlichen Vollformen seien, impliziert eine Festschreibung schriftbasierter Standardsätze als Prototypen. Nimmt man jedoch die gesprochene Sprache als Ausgangspunkt der Analyse, so erhält 34
„Ich fand es genial dass wir mit 70 Kochlehrlingen nach Berlin durften“; http://www.bs-aarau.ch/i4def.aspx?tabid= 543&tabindex=0; 27.2.08.
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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man ein anderes Bild:35 Grammatische Konstruktionen werden als Elemente sozialer Praxis eingesetzt und tragen damit die Spuren jener Praktiken, für die sie verwendet werden. Im Falle der „Adjektiv + dass-Satz“Äußerungen zeigt sich, dass diese als affektiv aufgeladene Konstruktion zur Positionierung bzw. zum Ausdruck von „stance“ eingesetzt werden – mit einer dezidierten Nähe zu Exklamation. Durch die Erstpositionierung des affektiv aufgeladenen Adjektivs zu Beginn der TCU wird die affektive Positionierung des Sprechers/der Sprecherin hervorgehoben.36
4. Klar abgrenzbare Konstruktionen oder Orientierungsmuster? Die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion weist – wie dargelegt – formale und funktionale Parallelen zu anderen Konstruktionen auf, die ebenfalls zur Positionierung der Sprecherin eingesetzt werden: (i) der selbstständigen Adjektivphrase („super“) (ii) der Extraposition mit es („es ist super, dass du das gemacht hast“) (iii) der „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion („ich finde es super, dass du das gemacht hast“) (iv) der exklamativen „wie Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion („wie super, dass du das gemacht hast“). Sie alle enthalten ein (bewertendes) Adjektiv (entweder als eigenständige Turnkonstruktionseinheit oder aber im Vorlaufsyntagma einer komplexeren Form) und evaluieren eine (in der Regel) als situativ erschließbar bzw. gegeben präsentierte Handlung oder einen Sachverhalt. Zugleich zeichnen sich formale und funktionale Divergenzen ab: So weisen die selbstständigen Adjektivphrasen einen eindeutigen Rückbezug auf das vorausgehende Thema auf, sie projizieren keine Fortsetzung, sondern repräsentieren eine eigenständige Bewertungshandlung. Die Extraposition schickt wiederum dem (bewertenden) Adjektiv einige semantisch entleerte Elemente voraus (das Korrelat es sowie die entsprechende Kopulaform). Die „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion expliziert sowohl den Bewertungsagenten („ich“) (und hebt damit die Bewertung als subjektive Evaluation des/der Sprechers/in hervor) als auch die Bewertungshandlung durch die Nennung des Prädikats („finde“). Der Tempusbezug wird ebenfalls expliziert und ist flexibel handhabbar. Ferner wird der Bewertungsgegenstand in einem 35 36
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hopper (2001). Siehe in diesem Zusammenhang auch Oppenrieders (1991: S. 262) These zur EmphaseFunktion der Konstruktion „Prädikativum mit angeschlossenem satzförmigen Ausdruck“.
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Susanne Günthner
(nachgestellten) Objektsatz geliefert. Darüber hinaus differieren die Konstruktionen bzgl. ihrer lexiko-semantischen Beschränkungen: Während im Falle der selbstständigen Adjektivphrase und der Extraposition mit es auch Adjektive wie möglich, wahrscheinlich etc. auftreten können, „die nicht-faktisch fundierte daß-Sätze zulassen“ (Zifonun et al. 1997: S. 1451), sind die „ich finde es Adjektiv + dass-Satz“- und „wie Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen auf faktive, bewertende Adjektive eingeschränkt. Die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion nimmt hierbei insofern eine Art Zwischenstellung ein, als sie zwar in der überwiegenden Mehrzahl faktive, bewertende Adjektive aufweist, jedoch auch einige wenige epistemische Adjektive (möglich, dass…) auftreten können. Darüber hinaus finden sich im Datenmaterial Hybridformen bzw. fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Formen wie zwischen der „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion und der Extraposition mit es (zum Beispiel „is super, dass du das gemacht hast“) sowie der „Adjektiv + dassSatz“-Konstruktion und der selbstständigen Adjektivphrase mit eingeforderter Ergänzung („super.“ „Was?“ „Dass du das gemacht hast.“).37 Beleuchtet man den Verwandtschaftskreis intensiver, so wird deutlich, dass die „Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktion darüber hinaus Überlappungen mit weiteren Ergänzungssätzen zu bewertenden Prädikaten aufweist, die ebenfalls aus einem nicht-satzwertigen, bewertenden Element (einem Nomen, einem Infinitiv, etc.) und einem dass-Satz im Nachfeld bestehen wie38 (v) „Nomen + Komplementsatz“: „Scheiße/Hammer/kein Wunder, dass…“ „Scheiße daß das Kino abgerissen wurde“ Erfahrungsbericht von weddinger über Alhambra, Berlin http://reisen.ciao.de/Alhambra_Berlin__Test_1346003.25.2.08 „Hammer, dass in Winti so viel läuft! Där gäbät ächt gas…“ http://switzerland.indymedia.org/demix/2004/11/28078.shtml. 26.3.08 37 38
Zu fließenden Übergängen bzw. „unscharfen Rändern“ grammatischer Kategorien siehe auch Deppermann, Meer, Imo sowie Spreckels in diesem Band. Man sollte auch die Verwandtschaft zu „bewertenden Adjektiven + Infinitivsatz“ erwähnen wie „schön, dich zu sehen!“ oder „schlau, den Schwiegervater dafür einzuspannen!“ (Zu Möglichkeiten und Beschränkungen der Verwendung von Infinitivsätzen nach Kopulasätzen siehe Zifonun et al. 1997: S. 1449). Selbstverständlich gehören auch Adjektive mit durch wenn, falls sowie durch Fragepronomen (wieso, warum, wozu, wie etc.) eingeleiteten Komplementsätzen zum Netzwerk verwandter Konstruktionen: „schön wenn=er mItmacht“, „Unglaublich, wozu Menschen fähig sind“. Siehe auch Lötscher (1997) zur Schweizerdeutschen Variante von „Adjektiv + Verberststellung“ wie „Schaad, isch es scho Friitig“ bzw. „Guet, gseen ich si grad“.
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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„Kein Wunder, dass=s nich jeklappt hat!“ (Hörbeleg; Januar 2008) (vi) „zum + Infinitiv + Komplementsatz“: „zum Schreien/Schießen, dass…“ „Zum Weinen, dass er aufhört. Zum Schreien, dass er mit Katzenmusik zum Hit wurde. Salzburger Strobl-Festspiele wird’s keine geben. „Alles hat Grenzen. Mozart tät sich im Grab umdrehen!“ So ein Fratz wäre Fritz nie.“ http://quaksi4.spaces.live.com/blog/cns!798714B3225C1F45!530.entry. 25.2.08 (vii) „Routineformel + Komplementsatz“: „sorry/danke, dass…“ KINA-KINA 232 X: 233 Hilla: 234 X:
sorry dass ich euch störe. in der schlange, aber wahrscheinlich müsst=ihr euch umsetzen.
Die Parallelen und Überlappungen deuten darauf hin, dass wir es mit einem Bündel an Konstruktionen zu tun haben, die keine klar umrissenen Grenzen aufweisen; vielmehr handelt es sich um eine Art Familiennetzwerk, das einerseits aus (i) satzwertigen evaluierenden Vorlaufsyntagmen (wie „es ist/war super…“, „ich finde/fand es super…“, „find ich super…“, „es ist/war Scheiße…“, „es ist zum Schreien…“ etc.) und zum anderen aus (ii) nicht-satzwertigen evaluierenden Vorlaufelementen (Adjektive wie „super…“, „irre…“, „schön…“, „unglaublich…“ etc., (auch in Kombination mit „wie“; „wie super…“ bzw. Intensivierungsmarkern „total super…“, etc.), Nomen (bzw. prädikative Adjektive) wie „Hammer…“, „Scheiße…“, „kein Wunder…“ etc., „zum + Infinitivformen“ wie „zum Schreien…“, „zum Schießen…“ etc.) und folgendem mit dass eingeleiteten Komplementsatz besteht.39 Zugleich existieren zahlreiche Übergänge zwischen diesen Konstruktionen sowie „fuzzy boundaries“ zu weiteren Konstruktionen.40 Das Phänomen der fließenden Übergänge zwischen Konstruktionen repräsentiert eine zentrale Beobachtung, die Studien zu Verwendungsweisen von Konstruktionen im 39
40
Zwar können einige der nicht-satzwertigen Vorlaufelemente im Sinne einer Kopula-Ellipse und einer es-Tilgung interpretiert werden, doch trifft dies nicht auf alle Formen zu (siehe „wie Adjektiv + Komplementsatz“ oder Formen wie „sorry, dass…“ und „danke, dass…“). Weitere Verwandtschaftskreise lassen sich zu Konstruktionen ziehen, die aus einem bewertenden Adjektiv und einem folgenden (syntaktisch nicht integrierten) Syntagma bestehen: „Unglaublich. Minus fünf Grad Celsius!“ (http://hith.bloginsel.de/?p=2050; 24.2.08). „Unglaublich: Bernsteinzimmer gesucht – zwei Tonnen Gold gefunden?“ (http://www.n24.de/news/newsitem_341351.html; 24.2.08). Siehe auch Meer (in diesem Band) zu „fuzzy boundaries“ zwischen verschiedenen Konstruktionen.
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Susanne Günthner
tatsächlichen Sprachgebrauch immer wieder machen (Barth-Weingarten 2006, sowie die Beiträge von Bücker, Deppermann, Imo, Meer und Stoltenburg in diesem Band): Vermeintlich feste Kategorien bzw. Konstruktionstypen erweisen sich bei näherer Betrachtung ihrer tatsächlichen Verwendung als „brüchig“ bzw. als „fuzzy around the edges“ (Langacker 1987: S. 14; Barth-Weingarten 2006: S. 88). Die Familienähnlichkeiten und Überlappungen der zahlreichen Formen veranschaulichen einerseits die Spannbreite an Konstruktionsvarianten und die Schwierigkeit der Abgrenzung einzelner fixierter Konstruktionen. Eine starre Eins-zu-Eins-Zuordnung von instantiierten Äußerungen (bzw. Konstrukten) zu festen, abgrenzbaren Konstruktionen erweist sich – sofern man Konstruktionen im tatsächlichen Gebrauch betrachtet – immer wieder als problematisch (Günthner 2006, 2008; Imo 2007; Deppermann 2008). Wie auch Imo (2007) und Deppermann (2008) verdeutlichen, ist, sobald man mit authentischem Material arbeitet, die Spannbreite möglicher Konstruktionsvarianten und deren Interpretation oft größer als zunächst angenommen: „Die daraus entstehenden Probleme scheinen wesentlich der Tatsache geschuldet zu sein, dass der Begriff ‚Konstruktion‘ de facto kontextfrei konzeptualisiert wird“ (Deppermann 2008: S. 3). Im Zusammenhang mit den vorliegenden Formen sind weder die Grenzen zwischen verschiedenen Konstruktionen klar umrissen noch würde eine starre Grenzziehung der psychologischen und interaktionalen Realität entsprechen. Statt also von starren, fixierten Form-Funktionspaaren als mentalen Konzeptualisierungen, die dann im konkreten Diskurs aktualisiert werden, auszugehen, scheinen Konstruktionen bzw. Fragmente von Konstruktionen (Hopper 2004, 2005) eher als Orientierungsmuster zu fungieren, deren Instantiierung eine gewisse Flexibilität und Dynamik aufweist (Günthner 2006, 2007b, 2008, i. Dr.; Linell 2004; sowie die Beiträge von Bücker, Deppermann, Imo, Mazeland, Meer, Spreckels und Stoltenburg in diesem Band).41 Ein solches dynamisches Konstruktionskonzept, das der tatsächlichen kommunikativen Praxis entstammt, betrachtet Konstruktionen nicht länger als homogene, statische Gebilde mit starr festgelegten formalen Strukturen, sondern als konventionalisierte, jedoch flexible und dynamische Muster, die im Prozess der Interaktion inkrementell ergänzt werden können und aushandelbare Grenzen sowie Überlappungen mit verwandten Konstruktionen aufweisen. Ihre tatsächliche Aktualisierung geschieht im konkreten, situativen Hand41
Da die meisten Arbeiten der Construction Grammar bislang noch auf die Rekonstruktion sprachlichen Wissens abzielen und mit introspektiv gewonnenen Beispielsätzen arbeiten, wird die Emergenz syntaktischer Strukturen im Diskurs meist ignoriert. Hierzu auch Fried/ Östman (2005), Günthner/Imo (2006), Günthner (2007d) sowie Traugott (i. Dr.).
„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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lungsvollzug und ist somit stets bestimmten interaktiven Zielen, sequenziellen Prinzipien und situativ-kontextuellen sowie medialen Gegebenheiten unterworfen. Ähnlich argumentiert auch Hopper (2004, 2005), wenn er von der „Offenheit“ von Konstruktionen spricht: Offenheit bedeutet nicht nur, dass sie offene lexikalische „slots“ haben, die gefüllt werden können, sondern Offenheit heißt auch, dass zahlreiche Hybridformen und Überlappungen mit anderen Mustern auftreten und dass sie emergent – im Prozess der Interaktion – aktualisiert und den konkreten Gegebenheiten des Diskurses angepasst werden. So verwenden Interagierende Formen der vorliegenden Konstruktionsfamilie als Orientierungsmuster zur Positionierung von Bewertungen hinsichtlich einer (als bekannt bzw. zugänglich präsentierten) Handlung bzw. eines Sachverhaltes. Folglich ließen sich auch die graduellen Übergänge und Hybridformen der vorliegenden Konstruktionen als flexible Handhabung verwandter Muster in spezifischen Kontexten erklären: als „blending“ (Barlow 2000: S. 315 ff.) von (semi)präfabrizierten Mustern, die emergent in der Interaktion eingesetzt werden.42 Literatur Auer, Peter, „Zwischen Parataxe und Hypotaxe: „abhängige Hauptsätze“ im Gesprochenen und Geschriebenen Deutsch“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 26/1998, S. 284–307. Auer, Peter, „Projection in interaction and projection in grammar“, in: InLiSt: Interaction and Linguistic Structures 33/2002, S. 1–32. Auer, Peter, „Delayed self-repairs as a structuring device“, in: Auli Hakulinen/Margret Selting (Hrsg.), Syntax and Lexis in Conversation. Studies on the Use of Linguistic Resources in Talk-in-interaction, Amsterdam, Philadelphia 2005, S. 75–102. Auer, Peter, „Syntax als Prozess“, in: Heiko Hausendorf (Hrsg.), Gespräch als Prozess. Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion, Tübingen 2007a, S. 95–124. Auer, Peter, „Projection and minimalistic syntax in interaction“, Manuskript, 2007b. Auer, Peter/Uhmann, Susanne, „Aspekte der konversationellen Organisation von Bewertungen“, in: Deutsche Sprache 1/1982, S. 1–32. Barlow, Michael, „Usage, Blends, and Grammar“, in: Michael Barlow/Suzanne Kemmer (Hrsg.), Usage-based models of language, Stanford 2000, S. 315–345. Barth-Weingarten, Dagmar, „fuzzy boundaries – Überlegungen zu einer Grammatik der gesprochenen Sprache nach konversationsanalytischen Kriterien“, in: Arnulf Deppermann/Reinhard Fiehler/Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.), Grammatik und 42
So definiert Barlow (2000: S. 322) „blending“ als „a general cognitive process involving the merger of formal and conceptual structures to produce new structures that contain partial projections from the input domains, along with new emergent properties specific to the blend“.
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Susanne Günthner
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„Adjektiv + dass-Satz“-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen
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Susanne Günthner
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Positionsexpansionen: Die interaktionale Konstruktion von StellungnahmeErweiterungen in Arbeitsbesprechungen Harrie Mazeland1 Leo: Ben:
dus we moeten d’r naar streven dat wij, (…) ’n compleet pakket aanleveren. also wir müssen es darauf anlegen dass wir, (..) ein komplettes Paket anbieten. en wat staat als ’n huis. und was steht wie ein Haus.
1. Einleitung: „Argumentieren“ und „Diskutieren“ In diesem Aufsatz beschreibe ich eine bestimmte Art der Reaktion auf eine Stellungnahme des vorherigen Sprechers. Es geht um eine Form der Übereinstimmung mit der Stellungnahme des vorherigen Sprechers, die ich „Positionsexpansion“ nenne: Ein nächster Sprecher schließt sich dem Standpunkt des vorherigen an, indem er diesen inhaltlich weiterführt. Dabei konstruiert und platziert der zweite Sprecher seinen Beitrag aber in einer Weise, dass sein Redebeitrag in die Stellungnahme des ersten Sprechers inkorporiert wird. In diesem Abschnitt skizziere ich zunächst einen globalen Rahmen, wie man argumentative Diskurse aus einer konversationsanalytischen Sicht beschreiben könnte (s. Mazeland 1994).2 Ich möchte zunächst Argumentieren von Diskutieren unterscheiden. Unter „Argumentieren“ verstehe ich eine Form der Beweisführung, in der ein vor dem jeweiligen kontextuellen Hintergrund für plausibel gehaltener Schluss diskursiv vollzogen wird (also eher ‚reasoning‘ als ‚arguing‘). „Diskutieren“ betrachte ich demgegenüber als eine Form der Interaktion, in der das Erreichen von Übereinstimmung mit dem Gesprächspartner die zentrale Dimension darstellt. Ich werde Argumentieren also als einen besonderen Typ der propositionalen Beziehung zwischen Äußerungen, Diskutieren hingegen als eine Form der interaktionalen Bezie-
1 2
Ich danke Carl Werner Wendland für die Korrektur meines Deutsch und Susanne Günthner und Jörg Bücker für viele stilistische Verbesserungen meines Textes. Diese Darstellung hat Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit Spranz-Fogasy (2003). Siehe auch Deppermann (2003).
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Harrie Mazeland
hung zwischen den Stellungnahmen bzw. Positionierungen unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer betrachten. Die Elementarform des Argumentierens besteht aus zwei Behauptungen, die als Behauptung und Stützung kommuniziert werden. Argumentieren ist dabei nicht notwendigerweise monologisch, sondern kann auch dialogisch sein. Dies wird zum Beispiel in den beiden folgenden Gesprächsausschnitten deutlich, die aus Telefongesprächen zwischen Kunden und Reisebüromitarbeiterinnen stammen. In Ausschnitt (1) ist zu sehen, wie der Kunde eine Schlussfolgerung aus den Ausführungen der Mitarbeiterin zieht: Beispiel 1. Stützung ? Behauptung Desk:
?
Clnt:
?
Desk:
maarre:h zij zeg(t) aber ä:h sie sagt ’t is echt ’n hee::l leuk hotel:. es ist wirklich ein ganz hübsches Hotel 0.4 dus daar kan ’k gerust heen ga[an. also da kann ich ruhig hin gehen. [g:oeie keuze:. ja:h! gute Wahl. ja!
Beispiel (2) zeigt, wie der Kunde die Vermutung der Reisebüromitarbeiterin mit einer weiteren Beobachtung unterstützt: Beispiel 2. Behauptung / Stützung Desk:
?
Clnt:
?
ik denk dat ’t ’n vrij groot strand is °;hoor. ich glaube dass es ein ziemlich großer Strand ist doch. 0.3 ja: :hè? omdat ’r ook geen zwembad bij: zit. ja ne? weil’s auch kein Schwimmbad dabei gibt.
Während es aus interaktionaler Sicht wichtig sein kann, welche Partei eine Behauptung aufstellt und welche eine Stütze liefert, sprich wie die Reihenfolge von Beweis und Schluss aussieht, ist dies für die Analyse der isolierten propositionalen Argumentationsbeziehung zwischen Behauptung und Stützung nicht relevant. Für die Bestimmung der Elementarform des Diskutierens beziehe ich mich grundsätzlich auf Coulter (1990). Coulter charakterisiert „argument sequences“ als „declarative assertion pairs“, d. h. als die interaktional geordnete Folge von zwei Äußerungen seitens unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer, beginnend mit einer positionierenden Behauptung (PB) in der sequenziellen Position 1 und einer Reaktion auf die Behauptung in der sequenziellen Position 2 (zum Beispiel Zustimmung oder Ablehnung):
Positionsexpansionen
187
Position 1: positionierende Behauptung (PB) Position 2: positionierende Reaktion auf bzw. Stellungnahme zu PB Beim Diskutieren ist die Reihenfolge der Äußerungen und deren Verteilung über die Teilnehmer wesentlich für die Bestimmung des Status eines Redebeitrags. An Coulters Aufsatz ist hervorzuheben, dass er die Frage, ob eine Äußerung als primär informationsliefernde Aussage anzusehen ist oder als eine positionierende Behauptung, mit Blick auf die Reaktionen der Gesprächsteilnehmer beantwortet. Das lässt sich z. B. an den beiden folgenden Ausschnitten aus sozialwissenschaftlichen Befragungsgesprächen zeigen. Im ersten Beispiel behandelt der Interviewer die Antwort seines Informanten als eine rein informative Mitteilung, indem er diese einfach mit „ja“ zur Kenntnis nimmt: Beispiel 3. Behandlung als rein informative Mitteilung SF:
Frau B:
SF: ? Frau B:
heeft u ’n idee: ervan hoeveel mensen haben Sie eine Idee davon wie viel Menschen daar aan mee zouden doen:. da mitmachen würden. 1.0 hoeveel procent e[:h wieviel Prozent ä:h [hoeveel procent, wieviel Prozent 0.7 nou: de helft dacht ik toch wel. nun die Hälfte schon dachte ich doch. 0.2 jah, Mitteilung 1.1 ja:
Im nächsten Beispiel stuft der Rezipient die Antwort seiner Gesprächspartnerin dagegen als eine positionierende Behauptung ein, auf die er mit einer bestätigenden Selbstpositionierung reagiert („ja:h precies.“: ‚ja genau‘): Beispiel 4. Behandlung als positionierende Behauptung Frau B:
(eh) vroeger was’t ook altijd zo:, (äh) früher war das auch immer so, 0.3
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Harrie Mazeland
SF: Frau B:
SF: ?
ja:[h, [ik weet wel bij m’n moeder was: ’t nie anders •hh (.) ich weiß schon bei meiner Mutter war’s nicht anders als een of >twee keer in de week< kwam de schilleboer wie ein oder zwei Mal in der Woche kam der Schalenmann 3 0.2 ja:h precies. Stellungnahme ja genau.
Wie diese Beispiele zeigen, lässt die Reaktion des Gesprächspartners erkennen, ob eine Äußerung als eine positionierende Stellungnahme zu klassifizieren ist, die Widerspruch oder Zustimmung evoziert, oder ob sie als eine rein informationsliefernde Mitteilung aufgefasst werden kann. Die Handlungsqualität „Stellungnahme“ ist also keine rein intrinsische, formal bestimmbare Eigenschaft eines bestimmten Äußerungstyps. Eine Stellungnahme initiiert eine Sequenz, die eine Entscheidung des Gesprächspartners darüber, wie er/sie sich dazu verhält, als interaktional relevante nächste Position („Position 2“) vorsieht. Die Entscheidung des Gesprächspartners bestimmt, wie die Sequenz sich weiter entwickelt. Eine zustimmende Reaktion des Rezipienten eröffnet den Weg für den Abschluss der Sequenz, da Zustimmungen „closure implicative“ wirken (vgl. Jefferson 1981). Reaktionen, in denen der Rezipient andeutet (noch) nicht mit der Stellungnahme des vorigen Sprechers überein zu stimmen, begünstigen dagegen Sequenz-Erweiterungen (vgl. Schegloff 2007). Die Sequenz-Erweiterung kann dabei entweder die Form einer Insertionsexpansion oder einer Postexpansion haben. Bei einer Insertionsexpansion schiebt der Rezipient eine Entscheidung über die Stellungnahme vor sich her, indem er zum Beispiel einen Einwand erhebt oder zum Ausdruck bringt, dass er ein Problem mit dem Verständnis des Vorgängerbeitrags hat (vgl. Schegloff et al. 1977). Eine direkte Ablehnung der ersten Stellungnahme und/oder einer Gegenbehauptung führt in der Regel zu einer weiteren Postexpansion der Sequenz, weil der erste Sprecher sich dazu veranlasst sieht, seine erste Stellungnahme zu revidieren oder sie weiter zu erläutern. Sowohl die Äußerungstypen, mit denen eine Entscheidung über die Stellungnahme aufgeschoben wird, als auch die Äußerungen, die schon eine negative Stellungnahme signalisieren, weisen regelhafte Konstruktionsmerkmale auf. So haben Reparaturinitiierungen und Problematisierungen der ersten Stellungnahme oft die Form einer Wiederholung des problemati-
3
„Schillenboer“: wortwörtlich „Schalen-Bauer“, d. h. ein Sammler von Küchenresten.
Positionsexpansionen
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schen Elementes (s. Schegloff 1997) – eventuell zusammen mit einem Fragepronomen (vgl. Schegloff et al. 1977) –, während Reaktionen mit nur „was?“ oder „wieso?“ eher herausfordernd und begründungs-elizitierend wirken (vgl. Selting 1988; Drew 1997). Einwände wiederum beginnen häufig mit einer „ja/nein aber …“-Konstruktion (Koerfer 1979; Houtkoop-Steenstra 1980 sowie Meer, in diesem Band), mittels derer der Rezipient zunächst die Stellungnahme des vorherigen Sprechers aufgreift und dann eine Beschwerde äußert. Abweisungen haben dagegen manchmal die Form einer „metalinguistisch“ negierten Wiederholung der Formulierung des vorigen Sprechers (siehe Pfeil 2 in Beispiel 5 unten; vgl. Horn 1989), und Gegenbehauptungen werden als eine Alternative zur Behauptung des vorigen Sprechers gestaltet. Dies geschieht entweder durch die Ersetzung des Prädikats (siehe Pfeil 3 in Beispiel 5) oder durch die kontrastive Darstellung des Sachverhalts (vgl. Beispiel 6): Beispiel 5. Diskussionen zwischen politischen Kommentatoren im Rundfunk Hofland:
Houcke: ?1
Hofland: ?2 ?3
en daarin heeft Brodski, (0.4) nobelprijswinnaar (0.3) und darin hat Brodski, Nobelpreisgewinner voor de literatuur (.) °negentien e:h wat hebben we für die Literatur neunzehn ä:h was haben wir ;nu: ’k geloof drie jaar gelejeh° •hhHh (.) jetzt. ich glaube drei Jahre her. e:h >groot gelijk.(0.4) dat: de: (1.0) e:m;:m ä:h sehr recht. dass die ä:hm: >begE:righeid (0.2) naar: de: LIkke
190
Harrie Mazeland
Beispiel 6. Streit zwischen Schulfreundinnen (über den Diebstahl eines Mopeds) Carla:
Ineke:
?
nou;: als er ie- niemand thuis was dan vin ’k ’t nun! wenn da je- niemand zu Hause war dann finde ich’s dom dattie ’m nie op slot [heb gezet dumm dass er es nicht abgeschlossen hat [HIJ HEEFT ’m wel op slot GEz:et! er hat es schon abgeschlossen! dat slot is DOORGE;knipt! das Schloss war durchgeschnitten!
Ein gemeinsames Merkmal fast aller dieser Konstruktionsformate ist, dass sie nur im Kontext als ein spezifischer Konstruktionstyp identifizierbar werden (siehe auch Mazeland/Huiskes 2001 sowie die Beiträge in diesem Band), d. h. eine Äußerung ist nur im und durch den Kontext als eine Wiederholung, Widerlegung oder Alternative der Vorgängeräußerung erkennbar. Coulter (1990) spricht daher in Bezug auf Abweisungen und Gegenbehauptungen von „contrastive matching“. Goodwin (2006) verwendet dagegen den Begriff des „format tying“ („Formatanbindung“), womit er das Verfahren meint, einen oppositionellen Zug zu konstruieren, in dem kontextuelles Material sowohl wieder verwendet als auch modifiziert wird: The phenomenon of format tying provides some demonstration of how talk is not something ephemeral that disappears with the sound waves that carry it, but instead constitutes a dense environment and set of local resources for the construction of relevant, meaningful action. Language structure is something that participants not only attend to in detail, but also actively use and reshape to build the actions that constitute the events that make up their lives. (…) Just as looking at the sentences spoken here in isolation would not adequately capture grammatical organization that extends across utterances and speakers, so also an attempt to describe what is happening in categorical terms, e.g., as Father-Son Conflict, without paying attention to how language is used to build relevant action would miss analyzing the practices the participants are using to position themselves toward each other as consequential actors, and how in so doing they build a shared cognitive, social and moral world in concert with each other. (Goodwin 2006: S. 453)
Oppositionelle Diskussionsbeiträge weisen neben kontext-sensitiven und handlungsorientierten Merkmalen auch spezifische Produktions- und Platzierungseigenschaften auf, die ihren interaktionalen Status als nicht-präferierter Fortsetzungstyp belegen (vgl. Pomerantz 1984 und Schegloff 2007). Gesprächsteilnehmer platzieren und produzieren nicht-übereinstimmende zweite Stellungnahmen nämlich anders als übereinstimmende Stellungnahmen. Übereinstimmende zweite Stellungnahmen werden vom Sprecher als präferierte Fortsetzungen realisiert, indem sie ohne Verzug, gezielt und
Positionsexpansionen
191
ohne Aufwand produziert werden. Nicht-übereinstimmende zweite Stellungnahmen spiegeln dagegen die Eigenschaften dispräferierter Fortsetzungen wider, da sie verzögert, diskontinuierlich, abgeschwächt und mit mehr Aufwand produziert werden (vgl. die Pfeile 1–3 in Beispiel 7): Beispiel 7. Telefongespräch zwischen befreundeten Studenten (über die Frage, ob man sich für eine Wandertour in den Ardennen vorher bei den Behörden anmelden muss) Jan:
?1 Rik: ?2
?3
normaa:l moet dat normalerweise muss das (.) of ja (.) ja:: ’t moet ja oder ja ja ((da))s muss ja (.) ’t mOEt zelfs ((da))s muss sogar 1.0 no:a:: ik denk ’t nie:t hoor nun ich denke es nicht weißt du 0.8 da kan toch moeilijk dat- dat iedereen das kann aber doch lästig dass das jeder die een stuk gaat lopen (.) die moet eh:: (.) der mal wandern geht der soll äh:: die moet zich dan :opgeven der soll sich dann melden
Erst wenn ein Protagonist nach einer nicht-übereinstimmenden Reaktion auf seine erste Stellungnahme weiter besteht, entsteht eine Uneinigkeitskonstellation, die als Grundlage eines Disputs fungiert (vgl. Maynard 1985). In einer solchen Dissensumgebung, in der die fehlende Übereinstimmung interaktional manifest wird, findet eine Umkehrung der Präferenzstrukturen statt (Kotthoff 1993): Während oppositionelle Züge keine Dispräferiertheitsmerkmale mehr aufweisen, werden Konzessionen und Zugeständnisse als dispräferierte Fortsetzungstypen realisiert.4 Die treibende Kraft hinter den Formen der Sequenzorganisation, die bis zu diesem Punkt beschrieben wurden, ist die Orientierung an Prinzipien der Präferenzorganisation (Schegloff 2007). Insertierungs- und Postexpansionen werden initiiert, um einen Kontext herzustellen, in dem eine präferierte,
4
Diese Umkehrung der Präferenzrichtungen ist nicht nur kontextbedingt, sondern auch aktivitäts- und/oder kulturbedingt; siehe vor allem M. H. Goodwin (1990).
192
Harrie Mazeland
übereinstimmende Fortsetzung in Bezug auf die Stellungnahme in Position 1 realisiert werden kann. Weil dieser Mechanismus aber rekursiv verwendbar ist – sprich, jede nachfolgende Stellungnahme kann ihrerseits auch wieder einen eigenständigen Anlass für Uneinigkeit bilden und Sequenzerweiterungen nach sich ziehen –, bewirkt er auch, dass jeweils neue sequenzerweiternde Entwicklungslinien entstehen. Das Thema der Diskussion entfernt sich dadurch nicht selten schrittweise vom ursprünglichen Thema (vgl. Sacks 1992/II: S. 91 ff. und S. 561 ff.). Durch entsprechende Abschweifungen kann der ursprüngliche Konflikt aus der Sicht geraten. Die Umkehrung von Präferenzstrukturen, die oben skizziert wurde (Kotthoff 1993), verstärkt die Tendenz zu thematische Verschiebungen noch mehr. Gerade weil in Kontexten manifester Kontroversen Nachgeben zum dispräferierten Fortsetzungstyp wird, gibt es einen strukturellen Druck, der die Beilegung der Meinungsverschiedenheit zur schwierigeren Fortsetzungsalternative macht. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Unter „Argumentation“ verstehe ich primär die propositionale Architektur von Schlussverfahren, während es beim „Diskutieren“ vor allem um die interaktionale Aushandlung von übereinstimmenden oder nicht-übereinstimmenden Stellungnahmen geht. Ob ein Redebeitrag als Stellungnahme behandelt wird, ist eine Entscheidung, die letztendlich in der Interaktion getroffen wird. Konstruktionen in Diskussionen sollten also nicht auf der Basis unterstellter intrinsischer Merkmale, sondern auch extrinsisch als kontextuell determinierte Formate untersucht werden (vgl. zum Beispiel die Beiträge von Deppermann, Imo, Günthner und Meer in diesem Band).
2. Zur Sequenzorganisation in Mehr-Personen-Interaktionen Bei den vorliegenden Daten handelt es sich um Aufnahmen von drei Arbeitsbesprechungen (insgesamt 6 Stunden), die in einem Team von Advertising-Managern in einem internationalen Konzern stattgefunden haben. Für die Untersuchung wurden 3.5 Stunden berücksichtigt. Arbeitsbesprechungen bilden eine kommunikative Gattung, die als Mehrpersoneninteraktion5 charakterisiert werden kann, in der professionell 5
Mit Verweis auf Egbert (1997) betont Kangasharju (2002), dass eine Mehr-Personen-Interaktion nicht ohne weiteres mit einer Mehr-Parteien-Interaktion identisch sei. In meiner Analyse geht es gerade um Verfahren, womit Teammitglieder sich zur Partei machen, wenn sie sich der Stellungnahme eines anderen Teilnehmers anschließen.
Positionsexpansionen
193
involvierte TeilnehmerInnen beruflich relevante Aktivitäten koordinieren sowie Informationen austauschen, Pläne entwickeln und Entscheidungen treffen über Sachverhalte in der Welt außerhalb des Meetings. Die Tatsache, dass Arbeitsbesprechungen Mehrpersoneninteraktionen sind, hat Folgen für die Analyse. Das Modell des Diskutierens, das im vorausgehenden Paragraphen vorgestellt wurde, ist – ebenso wie das Modell, das in der Konversationsanalyse der Organisation von interaktionalen Handlungsequenzen zugrunde gelegt wird (adjacency-pair organization, vgl. Schegloff 2007) – grundsätzlich dialogisch konzipiert. In „adjacency pairs“ wie „Frage/Antwort“, „Bitte/Entscheidung“ oder auch „Stellungnahme/Übereinstimmungsentscheidung“6 gibt es – –
einen Teilnehmer, der eine spezifische Sequenz mittels eines Ersten Paarteils initiiert (Position 1), und einen weiteren Teilnehmer, der innerhalb der initiierten Sequenz mit einem passenden und relevanten Zweiten Paarteil reagiert (Position 2).
Das Sequenzmodell ist also nicht „multi-parteiisch“, sondern nur dialogisch ausgerichtet. Obwohl die Verfahrensweisen, mit denen Gesprächsteilnehmer Sequenzen organisieren, in Mehrpersoneninteraktionen größtenteils auf Verfahren basieren, mittels derer Sequenzen in Dialogen organisiert werden, gibt es doch Unterschiede, die eben durch die Tatsache bestimmt werden, dass es mehr als zwei GesprächsteilnehmerInnen gibt, die zum Handlungsablauf in der Sequenz beitragen. In meinen Arbeitsbesprechungsdaten ist zum Beispiel regelmäßig zu sehen, dass mehrere Teammitglieder darauf reagieren, wenn ein Teilnehmer seine Meinung über etwas äußert, indem sie andeuten, wie sie dazu stehen. Das ist zum Beispiel im folgenden Gesprächsausschnitt der Fall: Beispiel 8. Die Teammitglieder reden darüber, ob ein bestimmtes Büro schon bei der Startphase einer Werbekampagne mit einbezogen werden muss [M2; 00:20:18] Jan: ?1 maar ik heb zoiets laten wij gewoon bepalen aber ich habe so etwas lass uns einfach bestimmen hoe wij ’t willen hebben.= wie wir das haben wollen.
6
Pomerantz (1978) sieht die Sequenz Stellungnahme/Übereinstimmungsentscheidung nicht als eine Paarsequenz, innerhalb derer die erste Stellungnahme den Gesprächspartner normativ zu einer Fortsetzung mit einer Übereinstimmungsentscheidung verpflichtet. Sie spricht stattdessen von einem „constraint system“, das eine bestimmte interaktionale Handlungskette („action chain“) wie Stellungnahme/Übereinstimmungsentscheidung ermöglicht.
194
Harrie Mazeland
Cis: ?2 =prec[ies! °juist.°] richtig! genau. Bor: ?3 [en dat- dat wIJ] ’t plaatje makeh, und das- dass wir die Abbildung machen, „und dass wir die Planung machen“
In diesem Beispiel ist zu sehen, wie zwei Teammitglieder parallel Übereinstimmung signalisieren, nachdem Jan seine Meinung zum Ausdruck gebracht hat (Pfeil 1). Ciska reagiert mit „precies! juist.“ („richtig! genau.“) und Boris mit „en dat- dat wij ’t plaatje makeh,“ („und das- dass wir die Abbildung machen“). Es ist geradezu typisch für Mehrpersoneninteraktionen, dass mehr als ein Teilnehmer unmittelbar auf eine vorhergehende Stellungnahme seitens eines anderen Teilnehmers reagiert. In Mehrparteieninteraktionen spielt dabei fast unvermeidlich Fraktionsbildung eine zentrale Rolle. Diskutieren stellt also nicht nur die Aushandlung von Übereinstimmungsentscheidungen über eine Stellungnahme dar, sondern umfasst auch die Frage darüber, welche und wie viele Teilnehmer potentiell konkurrierende Standpunkte unterstützen. Das Ergebnis einer Diskussion wird in einer Konstellation wie der oben beschriebenen auch durch die relative Zahl und den Status der Teilnehmer, die eine Position unterstützen, mitbestimmt. Im Folgenden werde ich zwei Typen von übereinstimmender Reaktion auf Stellungnahmen in Arbeitsbesprechungen beschreiben. Ich werde zunächst die Eigenschaften eines Konstruktions- und Platzierungstyps beschreiben, den ich „Stellungnahme-Erweiterung“ oder – allgemeiner – „Positionsexpansion“ nenne. Im Anschluss daran wird ein zweiter Typ übereinstimmender Reaktion auf eine Stellungnahme beschrieben, nämlich die kollaborative Komplettierung eines stellungnehmenden Beitrages. Dabei geht es nicht um die erschöpfende Darstellung aller Typen von Übereinstimmung. Vielmehr werde ich mich auf die Beschreibung jener Eigenschaften beschränken, die einen Vergleich mit Stellungnahme-Erweiterungen ermöglichen. Statt also die Frage zu fokussieren, wie die Teammitglieder diskutieren, wenn sie sich über einen Standpunkt nicht einig sind, soll untersucht werden, wie sie Einigkeit kommunizieren. Es geht insofern eher um „practices for doing agreement and siding“ als um oppositionelles Diskutieren („doing opposition“).
Positionsexpansionen
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3. Positionsexpansion In Beispiel 8 konnte man sehen, dass mehrere Teammitglieder auf Jans Stellungnahme reagieren und Übereinstimmung zum Ausdruck bringen: Sowohl Ciskas „precies! juist.“ („richtig! genau.“; Pfeil 2) als auch Boris’ „en dat- dat wij ’t plaatje makeh“ („und das- dass wir die Abbildung machen“; Pfeil 3) signalisieren Übereinstimmung mit der Stellungnahme „maar ik heb zoiets laten wij gewoon bepalen hoe wij ’t willen hebben“ („aber ich habe so etwas lass uns einfach bestimmen wie wir das haben wollen.“; Pfeil 1). Diese Übereinstimmung wird jedoch nicht auf gleiche Weise kommuniziert.7 Ciska signalisiert Übereinstimmung, indem sie eine Korrektheitsbewertung realisiert („precies. juist.“: „richtig! genau.“) , während Boris Übereinstimmung demonstriert, indem er die Stellungnahme inhaltlich ausweitet und eine Aktivität beschreibt, die Jans Vorschlag konkretisiert („en dat- dat wij ’t plaatje makeh“: „und dass wir die Abbildung machen“).8 Die Zustimmung zu Jans Stellungnahme wird aber nicht nur mit unterschiedlichen Mitteln realisiert, sondern die beiden Reaktionen haben auch unterschiedliche sequenzielle Folgen: Beispiel 8. Wiederholung und Erweiterung Jan: ?1 maar ik heb zoiets laten wij gewoon bepalen aber ich habe so etwas lass uns einfach bestimmen hoe wij ’t willen hebben.= wie wir das haben wollen. Cis: ?2 =prec[ies! °juist.°] richtig! genau. Bor: ?3 [en dat- dat wIJ] ’t plaatje makeh, und das- dass wir die Abbildung machen, „und dass wir die Planung machen“ [enne ( moete zij [doen.)] und äh ( müssen sie tun.) Jan: ?4 [jah. ((dreht Kopf zu Boris)) Cis: ?5 [ja:h, [dat- ] ik vind dat dus ook. ja:h. dasich finde das also auch.
7
8
Wenn mehrere Teilnehmer in derselben sequenziellen Umgebung auf eine vergleichbare Weise Übereinstimmung herstellen, hat das Ähnlichkeit mit der Form von Reaktionen in Mehrpersoneninteraktionen, die Ehlich/Rehbein als „Batterien sprachlicher Handlungen“ bezeichnen (vgl. Ehlich/Rehbein 1977). Die begriffliche Unterscheidung zwischen „Beanspruchen“, dass man einverstanden ist, und „Demonstrieren“, wie man einverstanden ist („claiming vs. demonstrating“), stammt von Harvey Sacks (1992, Vol.II, S. 252–253).
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Harrie Mazeland wij zijn de klant en als wij graag willen dat wir sind der Kunde und wenn wir gerne wollen dass X-Point ’r bij is, dan •hh u:h X-Point dabei ist, dann ä:h
Obschon Ciska bereits Übereinstimmung mit Jans Redebeitrag signalisiert hat („precies! juist.“: „richtig! genau.“, Pfeil 2), reagiert sie danach noch einmal auf Boris“ Reaktion und Jans Stellungnahme („ja:h“, Pfeil 5), und zwar unmittelbar nach der ersten Turnkonstruktionseinheit9 von Boris“ Response-Turn („en dat- dat wij ’t plaatje makeh“: „und das- dass wir die Abbildung machen“). Aus ihrem weiteren Vorgehen („dat- ik vind dat dus ook“: „dasich finde das also auch“, Pfeil 5) ist abzulesen, dass sie nicht nur mit Jans Beitrag übereinstimmt, sondern auch mit dem von Boris. Durch die Verwendung des Pronomens „dat“ („das“) bindet sie ihren Beitrag an den von Boris an,10 und mit „ook“ („auch“) signalisiert sie Übereinstimmung mit dessen Standpunkt. Boris’ Reaktion auf Jans Feststellung wird also von Ciska als eine Erweiterung von dessen Stellungnahme behandelt. Boris hat nicht etwa die nächste Position in der Stellungnahme/Übereinstimmungsentscheidungssequenz realisiert, sondern seinen Beitrag so platziert und gestaltet, dass er vom nächsten Sprecher als eine Erweiterung der ersten Position in dieser Sequenz behandelt werden kann. Er hat sich in der von Jan kreierten Handlungsposition „eingenistet“. Aus diesem Grund muss auf den initiativen sequenziellen Zug nach wie vor noch reagiert werden, was Ciska tut, indem sie in ihrem nachfolgenden Redebeitrag abermals Übereinstimmung bezeugt. Eine Reaktion auf eine sequenz-initiierende Handlung des vorigen Sprechers, mit der zwar eine Folgehandlung realisiert, nicht aber die eigentlich sequenziell vorgesehene Folgehandlung vollzogen wird, kann man als Positionsexpansion betrachten: Der Sprecher baut die Handlung des vorheri9
Um die Einheiten zu bezeichnen, mit denen interaktional potentiell vollständige Redebeiträge realisiert werden können und mit denen ein Gesprächsteilnehmer einen möglichen Vervollständigungspunkt projiziert, an dem ein Sprecherwechsel eine relevante interaktionale Möglichkeit wird, werde ich weiter von Turnkonstruktionseinheiten sprechen („turn-constructional unit“; vgl. Sacks et al. 1974 und Schegloff 1996). Turnkonstruktionseinheiten sind die Bausteine, mittels derer die gesprächsorganisatorisch relevante Einheit Redebeitrag („turn“) konstituiert wird. 10 Die „broad reference“ der rededeiktischen Verwendung des Pronomens „dat“ (vgl. Ehlich 1982) lässt die Möglichkeit offen, dass Ciska sich mit ihrer expliziten Beifallbekundung „dat vind ik dus ook“ („das finde ich also auch“) generell auf den Standpunkt der beiden anderen Sprecher bezieht.
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Positionsexpansionen
gen Sprechers aus, ohne dabei die aus ihr resultierenden sequenziellen Restriktionen außer Kraft zu setzen.11 Insofern muss ein anderer Teilnehmer der betreffenden Mehrparteieninteraktion die Erwartungen durch eine sequenziell passende Folgehandlung erfüllen (vgl. das Schema in Figur 1): Figur 1: Schematische Darstellung der Positionsexpansion anhand von Beispiel 8 (vereinfacht) Jan: maar ik heb zoiets laten wij gewoon bepalen aber ich habe so etwas lass uns einfach bestimmen Position: hoe wij „t willen hebben.= wie wir das haben wollen. Stellungnahme Cis: =prec[ies! richtig!
ºjuist.º] genau.
nächste Position: Übereinstimmung
Bor: [en dat- dat wIJ] ’t plaatje makeh, und das- dass wir die Abbildung machen, „und dass wir die Planung machen“
Positionsexpansion:
Stellungnahme-Erweiterung [enne ( und äh ( Cis: [ja:h, ja:h.
moete zij [doen.)] müssen sie tun.) [dat- ] ik vind dat dus ook. dasich finde das also auch.
nächste Position: Übereinstimmung
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Wenn ich über Positionsexpansion spreche, meine ich mit dem Terminus „Position“ die strukturelle, handlungslogische Position, die eine Handlung in einer Sequenz einnimmt (z. B. kreiert eine Frage eine erste Position, die Antwort darauf die zugehörigen zweite Position). Position ist also eine Bezeichnung für die soziale Handlung, die ein Sprecher mit seinem Redebeitrag in der Interaktion konstituiert. Eine Positionsexpansion ist eine Erweiterung derjenigen Position, die vom vorigen Sprecher kreiert worden ist. Dabei realisiert der der Sprecher nicht eine sequenziell projizierte Nachfolgeposition, sondern „recycelt“ die Position des vorhergehenden Sprechers. Ein Begriff wie Sequenzexpansion kann also nur verwendet werden, wenn systematisch zwischen sequenzieller Position und aktueller Turn-Situierung unterschieden wird (vgl. Levinson 1983 und Ehlich/Rehbein 1979).
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Sowohl die Realisierung der sequenziell vorgesehenen nächsten Position als auch die Herstellung einer Positionserweiterung sind auf Kontiguität, d. h. die Nachbarschaft zum Vorgängerbeitrag angewiesen (Sacks 1987). Im Fall der Positionsexpansion hat das Erfordernis der sequenziellen Nachbarschaft zudem eine ganz spezifische Qualität: Es geht um die Nachbarschaft von Redebeiträgen, nicht von sequenziellen Positionen (vgl. hierzu Beispiel 8). In seinem Turn macht Boris eindeutig klar, dass er seinen Beitrag an einem spezifischen vorausgehenden Redebeitrag anknüpfen möchte, und er beginnt seinen Beitrag zu diesem Zweck mit „en“: „en dat- dat wij ’t plaatje makeh“ („und das- dass wir die Abbildung machen“). Der Sprecher bemüht sich insofern darum, seinen Beitrag durch die Verwendung spezifischer sprachlicher Mittel in den Beitrag des vorigen Sprechers zu integrieren und zu zeigen, dass er dessen Beitrag weiterführt. Die Verwendung der Konjunktion „en“ („und“), als Mittel der Anknüpfung an die Vorgängeräußerung zum Zwecke einer Positionsexpansion ist auch in den beiden folgenden Beispielen zu beobachten: Beispiel 9. Ron hat gerade den Beitrag eines bestimmten Büros problematisiert [M2; 00:29:18] Ron:
ik denk dat je dan vEe:l beter, (0.4) ’n Charles XXX, Ich denke dass man dann viel besser einen Charles XXX, of ’n Patty YYY of ’n Emma ZZZ aan tafel kunt hebbeh, oder eine Patty YYY oder eine Emma ZZZ am Tisch haben könnte,, (0.3) •hh die in ieder geval ’n bijdrage zulleh hebben die jedenfalls einen Beitrag haben werden °in zo’n meeting.° in so einem meeting. 0.3
Ben: ?
en misschien anderen prikkelt und vielleicht andere anregt om ook hun mo[nd nog ’s open te doen. um auch noch mal den Mund auf zu machen.
Jan? Leo:
[(°jah!°) 0.2 °daarom.° darum.
Positionsexpansionen
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Beispiel 10. Ciska und Ben unterbreiten einen Vorschlag, wie die Zusammenarbeit im Team verbessert werden kann [M3; 00:38:58] Cis:
Leo: Cis: Leo: Roy? Cis: Ben:
Ben: ?
je moet niet zo hEbbeh over hoe ’t nu Is:. wir müssen nicht so sehr darüber reden wie es jetzt läuft. maar: wij gaan kijkeh van- (.) •h hoe zou sondern wir werden sehen dasswie würde ’t goed zijn. en [hoe ] komt de [communicatie es gut laufen. und wie kommt die Kommunikation [JA:. [jah.] optimaal tot zijn recht,= optimal zum Ausdruck, =[jah, [hmhm. (.) en dat :alle middeleh- (0.4) hun- hun rol kunnen spe:leh,= und dass alle Mittelihr- ihre Rolle spielen können, =°precies.° richtig. 0.5 en >bij voorkeur in harmonie. und am liebsten einmütig.
Sowohl in Beispiel (9) als auch in Beispiel (10), knüpft Ben seinen Beitrag mittels „en“ („und“) an die Vorgängeräußerung an. Die Verwendung von „en“ in turn-initialer Stellung ist nicht das einzige relevante Konstruktionsmerkmal dieses Typs von Positionsexpansion. Die Teilnehmer gestalten ihre Äußerung mitunter so, dass sie syntaktisch abhängig ist von der Struktur der Vorgängeräußerung, an die sie angeknüpft wird: – In „en dat wij ’t plaatje maken“ („und dass wir die Abbildung machen“) in Beispiel 8 signalisiert der Komplementierer „dat“ („dass“) die syntaktische Abhängigkeit von dem quotativen Matrixsatz, mit dem der vorige Sprecher seine Stellungnahme eingeleitet hat („maar ik heb zoiets …“: „aber ich habe so etwas …“, Pfeil 1 in 8). Boris“ Äußerung hat dementsprechend auch Nebensatz-Wortstellung (Verbletztstellung). – In „en misschien anderen prikkelt om ook hun mond nog ’s open te doen.“ („und vielleicht andere anregt um auch noch mal den Mund auf zu machen.“) in Beispiel 9 wird kein grammatisches Subjekt formuliert. Das Agens der Handlung, die im Prädikat beschrieben wird, muss aus der Vorgängeräußerung, an die angeknüpft wird, erschlossen werden:
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„die in ieder geval ’n bijdrage zullen hebben“ („die jedenfalls einen Beitrag haben werden“). – Die Aneinanderreihung der beiden festen präpositionalen Fügungen, mittels derer die Positionsexpansion in Beispiel 10 erfolgt – „en bij voorkeur in harmonie.“ (wortwörtlich: „und bei-Vorzug in-Harmonie“) – könnte, wenn man sich die Konjunktion im Anlauf wegdenken würde, höchstens als eine Art hinzugefügte Konstituente im Nachfeld (vgl. Vinckel 2006) von Ciskas Vorgängeräußerung „en dat alle middelen hun rol kunnen spelen“ („und dass alle Mitteln ihre Rolle spielen können“) verstanden werden, sprich, als eine Art after-thought. Die Verwendung der Konjunktion „en“ („und“) macht hier jedoch klar, dass der Sprecher keine Erweiterung der Turnkonstruktionseinheit der vorigen Sprecherin vornimmt, sondern eine neue Turnkonstruktionseinheit zu dessen Turn hinzufügt.12 Das bedeutet, dass er eine eigenständige Behauptung macht, diese aber gleichzeitig als eine Erweiterung der Stellungnahme des vorigen Sprechers zu interpretieren ist. Diese Beispiele für Positionsexpansionen weisen also jeweils bestimmte Formen grammatischer Abhängigkeit von der Äußerung des vorherigen Sprechers auf (Subordinierung, weggelassenes Subjekt, Nachfeld-Erweiterung). Das Ergebnis ist dabei immer, dass der Sprecher seine Äußerung zu einer Einheit mit der Äußerung des vorigen Sprechers verknüpft. Er macht das jeweils auf eine Art und Weise, dass die neu entstandene Einheit als eine Einheit gesehen werden muss, zu der zwei Teilnehmer beigetragen haben und für die beide Sprecher verantwortlich sind. Im nächsten Abschnitt meiner Untersuchung werde ich eine Form von gemeinsamer Produktion eines Turns besprechen – kollaborative Turn-Komplettierungen –, bei der ein zweiter Sprecher die Äußerung des vorigen Sprechers mit ausführt, aber eine im Vergleich zu den bisher besprochenen Positionsexpansionen weniger eigenständige Rolle beansprucht. Die größere 12
Die Erweiterung von Ben in Beispiel 10 – „en bij voorkeur in harmonie.“ (wortwörtlich: „und bei-Vorzug in-Harmonie“) – ist kein increment im Schegloffschen Sinne (Schegloff 2007a). Schegloff definiert increments als „same-speaker“-Erweiterungen einer laufenden Turnkonstruktionseinheit, wobei eine weitere Komponente in die grammatische Struktur des „clause“ inkorporiert wird (vgl. zum Beispiel Bückers Beitrag in diesem Band zum inkrementellen Ausbau von Äußerungen mittels Motto-Konstruktionen). Die Äußerungen, mit denen eine Positionsexpansion vorgenommen wird, haben jedoch gerade als charakteristisches syntaktisches Merkmal, dass der Sprecher eine neue Turnkonstruktionseinheit beginnt, indem ein nächster „clause“ mittels der Verwendung der Konjunktion „en“ („und“) an den vorausgehenden „clause“ angefügt wird. Bei der Positionsexpansion erweitert der Sprecher insofern zwar den turn, nicht aber die mögliche vollständige Turnkonstruktionseinheit des vorigen Sprechers.
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Eigenständigkeit bei Positionsexpansionen kommt vor allem durch die Verwendung von „en“ („und“) im Turn-Anlauf zum Ausdruck. Auf diese Weise gestaltet der Sprecher seinen Beitrag als eine Turnkonstruktionseinheit, mit der er sowohl die Stellungnahme des vorherigen Sprechers eigenständig weiterführt als auch seine eigene epistemische Autorität trotz der Übereinstimmung bewahrt (Heritage/Raymond 2005): Er ist kein einfacher „Nachsprecher“, sondern er konstituiert sich als ein substantieller „Mitdenker“. Eine Anbindung an die Form einer vorigen Äußerung gelingt aber nur, wenn noch keine andere Äußerung dazwischen gekommen ist. Ein Redebeitrag, mit dem der Sprecher eine Positionsexpansion herstellen möchte, muss also baldmöglichst auf den Beitrag folgen, an den angeschlossen wird. Dieses Platzierungskriterium erklärt auch, weshalb Teammitglied Boris seine Äußerung in Beispiel 8 überlappend mit dem ersten Wort von Ciskas Beitrag platziert (s. die Pfeile 2 und 3): Er verdrängt sie, löscht ihren Beitrag gewissermaßen aus und erobert sich so die Position, von der aus er die Person sein kann, welche die erste Reaktion auf Jans Stellungnahme liefert. Die Tatsache, dass Ciska anschließend auf seinen Beitrag reagiert, bestätigt das: Sie hält ihren ersten Versuch, auf die Stellungnahme zu reagieren, offensichtlich nicht für gelungen. Die Nächste-Sprecher-Platzierung („next-positionedness“, vgl. Jefferson 1978) stellt somit eine weitere Bedingung für die Positionserweiterung dar. Man kann zusammenfassend festhalten, dass ein prototypischer Redebeitrag, mit dem ein Sprecher eine Positionsexpansion realisiert, folgende Eigenschaften aufweist: – Nächste-Sprecher-Platzierung: Der Sprecher macht den vorhergehenden Redebeitrag als Anlass und Bezugspunkt erkennbar, indem er seine Reaktion so nah wie möglich an diesem Beitrag positioniert. – „en“-Anlauf: Die Verwendung der additiven koordinierenden Konjunktion „en“ („und“) erlaubt die Anknüpfung an den vorausgehenden Redebeitrag mittels einer neuen, nächsten Turnkonstruktionseinheit. – Syntaktisch abhängiges Konstruktions-Design: Der Konstruktionstyp der neuen Turnkonstruktionseinheit ist grammatisch abhängig von der Äußerung des vorherigen Turns, an den er angeknüpft wird. – Inhaltliche und handlungsbezogene Elaborierung der Bezugsäußerung: Die Erweiterung erfolgt nicht nur on topic, sondern die Vorgängeräußerung wird auch so weitergeführt, dass ihre Handlungsqualität erhalten bleibt. Eine Positionsexpansion hat auf der lokalen Ebene wichtige soziale Folgen. Sie bewirkt die lokale Umkehrung der sozialen Positionen hinsichtlich der Frage, wer wie auf wen reagieren muss. In Beispiel 8 etwa ist Ciska diejenige, die die nächste Position in der Stellungnahmesequenz ausfüllt, weil
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Boris sich innerhalb der Stellungnahmeposition bereits eingenistet hat. Obwohl sie die erste war, die versucht hat, auf Jans Stellungnahme einzugehen, reagiert sie danach noch einmal auf Boris“ Stellungnahme-Erweiterung. Dies erfolgt zunächst mittels der anerkennenden Entgegnung „ja:h“ (vgl. Jefferson 1984 und Mazeland 1990) und dann durch eine explizite Übereinstimmungsbehauptung „ik vind dat dus ook“ („ich finde das also auch“; Pfeil 5).13 Auch Jan, der Urheber der Stellungnahme, gelangt durch die Positionsexpansion in eine neue Interaktionsrolle. Nach dem Beitrag, mit dem Boris Jans Stellungnahme weitergeführt hat, signalisiert Jan mit „jah“ (Pfeil 4 in Beispiel 8), dass er Boris’ Beitrag zur Kenntnis genommen hat. Jetzt ist es also Jan, der Boris’ Stellungnahme Aufmerksamkeit widmet. Das zeigt, dass Boris’ Positionsexpansion eine lokale Teilnehmerkonfiguration kreiert hat, in welcher der eigentliche Initiator der Sequenz nunmehr selbst in eine reaktive Position manövriert worden ist. Die Positionsexpansion erwirkt insofern eine Dissoziierung der nächsten Position in der Stellungnahmesequenz von dem Teilnehmer, der die Sequenz initiiert hat – die nächste Position ist nicht mehr spezifisch an ihn gebunden. Wie Übereinstimmungen mit einer Stellungnahme, so sind auch Positionsexpansionen Praktiken, mit denen lokale Allianzen mit den vorausgehenden SprecherInnen gebildet werden. Der zweite Sprecher schließt sich dem vorherigen an, und beide Teilnehmer werden dabei zu einer Partei. Die Positionsexpansion unterscheidet sich von der Übereinstimmung in der nächsten Position aber darin, dass Sprecher sich bei der Positionsexpansion in der Position des vorigen Sprechers „einnisten“ und damit die Pflicht zu einer Erwiderung auf die Stellungnahme anderer Gesprächsteilnehmer verschieben. Mit einer Positionsexpansion bildet ein Teilnehmer in einer Mehrparteieninteraktion also eine Allianz, welche die anderen Teilnehmer dazu auffordert sich der Allianz anzuschließen, weil die nächste Position der Sequenz noch nicht ausgefüllt ist.
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Vor allem das „Redesign“ im zweiten Teil von Ciskas Reaktion in Beispiel 8 („dat- ik vind dat dus ook“: „das- ich finde das also auch.“, Pfeil 5), in dem sie einen möglicherweise durch die Überlappung bedingten „Restart“ macht (Schegloff 1987 und 2000), weist darauf hin, dass sie jetzt mit dem Standpunkt per se übereinstimmt. In der endgültigen Form ihrer Reaktion beginnt sie nicht wieder mit „dat“ („das“), sondern mit „ik“ („ich“). Statt einer Anbindung an die Vorgängeräußerung mittels eines Textverweises stellt die Sprecherin also ihre eigene epistemische Autorität (s. Heritage/Raymond 2005) deutlicher in den Vordergrund.
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4. Kollaborative Komplettierung von positionierenden Behauptungen Im vorausgehenden Abschnitt sind drei verschiedene Praktiken zur Sprache gekommen, die in Zusammenhang mit der Realisierung von Übereinstimmung mit einer Stellungnahme auftreten: – Übereinstimmung beanspruchen („precies!“: „richtig“, vgl. „claiming“ bei Sacks 1992, Vol.II: S. 252–253) – Übereinstimmung behaupten („ik vind dat dus ook“: „ich finde das also auch“) – Positionsexpansion („en“ („und“) + kontextuell abhängige Konstruktion, vgl. „demonstrating“ bei Sacks 1992, Vol.II: S. 252–253) Im Folgenden soll die Positionserweiterung mit einem weiteren Verfahren der Signalisierung von Übereinstimmung verglichen werden: der kollaborativen Komplettierung (Lerner 1991). Dabei soll keine erschöpfende Analyse kollaborativer Komplettierungen vorgenommen werden, sondern es sollen lediglich die Unterschiede zur Positionsexpansion an zwei Beispielen herausarbeitet werden. Ausschnitt 11 stellt ein relativ einfaches Beispiel für eine kollaborative Komplettierung dar: Beispiel 11. Kollaborative Komplettierung [M2; 00:21:39] Cis: Mar: ?
Cis:
dus in feite hebben we dat soeper loo:p, (0.8) team:, also im Grunde haben wir das super Koordinations team nie meer no:dig. nicht mehr nötig. 0.4 denk ik, niet meer zo heel hard nodig. denke ich, nicht mehr so ganz schrecklich nötig.
Noch während Ciska ihre Schlussfolgerung formuliert, übernimmt Maria ihren Turn und führt ihn mit einer passenden Komplettierung zu Ende („nie meer nodig“: „nicht mehr nötig“). Aus dem Kontext ist ersichtlich, dass Ciskas Aussage einen Verantwortlichkeitsbereich betrifft, für den sie zusammen mit Maria zuständig ist. Marias Komplettierung ist hier nicht nur ein Signal, dass sie einverstanden ist mit Ciskas Stellungnahme, sondern sie macht gleichzeitig auch klar, dass sie bezüglich des vorliegenden Sachverhalts zur selben Gruppe gehört. Die kollaborative Komplettierung wird hier entsprechend als eine Praktik eingesetzt, sich lokal als Mitglied derselben sozialen Gruppe zu präsentieren.14 14
Vergleiche dazu Sacks (1992/I, S. 144–47). Sacks erklärt dort, warum die kollaborative Produktion eines Satzes so gut geeignet ist, Gruppenmitgliedschaft zu demonstrieren: Gerade weil ein Satz ein prototypisches Beispiel ist aus der Klasse von Dingen, die normalerweise
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Kollaborative Komplettierungen können aber auch dazu verwendet werden, die Binnenstruktur der Gruppe, zu der die Zugehörigkeit demonstriert wird, weiter auszudifferenzieren. Der Teilnehmer, der einen noch unvollständigen Beitrag des aktuellen Sprechers übernimmt und komplettiert, kann damit auch Behauptungen aufstellen wie „eigentlich bin ich hier derjenige, der das sagen müsste“ (vgl. Beispiel 12): Beispiel 12. Kompetitive Komplettierung [M2; 00:59:28] Bor:
Ben: ?1
Bor: ?2 Ben:
maar je- je wil graag (°>je bedoelt-°)< aber man- man möchte (du meinst-) als jij op ’t juiste moment, lawe zeggeh als wenn du am richtigen Moment, sag mal als Mar[commanager bij-[bij (’t concept zit- ] Marcommanager bei- bei(m Konzept sitz-) [jah, [>al bij ’t productcon]cept ja schon beim Produktkonzept betrokken bent in ’t pip proces.< einbezogen bist im PIP Prozess.15 kun je ook daar je input geveh. kannst du auch dort deinen Input geben. (.) jah. (’t- ’t [’t) dubbel op. ] jah. (es- es ist) doppelt gemoppelt. [>of misschien zelfs (iemand anders.)<] oder vielleicht sogar (jemand anderes.)
Obwohl es in diesem Beispiel ebenfalls um eine kollaborative Komplettierung geht, ist Ben hier interaktional eher kompetitiv. Er übernimmt den Turn von Boris (Pfeil 1) und macht sich dann selbst zum Urheber und Wortführer der Stellungnahme, die Boris initiiert hat (s. Goffman 1981). Kollaborative Komplettierung kann also auch dazu genutzt werden, „epistemic priority“ (vgl. Heritage/Raymond 2005) zu beanspruchen bzw. sich den Status des Gruppenwortführers anzueignen. Eine ähnlich kompetitive Prägung gibt es auch bei Positionsexpansionen. In Abschnitt 10 zum Beispiel fährt Ben nach der Positionsexpansion unmittelbar mit einer nächsten Turnkonstruktionseinheit fort, mit der er einen
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von einer einzelnen Person realisiert werden, ermöglicht diese Struktur die Demonstration einer nicht selbstverständlichen sozialen Einheit. Die Sprecher nutzen die syntaktischen Möglichkeiten der Satzstruktur aus, indem sie dessen Produktion auf geordnete Weise über mehrere Personen verteilen und so eine bestimmte Form der sozialen Organisation demonstrieren. „PIP“: „Product Implementation Process“
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bewertenden Kommentar zur Stellungnahme realisiert („nou dan zijn we al ’n heel end“: „nun dann sind wir schon ne ganze Strecke (weiter)“ , Pfeil 1): Beispiel 10. Fortsetzung [M3; 00:38:58] Cis: Ben:
Ben: ?1 Cis: ?2 Ben:
Bor: ?3 Leo: ?4 Ben: ?5 Cis: ?6 Ben: ?7
Cis: ?8 Ben:
en dat :alle middeleh- (0.4) hun- hun rol kunnen spe:leh,= und dass alle Mittelihr- ihre Rolle spielen können, =°precies.° richtig. 0.5 en [>bij voorkeur in harmonie. nou dan zijn we al ’n heel] und am liebsten einmütig.nun dann sind wir schon ne ganze [en dat we (’r ’n) maximale synergie is. ] und dass wir (da eine) maximale Synergie gibt. end. Strecke 0.3 h[m;h[m. [jah. [en dan zie[n we wel waar °ditund dann werden wohl sehen wo dies[ja:h, 0.2 >misschien is dat straks wel helemaal niet meer vielleicht ist das demnächst wohl überhaupt keine ’n discussie.< dus dat- (0.2) Diskussion mehr also das°neeh [dat denk (ik)° ] nein das denk (ich ) [dat zien we dan ] wel. das werden wir dann wohl sehen.
Die Positionsexpansion führt hier nicht nur dazu, dass Ben nach der Überlappung das Rederecht bekommt (Pfeil 2), sondern sie hat auch zur Folge, dass er nun der primäre Sprecher geworden ist: Die Erwiderungen von Boris und Leo (Pfeil 3 und 4) sind an Ben addressiert, und auch Ciska schließt sich beiden etwas später mit einer Äußerung an (Pfeil 6) und gesellt sich damit ebenfalls zu Bens Publikum. Durch die Art, auf die er seine Positionsexpansion durchführt, hat Ben also die Teilnehmerkonfiguration grundlegend geändert. Anstelle von Ciska ist er jetzt der primäre Sprecher, und er nutzt die neu entstandene Lage aus, um seine eigenen Überlegungen darzulegen (Pfeile 5 und 7).
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Die Positionsexpansion wird in Beispiel (10) also als ein Verfahren genutzt, mit dem eine Modifikation des Partizipationsrahmens (vgl. Goodwin 2000) erreicht wird, und genauso wie bei der kollaborativen Vervollständigung in Beispiel 12 wird die Praktik der Positionserweiterung kompetitiv eingesetzt. Es gibt aber auch einen Unterschied zur kompetitiven Anwendung der kollaborativen Komplettierung: Trotz der Tatsache, dass Ciska als Wortführerin der Stellungnahme verdrängt ist, bleibt sie weiterhin Mitglied der lokalen Allianz, die diese Position vertritt. Das wird schon dadurch belegt, dass sie anschließend Übereinstimmung mit Ben bekundet („neeh dat denk ik …“: „nein das denke ich …“, Pfeil 8). Durch die Positionsexpansion schließt ein nächster Sprecher also lokal ein Bündnis mit dem vorherigen Sprecher, während die kompetitive Komplettierung den aktuellen Sprecher auf eine Art zur Seite drängt, die ihn nicht mehr am vertretenen Standpunkt beteiligt sein lässt. In Beispiel 12 zeigt sich das beispielsweise an der Art und Weise, wie Boris – der Teilnehmer, dessen Turn Ben übergenommen hat – reagiert. Er gibt einen erläuternden Kommentar auf die Stellungnahme („jah. ’t- ’t ’t dubbel op“: „ja. es- es ist doppelt gemoppelt.“, Pfeil 2 in 12), als sei nicht er derjenige gewesen, der selber die Formulierung der Stellungnahme begonnen hat. Insgesamt kann festgehalten werden, dass GesprächsteilnehmerInnen folgende Möglichkeiten der Markierung von Übereinstimmung haben: – Ein Teilnehmer signalisiert im nächsten Turn Übereinstimmung, indem er die zweite Position in der Stellungnahme/Übereinstimmungssequenz übernimmt. – Kollaborative Komplettierung: Ein zweiter Sprecher beteiligt sich am Turn des aktuellen Sprechers, und beide Teilnehmer produzieren gemeinsam die erste Position der Stellungnahme/Übereinstimmungssequenz. – Positionsexpansion: Der nächste Sprecher re-instanziiert die Position des vorherigen Sprechers, indem er dessen Standpunkt erweitert und die Ausfüllung der zweiten Position in der Stellungnahme/Übereinstimmungssequenz auf einen nachfolgenden Turn verschiebt. Die beiden letzten Verfahren sind vor allem deswegen interessant, da sie spezifische Formen sozialer Organisation ermöglichen. Sowohl die gesprächsorganisatorische Einheit „Turn“ als auch die sequenzielle Einheit „Position“ sind soziale Konstrukte, die normalerweise von einer einzelnen Person produziert werden. Wenn ein Turn mittels kollaborativer Vervollständigung von mehreren Sprechern produziert wird, kann der zweite Sprecher damit nicht nur Gruppenmitgliedschaft belegen, sondern auch episte-
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mische und organisatorische Hierarchien aushandeln. Positionsexpansion repräsentieren somit ein Verfahren für Allianzbildungen, das auch zur Konstituierung und Aushandlung epistemischer und organisatorischer Hierarchien genutzt werden kann.
5. Schlussbetrachtung Gegenstand dieses Beitrags war die Beschreibung von Positionsexpansion als ein interaktives Verfahren, mittels dessen Teilnehmer an einer Mehrparteiendiskussion an die Stellungnahme eines vorherigen Sprechers anschließen können. Dabei wird die vorhergehende Stellungnahme sowohl erweitert als auch die sequenzielle Erwartung auf eine Übereinstimmungsentscheidung auf einen nachfolgenden Sprecher verschoben. Ausgehend von den Daten habe ich dargelegt, dass die Äußerungen, mit denen das erreicht wird, spezifische Konstruktionsmerkmale aufweisen. Ein Redebeitrag als Positionsexpansion beginnt meist mit der Konjunktion „en“ („und“), und die erste Turnkonstruktionseinheit ist häufig morpho-syntaktisch abhängig von der Struktur der Äußerung, an die angeschlossen wird. Das wirft die Frage auf, ob es sich bei der Positionsexpansion um eine „Konstruktion“ im Sinne der Konstruktionsgrammatik (vgl. Fillmore et al. 1988; Goldberg 1995, 2005; Croft 2001) handelt. Thompson liefert folgende Definition von Konstruktion: Constructions are (semi-autonomous) conventionalized recurring sequences of forms (sounds, morphemes, words) (or classes of forms) with open slots, i.e., some positions that allow choices among classes of items of varying size. (Thompson 2002: S. 3)
Es gibt einige kontextuelle Restriktionen für die Positionsexpansion: Einerseits thematisch-sequenzielle Konstruktionsbedingungen – der Redebeitrag muss derart „on topic“ sein, dass er als eine Weiterführung der Stellungnahme des vorigen Sprechers interpretiert werden kann –, und andererseits die gesprächsorganisatorische Restriktion, dass der Redebeitrag im nächsten Redezug nach dem Turn der Ausgangsstellungnahme platziert sein muss. Wenn man solche „Gebrauchsmerkmale“ allerdings auch zur Beschreibung einer Konstruktion heranzieht, beschäftigt man sich eigentlich mit Verfahrensweisen, die in der Konversationsanalyse oft als „practices“ bezeichnet werden. Bei „practices“ handelt es sich um Turnkonstruktionsverfahren, die in interaktional spezifizierbaren Umgebungen von einem Gesprächsteilnehmer eingesetzt werden, um damit eine bestimmte kommunikative Handlung zu realisieren (Schegloff 1997). Heritage/Sorjonen (1994) beschreiben
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beispielsweise, wie eine „and-prefaced“ Fragehandlung im Kontext einer Serie von Fragen die aktuelle Frage als den nächsten Schritt in einem geplanten, unter Umständen auch institutionell festgelegten Handlungsablauf markiert. Ein weiteres Beispiel stellt die Untersuchung von Mazeland/Huiskes (2001) dar, die zeigen, wie der Konstruktionstyp [„maar“ („aber“) + Wiederholung einer weiter zurückliegenden Bemerkung desselben Sprechers] im Kontext einer gerade abgeschlossenen Nebensequenz den aktuellen Beitrag als Wiederaufnahme einer noch nicht abgeschlossenen Handlungssequenz markiert. Günthner wiederum beschreibt, wie bestimmte Typen von elliptischen Konstruktionen – „Dichte Konstruktionen“ – in Erzählungen „auf ganz bestimmte Interaktionsanforderungen zugeschnitten sind und von Interagierenden zur Ausführung spezifischer kommunikativer Aufgaben eingesetzt werden.“ (2006: S. 98). In diesen Untersuchungen – wie bei den Beiträgen von Bücker, Deppermann, Günthner, Imo und Meer in diesem Band – geht es ähnlich wie bei der hier beschriebenen Praktik der Positionserweiterung um Konstruktionen, bei denen die „offenen Stellen“ – in Thompsons Sinne – nicht nur grammatisch, sondern auch kontextuell (gesprächsorganisatorisch, thematisch und sequentiell) zu spezifizieren sind. Es geht um feste, frequente Konstruktionstechniken, die Gesprächsteilnehmer auf der Ebene der Turnkonstruktionseinheit benutzen, um damit in spezifischen Gebrauchskontexten bestimmte kommunikative Handlungen zu realisieren. Aus einer interaktionalen Perspektive können solche Konstruktionsformate daher nicht als isolierte Sprachformen beschrieben werden. Sie sind stattdessen immer als kontextuell dimensionierte „Gestalten“ zu untersuchen. Phänomene wie die Positionsexpansion verdeutlichen ferner, dass die Praktiken, mittels derer Gesprächsteilnehmer Sequenzen gestalten und organisieren, in Mehrpersoneninteraktionen teilweise anders aussehen als in dialogischen Interaktionen mit nur zwei Sprechern. Mit Verfahren wie der Positionsexpansion kann ein Gesprächsteilnehmer in einer Mehrpersoneninteraktion an die kommunikative Handlung des vorigen Sprechers anknüpfen, ohne dass die Erwartung auf eine sequenziell passende Folgehandlung erfüllt und damit ausgelöscht wird. Darüber hinaus spielt die Wahl bestimmter grammatischer Mittel auch für lokale Formen der sozialen Organisation eine wichtige Rolle (vgl. Raymond/Heritage 2006). So kann die Positionsexpansion zum Beispiel zur Allianzbildung und zur Konstitution der sozialen Hierarchie innerhalb einer Allianz beitragen.
Positionsexpansionen
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(iii) Formelhafte Verfestigungen zwischen der Wort- und der Satzebene als Ressourcen für Positionierungsaktivitäten
Quotativ-Konstruktionen mit Motto als Ressourcen für Selbst- und Fremdpositionierungen1 Jörg Bücker 1. Einleitung Nachdem soziale Positionierung in der „Discursive Psychology“ zunächst vorwiegend als die Wahl zwischen bereits gegebenen, diskursiv verankerten Bedeutungs- und Werterahmen verstanden wurde (vgl. Bamberg 2004), wurden Positionierungsaktivitäten in den letzten Jahren zunehmend auch als dynamische Bestandteile von „Impression-Management“ (Goffman 1959) entdeckt. Dabei zeigte sich, dass positionsrelevante Bedeutungs- und Werterahmen nicht einfach nur gegeben sind, sondern zumindest partiell in der Interaktion konstruiert werden. Insbesondere mit den Mitteln der Gesprächsanalyse konnten seitdem einige der sprachlichen und sequenziellen Praktiken beschrieben werden, „mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen“ (Lucius-Hoene/Depperman 2004: S. 168; vgl. außerdem Wolf 1999 und Goblirsch 2005). In dieser Untersuchung wird am Beispiel einiger Quotativ-Konstruktionen, die auf objektsprachliche (zitathafte) Syntagmen bezogen werden können, gezeigt, dass es sprachliche „Ressourcen“ (im Sinne Selting/CouperKuhlens 2000: S. 78 ff.; vgl. auch Selting/Couper-Kuhlen 2001a,b) gibt, die aufgrund ihrer morpho-syntaktischen und semantischen Eigenschaften bevorzugt unter den dynamischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der gesprochenen Sprache im Rahmen von Positionierungsaktivitäten verwendet werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Quotativ-Konstruktionen mit dem Nomen Motto. Ein Beispiel für eine solche Konstruktion liegt im folgenden Gesprächsausschnitt vor, in dem der türkische Sprecher A eine Reihe von Begegnungen mit einem Nazi beschreibt:
1
Dieser Beitrag ist im Rahmen des von Prof. Dr. Susanne Günthner geleiteten DFG-Projekts „Grammatik in der Interaktion: Zur Realisierung fragmentarischer und komplexer Konstruktionen im gesprochenen Deutsch“ entstanden. Für Hinweise und Kommentare danke ich Susanne Günthner, Sandra Dertenkötter und Wolfgang Imo.
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Jörg Bücker
(1) 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
A:
?
und da läuft der IMmer rum, und IMmer, wenn ich=äh an dem vorBEIlauf, guck ich den aber auch VOLL komisch an; is KLAR ne, also, (.) dann guck ich den halt AN; norMAL; und ER (.) guckt mich dann voll stumpf An; so nach dem MOTto, <
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Im Zuge seiner narrativen Rekonstruktion der Begegnungen mit dem Nazi leitet Sprecher A mittels der Präpositionalphrase so nach dem MOTto in Zeile 18 die auch prosodisch als solche kontextualisierte direkte Redewiedergabe was willst DU denn, du scheiß AUSländer, ein. Das Verb guckt in Zeile 17 zeigt dabei, dass die „wiedergegebene“ Rede in der geschilderten Begegnung wohl nicht geäußert wurde. Die Redewiedergabe hat hier also vor allem das Ziel, den GesprächspartnerInnen die weltanschauliche Haltung des Nazis besonders anschaulich vor Augen zu führen und ihn als stumpf(en) und aggressiven Ausländerfeind zu positionieren. Im Folgenden wird zunächst in einem ersten Schritt die Gruppe der Motto-Konstruktionen im Deutschen in drei Subtypen aufgeteilt, von denen Subtyp I die tendenziell konzeptionell formellen und medial schriftlichen Motto-Komplemente enthält. Die Subtypen II und III umfassen demgegenüber jeweils nur eine Konstruktion: das konzeptionell und medial neutrale präpositionale Motto-Supplement (Subtyp II) und die tendenziell konzeptionell informelle und medial mündliche „nach Det Motto“-Konstruktion (Subtyp III, vgl. auch Beispiel 1). In einem zweiten Schritt wird nachgewiesen, dass die „nach Det Motto“-Konstruktion aufgrund ihrer morpho-syntaktischen und semantischen Eigenschaften besonders gut für aus lokalen Bedürfnissen der Interaktion heraus spontan erfolgende szenische Elaborationen in der gesprochenen Sprache geeignet2 ist und aus diesem 2
In Bezug auf Formen szenischer Performanz vgl. Günthner (2000) zu Vorwurfsaktivitäten, Sandig (2000) und Günthner (2005) zu Alltagserzählungen sowie Gülich (1995) und Günthner (2006) zu Krankheitsschilderungen.
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
217
Grund häufig als gesprächsrhetorisches Mittel (vgl. Kallmeyer 1996 sowie Spreckels, in diesem Band) im Rahmen von Positionierungsaktivitäten verwendet wird. Abschließend werden die Motto-Konstruktionen mit weiteren Quotativ-Konstruktionen verglichen. Dadurch können einerseits in der Gruppe der konzeptionell informellen Quotativ-Konstruktionen mindestens drei Konstruktionsmuster von einander abgegrenzt werden, und andererseits kann gezeigt werden, dass die Motto-Konstruktionen in der Gruppe der hier untersuchten Quotativ-Konstruktionen insofern einen zentralen Stellenwert haben, als sie als Gruppe den breitesten Form- und Funktionsbereich abdecken. 2. Datengrundlage Die mündlichen Beispiele entstammen der Datenbank „lAuDa“ des Lehrstuhls für Deutsche Philologie (Prof. Dr. Susanne Günthner) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wurden nach den Vorgaben des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT) transkribiert (vgl. Selting et al. 1998). Die Gesprächsdaten in der Datenbank „lAuDa“ entstammen informellen Face-to-Face-Interaktionen im Familien- und Freundeskreis, Radio-Beratungssendungen sowie Gesprächen aus der Fernsehserie „Big Brother“. Zusätzlich wurden zusätzlich medial schriftliche Beispiele aus Zeitungstexten (sie entstammen dem Korpus COSMAS II des IDS) und in zwei Fällen Beispiele aus dem Internet (Foren) herangezogen. 3. Klassifikation der Quotativ-Konstruktionen mit Motto Das Abstraktum Motto steht syntaktisch in einer festen Beziehung zu einem weiteren Syntagma, das in vielen Fällen einen objektsprachlichen (zitathaften) Charakter hat. In einer Reihe von Beispielen sind die Bezugssyntagmen verfestigte, unter Umständen modifizierte Topoi (Sprichwörter, Redensarten oder Phraseologismen): (2) Vergiß die Peitsche nicht, wenn du ins Kino gehst – nach diesem Motto verfuhr der renommierte tschechische Filmregisseur Jiri Menzel beim 33. Filmfestival in Karlsbad. (Quelle: Kleine Zeitung, 11.07.1998)
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Jörg Bücker
Nur in seltenen Fällen ist das Bezugssyntagma in Motto-Konstruktionen nicht objektsprachlich:3 (3) Sie reisen nach Kanada mit einer gesunden Portion Ehrgeiz im Gepäck und wollen nicht nur nach dem Motto des olympischen Gedankens nur dabeisein, sondern im Konzert der weltbesten Judosenioren ganz vorne mitmischen. (Quelle: Tiroler Tageszeitung, 20.01.1998) Die Gruppe der Motto-Konstruktionen im Deutschen lässt sich oberflächensyntaktisch mittels der Parameter „Kategorie“, „Selbstständigkeit“, „Verweisrichtung“, „Integration“ und „Expansion“ systematisch beschreiben: – der Parameter der „Kategorie“ unterscheidet danach, ob Motto Bestandteil einer Präpositionalphrase ist oder nur nominal verwendet wird; – der Parameter der „Selbstständigkeit“ bezieht sich auf die Frage der Einbindung von Motto in die Argumentstruktur eines Verbs; – der Parameter der „Verweisrichtung“ hat die relative Position des Syntagmas, auf das sich Motto bezieht, zum Gegenstand; – der Parameter der „Integration“ betrifft die topologische Einbettung der Motto-Phrase in die syntaktische Umgebung; – der Parameter der „Expansion“ betrifft die Frage, in welchen syntaktischen Kontexten die Motto-Phrase attributiv und das Bezugssyntagma koordinativ ausgebaut wird und in welchen nicht. 3.1 Kategorie, Selbstständigkeit und Expansion Quotativ-Konstruktionen mit dem Nomen Motto treten in der deutschen Gegenwartssprache sowohl in nominaler als auch in präpositionaler Form in Erscheinung. Ersteres ist häufig in Verbindung mit Verben wie lauten und heißen sowie Motto als syntaktisch obligatorischem „Letztargument“ (vgl. Zifonun et al 1997) der Fall:
3
Ob es sich beim vorliegenden Beispiel um ein elliptisches Bezugssyntagma des Typs des olympischen Gedankens [ø] handelt, wird hier offen gelassen.
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
219
(4) „Alle ans Fest!“ lautete das Motto der Feier zum 50-Jahr-Jubiläum der AHV. (Quelle: St. Galler Tagblatt, 23.11.1998) In solchen Konstruktionen kann das Bezugssyntagma des Motto-Komplements einen prädikativen oder, wie im folgenden Beispiel, einen appositiven Status haben: (5) Daniel Eichenberger, Präsident der Auto-Show, freute sich an der Preisverleihung über den Erfolg des zum fünften Mal durchgeführten Anlasses. Die neusten Modelle, das Motto „Aufbruch in die Zukunft“ und ideales Wetter hätten das Publikum in Scharen in die 19 A-Vertretungen gelockt. (Quelle: St. Galler Tagblatt, 30.04.1997) Neben nominalen Motto-Komplementen gibt es auch präpositionale MottoKomplemente. Bei ihnen steht das Bezugssyntagma in aller Regel in einer appositiven Relation zum Nomen Motto.4 In der Schriftsprache werden entsprechende Konstruktionen besonders häufig mit den Präpositionen unter (35452 Belege im Zeitungstextkorpus des IDS) und nach (9022 Belege) gebildet: (6) Unter dem Motto „Wie man sich bettet“ steht dieser Abend. (Quelle: St. Galler Tagblatt, 26.06.1999) (7) Was immer er organisiert und managt, es geschieht nach dem Motto: „Erfolg bedingt Vertrauen.“ (Quelle: St. Galler Tagblatt, 27.05.1997) 4
Syntaktisch mögliche präpositionale Motto-Konstruktionen mit ausgelagertem prädikativen Bezugssyntagma wie Der Abend stand unter einem Motto, das „Wie man sich bettet“ lautete. waren in meinem Korpus nicht vorhanden und werden hier nicht berücksichtigt.
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Jörg Bücker
Nicht alle präpositionalen Motto-Konstruktionen haben den syntaktischen Status von Komplementen.5 In meinen Daten sind auch adverbiale Präpositionalkonstruktionen mit Motto zu finden, die syntaktisch fakultativ, sprich tilgbar sind. Sie werden häufig, aber keineswegs zwingend mit der Präposition nach gebildet und können als Supplemente klassifiziert werden: (8) Etwa eine halbe Million Menschen haben dem Zuge beigewohnt. Gegen 2 Uhr setzte sich der imposante Zug, der nach dem Motto „Die Welt im Jahre 2000“ sehr witzig und mit Geist und Glück zusammengestellt war, mit seinen Kapellen, Wagen, Reitern und historischen Figuren langsam in Bewegung, begrüsst von dem tosenden Beifall des Publikums. (Quelle: Berliner Tageblatt, 04.03.1930) Motto-Komplemente und -Supplemente erscheinen gelegentlich in attributiv erweiterter Form: (9) Man könnte den 500-seitigen Roman „Der Klavierstimmer“ unter das schöne Motto „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ stellen. Es ist ein Universum von prallen Emotionen, das Pascal Mercier entwirft. (Quelle: Züricher Tagesanzeiger, 05.01.1999) (10) Nach Andreas Khols politischem Motto, daß die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei, interpretieren neuerdings auch hochrangige ÖVP-Mitglieder der Regierung die österreichische Geschichte anders, als sie sich zugetragen hat. (Quelle: Die Presse, 18.11.2000)
5
Attributive Konstruktionen mit Motto werden im Folgenden aus Platzgründen nicht gesondert berücksichtigt.
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
221
Darüber hinaus sind in einigen Beispielen bei den Motto-Komplementen und -Supplementen Pluralbildungen mit mehreren Bezugssyntagmen zu beobachten: (11) Die NPD erwartet zu ihrer „revolutionären Demonstration des gesamten nationalen Widerstandes“ 5000 Teilnehmer. Demonstriert wird vor der Bremer Mercedes-Fabrik und in Stadtteilen, in denen viele Ausländer leben. Die Mottos: „Arbeit zuerst für Deutsche!“ und „Schluß mit der imperialistischen Nato- Intervention auf dem Balkan!“6 (Quelle: Frankfurter Rundschau, 16.04.1999) (12) Wer nach den Mottos „Weniger ist mehr“ und „Bescheidenheit ist eine Zier“, also völlig unschweizerisch, sich einen voralpinen Stuben-Grunge erschrammelt, darf sich über die kalte Schulter, die ihm hierzulande gezeigt wird, nicht wundern. (Quelle: Züricher Tagesanzeiger, 04.03.1998) Nominale und präpositionale Motto-Komplemente kommen in meinen gesprochenen Daten nicht vor (vgl. Abschnitt 2 zur Datenbasis dieser Untersuchung), während sie in meinen schriftlichen Daten keineswegs selten sind. Es scheint sich bei ihnen also um tendenziell konzeptionell formelle und medial schriftsprachliche Konstruktionstypen zu handeln (vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 1994; Dürscheid 2003; Ágel/Hennig 2006; Hennig 2006). Motto-Supplemente sind in meinen mündlichen Daten vorhanden, aber eher selten. Ein Beispiel für ein mündliches Motto-Supplement ist das folgende: (13) 165 166 167
6
M:
Ä:hm- (-) was MICH geprägt hat wa:r, (-) das offene HAUS, (-)
In diesem Beispiel liegt keine appositive Relation zum Bezugsyntagma vor, sondern eine prädikative, bei der das Kopulaverb ausgelassen und die prädikative Relation durch den Doppelpunkt gekennzeichnet wird.
222 168 169 170 171 172 173 174 ? 175 176 177 178 179
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B: M:
B: M:
eben halt, dass viele menschen immer DA warn; (.) dass immer GÄSte da waren; eine’ SEHR große toleRANZ; (-) f’=wurde mir da BEIge[bracht]; [hm ], also (.) <
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Das Beispiel entstammt einem Gespräch zwischen der Schauspielerin Mariele Millowitsch (M) und dem TV-Moderator Reinhold Beckmann (B), in dessen Verlauf Millowitsch die Offenheit und Toleranz ihrer Familie als prägende Erfahrung ihre Kindheit schildert. Die Offenheit und Toleranz ihrer Familie fasst sie unter dem leitmotivischen Motto Jeder Jeck ist anders zusammen. Die Mehrzahl der mündlichen Motto-Konstruktionen aus der Datenbank „lAuDa“ repräsentiert allerdings kein Motto-Supplement, sondern einen Konstruktionstypus, den ich im Folgenden als „nach Det Motto“-Konstruktion schematisieren und bezeichnen werde. Ein Beispiel für die „nach Det Motto“-Konstruktion findet sich in dem folgenden Ausschnitt aus einem Interview in der Sendung von Johannes B. Kerner (K). Das Thema der Sendung ist Gewalt unter Jugendlichen: (14) 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260
K:
B: K:
ich hab (.) durch den FILM eine sache kennengelernt, die ich (.)ZUgegeben nich kannte vorher, die heißt HAPpy (.) slApping; und es geht daRUM, dass Jugendliche (.)geWALT anwenden, das mit der KAmera, hab das ja schon mal geSACHT, äh im handy ABfilmen und sich dann brüsten, dass sie besonders COOL sind, (.) dass sie [besonders][() job]; b’=besonders TOLL gemacht haben, und dann als mmS, oder was auch immer [die’] [der] technische WEG is,
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B: C:
[ja [hm
], ],
WEItersenden, so nach dem MOTto, HIE:R hab ich grad mal wieder einen verhauen; B: [ja ], K: [oder] ei!NE! verhauen, so zuRÜCKhaltend sind die ja gar nich;
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Die „nach Det Motto“-Konstruktion in Zeile 264 ist Teil von Kerners Beschreibung von „Happy Slapping“, einer spezifischen Ausprägung von Jugendgewalt, die Gegenstand der Sendung ist. Die jugendlichen Täter, die Kerner beschreibt, werden mittels der ihnen zugeschriebenen, durch „nach Det Motto“ initiierten Äußerung szenisch und anschaulich als besonders empathielos, gewaltbereit und amoralisch charakterisiert.7 Die „nach Det Motto“-Konstruktion, die diesem Beispiel zugrunde liegt, ist nicht obligatorischer Bestandteil der Argumentstruktur des Verbs der vorhergehenden Äußerung und hat insofern Ähnlichkeit mit dem syntaktisch fakultativen präpositionalen Motto-Supplement (vgl. die Beispiele 8, 10, 12 und 13). Darüber hinaus kommen sowohl die „nach Det Motto“-Konstruktion als auch das Motto-Supplement in Verbindung mit der „Unschärfe-Partikel“ so (Weinrich 2005)8 vor, während entsprechende Kollokationen bei den präpositionalen Motto-Komplementen in meinen Daten Ausnahmen darstellen und bei den nominalen Motto-Komplementen nicht möglich sind (vgl. Abschnitt 4 zu den Funktionen von so). Die „nach Det Motto“-Konstruktion unterscheidet sich von dem adverbialen präpositionalen Motto-Supplement (sowie den Motto-Komplementen) jedoch in den folgenden Punkten: –
Beschränkung auf die Präposition nach
Das präpositionale Motto-Supplement tritt nicht nur mit der Präposition nach, sondern auch mit weiteren Präpositionen wie unter, getreu oder gemäß auf: 7 8
Vgl. Abschnitt 4 dieser Untersuchung zum Zusammenhang zwischen der „nach Det Motto“-Konstruktion und Positionierungsaktivitäten. Weinrich führt als Beispiele mit so als „Unschärfe-Partikel“ die Sätze der Photoapparat kostet (so) um die 500 Euro (herum) und es muß (so) um sechs Uhr (herum) gewesen sein, als plötzlich ein furchtbarer Knall… an (Weinrich 2005: S. 687). Golato (2000: S. 49 f.) weist auf Parallelen zwischen so in der hier als „Unschärfe-Partikel“ bezeichneten Funktion und dem englischen like hin, das ebenfalls quotativ verwendet werden kann.
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Jörg Bücker
(15) Unter dem Motto „Das Schwert als Statussymbol und Waffe“ werden Akteure aus Tschechien, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ihre Kampfeskünste demonstrieren. (Quelle: Berliner Morgenpost, 12.03.1999) (16) Grundsätzlich gebe es bei diesem Wettbewerb, so Peter Groll, keine Verlierer, getreu dem Motto „Mitmachen kommt vor dem Rang“. (Quelle: St. Galler Tagblatt, 18.05.1998) (17) Gemäß dem Motto „Wer anschafft, der zahlt“, soll die Gesetzesflut mit finanziellen Belastungen für andere Gebietskörperschaften eingedämmt werden. (Quelle: Vorarlberger Nachrichten, 25.01.2000) Die „nach Det Motto“-Konstruktion ist dagegen hinsichtlich der Wahl der Präposition eingeschränkter: Sie tritt in meinen Daten nur mit nach auf (vgl. die entsprechende Notierung ihres Konstruktionsschemas als „nach Det Motto“ in dieser Untersuchung). –
Desemantisierung des Nomens Motto
Während Motto als Bestandteil eines Motto-Supplements (oder auch eines Motto-Komplements) in der Regel noch die volle lexikalische Bedeutung „Leitmotiv“ für das Bezugssyntagma transportiert, kann ein mit einem selbstständigen „nach Det Motto“ verbundener Äußerungsteil semantisch nur noch bedingt die leitmotivische Dimension einer Aktivität kontextualisieren. So kann zwar jede jeck is ANders in Beispiel 13 als Leitmotiv der angesprochenen Erziehung verstanden werden, nicht aber HIE:R hab ich grad mal wieder einen verhauen als Leitmotiv des Versendens der MMS (ein leitmotivischer Zusammenhang ergibt sich hier höchstens indirekt über konversationelle Implikaturen: Der Vorgang des Verprügelns wird offenbar als für den Rezipienten interessant eingestuft, und das Leitmotiv lässt sich als „Informationen werden an Rezipienten verschickt, die an ihnen interes-
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225
siert sind“ rekonstruieren). Das Nomen Motto kann entsprechend als in der „nach Det Motto“-Konstruktion vergleichsweise desemantisiert charakterisiert werden, ohne dass damit eine Aussage über den grundsätzlichen diachronen Hintergrund der Konstruktion gemacht werden soll (vgl. in Bezug auf Prozesse der Desemantisierung im Zusammenhang mit Grammatikalisierung ansonsten Lehmann 1995; Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Hopper/Traugott 2003). Ein Hinweis auf die stärkere Desemantisierung des Nomens Motto in der „nach Det Motto“-Konstruktion besteht darin, dass Motto-Supplemente und -Komplemente häufig mit sprichwörtlichen, redensartlichen oder phraseologischen Bezugssyntagmen verwendet werden, die prototypisch leitmotivische Funktionen übernehmen. Die „nach Det Motto“-Konstruktion wird dagegen in der Regel nicht auf sprichwörtliche, redensartliche oder phraseologische Bezugssyntagmen, sondern auf typisierende9, häufig offenkundig spontan gebildete „Zitate“ bezogen, die keinen sprichwörtlich, redensartlich oder phraseologisch verfestigten Status im Sprachsystem haben. –
Präferenz für Informalität und Mündlichkeit
Meinen Daten zufolge ist die „nach Det Motto“-Konstruktion typisch für konzeptionell informelle Kontexte in der medialen Mündlichkeit. MottoSupplemente finden dagegen in formellen und informellen Kontexten gleichermaßen Verwendung. –
kein Plural von Motto, keine attributive Erweiterung der NP und kein „nomen proprium“ anstelle eines Determinierers
Während Motto-Komplemente und -Supplemente zumindest in der geschriebenen Sprache gelegentlich attributiv erweitert werden, im Plural auftreten und einen Eigennamen anstelle eines Determinierers haben (vgl. die Beispiele 9 bis 12), liegen mir keine Beispiele für attributive Erweiterungen, Pluralformen, „nomina propria“ oder Demonstrativa bei der „nach Det Motto“-Konstruktion vor. Das spricht für einen vergleichsweise höheren Verfestigungs- bzw. Phraseologisierungsgrad der „nach Det Motto“-Konstruktion. Aus den genannten vier Gründen (vgl. 3.2 für weitere Gründe) stufe ich die „nach Det Motto“-Konstruktion als eigenständigen Konstruktionstypus im
9
Vgl. zum Beispiel Mazeland (2006) zu typisierenden Formen der Redewiedergabe im Niederländischen.
226
Jörg Bücker
konstruktionsgrammatischen Sinn (vgl. Fillmore et al. 1988; Goldberg 1995, 2003, 2006; Croft 2001) ein, und es ergibt sich die folgende oberflächensyntaktische Typologie von Motto-Konstruktionen (der erste Teil des Konstruktionsschemas ist die Motto-Phrase, der zweite Teil das meist objektsprachliche Bezugssyntagma; zur Bezugsrichtung vgl. 3.2): [(P) Det Motto ](metasprachlich) + […] (objektsprachlich)
präpositional
nominal
Komplement
prädikatives Bezugssyntagma
appositives Bezugssyntagma
Komplement
Supplement
selbstständig
appositives Bezugssyntagma
appositives Bezugssyntagma
appositives Bezugssyntagma
Abbildung (1) 3.2 Verweisrichtung und topologische Integration Motto-Konstruktionen können hinsichtlich ihres Bezugssyntagmas zurückund vorverweisend bzw. retraktiv und projektiv10 verwendet werden. Insgesamt sind die retraktiven Konstruktionen im Vergleich zu den projektiven Konstruktionen seltener. So ergab die Suche im Zeitungstextkorpus des IDS für das Beispiel der präpositionalen Motto-Konstruktionen mit nach 560 Belege für das prototypisch retraktive nach diesem Motto und 8211 Belege für das prototypisch projektive nach dem Motto. Die Motto-Komplemente und die „nach Det Motto“-Konstruktion unterscheiden sich dabei sowohl beim retraktiven als auch beim projektiven Gebrauch hinsichtlich ihrer syntaktischen Umgebung.
10
Zu den Begriffen „Projektion“ und „Retraktion“ im hier gemeinten Sinne vgl. Auer (2000, 2005), Günthner (2008) sowie Günthners und Deppermanns Beiträge in diesem Band.
227
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
3.2.1 Retraktiv Beim retraktiven Motto-Komplement mit nach wird mit der Motto-Phrase das vorhergehende Bezugssyntagma aufgegriffen. Dabei befindet sich das Bezugsyntagma in meinen schriftsprachlichen Daten im Vor-Vorfeld, die Präpositionalkonstruktion folgt im Vorfeld, und der Rückbezug wird durch das Demonstrativpronomen diesem signalisiert. Das Bezugssyntagma hängt beim retraktiven Motto-Komplement also als Bestandteil desjenigen Syntagmas, zu dem die Motto-Phrase gehört, unmittelbar von Motto ab. Aus diesem Grund ist die Motto-Phrase beim retraktiven präpositionalen MottoKomplement nicht tilgbar:11 (18) Vor-Vorfeld
Vorfeld
linke Satzklammer
Mittelfeld
rechte Satzklammer
Nachfeld
„Lasst uns miteinander singen, spielen, loben den Herrn“,
nach diesem Motto
versuchte
der Evangelische Kirchenchor letzthin besonders zu
leben
ø
(Quelle: St. Galler Tagblatt, 30.06.1997) Bei der retraktiven „nach Det Motto“-Konstruktion wird die Motto-Phrase anders als beim retraktiven Motto-Komplement im Nachfeld einer vorhergehenden, syntaktisch bereits abgeschlossenen Konstruktion mit einem Verbum Dicendi oder Sentiendi realisiert. Da die Motto-Phrase dabei in der Regel nicht zu einem weiteren Satz ausgebaut wird und das Bezugssyntagma nicht von Motto, sondern von einem Bestandteil des vorhergehenden Syntagmas abhängt (im folgenden Beispiel 19 ist es etwa vom Verb sagen abhängig), ist die Motto-Phrase bei der retraktiven „nach Det Motto“-Konstruktion syntaktisch tilgbar und hat den Charakter einer nachgeschobenen und inkrementellen Modalisierung des vorhergehenden Äußerungsteils (vgl. Ford/Fox/Thompson 2002; Auer 1996, 2006 sowie die Beiträge in CouperKuhlen/Ono 2007 zum Konzept der „increments“):
11
Da das auch für das Motto-Supplement gilt, liegt hier ein weiterer Unterschied zwischen dem präpositionalen Motto-Supplement und der nach Det Motto-Konstruktion vor.
228
Jörg Bücker
(19) VorVorfeld
Vorfeld
linke Satzklammer
Mittelfeld
rechte Satzklammer
Nachfeld
ø
sie
haben
ø
gesagt…
gibts nicht .. und basta .. so nach diesem motto halt
(Quelle: Internet) 3.2.2 Projektiv Beim projektiven Motto-Komplement mit nach folgt das Bezugssyntagma der Motto-Phrase, die sich topologisch bevorzugt im Vor- und im Mittelfeld, seltener auch im Nachfeld befindet. Es kann durch die rechte Satzklammer zu kurzen syntaktischen Trennungen zwischen der (metasprachlichen) Motto-Phrase und dem nachfolgenden (objektsprachlichen) Syntagma kommen: (20) Matrixsatz
[…]
Nebensatz linke Satzklammer
Mittelfeld
rechte Satzklammer
Nachfeld
die
nach dem Motto
handle
„der Staat bin ich“
(Quelle: St. Galler Tagblatt, 23.08.1997) Die projektive „nach Det Motto“-Konstruktion findet sich demgegenüber in meinen mündlichen Daten nur im Nachfeld des vorhergehenden Syntagmas (vgl. Beispiel 14). Darin gleicht es einerseits der retraktiven „nach Det Motto“-Konstruktion und andererseits dem mündlichen Motto-Supplement, das ebenfalls häufig im Nachfeld realisiert wird (vgl. Beispiel 13):
229
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
(14) Matrixsatz
linke Satzklammer
Mittelfeld
rechte Satzklammer
Nachfeld
[…]
[dass, J.B.]
[sie das, J.B.] dann als MMS, […]
WEItersenden,
so nach dem MOTto, HIE:R hab ich grad mal wieder einen verhauen;
(13) VorVorfeld
Vorfeld
linke Satzklammer
Mittelfeld
rechte Satzklammer
Nachfeld
ø
eine’ SEHR große toleRANZ; (-)
f ’=wurde
mir da
BEIgebracht;
also (.) <
3.3 Die Subtypen der Motto-Konstruktionen Der Überblick über die syntaktischen Realisierungsformen von MottoKonstruktionen hat gezeigt, dass sich die folgenden drei Subtypen von einander abgrenzen lassen: Subtyp I (= MottoKomplemente)
Subtyp II (= MottoSupplement)
Subtyp III (= „nach Det Motto“Konstruktion)
Medialität
– tendenziell schriftlich
– mündlich und schriftlich
– tendenziell mündlich
Konzeption
– tendenziell formell
– sowohl formell als auch informell
– tendenziell informell
Morphologie, Syntax und Prosodie
– nominal und präpositional – variierende Präpositionen (unter, nach, gemäß, getreu, …) – gelegentlicher attributiver Ausbau der NP
– präpositional – variierende Präpositionen (unter, nach, gemäß, getreu, …) – gelegentlicher attributiver Ausbau der NP
– präpositional – nur mit der Präposition nach – kein attributiver Ausbau der NP – Motto wird nicht im Plural verwendet
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Jörg Bücker
Subtyp I (= MottoKomplemente)
Subtyp II (= MottoSupplement)
Subtyp III (= „nach Det Motto“Konstruktion)
– Motto wird gelegentlich im Plural verwendet – mit der „Unschärfe-Partikel“ so nicht kombinierbar (nominal) bzw. selten mit so (präpositional) – prädikatives und appositives Bezugssyntagma – in allen Feldern (präpositional) bzw. im Vor- und im Mittelfeld (nominal)
– Motto wird gelegentlich im Plural verwendet – gelegentlich mit der „UnschärfePartikel“ so – appositives Bezugssyntagma – in der geschriebenen Sprache häufig im Mittelfeld, in der gesprochenen Sprache häufig im Nachfeld in einer eigenen Intonationseinheit
– häufig mit der „Unschärfe-Partikel“ so – appositives Bezugssyntagma – in der Regel im Nachfeld in einer eigenen Intonationseinheit
Semantik
– Motto hat seine volle lexikalische Bedeutung „Leitmotiv“ – leitmotivische Lesart des Bezugssyntagmas
– Motto hat seine volle lexikalische Bedeutung „Leitmotiv“ – leitmotivische Lesart des Bezugssyntagmas
– Motto ist desemantisiert – keine (direkte) leitmotivische Lesart des Bezugssyntagmas
Verweisrichtung
– projektiv und retraktiv
– projektiv und retraktiv
– projektiv und retraktiv (letzteres mit tilgbarer Motto-Phrase)
Abbildung (2) Die Tabelle bildet ein Kontinuum ab, das von den syntaktisch unselbstständigen Quotativ-Konstruktionen (der in eine übergeordnete Argumentstruktur eingebundene, topologisch integrierte Subtyp I) über Subtyp II hin zum syntaktisch selbstständigen „nach Det Motto“ als Subtyp III (unabhängig von einer übergeordneten Argumentstruktur, topologisch peripher12, eigene 12
Vgl. Auer (1997).
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
231
Intonationseinheit) führt. Im Folgenden sollen die Hauptfunktionen der „nach Det Motto“-Konstruktion (Subtyp III) unter Berücksichtigung der Subtypen I und II kurz herausgearbeitet werden. Dabei soll gezeigt werden, dass die hohe syntaktische Selbstständigkeit der „nach Det Motto“-Konstruktion, ihre Kombinierbarkeit mit der „Unschärfe-Partikel“ so und die Desemantisierung von Motto ihren flexiblen inkrementellen Gebrauch als Mittel szenischer Elaborationen in alltagssprachlichen Positionierungsaktivitäten ermöglichen (vgl. auch Deppermann, Günthner, Meer und Spreckels, in diesem Band).
4. Funktionen der „nach Det Motto“-Konstruktion Die „nach Det Motto“-Konstruktion erscheint in den mir vorliegenden mündlichen Daten vor allem in den folgenden beiden Funktionsfeldern, die eng mit einander verknüpft sind (Formulierungsprobleme haben häufig einen szenischen Charakter): – Markierung der Bewältigung von Formulierungsproblemen – Initiierung von zitathaften oder nicht-zitathaften szenischen Elaborationen13 Unter zitathafter szenischer Elaboration wird im Folgenden die typisierende Veranschaulichung einer an einem dargestellten Ereignis teilnehmenden Figur mittels direkter Rede verstanden. Die Möglichkeit der „nach Det Motto“-Konstruktion zur Einleitung von zitathaften szenischen Elaborationen jenseits redensartlich verfestigter Äußerungsformate ist dabei der Desemantisierung von Motto geschuldet: Während die Subtypen I und II stark auf leitmotivische Zusammenhänge und damit zusammenhängende redensartliche Äußerungsformate beschränkt sind, kann die „nach Det Motto“-Konstruktion in Verbindung mit spontan aus den lokalen Bedürfnissen der Interaktion heraus gebildeten typisierenden „Zitaten“ verwendet werden. Die Hauptfunktion der Typisierung schlägt sich im häufigen Gebrauch der „Unschärfe-Partikel“ so nieder: So trägt dazu bei zu kontextualisieren, dass die direkte Rede weniger als Authentizität anstrebende Reproduktion einer tatsächlichen Äußerung, sondern vielmehr als Akt veranschaulichender Performanz zu verstehen ist. Die szenische Qualität eines zitathaften Bezugssyntagmas begünstigt den Gebrauch der „nach Det Motto“-Konstruktion im Rahmen übergeord13
Ich konzentriere mich im Folgenden auf die zitathaften Gebrauchsweisen der „nach Det Motto“-Konstruktion.
232
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neter alltagssprachlicher Positionierungsaktivitäten. Daher werde ich mich nach der Darstellung von „nach Det Motto“ als Marker der Bewältigung von Formulierungsproblemen (4.1) auf szenisch-elaborative Gebrauchsweisen von „nach Det Motto“ konzentrieren, die in gesprächsrhetorischer Funktion Bestandteil zweier unterschiedlicher Typen von Positionierungsaktivitäten sind: Selbst- und Fremdpositionierungen (4.2) und Positionierungsangebote (4.3). 4.1 „nach Det Motto“ als Marker der Bewältigung eines Formulierungsproblems „nach Det Motto“ wird in einigen Fällen eingesetzt, um die Bewältigung eines lokal aufgetretenen Formulierungsproblems zu kontextualisieren. Die Konstruktion wird dabei in der Regel von Disfluenzmerkmalen wie Pausen, Verzögerungssignalen und Anakoluthen begleitet: (21) 413 414 415 416 417 418 419 420 421 ? 422 423 424 425
A: B:
ja ich [KANN] das, [( )]’ ich KANN das bewusst einsetzen, mir verRUTSCHT sie aber auch manchmal; also ich machs nicht IMmer bewusst; aber ich KANN das schOn; ich kann damit äh (.) ANzeigen, wenn ich äh (0.5) so nach dem MOTto, ACHtung’ äh=satire, oder ACHtung’ ironie? DA:NN zieh ich die augenbraue hoch; (.) <
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) In diesem Beispiel sprechen die TV-Moderatoren Anne Will (A) und Reinhold Beckmann (B) in der Sendung „Beckmann“ über Anne Wills Angewohnheit, beim Sprechen die Augenbraue hochzuziehen. Anne Will erklärt, dass sie ihre Augenbraue nicht nur unbewusst hochzieht, sondern damit auch Satire und Ironie zum Ausdruck bringen kann. Bei der Beschreibung des bewussten Einsatzes ihrer Augenbraue treten Pausen und das Verzögerungssignal äh auf, die schließlich in einem syntaktischen Abbruch und Neuansatz münden und auf die lokale Parallelität von Planungs- und Sprechphase hindeuten.
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
233
4.2 „nach Det Motto“ im Rahmen von Selbst- und Fremdpositionierungen Häufiger als zur Markierung der Bewältigung eines Formulierungsproblems wird die „nach Det Motto“-Konstruktion zur Initiierung von zitathaften oder nicht-zitathaften szenischen Elaborationen eingesetzt, die in den meisten Fällen Bestandteil von Positionierungsaktivitäten sind: (22) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
V:
?
also war ich IMmer auf die festen Radiosendezeiten angewiesen, die hatte man natürlich dann im OHR, und man hat auch viel radio geHÖRT, und man wusste dann, wann was :LIEF, man KANNte das,.hh der VORteil war damals eben auch,= da es noch nicht so VIEle medien gab, (.) konnte man sich mit allen LEUten unterhalten, nach dem MOTto, <
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Der Gesprächsausschnitt entstammt einer Unterhaltung zwischen einem Vater (V) und seinem Sohn über die Beziehung des Vaters zur Musik. Der Vater erzählt, dass er in seiner Jugend Musik vor allem über Radiosender gehört hat. Nachdem er eingangs nur über sich selbst gesprochen hat, prototypisiert er in der Folge seine Darstellung, indem er vom Personalpronomen ich zum Indefinitpronomen man wechselt (vgl. Zeile 2). Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird schließlich klar, dass die Darstellung des Vaters Bestandteil einer Gegensatzdarstellung des Typs „Früher/Heute“ ist (vgl. Zeile 15–17). Insofern ist sie als komplexe Positionierungsaktivität zu bewerten, wie sie für generationenübergreifende Gespräche nicht selten ist: Der Vater positioniert sich vor dem Hintergrund der Erlebnisse in seiner Jugend gegenüber seinem Sohn, der über entsprechende Erfahrungen nicht
234
Jörg Bücker
verfügt. Die mit nach dem Motto eingeleitete, deiktisch in die erzählte Welt verschobene Äußerung fungiert in diesem Zusammenhang als szenische Veranschaulichung der unkomplizierten Gesprächsmöglichkeit über Musiksendungen als ein Vorteil, den die damalige Zeit hatte. Die „nach Det Motto“-Konstruktion ist nicht nur Bestandteil von Selbstpositionierungen wie in Beispiel (22), sondern findet häufig auch im Rahmen von Fremdpositionierungen Anwendung. Das ist im folgenden Beispiel der Fall, das einer Folge der Talk-Radio-Sendung „Domian“ zum Thema „Kinder können grausam sein“ entstammt: (23) 82 83
D: C:
84 85 86 87 88 89
? D: C:
D:
was sagen die DA zu dir; (-) ja:: da hab ich ja also schon ganz ganz=äh Üble sachen gehört;= du also.h [so na’ ]=nach dem MOTto, [zum BEIspiel]? der hitler hätte dich MITnehmen müssen,= oder so was; [ne], [ja];
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Anrufer Carsten (C) hat dem Moderator Domian (D) berichtet, dass er kleinwüchsig ist und daher oft von Kindern und Jugendlichen gehänselt wird. Auf Domians Frage, was die älteren Kinder zu ihm sagen, verweist Carsten auf ganz ganz=äh Üble sachen und leitet mit nach dem Motto die deiktisch in die erzählte Welt verschobene Beispieläußerung der hitler hätte dich MITnehmen müssen ein. Das Zitat ist zentraler Bestandteil der szenischen Fremdpositionierung derjenigen Kinder, unter denen Carsten zu leiden hat: Sie werden im Sinne des Sendungsthemas als besonders „grausam“ in Szene gesetzt, da sie Carsten nicht nur persönlich, sondern auch in Form von die Grenzen der „political correctness“ deutlich überschreitenden Äußerungen angreifen (vgl. auch Beispiel 1). 4.3 „nach Det Motto“ im Rahmen von Positionierungsangeboten Neben Positionierungen, in deren Vollzug einer Person eine Position unmittelbar zugewiesen wird, gibt es in meinen Daten explizite Positionierungsangebote. Positionierungsangebote bestehen darin, dass ein Sprecher eine Position entwickelt und sie dem Gesprächspartner zur Übernahme oder Ablehnung anbietet. Dies ist zum Beispiel im folgenden Gesprächsausschnitt aus einem Gespräch in der Talk-Radio-Sendung „Domian“ der Fall:
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
235
(24) 230 D: 231 232 ? 233 234 235 236 A: 237
hast DU jetzt für DICH ein=ein=ein=eines is’ bist du jetzt :AUCH in einem gewissenskonflikt; nach dem MOTto, !DA:RF! ich überhaupt so nah an einen priester herangehen, auch wenn der MITmacht; (.) HAST du diesen’ diesen gewissenskonflikt, ja den gewissenskonflikt hab ich AUCH; obwohl meine gefühle eigentlich.hh ÜBERspringen;
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“) Domian (D) und die Anruferin A unterhalten sich darüber, dass A eine heimliche Beziehung mit einem katholischen Priester hat. Nachdem A beschrieben hat, wie sehr der Priester unter der Situation leidet, macht Domian A’s Situation zum Thema. Dazu entwirft er unter Rückgriff auf ein mit „nach Det Motto“ eingeleitetes „Zitat“ einen Positionierungsvorschlag für A, der einen der Situation des Priesters vergleichbaren Gewissenskonflikt zum Inhalt hat. Die Frageform lässt den Vorschlagscharakter des Positionsentwurfs deutlich werden: Er kann von der Gesprächspartnerin modifiziert oder unmodifiziert übernommen oder abgelehnt werden. A übernimmt den Positionierungsvorschlag (vgl. Zeile 236) und stellt ihn in Kontrast zu ihrer ansonsten positiven Haltung zu ihren Gefühlen dem Priester gegenüber (vgl. Zeile 237). 4.4 Die „nach Det Motto“-Konstruktion – eine alltagssprachliche Ressource inkrementeller szenischer Elaboration Wie die Beispiele gezeigt haben, wird die selbstständige „nach Det Motto“-Konstruktion häufig dazu eingesetzt, eine szenische und meist objektsprachliche Elaboration einzuleiten (einen funktionalen Sondertypus stellt die Markierung der Bewältigung von Formulierungsproblemen dar). Die syntaktische Selbstständigkeit von „nach Det Motto“, sprich ihre Unabhängigkeit von der morpho-syntaktischen Integration in einen übergeordneten Satzrahmen und von der Argumentstruktur eines übergeordneten Verbs, macht es möglich, entsprechende Elaborationen kurzfristig und ohne den Zwang zur morpho-syntaktischen Kompatibilität mit der vorhergehenden und der nachfolgenden Konstruktion vorzunehmen. In diesem Sinne erweist sich die selbstständige „nach Det Motto“-Konstruktion als Ressource, die insbesondere im Vergleich zu den Motto-Komplementen (Subtyp I) besser für den inkrementellen, dynamischen und den lokalen Gegebenheiten und Erfordernissen der Interaktion angepassten Ausbau von Äußerun-
236
Jörg Bücker
gen geeignet ist. Sie entspricht in besonderem Maße den Bedürfnissen einer sich „on line“, sprich zeitlinear und emergent entfaltenden Kommunikations- und Interaktionssituation (vgl. Auer 2000, 2005, 2007). Da das selbstständige „nach Det Motto“ die deiktische Verschiebung des anschließenden Äußerungsteils in die erzählte Welt kontextualisieren kann, ohne dabei wie die Motto-Subtypen I und II durch die volle Semantik von Motto auf leitmotivische Zusammenhänge beschränkt zu sein, hat die selbstständige „nach Det Motto“-Konstruktion eine besondere Affinität zu alltagssprachlichen narrativen Gattungen (vgl. Günthner/Knoblauch 1996 zum Gattungskonzept), in denen es weniger um die sprachlich prägnante und kondensierte Begründung des Verhaltens von Personen als vielmehr um deren anschaulich bewertende Beschreibung geht. Hier findet die Konstruktion Anwendung als gesprächsrhetorisches Mittel szenischer Elaboration im Rahmen von Positionierungsaktivitäten: Figuren sowohl der erzählten Welt als auch der Erzählwelt können mittels ihnen zugeschriebener, häufig spontan aus den lokalen Bedürfnissen der Gesprächssituation heraus gebildeter „direkter Rede“ (vgl. Günthner 2002, 2007 zu den Problemen der Dichotomie „Direkte Rede/indirekte Rede“) besonders anschaulich als sympathisch, befremdlich, widersprüchlich usw. positioniert werden. Für diese Funktion erweist sich insbesondere die syntaktische Kombinierbarkeit mit der „Unschärfe-Partikel“ so als Vorteil, mittels derer der typisierende Charakter des Zitatteils im Unterschied zu einer bloßen Wiedergabefunktion hervorgehoben werden kann. Obschon auch die Motto-Komplemente (Subtyp I) Bestandteil von Positionierungsaktivitäten sein können, finden sie in der gesprochenen Sprache aufgrund ihrer morpho-syntaktischen und semantischen Restriktionen im Vergleich zur selbstständigen „nach Det Motto“-Konstruktion seltener Anwendung: Sie sind der Argumentstruktur von Verben unterworfen, zum Teil nicht mit der „Unschärfe-Partikel“ so kombinierbar sowie bezüglich des Nomens Motto nicht desemantisiert. Entsprechend finden sich die Motto-Komplemente vorwiegend in schriftsprachlichen Textsorten, in denen es um die sprachlich prägnante und kondensierte Begründung des Verhaltens von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht (vgl. zum Beispiel Nachrichtentexte in den Printmedien). Das Motto-Supplement (Subtyp II) wiederum kann Funktionen übernehmen, die sowohl von Subtyp I als auch von der „nach Det Motto“-Konstruktion ausgeübt werden. Das Motto-Supplement ist dabei aber aufgrund der vollen Semantik von Motto Restriktionen unterworfen, die für die „nach Det Motto“-Konstruktion nicht gelten.
237
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
Insgesamt lässt sich die tabellarische Gegenüberstellung der Konstruktionstypen I, II und III wie folgt um die Ebene des Gattungsbezugs ergänzen:
Gattungsbezug
Subtyp I (= MottoKomplemente)
Subtyp II (= MottoSupplement)
Subtyp III (= „nach Det Motto“-Konstruktion)
– Affinität zu Textsorten, in denen es um die sprachlich prägnante und kondensierte Begründung des Verhaltens von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht
– vgl. die Gattungsbezüge der Subtypen I und III
– Affinität zu alltagssprachlichen narrativen Gattungen, in denen es um die anschaulich bewertende Beschreibung und Positionierung von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht
Abbildung (3)
5. Die Motto-Konstruktionen im Kontext weiterer Quotativ-Konstruktionen Neben den Motto-Konstruktionen gibt es in der deutschen Gegenwartssprachen weitere mehr oder minder weit lexikalisierte und grammatikalisierte (vgl. Lehmann 1995; Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Hopper/Traugott 2003; Brinton/Traugott 2005) präpositionale Quotativ-Konstruktionen, mit denen ein Bezug zu objektsprachliche Syntagmen hergestellt werden kann. Zu diesen Konstruktionen zählen Fügungen mit den Nomen Prinzip, Sinn, Art und Richtung: (25) Man habe alles getestet, was am Markt sei. Gemäß dem Prinzip „Weg von der Gießkanne“ setzt der Verbund lieber auf die erwähnten Pilotprojekte. (Quelle: Die Presse, 25.03.1997)
238
Jörg Bücker
(26) „Bei den ‚3 Tenören‘ geht es ja quasi um den olympischen Gedanken beim Singen, also schneller, höher, weiter – wo die musikalische Qualität an hohen Cs gemessen wird. Das ist natürlich leicht zu persiflieren. So in dem Sinn: Wir können noch höher singen, also muß es noch besser sein“, schmunzelt er. (Quelle: Kleine Zeitung, 21.05.1997) (27) Wer einen ordentlichen Film mit lehrreicher Aussage (so in der Art „die Bösen gehören bestraft“) erwartet, ist ganz fehl am Platz. (Quelle: Salzburger Nachrichten, 31.05.1997) (28) „[…] Und dem Kind Mut machen, so in die Richtung: Toll, jetzt lernst du viele neue Freunde kennen und bekommst ein nette Lehrerin!“ (Quelle: Neue Kronen-Zeitung, 11.09.1995) Diese Quotativ-Konstruktionen verfügen jeweils über unterschiedliche Beschränkungen, die ihren Anwendungsbereich auf die ein oder andere Art und Weise begrenzen. So findet sich in der Gruppe der Konstruktionen mit dem Nomen Prinzip keine desemantisierte Entsprechung zur „nach Det Motto“-Konstruktion, die eine deiktische Verschiebung in Bezug auf ein Syntagma kontextualisieren kann, ohne durch die volle lexikalische Semantik von Prinzip eingeschränkt zu werden. Entsprechungen zu den MottoKomplementen oder -Supplementen, sprich den Subtypen I und II sind dagegen mit Prinzip problemlos bildbar. Genau umgekehrt verhält es sich mit Konstruktionen mit den Nomen Art und Richtung: „in Det Art“ und „in Det Richtung“ können morpho-syntaktisch und funktional ähnlich wie die „nach Det Motto“-Konstruktion verwendet werden (ein oberflächensyntaktisches Indiz dafür ist die häufige Kombination mit der „Unschärfe-Partikel“ so, vgl. die Beispiele 27 und 28), auch wenn sie in meinen Daten seltener als die Letztere vorkommen. Dafür gibt es aber keine Entsprechungen zu den nominalen Motto-Komplementen (Subtyp I): Die Nomen Art und Richtung sind aufgrund ihrer Semantik in
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
239
Bezug auf ein objektsprachliches Syntagma nur präpositional und appositiv verwendbar. Bei den Sinn-Konstruktionen kann „in Det Sinn“ ebenso wie die selbstständige „nach Det Motto“-Konstruktion verwendet werden (vgl. auch hier die Kombination mit der „Unschärfe-Partikel“ so etwa in Beispiel 26), aber hinsichtlich der Motto-Komplemente fehlt die Möglichkeit zur Bildung einer nominalen Konstruktion mit appositivem Bezugssyntagma. Im Gesamtbild decken die Motto-Konstruktionen also einen im Vergleich zu strukturell und funktional eng verwandten Quotativ-Konstruktionen mit Prinzip, Sinn, Art und Richtung breiteren Form- und Funktionsbereich ab. In diesem Sinne kann ihnen durchaus ein zentraler Status in der Gruppe der hier untersuchten Konstruktionen zugewiesen werden. Abschließend sei hinsichtlich der Gruppe der selbstständigen, konzeptionell eher informellen und medial eher mündlichen Konstruktionen, die sich auf objektsprachliche Syntagmen beziehen können, auf zwei weitere wichtige Quotativ-Konstruktionen hingewiesen, die ebenso wie die selbstständigen „nach Det Motto“-, „in Det Sinn“-, „in Det Art“- und „in Det Richtung“-Konstruktionen häufig Anwendung finden im Rahmen von szenischen Positionierungsaktivitäten. Es handelt sich dabei zum einen um das zitierende „XP von wegen“14 (Beispiel 29 bzw. 14 in Bücker 2008) und zum anderen um die „(und) Pron so“-Konstruktion (Beispiel 30): (29) 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
?
C: und das [ISses ( )] D: [hast ] du denn mit denen denn noch mal telefonI:ERT, oder [irgendWIE]C: [JA=ja ] C: da stand ne teleFONnummer drunter;= und ich hab da auch ANgerufen;= NE, D: [ach SO ]; C: [von wegen] HÖRN=se mal;= was SOll das hier, wie=wie fangen sie eigentlich ihre KUNden;= hab ich geSACHT;=
(Quelle: Audio-Datenbank „lAuDa“)
14
XP steht für eine vorhergehende Konstituente (meist ein Verb oder ein Nomen), an die von wegen und seine Projektion anschließen, zum Beispiel meckern von wegen … oder das Gejammer von wegen …
240
Jörg Bücker
(30) Lukas [October 4th, 2006 at 19:13]: Der Tel, wo ich wirklich Angst kriegte, war dieser idiotische Sicherheitscheck. Ich so nach dem Motto: „Oh, hab ich vergessen, schmeißen Se’s halt weg …“ Und die so: „Moooooment, das ist eine Flüssigkeit und Sie hätten wissen müssen …“ und erst mal den kompletten Rucksack durchwühlt und einen geheimnisvollen Abstrich daraus genommen und in ein (vermutlich nur mit wahllos blinkenden LEDs ausgestattetes und ansonsten hohles) Gerät geschoben. (Quelle: Internet) Das zitierende „XP von wegen“ tritt in meinen Daten ebenso wie „nach Det Motto“, „in Det Sinn“, „in Det Art“ und „in Det Richtung“ häufig zusammen mit der „Unschärfe-Partikel“ so auf und wird für szenische, typisierende und positionierende Redewiedergaben verwendet. Im Unterschied zu den letzteren Konstruktionen, die kategorial vollständige, aber lexikalisierte Präpositionalphrasen mit desemantisierten Nomen darstellen, ist beim zitierenden „XP von wegen“ im Zuge der diachronen De- bzw. Rekategorisierung (vgl. König/Kortmann 1992 bzw. Hopper/Traugott 2003) der Präposition von wegen zu einem „quotative complementizer“ die Position der präpositional regierten Nominalphrase zu einer kategorial unspezifischen „Leerstelle“ geworden, die mit komplexen und ggf. objektsprachlichen Elaborationen gefüllt werden kann.15 „XP von wegen“ wird überdies anders als „nach Det Motto“ usw. in der Regel modifizierend verwendet (im Schema symbolisiert durch die Modifikanden „XP“; vgl. dazu Bücker 2008). Im Unterschied zu den gegenwartssprachlich eindeutig präpositionalen Quotativ-Konstruktionen des Typs „nach Det Motto“ sowie zu „XP von wegen“, das sprachhistorisch präpositionale Wurzeln hat, hat die „(und) Pron so“-Konstruktion (vgl. Golato 2000) sowohl sprachhistorisch als auch gegenwartssprachlich keine präpositionalen Züge. Sie findet allerdings ebenso wie „nach Det Motto“ usw. und „XP von wegen“ bevorzugt Anwendung in informellen und performativ-narrativen Kontexten (vgl. die Bei15
Vgl. Romaine/Lange (1991) zu like im Englischen sowie Mazeland (2006) zu van im Niederländischen als zwei weiteren Zitatkonstruktionen, die diachron ebenfalls auf Präpositionen zurückgehen.
241
Quotativ-Konstruktionen mit Motto
spiele und die Analysen in Golato 2000). Wie Beispiel 30 überdies zeigt, kann „(und) Pron so“, das ansonsten meist alleine auftritt, auch in Kombination mit präpositionalen Konstruktionen des Typs „nach Det Motto“ verwendet werden.16 Insgesamt lassen sich damit mindestens die folgenden drei Muster A, B und C in der Gruppe der hier berücksichtigten tendenziell konzeptionell informellen und medial mündlichen Quotativ-Konstruktionen unterscheiden (die Darstellung nimmt keine Vollständigkeit in Anspruch): Typ
A.
B. C.
Konstruktionsschema
Bezugssyntagma
…
so
P/QC17
Det
N
…
(so)
nach
d(ies)em
Motto
…
…
(so)
in
d(ies)em/er/(i)e
Sinn/Art/Richtung
…
XP
(so)
von wegen
(und) Pron
18
so
… …
Abbildung (4) Insbesondere das zitierende „XP von wegen“ (Muster B), aber auch die „(und) Pron so“-Konstruktion (Muster C) sind anders als die Konstruktionen, die unter Muster A fallen, aufgrund des strukturellen Fehlens einer Nominalphrase mit lexikalischem Kopf hinsichtlich ihres objektsprachlichen Bezugssyntagmas nicht retraktiv verwendbar (der retraktive Bezug wird bei Muster A durch ein adnominales Demonstrativpronomen markiert): (19’) Sie haben gesagt „Gibt’s nicht und basta“… so nach diesem motto halt/ *so von wegen halt/*die so halt.
16
Ein Beispiel für „Pron so von wegen …“ habe ich in meinen Daten dagegen nicht gefunden, möglicherweise weil das zitierende „XP von wegen“ relativ fest an einen vorhergehenden „äußerungsaktbezeichnenden“ Modifikanden, hier symbolisiert als „XP“, gebunden ist (zum Beispiel deine Äußerung von wegen…, vgl. Bücker 2008). 17 P = Präposition, QC = „quotative complementizer“ (das zitierende von wegen). 18 Die Partikel so ist in der „(und) Pron so“-Konstruktion nicht tilgbar und hat häufig eine deutliche deiktische Qualität (vgl. Golato 2000: S. 45). Es handelt sich also um ein anderes so als das so bei den Konstruktionen der Muster A und B.
242
Jörg Bücker
Darüber hinaus hat das zitierende von wegen keine Entsprechungen zu den Quotativ-Konstruktionen des Subtyps I19, und die „(und) Pron so“-Konstruktion lässt sich mit Konzepten wie „Komplement“ und „Supplement“ kaum analysieren, da sie zwar „satzwertig“ verwendet wird (vgl. Inquitformeln wie er sagte …), aber kein Prädikat hat.20 Die neben den offenkundigen Parallelen vorhandenen deutlichen Unterschiede zwischen den Mustern A, B und C in der Gruppe der informellen Konstruktionen deuten ebenso wie die Vielfalt der einzelnen Konstruktionsgruppen mit Motto, Prinzip, Sinn, Art und Richtung darauf hin, dass bei der Beschreibung sowohl der Binnenstruktur der einzelnen Konstruktionsgruppen als auch des Zusammenhalts zwischen den unterschiedlichen Konstruktionsgruppen auf Konzepte wie das der Familienähnlichkeiten zurückgegriffen werden müsste (vgl. Wittgenstein 1953/2003, Rolf 1995, Hopper 2001 und Günthner, in diesem Band). Da der Gesamtheit der hier untersuchten Konstruktionen nur das Merkmal gemeinsam ist, sich auf ein potentiell objektsprachliches Syntagma zu beziehen,21 könnten mit Heine (1992: S. 346) mehrere mit einander verbundene bzw. sich überlappende polythetische Klassen unterschieden werden, deren Mitglieder jeweils über keine vollständig identischen Merkmalsmatrizen verfügen. Eine dieser polythetischen Klassen wäre die der selbstständigen metasprachlichen Konstruktionen, die sich durch Informalität, eine vergleichsweise hohe morphosyntaktische Autonomie und wenige lexiko-semantische Beschränkungen auszeichnen und aus diesen Gründen als Quotativ-Konstruktionen in alltagssprachlichen narrativen Gattungen im Rahmen von Positionierungsaktivitäten eingesetzt werden können.
19
20 21
Als „quotative complementizer“ kann von wegen zusammen mit seinem Bezugssyntagma kein Komplement in einem übergeordneten Satzrahmen sein. von wegen hat aufgrund seiner modifizierenden Relation zu einem nominalen oder verbalen Modifikanden eher Ähnlichkeit mit attributiven und adverbialen Konstruktionen (vgl. die Darstellung in Bücker 2008). Vgl. Hennig (2006: S. 177) zur Kopplung des Satzbegriffs an das Vorhandensein eines finiten Verbs. Die Gruppe enthält satzwertige Konstruktionen (Nomen plus prädikatives Bezugssyntagma), satzwertig-„elliptische“ Konstruktionen („(und) Pron so“), appositiv erweiterte Nomen, Präpositionalkonstruktionen und „Komplementierer“. Auf der Ebene der syntaktischen Relationen liegen Komplemente, Supplemente und „quasi-attributive/-adverbiale“ Konstruktionen (das zitierende von wegen) vor. Semantisch sind in den Konstruktionen so unterschiedliche Nomen wie Motto und Richtung vorhanden. Unter pragmatischen Gesichtspunkten gibt es metaphorische (einige der Muster A-Konstruktionen) und nicht-metaphorische Konstruktionen (Muster B). Medial handelt es sich schließlich um mündliche, schriftliche und medial neutrale, konzeptionell um formelle, informelle und konzeptionell neutrale Konstruktionen.
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6. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Motto-Konstruktionen ein FormenSpektrum darstellen, das mit medialen, konzeptionellen, funktionalen und gattungsspezifischen Präferenzen korrespondiert: – Die tendenziell konzeptionell formellen und medial schriftlichen Motto-Komplemente (Subtyp I) sind in einen übergeordneten Satzrahmen integriert und haben aufgrund der vollen Semantik von Motto eine Affinität zu Textsorten, in denen es um die sprachlich prägnante und kondensierte Begründung des Verhaltens von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht; – Die tendenziell konzeptionell informelle und medial mündliche „nach Det Motto“-Konstruktion (Subtyp III) ist syntaktisch vergleichsweise autonom; sie ist aufgrund ihrer Selbstständigkeit und der Desemantisierung von Motto sowie begünstigt durch die Kombinierbarkeit mit der „Unschärfe-Partikel“ so häufig gesprächsrhetorischer Bestandteil alltagssprachlicher narrativer Gattungen, in denen es um die anschaulich bewertende Beschreibung und Positionierung von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht; – Das Motto-Supplement (Subtyp II) nimmt einen Zwischenstatus zwischen den Subtypen I und III ein: Es ist konzeptionell und medial neutral, und es kann Funktionen übernehmen, die sowohl von Motto-Komplementen als auch von der „nach Det Motto“-Konstruktion ausgeübt werden; dabei ist es aber aufgrund der vollen Semantik von Motto Restriktionen unterworfen, die für die „nach Det Motto“-Konstruktion nicht gelten.22 Der Vergleich der Motto-Konstruktionen mit weiteren, strukturell und/oder funktional verwandten Quotativ-Konstruktionen hat gezeigt, dass eine Beschreibung aller hier angesprochenen Quotativ-Konstruktionen als Gruppe aufgrund der morpho-syntaktischen, semantischen, pragmatischen und funktionalen Heterogenität auch auf Konzepte wie das der Familienähnlichkeiten zurückgreifen müsste (vgl. zum Beispiel die Unterschiede zwischen den Mustern A, B und C in der Gruppe der selbstständigen metasprachlichen Quotativ-Konstruktionen). Dabei kann den Motto-Konstruktionen insofern ein Sonderstatus zugebilligt werden, als sie als Gruppe den
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Vor diesem Hintergrund ist die Hypothese naheliegend, dass die „nach Det Motto“-Konstruktion diachron eine sich in der gesprochenen Sprache über konversationelle Implikaturen herausgebildete spezialisierte Variante des Motto-Supplements darstellt.
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breitesten Form- und Funktionsbereich abdecken: Motto-Konstruktionen kommen – nominal und präpositional, – als Komplement, als Supplement und selbstständig, – mit appositivem und prädikativem Bezugssyntagma, – projektiv und retraktiv, – hinsichtlich der Semantik des zentralen Nomens sowohl semantisch vollwertig als auch desemantisiert sowie – in Begleitung mit der „Unschärfe-Partikel“ so und ohne diese vor. Den anderen Quotativ-Konstruktionen und Konstruktionsgruppen, die zum Vergleich herangezogen wurden, fehlte jeweils mindestens eine dieser Konstruktionsmöglichkeiten. Literatur Ágel, Vilmos/Mathilde, Hennig (Hrsg.), Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000, Tübingen 2006. Auer, Peter, „On the Prosody and Syntax of Turn-Continuations“, in: Elizabeth Couper-Kuhlen/Margret Selting (Hrsg.), Prosody in Conversation, Cambridge 1996, S. 51–100. Auer, Peter, „Formen und Funktionen der Vor-Vorfeldbesetzung im gesprochenen Deutsch“, in: Peter Schlobinski (Hrsg.), Syntax des gesprochenen Deutsch, Opladen 1997, S. 55–91. Auer, Peter, „On line-Syntax – oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen“, in: Sprache und Literatur 85/2000, S. 43–56. Auer, Peter, „Projection in interaction and projection in grammar“, in: Text 25/2005, 1, S. 7–36. Auer, Peter, „Increments and more. Anmerkungen zur augenblicklichen Diskussion über die Erweiterbarkeit von Turnkonstruktionseinheiten“, in: Arnulf Deppermann/Reinhard Fiehler/Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.), Grammatik und Interaktion, Radolfzell 2006, S. 279–294. Auer, Peter, „Syntax als Prozess“, in: Heiko Hausendorf (Hrsg.): Gespräch als Prozess. Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion, Tübingen 2007, S. 95–142. Bamberg, Michael, „Positioning with Davie Hogan – Stories, Tellings, and Identities“, in: Colette Daiute/Cynthia Lightfoot (Hrsg.), Narrative Analysis. Studying the Development of Individuals in Society, London 2004, S. 135–157. Brinton, Laurel J./Traugott, Elizabeth C., Lexicalization and language change, Cambridge 2005. Bücker, Jörg, „‚Elf Freunde sollt ihr sein? Von wegen!‘ – nicht-präpositionale Spielarten mit ‚von wegen‘ als Projektorkonstruktionen in der deutschen Gegenwartssprache“, in: Gidi-Arbeitspapierreihe 17/2008. Couper-Kuhlen, Elizabeth/Ono, Tsuyoshi (Hrsg.), Turn Continuation in Cross-Linguistic Perspective (= Pragmatics 17/2007, 4).
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Was wir sagen, wenn wir es „ehrlich“ sagen… Äußerungskommentierende Formeln bei Stellungnahmen am Beispiel von „ehrlich gesagt“ Benjamin Stoltenburg 1. Einleitung Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die äußerungskommentierende Gesprächsformel ehrlich gesagt, die wie auch die verwandten Konstruktionen offen gesagt, um die Wahrheit zu sagen, wenn ich ehrlich bin, auf gut Deutsch gesagt einen Metakommentar zu einer laufenden Äußerung darstellt. Scheinbar harmlos lässt sie sich in eine Reihe anderer äußerungskommentierender Formeln einreihen, die gewisse Parallelen aufweisen: Ich halt gar nichts von dir. Dazu bist Du mir auch ehrlich gesagt/wahrscheinlich/ zweifellos/leider/Gott sei Dank in dem Moment noch nicht wichtig genug.
Diese Liste, die prima facie sehr einleuchtend und homogen wirkt, hat jedoch bei näherer Betrachtung ihre Tücken. So macht es durchaus Sinn, evaluative oder epistemische Gradunterscheidungen von Behauptungen oder Bewertungen zu machen (vgl. Günthner in diesem Band). Die gleiche Kommentarfunktion in Bezug auf „Ehrlichkeit“ ist jedoch entweder sinnlos oder schockierend: Während der Wahrheitsgehalt einer Äußerung, die Bewertung eines Sachverhalts durchaus von Interesse ist, ist die Erläuterung, dass das, was man sagt, auch ehrlich gemeint ist, etwas, das wir normalerweise immer voraussetzen. Das Besondere dieser Kommentare erkennt man schon daran, dass alle anderen Äußerungskommentare skalar sind: von „zum Glück“ ist es ein langer Weg bis „bedauerlicherweise“; zwischen den Polen „zweifelsohne“ und „möglicherweise“ gibt es (fast) unendlich viele Abstufungen. Für „Ehrlichkeit“ gibt es weder diese Abstufungen noch ein entsprechendes Konterpart „*Du bist mir gelogen in dem Moment nicht wichtig genug.“ Diese Kommentare scheinen die jeweiligen Bewertungen nicht zu qualifizieren, sondern vielmehr ein höheres konversationelles Prinzip anzurufen. Die Beteuerung der Aufrichtigkeit soll also nicht heißen, dass man ansonsten gerne die Unwahrheit sagt oder sagen könnte, sondern der Rekurs auf die eigene Aufrichtigkeit dient dazu, eine ansonsten nicht
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mögliche Äußerung zu lizensieren. Zur Überprüfung dieser Behauptung sollen zunächst einige theoretische Konzepte vorgestellt werden, mit deren Hilfe eine Phrase wie ehrlich gesagt analysiert werden kann. Im Anschluss daran werden das Vorkommen und die Verwendungsweisen von ehrlich gesagt in Alltagsgesprächen untersucht.
2. Eine Theorie sprachlicher Interaktion Es herrscht kein Mangel an Sprach-, Grammatik- und Syntaxtheorien. Die Beschäftigung mit Sprache kann auf eine lange Tradition zurückblicken – zumindest was die Beschreibung kontextfreier, schriftbasierter oder lexikologischer Sprachproben angeht. Um Sprache in ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang zu untersuchen, bedurfte es jedoch erst einer „pragmatischen Wende“ innerhalb der Sprachwissenschaft(en).1 40 Jahre nach dieser Wende hat das Interesse am Sprachgebrauch ein umfang- und facettenreiches, aber auch disparates und uneinheitliches Wissen über sprachliche Interaktion angehäuft, das sich aus den unterschiedlichsten Disziplinen speist (Linguistik, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Kulturwissenschaft). Eine zusammenfassende Darstellung dieses Panoramas existiert bisher (und wohl auch auf absehbare Zeit) noch nicht: Die bedeutendsten Erkenntnisse zum Thema [sprachliches Handeln bzw. sprachliche Interaktion], über die wir heute verfügen, gehen auf soziologische, sprachphilosophische und anthropologische Theoretiker zurück. Auf ihren Schultern eine ausgearbeitete Handlungstheorie zu entwickeln, die linguistische Fragestellungen im engeren Sinn unmittelbar mit einbezieht, ist bisher nur in Fragmenten gelungen. (Auer 1999: S. 1)
In Ermangelung einer übergeordneten pragmatischen Theorie werden auch zur Konstruktion ehrlich gesagt im Zusammenhang mit Stellungnahmen in Gesprächen verschiedene Erklärungsansätze unterschiedlicher Provenienz herangezogen werden müssen. Ob der Gegenstand dadurch auseinanderfällt oder vielleicht sogar noch gewinnt, wird sich zeigen. Denn wir haben es nicht nur mit unterschiedlichen Zugängen zu tun – die meisten von ihnen sind noch dazu traditionell un-empirisch. Bei dem Versuch, argumentative Prozesse in natürlichen Alltagsgesprächen nach1
Zu den Defiziten einer schriftbasierten, introspektiven Sprachbeschreibung, die sich nicht an der sprachlichen Praxis orientiert, vgl. auch Günthner (Ellipsen), Deppermann (Modalpartikeln), Spreckels (Abtönungspartikeln) und Imo (Erkenntnisprozeßmarker) in diesem Band.
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zuzeichnen, stellt sich also immer wieder das Problem, die Phänomene in den Daten an die entsprechende Theorie zurückzubinden: Während die philosophisch inspirierte und von normativen Interessen motivierte Argumentationstheorie unter einem Empiriedefizit leidet, fehlt es in der Gesprächsforschung bisher weitgehend an einer begrifflich präzisen Untersuchung der spezifisch argumentativen Charakteristika verbaler Interaktionen. (Deppermann 2003: S. 10)
Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als die verschiedenen Theorien und deren Beschreibungsinstrumentarium zu nutzen, in der Hoffnung aus ihren Tupfern ein impressionistisches Gesamtbild zu erhalten. 2.1 Rhetorik Dass es ratsam ist, seine Zuhörer nicht unvorbereitet mit mehr oder minder schockierenden Formulierungen, Gedankengängen oder Sachverhaltsdarstellungen zu konfrontieren, sondern sie – sid venia verbo – vor der unumwundenen Wahrheit zu warnen, war schon den antiken Rhetoren bewusst. Quintilian (institutio oratoria IX 2: S. 16–17) bezeichnet diese Gedankenfigur (figura sententia) auch als Antizipation: Problematische Redeteile werden angekündigt, um den Einwänden der Redegegner zuvorzukommen bzw. um das Wohlwollen der Zuhörer nicht zu verspielen. Von ganz erstaunlicher Wirkung aber ist in Prozessreden das Vorwegnehmen [praesumptio], die sogenannte προ´ λημψις, wobei wir einen Einwand, der gemacht werden kann, mit Beschlag belegen. […] Doch bildet es zwar eine einheitliche Gattung, jedoch mit verschiedenen Erscheinungsformen. Sie erscheint nämlich als eine Art Vorkehrung [praemunitio], […] oder als eine Art Geständnis [confessio], […] oder als eine Art Vorankündigung [praedictio], so in dem Satz: „Ich spreche nämlich nicht, um die Anschuldigung aufzubauschen“; als eine Art Berichtigung [emendatio] so: „Ich bitte um Nachsicht, wenn ich zu weit ausgeholt habe“; am häufigsten als Vorbereitung [praeparatio], wenn gern ausführlicher gesagt wird, warum wir etwas tun wollen oder warum wir es getan haben. (Quintilianus 1995: S. 275 f.)
So ehrwürdig und umfangreich der terminologische Apparat auch ist, den uns die antiken Rhetorik-Theoretiker hinterlassen haben, erweist er sich bei der Anwendung auf authentische Gesprächsdaten als wenig hilfreich. Das liegt an der „tragischen“ Entwicklung, die diese ars bene dicendi im Laufe der Jahrhunderte durchgemacht hat. Ehlich (2006) spricht gar von „Paradoxien der Linguistik“ und bringt es auf den Punkt: Eigentlich scheint danach alles klar zu sein: Die Grammatik behandelt die Schrift, die Rhetorik behandelt die Rede – eine geradezu perfekte disziplinäre Arbeitsteilung. Aber so paradox, wie sich die Situation für die Grammatik darstellt, eine Schriftlehre der gesprochenen Sprache, so paradox bietet sie sich auch hinsichtlich
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der Rhetorik dar, einer geradezu tragischen Disziplin. Nachdem sie, und dies schon verhältnismäßig kurze Zeit nach ihrem Aufkommen, ihren „Sitz im Leben“, nämlich in der Polis und für sie, verloren hatte, wurde sie mehr und mehr zu einer „literarischen“ Rhetorik […], zu einer Redelehre der geschriebenen Sprache, zu einer schriftbezogenen Redelehre. (Ehlich 2006: S. 12 f.)
Da die Rhetorik andere Wege eingeschlagen hat und wesentliche gesprächsrelevante Aspekte – wie z. B. prosodische, sequenzielle und interaktionale Prozesse – ausblendet,2 bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Grammatik von ihrer Schriftfixiertheit zu lösen und zu einer „Grammatik der gesprochenen Sprache“ zu kommen – auch wenn γρα´ μμα buchstäblich etwas anderes bezeichnet. 2.2 „Grammatik“ der gesprochenen Sprache Kommen wir zurück zu unserem Eingangsbeispiel: Ich halt gar nichts von dir. Dazu bist Du mir auch ehrlich gesagt/wahrscheinlich/ zweifellos/leider/Gott sei Dank in dem Moment noch nicht wichtig genug.
Es handelt sich bei ehrlich gesagt um eine Sprechakt- bzw. Satzadverbiale, die in Form einer Partizipialkonstruktion realisiert ist. Pittner (1999) unterscheidet in ihrer umfangreichen Monographie innerhalb der Satzadverbiale folgende Unterklassen: epistemisch, evaluativ, subjektorientiert, Bereichsadverbial und Konjunktionaladverbial. Interessanterweise (und im Gegensatz zu anderen Untersuchungen; vgl. Bartsch 1972: S. 141 ff. und Renz 1993: S. 32) schlägt sie die „Adverbiale der Subjekthaltung“ den Modaladverbialen zu, da sie im Gegensatz zu Satzadverbialen „nicht die Art und Weise des Handlungsvollzugs, sondern die Haltung des Subjektsreferenten zu einem Ereignis“ bezeichnen (Pittner 1999: S. 105 f. und S. 112–118 vor allem die Tabellen 130 und 137). Der Terminus „Satzadverbial“ ist dabei etwas irreführend, da auch andere Adverbialtypen den ganzen Satz in ihren Skopus nehmen können.3 Nach Bußmann (2002: S. 579) sind Satzadverbiale „durch Satzadverbien (hoffentlich, vielleicht) oder präpositionale Fügungen (ohne Zweifel) ausgedrückte subjektive Stellungnahmen des Sprechers zum Sachverhalt“. Pittner legitimiert ihre Aufteilung zwischen Subjekthaltung und Subjektorientierung bzw. zwischen Modal- und Satzadverbial mit semantischen Unterschieden, mit der (Un)möglichkeiten der
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Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen, die versuchen, die Rhetorik wieder als linguistische Disziplin zu etablieren, z. B. die „Gesprächsrhetorik“ von Kallmeyer (1996). Eisenberg (1999: S. 207) lehnt den Terminus „Satzadverb“ generell ab, da damit Kategoriales mit Funktionalem vermischt werde und man dann streng genommen auch von „Verbadverb“ sprechen müsste.
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Paraphrasierung und mit dem unterschiedlichen Verhalten bei Negation, da (subjektorientierte) Satzadverbiale im Gegensatz zu (Modal)adverbialen der Subjekthaltung nicht im Skopus der Satznegation stehen. „Das Satzadverbial ist demnach nicht Teil der propositionalen Bedeutung, das Satzadverbial gehört nicht zur Welt, über die gesprochen wird, sondern es bezeichnet eine Einstellung, mit der über die Welt gesprochen wird“ (Pittner 1999: S. 108). Die für uns relevante Kategorie ist die der Sprechakt-Adverbiale (ob nun als Subklasse der Satzadverbiale oder als Adverbiale sui generis). „Sprechakt-Adverbiale gehören weder zur Proposition eines Satzes, noch bewerten sie diese in irgendeiner Weise, vielmehr beinhalten sie einen Kommentar zur Äußerung selbst“ (Pittner 1999: S. 320) – der erste Teil der Definition unterscheidet sie von den Modaladverbialen, der zweite Teil von den Satzadverbialen. Ein paar Beispiele sollen das veranschaulichen: (Modal)adverbiale der Subjekthaltung (subject adjunct): John deliberately hid the money. Hans antwortete nicht intelligent. Subjektorientierte Satzadverbiale (subject disjunct): John cleverly hid the money. Hans antwortete intelligenterweise nicht. Sprechakt-Adverbiale: briefly, precisely, roughly (style disjunct) frankly, sincerely, honestly (attitudinal disjunct) Hans Antwort war ehrlich gesagt falsch. Hans Antwort war streng genommen falsch.
Besonders in der angelsächsischen Tradition gelten Sprechakt-Adverbiale im Gegensatz zu Pittners Systematik als Teil der Satzadverbiale – auch wenn sie häufig unter anderem Namen firmieren (style disjuncts (Quirk/Greenbaum 1973), pragmatic adverbs (Bellert 2004), performative adverbs (Huang 1975), speech act adverbials (Swan 1988). Einige Grammatiken (Admoni 1970: S. 201; Erben 1966: S. 157; Helbig/Buscha 2001: S. 430) bevorzugen für die Satzadverbiale, die nicht die Satzaussage modifizieren, sondern eine subjektive Sprechereinstellung zum Ausdruck bringen, die Bezeichnung „Modalwort“. Für Helbig/Buscha (2001: S. 432 f.) sind Adverbien und Modalwörter „kondensierte Varianten zu expliziteren Strukturen“. Evaluative Adverbien („Modalwörter“) sind nicht wie die anderen Adverbien Kondensate von Prädikaten, sondern von Einstellungsoperatoren und können nicht „auf der gleichen semantischen Ebene interpretiert werden wie die bewerteten Propositionen selbst“. Daraus erklärt sich auch das unterschiedliche Verhalten bei der Negation:
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„Prädikate können immer negiert werden, Operatoren jedoch nicht“ (Helbig/Buscha 2001: S. 433).4 Der Verdacht liegt nun nahe, genau in dieser Eigenschaft einen Grund dafür zu sehen, warum ehrlich gesagt in unserem Beispiel kein negatives Gegenstück besitzt.5 Das Problem ist nur, dass nach einer Paraphrasierung durch einen Matrixsatz auch die Modalwörteräquivalente negiert werden können. *Er kommt nicht vermutlich. Aber: Ich vermute nicht, dass er kommt. Während sie als Modalwörter eine Behauptung kommentieren, wird nach der Umformung in einen Matrixsatz dieser Kommentar selbst behauptet – und dadurch auch negierbar. Das gleiche gilt für ehrlich gesagt jedoch nicht: ?Ich sage nicht ehrlich, dass du mir in dem Moment wichtig bist. ?Ich sage ehrlich nicht, dass du mir in dem Moment wichtig bist. Die Blockade muss von „ehrlich“ ausgelöst werden und kann hier nicht an der Quotativ-Funktion von „sagen“ liegen, da es durchaus Redeeinleitungen des Typs „ich sage damit nicht, dass…“ gibt. 2.3 Marking of Stance: Adverbiale Markierungen von subjektiven Sprechereinstellungen Das englische Adverbialsystem gliedert sich in drei große Gruppen: adjuncts, conjuncts und disjuncts. Während die adjuncts weitgehend in die Satzstruktur integriert sind, kommt den conjuncts die Funktion zu, Sätze miteinander zu verbinden. Dementsprechend unterscheiden sich die disjuncts von den anderen dadurch, dass sie weder syntaktisch integriert noch satzverknüpfend auftreten. Je nach Skopus werden zwei Untergruppen von disjuncts unterschieden, die einmal die Form ein anderes Mal den Inhalt kommentieren: Disjuncts can be divided into two main classes: style disjuncts (by far the smaller class) and attitudinal disjuncts. Style disjuncts convey the speakers comment on the form of what he is saying, defining in some way under what conditions he is spea4
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Vgl. (vorletzte) Duden-Grammatik (1998: S. 372): „Kommentaradverbien können nicht verneint werden, da es logisch unsinnig wäre, einen Kommentar durch eine Negation zurückzunehmen.“ Aufgrund des ähnlichen Verhaltens (Paraphrase durch Schaltsatz, keine Negation, usw.) werden Konstruktionen wie ehrlich gesagt oder theoretisch formuliert von Helbig/Buscha (2001: S. 436) als „parenthetische Adverbialien“ bezeichnet und den „Modalwort-ähnlichen Ausdrücken“ zugerechnet.
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king. Attidudinal disjuncts, on the other hand, comment on the content of the communication. (Quirk/Greenbaum 1973: S. 242)
In einer Einzeluntersuchung zu „Adverbial Marking of Stance in Speech and Writing“ haben Conrad/Biber (2000) eine registerabhängige, korpusbasierte Untersuchung zur Markierung von Sprechereinstellungen vorgenommen.6 Sie unterscheiden drei Kategorien von Sprechereinstellungen: 1) epistemic stance 2) attitudinal stance 3) style stance. Ausdrücke wie honestly werden als style stance adverbials klassifiziert, da sie „comment on the manner of speaking. That is, they state the way in which information is being presented or is meant to be understood“ (Conrad/Biber 2000: S. 60).7 Auf die Tatsache, dass gerade die Gruppe der „speaker-oriented adverbs“ einer weiteren Binnendifferenzierung bedarf, weist auch Bellert (2004) hin. Aufgrund von unterschiedlichen wahrheitsfunktionalen Eigenschaften und unterschiedlichen Distributionsbeschränkungen bildet sie fünf Untergruppen von sprecherorientierten Adverbien: evaluative, modale, Bereichs-, Konjunktional- und pragmatische Adverbien. Letztere stimmen mit den „Sprechaktadverbien“ überein und sie stellt fest, dass sie sich nicht negieren lassen, ohne ungrammatisch zu werden, was sie auf pragmatische Gründe zurückführt: No pragmatic adverb has a corresponding negative […]. There is no semantic explanation for this fact; speakers have no means for characterizing their attitude toward the propositions they are expressing by directly negating such an adverb. Strangely enough, the same holds true of the corresponding pragmatic adverbs in several other languages, such as Polish, Russian, French, German, Spanish, and probably some others. The restriction seems to be pragmatic in nature and is based on a rather commonly accepted norm. (Bellert 2004: S. 603)
Dadurch kommt eine (mögliche) linguistische Erklärung für dieses universelle Verhalten natürlich an eine Grenze und der weitere Verweis auf allgemeine (nicht-sprachliche) Normen bleibt vage. 6
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Zum „Marking of Stance“ mit Hilfe von „semantisch aufgeladene Floskeln“, die „einen Wechsel im Informationszustand anzuzeigen“, und deren sequenzieller Struktur vgl. auch die detaillierte Studie zu „Erkenntnisprozessmarkern“ von Imo und die Untersuchung von Deppermann zu denn, das „eine zeitlich doppelte indexikalische Funktion“ in Fragen aufweist und ebenfalls der interaktiven Aushandlung von Verstehen dient; mit der Formulierung evaluativer Standpunkte beschäftigt sich auch Spreckels am Beispiel von „einfach“ und Günthner am Beispiel von (evalutativen) „Adjektiven + dass-Satz“ Konstruktionen (alle in diesem Band). Äquivalente für „ehrlich gesagt“ im Englischen zu finden, ist nicht ganz unproblematisch: Sicherlich haben einige Adverbien (z.B. honestly, sincerely, (quite) candidly, (quite) frankly, truthfully, surely, really, truly) Gemeinsamkeiten, aber auch syntaktisch/semantische Unterschiede.
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2.4 Routineformeln und Phraseologie In einer ganz anderen Wissenschaftstradition stehen Untersuchungen, die sich mit dem „pragmatischen Idiom“ (vgl. Burger 1973: S. 58 und Makkai 1972: S. 134) ehrlich gesagt beschäftigen, weil es sich um eine fixierte, idiomatische Mehrwortäußerung handelt – wodurch sie in das Blickfeld der Phraseologie gelangte (vgl. Lüger 2007, Beckmann/König 2002, Stein 1995, Coulmas 1981). Diese „pragmatischen“ Phraseologismen „weisen zwar charakteristische Merkmale von Phraseologismen (Polylexikalität, Idiomatizität, Festigkeit, Reproduzierbarkeit etc.) auf, ihre Bedeutungsbeschreibung lässt sich jedoch nicht mit den traditionellen Beschreibungskategorien der Phraseologie vornehmen. Konstitutiv für diese Gruppe ist, dass eine adäquate Bedeutungsbeschreibung […] nur auf der Grundlage einer Analyse ihrer pragmatischen Funktion geleistet werden kann“ (Beckmann/König 2002: S. 421). Coulmas (1981) kommt das Verdienst zu, die Phraseologie aus einem Mauerblümchendasein und Anhängsel einer weitgefassten Lexikologie in Handlungszusammenhänge gestellt zu haben und „erstmals auf breiter Basis den pragmatischen Aspekt von Routineformeln untersucht und damit entscheidend zu einer kommunikativen Öffnung der Phraseologie beigetragen zu haben“ (Lüger 2007: S. 450). Dabei spielt die Frage nach den pragmatischen Funktionen für die weitere Einteilung von Phraseologismen heute eine maßgebliche Rolle. Unter dem Oberbegriff „verbale Stereotype“ werden bei Coulmas „Redewendungen“, „Sprichwörter“, „Gemeinplätze“ und „Routineformeln“ unterschieden und auf ihre Funktionen hin untersucht. Aus seinem funktionsbezogenen Ansatz ergibt sich, auch syntaktisch wohlgeformte und regelmäßig interpretierbare Lexemverbindungen nicht von vornherein aus der Untersuchung der verbalen Stereotype auszuschließen, wobei in diesem Fall ihre „Stereotypie […] nicht durch Abweichung, sondern durch Rekurrenz und Fixiertheit bestimmt“ ist (Coulmas 1981: S. 53). Dementsprechend werden Routineformeln als „funktionsspezifische Ausdrücke mit wörtlicher Bedeutung zur Realisierung rekurrenter kommunikativer Züge“ definiert, die entweder als syntaktisch vollständige Sätze oder unvollständige Teilsätze realisiert sein können (vgl. Coulmas 1981: S. 69). Im Vergleich mit der oft bizarren und ins Auge springenden Bildhaftigkeit von Redewendungen, der auf figürliche Weise knapp auf den Begriff gebrachten Moral des Sprichworts und der frappierenden eloquenten Hohlheit des Gemeinplatzes sind sie eine eher unscheinbare Gattung von der Sprache bereitgestellter feststehender Ausdrücke. (Coulmas 1981: S. 66)
Coulmas unterscheidet die Routineformeln nach „sozialen Funktionen“ (Kontaktfunktion, Verstärkung der Verhaltenssicherheit, Schibboleth-
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Funktion, Konventionalitätsfunktion) und „diskursiven Funktionen“ (gesprächssteuernde, evaluative, metakommunikative und entlastende Funktion). Für unsere Fragestellung besonders interessant ist die Idee, Gesprächsroutinen als Indikator für wiederkehrende kommunikative Probleme anzusehen, die sich durch Habitualisierung als bewährte Lösungsmuster von Handlungszielen etablieren. Diese „Institutionalisierung“ von Handlungsabläufen ist zentraler Gegenstand des „Klassikers“ der Wissenssoziologie: Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird. Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann. (Berger/Luckmann 1980: S. 56)
Diese Handlungsmodelle lassen sich auch bei der Verwendung verbaler Stereotypen beobachten: Routineformeln sind […] Muster für die Konstituierung von Handlungen, und zwar von solchen Handlungen, die sich in der alltäglichen kommunikativen Praxis jeder Sprachgemeinschaft wiederholen. […] Ihre wesentliche Funktion ist es, als in der Sprache fixierte Handlungsmuster den einzelnen Mitgliedern desselben soziokulturellen Systems adäquates und gruppenkonformes Handeln im sozialen Verkehr zu ermöglichen. Routineformeln sind unter diesem Aspekt typisch für eine Gesellschaft, da sie einen wichtigen Teil ihrer Lebensgewohnheiten repräsentieren. (Coulmas 1981: S. 13 f.)
Routineformeln wie ehrlich gesagt und ähnlichen wird zwar eine metakommunikative Funktion zugesprochen, sie sind für Coulmas jedoch evaluative Operatoren, die (metasprachlich) einen Gesprächsbeitrag hinsichtlich des Gesprächsablaufs oder der emotiven oder kognitiven Einstellung des Hörers bzw. Sprechers kommentieren.8 Da die Routineformeln einer Sprachgemeinschaft „als Indiz dafür angesehen werden [können], welche kommunikativen Handlungen in einer Gesellschaft so häufig vorkommen, daß sie rituellen Charakter angenommen haben“ (Coulmas 1981: S. 16), spielen sie als sedimentierte, kulturspezifische und formalisierte Handlungsmuster auch in der Theorie der „kommunikativen Gattungen“ eine große (bzw. als Minimalgattung sozusagen kleine) Rolle (vgl. Deppermann in diesem Band, Günthner 1995 und 8
Dies steht im Gegensatz zu Stein (1995: S. 242), der bei seiner korpusbasierten Untersuchung von formelhafter Sprache ebenfalls auf die Phrase „offen/ehrlich gesagt“ stößt und sie der äußerungskommentierenden Metakommunikation zuordnet, die in diesem Fall dem Imageschutz und der Kennzeichnung pointierter Ausdrucksweise oder auch als Gliederungssignal dienen kann.
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Günthner/Knoblauch 1995). Während die Beschreibung von Minimalgattungen wie Sprichwörtern, Wortspielen, Rätseln u. a. noch vom Gattungskonzept profitiert, stellt sich bei diesen Kleinstformen allerdings die Frage, ob sie die geforderte Komplexität nicht schon unterschreiten. Um bei Routineformeln überhaupt von Gattungen sprechen zu können, „[t]he question might come up, what degree of complexity is necessary and sufficient to speak of a ‚genre‘ instead of a ‚mere pattern‘“ (Günthner/Knoblauch 1995: S. 9). 2.5 Sprechakte und Konversationsmaximen Es gibt zahlreiche Versuche, äußerungskommentierende Gesprächsformeln mit Grice’s Theorie der konversationellen Implikaturen bzw. den Konversationsmaximen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen (Hindelang (1975), Niehüser (1987), Rolf (1994: S. 170–182), Hagemann (1997)). Grice (1957) unterscheidet in seinem Aufsatz „Meaning“ zwischen natürlicher und nicht-natürlicher Bedeutung von Äußerungen. Die Erkenntnis der Sprecherabsicht und damit das Verstehen einer sprachlichen Handlung ist im Falle der natürlichen Bedeutung unproblematisch, da sie aus der lexikalischen, konventionellen Bedeutung der Äußerung hervorgeht. In vielen Fällen muss jedoch von der wörtlichen Bedeutung auf die Sprecherintention erst geschlossen werden. Grice hat die gängige Auffassung eines Code-Modells von Kommunikation, nach dem eine Äußerungsabsicht zu einer entsprechenden Äußerung führt, sozusagen von den Füßen auf den Kopf gestellt. Stattdessen wird bei indirekten Arten des Sprachgebrauchs von einer Sprachäußerung auf die dahinter liegende Sprecherintention geschlossen. In gewissem Sinne wird die Intention durch die Äußerung überhaupt erst konstituiert – jedenfalls wenn man wie Grice die Arbeit dieses Schlussverfahrens auf der Hörerseite lokalisiert. Aufgabe des Sprechers ist es lediglich, „mit x [einer beliebigen Handlung] einen Effekt in der Zuhörerschaft dadurch zu erzielen, daß diese diese Absicht erkennt“ (Grice 1957: S. 385). Geleitet wird dieses Schlussverfahren von einem allgemeinen Kooperationsprinzip und vier Konversationsmaximen (vgl. Grice 1975). Die Möglichkeit, sprachreflexive bzw. äußerungscharakterisierende Formeln systematisch auf die Griceschen Konversationsmaximen zurückzuführen, wird von den Autoren recht unterschiedlich eingeschätzt. Hindelang (1975) widmet sich dem Ausdruck „offen gesagt“ und versucht an diesem Beispiel die pragmatischen Funktionen dieser „äußerungskommentierenden Gesprächsformel“ zu ermitteln.
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Gemeinsam ist diesen Formeln, daß der Sprecher durch ihren Gebrauch eine Äußerung in bestimmter Weise erläutert und ihren Stellenwert innerhalb der verbalen Interaktion kommentieren will, um so die von ihm intendierte Aufnahme der Äußerung durch den Sprecher sicherzustellen bzw. vorzustrukturieren. Voraussetzung dafür ist, daß der Sprecher die Reaktion auf seine Äußerung auf dem Hintergrund sozialer Normen, seiner Erfahrungen mit dem Hörer und besonders des vorausgegangenen Dialoges zu antizipieren vermag. (Hindelang 1975: S. 253)
Für „offen gesagt“ kommt er auf vier Verwendungsweisen:9 (a) Widerspruch einer zweiten Bewertung S: Das Konzert war wirklich großartig. H: Offen gesagt, ich fand es entsetzlich langweilig. (b) Übereinstimmung einer Bewertung nur bei negativer Bewertung S: Gustav ist ein arroganter Schnösel. H: Offen gesagt, ich halte ihn auch für unausstehlich. (c) für den Hörer gesichtsbedrohenden Eingeständnissen S: Da hängt ja ein Bild von Picasso. H: Offen gesagt, das Bild ist von Klee. (d) Entgegnungen, die für den Sprecher gesichtsbedrohend sind S: Können Sie mir morgen Ihr Auto leihen? H: Offen gesagt, ich verleihe mein Auto grundsätzlich nicht. Er fasst die gemeinsame Funktion dieser Verwendungsweisen wie folgt zusammen: Verwendet ein Sprecher in einer Äußerung offen gesagt, so signalisiert er damit, daß er der Meinung ist, diese Äußerung könne sich für ihn in irgendeiner Weise negativ auswirken; daß er jedoch die möglichen Konsequenzen in Kauf nimmt, um der Forderung zu genügen, daß man „offen“ sein soll. (Hindelang 1975: S. 257)
Die „Forderungen“ und die „sozialen Normen“ sind Umschreibungen für Konversationsmaximen. Das Problem dieser Maximen besteht darin, dass sie bei Grice nicht vorkommen. Sie können auch nicht aus den Untermaximen „Make your contribution as informative as is required“ oder „Do not
9
Die Typisierung bei Hindelang (1975: S. 255–257) ist etwas anders. Ich orientiere mich an der Reanalyse der Beispiele durch Rolf (1994: S. 175). Ob diese Aufzählung erschöpfend ist, hängt wohl auch davon ab, inwieweit man der Auffindungsprozedur Vertrauen schenkt und Hindelang (1975: S. 253 f.) darin folgt, „daß die Verwendungsregeln für diese Gesprächsformeln Teil der pragmatischen Kompetenz eines Sprechers sind; das bedeutet, daß ich es methodisch für legitim halte, introspektiv die Applikationsbedingungen dieser Formeln zu rekonstruieren“.
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say what you believe to be false“ hergeleitet werden. Daher sieht sich Hindelang (1975: S. 258) gezwungen eine „Offenheitsmaxime“ einzuführen: Wenn du zu einem Gesprächsgegenstand eine relevante Information oder Meinung hast, dann halte damit nicht hinter dem Berg.
In Verbindung mit der (ebenfalls neuen) Maxime des Schaden-Vermeidens Sag nichts, was dir möglicherweise schaden könnte.
erklärt sich dann auch die Notwendigkeit, manche Äußerungen als „offen und ehrlich“ zu markieren: Durch die Verwendung von offen gesagt will ein Sprecher signalisieren, daß er sich zwar bewußt ist, durch seine Äußerung möglicherweise eine Norm zu verletzen, daß er aber den Konflikt zwischen dieser Norm und der ebenfalls normativen Forderung nach konversationeller Offenheit zugunsten […] [letzterer] entscheidet. (Hindelang 1975: S. 258)
Hindelangs Erklärungsansatz führt notgedrungen zu einer problematischen Vermehrung von Maximen, was nicht nur der Eleganz des ursprünglichen Modells schadet, sondern auch die Gefahr birgt, letzten Endes für jede Äußerung eine Maxime zu erfinden, die ihre Regelhaftigkeit erklärt. Niehüser spricht zwar von „einer allgemeinen kommunikationsstrategischen Maxime“, die der Verwendung von expliziten Redecharakterisierungen zugrunde liegt und die etwa „Kritisiere dich selbst, bevor es der andere tut!“ (Niehüser 1987: S. 195) lauten könnte, möchte sie jedoch nicht so verstanden wissen, dass mit ihr der Gricesche Maximenkatalog erweitert werden müsse (Niehüser 1987: S. 26). Die Hauptfunktionen von redecharakterisierenden Adverbialen ergeben sich aus der „Separierung grundlegender Elemente der Kommunikationssituation“ (Niehüser 1987: S. 36): der Struktur der Äußerung im Redebeitrag (Redestruktur), der Form und des Inhalts der Äußerung (Darstellung des Redeinhalts) und des Verhältnisses von Sprecher und Hörer (Beziehungsaspekt). Letzteres umfasst die Untergruppen einstellungsoffenbarend (offen, ehrlich, boshaft, ketzerisch) und appellativ (im Vertrauen, unter uns). Den einstellungsoffenbarenden Redecharakterisierungen werden folgende semantisch-pragmatischen Eigenschaften zugesprochen: „Der Sprecher sagt, daß er mit seiner Äußerung seine wirkliche Einstellung im Widerstreit zu Einstellungen des Hörers zum Ausdruck bringen will“ (Niehüser 1987: S. 172). Für den Typ ehrlich gesagt im Besonderen gibt er an: Mit einstellungsoffenbarenden Redecharakterisierungen vom Typ „ehrlich gesagt“ verweist der Sprecher nicht nur darauf, daß er offen seiner Meinung Ausdruck geben will, sondern macht darüber hinaus kenntlich, daß diese Einstellungskund-
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gabe im Hinblick auf die Vernachlässigung anderer konversationeller Prinzipien erfolgt. (Niehüser 1987: S. 197)
Hagemann (1997) stellt sich ebenfalls der Frage nach der Beziehung zwischen Sprechakt-Adverbialen und Konversationsmaximen. Während Niehüser jedoch zu einer skeptischen Einschätzung kommt, inwieweit „ein Rekurs auf generelle Konversationsmaximen sinnvoll oder gar notwendig ist“ (Niehüser 1987: S. 50), ist Hagemann, was eine vollständige Zuordnung betrifft, optimistischer. Ähnlich wie bei den disjuncts wird zwischen Form- und Inhaltsbezug unterschieden, oder in Hagemanns Terminologie zwischen Diktums- und Diktionscharakterisierungen: „Diktumscharakterisierungen legitimieren den Sprecher, inhaltlich Kontraindiziertes auszusprechen, Diktionscharakterisierungen gestatten es ihm, formal Kontraindiziertes zur Sprache zu bringen“ (Hagemann 1997: S. 45). Auf der Grundlage des Verallgemeinerungsvorschlags der Griceschen Maximen durch Rolf (vgl. Rolf 1994: S. 193–254) sowie unter Annahme einer fünften Modalitätsmaxime, die da lautet „Vermeide Stilbrüche“, gelingt es ihm seiner Meinung nach, allen möglichen pragmatisch-funktionalen Sprechakt-Adverbial-Typen eine Maxime zuzuordnen. Diktumscharakterisierungen nehmen […] nicht nur durchgängig Bezug auf die Konversationsmaximen; als mögliche Realisierungsformen nicht-zentraler Sprechakte kann das mit ihrer Verwendung einhergehende konventional Implizierte sogar in einen systematischen Zusammenhang mit den Komponenten illokutionärer Kräfte gebracht werden. (Hagemann 1997: S. 114)
Wie die anderen Autoren kommt er zu dem Ergebnis, dass die Diktumscharakterisierungen dazu dienen, einen Maximenverstoß explizit zu machen. Als „Implikaturkiller“ (Hagemann 1997: S. 98) beugen sie den möglichen negativen Schlussfolgerungen des Hörers prophylaktisch vor. Dass sich selbstreflexive Redecharakterisierungen wie ehrlich gesagt mit den Griceschen Konversationsmaximen in Beziehung setzen lassen, ist auch für Rolf (1994: S. 107) offensichtlich. Die Probleme, die Niehüser und Hindelang bei der ausschließlichen Rückführung auf die vier Konversationsmaximen haben, entstehen seiner Meinung erst, wenn man es versäumt, zwischen den pragmatischen Eigenschaften und den psychologischen Motiven, etwas offen und ehrlich zu sagen, zu trennen: „Es stellt sich nun die Frage, […] ob sich aus dem Verweis auf Phänomene wie das der Höflichkeit und das der Imagebedrohung tatsächlich eine Verneinung der Frage nach der Möglichkeit, die (selbstreflexiven) Redecharakterisierungen systematisch mit den Griceschen Konversationsmaximen in Verbindung zu bringen, ableiten läßt“ (Rolf 1994: S. 176).
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Interessanterweise bringt Rolf den Geltungsanspruch der „Wahrheit“ von Äußerungen in der Folge nicht mit der Maxime der Qualität (sage nichts, was Du für falsch hältst), sondern mit der Maxime der Quantität in Zusammenhang (vgl. Rolf 1994: S. 182–189). Er bezieht sich dabei auf die philosophische Unterscheidung von Wahrheit als Beziehung des propositionalen Gehaltes einer Äußerung zur äußeren Realität und Wahrhaftigkeit als subjektive Aufrichtigkeit des Gemeinten.10 Wenn jemand etwas „ehrlich sagt“, ist also nicht das Verhältnis der gemachten Aussage zur Wirklichkeit – ob sie wahr oder falsch ist – entscheidend, sondern ob das aussagende Subjekt von ihrer Wahrheit innerlich überzeugt ist oder nicht. Da wir in der Wahrnehmung der Außenwelt Grade von Gewissheit hinnehmen müssen und dieser Umstand auf die „Wahrnehmung“ unserer Innenwelt nicht zutrifft, könnte auch hier der Grund für die Un-Negierbarkeit von ehrlich gesagt liegen. 2.6 Höflichkeit und face-work Von Anfang an stellte sich die Frage, inwieweit die Konversationsmaximen von Grice (die sich an den vier logischen Verstandesfunktionen von Kants Urteilstafel orientieren) einen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit haben. Grice selbst hat die Diskussion in Gang gesetzt, als er die Existenz anderer Maximen in Aussicht stellte: There are, of course, all sorts of other maxims (aesthetic, social, or moral in character), such as „Be polite“, that are also normally observed by participants in talk exchanges, and these may also generate nonconventional implicatures. The conversational maxims, however, and the conversational implicatures connected with them, are specially connected (I hope) with the particular purposes that talk (and so, talk exchange) is adapted to serve and is primarily employed to serve. I have stated my maxims as if this purpose were a maximally effective exchange of information; this specification is, of course, too narrow, and the scheme needs to be generalized to allow for such general purposes as influencing or directing the actions of others. (Grice 1975: S. 47)
10
Dass etwas (propositional/objektiv) wahr ist oder ob etwas (intentional/subjektiv) für wahr gehalten wird, ist ein Unterschied, der in der Erkenntnisphilosophie eine lange Tradition hat. So spielt auch für die klassische Definition der Lüge von Augustinus die Wahrhaftigkeit (und nicht die Wahrheit) einer Aussage die entscheidende Rolle: „Demgemäß lügt derjenige, der etwas anderes, als was er im Herzen trägt, durch Worte oder beliebige sonstige Zeichen zum Ausdruck bringt. […] Daraus folgt, dass man die Unwahrheit sagen kann, ohne zu lügen, wenn man meint, es sei so, wie man sagt, mag es auch nicht so sein, und dass man die Wahrheit sagen und doch lügen kann, wenn man meint, es sei unwahr und es als wahr ausspricht, mag es auch in Wirklichkeit so sein, wie man es sagt“ (Augustinus 1986/395: S. 3).
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Er hielt es aber nicht für nötig, ästhetische, soziale oder moralische Verhaltensnormen den konversationellen Maximen zuzuordnen. Seine Unterstellung, dass Interaktanten in Kommunikationssituationen einen maximal effektiven Informationsaustausch anstreben, führt ihn in die Verlegenheit, die meisten (alltäglichen) Gespräche als Abweichungen zu bezeichnen. Das widerspricht jedoch diametral der gängigen Auffassung von sprachlichen Regeln und verleiht den Maximen einen paradoxen Charakter: „One striking characteristic of these ‚rules‘ is that, unlike linguistic rules in general, they are often broken“ (Kempson 1975: S. 142 f.).11 Dieser Konflikt lässt sich auf unterschiedliche Weise lösen: Entweder ich spreche je nach „kommunikativer Gattung“ von situationsspezifischen Verletzungen der Griceschen Maximen oder ich formuliere für jede Kommunikationssituation eigene Regeln, die mit der jeweiligen Kommunikationsabsicht übereinstimmen (z. B. Spannung erzeugen in einer Erzählung, eine Pointe erreichen im Witz, Beziehungspflege im small-talk usw.).12 Gerade die Frage, ob nicht die Höflichkeit in vielen Fällen gebietet, gegen bestimmte Maximen zu verstoßen, hat die Diskussion angeheizt (Brown/Levinson 1987; Lakoff 1973; Leech 1983/2003; Fraser 1990; Fraser/Nolan 1981). Dies führte teilweise zu einer vollständigen Perversion der Maximen bis hin zur Aufstellung eines „Uncooperative Principle“ (vgl. Fish 1999, zitiert nach Bousfield 2008: S. 28). So setzt Lakoff (1973) die Gebote „be clear“ und „be polite“ an, die Teil der „pragmatischen Kompetenz“ des Sprechers sind und ihn leiten. Allerdings vertragen sich die beiden Prinzipien nicht immer: „Sometimes […] clarity is politeness, but often, one must choose between Scylla and Charybdis.“ (Lakoff 1973: S. 297). Vor allem in informellen Gesprächen gehe es eben nicht um maximalen Informationsaustausch, sondern Ironie, Übertreibung, Witz, Mehrdeutigkeit und andere Verletzungen der Griceschen Maximen sind völlig angemessen. Sie stellt den Konversationsmaximen drei Höflichkeitsregeln gegenüber: 1. Don’t impose, 2. Give options, 3. Make a feel good – be friendly (Lakoff 1973: S. 298). 11
12
Vgl. Brown/Levinson 1987: S. 86: „[…] there is a tendency, especially among linguists, to think of pragmatic (language-usage) principles as rules (as in for example the treatment of Grice’s Maxims by R. Lakoff […]). But to posit highly specific and diverse universal rules is to invent a problem to be explained, rather than to explain it.“ Wie verbindlich die von Grice vorgestellten Maximen aufzufassen sind und in wieweit ihre Systematik ernst gemeint ist, hat unterschiedliche Interpretationen erfahren. Martinich (1984: S. 21) hält das Ganze für eine Parodie auf Kants Urteilstafel – es gibt aber auch viele ernstzunehmende Versuche, die Systematik ganz allgemein zu retten (vgl. Rolf 1994) oder die Maximen auf spezifische activity types anzuwenden (vgl. Mooney 2004).
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Die Kritik an der stilisierten Kommunikationssituation, die den Griceschen Maximen zugrunde liegt, ist vor allem in die einflussreiche Arbeit zur sprachlichen Höflichkeit von Brown/Levinson eingeflossen: These maxims define for us the basic set of assumptions underlying every talk exchange. But this does not imply that utterances in general, or even reasonably frequently, must meet these conditions, as critics of Grice have sometimes thought. Indeed, the majority of natural conversations do not proceed in such a brusque fashion at all. The whole thrust of this paper is that one powerful and pervasive motive for not talking Maxim-wise is the desire to give some attention to face. […] Politeness is then a major source of deviation from such rational efficiency, and is communicated precisely, by that deviation. (Brown/Levinson 1987: S. 95)
Statt wie Lakoff (1973) oder Leech (1983: S. 15 ff.) dem Kooperationsprinzip ein Höflichkeitsprinzip gegenüberzustellen, dem eine ganze Reihe von Höflichkeitsmaximen unterstellt werden, verzichten Brown/Levinson auf zusätzliche Maximen. Vielmehr wird Höflichkeit selbst als Maximenverletzung erklärt, wodurch typische Aspekte sprachlicher Höflichkeit wie z. B. Indirektheit, Vagheit, Weitschweifigkeit phatischer Kommunikation u. a. problemlos beschrieben werden können. Im Umgang mit anderen Interaktionspartnern spielt Höflichkeit eine entscheidende Rolle, da jede Äußerung für den anderen eine potentielle Gesichtsbedrohung darstellt. Dabei geraten die Handelnden mit ihren ambivalenten Interessen in Konflikt: dem Wunsch, in den eigenen Handlungen ungestört zu bleiben, und der Sehnsucht nach Lob und Anerkennung durch die anderen. Die Autoren berufen sich dabei auf den von Goffman13 entwickelten Begriff des face als „positiver sozialer Wert […], den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion“ (Goffman 1986: S. 10). In seinem Aufsatz „Techniken der Imagepflege“ hat Goffman die Relevanz und Allgemeingültigkeit des face-work für Interaktionssituationen jeglicher Art herausgestellt: Wir sind ständig der Gefahr ausgesetzt, rituelle Ausgleichshandlungen vornehmen zu müssen. Die Wahrung des fremden und eigenen face ist etwas, das uns beständig herausfordert, und gründet in der Tatsache, „daß man mit jeder noch so trivialen oder allgemeinen Behauptung oder Mitteilung, die man freiwillig anbietet, sich und denen, die man anspricht, verpflichtet ist, und in gewissem Sinn bringt man jeden Anwesenden in Gefahr“ (Goffman 1986: S. 44). Höflichkeit ist nach Brown/Levinson eine Kosten-Nutzen-Rechnung eines jeden Sprechers, der mit einem gesundem Menschenverstand und 13
Zur Frage, wie akkurat sie diesen Begriff übernehmen, und zur Kritik an der Übertragung vgl. Kotthoff (1998: S. 265 ff.).
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einem face ausgestattet ist. Die Gesichtsbedrohung einer Handlung lässt sich nach einer universalen Formel errechnen: Die Schwere einer Gesichtsbedrohung ergibt sich aus der Kombination der Faktoren „soziale Distanz“, „Macht“ und der „Bedrohung/Zumutung“ für das negative face (Selbstbestimmung, Freiheit) oder positive face (Anerkennung). Die Vermeidungsstrategien, die die Gesichtsbedrohung solcher Handlungen minimieren sollen, stehen in einer hierarchischen Ordnung „positive politeness“ (der Ausdruck von Solidarität und Annerkennung), „negative politeness“ (der Ausdruck von Zurückhaltung), „off-record politeness“ (die Umgehung unmissverständlicher Zumutungen/Gesichtsbedrohungen). Am Ende der Skala wäre dann schließlich noch die unabgeschwächte on-record Strategie – die allerdings nicht mehr viel mit Höflichkeit zu tun hat, da sie die gesichtsbedrohende Handlung unmissverständlich, unzweideutig und direkt ausführt. Je nach Schwere der Gesichtsbedrohung wird eine entsprechende Strategie verfolgt, wobei die Gesichtsbedrohung schrittweise abnimmt. Welche der drei Strategien gewählt wird, hängt davon ab, welches der drei Bedürfnisse für den Sprecher am größten ist: Das Bedürfnis den Inhalt der gesichtsbedrohenden Handlung zu übermitteln, das Bedürfnis dabei effizient und schnell zu sein oder das Bedürfnis das Gesicht des Adressaten (bis zu einem gewissen Grad) zu schonen. Normalerweise versucht der Sprecher die Gesichtsbedrohung so gering wie möglich zu halten. Nur in Ausnahmefällen oder Notlagen wird gegen diese Ordnung verstoßen. Es stellt sich die Frage, welche Motivation ein Sprecher haben könnte, die vergleichsweise hohen Kosten einer on record Strategie in Kauf zu nehmen. Dazu zählen: Klarheit, Durchsichtigkeit, Demonstrieren von keiner Manipulationsabsicht und Effizienz (vgl. Brown/Levinson 1987: S. 71 f.). Sprachliche Höflichkeit stellt dabei immer einen Maximenverstoß im Sinne Grice da – außer bei der bald-on-record Variante: Sie ist ein „maximal effektiver Informationsaustausch“ und damit weder ein Maximenverstoß – noch höflich. In addition to the hedges on the Maxims with their FTA [face threatening acts, B. S.] uses, there are some which, while they may be derived from Maxim hedges, function directly as notices of violations of face wants. Such are, for example, frankly, to be honest, I hate to have to say this, but … (which preface criticisms or bad news), phrases like if I do say so myself (which are tagged onto brags), and phrases like I must say (which occur with both types of FTA). Essentially these seem to signify that what is said on record might more properly have been said off record, or not at all. (Brown/Levinson 1987: S. 171 f.)
Um sein eigenes und fremdes face zu wahren, muss man face-work betreiben. Sprachliche Höflichkeit dient dazu, Gesichtsbedrohungen (face threatening acts) auf beiden Seiten zu minimieren. Da Indirektheit eine der wich-
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tigsten Mittel ist, um höflich seine Interessen durchzusetzen, spielen die so genannten indirekten Sprechakte hierfür eine wichtige Rolle. Weil die indirekten Sprechakte in der Regel konventionalisiert sind, löst sich ihre scheinbare Ambiguität auf: Sie können gar nicht anders (wörtlich) interpretiert werden. Bekanntlich besteht eine wesentliche Strategie, indirekte Sprechakte zu äußern, darin, statt des direkten Sprachaktes dessen Gelingensbedingungen zu behaupten, zu erfragen, zu wünschen etc. (Können Sie das Fenster schließen?) (vgl. Gordon/Lakoff 1971). Nun besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen unserem Beispiel und dieser Strategie: Ehrlich gesagt formuliert gewissermaßen eine Gelingensbedingung für sprecherorientierte Assertive. Das würde erklären, warum es redundant wirkt und wieso es sich nicht negieren lässt (in Bezug auf die eigene Befindlichkeit ist kein Zweifel möglich). Äußerungen wie ehrlich gesagt, um die Wahrheit zu sagen, wenn ich ganz ehrlich bin oder ich sag dir ganz ehrlich scheinen eine enge Verbindung zu kritischen, abschlägigen oder negativen Stellungnahmen zu haben, in denen das negative face des Hörers bedroht wird (vgl. aber Kap. 3, Beispiel 3 und 4). Die Existenz routinisierter Formeln bestätigt die Gültigkeit dieser sozialen Normen und sie stellen eine verlässliche Materialbasis da, um zu untersuchen, wann und wie sich Sprecher an diesen Normen orientieren. Ganz parallel zu den Ergebnissen von Laver (1981) zu sprachlichen Routinen und Höflichkeit im Zusammenhang mit Begrüßungen und Verabschiedungen lässt sich auch im Falle von „Offenheit“ der Grad der Gesichtsbedrohung durch den Grad an Routinisierung ablesen: The greater the degree of risk to face, the more constrained the options of mitigatory polite behavior become. Conversely, we can propose that interactions in which there is least choice open to the speaker of conventionally-appropriate linguistic behavior are interactions containing the highest risk to face. In other words, maximum risk leads to maximum routine, and conversely, maximum routine reflects highest risk. (Laver 1981: S. 290)
Inwieweit die bisher genannten Aspekte die Wirklichkeit in einem Gesprächsdatenkorpus abdecken, soll im Folgenden an einigen Beispielen diskutiert werden.
3. Diskussion einiger Beispiele Die folgenden Beispiele entstammen der Reality-Soap Big Brother.14 Der mir zur Verfügung stehende Teil des Korpus enthält ca. 18 Stunden Gesprächsaufzeichnungen, die in einem breiten Raster nach verschiedenen
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Konstruktionen untersucht wurden, die als Realisierungsformen dieses Typus von Metakommentar in Frage kommen: ehrlich/offen gesagt; um es/das (ganz) ehrlich/offen/direkt zu sagen; um die Wahrheit zu sagen; ich sage (dir/ euch/ihnen) (ganz) ehrlich/offen; wenn ich es/das (ganz) ehrlich sagen darf, wenn ich ehrlich bin, ich muss (ganz) ehrlich/offen/direkt sagen, auf gut Deutsch gesagt. In Beispiel 1 amüsiert sich Stefanie gegenüber Harry, Walter und Ebru über die Putzleidenschaft ihrer Mitbewohnerin Marion, die gleich nach dem Aufstehen anfängt, das Geschirr zu spülen. Im Anschluss an diese Lästersequenz positioniert sie sich selbst und stellt fest, dass sie dazu nicht in der Lage wäre und auch zu Hause den Komfort des Putzen-Lassens sehr genießen würde. Beispiel 1: Putzen 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11
?
stef: also ich muss GANZ ehrlich sagen; (.) also äh (–) wal: <
Die pre-sequence „also ich muss GANZ ehrlich sagen“ leitet nicht nur eine persönliche Stellungnahme ein, sondern sie problematisiert sie im gleichen Moment als vertraulich und möglicherweise riskant – ganz im Sinne der rhetorischen Figur der confessio (vgl. Kapitel 2.1). Fiehler et al. (vgl. Fiehler 1999, Barden et al. 2001 und Fiehler et al. 2004: S. 239–467) fassen solche Verstehensanweisungen für die Interpretation der Folgeäußerung als Operatoren über eine Bezugsäußerung (Skopus) auf. Eine der vier zentralen Bereiche von Verstehensanweisungen betrifft den „kommunikativen Status“ einer Äußerung, so dass im Falle von „ehrlich gesagt“ gilt, dass der kommunikative Status des Skopus hinsichtlich seiner „Offenheit“ angegeben wird (vgl. 14
Die ersten beiden Staffeln der Sendung wurden unter der Leitung von Peter Auer (Universität Freiburg) und Susanne Günthner (Universität Münster) aufgenommen und nach den gesprächsanalytischen Transkriptionskonventionen (GAT, vgl. Selting et al. 1998) transkribiert. Ich bin beiden sehr dankbar dafür, mir die Daten für diese Untersuchung zur Verfügung gestellt zu haben!
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Barden et al. 2001: S. 207). „ich muss GANZ ehrlich sagen“ stellt dabei eine Kombination aus den Routineformeln „ich muss sagen“ und „ehrlich gesagt“ dar, wobei die Wahl des Modalverbs dieses evaluativen Operators von der Qualität der Nachricht gesteuert wird: Negative Redebeiträge „muss“ man mitteilen, positive „darf“ man verkünden (vgl. Coulmas 1981: S. 103). Von den drei wesentlichen Funktionen (a) Ankündigung eines Normverstoßes, (b) Korrektur unehrlicher Aussagen und (c) Bekräftigung einer unerwarteten oder schwer glaubhaften Aussage, die Niehüser (1987: S. 181) für die „einstellungsoffenbarende Redecharakterisierung“ ehrlich gesagt nennt, spielt in Beispiel 1 wohl vor allem (a) eine Rolle. Möglicherweise werden bestimmte soziokulturelle deutsche Wertvorstellungen durch das Einstellen von Putzmännern oder -frauen verletzt, da sie auf Snobismus, Reichtum, Ausbeutung ungelernter Arbeitskräfte oder Ähnliches deuten könnten. In anderen Kulturkreisen wäre die Präambel möglicherweise nicht angebracht, weil Dienstleistungen allgemein und die Beschäftigung von Hausangestellten im Besonderen eine andere gesellschaftliche Akzeptanz und Bewertung erfahren. Die problematische Stellungnahme Stefanies wird schon im Vorfeld für die Gesprächsteilnehmer mit einer Verstehensanweisung versehen und so für die anderen accountable gemacht, um einer Diskreditierung ihrer sozialen Identität Vorschub zu leisten und gewissermaßen preemptive face-work zu betreiben. Hewitt/Stokes (1975) haben für dieses Verfahren die Bezeichnung disclaimers eingeführt und weisen explizit auf deren enge Verknüpfung mit sozialen und kulturellen Normen hin. Die Tatsache, dass die Gesprächsteilnehmer selbst gewisse Äußerungen für reparatur- bzw. kommentarbedürftig halten, erlaubt es, Rückschlüsse auf ihr (kulturelles) Problembewusstsein zu ziehen. Damit werden die kulturellen Normen zu echten Teilnehmerkategorien (oder Kategorien erster Ordnung) und die Untersuchung von disclaimers eröffnet einen Weg, sozialen Konventionen auf die Spur zu kommen, da sie es ermöglicht, das klassische Problem der Sozialwissenschaften „how culture enters individual action“ (Hewitt/Stokes 1975: S. 10) zu lösen: While the sociological treatment of the problem [social order and cultural continuity] is conventionally anchored in socialization and the internalization of culture, there are several difficulties with such a formulation, most notably that little routine action appears guided by deeply internalized norms. A discussion of problematic events aids in the reformulation of the link between culture and behavior, for it is in relation to such problematic occasions that culture most clearly enters the consciousness of actors, shapes the meaning of their conduct, becomes fundamental to their identities, and is thus made visible and re-affirmed. (Hewitt/Stokes 1975: S. 1)
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Dass das „sagen müssen“ hier eine „exkulpierende Funktion“ (Imo 2007: S. 120) besitzt, mit der sich Stefanie von der folgenden Stellungnahme distanziert, wird durch Harrys show repair15 in Z. 06 noch einmal interaktiv bestätigt (und kann als sequentielles Muster vom Erklärungsmodell der Sprechakttheorie nicht mehr erfasst werden), indem die Stellungnahme als ungewöhnlich und überraschend markiert wird. Der zweite Gesprächsauszug bezieht sich auf einen Streit zwischen Marion und Stefanie. Einen Tag nach dem Einzug der Bewohner der 2. Staffel in das Big Brother Haus hat Marion (die von der Redaktion als „femme fatale“ in das Haus eingeführt wurde)16 allen Bewohnern angeboten, sich von ihr massieren zu lassen. Stefanie kommentiert diese Szene in einer Art Selbstgespräch und sagt leise aber vernehmlich „(also) das MUSS ich mir jetzt nicht geben“, rollt mit den Augen und verlässt das Gemeinschaftszimmer. Kurz darauf kommt es auf Marions Initiative hin zu einem längeren „klärenden Gespräch“ zwischen Marion und Stefanie, um den Konflikt zu bereinigen. Nach einer interaktiven Rahmung, in der das Streitgespräch etabliert wird, formuliert Marion in den Zeilen 006 bis 016 eine Problemdarstellung und rekonstruiert gleichzeitig den von ihr als behandlungsbedürftig empfunden Vorfall. Der folgende Ausschnitt aus der Anfangsphase des 4,5 minütigen Gesprächs soll dem besseren Verständnis dienen: Beispiel 2a: Ich halt nichts von dir 006 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016
15 16
wenn dir was an mir nicht PASST; (-) dann SAGs mir bItte sofOrt ins gesicht, dann sind die FRONten geklärt; .hh bloß auf so=nen SATZ, wenn ich auf etwas LUST hab; .h und es bei jemanden MACH, und du verdrehst die AUgen, =und gehst WEG, und sagst das muss ich mir nicht GE:ben, .hh (.) äh dann sag es zu mir perSÖNlich, und (.) dann WEISS [ich wie die] fronten geklÄrt sind=
Vgl. die Analysen von Imo (in diesem Band) zu echt, ehrlich und wirklich als „Ausdruck des Erstaunens und des Unglaubens“ in Form von „show repairs“. Schwäbe hat sich in ihrer Dissertation unter anderem mit den sozialen Stereotypen, die der Kandidatenauswahl zugrunde lagen, beschäftigt (vgl. Schwäbe 2004: S. 21–77). Andere Casting-Kriterien waren „Persönlichkeit“, „Vermarktungspotential“ und „Heterogenität“, so dass man sagen kann, dass Konflikte dieser Art von der Produktion planmäßig einkalkuliert und erwünscht waren.
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Typischerweise erfolgt die Vorwurfsäußerung in Form von „kontrafaktischen Konditionalen“ (vgl. Wunderlich 1976: S. 290 ff.) – einer Technik, der sich auch Stefanie in ihrem späteren Gegenvorwurf bedient (Z. 130–131). Das Verhalten Stefanies, die durch die öffentliche, ablehnende Kritik durch sprachliches und nichtsprachliches Verhalten Marions Selbstbild vor der Gruppe angegriffen hat, stellt für Marion eine Bedrohung ihres Images oder ihrer sozialen Identität dar. Nach dieser Problemdarstellung wird eine Problemakzeptanz von Seiten Stefanies konditionell relevant, um letzten Endes eine Problemlösung auszuhandeln. Da die Problemakzeptanz von Stefanie verweigert wird bzw. da der Vorfall von beiden Seiten eine unterschiedliche Bewertung erfährt, kommt es statt einer Problemratifizierung zu einer längeren Rechtfertigung Stefanies (Z. 026–119), die ihr Verhalten wiederum als (defensive) Reaktion auf Marions Massage interpunktiert (vgl. Watzlawick et al. 1983: S. 57 f.). Durch die unterschiedlichen Perspektiven auf den Vorfall ist die Problemaushandlung nicht erfolgreich, da Marion den Kommentar Stefanies als Gesichtsbedrohung empfindet und Stefanie ihrerseits das Verhalten Marions als Einschränkung ihres persönlichen Handlungsspielraumes auffasst. Nach der Gegendarstellung Stefanies reklamiert Marion (Z. 55/58) dann auch ihre enttäuschte Erwartung bzw. ihre Entschuldigungsaufforderung. Da die Parteien zu keiner Einigung kommen, ändert Stefanie ihre Strategie und thematisiert das Streitgespräch selbst (Z. 120 f.). Ab Z. 151 kommt auf Initiative Marions zur Streitbeendigung, welche in diesem Fall das schlimmstmögliche Ergebnis evoziert, nämlich die Androhung des Abbruchs der sozialen Beziehung (Z. 158–167). Beispiel 2b: Ich halt nichts von dir 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160
Mar: Ste: Mar:
Ste: ?
Mar: Ste:
[ich möchte] hier ganz normal REden, (–) [ja] [ich hab] auch ganz gen’ GANZ normal gefragt; .h und die frOnten sind jetzt geKLÄRT? ich weiß was du von mir HÄLTST? und [ich <
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Mar:
Ste: Mar:
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[.h]äh lass mich einfach in RUH, lass mich SELber hier agierenich such mir meine EIgenen leute-= =[<
Die gescheiterte Schlichtung und Marions „Resümee“ (Z. 152: ich weiß was du von mir HÄLTST) wird jedoch erneut von Stefanie in Frage gestellt, die sich weiterhin weigert, den Streitanlass und das damit verbundene Ergebnis zu ratifizieren. Während Marion auf dem Ergebnis der gescheiterten Schlichtung besteht (Z. 166: dann könn=WIR halt schon vom ersten tAg an nich), versucht Stefanie in der Folge den Vorfall und das Gespräch noch einmal herunterzuspielen. Weil Marion auf diesen Entspannungsversuch nicht eingeht, distanziert sich Stefanie mit Humor und Ironie in der letzten Gesprächsphase, in der sich Marion durch ein „letztes Wort“ behauptet. Aus rhetorischer Sicht kann man in Z. 156 wieder die Figur der Prolepsis erkennen: sei es als Vorkehrung (praemunitio) oder als Geständnis (confessio). Da die Floskel grammatisch und prosodisch nahtlos in das Syntagma integriert ist, erscheint es irrig, solche Floskeln als „parenthetisch“ zu bezeichnen. Die syntaktische und prosodische Integration unterscheidet sich nicht von regulären Satzgliedern und die Festigkeit der Formel führt sie auf den „slippery slope“ der Grammatikalisierung. Als Routineformel signalisiert sie das Bewusstsein der Sprecherin dafür, dass sich die Äußerung „in irgendeiner Weise negativ auswirken“ könnte (Hindelang 1975: S. 257). In Z. 156 siegt clarity über politeness und statt der Höflichkeitsmaxime „make a feel good“ müsste man wohl eine Beleidigungsmaxime einführen (wenn man tatsächlich jede einzelne Äußerung aus universellen Prinzipien herleiten will). Die gesichtsbedrohende Qualität der Äußerung ist in diesem Fall noch offenkundiger als im vorigen Beispiel, da der Wunsch Marions nach Anerkennung in Gestalt ihres positive face schwer beschädigt wird. Die Antwort von Stefanie in Z. 154/155 profitiert dabei von zwei möglichen Lesarten: Sie kann als Zurückweisung des Resümees verstanden werden im Sinne von „ich habe keine Haltung“ oder auch als qualifizierende Stellungnahme „von dir halte ich nichts“. Die problematische Äußerung in Z. 156 wird proleptisch durch ehrlich gesagt abgeschwächt. Dafür hat sich auch der Begriff mitigation (vgl. Fraser 1980, Caffi 1999) eingebürgert, der im Zusammen-
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hang mit negativen Bewertungen häufig auftritt: „This attempt at reducing the harshness or hostility of the force of one’s actions is what we call mitigation. […] To mitigate, for example, is to soften the effect of an order, ease the blow of bad news, make a criticism more palatable, and the like.“ Fraser (1980: S. 342). Im Unterschied zu politeness ist mitigation jedoch nicht von Situationsanforderungen oder sozialen Rollen abhängig: Ob eine Äußerung wie Zieh dich aus! höflich oder unhöflich ist, hängt stark von ihrem Auftretenskontext ab. In jedem Fall kann ich die Aufforderung aber durch grammatisch-lexikalische Mittel abschwächen (wenn Sie Sich bitte oben frei machen würden?). Wie das Beispiel zeigt, besteht zu den hedges im Sinne von Lakoff ebenfalls ein Unterschied, da mitigation auch durch andere sprachliche Mittel als mit „words whose job is to make things fuzzier or less fuzzy“ (Lakoff 1972: S. 195) realisiert werden kann und weil umgekehrt hedges nicht immer die Funktion von mitigation haben müssen. Möglicherweise bleibt von der wörtlichen Bedeutung auch nur noch eine Signalfunktion übrig – ähnlich wie bei anderen „frozen mitigators“17 (s’il vous plaît, would you mind). Ob ehrlich gesagt in diesem Fall seiner Rolle als „Implikaturkiller“ gerecht wird und tatsächlich das verheerende Urteil aus Z. 165 abzuschwächen vermag, ist allerdings fraglich. Während die bisherigen Beispiele alle relevanten Aspekte unserer Literatursichtung widerspiegeln und sich problemlos als Widerspruch-antizipierende, gesichtsschonende, sprecher- oder sprechaktcharkaterisierende, stereotype Formeln beschreiben lassen, soll mit dem nächsten Beispiel darauf hingewiesen werden, dass diese funktionale „Schublade“ nicht immer offen steht. Inwieweit es sich in Beispiel 3 um eine gesichtsbedrohende Stellungnahme handeln kann, wird noch zusätzlich durch die artifizielle Redekonstellation verkompliziert, da Alida sich allein in einem Raum mit einer Kamera befindet, um ihren Tagesbericht abzuliefern. Als Adressaten kommen also nur die Zuschauer (oder die Redaktion) in Frage. Beispiel 3: Es taut auf 01 02 03 04 05 06
17
?
Ada:
HEUte fühl ich mich ehrlich gesagt schon VIEL viel BESser als gesTERN, muss ich WIRKlich sagen; also es TAUT langsam=n bisschen AUF, und man fühlt sich nicht mehr ganz so UN’WOHL unter den ganzen leuten; oder überHAUPT allgeMEIN, .hh (-) em
Vgl. Labov/Fanshel (1977: S. 83).
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Die Formulierung in Z. 01 ist deshalb interessant, weil in der Literatur wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass diese Formeln ausschließlich in Zusammenhang mit negativen Urteilen auftreten. Sicherlich lässt sich eine Gesichtsbedrohung hineinlesen – einer klaren Klassifikation entzieht sich dieses Beispiel jedoch und beweist gleichzeitig, dass den durch Introspektion gewonnenen Kategorien und der „pragmatischen Kompetenz eines Sprechers“ (Hindelang 1975: S. 253) nicht zu trauen ist. Die Partizipialkonstruktion erscheint hier eher als routinierter Ausdruck der Vagheit und ähnelt in seiner Funktion einer Modalpartikel.18 Formeln dieser Art bilden offensichtlich ein festes Inventar zur Abtönung von Aussagen in der (partikelreichen) Sprache des Deutschen. Diese „unscheinbare Gattung von der Sprache bereitgestellter feststehender Ausdrücke“ (Coulmas 1981: S. 66) scheint tatsächlich als stereotype Formel sowohl rekurrent als auch fixiert zu sein. Dass es ihr „schon VIEL viel BESser“ gehe, wird von Alida sogar gleich von zwei Formeln eingerahmt (ehrlich gesagt, muss ich WIRKlich sagen). Nach Stein (1995: S. 239) dient die Formel „muss ich sagen“ häufig der Markierung „drastischer Formulierungsweisen“, wobei auch in diesem Beispiel eine Distanz zur eigenen Stellungnahme aufgebaut wird. Der Wechsel von der Ich-Perspektive in die 3. Person (es taut auf, man fühlt sich nicht mehr unwohl) der Folgeäußerungen macht diese Distanzierung noch deutlicher. Diese „Einstellungskundgabe“ in Form einer extreme case-Formulierung soll nach Niehüser (1987: S. 197) immer eine „Vernachlässigung anderer konversationeller Prinzipien“ signalisieren. Da jedoch weder eine eindeutige Maximenverletzung noch eine Gesichtsbedrohung vorliegt und seit der antiken Rhetorik immer von negativen Hörerwirkungen ausgegangen wird, muss der Funktionen-Katalog von ehrlich gesagt aus gesprächsanalytischer Sicht etwas erweitert werden. Die empirischen Beispiele zeigen, dass ehrlich gesagt auch zur Vermittlung von Distanz von der Äußerung bzw. Äußerungsverantwortung benutzt werden kann. Schließlich können metakommunikative Äußerungen nicht nur den eigenen Redezug betreffen, sondern auch problematische Antworten lizensieren wie im nächsten Beispiel. Nachdem Ebru von Christian geneckt wurde und von ihm einen „Klaps“ bekommen hat, thematisiert sie körperliche Gewalt im Allgemeinen und bezieht ihre männlichen Mitbewohner mit ein, ihre Stellungnahme zu bestätigen. Die intrasentielle Parenthese in Z. 04 gibt ihnen einen gewissen Spielraum, dieses Tabuthema offen zu behandeln. 18
Zur Wortartenproblematik der Modal- bzw. Abtönungspartikeln vgl. die Diskussion von Spreckels um die Kategorisierung von „einfach“ in diesem Band.
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Beispiel 4: Weibliche Ohrfeigen 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13
ebr:
?
chr: ebr: krm: ebr:
aber ICH hab zum beispiel, ICH hab zum beispiel festgestelltMÄNner (.) finden das ja auch (.) nicht (.) jetzt äh (.) SACH bitte ehrlich (.) so TOLL wenn die frauen dEnen ne ohrfeige verpassen; (.) das is für DIE ernIEdrigend; und das is für mIch AUCH so ne Art. (.) auch wenn dus nich so MEINST; (.) weißt du? ich KOMM darauf nich so ganz gut klar; okee. in der hinsicht. STREIcheln? [hehe]
Da in monologischen Prozessreden solche selbstinitiierten Sprecherwechsel nicht vorkommen, versagen die rhetorische Beschreibungskategorien hier. „SACH bitte ehrlich“ aus phraseologischer Sicht als Routineformel zu bezeichnen, erscheint unangemessen. Vielmehr stellt es eine freie ad hoc Konstruktion dar, deren zugrundeliegendes kommunikatives Problem offensichtlich nicht rekurrent genug ist, um zu einer Fixiertheit zu führen. Der Gewissenskonflikt zwischen den Bedürfnissen das positive oder negative face des Hörers zu wahren und gleichzeitig unumwunden Stellung zu beziehen, der viele andere Instantiierungen von ehrlich gesagt auszeichnet, erscheint hier spiegelbildlich: In dem Wissen, dass die Antwort auf Ebrus Frage ihr eigenes face bedrohen könnte, ermutigt sie Christian zu einer schonungslosen Stellungnahme.
4. Zusammenfassung der Ergebnisse Im Zentrum dieser Untersuchung stand die Frage, welche Funktion äußerungskommentierende Formeln vom Typ ehrlich gesagt in authentischen Alltagsgesprächen ausüben und warum keine entsprechende negative Formulierung existiert. Das Fehlen eines negativen Pendants lässt sich nicht aus morphologischen, syntaktischen oder semantischen Beschränkungen erklären, sondern ist offensichtlich pragmatischer Natur, da andere Modalwörter bzw. Kommentaradverbien sich nach Umformung durchaus negieren lassen. Mögliche Erklärungen von dieser Besonderheit wären, dass (a) Ehrlichkeit im Sinne von Wahrhaftigkeit nicht graduierbar ist oder (b) mit dem Rekurs auf Ehrlichkeit einfach die Gelingensbedingungen von sprecherori-
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entierten assertiven Äußerungen explizit gemacht werden. Wenn man die augenfällige Semantik dieser Konstruktion jedoch zurückstellt und deren Vorkommen und Verwendungsweisen in Alltagsgesprächen näher untersucht, zeigt sich, dass die Dimension ehrlich ↔ unehrlich möglicherweise fehl am Platz ist und es sich viel eher um die Dimension ehrlich/direkt ↔ höflich/indirekt handelt. Formeln vom Typ „um es mal höflich auszudrücken“ würden in diesem Fall als Gegenstück angesehen werden müssen, bei denen das Bedürfnis, das Hörer-face zu wahren, größer ist als eine aufrichtige Stellungnahme. Da gezeigt werden konnte, dass der Höflichkeitsaspekt nicht bei allen Verwendungsweisen relevant gesetzt ist, muss davon ausgegangen werden, dass noch weitere Kommentarfunktionen in Frage kommen – auch wenn ehrlich gesagt in vielen Fällen tatsächlich eine Signalwirkung (disclaimer) besitzt, dass das Hörer-face (oder das eigene face) in der Folgeäußerung ignoriert wird und der Versuch unternommen wird, diesen Affront durch die Ehrlichkeitsbeteuerung abzumildern (mitigation) bzw. anzudeuten, dass man gleich etwas sagt, was man unter Höflichkeitsaspekten besser nicht hätte sagen sollen. Häufig tritt die Formel ehrlich gesagt in Zusammenhang mit Stellungnahmen in Gesprächen auf, die entweder ein negatives Urteil oder einen Widerspruch bergen. Auch wenn die Griceschen konversationellen Maximen möglicherweise selbst nicht ausreichen (vgl. die Analyse von Beispiel 3), werden in der Regel zumindest soziale Normen verletzt, die z. B. auf den nicht-konversationellen Höflichkeitsgeboten beruhen. Die Thematisierung solcher Regelverstöße ist eine Bestätigung der Gültigkeit der Regeln. Die Rekurrenz und Formelhaftigkeit ist ein Indiz dafür, dass sie als Problemlösestrategien vom „kommunikativen Haushalt“ einer Gesellschaft bereitgestellt werden, um interaktionsrelevante Konfliktherde zu entschärfen. Die Gesichtsbedrohung wird jedoch nicht unbedingt abgemildert, sondern billigend in Kauf genommen. Die sich aus den Stellungnahmen ergebenden Implikaturen sollen allerdings nach Möglichkeit abgefedert werden. Die Nicht-Existenz der Formel „gelogen gesagt“ weist darauf hin, dass es sich bei diesem Äußerungskommentar offenbar um kein rekurrentes Problem handelt oder zumindest, dass Lügen keine effiziente Problemlösungsstrategie darstellt, die sich lohnt, explizit gemacht zu werden. Allen Vorkommen von ehrlich gesagt – ganz gleich, ob es sich um negative oder positive Stellungnahmen handelt, ob eine Gesichtsbedrohung vorliegt oder gegen konversationelle Maximen verstoßen wird – ist jedoch gemeinsam, dass sie dem Sprecher erlauben, sich von seiner Äußerung und deren Konsequenzen zu distanzieren. Das ermöglicht es ihm, seine „soziale Identität“ auch in gefährlichem Fahrwasser zu behaupten. Im Zusammenspiel von Höflichkeit und sozialer Identität dient ehrlich gesagt häufig der
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Verortung des Sprechers in Bezug auf seine Position. Um zu einem etwas dynamischeren Konzept von Identität zu kommen, das neben den überzeitlichen Aspekten auch situationsabhängige Variation berücksichtigt, stellen Lucius-Hoene/Deppermann ihr das Konzept der Positionierung (vgl. auch Deppermann, Günthner, Kern, Mazeland und Spreckels in diesem Band) an die Seite: Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind […]. Die Perspektive der Positionierung hebt also vor allem ab auf die qualitative Dimension der Identitätskonstruktion, die klassische Identitätsfrage: „Was bin ich für ein Mensch, als was für ein Mensch möchte ich von meinem Interaktionspartner betrachtet und behandelt werden?“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: S. 168).
Dieses making accountable von Stellungnahmen (vgl. auch Deppermann in diesem Band) spielt gerade bei problematischen Äußerungen eine große Rolle: Rollenzuweisung und moralische Kategorisierung können mit einer Äußerung sehr eindeutig ausgedrückt oder aber eher versteckt bzw. nur vage angedeutet werden und damit der Interpretation des anderen überlassen werden. Entsprechend sind Sprecher in sehr unterschiedlichem Maße für die Positionierungen, die Adressaten und Rezipienten aus ihren Äußerungen inferieren, haftbar zu machen. Die rhetorische Kunst des Positionierens besteht darin, solche sprachliche-kommunikativen Verfahren zu benutzen, die beim Hörer zielsicher genau die gewünschten Schlussfolgerungen zu stiften [sic!], ohne dabei die negativen Konsequenzen der Direktheit in Kauf nehmen zu müssen, die bei explizitem Eigenlob, unverblümter Kritik oder einseitigen Schuldzuweisungen unausweichlich sind. (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: S. 171)
Es konnte auch gezeigt werden, wie schwer eine ganzheitliche Beschreibung eines eigentlich winzigen sprachlichen Phänomens sein kann, da sich der Beschreibungsapparat der Sprachwissenschaft erst mühsam pragmatischen Fragestellungen anpassen muss und da nichts anderes übrig bleibt, als unterschiedliche Forschungstraditionen, Begrifflichkeiten und wissenschaftliche Disziplinen mehr oder weniger angemessen unter einen Hut zu bringen. Dabei jedoch wird offenkundig, dass die Rhetorik andere Ziele verfolgt und z. B. Verwendungsweisen wie in Beispiel 3 und 4 nicht erfassen kann, die (sprechakttheoretische) Pragmatik mit ihren erfundenen Beispielsätzen viele Aspekte des Phänomens ausblendet, face und Höflichkeit ein wichtiger, aber nur ein Aspekt sind und die Funktion der Distanzierung von Stel-
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lungnahmen, um möglichen Reklamationen vorzubeugen und gleichzeitig durch die Voranstellung eine Signalwirkung für problematische Redeteile zu bewirken, bisher vernachlässigt wurde. Literatur Admoni, Vladimir G., Der deutsche Sprachbau, München 1970. Auer, Peter, Sprachliche Interaktion – Eine Einführung anhand von 22 Klassikern, Tübingen 1999. Augustinus, Aurelius, Die Lüge und Gegen die Lüge [De mendacio], Übertragen und erläutert von Paul Keseling, Würzburg 1986/395. Barden, Birgit/Elstermann, Mechthild/Fiehler, Reinhard, „Operator-Skopus-Strukturen in gesprochener Sprache“, in: Frank Liedtke/Franz Hundsnurscher (Hrsg.), Pragmatische Syntax, Tübingen 2001, S. 187–233. Bartsch, Renate, Adverbialsemantik. Die Konstitution logisch-semantischer Repräsentationen von Adverbialkonstruktionen, Frankfurt a.M. 1972. Beckmann, Susanne/König, Peter-Paul, „Pragmatische Phraseologismen“, in: D. Alan Cruse et al. (Hrsg.), Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen, 1. Halbband, Berlin/New York 2002, S. 421–428. Bellert, Irena, „On Semantic and Distributional Properties of Sentential Adverbs“, in: Steven Davis/Brendan S. Gillon (Hrsg.), Semantics. A Reader, Oxford 2004, S. 593–604. [Wieder abgedruckt: Bellert, Irena, „On Semantic and Distributional Properties of Sentential Adverbs“, in: Linguistic Inquiry, 8/1977, S. 337–351] Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980. Bousfield, Derek, Impoliteness in Interaction, Amsterdam/Philadelphia 2008. Brown, Penelope/Levinson, Stephen C., Politeness. Some universals in language usage, Cambridge 1987. Burger, Harald, Idiomatik des Deutschen, Tübingen 1973. Bußmann, Hadumod (Hrsg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 2002. Caffi, Claudia, „On mitigation“, in: Journal of Pragmatics, 31/1999, S. 881–909. Conrad, Susan/Biber, Douglas, „Adverbial Marking of Stance in Speech and Writing“, in: S. Hunston/G. Thompson (Hrsg.), Evaluation in Text. Authorial Stance and the Construction of Discourse, Oxford 2000, S. 56–73. Coulmas, Florian, Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik, Wiesbaden 1981. Deppermann, Arnulf, „Desiderata einer gesprächsanalytischen Argumentationsforschung“, in: Arnulf Deppermann/Martin Hartung (Hrsg.), Argumentieren in Gesprächen. Gesprächsanalytische Studien, Tübingen 2003, S. 10–26. Duden Grammatik, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1998. Ehlich, Konrad, „Sprachliches Handeln – Interaktion und sprachliche Strukturen“, in: Arnulf Deppermann/Reinhard Fiehler/Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.), Grammatik und Interaktion, Radolfzell 2006, S. 11–20.
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(iv) Standardferne Konstruktionen als Ressourcen für Positionierungsaktivitäten
Positionieren mit Kontrast: Zum Gebrauch einer Konstruktion im Türkendeutschen Friederike Kern 1. Einleitung Der Beitrag widmet sich einer Konstruktion im Türkendeutschen, die zur Selbst- und Fremdpositionierung eingesetzt wird und mit der semantischer Kontrast ausgedrückt wird. Diese Kontrast-Konstruktion zeichnet sich durch die Kombination von syntaktischer Asyndese mit einer spezifischen prosodischen Aufbereitung aus und hebt sich damit von vergleichbaren standardnahen Kontrast-Konstruktionen ab.1 Nach der Beschreibung der syntaktischen und prosodischen Merkmale dieser Konstruktion werde ich zeigen, dass sie dazu verwendet wird, um im Gespräch Stellungnahmen zu bestimmten Gesprächsthemen in Form von Begründungen und Rechtfertigungen durchzuführen und damit sowohl Selbstpositionierungen gegenüber der Gesprächspartnerin bzw. dem Gesprächspartner als auch Fremdpositionierungen anderer, nicht anwesender Dritte vorzunehmen. Ich werde dabei wie folgt vorgehen: Zunächst werde ich im Rahmen methodischer und theoretischer Vorüberlegungen erläutern, was Türkendeutsch ist und wie es im Rahmen eines interaktional-linguistisch geprägten Ansatzes theoretisch zu konzipieren ist. Danach werde ich kurz darlegen, was mit dem Begriff „Konstruktion“ gemeint ist und wie er sich in ein interaktionslinguistisch orientiertes Untersuchungsparadigma (vgl. Selting/Couper-Kuhlen 2001) einbinden lässt. Es folgen eine kurze Darstellung, was mit dem Begriff Positionierung gemeint ist, sowie eine Diskussion der semantischen Relation Kontrast. Der empirische Teil des Beitrags beginnt mit einer Darstellung der formalen, d. h. syntaktischen und prosodischen, Eigenschaften, die für die hier relevante spezifische türkendeutsche Kons-
1
Die den Analysen zugrunde liegenden Daten stammen aus den beiden von der DFG geförderten Projekten „Türkendeutsch aus interaktional-linguistischer Perspektive“ sowie „Die Rolle der Prosodie im Türkendeutschen“, die beide an der Universität Potsdam unter Leitung von Prof. Margret Selting angesiedelt waren. Das Korpus besteht aus ca. 30 Stunden natürlicher Alltagsgespräche (Telefon- und face-to-face-Gespräche) von deutsch-türkischen und deutschen Jugendlichen.
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Friederike Kern
truktion zum Kontrastieren konstitutiv sind. Daran schließt sich eine Beschreibung der beiden (sprachlichen) Handlungen an, die mit der Konstruktion durchgeführt werden und mit denen die Sprecher/innen im Rahmen argumentativer Sequenzen Stellung zu bestimmten Sachverhalten bzw. Ereignissen nehmen. Schließlich wird zum Vergleich eine standarddeutsche Kontrast-Konstruktion vorgestellt, um die wesentlichen formalen und funktionalen Unterschiede zum türkendeutschen Kontrast-Konstruktionstyp herauszuarbeiten. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse.
2. Methodische und theoretische Vorüberlegungen 2.1 Türkendeutsch – was ist das? Die Begriffe „Türkendeutsch“ (Kern/Selting 2006), „Türkenslang“ (Auer 2003) oder „Ghettodeutsch“ (Keim 2004) verweisen im Allgemeinen auf ähnliche Untersuchungsgegenstände; auch werden häufig ähnliche Eigenschaften als typisch genannt, wie z. B. der Wegfall von Präpositionen und/ oder Artikel, Verbzweitkonstruktionen nach satzinitialen adverbialen Bestimmungen, spezifische Lexik, stakkatoartiges Sprechen etc. Vielerorts wird „Türkendeutsch“ als Ethnolekt bezeichnet, d. h. als eine Varietät, die sich durch das außersprachliche Kriterium der „nicht-deutschen“ Ethnizität definiert.2 Sprachliche Unterschiede werden also als Unterschiede zwischen einzelnen Varietäten konzeptualisiert. Die Gesprächssituationen, in denen die Varietäten konstituiert und verwendet werden, spielen dabei meist keine Rolle. Eine etwas andere Perspektive wird gewählt, wenn „Türkendeutsch“, wie ich es in meinem Beitrag nennen werde, als ethnischer Stil konzeptualisiert wird. Dadurch wird der Blick auf Türkendeutsch als ein mögliches Verfahren zur Durchführung und Lösung bestimmter Aufgaben der Gesprächsorganisation gerichtet, und es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Türkendeutsch nur eine sprachliche Ressource von vielen ist, die den türkisch-deutschen Sprecherinnen und Sprechern zur Verfügung steht (vgl. z. B. Auer 2003, Keim 2004). Tatsächlich verwenden die türkisch-deutschen Informant/innen, deren Sprachverhalten im vorliegenden Beitrag
2
Nach Auer (2003: S. 256) z. B. ist ein Ethnolekt „eine Sprechweise (Stil), die von den Sprechern selbst und/oder von anderen mit einer oder mehreren nicht-deutschen ethnischen Gruppen assoziiert wird.“
Positionieren mit Kontrast
285
untersucht wird, unterschiedliche Konstruktionstypen, mit denen sie kontextbezogen semantischen Kontrast ausdrücken. Von Interesse ist hier aber nur eine spezifische Konstruktion, die sich vor allem aufgrund ihrer prosodischen Aufbereitung von anderen, eher standardnahen Konstruktionen zur Kontrastierung unterscheidet. 2.2 Kontrastieren: Eine spezielle Konstruktion im Türkendeutschen Bei der zu beschreibenden Kontrast-Konstruktion handelt es sich insofern um eine Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik (vgl. z. B. Deppermann 2006 sowie Günthner/Imo 2006), als sie sich auf der Basis systematisch beschreibbarer, kookkurrenter lexikalischer, grammatischer und prosodischer Strukturen konstituiert und somit als holistische Gestalt wahrgenommen und interpretiert wird. Konkret geht es hier um die Beschreibung einer spezifischen, als Konstruktion verfestigten Form, mit der semantischer Kontrast im Gespräch ausgedrückt wird und die offenbar ein Teil des grammatischen Wissens türkendeutscher Sprecher/innen darstellt. Diese Konstruktion möchte ich „türkendeutsche Kontrast-Konstruktion“ nennen. Mit dieser Bezeichnung wird implizit darauf hingewiesen, dass es noch weitere Kontrast-Konstruktionen gibt, die beispielsweise eher im Standarddeutschen3 auftreten. Der Schwerpunkt liegt in diesem Beitrag auf der Verbindung einer konstruktionsgrammatisch orientierten Beschreibung sprachlicher Formen mit interaktionstheoretischen Fragestellungen, d. h. insbesondere mit der Frage nach den sprachlichen Handlungen, die routiniert mit dieser Konstruktion durchgeführt werden. In diesem Sinne wird die zu beschreibende Konstrast-Konstruktion als spezifisches grammatisches Format verstanden, das als interaktionale Praktik seine konkrete Anwendung in der Interaktion erfährt und damit der Durchführung und Gestaltung einer spezifischen sprachlichen Handlung bzw. Aktivität dient (vgl. Couper-Kuhlen/Thompson 2006). 2.3 Positionierungen im Gespräch Der Begriff der Positionierung ist eng mit dem der sozialen Identität verbunden. Mit Positionierungen verorten sich Gesprächsteilnehmende innerhalb eines angenommenen sozialen Raums, indem sie sich selbst bzw. anderen verschiedene Eigenschaften, Rollen, Motive o. ä. zuschreiben und sich
3
Mit „Standarddeutsch“ meine ich ein gesprochenes Standarddeutsch bzw. dessen regionalisierte Varianten sowie z. T. auch regionale standardnahe Umgangssprachen.
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Friederike Kern
oder andere damit als bestimmte soziale Typen darstellen. Praktiken der Positionierung sind lokal und werden im Gespräch angewendet. Sie können als Strategien zur diskursbezogenen Herausarbeitung spezifischer Identitäten verstanden werden (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004). Lucius-Hoene/Deppermann (2004: S. 4) unterscheiden Selbst- und Fremdpositionierungen im Hinblick darauf, wer von einem Sprecher/einer Sprecherin zu einer „sozial bestimmbaren Person“ gemacht wird, d. h. also wem eine Position in dem fiktiven sozialen Raum zugewiesen wird. Selbstpositionierungen nehmen Sprecher/innen in Bezug auf sich selbst vor. Durch die Darstellung beispielsweise von Handlungen anderer Personen nehmen Sprecher/innen dagegen Fremdpositionierungen vor, mit denen sie den Anderen bestimmte soziale Identitäten, die neben typischen Handlungen auch personenspezifische Merkmale enthalten können, lokal zuweisen. Dabei können alle möglichen Arten von sprachlichen Handlungen dazu dienen, Positionierungen vorzunehmen. Im hier vorliegenden Fall sind es die Handlungen des Erklärens (vgl. auch Spreckels, in diesem Band) und des Rechtfertigens, mit dem die Sprecherinnen Selbst- und Fremdpositionierungen im Rahmen argumentativer Sequenzen vornehmen. Insbesondere bei den Rechtfertigungen dienen die Kontrast-Konstruktionen der Verdeutlichung moralischer Ansprüche, die mit ihnen verbunden sind. Diese moralischen Ansprüche werden, wie sich zeigen wird, durch die implizit vorgenommenen Fremdpositionierungen Anderer zum Ausdruck gebracht. Tatsächlich verweisen Positionierungen häufig, wie Lucius-Hoene/Deppermann (2004: S. 7) feststellen, auf „soziale und moralische Deutungshorizonte mit komplexen diskursiven Regeln und Konventionen“. Im Gegensatz zu Positionierungen als Stellungnahmen zum Interaktionsgeschehen innerhalb von Erklärungen, wie sie z. B. Spreckels (in diesem Band) anhand des Gebrauchs der Partikel „einfach“ untersucht, geht es hier um soziale Positionierungen der Gesprächteilnehmenden und/oder nicht anwesender Personen. Wie dies konkret mit den türkendeutschen Kontrast-Konstruktionen vollzogen wird, wird weiter unten in Kap. 3 dargestellt. 2.4 Die semantische Relation Kontrast Mit Kontrast ist eine spezifische semantische Relation gemeint, die zwischen zwei Propositionen bzw. Sachverhalten bestehen kann. Nach Rudolph (1996), die Kontrast zu den basalen menschlichen Erfahrungen zählt, handelt es sich dabei um eine mentale Operation, durch die zwei Propositionen auf eine bestimmte Art und Weise – nämlich kontrastierend – miteinander verknüpft werden. Als prototypisches lexiko-semantische Mittel, um Kon-
Positionieren mit Kontrast
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trast sprachlich herzustellen bzw. anzuzeigen, gilt der Konnektor aber (vgl. z. B. Rudolph 1996, Breindl 2004). Entgegen früherer Konzeptionen (vgl. z. B. Lakoff 1971) geht man nun davon aus, dass kontrastive Strukturen nicht einfach entstehen, indem fertige konzeptuelle Ressourcen, die in semantischen Kategorien enthalten sind, aktiviert werden. Stattdessen können kontrastive Relationen flexibel und einfallsreich für jedes beliebige Objekt oder jedes beliebige Ereignis geschaffen werden (vgl. z. B. Brauße 1998 und Deppermann 2005). Eine wesentliche Rolle spielt dafür der Gesprächskontext (vgl. Blakemore 1989 und Brauße 1998). Aus diesen Gründen möchte ich vom kontrastiven Potenzial sprechen, das zwei Äußerungen zusammen aufweisen. Um dieses Potenzial zu aktivieren und für die Hörer/innen verstehbar zu machen, muss erstens deutlich gemacht werden, dass beide Äußerungseinheiten zusammen, d. h. als semantische Einheit, interpretiert werden müssen. Es muss also Kohärenz zwischen den Äußerungseinheiten hergestellt werden. Zweitens muss das kontrastive Potenzial, das die Äußerungseinheiten miteinander verbindet, kontextualisiert und damit ebenfalls interpretierbar gemacht werden. Im Standarddeutschen wird beides – Kohärenzsignalisierung und Kontrastkontextualisierung – in der Regel mit lexiko-semantischen Markern der Adversativität erreicht. Zu diesen gehören neben dem bereits erwähnten Konnektor aber weitere adversative Konjunktionen (z. B. dennoch) sowie entsprechende Konjunktionaladverbien (freilich, wohl, nur etc.). Lexiko-semantische Marker der Adversativität erfüllen in Konstruktionen, mit denen semantischer Kontrast ausgedrückt wird, also zweierlei Funktionen: Erstens verknüpfen sie zwei Propositionen miteinander zu Konjunkten und zweitens zeigen sie aufgrund ihrer inhärenten lexikalischen Bedeutung Kontrast an. Kontrast kann jedoch auch ohne diese Marker in asyndetisch miteinander verknüpften Äußerungen ausgedrückt werden. M. W. gibt es noch keine Untersuchungen zu asyndetischen Kontrast-Konstruktionen im Standarddeutschen; allerdings wird in der einschlägigen Literatur darauf hingewiesen, dass dies eher selten ist (vgl. z. B. Rudolph 1996, Breindl 2004).4 Im Türkendeutschen dagegen sind asyndetische Kontrast-Konstruktionen häufiger zu finden. An diese Beobachtung knüpft sich die Frage, wie in ihnen Kohärenz einerseits und Kontrast andererseits signalisiert bzw. kontextualisiert wird. Dem wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.
4
Vgl. aber z. B. Gohl (2000) zu asyndetischen Kausalkonstruktionen im Deutschen.
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3. Ein kontrastives Verfahren im Türkendeutschen 3.1 Formale Merkmale eines kontrastiven Verfahrens im Türkendeutschen Es werden nun die typischen syntaktischen und prosodischen Merkmale der Kontrast-Konstruktion anhand eines Beispiels exemplarisch herausgearbeitet sowie deren Funktionen für die Signalisierung von Kohärenz und Kontextualisierung von Kontrast dargestellt. Die hier referierten Ergebnisse basieren auf einer detaillierten Analyse von ca. 35 Fällen der Kontrast-Konstruktion; zum Vergleich wurden ebenso viele Fälle einer vergleichbaren standardnahen Kontrast-Konstruktion analysiert. Die türkendeutsche Kontrast-Konstruktion wird also offensichtlich nicht sehr häufig gebraucht; allerdings zeigt die funktionale Analyse, dass sie tatsächlich nur in äußerst spezifischen Kontexten verwendet wird, in denen sie als kommunikative Praktik besondere Funktionen innehat. Außerdem sei auf eine Bemerkung Locals/Walkers (2005) hingewiesen, es gäbe bislang noch keine verlässlichen statistischen Aussagen über die Häufigkeiten, mit denen bestimmte Aufgaben und Verfahren der Gesprächsorganisation in spontanen Alltagsinteraktionen auftreten. Aus diesem Grund, so argumentieren Local und Walker, könne man nicht von der Häufigkeit eines Phänomens auf seine Relevanz für die Interaktion schließen. Das folgende Beispiel ist einem Ausschnitt entnommen, in dem sich die Sprecherin Deniz bei ihrer Freundin Melissa über ihren Bruder beschwert. Die zugrunde liegende Kontrastrelation entspricht dem Typ des Erwartungswiderspruchs:5 Einer impliziten Erwartung (wenn man jemanden auf dem Handy zu erreichen versucht, wird der Anruf normalerweise entgegengenommen) wird im zweiten Teil der Äußerung widersprochen. Beispiel (1): tkdtw02_Mel36 338 339
5 6 7
DEN
hAndy ’KLINgelt? (.) L*H H% <
Ein semantisch basierter Typologisierungsversuch von Konstruktionen mit aber findet sich beispielsweise bei Breindl (2004). Vgl. auch Lakoff (1971) zum „denial-of-expectation-but“. Transkriptionskonventionen nach GAT (vgl. Selting et al. 1998). Für die Beschreibung der Intonationskonturen verwende ich das von Peters (2006) auf Grundlagen der autosegmentalen Phonologie entwickelte Inventar zur Beschreibung von Intonationskonturen des Deutschen. Die Sterne * kennzeichnen die Töne auf den nuklearen Silben; im Unterschied zu Peters verwende ich in Anschluss an die in der autosegmentalen
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289
Das Beispiel weist folgende konstitutive bzw. typische Merkmale auf: – Asyndese: Die beiden unmittelbar aufeinander folgenden Turnkonstruktionseinheiten8 sind asyndetisch miteinander verknüpft. – Ellipse: In der ersten Einheit fehlt der definite Artikel das, in der zweiten Einheit das Pronomen „er“; es handelt sich also um eine Analepse (vgl. Schwitalla 2003). Die Ellipsen werden hier als spezielle ökonomische Techniken für die Präsentation szenischer Darstellungen verwendet (vgl. Quasthoff 1980 und Günthner 2006a) und sind gleichzeitig rhythmisch motiviert (siehe unten). – Gegenläufige Intonationskonturen: Die nuklearen Konturen sind tief steigend in der ersten Einheit und tief fallend in der zweiten. Der tief steigende Konturverlauf der ersten Einheit ist deutlich ausgeprägt, wobei ein Großteil der steigenden Bewegung postnuklear auf der letzten Silbe der Äußerung produziert wird. – Wechsel des Tonhöhenregisters: Die zweite Einheit schließt mit einem Downstep in tieferer, mittlerer Tonlage an (ca. 270 Hz) und fällt zum Ende weiter ab, wobei ein weiterer Downstep auf der Nukleussilbe RAN produziert wird. Im Verhältnis zur ersten Einheit konstituiert sich die zweite Einheit so auf einem relativ tiefen Tonhöhenniveau; auditiv wird ein Wechsel des Tonhöhenregisters zu
Abb. 1: Tonhöhenverlauf in Beispiel (1)
8
Phonologie übliche Notation das Prozentzeichen % für die Kennzeichnung der Grenztöne am Rand von Intonationsphrasen. Den Begriff „Turnkonstruktionseinheit“ (turn constructional unit, vgl. Sacks, Schegloff/Jefferson 1974) verwende ich hier synonym mit „Äußerungseinheit“ (vgl. Schwitalla 2003) bzw. „Phrasierungseinheit“ (Selting et al. 1998).
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–
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Akzentstrukturen: Aufgrund der zahlreichen Sekundärakzente herrscht in beiden Einheiten eine hohe Akzentdichte. Diese Akzentdichte hat Auswirkungen auf die rhythmische Struktur der Äußerungseinheiten. Rhythmus: Durch vier prominente Silben, die als rhythmische Schläge wahrgenommen werden, konstituieren sich drei rhythmische Einheiten, die sowohl isochron als auch isometrisch (d. h. sie weisen dieselbe Anzahl an unbetonten Silben zwischen den betonten auf ) sind. Dadurch entsteht eine durchgängige rhythmische Struktur, die im Folgenden als metrisches Gitter (vgl. Selkirk 1984) dargestellt wird.
Beispiel (1’): x x x x x x x x x x x x x x x x x x hAndy KLINgelt? (.) gEht nicht RAN;
Zusammen übernehmen die syntaktischen und prosodischen Formen die Funktion adversativer Konnektoren, um sowohl die beiden Äußerungseinheiten miteinander zu verknüpfen – d. h. also, Kohärenz zwischen ihnen herzustellen – als auch die semantischen Relation zwischen ihnen zu kontextualisieren bzw. anzuzeigen. Besonders relevant für die Herstellung von Kohärenz ist neben den elliptischen Strukturen zum einen die ansteigende nukleare Kontur am Ende der ersten Einheit, durch die eine Folgeäußerung projiziert wird (vgl. z. B. Peters 2006), sowie zum anderen der durchgängige Rhythmus. Für die Kontextualisierung von Kontrast sind insbesondere die gegenläufigen nuklearen Konturen verantwortlich, die konstitutiv für diese spezielle Konstruktion sind. Im obigen Beispiel spielen auch die unterschiedlichen Tonhöhenregister eine wichtige Rolle: Das im Vergleich tiefe Tonhöhenregister der zweiten Äußerung wird eingesetzt, um einen Kontrast zur deutlich höher verlaufenden Tonhöhe der ersten Turnkonstruktionseinheit herzustellen. Durch diese prosodischen Merkmale wird das semantische Potenzial der Äußerungseinheiten kontextualisiert und verstehbar gemacht. Darüber hinaus weist auch die sequenzielle Struktur der Konstruktion konstitutive Merkmale auf. So werden erstens die beiden Einheiten immer nur von einer/einem Sprecher/in produziert und sie folgen direkt aufeinander. Sprecherwechsel innerhalb des Verfahrens finden nicht statt. Die beiden Äußerungseinheiten, die zusammen die Konstruktion konstituieren, bilden somit ein festes Paar. Das unterscheidet diese Konstruktion ganz wesentlich von Konstruktionen, in denen aber als adversative Konjunktion
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verwendet wird. Diese weisen häufig eine losere Struktur auf, die von Sprecherwechseln und langen Pausen unterbrochen werden kann (vgl. unten Kap. 3.3 sowie ausführlich Kern 2008). Die internen sequenzstrukturellen Eigenschaften der Konstruktion stehen in engem Zusammenhang mit ihrer asyndetischen und meist elliptischen Syntax und ihrer speziellen prosodischen Aufbereitung, die für die Kohärenz- und Kontrastherstellung zentral ist. So ist es offenbar problematisch, zwei Einheiten, die von Sprecherwechseln oder sehr langen Pausen voneinander strukturell und zeitlich getrennt werden, auf der Basis vorzugsweise prosodischer Merkmale als einander zugehörig und gleichzeitig als kontrastiv zu kennzeichnen. Folglich weist die Konstruktion eine feste interne Struktur auf, die aus kleineren Turnkonstruktionseinheiten besteht, die direkt aneinander anschließen und zusammen eine größere Einheit bilden. Diese feste Struktur ist funktional, um die beiden kleineren Einheiten als Konjunkte einer adversativen Beziehung zu verstehen und um sie für die Interpretation aufeinander beziehen zu können. 3.2 Funktionen des kontrastiven Verfahrens Wenden wir uns nun der funktionalen Beschreibung der türkendeutschen Kontrast-Konstruktionen zu. Wie sich zeigen wird, wird die Konstruktion als Ressource zur Implementierung und Durchführung von Erklärungen und Rechtfertigungen innerhalb argumentativer Sequenzen genutzt.9 Dabei nehmen die Sprecher/innen Stellung zu verschiedenen Ereignissen und/ oder Sachverhalten, die – im Falle von Erklärungen – als ungewöhnlich oder – im Falle von Rechtfertigungen – strittig präsentiert werden. Sie vollziehen sowohl – insbesondere bei den Erklärungen – Selbstpositionierungen als auch – im Falle von Rechtfertigungen – Fremdpositionierungen, indem sie die Handlungen anderer als widersprüchlich zu normativen Erwartungen darstellen und damit ihre eigene argumentative Position stärken. Insbesondere beim Rechtfertigen, das immer im Kontext einer Klage oder Beschwerde auftritt, nehmen sie so außerdem implizit moralisch Stellung zu den Handlungen der anderen, um ihre eigene Klage zu stützen. 9
Hier schließe ich mich im Wesentlichen den Definitionen von Klein (2001: S. 1316) an: Beim Erklären-Warum (das ich hier der Einfachheit halber „Erklären“ nenne) werden bestimmte, zu erklärende Sachverhalte bewertungsneutral auf ihre Konstitutionsbedingungen hin betrachtet. Beim Rechtfertigen dagegen geht es um die Verhandlung problematischer bzw. strittiger Geltungsansprüche, die entweder in der epistemischen oder in der evaluativen Dimension liegen. Es werden dabei Einstellungen zu einem Sachverhalt gestützt. Beide Sprechhandlungen gehören neben anderen konklusiven Sprechhandlungen zum Argumentieren.
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Für Erklärungen und Rechtfertigungen werden sowohl Kontrasttypen des kontrastiven Vergleichs (vgl. unten Beispiel 2) als auch des Erwartungswiderspruchs benutzt.10 3.2.1 Erklären mit der Kontrast-Konstruktion In dem folgenden Ausschnitt, der einer sich über mehrere Minuten hinziehenden Unterhaltung über die Gewichtsprobleme der beiden Freundinnen entnommen ist, werden die Essgewohnheiten der Sprecherinnen thematisiert. In diesem Kontext wird mehrfach die türkendeutsche Kontrast-Konstruktion verwendet, mit der hier Erklärungen für das Zustandekommen eines ungewöhnlichen bzw. erklärungsbedürftigen Ereignisses präsentiert werden. Ausgangspunkt der Sequenz ist die Frage Melissas, ob Ela zugenommen hätte, und Elas darauf folgende Zustimmung (Z. 1592–1593). Beispiel (2): tkdtw02_Mel1 1592 MEL 1593 ELA 1594 MEL 1595 1596 1597 ELA 1598 MEL 1599
1647 ELA 1648 1649 MEL ELA 1650 MEL 1651 ELA 1652 MEL 1653 ELA
10
ah hast du ZUgenommen oder was; SOwieso; vallah; wirklich du bist ja NUR am essen alter; du fette SAU; ja was soll ich MAchen; ((lacht)) ja bei mir ist AUCH das gleiche; hiç sorma, frag gar nicht (…) ˘imizde ben izinden geldig ich als wir vom urlaub zurückkamen wog ich DREIundfünfzig; drei’ OA:H; eins (.) VIERundsechzig boyum; meine größe he güzel; ja schön ist ideAL gewesen; aynen; genau aber dann musst ich ja (.) wenig ESsen?
Nach Breindl (2004) werden beim „kontrastiven Vergleich“ die beiden Satztopiks einander gegenüber gestellt. Diese müssen zum selben semantischen Typ gehören, sich aber bezüglich der in den Konjunkten genannten Eigenschaften gegenseitig ausschließen. Der Kontrast leitet sich aus der zugrunde liegenden Präsupposition her, auf typgleiche Entitäten träfen gleiche Eigenschaften zu.
Positionieren mit Kontrast 1654 1655 MEL 1656 ELA 1657 1658 1659 MEL 1660 1661 1662 1663 1664 1665 1666
ELA MEL ELA MEL
1667 ELA 1668 MEL 1669 ELA 1670 1671 1672 1673 1674 1675 1676 1677
ELA MEL ELA MEL ELA MEL
1678 1679 1680 1681 ELA 1682 1683 1684 MEL 1685 ELA
293
((lacht) hm=hm, dann hab ich ZUgenommn? ((lacht)) ˘ime göre, eigentlich yedig für das was ich esse hab ich WEnig zugenommen; hä=Ä; man das ist ja SO; ä’ DINGS (.) du denkst du hast VIEL gegessen, obwohl du WEnig gegessen [hast; [nein nein, [weil der magen ist ja KLEIN geworden; [nein nein nein nein NEIN; was nein lan; mann ich ESse viel; bok isst du viel, scheiße arkadas ˛lar freunde oder wir gehen so ESsen so, (MITtagessen} zum beispiel, hä, <
Nach Melissas sequenzauslösender Frage (Z. 1592) folgt direkt Elas bejahende Antwort (Z. 1593). Nach einigem Hin und Her produziert Ela dann die Aussage „ich esse viel“ (Z. 1667), die sie im Folgenden illustrierend erklärt, indem sie im Rahmen einer Kontrast-Konstruktion ein konkretes Beispiel als Beleg für ihr „Viel-Essen“ und damit für ihre Gewichtszunahme präsentiert (Z. 1673–1674). Dafür rekonstruiert sie eine typische Szene mit
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Friederike Kern
sich und ihren Freunden, in der sie ihr eigenes Essverhalten mit dem ihrer Freunde kontrastiert. Mit der Konstruktion wird also eine Art szenischer Kontrast ausgedrückt, was, wie sich zeigen wird, ebenfalls typisch für die türkendeutsche Kontrast-Konstruktion ist. Im folgenden Gesprächsabschnitt übernimmt ihre Freundin Melissa die Kontrast-Konstruktion für eine Darstellung ihres eigenen Essverhaltens, ebenfalls im Rahmen einer nacherzählten Szene desselben Typs („Mittagessen mit Freunden“), das sie einerseits mit ihren Freunden und andererseits gleichzeitig mit Elas Essverhalten kontrastiert. Beispiel (2a): 1675 MEL 1676 ELA 1677 MEL 1678 1679 1680
puh; ich GUCK so ((lacht)) vallah bei mir ist SOich ich esse nur ein DÖner zum beispiel, <
Im Unterschied zu Ela verwendet Melissa hier allerdings die Adverbien immer noch adversativ. Damit benutzt sie zusätzlich zu den für die KontrastKonstruktion typischen prosodischen Signalen, zu denen gegenläufige nukleare Konturen und der Wechsel des Tonhöhenregisters von
bei MIR ist so, ich ess ZWEI döner, alle essen EInen; ((lacht))
Mit den Kontrast-Konstruktionen positionieren sich die beiden Sprecherinnen sowohl in Bezug zu ihrem Gegenüber als auch in Bezug zu ihren abwesenden Freunden, die Mit-Protagonisten kleiner nacherzählter Szenen sind,
Positionieren mit Kontrast
295
und schreiben sich damit bestimmte, für den argumentativen Kontext relevante Handlungen bzw. Eigenschaften zu. Damit dienen die szenisch dargestellten Eigenschaften als Beleg bzw. Erklärung für das Zustandekommen eines als ungewöhnlich dargestellten Sachverhalts, nämlich dass Ela dick ist. Während Ela sich im Vergleich zu ihren Freunden als „viel-essend“ präsentiert, stellt sich Melissa vor allem als „langsam-essend“ und damit implizit auch als „wenig-essend“ dar. Die Selbstpositionierungen der beiden Freundinnen stehen im Kontrast zueinander; allerdings erarbeiten sie sich auf diese Weise gemeinsam und durchaus humorvoll eine Erklärung für die Tatsache, dass Ela im Vergleich zu Melissa dick ist. 3.2.2 Rechtfertigen durch Kontrastieren Rechtfertigungen, die einer Klage über eine nicht anwesende Person folgen, stellen weitere Handlungen dar, die mit der Kontrast-Konstruktion durchgeführt werden. Hier bezieht sich die mit der Konstruktion dargestellte Szene immer auf eine dritte, nicht anwesende Person, deren als normwidrig erachtete Handlungen als Grund für die Klage oder Beschwerde11 über ebendiese Person präsentiert werden. Mit diesen Fremdpositionierungen werden damit Rechtfertigungen für die Klage vollzogen. Der Typ des Kontrasts entspricht dabei immer dem des Erwartungswiderspruchs: So werden die Vorfälle oder Ereignisse dargestellt, in denen sich die abwesenden Personen nicht einer Erwartung entsprechend verhalten haben. Dies stellt dann für die Sprecherin bzw. für den Sprecher einen Anlass zur Klage über die Person dar. Offensichtlich bietet die KontrastKonstruktion eine passende Form für solche Beschwerdeformulierungen: Die erste Einheit drückt dann eine Handlung aus, die eine spezifische Erwartung generiert, deren Nichterfüllung in der zweiten Einheit dargestellt wird. Diese Nichterfüllung stellt den „Stein des Anstoßes“ für diejenige oder denjenigen dar, die/der sich beklagt.
11
Günthner (2000: S. 55 f.) unterscheidet Klagen von Vorwürfen dahingehend, dass ein Vorwurf nur für Verhaltenskritik angewendet wird, wenn der Adressat des Vorwurfs anwesend ist. Klagen werden dagegen nur über Abwesende produziert. Beschwerden wiederum sind vor allem auf institutionelle Zusammenhänge beschränkt. So beschwert man sich beispielsweise über jemanden oder über eine Angelegenheit, wobei das Ziel der Beschwerde ist, den Missstand zu beheben. Allerdings weist Günthner darauf hin, dass man sich auch in informellen, privaten Kontexten über jemanden beschweren kann; „beschweren“ wäre in diesem Zusammenhang mit „sich über jemanden beklagen“ gleichzusetzen. Günthners Definitionen möchte ich mich hier anschließen.
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Im folgenden Beispiel beklagt sich Deniz über ihren Bruder, der ihr schon den ganzen Tag auf die Nerven geht. Beispiel (3): tkdtw02_Mel3 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346
DEN
MEL DEN
MEL DEN MEL
DEN
347 348 MEL 349 DEN
NEIN man; MAN;= er nErvt schon den ganzen TAG;= =ich hab’ ich will nicht ihn SEHN; ich will auch nicht mit ihm REden, überHAUPT nichts; achso ich dachte er ist dein LIEBlingsbruder; ja IS er ja; aber TROTZdem;= =er spinnt nur RUM die ganze zeit; spielt den ganzen tag die PLAY station; = ey; ((lacht kurz)) hAndy ’KLINgelt? (.) <
Deniz beginnt ihre kurze Erzählung mit einer Klage über ihren Bruder. Diese hat die Form einer negativen Charakterisierung (er nervt schon den ganzen tag, Z. 328). Nach einer erstaunten Nachfrage von Melissa (ich dachte er ist dein Lieblingsbruder, Z.332) präsentiert Deniz zunächst eine Reformulierung ihrer Klage (er spinnt nur RUM die ganze Zeit, Z. 335) und dann einen Grund (spielt den ganzen tag die PLAY station, Z. 336). Diese Äußerungen stellen aufgrund ihrer lexikalischen Hyperbolen (den ganzen tag, die ganze zeit) Extreme-Case-Formulierungen dar, mit denen in Gesprächen die Legitimität von Anschuldigungen, Beschwerden oder Rechtfertigungen begründet werden kann (vgl. Pomerantz 1986). Im Anschluss produziert Melissa trotz Deniz’ Formulierungsaufwand lediglich ein kurzes Lachen (Z. 337). Möglicherweise erwartet Deniz an dieser Stelle eine eindringlichere Reaktion von Melissa auf ihre Klage. Mit einer Kontrast-Konstruktion präsentiert Deniz schließlich ein weiteres konkretes Beispiel für das Fehlverhalten ihres Bruders: handy klingelt,
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geht nicht ran (Z. 338–339). Damit gibt sie in Form einer szenischen Darstellung einen weiteren Grund für ihre Beschwerde über ihren Bruder an. Dessen Verhalten entspricht offensichtlich nicht normativ gültigen Erwartungen (nämlich, dass man ein Telefon nicht einfach klingeln lässt); seine Präsentation stellt einen kleinen, vorläufigen Höhenpunkt innerhalb der Klagesequenz dar. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass es sich auch hier durchaus um eine Extreme-Case-Formulierung im Pomerantz’schen Sinne handelt, jedoch nicht aufgrund besonderer lexikalischen Eigenschaften, sondern aufgrund der prosodischen: Vor allem durch den skandierenden Rhythmus, aber auch durch die gegenläufigen Tonhöhenbewegungen und den Wechsel des Tonhöhenregisters in der zweiten Turnkonstruktionseinheit ist die Formulierung auditiv gut wahrnehmbar und fällt sozusagen besonders „ins Ohr“. Deniz führt hier mit der Kontrast-Konstruktion eine Fremdpositionierung ihres Bruders durch, indem sie ein für ihn typisches, aber normwidriges Verhalten szenisch darstellt und beschreibt. Damit bezieht sie deutlich negativ Stellung zu seinem Verhalten. Gleichzeitig stärkt sie so ihre eigene argumentative Position, indem sie ihre Klage retrospektiv rechtfertigt: Der Grund für die Klage wird durch die besondere Darstellungsweise des szenischen Kontrasts fokussiert und quasi auf den Punkt gebracht. Dadurch wird der Anspruch erhoben und gestärkt, Deniz’ Klage sei gerechtfertigt. Melissa reagiert nun auf Deniz’ Redebeitrag und nutzt die KontrastKonstruktion, um ihrerseits eine Klage über Deniz’ Bruder zu produzieren: Beispiel (3a) 340 MEL 341 342 343
ich wollt nur (.) DINGS; ich hab die ganze zeit ANgerufen? (.) keiner geht RAN;= =ich sag so soll ich bei ihm KLINgeln lassen,
Melissa verwendet denselben Konstruktionstyp, den sie hier zusätzlich mit lexikalischen Hyperbolen (die ganze Zeit, keiner) kombiniert, um eine kleine Szene zu präsentieren, mit der sie schildert, wie sie öfter versucht hat, anzurufen. Damit knüpft sie sowohl formal als auch inhaltlich an Deniz’ Klage an, um deren Fremdpositionierung und den damit verbundenen Anspruch auf die Rechtmäßigkeit der Klage zu unterstützen: Durch die enge formale und inhaltliche Anbindung an Deniz’ vorangegangene Äußerungen signalisiert Melissa, dass sie Deniz’ Standpunkt teilt und ihre Beschwerde nachvollziehen kann; d. h. sie versichert ihrer Freundin implizit, dass sie sich zu Recht beschwert. Damit etabliert bzw. demonstriert sie auch soziale Nähe und Verbundenheit mit ihrer Freundin.
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In ihrem daran anschließenden Redebeitrag verwendet Deniz ein weiteres Mal die Kontrast-Konstruktion, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass ihr Bruder an diesem Nachmittag klingelnde Telefone ignoriert hat. Beispiel (3b): 344 DEN 345 346 347 348 MEl 349 DEN 350 MEL
hä er wär so oder so nicht RANgegangen; er hat’ (.) weil die ganze zeit hats vorhin auch geKLINgelt? er ist nicht RANgegangen; das war bestimmt NURten; nee glaub ich NICHT; ich glaub doch SCHON;
Nach einem daran anschließenden kurzen Austausch über die mögliche Anruferin (Z. 348–350) wenden sich die beiden Freundinnen einem neuen Thema zu. Insgesamt demonstrieren die Ausschnitte eine typische Verwendungsweise der türkendeutschen Kontrast-Konstruktion, mit der Rechtfertigungen für Beschwerden über nicht anwesende Personen durchgeführt werden. Innerhalb der kurzen Sequenz verständigen sich die beiden Freundinnen hier im Rahmen von Fremdpositionierungen über die Gründe, die Anlass zu dieser Beschwerde gegeben haben und stellen so einen gemeinsamen Standpunkt her, von dem aus sie zu einer identischen Beurteilung der Verhaltensweisen von Deniz’ Bruder gelangen. Dabei verwenden sie beide abwechselnd den türkendeutschen Kontrast-Konstruktionstyp, um je einen spezifischen konkreten Grund besonders hervorzuheben und sich gegenseitig der Rechtmäßigkeit von Deniz’ Klage zu versichern. Durch die Verwendung desselben Konstruktionstyps stellen die Gesprächspartnerinnen außerdem, ähnlich in Beispiel (2), Kohärenz über mehrere Redebeiträge her und machen damit deutlich, dass sie sich aufeinander beziehen. Gemeinsam vollziehen sie so die Rechtfertigung für Deniz’ Klage über ihren Bruder. Im Übrigen gilt auch hier wieder, was bereits in Kap. 3.1 festgestellt wurde: Im Rahmen der Kontrast-Konstruktion wird szenischer Kontrast präsentiert, d. h. es wird eine kleine Szene rekonstruiert, in der Verhaltensweisen als nicht den üblichen bzw. erwartbaren Normen entsprechend dargestellt werden.
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3.3 Zum Vergleich: Eine standardnahe Kontrast-Konstruktion Zum Vergleich wird nun exemplarisch ein Beispiel für eine Kontrast-Konstruktion angeführt, die – wie sich zeigen wird – weder syntaktische Auffälligkeiten wie Asyndese oder Ellipsen noch eine besondere prosodische Aufbereitung aufweist und die deswegen als Beispiel für einen standardnahen Kontrast-Konstruktionstyp identifiziert wurde. Dieses Beispiel, das ebenfalls dem semantischen Kontrasttyp „Erwartungswiderspruch“ zuzuordnen ist, weist nicht nur den kontrastiven Konnektor aber, sondern auch verhältnismäßig komplexe syntaktische Strukturen auf, die typisch für das Standarddeutsche sind. Des Weiteren zeichnet es sich durch die Abwesenheit der auditiv sehr salienten prosodischen, d. h. insbesondere intonatorischen und rhythmischen, Eigenschaften aus, die die türkendeutsche Konstruktion typischerweise aufweist. Ein weiterer Unterschied zur türkendeutschen Kontrast-Konstruktion offenbart sich bei der Betrachtung der Funktionen: Zwar wird auch mit diesem Konstruktionstyp eine Art Rechtfertigung vollzogen; wie wir sehen werden, ist jedoch die mit ihr verbundene Selbstpositionierung syntaktisch und semantisch anders in die Konstruktion eingebunden, als es beim türkendeutschen Kontrast-Konstruktionstyp der Fall ist. Beispiel (4) stammt aus einem längeren Gespräch, in dem sich Zelal über ihre Mutter beschwert, weil diese sie nicht telefonieren lässt.12 Beispiel (4): tkdtw03_Gül2 217 GÜL 218 219 220 ZEL 221 222 GÜL 223 224 225 226 227 228
12
ZEL GÜL ZEL GÜL ZEL
aber ZElal; man wird auch SÜCHtig; TElefonsüchtig; nja;= aber (.) sie WEISS dass ich mich auch beHERRschen kann; und sie weiß [dass ich [wieso machst du denn nich beruflich später (.) büROkauffrau oder so; NEI=ein; da kannst du VOLL’ ich SCHWÖRS dir [da kannst du Immer am ]telefon rEden; [also ich WEISS nicht; ] ((lacht)) .h n dis is einfach SO’.h
Dass es sich hier um eine türkischdeutsche Sprecherin handelt, die die standardnahe Konstruktion verwendet, zeigt, dass Türkendeutsch tatsächlich nur eine mögliche Ressource der Sprecher/innen darstellt, die sie zu stilistischen Zwecken verwenden.
300 229 230 231 232 233 234
Friederike Kern (.) hm=wir SEHN uns ja mit meinen freunden; (n) TÄGlich; aber
Zunächst zu den formalen Eigenschaften der Konstruktion: Erstens stellt aber eine Verknüpfung zwischen den beiden aufeinander folgenden Äußerungseinheiten her und spezifiziert außerdem die Art der Verknüpfung semantisch. Aber übernimmt also sowohl die Funktion der Kohärenzsignalisierung als auch der Kontextualisierung von Kontrast. Keine der beiden Äußerungseinheiten hat eine elliptische Struktur. Stattdessen ist vor allem die syntaktische Struktur der ersten Einheit verhältnismäßig komplex: auf einen Matrixsatz folgt ein syntaktisch integriebarer, aber prosodisch selbstständiger Nachtrag (vgl. Auer 1991). Die Konturen der miteinander in Kontrast stehenden Einheiten weisen keine gegenläufigen Bewegungen auf. Stattdessen haben alle Einheiten inklusive der Nachstellung fallende nukleare Konturen. Die folgenden PRAAT-Bilder demonstrieren die intonatorischen Eigenschaften der Einheiten:
Abb. 2a: Tonhöhenbewegungen in Beispiel (4), Z. 230–231
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Abb. 2b: Tonhöhenbewegungen in Beispiel (4), Z. 232 Zwar findet in der Einheit, die mit „aber“ beginnt, ein Tonhöhensprung nach oben statt, allerdings erst nach seiner Produktion. Danach bleibt die Tonhöhe auch auf relativ hohem Niveau. Die auffälligen Tonhöhensprünge auf den Nukleussilben KANN und AUF und die daraus resultierende dichte Akzentuierung kontextualisieren hier eine erhöhte emotionale Beteiligung der Sprecherin, mit der sie ihr Problem, nämlich mit dem Telefonieren nicht aufhören zu können, offenbar emphatisch auf den Punkt bringen will (vgl. Selting 1994 zu prosodischen Signalen von Emphase bzw. erhöhter emotionaler Beteiligung im Gespräch). Ein durchgängiger Rhythmus, der die einzelnen Einheiten miteinander verbindet, wird nicht etabliert. Zusammenfassend können folgende formale Eigenschaften standardnaher Kontrast-Konstruktionen mit aber festgehalten werden: – Syntaktische Struktur Der adversative Konnektor aber verbindet zwei Äußerungseinheiten miteinander und fungiert als Kontextualisierungshinweis für ihr kontrastives Potenzial. Aufgrund von Nachstellungen und Ergänzungen vor allem im Anschluss an das erste Konjunkt ist die syntaktische Struktur oft relativ komplex.
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– Prosodische Struktur Die als Konjunkte gekennzeichneten Einheiten enden mit fallenden nuklearen Konturen und sind rhythmisch weitgehend unauffällig (d. h. es wird kein hörbarer Rhythmus etabliert). Häufig werden in den zweiten Konjunkten auffällige Tonhöhensprünge nach oben und/oder Längungen auf Nukleussilben produziert, die zusammen mit dichten Akzentuierungen erhöhte emotionale Beteiligung bzw. Emphase kontextualisieren. – Sequenzielle Struktur Die Turnkonstruktionseinheiten, die zusammen kontrastives Potenzial aufweisen, folgen nicht notwendigerweise direkt aufeinander, u. a. aufgrund der häufig komplexen syntaktischen Struktur mit unterschiedlichen Formen von Nachstellungen und/oder Reformulierungen. Auch ein Sprecherwechsel kann zwischendurch stattfinden. Die sequenzielle Struktur ist also weitaus loser als beim türkendeutschen Verfahren. Vor allem durch den Gebrauch der Konjunktion „aber“ wird gewährleistet, dass eine nachfolgende Äußerung trotzdem als zugehörig zu einer vorhergehenden interpretiert wird. „Aber“ kommt hier also die doppelte Funktion zu, einerseits Zusammengehörigkeit, d. h. Kohärenz, zu signalisieren und andererseits die Art der Zusammengehörigkeit – nämlich Kontrast – zu spezifizieren und interpretierbar zu machen. Des Weiteren wird an Beispiel (4) ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen dem türkendeutschen und dem ihm vergleichbaren standardnahen Konstruktionstyp deutlich: Es handelt sich nicht um szenischen Kontrast, der hier ausgedrückt wird; hier wird keine kleine Szene nacherzählt, durch die konkrete Beispiele für das normwidrige Verhalten von Dritten angeführt und mit der so Fremdpositionierungen vollzogen werden. Standardnahe Konstruktionen weisen also kein szenisches Potenzial auf. Ein letzter Unterschied, der an Beispiel (4) demonstriert werden kann, bezieht sich auf die Funktion der standardnahen Kontrast-Konstruktion. So antwortet die Sprecherin Zelal mit dieser Konstruktion auf einen Vorwurf, der ihr von ihrer Gesprächspartnerin gemacht wurde (Z. 218–219: man wird auch süchtig; telefonsüchtig;). In der ersten Einheit (Z. 230–231: hm=wir SEHN uns ja mit meinen freunden; (n) TÄGlich;) äußert Zelal das Eingeständnis, sie und ihre Freundinnen würden sich ja täglich sehen (und bräuchten deshalb gar nicht so viel zu telefonieren); in der angehängten zweiten Einheit (Z. 232: aber ich KANN nicht AUFhören) formuliert sie dann eine Begründung dafür, warum sie trotzdem andauernd telefoniert. Zelal stellt hier also ihr eigenes Verhalten als normwidrig dar und vollzieht damit eine explizite Selbstpositionierung. Im Kontext des Gesprächs
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fungiert diese Selbstpositionierung als Rechtfertigung auf den Vorwurf, der ihr gemacht wurde. Hier liegt möglicherweise auch der Grund dafür, dass diese als besonders emphatisch markiert ist.
4. Zusammenfassung der Ergebnisse Es war Ziel des Beitrags, eine spezielle türkendeutsche Kontrast-Konstruktion hinsichtlich ihrer formalen Merkmale und ihrer Funktionen als konversationelle Praktik zur Durchführung und Gestaltung von sprachlichen Handlungen vorzustellen. Diese Konstruktion wurde dazu auch mit einer standardnahen Kontrast-Konstruktion verglichen. Außerdem wurde der Frage nachgegangen, welchen Arten von Positionierungen die Gesprächsbeteiligten mit diesen Konstruktionen vornehmen. Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die türkendeutsche Kontrast-Konstruktion nutzt im Gegensatz zu standardnahen Konstruktionen vor allem prosodische Mittel, um sowohl Kohärenz zwischen zwei Äußerungseinheiten herzustellen, als auch um das kontrastive Potenzial der beiden Einheiten zu kontextualisieren und damit verstehbar zu machen. Dafür haben sich durchgängiger Rhythmus einerseits und gegenläufige nukleare Konturen andererseits als besonders relevante prosodische Ressourcen herausgestellt. Diese ersetzen damit die lexiko-semantischen Marker der Adversativität (wie z. B. aber), die in der Regel in den standardnahen Konstruktionstypen zur Kohäsionssignalisierung und Kontrastkontextualisierung genutzt werden. Auch hinsichtlich der Funktionen im Gespräch unterscheidet sich der türkendeutsche Konstruktionstyp von standardnahen Konstruktionen. Relevante Handlungen, die mit der türkendeutschen Konstruktion durchgeführt werden, sind Erklärungen zu ungewöhnlichen und/oder überraschenden Sachverhalten bzw. Ereignissen sowie Rechtfertigungen von Klagen bzw. Beschwerden über nicht anwesende Personen. Dafür werden im Rahmen der Kontrast-Konstruktion kleine Szenen nacherzählt, die als konkrete Belege für das Zustandekommen der ungewöhnlichen Sachverhalte bzw. als Rechtfertigung für die Klagen fungieren. Im Rahmen der erzählten Szenen vollziehen die Sprecher/innen unterschiedliche Selbstund Fremdpositionierungen, mit denen sie den sozialen Raum strukturieren, den sie diskursiv skizzieren. Damit ähneln die Kontrast-Konstruktionen in gewisser Hinsicht den von Bücker (in diesem Band) beschriebenen „nach Det/Pron Motto“-Konstruktionen, die szenische Elaborationen projektieren, mit denen Personen anschaulich bewertend beschrieben werden.
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Das szenische Potenzial dieser Konstruktionen spielt also offenbar eine wesentliche Rolle für ihre Verwendung als Ressourcen zur sozialen Positionierung. Literatur Auer, Peter „Vom Ende deutscher Sätze“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19.2/1991, S. 139–157. Auer, Peter, „Türkenslang: Ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen“, in: Anneliese Häcki Buhofer (Hrsg.): Spracherwerb und Lebensalter, Tübingen/Basel 2003, S. 255–264. Brauße, Ursula, „Was ist Adversativität? Aber oder Und?“, in: Deutsche Sprache 26/1998, S. 138–159. Breindl, Eva, „Relationsbedeutung und Konnektorbedeutung: Additivität, Adversativität und Konzessivität“, in: Hardarik Blühdorn/Eva Breindl/Ulrich Hermann Waßner (Hrsg.): Brücken schlagen. Grundlagen der Konnektorensemantik. Berlin/New York 2004, S. 225–253. Blakemore, Diane, „Denial and contrast: A relevance theoretic analysis of BUT“, in: Linguistics and Philosophy 12/1989, S. 15–37. Couper-Kuhlen, Elizabeth/Thompson, Sandra A., „you know, it’s funny: Eine Neubetrachtung der ‚Extraposition‘ im Englischen“, in: Susanne Günthner/Imo Wolfgang (Hrsg.): Konstruktionen in der Interaktion. Berlin/New York 2006, S. 23–58. Deppermann, Arnulf, „Conversational interpretation of lexical items and conversational contrasting“, in: Auli Hakulinen/Margret Selting (Hrsg.): Syntax and lexis in conversation. Studies on the use of linguistical resources in talk-in-interaction, Amsterdam 2005, S. 289–317 Deppermann, Arnulf, „Construction grammar – Eine Grammatik für die Interaktion?“, in: Arnulf Deppermann/Thomas Spranz-Fógzy (Hsg.): Grammatik und Interaktion, Radolfzell 2006, S. 43–65. Gohl, Christine, „Causal relations in spoken discourse: Asyndetic constructions as a means for giving reasons“, in: Elizabeth Couper-Kuhlen/Bernd Kortmann (Hrsg.): Cause – Condition – Concession – Contrast. Cognitive and discourse perspectives, Berlin/New York 2000, S. 83–110. Günthner, Susanne/Imo, Wolfgang, „Konstruktionen in der Interaktion“, in: dies. (Hrsg.): Konstruktionen in der Interaktion, Berlin/New York 2006, S. 1–22. Günthner, Susanne, Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion, Tübingen 2000. Günthner, Susanne, „Grammatische Analysen der kommunikativen Praxis – Dichte Konstruktionen in der Interaktion“, in: Arnulf Deppermann/Reinhard Fiehler/ Thomas Spranz-Fogasy (Hrsg.): Grammatik und Interaktion – Untersuchungen zum Zusammenhang von grammatischen Strukturen und Gesprächsprozessen, Radolfzell 2006, S. 95–122. Keim, Inken, „Kommunikative Praktiken in türkischstämmigen Kinder- und Jugendgruppen in Mannheim“, in: Deutsche Sprache 32/2004, 2, S. 198–226. Kern, Friederike (2008): Das Zusammenspiel von Prosodie und Syntax am Beispiel von Türkendeutsch. Habilitationsschrift, Universität Potsdam.
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Transkriptionskonventionen nach GAT (Margret Selting et al. (1998): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem. In: Linguistische Berichte 173: S. 91–122) Sequentielle Struktur 01 eine Zeile entspricht einer Intonationskontur; erstreckt sich eine Intonationskontur über mehr als eine auf der Seitenbreite verfügbare Länge, wird sie ohne neue Nummerierung in der nächsten Zeile weitergeführt [ ] [ ] Überlappungen und Simultansprechen = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Redezüge oder Einheiten Pausen (.) (-), (–), (—) (1.5)
Mikropause (unter 0.3 Sekunden) kurze, mittlere oder lange Pausen von ca. 0.25–0.75 Sekunden, bis zu ca. 1 Sekunde Pause von mehr als einer Sekunde
Sonstige segmentale Konventionen a:, a:: Dehnung, Längung, je nach Dauer und=äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten äh, ehm etc. Verzögerungssignale Abbruch durch Glottalverschluss (oft vor Selbstreparaturen) Lachen so(h)o haha hoho hehe
Lachpartikeln beim Reden silbisches Lachen
Rezipientensignale hm, ja, ne hmhm, jaja ’hm’hm
einsilbige Signale zweisilbige Signale mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend
Akzentuierung akZENT akzEnt ak!ZENT!
Hauptakzent: Großbuchstaben über die ganze Silbe Nebenakzent: Großbuchstabe über Vokal sehr starker Akzent
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Transkriptionskonventionen nach GAT
Tonhöhenbewegung am Einheitenende ? hoch steigend , mittel steigend – gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Auffällige Tonhöhensprünge : Tonhöhensprung nach oben ; Tonhöhensprung nach unten Verändertes Tonhöhenregister <
Transkriptionskonventionen nach GAT
(2 Silben) ( ) ((…)) ?
309
unverständlicher Abschnitt, entsprechend der Länge unverständlicher Abschnitt, wenn keine Silbenstruktur hörbar ist ausgelassener Text Verweis auf im Text behandelte Transkriptstelle.
Personenregister Abraham, Ulf 123 Auer, Peter 1, 2, 5, 6, 14, 59, 61, 92–95, 97–99, 150, 152, 155–156, 159, 226–227, 230, 236, 250, 267, 284, 300 Autenrieth, Tanja 116, 118–120, 123, 125 Bamberg, Michael 4, 32, 215 Barlow, Michael 3, 5, 181 Barth-Weingarten, Dagmar 2, 92, 103, 180 Bellert, Irena 253, 255 Betz, Emma 60, 64, 67, 75–76, 84 Birkner, Karin 1, 5, 90 Breindl, Eva 287–288, 292 Bücker, Jörg 5–7, 12–13, 118, 180, 200, 208, 239–242, 303 Busler, Christine 172–173 Clarke, David D. 104 Coulmas, Florian 256–257, 268, 273 Coulter, Jeff 186–187, 190 Couper-Kuhlen, Elizabeth 1, 2, 4–5, 125, 215, 227, 283, 285 Croft, William 1, 3, 5, 7, 62, 81, 91, 116, 126–127, 207, 226 Deppermann, Arnulf 1, 2, 4–7, 9, 23, 32, 40, 50, 53, 57, 62, 66, 68, 81, 85, 88, 90–91, 118, 126, 154, 176, 178, 180, 185, 192, 208, 226, 231, 250–251, 255, 257, 276, 285–287 Diewald, Gabriele 41, 50, 53, 116–122, 127, 128, 130–131, 138–139 Eisenberg, Peter 6, 84, 116, 118–119, 121, 252 Feilke, Helmuth 1, 23 Fetzer, Anita 23, 31 Fillmore, Charles J. 1, 176, 207, 226 Fischer, Kerstin 3, 5, 23, 31, 49, 50, 57, 78, 82–84, 90, 117, 119, 121–122, 127, 130, 149 Glinz, Hans 87 Goffman, Erving 34, 47, 204, 215, 264 Golato, Andrea 60, 64, 67, 75–76, 84, 223, 240–241 Goldberg, Adele 1, 207, 226 Goodwin, Charles 156–157, 190–191, 206 Grice, H. Paul 104, 258–259, 262–263, 265 Günthner, Susanne 1–3, 5–8, 11, 14, 23, 34, 50, 57, 62, 80–81, 92–94, 97–100, 103–104, 122, 125, 127, 140, 150, 152,
156–157, 170–172, 176, 180, 192, 208, 216–217, 226, 231, 236, 242, 249–250, 255, 257–258, 267, 276, 285, 289, 295 Hartmann, Peter 2, 14 Hentschel, Elke 50, 119 Heritage, John 26, 57–62, 64, 66–67, 76–77, 81–82, 106, 135, 201–202, 204, 207–208 Hoffmann, Ludger 3 Hopper, Paul 1–3, 5, 7, 93, 177, 180–181, 225, 237, 240, 242 Imo, Wolfgang 1–2, 5–7, 9–10, 24, 49, 79, 84, 90–93, 100, 117–118, 125–127, 139, 171, 178, 180, 192, 208, 250, 255, 269, 285 Jefferson, Gail 58, 61, 188, 201, 202, 289 Kay, Paul 1, 7 Kern, Frederike 5–6, 14, 117, 276, 284, 294 Klein, Josef 115, 291 König, Ekkehard 26, 30, 49–50, 240, 256 Koshik, Irene 35, 37 Kotthoff, Helga 191–192, 264 Krämer, Sybille 2 Langacker, Ronald W. 62, 81, 90–92, 126, 176, 180 Lerner, Gene H. 4, 203 Levinson, Stephen C. 42, 197, 263–265 Linell, Per 3, 5–6, 79, 83, 117, 180 Lucius-Hoene, Gabriele 4, 32, 90, 154, 215, 276, 286 Mazeland, Harrie 5–7, 11–12, 32, 155, 180, 185, 190, 202, 208, 225, 240, 276 Meer, Dorothee 5–7, 9–10, 49, 62, 81, 104–106, 118, 155, 159, 178–180, 189, 192, 208, 231, 294 Nerlich, Brigitte 104 O’Connor, Mary C. 1 Östman, Jan-Ola 1, 3, 5, 180 Pittner, Karin 53, 116, 252–253 Pomerantz, Anita 42, 59, 61, 155, 190, 193, 296 Raymond, Geoffrey 26, 201–202, 204, 208 Redder, Angelika 3, 26, 32, 34–35, 37 Rolf, Eckard 242, 258–259, 261–263 Rudolph, Elisabeth 286–287 Sacks, Harvey 4, 15, 57, 122, 156, 159, 192, 195–196, 198, 203, 289
312 Schegloff, Emanuel A. 4, 7, 41, 53, 57, 60, 73, 188–191, 193, 196, 200, 202, 207, 289 Schlobinski, Peter 172–173 Seedhouse, Paul 115 Selting, Margret 2, 4, 125, 168, 172–173, 189, 215, 217, 267, 283–284, 288–289, 301, 307 Spreckels, Janet 5–7, 9–11, 24, 49, 62, 68–69, 81, 88, 103, 154, 178, 180, 217, 231, 250, 255, 273, 276, 286 Stein, Stephan 168, 172, 256–257, 279
Personenregister Stoltenburg, Benjamin 5–6, 12–13, 24, 62, 88, 118, 180 Strecker, Bruno 88 Thompson, Sandra A. 1, 5, 7, 207–208, 227, 285 Thurmair, Maria 25, 30–32, 61, 64, 124 Weydt, Harald 50, 116, 119, 121 Wolf, Ricarda 4, 128, 215 Zifonun, Gisela 33, 48, 50, 67, 69, 72, 75–76, 78, 88, 116, 119, 121–124, 130, 133, 150–151, 153–154, 168–169, 171, 173–174, 178, 218
Sachregister Abtönungspartikel 87–88, 97–98, 116–133,135, 137–141 Adjektivphrase 150, 154–155, 159–160, 162–168, 172, 177–178 Adverbial 119, 133, 220, 223, 252–255, 260–261, 284 Ambiguität/ambig 6, 89–90, 100–104, 107, 110–112, 266 Antwort 9, 10, 23, 30, 34–38, 41, 44, 46, 48, 51–52, 59, 66, 70, 77–78, 80, 84, 88–89, 92, 94–97, 99–102, 111, 187, 193, 273, 293 Argumentieren 57, 68, 123, 185, 186 Asyndese 283, 289–299 Begründen 25, 123, 134 Blending 181 Change-of-State Token 9, 57, 58–59, 61–62 Construction Grammar (siehe auch Konstruktionsgrammatik) 3, 4, 7, 8, 62, 81, 84, 89–92, 100, 102–103, 111, 124 Constructional Schemas 1 Dass-Satz [dass-Sätze] 11, 149 59, 161–179, Desemantisierung 224–225, 231, 243 Dialogizität 3, 4, 85 Diskursmarker 8–10, 21, 23, 49, 57, 82, 84, 87, 89, 92–94, 97–112, 171 Diskutieren 185–187, 192–194 Distanzierung 273, 276 Ellipse[n] 11, 150–151, 168, 172, 176, 289–299 Emergent Grammar 3 Erkenntnisprozessmarker 9, 24, 57, 62–69, 72, 74, 77–84 Erklären 115, 117, 123, 127–128, 137, 140, 286, 291–292 Exklamation[en]/Exklamationskonstruktion[en] 25, 34, 36, 154, 175, 177 Extraposition[en]/Extrapositionskonstruktion[en] 150, 169, 170–172, 176–178 Face-Work 262, 264–265, 268 Frage 9, 23–53, 59, 62, 64, 66–67, 72, 77–78, 80, 101, 106, 187, 193, 235 Gattung 1, 4, 6, 7, 25, 42, 61, 81, 103, 105, 107, 109, 111–112, 127, 154, 192, 236–237, 242–243, 257–258, 263, 273 Gesprächspartikel[n] 59–60, 80, 64, 88 Gesprochene-Sprache-Forschung 8
Grammatikalisierung 3, 9, 53, 119, 126, 225, 271 Höflichkeit 13, 50, 261–266, 271, 275–276 Interaktionale Linguistik 125 Kollaborative Komplettierung 194, 203, 204, 206 Konditionelle Relevanz 24, 32, 40, 95 Konstruktionsformat 12, 190, 208 Konstruktionsgrammatik (siehe auch Construction Grammar) 116, 126, 207, 285 Kontextualisierung 5, 24, 27, 165–166, 287–288, 290, 300–301, 303 Kontrast 14, 78, 283–303 Konversationsmaxime 258–259, 261–263 Marking of Stance 254–255 Mehrdeutigkeit 100, 103–104, 111–112, 263 Mehr-Parteien-Interaktion 192 Modalpartikel[n] 273 On-line Syntax on line Paarsequenz 155, 193 Partikel[n] 6–11, 21, 23, 25, 31–32, 49, 57–65, 68–70, 72–85, 87–90, 92, 94–102, 108, 111, 116–141, 223, 286 Präferenzstruktur 42, 49, 191–192 Präsupposition 29, 31, 45, 51–52, 162, 292 Pragmatik 10, 91, 111, 116, 118, 120–121, 132, 159, 276 Pre-fabricated Parts 1 Projektion/Projektivität/projektiv 5, 9, 24, 31–32, 49, 52, 97–100, 102, 108–110, 112, 155–156, 158–159, 226, 228, 230, 244 Proposition 11, 50, 97, 111, 123–124, 128, 131, 133, 137, 253, 286–287 Prosodie 4, 9–10, 82, 84, 91, 111, 166, 229, 283 Quotativ-Konstruktionen 12–13, 216,-218, 230, 237–244 Rechtfertigen 286, 291, 295 Redewiedergabe 170, 216, 225, 240 Retraktion/retraktiv 95, 97, 99–102, 110, 112, 226–230, 241, 244 Rhetorik 13, 251–252, 273, 276 Routineformel 179, 256–258, 268, 271, 274 Semantik 9, 10, 35, 62, 75, 83–84, 91, 94, 97, 111, 116–118, 120–121, 132, 140, 230, 236, 238, 243–244, 275
314 Sequenzialität 3, 84, 91, 111 Sequenzorganisation 191–192 Sprechakt 13, 31, 138, 252–253, 255, 258, 261, 266, 269 Stellungnahme-Erweiterung 11, 185, 194, 197, 202 Türkendeutsch 6, 14, 117, 283–285–294, 298–299, 302–303
Sachregister Übereinstimmung 12, 73, 85, 185, 191–197, 201–203, 206–207, 259 Usage-based 4, 8, 90–91, 127 Verpflichtung 9, 24, 26, 31–33, 37, 39, 41–43, 46, 48, 52–53, 97 Vor-Vorfeld 10, 88–89, 92–93, 97, 171, 227–228, 229 Wissen, geteiltes 33, 37, 41, 45–46, 48 Zeitlichkeit 3