Charles Bukowski: Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend Roman Deutsch von Carl Weissner
Das Buch Henry China...
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Charles Bukowski: Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend Roman Deutsch von Carl Weissner
Das Buch Henry Chinaski (alias Bukowski) gehört nicht zu den Privilegierten Amerikas. Sein Vater verlässt zwar jeden Morgen pünktlich das Haus, aber nur damit die Nachbarn nicht merken, dass er arbeitslos ist. In der Schule ist Henry »der Deutsche«, der die Fäuste oben halten muss, wenn die Altersgenossen über ihn herfallen. Er darf nicht zurückstehen, wenn die anderen prahlen, sie hätten »es« schon mal mit Weibern gemacht, und er weiß: Er wird sich ein Leben lang als ungeliebter Außenseiter durchschlagen müssen. Alle, die Bukowski nur als »dirty old man« kannten, waren von diesem Roman überrascht. »Was sich in den Romanen und Erzählungen als autobiographisches Skelett abzeichnete«, schrieb Helmut Winter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<, »wird nun — vorzüglich übersetzt von Carl Weissner - in einer Weise mit Fleisch und Blut aufgefüllt, dass man versucht ist, von einem >neuen< Bukowski zu sprechen.« Der Autor Charles Bukowski, am 16. August 1920 in Andernach geboren, lebt seit seinem 2. Lebensjahr in Los Angeles. Einige Werke: > Aufzeichnungen eines Außenseiten (1970), >Das ausbruchsichere Paradies< (1973), >Gedichte die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang<, >Der Mann mit der Ledertasche< (1974), >Faktotum< (1977), >Das Liebesleben der Hyäne< (1980), >Gedichte vom südlichen Ende der Couch<, >Flinke Killer< (1984), >Nicht mit sechzig, Honey< (1986), >Hollywood< (1990), >Jeder zahlt drauf< (1993).
Von Charles Bukowski sind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Gedichte die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang (1653) Faktotum (10104) Pittsburgh Phil & Co. (10156) Ein Profi (10188) Gedichte vom südlichen Ende der Couch (10581) Flinke Killer (10759) Das Liebesleben der Hyäne (11049) Pacific Telephone (11327) Hot Water Music (11462) Western Avenue (11541) Hollywood (11552) Die Girls im grünen Hotel (11731) Roter Mercedes (11780) Der Mann mit der Ledertasche (11878) Neeli Cherkovski: Das Leben des Charles Bukowski
Ungekürzte Ausgabe März 1986 9. Auflage Juni 1994 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ©1982 Charles Bukowski Titel der amerikanischen Originalausgabe: >Ham on Rye< ©1983 der deutschsprachigen Ausgabe: Carl Hanser Verlag, München • Wien ISBN 3-466-13853-6 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-10538-0
Für alle Väter
1
Meine erste Erinnerung ist, dass ich unter etwas war. Es war ein Tisch, ich sah ein Tischbein, die Beine von Menschen und ein Stück herabhängendes Tischtuch. Es war dämmrig unter dem Tisch, und es gefiel mir dort. Es muss noch in Deutschland gewesen sein, ungefähr im Sommer 1922, als ich knapp zwei Jahre alt war. Ich fühlte mich gut unter diesem Tisch. Niemand schien zu wissen, dass ich da unten saß. Ein Streifen Sonne fiel auf den Teppich und die Beine der Menschen. Ich mochte das Sonnenlicht. Die Beine der Menschen waren nicht interessant, nicht so wie das Tischbein, das Stück Tischtuch, das herunterhing, und das Sonnenlicht. Danach eine Weile nichts mehr. Dann — ein Christbaum. Kerzen. Vögel aus Glanzpapier, jeder mit einem kleinen Mistelzweig im Schnabel. Ein Stern. Zwei große Leute, die sich anschrien und aufeinander einschlugen. Menschen, die aßen. Immer Menschen, die aßen. Ich bekam auch zu essen, doch mein Löffel war so gebogen, dass ich ihn in die rechte Hand nehmen musste, wenn ich etwas essen wollte. Wenn ich ihn in die linke Hand nahm, bog er sich von meinem Mund weg. Ich wollte ihn trotzdem immer wieder in die linke Hand nehmen. Zwei Erwachsene waren da. Der größere von beiden hatte derbes, lockiges Haar, eine große Nase, einen großen Mund und buschige Augenbrauen. Er schien immer wütend zu sein und schrie oft herum. Die kleinere Person war still und hatte ein blasses rundes Gesicht mit großen Augen. Ich fürchtete mich vor beiden. Manchmal war noch eine dritte Person da. Sie war sehr dick und trug Kleider mit einer Halskrause aus Spitze. Sie steckte sich immer eine große Brosche an, und im Gesicht hatte sie zahlreiche Warzen, aus denen kleine Haare sprossen. »Emily« wurde sie von den beiden anderen genannt. Sie war die Großmutter, die Mutter meines Vaters. Zu meinem Vater sagte sie »Henry« und zu meiner Mutter »Katherine«. Ich redete die beiden nie mit ihren Namen an. Ich war »Henry junior«. Die Eltern sprachen meistens deutsch miteinander, und anfangs tat ich das auch. Soweit ich mich erinnern kann, war das erste, was ich meine Großmutter sagen hörte: »Ich werde euch alle überleben!« Als sie das zum ersten Mal sagte, hatten wir uns gerade zu Tisch gesetzt. Sie sollte es noch oft sagen, immer kurz vor dem Essen. Essen schien sehr wichtig zu sein. Wir aßen Kartoffelbrei mit Soße, vor allem sonntags. Wir aßen auch Rinderbraten, Knackwurst und Sauerkraut, Erbsen, Rhabarber, Mohren, Spinat, grüne Bohnen, Huhn, Fleischklößchen und Spaghetti, manchmal auch Ravioli, gedünstete Zwiebeln und Spargel, und jeden Sonntag gab es Erdbeerkuchen mit Vanille-Eis. Das Frühstück bestand aus Toastbrot und Wurst, oder es gab Waffeln oder warme Semmeln mit Rührei und Schinken. Und zu jedem Essen kam Kaffee auf den Tisch. Doch am besten ist mir der Kartoffelbrei mit Soße in Erinnerung geblieben und wie meine Großmutter Emily jedes Mal sagte: »Ich werde euch alle überleben!«
1
Wir waren inzwischen in Amerika. Die Großmutter besuchte uns oft. Sie kam mit der roten Straßenbahn von Pasadena nach Los Angeles herein. Wenn wir sie besuchten, was selten vorkam, nahmen wir immer den Model-T Ford. Ich mochte das Haus meiner Großmutter. Es war klein und wurde überwuchert von dichten hohen Pfeffersträuchern. Emily hielt sich einige Kanarienvögel, und jeder hatte seinen eigenen Käfig. An einen Besuch erinnere ich mich besonders deutlich. Gegen Abend machte sie die Runde und deckte die Käfige mit weißen Tüchern ab, damit ihre Vögel schlafen konnten. Während die Erwachsenen um den Tisch saßen und sich unterhielten, setzte ich mich an ihr Klavier, hieb auf die Tasten und hörte mir die Töne an, die herauskamen. Am besten gefielen mir die Tasten ganz oben, wo die Töne so hoch waren, dass man sie kaum noch unterscheiden konnte — es hörte sich an, als würden Eiszapfen aneinander schlagen. »Wirst du wohl damit aufhören!« kam es laut von meinem Vater. »Lass den Jungen doch Klavier spielen«, sagte meine Großmutter. Meine Mutter lächelte. »Dieser Junge!« sagte meine Großmutter. »Einmal wollte ich ihn aus seiner Wiege hochheben und ihm einen Kuss geben, da hat er mich mitten auf die Nase geboxt!« Dann unterhielten sie sich wieder, und ich spielte weiter Klavier. »Warum lässt du das Ding nicht mal stimmen?« fragte mein Vater. Dann hieß es plötzlich, wir würden bei meinem Großvater vorbeischauen. Er und meine Großmutter lebten getrennt. Ich bekam zu hören, dass mein Großvater ein schlechter Mensch war und aus dem Mund stank. »Warum stinkt er aus dem Mund?« Sie schwiegen. »Warum stinkt er aus dem Mund?« »Weil er trinkt.« Wir stiegen in den Model-T und fuhren zu meinem Großvater Leonard. Als wir ankamen, stand er vor seinem Haus auf der Veranda. Er war schon alt, aber er hielt sich sehr gerade. In Deutschland war er Offizier gewesen, und nach Amerika war er gekommen, weil er gehört hatte, dort seien die Straßen mit Gold gepflastert. Das war nicht der Fall, also wurde er Chef einer Baufirma. Alle blieben im Wagen sitzen. Der Großvater krümmte den Finger und winkte mich zu sich her. Jemand machte mir die Wagentür auf, ich kletterte hinaus und ging auf ihn zu. Er hatte langes schlohweißes Haar und einen ebensolchen Bart. Als ich näher kam, sah ich, dass er blitzende blaue Augen hatte, denen offenbar nichts entging. Ich blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. »Henry«, sagte er, »du und ich, wir verstehen uns. Komm ins Haus.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ging vollends hin und konnte nun seinen schlechten Atem riechen. Er stank wirklich sehr aus dem Mund, aber ich hatte keine Angst vor ihm, denn er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich ging mit ihm ins Haus. Er führte mich zu einem Sessel. »Komm, setz dich hin. Ich freue mich sehr, dass du mich besuchst.« Er ging nach nebenan. Als er nach einer Weile zurückkam, hatte er ein kleines Kästchen aus Blech in der Hand. »Das ist für dich. Mach es auf.« 2
Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Deckel und bekam das Kästchen nicht auf. »Komm«, sagte er, »gib mal her.« Er lockerte den Deckel und gab mir das Kästchen zurück. Ich hob den Deckel, und da lag sein Eisernes Kreuz, mit Halsband. »Nein«, sagte ich, »das musst du behalten.« »Nimm es ruhig«, sagte er. »Ist nur so ein sentimentales Andenken.« »Vielen Dank.« »Besser, du gehst jetzt. Sie werden sich fragen, wo du bleibst.« »Is gut. Wiedersehn.« »Wiedersehn, Henry. Nein, warte noch ... « Ich blieb stehen. Er griff mit zwei Fingern in ein kleines Täschchen vorne an seiner Weste, und mit der anderen Hand zog er an einer langen goldenen Kette. Dann gab er mir seine goldene Taschenuhr mitsamt der Kette. »Dankeschön, Großvater ... « Draußen warteten sie schon ungeduldig. Ich stieg in den Model-T, und wir fuhren los. Während der Fahrt redeten sie über alles mögliche. Sie hatten ständig etwas zu reden, und auch diesmal ging ihnen der Gesprächsstoff nicht aus, bis wir wieder vor dem Haus meiner Großmutter waren. Sie redeten über alles mögliche, doch meinen Großvater erwähnten sie mit keinem Wort.
2
Ich erinnere mich noch gut an den alten Model-T Ford. Es war ein hochbeiniges Gefährt, das mit seinen breiten Trittbrettern einladend und gutmütig wirkte. An kalten Morgen - und oft auch sonst - musste mein Vater die Handkurbel vorne reinstecken und mehrmals kräftig drehen, bis der Motor ansprang. »Dabei kann man sich den Arm brechen. Das Ding haut zurück wie ein Pferd, das ausschlägt.« An Sonntagen, wenn die Großmutter nicht zu Besuch kam, fuhren wir mit dem Model-T aufs Land. Meine Eltern hatten eine Schwäche für Orangenhaine, und davon gab es reichlich. Meilenweit nichts als Bäume, die entweder blühten oder voll Orangen hingen. Meine Eltern hatten immer einen Picknick-Korb und eine Metallkiste dabei. Die Metallkiste enthielt Obstkonserven auf Trockeneis, und im Picknick-Korb waren Wiener Würstchen, Brote mit Leberwurst und Salami, Kartoffelchips, Bananen und Limonade. Die Limonade wanderte ständig zwischen dem Korb und der Eiskiste hin und her. Sie gefror sehr schnell und musste immer wieder aufgetaut werden. Mein Vater rauchte Camels und kannte allerhand Tricks und Spiele, die mit der Packung zu tun hatten. »Wie viele Pyramiden seht ihr da? Zählt sie mal.« Wir zählten sie, und dann zeigte er uns, dass es noch mehr waren. Es gab auch Tricks mit den Höckern der Kamele und der Beschriftung der Packungen. Camels waren magische Zigaretten.
3
Ein Sonntagsausflug ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Picknick-Korb war schon leer, aber wir fuhren weiter durch die Orangenhaine und entfernten uns immer mehr von der Gegend, in der wir wohnten. »Daddy«, sagte meine Mutter, »wird uns nicht das Benzin ausgehen?« »Nein, das verdammte Benzin wird uns nicht ausgehen.« »Wo fahren wir denn hin?« »Ich werde mir ein paar gottverdammte Orangen holen!« Meine Mutter machte sich sehr steif in ihrem Sitz. Mein Vater fuhr von der Straße herunter und parkte an einem Drahtzaun. Wir saßen da und lauschten. Dann kickte mein Vater die Tür auf und stieg aus. »Bringt den Korb mit.« Wir zwängten uns durch eine Lücke im Zaun. »Haltet euch hinter mir«, sagte er. Dann waren wir zwischen zwei Reihen von Orangenbäumen. Es war schattig hier. Nur wenig Sonne drang durch die Zweige und Blätter. Mein Vater blieb stehen, langte hoch und fing an, Orangen von den unteren Zweigen zu reißen. Er schien wütend zu sein, so heftig riss er daran herum, und die Zweige schnellten auf und nieder, als hätten auch sie eine Wut. Er warf die Orangen in den Picknick-Korb, den meine Mutter mit beiden Händen hielt. Manchmal traf er daneben, und ich rannte den Orangen nach, brachte sie zurück und legte sie in den Korb. Mein Vater ging von Baum zu Baum, zerrte an den unteren Zweigen und warf Orangen in den Korb. »Daddy, das reicht doch jetzt«, sagte meine Mutter. »Von wegen.« Er machte weiter. Plötzlich versperrte uns ein Mann den Weg. Er war sehr groß und hatte eine Schrotflinte in der Hand. »All right, Sportsfreund. Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier machen?« »Orangen pflücken. Gibt hier ja genug davon.« »Das sind meine Orangen. Und jetzt hören Sie mal gut zu: Sie werden jetzt Ihrer Frau sagen, sie soll sie fallen lassen.« »Bei soviel gottverdammten Orangen werden Sie doch ein paar entbehren können.« »Ich werd' keine einzige entbehren. Sagen Sie Ihrer Frau, sie soll sie fallen lassen.« Der Mann legte mit seiner Flinte auf meinen Vater an. »Lass sie fallen«, sagte mein Vater. Die Orangen rollten zu Boden. »So«, sagte der Mann, »und jetzt raus aus meiner Plantage!« »Sie brauchen doch diese Orangen nicht alle.« »Ich weiß schon selber, was ich brauche. Raus hier!« »Typen wie Sie sollte man aufhängen!« »Ich bin hier das Gesetz. Bewegung!« Der Mann hob wieder seine Flinte. Mein Vater drehte sich um und ging den Weg zurück, wir hinterher, und der Mann folgte uns.
4
Als wir im Wagen saßen, sprang der Motor nicht an. Mein Vater griff sich die Kurbel und stieg aus. Er versuchte es zweimal, aber es klappte nicht. Er begann zu schwitzen. Der Mann stand am Straßenrand und blaffte: »Sehn Sie bloß zu, dass Sie diese Klapperkiste ankriegen!« Mein Vater setzte zu einem neuen Versuch an. »Wir sind hier nicht auf Ihrem Grund und Boden! Wir können hier stehn bleiben, solang es uns passt!« »Von wegen! Macht, dass ihr hier verschwindet!« Mein Vater kurbelte erneut. Der Motor hustete und ging wieder aus. Meine Mutter saß auf dem Beifahrersitz und hatte den leeren Korb auf dem Schoß. Ich hatte Angst, den Mann anzusehen. Mein Vater ließ die Handkurbel rotieren, und diesmal sprang der Motor an. Er klemmte sich hinters Lenkrad und murkste an der Gangschaltung herum. »Lasst euch hier nicht mehr blicken!« sagte der Mann. »Das nächste Mal kommt ihr nicht so leicht davon!« Mein Vater fuhr los. Der Mann stand immer noch am Straßenrand. Wir fuhren sehr schnell. Dann bremste mein Vater ab, wendete und fuhr wieder zurück. Als wir an der Stelle vorbeikamen, wo wir geparkt hatten, war der Mann verschwunden. In rascher Fahrt ging es nun aus den Orangenhainen hinaus. »Eines Tages komm ich zurück und knöpf mir den Bastard vor«, sagte mein Vater. »Heute Abend machen wir uns ein gutes Essen, Daddy«, sagte meine Mutter. »Was möchtest du gern?« »Schweinskotelett«, sagte er. Ich hatte ihn noch nie so schnell fahren sehen.
3
Mein Vater hatte zwei Brüder. Der jüngere hieß Ben und der ältere John. Beide waren Trinker und Taugenichtse. Meine Eltern sprachen oft von ihnen. »Die sind alle beide nichts wert«, sagte mein Vater. »Du kommst halt aus einer schlechten Familie, Daddy«, sagte meine Mutter. »Und dein Bruder ist auch keinen Pfifferling wert!« Der Bruder meiner Mutter war in Deutschland. Mein Vater zog oft über ihn her. Ich hatte noch einen weiteren Onkel. Er hieß Jack und war mit Elinore, der Schwester meines Vaters, verheiratet. Ich hatte bisher weder Onkel Jack noch Tante Elinore zu sehen bekommen, weil sie sich mit meinem Vater nicht vertrugen. »Siehst du die Narbe da auf meiner Hand?« fragte mich mein Vater. »Da hat mir Elinore mal einen spitzen Bleistift reingebohrt, als ich noch ganz klein war. Die Narbe ist nie mehr weggegangen.« Mein Vater hatte gegen alle etwas. Auch mich konnte er nicht leiden. »Kinder haben den Mund zu halten«, sagte er zu mir. Wieder einmal war es Sonntagmorgen. Großmutter Emily war nicht zu Besuch. »Wir sollten mal Ben besuchen«, sagte meine Mutter. »Er wird bald sterben.« 5
»Der hat sich von Emily das ganze Geld gepumpt und hat es verspielt und versoffen und mit Weibern durchgebracht.« »Ich weiß, Daddy.« »Wenn Emily mal stirbt, wird sie keinen Pfennig mehr haben.« »Wir sollten trotzdem bei Ben vorbeischauen. Es heißt, er hat nur noch zwei Wochen zu leben.« »Also gut, also gut! Gehn wir eben!« Wir stiegen in den Model-T und fuhren los. Es zog sich in die Länge, denn unterwegs musste angehalten werden, weil meine Mutter einen Blumenstrauß besorgen wollte. Es war eine lange Fahrt, bis ganz hinaus zu den Bergen. Als wir die ersten Ausläufer erreichten, ging es eine schmale gewundene Straße hinauf. Onkel Ben lag da oben in einem Sanatorium und starb an Tuberkulose. »Dieses Sanatorium für Ben muss Emily ein Vermögen kosten«, sagte mein Vater. »Vielleicht hilft Leonard mit aus.« »Leonard hat doch nichts. Der hat alles vertrunken oder hergeschenkt.« »Ich mag Opa Leonard«, sagte ich. »Kinder haben den Mund zu halten«, kam es prompt von meinem Vater. Dann schimpfte er weiter auf den alten Herrn. »Ah, dieser Leonard! Zu uns Kindern war er immer nur gut, wenn er einen sitzen hatte. Da hat er mit uns Spaß gemacht und uns Geld gegeben. Aber am nächsten Tag, wenn er wieder nüchtern war, da war er der gemeinste Mensch von der Welt.« Der Model-T kletterte wacker die Bergstraße hinauf. Die Sonne schien, und ein frischer Fahrtwind blies uns ins Gesicht. »Da ist es«, sagte mein Vater. Er fuhr auf den Parkplatz des Sanatoriums, und wir stiegen aus. Ich ging hinter meinen Eltern hinein. Als wir zu Onkel Ben ins Zimmer kamen, saß er aufrecht im Bett und starrte aus dem Fenster. Er wandte den Kopf und sah zu uns her, als er uns hereinkommen hörte. Er war ein sehr gutaussehender Mann, schlank, schwarzes Haar, dunkle strahlende Augen. »Hallo, Ben«, sagte meine Mutter. »Hallo, Katy.« Dann sah er mich an. »Ist das Henry?« »Ja.« »Setzt euch doch.« Mein Vater und ich setzten uns. Meine Mutter blieb stehen. »Ich hab dir diese Blumen mitgebracht, Ben. Aber ich seh hier keine Vase.« »Danke, Katy. Sind hübsche Blumen. Nein, ich hab hier keine Vase.« »Ich geh eine holen«, sagte meine Mutter. Sie ging mit dem Blumenstrauß aus dem Zimmer. »Wo sind jetzt deine ganzen Freundinnen, Ben?« fragte mein Vater. »Sie kommen mich besuchen.« »Jaja, jede Wette.« »Doch, sie kommen her.« »Wir sind nur hier, weil Katherine dich sehen wollte.« »Ich weiß.« »Ich wollte dich auch sehen, Onkel Ben. Ich finde, du bist ein richtig hübscher Mann.« 6
»So hübsch wie mein Arsch«, sagte mein Vater. Meine Mutter kam wieder herein. Sie hatte die Blumen in einer Vase. »Hier, ich stell sie dir auf den Tisch da am Fenster.« »Es ist ein schöner Strauß, Katy.« Meine Mutter setzte sich. »Wir können nicht lange bleiben«, sagte mein Vater. Onkel Ben griff unter die Matratze und holte eine Packung Zigaretten hervor. Er schüttelte sich eine heraus, riss ein Streichholz an und gab sich Feuer. Er inhalierte tief und blies den Qualm von sich. »Du weißt doch, dass du hier keine Zigaretten haben darfst«, sagte mein Vater. »Ich weiß auch genau, woher du sie kriegst. Diese Prostituierten bringen sie dir mit. Na schön, ich werd' es den Ärzten erzählen und sie dazu bringen, dass sie diese Nutten nicht mehr hier reinlassen!« »Einen Scheißdreck wirst du tun«, sagte mein Onkel. »Wenn ich nicht soviel Grips hätte, würd' ich dir jetzt diese Zigarette aus dem Maul schlagen!« sagte mein Vater. »Du hast noch nie was auf dem Kasten gehabt«, sagte mein Onkel. »Ben«, sagte meine Mutter, »du solltest nicht rauchen. Es wird dich umbringen.« »Ich hab ein gutes Leben gehabt«, sagte mein Onkel. »Du hast nichts als gelogen, auf Pump gelebt, rumgehurt und gesoffen. Das nenn' ich kein gutes Leben«, sagte mein Vater. »Du hast in deinem Leben noch keinen Tag was gearbeitet! Und jetzt bist du mit vierundzwanzig am Ende!« »Mir war es gut genug«, sagte mein Onkel Ben. Er machte wieder einen kräftigen Zug an seiner Camel und blies den Qualm von sich. »Lass uns hier verschwinden«, sagte mein Vater. »Dieser Mensch ist ja wahnsinnig!« Er stand auf. Dann stand auch meine Mutter auf. Ich stand als letzter auf. »Wiedersehn, Katy«, sagte mein Onkel. »Und Wiedersehn, Henry.« Er sah mich dabei an, um zu zeigen, welchen Henry er meinte. Wir folgten meinem Vater durch die Korridore des Sanatoriums und hinaus auf den Parkplatz. Wir stiegen ins Auto, der Motor sprang an, und wir machten uns auf die Heimfahrt, die weiten Serpentinen der Bergstraße hinunter. »Wir hätten noch ein bißchen bleiben sollen«, sagte meine Mutter. »Weißt du nicht, dass Tuberkulose ansteckend ist?« »Ich finde, er sah richtig gut aus«, sagte ich. »Das kommt von der Krankheit«, sagte mein Vater. »Da sehen sie alle so aus. Und außer TB hat er sich auch noch ein paar andere Sachen geholt.« »Was für Sachen?« fragte ich. »Das kann ich dir nicht sagen.« Er steuerte den Wagen durch die Serpentinen, und ich fragte mich, was für Sachen er wohl gemeint hatte.
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4
An einem anderen Sonntag fuhren wir los, um meinen Onkel John zu besuchen. »Er hat kein bißchen Ehrgeiz«, sagte mein Vater. »Ich seh nicht, mit welchem Recht er seinen gottverdammten Kopf heben und den Leuten in die Augen sehen will.« »Wenn er sich bloß seinen Kautabak abgewöhnen könnte«, sagte meine Mutter. »Überall spuckt er das Zeug hin.« »Wenn's in diesem Land nur solche wie ihn gäbe, würden die Chinesen den Laden übernehmen, und wir müssten die Arbeit in den Wäschereien machen.« »John hat eben nie eine Chance gehabt«, sagte meine Mutter. »Er ist als junger Kerl von zuhause ausgerissen. Du warst wenigstens auf der Highschool.« »College.« »Ja? Wo denn?« »Universität von Indiana.« »Jack hat gesagt, du warst nur auf der Highschool.« »Jack war nur auf der Highschool. Deshalb pflegt er jetzt den Reichen ihre Gärten.« »Besuchen wir auch mal meinen Onkel Jack?« fragte ich. »Lass uns erst mal sehn, ob wir deinen Onkel John finden können«, sagte mein Vater. »Wollen die Chinesen wirklich unser Land?« fragte ich. »Diese gelben Teufel warten schon seit Jahrhunderten darauf. Sie sind bis jetzt bloß nicht dazu gekommen, weil sie mit den Japsen alle Hände voll zu tun hatten.« »Wer sind die besseren Kämpfer, die Chinesen oder die Japse?« »Die Japse. Das Problem ist, die Chinesen sind zu viele. Wenn man einen Chink totschlägt, teilt er sich, und man hat zwei Chinks.« »Wie kommt es, dass ihre Haut gelb ist?« »Weil sie statt Wasser ihr eigenes Pipi trinken.« »Daddy, erzähl doch dem Jungen nicht solche Sachen!« »Dann sag ihm, er soll mit seinen Fragen aufhören!« Es war wieder einmal ein warmer sonniger Tag in Los Angeles. Wir fuhren und fuhren. Meine Mutter hatte ein gutes Kleid angezogen und trug einen ihrer neumodischen Hüte. Wenn sich meine Mutter herausgeputzt hatte, saß sie immer sehr aufrecht und machte den Hals steif. »Ich wünschte, wir hätten genug Geld, dass wir John und seiner Familie helfen könnten«, sagte sie jetzt. »Es ist nicht meine Schuld, dass sie keinen Pott haben, in den sie reinpissen können«, antwortete mein Vater. »Daddy, John war im Krieg, genau wie du. Meinst du nicht, dass ihm da auch ein bißchen was zusteht?« »Er ist nie befördert worden. Ich hab es zum Stabsfeldwebel gebracht.« »Henry, deine Brüder können nicht alle sein wie du.« »Sie haben keinen gottverdammten Antrieb Sie denken, sie können einfach schmarotzen!«
8
Onkel John wohnte mit seiner Familie in einem kleinen Bungalow. Wir gingen über einen rissigen Gehsteig und stiegen auf eine schiefe baufällige Veranda. Mein Vater drückte auf die Klingel. Die Klingel ging nicht. Er hämmerte an die Tür. »Aufmachen! Polizei!« brüllte er. »Daddy, lass das doch!« sagte meine Mutter. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas tat. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, dann ging sie weiter auf, und wir sahen meine Tante Anna. Sie war sehr dünn, hatte eingefallene Wangen und dunkle Tränensäcke unter den Augen. Auch ihre Stimme klang sehr dünn. »Oh, Henry ... Katherine ... bitte, kommt doch rein.« Wir folgten ihr hinein. Die Einrichtung war sehr spärlich. Eine Frühstücksnische mit einem Tisch und vier Stühlen. Zwei Betten. Meine Eltern setzten sich auf die Stühle. Zwei Mädchen — sie hießen Katherine und Betsy, wie ich später erfuhr - standen an der Küchenspüle und versuchten abwechselnd, den letzten Rest Erdnußbutter aus einer fast leeren Dose zu kratzen. »Wir wollten gerade zu Mittag essen«, sagte Tante Anna. Jedes der Mädchen hatte ein trockenes Stück Brot und schmierte einen winzigen Rest Erdnußbutter darauf. Sie sahen immer wieder in die Dose und schabten mit einem Küchenmesser darin herum. »Wo ist John?« fragte mein Vater. Meine Tante ließ sich matt auf einen Stuhl sinken. Sie war bleich und wirkte sehr schwach. Ihr Kleid war schmutzig, ihr Haar ungekämmt. Alles an ihr wirkte müde und traurig. »Er ist fort. Schon länger. Wir warten jetzt schon eine ganze Zeit auf ihn.« »Wo ist er denn hin?« »Ich weiß nicht. Er ist einfach mit dem Motorrad weggefahren.« »Der denkt nur an sein Motorrad. Das ist alles, was er tut«, sagte mein Vater. »Ist das Henry junior?« »Ja.« »Er ist so still. Er macht nur große Augen.« »So wollen wir ihn auch haben.« »Stille Wasser sind tief.« »Das hier nicht. Das einzige, was bei dem tief geht, sind die Löcher in seinen Ohren.« Die beiden Mädchen gingen mit ihren Stullen hinaus, setzten sich auf die oberste Stufe der Veranda und begannen zu essen. Sie hatten keinen Ton gesagt. Ich fand sie ganz nett. Sie waren dürr wie ihre Mutter, aber sie waren trotzdem recht hübsch. »Wie geht's dir, Anna?« fragte meine Mutter. »Ach, es geht so.« »Anna, du siehst nicht gut aus. Ich glaube, du brauchst mehr zu essen.« »Warum setzt sich euer Junge nicht hin? Setz dich doch, Henry.« »Er steht gern«, sagte mein Vater. »Das macht ihn kräftig. Er will stark werden, damit er gegen die Chinesen kämpfen kann.« »Magst du die Chinesen nicht?« fragte mich Tante Anna. »Nein.« »Tja, Anna«, sagte mein Vater, »wie steht's denn so?«
9
»Um ehrlich zu sein ... schlimm. Der Hausbesitzer mahnt uns dauernd wegen der Miete. Er kann sehr ungemütlich werden. Er macht mir Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Ich höre, die Cops sind hinter John her«, sagte mein Vater. »Er hat nicht viel gemacht.« »Was hat er denn gemacht?« »Nur ein paar falsche l0-Cent-Stücke.« »Zehner? Herrgott nochmal, wie kann einer bloß so piefig sein!« »John will eigentlich gar nichts Schlechtes tun.« »Ich hab den Eindruck, er will überhaupt nichts tun.« »Er würde schon, wenn er könnte.« »Yeah. Und wenn ein Frosch Flügel hätte, würd´ er sich nicht den Arsch mit Rumhüpfen durchscheuern!« Peinliches Schweigen. Ich drehte mich um und sah hinaus. Die Mädchen saßen nicht mehr auf der Veranda. Sie waren irgendwohin gegangen. »Komm, setz dich doch, Henry«, sagte Tante Anna. Ich blieb stehen. »Danke«, sagte ich, »ich bin nicht müde.« »Anna«, sagte meine Mutter, »bist du dir sicher, dass John wiederkommt?« »Sicher kommt er wieder«, sagte mein Vater. »Wenn er genug Hennen gezaust hat.« »John liebt seine Kinder ...«, kam es zaghaft von Anna. »Ich höre, die Cops sind auch noch wegen was anderem hinter ihm her.« »Was denn?« »Vergewaltigung.« »Vergewaltigung ?« »Ja, Anna, ich weiß Bescheid. Er ist mal wieder mit seinem Motorrad durch die Gegend gefahren, und da stand 'ne junge Anhalterin an der Straße. Sie ist hinten aufgestiegen, und nach einer Weile hat John plötzlich eine leere Garage gesehen. Er ist da reingefahren, hat das Tor zugemacht und das Mädchen vergewaltigt.« »Wie hast du das rausgekriegt?« »Brauchte ich gar nicht. Die Cops sind gekommen und haben es mir erzählt. Sie wollten wissen, wo er ist.« »Hast du's ihnen gesagt?« »Wozu? Damit er ins Gefängnis kommt und sich vor seiner Verantwortung drücken kann? Das wär ihm grade recht.« »Von der Seite hab ich das nie gesehen.« »Nicht dass ich für Vergewaltigung bin ...« »Manchmal kann ein Mann halt nicht anders.« »Was??« »Ich meine, nachdem ich zwei Kinder geboren habe, und mit diesem Leben hier ... die ganzen Sorgen und alles ... ich seh jetzt nicht mehr so gut aus. Er hat ein junges Mädchen gesehen, sie hat ihm gefallen ... sie steigt auf sein Motorrad, verstehst du, und sie legt die Arme um ihn ...« »Was??« brauste mein Vater auf. »Würdest du dich vielleicht gern vergewaltigen lassen?« »Ich glaub nicht.«
10
»Na, und diesem Mädchen hat es garantiert auch keinen Spaß gemacht!« Eine Fliege kam durchs Fenster und schwirrte um den Tisch. Wir sahen ihr nach. »Hier gibt es nichts zu essen«, sagte mein Vater. »Diese Fliege hat sich im Haus geirrt.« Die Fliege wurde zunehmend frecher. Sie flog immer näher heran, und je näher sie kam, desto aufdringlicher wurde ihr Summen. Die Tante wandte sich an meinen Vater. »Du wirst doch der Polizei nicht sagen, daß John vielleicht wieder nach Hause kommt?« »Nee, so leicht mach ich's ihm nicht«, sagte mein Vater. Die Hand meiner Mutter fuhr jäh nach oben, schloß sich um etwas und sank auf den Tisch zurück. »Ich hab sie«, sagte meine Mutter. »Was hast du?« wollte mein Vater wissen. »Die Fliege.« Sie lächelte. »Das glaub ich dir nicht...« »Siehst du die Fliege irgendwo? Sie ist weg.« »Sie wird rausgeflogen sein.« »Nein, ich hab sie in der Hand.« »So schnell ist niemand.« »Ich hab sie in der Hand.« »Quatsch.« »Du glaubst mir nicht?« »Nein.« »Mach mal den Mund auf.« »Na schön ...« Er machte den Mund auf. Meine Mutter hielt ihm die Faust davor und ließ los. Er sprang hoch und griff sich an die Kehle. »JESSAS!« Die Fliege kam ihm aus dem Mund und kurvte wieder um den Tisch. »Das reicht!« sagte er. »Wir fahren nach Hause!« Er ging aus der Tür, marschierte zur Straße und stieg in den Model-T. Er saß sehr steif da und sah finster drein. »Wir haben dir ein paar Konserven mitgebracht«, sagte meine Mutter zu Tante Anna. »Tut mir leid, daß wir dir kein Geld geben können, aber Henry hat Angst, daß John es für Gin ausgibt. Oder für Benzin für sein Motorrad. Es ist nichts Besonderes — Suppe, Cornedbeef, Erbsen ...« »Oh, Katherine, ich dank dir ja so! Ich dank euch beiden ...« Meine Mutter stand auf, und ich ging mit ihr hinaus. Wir hatten zwei Schachteln voll Konserven im Auto. Mein Vater saß immer noch so starr da. Er war immer noch wütend. Meine Mutter gab mir die kleinere Schachtel heraus. Sie selbst nahm die größere, und wir gingen wieder ins Haus zurück. Wir setzten die Schachteln auf dem Tisch in der Frühstücksnische ab. Tante Anna nahm eine Dose in die Hand. Es war eine Dose Erbsen, das Etikett verziert mit einem Kranz von grünen Erbsen. »Ist das schön«, sagte sie leise.
11
»Anna, wir müssen jetzt gehn. Henry ist verärgert.« Die Tante umarmte meine Mutter. »Wir haben so eine schreckliche Zeit durchgemacht. Aber das hier ist wie ein Traum. Was glaubst du, was die Mädchen für Augen machen, wenn sie nach Hause kommen und all die Konserven sehn ...« Meine Mutter drückte Tante Anna an sich. Dann lösten sich die beiden voneinander. »John ist kein schlechter Mensch«, sagte meine Tante. »Ich weiß«, sagte meine Mutter. »Wiedersehn, Anna.« »Wiedersehn, Katherine. Wiedersehn, Henry.« Meine Mutter drehte sich um, und ich folgte ihr hinaus. Wir gingen zum Model-T und stiegen ein. Mein Vater startete den Wagen. Als wir losfuhren, sah ich, daß meine Tante vor der Tür stand und winkte. Meine Mutter winkte zurück. Mein Vater nicht. Ich winkte auch nicht.
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Ich entwickelte langsam eine Abneigung gegen meinen Vater. Ständig war er wütend wegen irgend etwas. Wo immer er hinging, überall bekam er Streit mit den Leuten. Doch die meisten schienen keine Angst vor ihm zu haben. Oft starrten sie ihn nur ganz ruhig an, und das machte ihn noch wütender. Wenn wir in ein Restaurant gingen, was selten vorkam, fand er am Essen regelmäßig etwas auszusetzen, und oft weigerte er sich, die Rechnung zu bezahlen. »Da ist ja Fliegendreck auf dieser Schlagsahne! Was ist denn das für ein Saftladen hier?« »Tut mir leid, Sir. Sie brauchen nichts zu bezahlen. Nur gehn Sie bitte ...« »Und ob ich gehe! Aber ich komme wieder! Und dann brenn ich diesen gottverdammten Laden nieder!« Einmal waren wir in einem Drugstore. Meine Mutter und ich standen etwas abseits, während mein Vater einen Verkäufer anschrie. Eine Angestellte fragte meine Mutter: »Wer ist dieser schreckliche Mensch? Jedesmal, wenn er hier reinkommt, gibt es Streit.« »Das ist mein Mann«, sagte meine Mutter. Doch ich erinnere mich, daß ich ihn auch einmal anders erlebt habe. Er arbeitete für eine Molkerei und fuhr frühmorgens die Milch aus. Eines Morgens kam er zu mir ins Zimmer und weckte mich. »Komm, ich will dir mal was zeigen.« Ich ging in Schlafanzug und Hausschuhen mit ihm vors Haus. Es war noch dunkel. Der Mond stand am Himmel. Wir gingen zu seinem Milchwagen, vor dem regungslos das Pferd stand. »Paß auf«, sagte er. Er holte ein Stück Würfelzucker aus der Tasche und hielt es dem Pferd auf der Handfläche hin. Das Pferd fraß ihm den Würfelzucker aus der Hand. »Jetzt versuch du es mal ...« Er gab mir ein Stück in die Hand. Das Pferd war riesengroß. »Geh näher ran. Halt ihm die Hand hin.« Ich hatte Angst, daß mir das Pferd die Hand abbeißen würde. Der Pferdekopf kam herunter. Ich sah die großen Nüstern, die Lippen klappten zurück, ich sah die Zähne, zwischen denen die Zunge herauskam, und dann war das Stück Würfelzucker verschwunden. Mein Vater gab mir noch eins. »Da. Versuch's nochmal.« Ich versuchte es
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noch einmal. Das Pferd nahm den Würfelzucker und wackelte mit dem Kopf. »So«, sagte er, »jetzt bring ich dich wieder rein. Sonst scheißt dich das Pferd vielleicht noch voll.« Ich durfte nicht mit den anderen Kindern spielen. »Es sind schlechte Kinder«, sagte mein Vater. »Ihre Eltern sind arm.« Meine Mutter stimmte ihm zu. Meine Eltern wollten gerne reich sein, und da sie es nicht waren, taten sie wenigstens so. Mit gleichaltrigen Kindern kam ich erst im Kindergarten zusammen. Sie wirkten sehr eigenartig auf mich — sie lachten und schwatzten und schienen glücklich zu sein. Ich mochte sie nicht. Mir war immer schlecht, als müßte ich mich gleich übergeben, und die Luft kam mir seltsam weiß und lähmend vor. Wir malten mit Wasserfarben. Im Garten säten wir Radieschen ein, und ein paar Wochen später aßen wir sie mit Salz. Die Kindergärtnerin fand ich sehr nett. Ich mochte sie lieber als meine Eltern. Mein Problem war, daß ich nicht aufs Klo gehen wollte. Ich mußte zwar ständig, aber ich genierte mich, es die anderen merken zu lassen. Also klemmte ich. Das war wirklich schauderhaft. Mir war speiübel, die Luft war weiß und drückend — und dauernd dieser Drang, aufs Klo zu müssen. Aber ich sagte nichts. Wenn eines der anderen Kinder von seinem Geschäft zurückkam, dachte ich immer: Du bist dreckig, du hast da drin was Schmutziges gemacht... Die kleinen Mädchen sahen niedlich aus in ihren kurzen Kleidchen, mit ihren langen Haaren und wunderschönen Augen, aber auch bei ihnen dachte ich, daß sie da drin etwas Schmutziges machten, auch wenn sie so taten, als wäre nichts. Die Zeit im Kindergarten bestand für mich vorwiegend aus weißer Luft. In der Grundschule wurde es anders. Dort gab es sogar Zwölfjährige, denn sie reichte von der ersten bis zur sechsten Klasse. Wir kamen alle aus ziemlich bescheidenen Verhältnissen. Hier ging ich nun auf die Toilette, aber nur zum Pinkeln. Als ich einmal herauskam, sah ich einen kleinen Jungen am Trinkbrunnen. Ein größerer schlich sich von hinten an und rammte ihm das Gesicht ins Becken. Als der Kleine den Kopf hob, waren seine Schneidezähne abgebrochen, und das Blut lief ihm aus dem Mund. Auch das Becken war blutverschmiert. »Trau dich ja nicht, jemand was zu sagen«, drohte ihm der Große, »sonst mach ich dich richtig fertig.« Der Kleine holte sein Taschentuch heraus und drückte es sich auf den Mund. Ich ging zurück ins Klassenzimmer, wo uns die Lehrerin etwas von George Washington und Valley Forge erzählte. Sie trug eine teure weiße Perücke. Wenn wir uns nicht anständig benahmen, schlug sie uns oft mit einem Lineal auf die Finger. So etwas wie ein Gang zur Toilette war offenbar unter ihrer Würde. Jedenfalls sah ich sie nie gehen. Ich haßte sie. Jeden Tag nach Schulschluß gab es irgendeinen Zweikampf zwischen älteren Jungs, immer ganz hinten am Zaun, wo nie ein Lehrer hinkam. Es waren immer ungleiche Kämpfe. Immer war es ein größerer Kerl, der einen kleineren mit den Fäusten bearbeitete und in den Maschendraht drosch. Der kleinere versuchte sich zu wehren, aber es war sinnlos. Bald war er blutig im Gesicht, und das Blut tropfte ihm aufs Hemd herunter. Die kleinen Jungs steckten die Schläge wortlos ein. Nie winselte einer um Gnade. Schließlich ließ dann der größere von seinem Gegner ab, die Sache war vorbei, und die anderen gingen mit dem Sieger nach Hause. Ich ging allein nach Hause und hatte es nun immer eilig, nachdem ich mir das Scheißen nicht nur während der Unterrichtsstunden und Pausen verkniffen hatte, sondern noch darüber hinaus, um mir die tägliche Prügelei anzusehen. Doch bis ich nach Hause kam, war der Drang gewöhnlich verflogen, und ich mußte nicht mehr aufs Klo. Das machte mir einige Sorgen.
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Ich hatte keine Freunde in der Schule und wollte auch keine haben. Ich war lieber allein. Wenn die anderen ein Spiel machten, saß ich abseits auf einer Bank und sah ihnen zu, und sie kamen mir blöde vor. Eines Tages kam während der großen Pause ein neuer Junge auf mich zu. Er trug Knickerbocker, schielte und hatte einen Watschelgang. Der Eindruck, den er auf mich machte, gefiel mir gar nicht. Er setzte sich zu mir auf die Bank. »Hallo. Ich heiße David.« Ich gab keine Antwort. Er packte seine Brote aus. »Ich hab Erdnußbutter drauf«, sagte er. »Und du?« »Auch.« »Ich hab auch eine Banane. Und Kartoffelchips. Willst du ein paar Chips?« Ich nahm mir ein paar. Er hatte reichlich davon. Sie waren knusprig und salzig und so dünn, daß die Sonne durchschien. Sie schmeckten gut. »Kann ich noch ein paar haben?« »Klar.« Ich griff nochmal zu. Er hatte sogar Quittengelee auf seiner Erdnußbutter. Es quoll heraus und lief ihm über die Finger. Er schien es nicht zu bemerken. »Wo wohnst du?« fragte er. »Virginia Road.« »Ich in der Pickford. Da haben wir ja den gleichen Weg. Nimm dir noch Chips. Wen hast du als Lehrerin?« »Mrs. Columbine.« »Ich hab Mrs. Reed. Also ich warte nach der Schule auf dich, dann gehn wir zusammen heim.« Warum hatte er bloß diese Knickerbocker an? Was wollte er? Ich mochte ihn wirklich nicht. Ich nahm mir noch ein paar von seinen Kartoffelchips. Nach der Schule machte er mich ausfindig und hängte sich neben mich. »Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie du heißt«, sagte er. »Henry.« Nach einer Weile fiel mir auf, daß uns eine ganze Bande von Jungs aus der ersten Klasse folgte. Zuerst waren sie einen halben Block hinter uns, dann verringerten sie den Abstand, und am Ende waren es nur noch einige Schritte. »Was wollen die?« fragte ich David. Er gab keine Antwort und ging einfach weiter. »He, Knickerschisser!« schrie einer. »Macht dir deine Mutter die Dinger unten zu, damit du besser reinscheißen kannst?« »Watschelente! Hoho! Watschelente!« »Schieler! Mach dein Testament!« Sie kreisten uns ein. »Wer ist denn dein Freund da? Knutscht er dir den Bürzel ab?« Einer von ihnen packte David am Kragen und schleuderte ihn auf einen Vorgartenrasen. David stand wieder auf. Ein Junge ging hinter ihm auf Hände und Knie herunter. Der andere versetzte David einen Stoß, so daß er rückwärts über den Knienden fiel. Ein dritter drehte ihn auf den Bauch und rieb ihm das Gesicht ins Gras. Dann ließen sie von ihm ab. David rappelte sich hoch. Er gab keinen Laut von sich, aber die Tränen kullerten ihm nur so übers Gesicht. Der größte von den Burschen ging zu ihm hin. »Wir wollen dich in unserer Schule nicht haben, du Waschlappen! Verschwinde aus unserer Schule!« Er boxte David in den Magen. Als David nach vorn einknickte, stieß ihm der andere das Knie ins Gesicht. David stürzte hin und hatte eine blutige Nase. Dann bildeten sie einen Ring um mich. »So, jetzt kommst du dran!« Sie umkreisten mich, und ich drehte mich mit. Ein paar von ihnen hatte ich natürlich immer im Rücken. Da stand ich nun, voll eingeklemmter Scheiße, und sollte mich auch noch prügeln. Ich hatte eine 14
Heidenangst, war aber trotzdem ganz ruhig. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie es auf mich abgesehen hatten. Sie umkreisten mich weiter, und ich drehte mich mit. Das ging eine ganze Weile so. Sie schrien mir alles mögliche ins Gesicht, doch ich hörte es nicht. Schließlich hatten sie genug und gingen weg. David wartete auf mich. Wir gingen zusammen die Pickford Street hinunter zum Haus seiner Eltern. Als wir vor dem Haus standen, sagte er: »Ich muß jetzt rein. Wiedersehn.« »Wiedersehn, David.« Kaum war er drin, hörte ich seine Mutter: »David! Sieh dir deine Knickerbocker und dein Hemd an! Ganz zerrissen und voller Grasflecken! Das machst du beinah jeden Tag! Warum tust du das?« David gab keine Antwort. »Ich hab dich was gefragt! Warum machst du deine Kleider kaputt?« »Ich kann nichts dafür, Mom ...« »Du kannst nichts dafür? Du dummer Kerl!« Ich hörte, wie sie ihn verdrosch. David begann zu heulen. Ihre Schläge wurden härter. Ich stand auf dem Vorgartenrasen und hörte es mir an. Nach einer Weile hörten die Schläge auf. David schluchzte. Dann war auch das zu Ende. »So«, sagte seine Mutter, »und jetzt übst du für deine Geigenstunde.« Ich setzte mich ins Gras und wartete. Dann hörte ich die Geige. Sie klang sehr traurig. Ich mochte nicht, wie David darauf herumkratzte. Ich saß da und hörte zu, aber die Musik wurde nicht besser. Die Scheiße in meinem Hintern war hart geworden. Der Drang war weg. Meine Augen schmerzten in den schrägen Strahlen der Nachmittagssonne. Mir war schlecht. Ich stand auf und ging nach Hause.
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Es kam ständig zu Prügeleien, doch die Lehrer schienen nichts davon zu merken. Und wenn es regnete, gab es zusätzlichen Ärger. Wer mit Schirm oder Regenmantel zur Schule kam, fiel sofort auf. Die meisten Eltern waren zu arm, um ihren Kindern so etwas kaufen zu können, und wenn sie es doch taten, versteckte man das Zeug unterwegs im Gebüsch. Wer sich mit Schirm oder Regenmantel blicken ließ, galt als Weichling und wurde nach der Schule verdroschen. David bekam von seiner Mutter einen Regenschirm mit, so oft auch nur ein Wölkchen am Himmel zu sehen war. Es gab zwei große Pausen. Die Erstkläßler hatten ihr eigenes Baseball-Spielfeld, und wenn die Mannschaften aufgestellt wurden, kamen David und ich zuletzt dran. Wir standen immer nebeneinander, und es war jedesmal dasselbe: Ich wurde als vorletzter genommen und er als letzter. Wir kamen also nie in dieselbe Mannschaft. David war noch schlechter als ich. Da er schielte, konnte er den Ball nicht einmal sehen. Was mir fehlte, war die Übung. Ich hatte nie mit den Kids in der Nachbarschaft Baseball spielen dürfen. Ich mochte aber Baseball und wollte unbedingt ein guter Spieler werden. Im Gegensatz zu David hatte ich auch keine Angst vor dem Ball. Ich schlug kräftig zu, kräftiger als jeder andere, doch ich konnte den Ball nicht treffen. Ich schlug immer daneben. Einmal erreichte ich, daß ein Ball ungültig gegeben wurde. Das war ein gutes Gefühl. Ein andermal erwischte ich einen Spaziergang, weil der Pitcher zu weit an mir vorbeigeworfen hatte. Als ich zur First Base kam, sagte der Spieler dort: »Das ist auch die einzige Tour, wie du's je bis hierher schaffst.« 15
Ich stand da und starrte ihn an. Er mahlte auf einem Kaugummi herum, und aus seinen Nasenlöchern kamen lange schwarze Haare. Seine Haare waren dick mit Brillantine eingeschmiert. Er hatte ständig ein geringschätziges Grinsen im Gesicht. »Was starrst du mich an?« wollte er wissen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Konversation war ich nicht gewöhnt. »Die Jungs sagen, du bist 'n gefährlicher Irrer«, sagte er, »aber mir machst du keine Angst. Dich paß ich mal nach der Schule ab.« Ich starrte ihn weiter an. Er hatte ein gräßliches Gesicht. Dann setzte der Pitcher zu seinem nächsten Wurf an, und ich wetzte los. Ich rannte wie ein Irrer und schlitterte vor dem Ball in die Second Base. Der Pitcher hatte zu lange gebraucht. »Du bist out!« hörte ich plötzlich den Burschen schreien, der den Schiedsrichter mimte. Ich rappelte mich hoch und traute meinen Ohren nicht. »Ich hab gesagt, DU BIST OUT!« schrie der Schiedsrichter. Da wußte ich, daß ich hier geschnitten wurde. Genau wie David. Ich war »out«, weil ich dorthin gehörte. Sie wollten mich nicht dabeihaben. Sie wußten, daß David und ich Freunde waren. Und David war der Grund, weshalb ich unerwünscht war. Als ich vom Spielfeld ging, sah ich David in seinen Knickerbockern auf Third Base stehen. Seine blaugelb gestreiften Kniestrümpfe hingen ihm um die Knöchel. Warum mußte er sich ausgerechnet an mich hängen? Ich war ein Gezeichneter. An diesem Nachmittag verdrückte ich mich nach der letzten Unterrichtsstunde und ging ohne David nach Hause. Ich wollte nicht miterleben, wie er wieder einmal von den Klassenkameraden oder seiner Mutter verdroschen wurde. Und seine traurige Geige wollte ich mir auch nicht anhören. Doch am nächsten Tag setzte er sich in der großen Pause wieder zu mir, und ich aß wieder seine Kartoffelchips. Trotzdem bekam ich meinen großen Tag. Ich war groß für mein Alter, und ich fühlte mich sehr stark, wenn ich auf der Platte stand. Ich schwang den Schläger nicht gerade zielgenau, aber dafür mit Kraft dahinter. Ich wußte, daß ich kräftig war. Vielleicht war ich auch ein »gefährlicher Irrer«, wie sie sagten. Aber ich hatte das Gefühl, daß etwas in mir steckte. Auch wenn es vielleicht nur hartgewordene Scheiße war, es war immer noch mehr, als die da hatten. Ich kam mit dem Schläger an die Reihe. »Hey! Da kommt der Meister im Danebenschlagen! Meister Windmühle!« Der Ball zischte heran. Ich schwang die Keule und spürte, daß das Holz den Ball traf, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte. Der Ball schoß in die Luft, in Richtung Left Field, hoch über den Kopf des Spielers dort drüben hinweg. Don Brubaker hieß der Bursche. Er stand da und sah den Ball über sich wegfliegen. Es sah aus, als würde der Ball nie mehr herunterkommen. Brubaker rannte los, um ihn abzufangen und mir die Tour zu vermasseln. Aber das war nicht zu schaffen. Der Ball landete und rollte auf ein anderes Spielfeld, wo einige aus der fünften Klasse zugange waren. Ich trabte langsam zur First Base, trat auf den Ledersack und sah dem Kerl dort ins Gesicht, lief gemächlich zur Second, trat drauf, dann zur Third, wo David stand, den ich ignorierte, und als ich auch dort auf den Sack getreten hatte, schlenderte ich zur Home Plate. So etwas hatte es noch nie gegeben. So einen Home Run — von einem Erstkläßler! Als ich auf die Home Plate trat, hörte ich einen der Spieler - Irving Bone war es - zu unserem Mannschaftskapitän Stanley Greenberg sagen: «Den sollten wir ins reguläre Team nehmen.« Das reguläre Team spielte gegen Mannschaften aus anderen Schulen. »Nein«, sagte Stanley Greenberg. Stanley hatte recht. Ich brachte es nie wieder zu einem Home Run. Die meiste Zeit traf ich nicht einmal den Ball. Aber dieser eine
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Home Run blieb ihnen immer in Erinnerung, und wenn sie mich auch weiterhin haßten, so hatte ihr Haß doch einen Knacks bekommen: Es war jetzt, als wüßten sie nicht mehr so recht, warum sie mich eigentlich haßten. Football war noch schlimmer. Ich konnte den Ball weder fangen noch werfen, aber das wußten sie vor dem ersten Spiel noch nicht. Als der gegnerische Läufer mit dem Ball angeprescht kam, packte ich ihn am Kragen und warf ihn zu Boden, und als er aufstehen wollte, trat ich ihn in die Rippen. Ich hatte etwas gegen ihn: Es war der Karl, der im Baseball auf First Base spielte. Der mit der Brillantine und den haarigen Nasenlöchern. Stanley Greenberg kam her. Er war größer als wir alle. Er hätte mich in den Boden rammen können, wenn er gewollt hätte. Er war unser Spielführer. Was er sagte, das galt. »Du kapierst die Regeln nicht«, eröffnete er mir. »Du spielst hier keinen Football mehr.« Ich kam zum Volleyball und spielte dort mit David und den anderen Flaschen. Das war nichts. Sie brüllten und schrien und verausgabten sich, aber die anderen spielten Football. Ich wollte auch Football spielen. Alles, was ich brauchte, war ein bißchen Übung. Volleyball war blamabel. Mädchen spielten Volleyball. Nach einer Weile spielte ich einfach nicht mehr mit. Ich stellte mich in die hintere Hälfte des Spielfelds, wo sich nie etwas tat. Ich war der einzige, der nicht mitmachte. So brachte ich jeden Tag die Spiele während der beiden großen Pausen hinter mich. Eines Tages, als ich wieder einmal so herumstand, kam neues Unheil auf mich zu. Ein Football segelte von hinten heran und traf mich mit voller Wucht am Kopf. Ich ging zu Boden und war ziemlich benommen. Kichernd und lachend standen sie um mich herum. »O seht doch mal, Henry ist in Ohnmacht gefallen! Er ist in Ohnmacht gefallen wie eine feine Dame! Schaut euch das an!« Als ich aufstand, eierte die Sonne vor meinen Augen. Dann stand sie still, und auch der Himmel rückte wieder näher und wellte sich nicht mehr. Ich kam mir vor wie in einem Käfig. Die Gaffer umstanden mich mit ihren Gesichtern, Nasen, Mündern und Augen. Da sie sich über mich lustig machten, nahm ich an, daß sie mich absichtlich mit diesem Football angeschossen hatten. Das war unfair. »Wer hat den Ball getreten?« fragte ich. »Du willst wissen, wer den Ball getreten hat?« »Ja.« »Und was machst du, wenn du es weißt?« Ich antwortete nicht. »Es war Billy Sherill«, sagte einer. Billy war ein dicklicher Junge, eigentlich netter als die meisten anderen — aber er war einer von ihnen. Ich ging auf ihn zu. Er stand da und wartete ab. Als ich nahe genug heran war, versetzte er mir einen Hieb. Ich spürte kaum etwas. Ich drosch ihm eine hinters linke Ohr, und als er sich das Ohr hielt, boxte ich ihn in den Magen. Er ging zu Boden und blieb liegen. »Steh auf und mach ihn fertig, Billy«, sagte Stanley Greenberg. Er zerrte ihn hoch und schubste ihn auf mich zu. Ich schlug Billy die Lippen platt. Er griff sich mit beiden Händen an den Mund. »Okay«, sagte Stanley. »Ich spring für ihn ein!«
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Die Boys johlten. Ich beschloß, das Weite zu suchen. Ich wollte nicht sterben. In diesem Augenblick kam ein Lehrer dazu. »Was ist hier los?« Es war Mr. Hall. »Henry ist auf Billy losgegangen«, sagte Stanley Greenberg. »Stimmt das, Jungs?« fragte Mr. Hall. »Ja«, sagten sie alle. Mr. Hall packte mich am Ohr und schleifte mich bis ins Rektorat. Er stieß mich auf einen Stuhl vor einem leeren Schreibtisch, klopfte an die Tür und verschwand im Zimmer des Rektors. Er blieb eine ganze Weile drin, und als er wieder herauskam, ging er weg, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich saß fünf oder zehn Minuten da. Dann kam der Rektor heraus und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er war ein sehr würdevoller Herr mit einem dichten weißen Haarschopf und einer blauen Frackschleife. Er sah aus wie ein richtiger Gentleman. Mr. Knox war sein Name. Mr. Knox legte die Hände zusammen, sah mich an und sagte keinen Ton. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, ob er ein Gentleman war. Er wollte mich offenbar erniedrigen wie alle anderen. »Also«, sagte er schließlich, »dann erzähl mal, was passiert ist.« »Nichts ist passiert.« »Du hast Billy Sherill geschlagen. Seine Eltern werden wissen wollen, warum.« Ich antwortete nicht. »Meinst du, du kannst einfach zuschlagen, wenn dir etwas nicht paßt?« »Nein.« »Warum hast du es dann getan?« Ich schwieg. »Hältst du dich für etwas Besseres als die anderen?« »Nein.« Mr. Knox saß da und schob einen langen Brieföffner auf der grünen Filzplatte hin und her. Er hatte eine große Flasche mit grüner Tinte und einen Ständer mit vier Federhaltern auf seinem Schreibtisch. Ich fragte, ob er mich verprügeln würde. »Also, warum hast du es getan?« Ich schwieg. Mr. Knox schob den Brieföffner hin und her. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Hallo? Oh, Mrs. Kirby. Was hat er? Was? Hören Sie, können Sie die Bestrafung nicht selber übernehmen? Ich habe gerade zu tun. Also gut, ich rufe zurück, wenn ich mit dem hier fertig bin ...« Er legte auf. Er strich sich die prachtvollen weißen Haare aus der Stirn und sah mich wieder an. »Warum machst du mir solchen Ärger?« Ich gab keine Antwort. »Kommst dir wohl sehr stark vor, wie?« Ich schwieg. »Harter Bursche, hm?« Eine Fliege schwirrte um den Schreibtisch. Sie steuerte das grüne Tintenfaß an, landete auf dem schwarzen Verschluß und rieb sich mit den Hinterbeinen die Flügel. »Na schön, mein Junge. Du bist hart, und ich bin hart. Besiegeln wir das doch mit einem Händedruck.« Ich hielt mich nicht für hart, also gab ich ihm auch nicht die Hand. »Komm schon, gib mir die Hand.« Ich streckte die Hand über den Schreibtisch. Er packte sie und pumpte sie mir auf und nieder. Dann stellte er das Pumpen ein und sah mich an. Er hatte klare blaue Augen. Sie waren etwas heller als seine Frackschleife. Man konnte sie beinahe schön nennen. Er sah mich an und hielt meine Hand fest. Sein Griff wurde stärker. »Ich möchte dich beglückwünschen, daß du so ein harter Bursche bist.« 18
Sein Griff wurde noch stärker. »Glaubst du, daß ich auch ein harter Bursche bin?« Ich gab keine Antwort. Er quetschte mir die Finger zusammen. Ich spürte jeden einzelnen Knochen. Sie schnitten mir wie Messer ins Fleisch. Rote Blitze zuckten vor meinen Augen. »Meinst du nicht, daß ich auch ein harter Bursche bin?« »Ich bring Sie um«, sagte ich. »Wie bitte?« Mr. Knox drückte noch fester zu. Er hatte eine Hand wie ein Schraubstock. Ich konnte jede Pore in seinem Gesicht sehen. »Harte Burschen schreien nicht, oder?« Ich konnte nicht mehr in sein Gesicht sehen, denn ich war inzwischen so verkrümmt, daß meine Stirn die Schreibtischplatte berührte. »Bin ich ein harter Bursche?« fragte Mr. Knox. Er quetschte noch härter. Jetzt mußte ich schreien, doch ich dämpfte es so weit, daß man es nicht bis in die umliegenden Klassenzimmer hören konnte. »Na? Bin ich ein harter Bursche?« Ich zögerte es hinaus. Ich wollte es um keinen Preis sagen. Dann sagte ich es doch. »Ja.« Er ließ meine Hand los. Ich hatte Angst, sie anzusehen. Ich ließ sie einfach seitlich herunterbaumeln. Mir fiel auf, daß die Fliege verschwunden war. Eine Fliege zu sein, war nicht so schlecht, dachte ich. Mr. Knox schrieb inzwischen etwas auf einen Briefbogen. »So, Henry, ich schreibe deinen Eltern einen kleinen Brief, und ich wünsche, daß du ihn mit nach Hause nimmst und ihnen gibst. Und du wirst ihn auch abliefern, nicht wahr?« »Ja.« Er faltete das Blatt und steckte es in einen Umschlag, den er mir über den Tisch reichte. Der Umschlag war verschlossen. Ich hatte auch gar keine Lust, ihn aufzumachen.
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Ich nahm den Brief mit nach Hause, gab ihn meiner Mutter und ging auf mein Zimmer. Was ich an meinem Zimmer am meisten schätzte, war das Bett. Auch tagsüber lag ich gerne stundenlang darin, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Im Bett war alles gut. Es gab nichts, was mir in die Quere kommen konnte, keine Menschen und nichts. Meine Mutter ertappte mich oft, wie ich am hellichten Tag im Bett lag. »Henry! Steh auf! Es ist nicht gut, wenn ein Junge den ganzen Tag im Bett liegt! Los, steh auf! Tu was!« Aber es gab doch nichts zu tun. An diesem Tag legte ich mich erst gar nicht ins Bett. Meine Mutter saß im Wohnzimmer und las den Brief. Bald hörte ich sie schluchzen. Dann zeterte sie los. »Oh, mein Gott! Daß du
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deinen Eltern so etwas antust! So eine Schande! Was ist, wenn die Nachbarn dahinterkommen? Was werden die Nachbarn von uns denken?« Dabei redeten sie mit den Nachbarn ohnehin nie ein Wort. Dann ging die Tür auf, und meine Mutter kam hereingestürzt. »Wie konntest du deiner Mutter so etwas antun!« Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ich fühlte mich schuldig. »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!« Sie warf die Tür hinter sich zu, und ich saß auf meinem Stuhl und wartete. Irgendwie fühlte ich mich schuldig ... Es wurde Abend. Ich hörte meinen Vater ins Haus kommen. Er knallte immer die Tür zu, polterte mit seinen Schuhen und redete mit lauter Stimme. Jetzt war er mal wieder da. Nach einigen Augenblicken flog die Tür zu meinem Zimmer auf. Er war einsfünfundachtzig groß, ein Schrank von einem Mann. Vor ihm verblaßte alles. Der Stuhl, auf dem ich saß, die Tapete, die Wände, meine ganzen Gedanken. Er verfinsterte sogar die Sonne. Die rohe Gewalt, die in ihm rumorte, verscheuchte alles andere. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ich sah nur Ohren, Nase, Mund. Dieses zornrote Gesicht. »All right, Henry! Ins Badezimmer!« Ich ging rein, und er machte die Tür hinter sich zu. Die Wände waren weiß, über dem Waschbecken hing ein Spiegel, und das schwarze Fliegengitter vor dem kleinen Fenster hatte Löcher. Ich starrte auf die Badewanne, die Toilette, die Fliesen. Er langte hoch und nahm von einem Haken den dicken Lederriemen herunter, an dem er immer sein Rasiermesser schärfte. Dieser ersten Bestrafung mit dem Riemen sollten noch unzählige folgen. Jedesmal ohne einen richtigen Grund, wie ich fand. »So, jetzt die Hosen runter.« Ich zog meine Hose herunter. »Die Unterhose auch.« Ich zog auch die herunter. Dann ließ er den Riemen niedersausen. Der erste Hieb war ein solcher Schock, daß ich den Schmerz gar nicht richtig spürte. Der zweite tat schon mehr weh. Mit jedem Hieb wurden die Schmerzen heftiger. Anfangs war ich mir meiner Umgebung noch bewußt, doch bald verschwamm alles vor meinen Augen. Er verwünschte mich, während er auf mich einschlug, aber seine Worte drangen nicht zu mir durch. Ich dachte an die Rosen, die er sich im Garten zog. Ich dachte an sein Auto in der Garage. Ich gab mir Mühe, nicht zu schreien. Ich wußte, daß er wahrscheinlich aufhören würde, wenn ich schrie. Ich wußte aber auch, daß er nur darauf wartete, mich schreien zu hören, und das hinderte mich daran. Die Tränen liefen mir aus den Augen, aber ich blieb stumm. Nach einer Weile waberte alles durcheinander, und ich hatte nur noch die grausige Vorstellung, hier womöglich nie mehr herauszukommen. Schließlich schien etwas in mir zu reißen. Ich begann zu schluchzen. Ich schluckte und würgte an dem salzigen Schleim, der mir in die Kehle rann. Mein Vater hörte auf. Dann war er auf einmal verschwunden. Langsam erkannte ich wieder das kleine Fenster, den Spiegel. Und da am Haken hing der Riemen, lang und braun und leicht verdreht. Ich konnte mich nicht bücken, um mir die Hosen hochzuziehen, also ließ ich sie unten und stolperte zur Tür. Ich machte die Badezimmertür auf und sah meine Mutter im Flur stehen.
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»Das war nicht recht«, warf ich ihr vor. »Warum hast du mir nicht geholfen?« »Der Vater«, sagte sie, »hat immer recht.« Dann ließ sie mich stehen. Ich humpelte mit hängenden Hosen in mein Zimmer und setzte mich auf die Bettkante. Die Matratze tat mir weh. Draußen konnte ich die Rosen meines Vaters sehen, rot und weiß und gelb. Sie waren groß und voll. Die Sonne stand schon sehr tief, und die letzten schrägen Strahlen drangen durchs Fenster herein. Ich hatte das Gefühl, daß selbst die Sonne meinem Vater gehörte. Daß ich kein Recht hatte, von ihr beschienen zu werden, denn sie schien nur auf das Haus meines Vaters. Ich war wie seine Rosen: etwas, das ihm gehörte und nicht mir ...
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Als sie mich zum Abendessen riefen, war ich in der Lage, mich wieder anzuziehen und nach vorn zur Frühstücksnische zu gehen, wo wir an Wochentagen alle unsere Mahlzeiten einnahmen. Auf meinem Stuhl lagen zwei Kissen. Ich setzte mich darauf, doch mein Hintern und die Unterseiten meiner Schenkel brannten immer noch wie Feuer. Mein Vater redete wie üblich von seinem Job. »Ich hab Sullivan gesagt, er soll drei Routen zu zweien zusammenlegen und aus jeder Schicht einen Mann entlassen. Die kriegen dort alle keinen richtigen Zug rein . . .« »Sie sollten wirklich auf dich hören, Daddy«, sagte meine Mutter. »Bitte«, sagte ich, »entschuldigt, aber mir ist nicht nach essen ...« »Du ißt deinen Teller leer!« sagte mein Vater. »Deine Mutter hat dieses Essen gekocht!« »Ja«, sagte sie. »Möhren und Erbsen und Rinderbraten.« »Und Kartoffelbrei mit Soße«, sagte mein Vater. »Ich hab keinen Hunger.« »Du wirst deinen Teller leermachen! Bis du Erbsen pissen tust!« kam es von meinem Vater. Er versuchte, witzig zu sein. Diesen Spruch brachte er immer besonders gerne an. »DADDY!« sagte meine Mutter und sah ihn schockiert und entgeistert an. Ich begann zu essen. Es war entsetzlich. Ich kam mir vor, als würde ich sie essen. Alles, woran sie glaubten und wofür sie standen. Ich kaute nicht, ich schluckte einfach alles runter, um es los zu sein. Mittlerweile sprach mein Vater davon, wie gut alles schmeckte und wie glücklich wir uns schätzen konnten, daß wir gut und reichlich zu essen hatten, während die meisten Menschen auf der Welt - und sogar viele in Amerika - arm waren und hungern mußten. »Was gibt's zum Nachtisch, Mama?« fragte er. Sein Gesicht war grauenhaft. Diese vorgestülpten Lippen, fettig und naß und genießerisch. Er benahm sich, als sei nichts gewesen, als habe er mich überhaupt nicht verprügelt. Als ich wieder in meinem Zimmer war, dachte ich: Diese Menschen sind nicht meine Eltern. Sie müssen mich adoptiert haben, und jetzt sind sie enttäuscht, weil ich nicht so geworden bin, wie sie dachten.
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Nebenan wohnte ein Mädchen, das Lila Jane hieß und in meinem Alter war. Ich durfte immer noch nicht mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielen, aber in meinem Zimmer zu sitzen, wurde oft langweilig. Also ging ich ab und zu hinters Haus, lief im Garten herum und sah mir an, was es da zu sehen gab. Meistens Käfer. Oder ich setzte mich ins Gras und stellte mir alles mögliche vor. Zum Beispiel, daß ich ein großer Baseballspieler sei, der so gut war, daß er einen Hit oder einen Home Run schlagen konnte, so oft er wollte. Doch manchmal schlug ich absichtlich daneben, um die gegnerische Mannschaft zu täuschen. Ich machte meine Hits nur, wenn mir gerade danach war. In einer Saison, es war schon Anfang Juli, hatte ich eine kümmerliche Trefferquote von 139 und nur einen einzigen Home Run. Mit Henry Chinaski ist nichts mehr los, schrieben die Zeitungen. Doch dann drehte ich auf. Und wie! Einmal gestattete ich mir sechzehn Home Runs hintereinander. Ein andermal schlug ich vierundzwanzig Runs in einem einzigen Spiel. Am Ende der Saison stand meine Quote bei. 523. (Entspricht einer Trefferquote von 52 Prozent.) Lila Jane war eines der hübschesten Mädchen in der ganzen Schule. Sie war auch netter als die meisten anderen, und sie wohnte gleich nebenan. Eines Tages, als ich wieder mal im Garten war, kam sie an den Zaun und sah zu mir herüber. »Du spielst nicht mit den anderen Jungs, wie?« Sie hatte lange kastanienbraune Haare und dunkelbraune Augen. »Nein«, sagte ich, »tu ich nicht.« »Warum nicht?« »Ich seh sie schon genug in der Schule.« »Ich bin Lila Jane«, sagte sie. »Und ich Henry.« Sie betrachtete mich unverwandt, und ich saß da im Gras und sah zu ihr hoch. Schließlich sagte sie: »Willst du mal mein Höschen sehn?« »Klar«, sagte ich. Sie hob ihr Kleid. Das Höschen war rosa und blitzsauber. Sah gut aus. Sie hielt weiter ihr Kleid hoch und drehte sich um, damit ich ihren Po sehen konnte. Der sah auch gut aus. Dann ließ sie das Kleid wieder herunter. »Wiedersehn«, sagte sie und ging weg. »Wiedersehn«, sagte ich. Es passierte nun jeden Nachmittag. »Willst du mein Höschen sehn?« - »Klar ...« Das Höschen hatte fast jedesmal eine andere Farbe, und es sah von Mal zu Mal besser aus. Als sie mir eines Nachmittags wieder mal einen Blick gestattet hatte, sagte ich: »Gehn wir ein bißchen spazieren?« »Mhm«, sagte sie. Wir trafen uns vor ihrem Haus und gingen zusammen die Straße hinunter. Sie war wirklich ein hübsches Ding. Wir gingen nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen, bis wir ein leeres Grundstück erreichten. Es war mit hohem Unkraut bewachsen. »Gehn wir doch da rein«, schlug ich vor. »Meinetwegen«, sagte sie. Wir gingen rein, bis wir zwischen hohen Unkrautstauden waren. 22
»Zeig mir nochmal dein Höschen.« Sie hob ihr Kleid. An diesem Tag hatte sie ein blaues Höschen an. »Komm, wir legen uns da hin«, sagte ich. Als wir lagen, griff ich ihr ins Haar und gab ihr einen Kuß. Dann streifte ich ihr das Kleid hoch und sah mir das Höschen an. Ich schob ihr meine Hand unter den Hintern und küßte sie wieder. Ich knutschte und fummelte dabei an ihrem Hintern. Das ging so eine ganze Weile. Dann sagte ich: »Komm, wir machen es.« Ich war mir nicht sicher, was wir eigentlich machen sollten, aber ich hatte das Gefühl, daß es da noch mehr geben mußte. »Nein, das geht nicht«, sagte sie. »Warum nicht?« »Die Männer da können uns sehn.« »Was denn für Männer?« »Na, die dort!« Sie zeigte zur Straße. Ich schaute zwischen den Stauden hindurch auf die Straße. Ungefähr einen halben Block entfernt besserten einige Arbeiter die Fahrbahn aus. »Die können uns doch nicht sehn.« »Doch, können sie!« »Ach, verdammt!« sagte ich. Ich stand auf und ging zurück nach Hause. Danach ließ sich Lila Jane längere Zeit nicht mehr sehen. Aber das machte nichts. Inzwischen war Football-Saison, und ich war - jedenfalls in meiner Vorstellung - ein sagenhafter Quarterback. Ich konnte den Ball 90 Yards weit werfen, und wenn ich ihn trat, flog er 80 Yards. Aber einen Kick hatten wir selten nötig. Nicht, solange ich den Ball schleppte. Ich rannte in ausgewachsene Männer rein und fegte sie einfach beiseite. Es brauchte fünf oder sechs Mann, um mich überhaupt angreifen zu können. Manchmal, wie beim Baseball, taten sie mir alle leid, und ich ließ es zu, daß sie mich stoppten, nachdem ich erst acht oder zehn Yards gutgemacht hatte. Aber da wurde ich dann wenigstens schwer verletzt, so daß man mich vom Platz tragen mußte. Mein Team fiel zurück, sagen wir mal 17:40, und drei oder vier Minuten vor dem Ende des Spiels kam ich dann auf den Platz zurück, stinksauer wegen meiner Verletzung, und jedesmal, wenn ich den Ball bekam, rannte ich in unwiderstehlichem Zickzack übers ganze Feld bis zur gegnerischen Torlinie und machte einen Punkt. Wie sie da jubelten auf den Rängen! Und wenn wir verteidigten, fing ich jeden Querpaß ab und rang jeden Gegner zu Boden. Ich war überall. Chinaski, die Furie! In den letzten Sekunden fing ich den gegnerischen Kick-Off ganz hinten in unserer Hälfte und rannte los. Vorwärts, seitwärts, rückwärts. Ich schüttelte einen Angreifer nach dem anderen ab und sprang über die Gestürzten hinweg. Mein Team blockte mir keinen ab. Mein Team war nichts als eine Bande von zimperlichen Muttersöhnchen. Schließlich hingen fünf Mann an mir dran, aber ich ließ mich nicht zu Boden ringen, ich schleifte sie mit mir über die Torlinie und machte den Touchdown, der uns den Sieg brachte. Eines Nachmittags sah ich einen größeren Kerl hinten durchs Gartentor kommen. Er kam zu mir her, stellte sich vor mich hin und sah auf mich herunter. Er war gut ein Jahr älter als ich und nicht von meiner Schule. »Ich bin aus der Marmount Grammar School«,sagte er. »Mach lieber, daß du hier verschwindest«, sagte ich. »Mein Vater kommt gleich nach Hause.« »Was du nicht sagst.« Ich stand auf. »Was willst du hier?« »Ich höre, ihr von der Delsey Grammar haltet euch für stark.« »Wir gewinnen jede Schulmeisterschaft.« »Ja, aber bloß weil ihr bescheißt. Wir von der Marmount können Schummler nicht leiden.« 23
Er hatte ein altes blaues Hemd an, das vorne nur halb zugeknöpft war. Um das linke Handgelenk hatte er ein Lederband. »Meinst du, du bist stark?« wollte er wissen. »Nein.« »Was habt ihr da in eurer Garage? Ich glaube, ich nehm mir was aus eurer Garage mit.« »Bleib da bloß raus.« Das Garagentor stand offen. Er ging hinein. Es gab da drin nicht viel. Er entdeckte einen alten Wasserball, aus dem die Luft raus war. »Ich glaube, den nehm ich mir.« »Leg ihn wieder hin.« »Schluck ihn doch runter«, sagte er und warf nach mir. Ich duckte mich. Er kam aus der Garage und ging auf mich zu. Ich wich zurück. Er folgte mir über den Rasen. »Schummler bringen es nie zu was!« sagte er und holte aus. Ich duckte ab und hörte seinen Schlag über mich wegzischen. Ich machte die Augen zu, rannte mit gesenktem Kopf auf ihn los und begann zu hämmern. Ab und zu traf ich etwas. Ich spürte, wie ich Schläge abkriegte, aber sie taten nicht weh. Ich hatte zuviel Angst, um darauf groß zu achten. Es blieb nichts zu tun, als weiter auf ihn einzuhämmern. Dann vernahm ich eine Stimme. »Hört auf!« Es war Lila Jane, die zu mir in den Garten gekommen war. Wir hörten beide auf. Sie hob eine alte Blechdose auf und warf sie nach dem Burschen. Die Dose traf ihn mitten auf die Stirn und prallte ab. Einen Augenblick stand er wie gelähmt da, dann rannte er heulend und jammernd davon, durchs Gartentor, den Weg hinunter, und weg war er. Eine kleine Blechdose. Es überraschte mich, daß ein starker Kerl wie er einfach losheulte. Mit diesen Burschen von der Marmount war nicht viel los. »Du hättest mir nicht helfen müssen«, sagte ich zu Lila Jane. »Er hat dich geschlagen!« »Er hat mir nicht weh getan.« Lila Jane drehte sich um, rannte zurück in ihren Garten und verschwand im Haus. >Lila Jane mag mich immer noch<, dachte ich.
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In der zweiten und dritten Klasse gaben sie mir immer noch keine Chance, Baseball zu spielen, doch ich wußte, daß ich mich trotzdem irgendwie zu einem beachtlichen Spieler entwickelte. Wenn ich je wieder einen Schläger in die Hände bekam, würde ich den Ball glatt übers Schulhaus schlagen. Eines Tages, als ich wieder einmal untätig herumstand, kam ein Lehrer auf mich zu. »Was machst du?« »Nichts.« »Es ist Sportstunde. Du solltest dich beteiligen. Oder bist du behindert?« »Wie bitte?« »Fehlt dir etwas?« »Ich weiß nicht.« »Komm mal mit.« 24
Er ging mit mir zu einer Gruppe, die Kickball spielte. Es war dasselbe wie Baseball, nur daß man einen Fußball benutzte. Der Pitcher rollte ihn auf die Platte zu, und der Spieler dort kickte ihn. Wenn der Ball von der gegnerischen Mannschaft gefangen wurde, war man draußen. Wenn er durchs Infield rollte, oder wenn man ihn hoch über die Köpfe der Gegner kickte, machte man einen Run und trat auf so viele Ledersäcke, wie man konnte. »Wie heißt du?« fragte mich der Lehrer. »Henry.« Er ging zu den Jungs hin. »Also«, sagte er, »Henry wird jetzt mal Shortstop spielen.« Sie waren aus der Parallelklasse und kannten mich alle. Shortstop war die schwierigste Position. Ich ging auf meinen Platz. Ich wußte, daß sie versuchen würden, mich abzuschießen. Der Pitcher rollte den Ball betont langsam, und der erste Spieler auf der Platte kickte ihn genau auf mich zu. Der Ball kam mit einiger Wucht, in Brusthöhe, aber das war kein Problem. Er war schließlich groß genug. Ich streckte die Hände aus, bekam ihn zu fassen und warf ihn dem Pitcher zu. Der nächste Spieler machte es genauso. Diesmal kam der Ball ein bisschen höher. Und noch rasanter. Auch kein Problem. Dann ging Stanley Greenberg zur Platte. Pech für mich. Der Pitcher rollte den Ball, und Stanley trat ihn. Das Ding schoß wie eine Kanonenkugel auf mich zu, in Kopfhöhe. Ich wollte mich instinktiv ducken, aber ich tat es nicht. Der Ball knallte mir zwischen die Hände, und ich hielt ihn fest. Dann rollte ich ihn lässig zum Pitcher hinüber. Drei Gegner abserviert. Ich trottete zur Seitenlinie. Unterwegs kam einer an mir vorbei und sagte: »Chinaski, der große Shitstop!« Es war der Kerl mit der Brillantine, dem die langen schwarzen Haare aus den Nasenlöchern wuchsen. Ich fuhr herum. »Hey!« sagte ich. Er blieb stehen. Ich starrte ihn an. »Nochmal machst du mich nicht so an!« Ich sah ein ängstliches Flackern in seinen Augen. Er ging raus auf seine Position, und ich verließ das Spielfeld und lehnte mich an den Zaun. Mein Team stellte den ersten Kicker auf die Platte, und die anderen gingen vom Platz. Keiner stellte sich zu mir, aber das machte mir nichts aus. Ich gewann allmählich an Boden. Es war seltsam und schwer zu begreifen: Wir waren hier in der ärmsten Schule, wir hatten die ärmsten und am wenigsten gebildeten Eltern, die meisten von uns bekamen nur entsetzlich dürftiges Essen, und doch waren wir alle viel größer und stärker als die Jungs von den übrigen Grundschulen der Stadt. Unsere Schule war berühmt. Wir waren gefürchtet. Die Mannschaft unserer sechsten Klasse brachte ihren Gegnern aus den sechsten Klassen der anderen Schulen die schlimmsten Niederlagen bei. Besonders im Baseball. Ergebnisse wie 14:1, 24:3, 19:2. Unsere hatten einfach den Bogen raus. Eines Tages wurden sie vom Team einer Junior High School — Miranda Bell — zu einem Match herausgefordert. Die waren gerade Stadtmeister in ihrer Altersstufe. Irgendwie wurde Geld gesammelt, und jeder unserer Spieler bekam eine nagelneue blaue Mütze mit einem weißen »D« vorne drauf. Unser Team sah richtig gut aus mit diesen Mützen. Als die von Miranda Bell anrückten, die Siebtkläßler, die Champions, sahen unsere aus der sechsten Klasse die Burschen nur an und lachten. Unsere Spieler waren größer, sie wirkten härter, sie gingen sogar anders. Sie hatten etwas, was die anderen nicht hatten. Auch wir Jüngeren lachten nur. Wir wußten, daß die hier nichts zu bestellen hatten. Die Mirandas wirkten viel zu schnöselig. Sie waren sehr still. Ihr Pitcher war ihr größter Spieler. Er ließ unsere ersten drei Bauer aussteigen, und das waren einige unserer besten. Aber wir hatten ja noch Lowball Johnson. Lowball machte dasselbe mit denen. So ging das eine Weile, beide Seiten schlugen daneben oder machten mal einen kleinen >Grounder<, und gelegentlich gab es auch einen Treffer, der für einen Run bis zur First Base reichte, aber weiter
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nichts. Dann, gegen Ende des siebten Innings, holte Beefcake Cappalletti mit dem Schläger aus, traf und schmetterte den Ball in die Gegend. Mein Gott, man hörte es richtig knallen! Es sah aus, als würde der Ball bis rüber zum Schulgebäude fliegen und eine Fensterscheibe zerschmettern. Noch nie hatte ich einen Ball so abzischen sehen. Er traf den Fahnenmast, ganz oben, und fiel aufs Spielfeld zurück. Ein leichter Home Run. Cappalletti drehte seine Runde. Und unsere Jungs sahen gut aus mit ihren neuen blauen Mützen und dem weißen »D« vorne drauf. Danach gaben die Mirandas einfach auf. Sie wußten nicht, wie sie sich erwehren sollten. Sie kamen aus einem reichen Viertel. Sie wußten nicht, was es hieß, sich wieder hochzukämpfen. Unser nächster Batter hatte zwei Treffer. Wir schrien uns die Kehle heiser. Das war das Aus für die anderen. Sie konnten nichts mehr tun. Unser nächster Bauer traf dreimal. Die anderen wechselten ihren Pitcher aus. Er verschaffte unserem nächsten Spieler prompt einen Spaziergang. Der nächste Batter hatte einen Treffer. Als das Inning vorüber war, hatten wir neun Runs gemacht. Im achten Inning bekamen die Mirandas nicht mal eine Chance, ihren Batter auf die Platte zu bringen. Unsere Fünftkläßler gingen rüber und forderten die Burschen zu einer Schlägerei heraus. Sogar aus der vierten Klasse rannte einer rüber und knöpfte sich einen von ihnen vor. Die Mirandas griffen sich ihre Matchsäcke und machten sich aus dem Staub. Wir scheuchten sie die ganze Straße rauf. Nun gab es nichts mehr zu tun, also leisteten sich zwei von unseren Jungs einen Boxkampf. Der war sehenswert. Sie hatten gerade blutige Nasen und waren richtig in Fahrt, als ein Lehrer dazwischenging, der dageblieben war, um sich das Spiel anzusehen. Er wußte gar nicht, wie knapp er selber einem Kinnhaken entging.
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Eines Morgens in aller Herrgottsfrühe nahm mich mein Vater auf seine Milchtour mit. Es gab inzwischen keine Pferdefuhrwerke mehr. Sie fuhren die Milch jetzt mit Lieferwagen aus. Als er den Wagen in der Molkerei beladen hatte, klapperten wir seine Route ab. Es gefiel mir, schon so früh am Tag unterwegs zu sein. Der Mond stand noch am Himmel, und ich konnte die Sterne sehen. Ich fror ein bißchen, aber es war aufregend. Ich fragte mich, warum er mich mitnahm, denn schließlich verprügelte er mich doch ein- oder zweimal in der Woche mit seinem Lederriemen, und wir kamen nicht miteinander aus. Bei jedem Kunden sprang er heraus und stellte ein oder zwei Flaschen Milch vor die Haustür. Manchmal war es auch Quark oder Buttermilch oder Butter, und ab und zu auch mal eine Flasche Orangensaft. Die meisten Leute hatten in ihren leeren Flaschen einen Zettel, auf dem stand, was sie haben wollten. Mein Vater fuhr durch die Gegend, hielt an, erledigte Bestellungen und startete wieder. »Okay, mein Junge, in welche Richtung fahren wir jetzt?« »Norden.«
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»Richtig. Wir fahren nach Norden.« Weiter ging es, die Straßen rauf und runter, von einem Stop zum nächsten. »Okay, und wohin fahren wir jetzt?« »Nach Westen.« »Nein, wir fahren nach Süden.« Schweigend ging es wieder eine Strecke weiter. »Angenommen, ich setz dich hier raus und laß dich auf dem Bürgersteig stehen — was würdest du machen?« »Keine Ahnung.« »Ich meine, von was würdest du leben?« »Na, wahrscheinlich würde ich einfach die Strecke zurückgehen und den Orangensaft und die Milch trinken, die du vor die Haustüren gestellt hast.« »Und dann?« »Dann würd' ich mir einen Polizisten suchen und ihm sagen, was du gemacht hast.« »Ach nee! Und was würdest du ihm sagen?« »Ich würde ihm sagen, daß du mir erzählt hast, Westen wäre Süden, bloß weil du gewollt hast, daß ich mich verlaufe.« Die Sonne ging auf. Bald waren alle Bestellungen erledigt, und wir gingen zum Frühstück in ein Cafe. Die Kellnerin kam an den Tisch. »Hallo, Henry«, sagte sie zu meinem Vater. »Hallo, Betty.« »Wer ist der Junge?« wollte sie wissen. »Das ist der kleine Henry.« »Er sieht dir täuschend ähnlich.« »Ja, bloß hat er nicht meinen Verstand.« »Da kann er von Glück sagen.« Wir bestellten Rührei mit Schinken. Als wir aßen, sagte mein Vater: »Jetzt kommt der schwierige Teil.« »Was ist das?« »Ich muß das Geld eintreiben, das mir einige Leute schulden. Manche wollen nicht zahlen.« »Sie sollten aber zahlen.« »Das sag ich ihnen ja auch.« Wir beendeten das Frühstück und fuhren wieder los. Mein Vater stieg aus und klopfte an Haustüren. Ich hörte, wie er sich laut beschwerte: »Was glauben Sie denn, verdammt nochmal, von was ich satt werden soll? Sie haben die Milch auf geschleckt, und jetzt wird's Zeit, daß Sie das Geld ausspucken!« Er hatte für jeden einen anderen Spruch. Manchmal kam er mit dem Geld zurück, manchmal nicht. Dann sah ich ihn den Weg zu einer Bungalow-Anlage hochgehen. Eine Tür wurde geöffnet, und es erschien eine Frau in einem seidenen Kimono, der von einem nachlässig gebundenen Gürtel nur notdürftig zusammengehalten wurde. Sie rauchte eine Zigarette. »Hör mal, Baby, ich muß das Geld haben. Du hast bei mir mehr Schulden als sonst jemand!« Sie lachte ihn einfach aus.
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»Schau her, Baby, gib mir wenigstens die Hälfte. Mach 'ne Anzahlung, damit ich was vorweisen kann.« Sie blies einen Rauchring, langte hoch und zerteilte ihn mit dem Zeigefinger. »Hör mal, du mußt zahlen«, sagte mein Vater. »Du bringst mich in eine peinliche Lage.« »Komm rein«, sagte die Frau. »Dann reden wir mal drüber.« Er ging hinein, und die Tür fiel ins Schloß. Er blieb sehr lange drin. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als er wieder herauskam. Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und er stopfte sich seine Hemdzipfel in die Hose. Er stieg zu mir in den Lieferwagen. »Hat dir die Frau das Geld gegeben?« fragte ich. »Das war mein letzter Stop für heute«, sagte mein Vater. »Mehr schaff ich nicht mehr. Wir bringen den Wagen zurück, und dann gehn wir nach Hause ...« Die Frau sollte ich bald wiedersehen. Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, saß sie bei uns im Wohnzimmer. Meine Eltern saßen auch da, und meine Mutter weinte. Als sie mich sah, stand sie auf, stürzte auf mich zu und drückte mich an sich. Sie ging mit mir ins Schlafzimmer, und ich mußte mich auf die Bettkante setzen. »Henry, liebst du deine Mutter?« Das tat ich eigentlich nicht. Aber sie sah so traurig aus. Also sagte ich eben »ja«. Sie ging wieder mit mir nach vorn. »Dein Vater sagt, er liebt diese Frau«, sagte sie zu mir. »Ich liebe euch beide! Und jetzt schaff den Jungen hier raus!« Ich hatte den Eindruck, daß er meine Mutter sehr unglücklich machte. »Ich bring dich um«, sagte ich zu meinem Vater. »Schaff den Jungen hier raus!« »Wie kannst du diese Frau lieben?« fragte ich ihn. »Sieh dir bloß ihre Nase an. Sie hat 'ne Nase wie ein Elefant.« »Herrgottnochmal!« sagte die Frau. »Das muß ich mir nicht bieten lassen!« Sie sah meinen Vater an. »Entscheide dich, Henry! Sofort! Sie oder ich!« »Aber ich kann nicht! Ich liebe euch beide!« »Ich bring dich um!« sagte ich zu meinem Vater. Er kam her und haute mir eine runter, daß ich umfiel. Die Frau sprang auf und rannte aus dem Haus. Mein Vater hinterher. Sie setzte sich in sein Auto, startete und fuhr los. Es ging alles sehr schnell. Mein Vater rannte auf der Straße hinter dem Wagen her. »Edna! Edna, komm zurück!« Er holte den Wagen tatsächlich ein, griff auf der Fahrerseite hinein und bekam Ednas Handtasche zu fassen. Dann trat Edna aufs Gas, und mein Vater blieb mit ihrer Handtasche zurück. »Ich habe gewußt, daß was nicht stimmt«, erzählte mir meine Mutter. »Ich hab mich im Kofferraum versteckt und die beiden erwischt. Dein Vater hat mich nach Hause gefahren, zusammen mit dieser gräßlichen Frau. Jetzt hat sie sein Auto.« Mein Vater kam mit Ednas Handtasche zurück. »Ins Haus mit euch!« Wir gingen hinein, und er schloß mich in mein Zimmer ein. Sie begannen zu streiten. Der Streit wurde laut und sehr häßlich. Dann fing er an, meine Mutter zu schlagen. Sie schrie, aber er schlug sie weiter. Ich kletterte aus dem Fenster und versuchte, zur Haustür hineinzukommen. Sie war abgeschlossen. Ich probierte die Hintertür, die Fenster. Alles zu. Ich stand auf dem Hof, und die Schreie und Schläge klangen mir in den Ohren. 28
Dann war es zu Ende, und ich hörte nur noch, wie meine Mutter schluchzte. Sie schluchzte sehr lange. Allmählich wurde das Schluchzen schwächer, und schließlich verstummte es.
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Ich war in der vierten Klasse, als ich es erfuhr. Vermutlich war ich der einzige, der es noch nicht wußte, denn ich redete immer noch mit keinem. Als ich während einer Pause herumstand, kam ein Junge zu mir her. »Willst du wissen, wie es geht?« fragte er mich. »Was?« »Ficken.« »Was'n das?« »Na, deine Mutter hat ein Loch ...« — Er machte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis - »und dein Vater hat einen Dong ...« - Er pumpte seinen linken Zeigefinger in das Loch. »Dann spritzt aus dem Dong von deinem Vater so Saft raus, und manchmal kriegt deine Mutter ein Baby, und manchmal nicht.« »Gott macht die kleinen Kinder«, sagte ich. »Scheiße, von wegen«, sagte der Junge und ging weg. Ich fand das schwer zu glauben. Als die Pause vorüber war und ich wieder im Unterricht saß, dachte ich darüber nach. Meine Mutter hatte also ein Loch, und mein Vater hatte einen Dong, der Saft verspritzte. Wie konnten sie so etwas haben und sich benehmen, als sei überhaupt nichts? Wie konnten sie über dies und jenes reden und es anschließend tun, ohne je ein Wort darüber zu verlieren? Mir wurde richtig schlecht bei dem Gedanken, daß ich als ein Saftspritzer meines Vaters angefangen hatte. Als meine Eltern an diesem Abend zu Bett gegangen waren, lag ich wach und lauschte. Tatsächlich, nach einer Weile hörte ich sie nebenan. Ihr Bett begann zu quietschen. Ich konnte ganz deutlich die Sprungfedern hören. Ich stieg aus meinem Bett, ging auf Zehenspitzen an ihre Schlafzimmertür und horchte. Das Bett machte weiter diese Geräusche. Dann wurde es plötzlich still. Hastig schlich ich zurück in mein Zimmer. Ich hörte, wie meine Mutter ins Badezimmer ging, die Toilettenspülung zog und wieder herauskam. Was für eine schauderhafte Sache. Kein Wunder, daß sie es heimlich taten. Und wenn man sich vorstellte, daß es alle taten! Die Lehrer, der Rektor, alle! Ich fand das ausgesprochen dumm. Doch dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich es mit Lila Jane machte, und da kam es mir gar nicht mehr so dumm vor. Am nächsten Tag dachte ich während des ganzen Unterrichts daran. Ich sah die Mädchen an und stellte mir vor, daß ich es mit ihnen machte. Ich würde es mit allen machen, bis die ganze Welt voll war von Kerlen wie ich - große Baseball-Spieler, die einen Home Run nach dem anderen schlugen. Kurz vor dem Ende der letzten Stunde sagte die Lehrerin, Mrs. Westphal: »Henry, du bleibst anschließend noch da.« Die Glocke schrillte, und meine Mitschüler verließen das Klassenzimmer. Ich blieb in meiner Bank sitzen und wartete. Mrs. Westphal korrigierte Arbeiten. Vielleicht will sie es mit mir machen, dachte ich. Ich malte mir aus, wie ich ihr Kleid hochzog und ihr Loch ansah. »Mrs. Westphal? Ich bin jetzt soweit...« Sie schaute von ihren Arbeiten hoch. »Na schön. Henry, dann wischst du jetzt erst mal die Tafel ab. Dann nimmst du die Schwämme raus und machst sie sauber.« Ich tat, was sie von mir verlangte, und setzte mich wieder in meine Bank. Mrs. Westphal saß da und korrigierte weiter ihre Arbeiten. Sie hatte ein enges blaues Kleid an, trug eine randlose 29
Brille und große goldene Ohrringe und hatte eine winzige Stupsnase. Ich wartete und wartete. »Mrs. Westphal«, sagte ich schließlich, »warum wollen Sie, daß ich noch dableibe?« Sie sah hoch und starrte mich an. Ihre Augen waren grün und unergründlich. »Ich habe dich hierbehalten, weil du manchmal ein ganz schlimmer Junge bist.« »Ach ja?« Ich lächelte geschmeichelt. Mrs. Westphal nahm ihre Brille ab und starrte weiter zu mir herüber. Ihre Beine waren hinter dem Pult. Ich konnte ihr nicht unters Kleid sehen. »Du hast heute überhaupt nicht aufgepaßt, Henry.« »Yeah?« »>Ja< heißt das. Du redest mit einer Dame!« »Oh, ich weiß ...« »Werd' ja nicht frech!« »Entschuldigung.« Sie stand auf und kam hinter ihrem Pult hervor. Sie ging nach hinten, und als sie auf gleicher Höhe mit mir war, setzte sie sich auf die Schulbank in der anderen Reihe. Ihre langen ansehnlichen Beine steckten in Seidenstrümpfen. Sie lächelte, griff herüber und faßte mich an der Hand. »Deine Eltern sind nicht besonders lieb zu dir, wie?« »So was brauch ich nicht«, sagte ich. »Henry, jeder Mensch braucht Liebe.« »Ich brauch gar nichts.« »Du armer Junge.« Sie stand auf, stellte sich neben mich und nahm langsam meinen Kopf in die Hände. Dann beugte sie sich über mich und drückte ihn an ihren Busen. Ich griff außen herum und packte ihre Schenkel. »Henry, du mußt aufhören, dich gegen alle zu wehren. Wir wollen dir doch helfen.« Ich packte ihre Schenkel noch etwas fester. »All right«, sagte ich, »dann ficken wir doch!« Mrs. Westphal stieß mich weg und machte einen Schritt zurück. »Was hast du da gesagt?« »Ich hab gesagt: Dann ficken wir doch!« Sie sah mich lange an. Schließlich sagte sie: »Henry, ich werde keinem Menschen erzählen, was du gesagt hast. Nicht dem Rektor und nicht deinen Eltern. Keinem. Aber ich möchte, daß du das nie, nie mehr zu mir sagst - hast du verstanden?« »Ja.« »Also gut. Du kannst jetzt nach Hause.« Ich stand auf und ging zur Tür. Als ich die Klinke in der Hand hatte, sagte Mrs. Westphal: »Auf Wiedersehn, Henry.« »Wiedersehn, Mrs. Westphal.« Draußen ging ich die Straße hinunter und machte mir meine Gedanken. Ich hatte das Gefühl, daß sie schon gerne gewollt hätte und sich nur nicht traute, weil ich noch so jung war. Und daß sie Angst hatte, meine Eltern oder der Rektor könnten es herausbekommen. Diese Sache mit dem Ficken war wirklich nicht schlecht. Da hatte man doch etwas, womit man sich sonst noch beschäftigen konnte. 30
Auf dem Heimweg mußte ich immer einen breiten Boulevard überqueren. Als ich auf dem Zebrastreifen war, kam plötzlich ein Wagen direkt auf mich zu. Er bremste nicht ab. Der Fahrer riß das Lenkrad nach rechts und links. Ich versuchte, ihm auszuweichen, aber er schien meinen Bewegungen zu folgen. Ich sah Scheinwerfer, Räder, eine Stoßstange. Dann wurde ich von dem Wagen erfaßt, und alles wurde schwarz.
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Im Krankenhaus tupften sie mir die Knie mit Wattebäuschen ab, die sie mit etwas getränkt hatten. Es brannte. Meine Ellbogen brannten auch. Ich lag in einem Krankenbett. Die Sonne schien durchs Fenster herein, und alles wirkte recht erträglich. Ein Arzt stand neben dem Bett und lächelte auf mich herunter. Als die Krankenschwester mit meinen Knien fertig war, richtete sie sich auf und lächelte mich ebenfalls an. Es war angenehm hier drin. »Hast du auch einen Namen?« fragte der Arzt. »Henry.« »Henry was?« »Chinaski.« »Aus Polen, wie?« »Deutschland.« »Warum will eigentlich niemand aus Polen sein?« »Ich bin in Deutschland geboren.« »Wo wohnst du?« fragte die Schwester. »Bei meinen Eltern.« »Ach wirklich«, sagte der Arzt. »Und wo ist das?« »Was ist mit meinen Ellbogen und meinen Knien?« »Ein Auto hat dich überfahren. Zum Glück bist du nicht unter die Räder gekommen. Die Zeugen hatten den Eindruck, daß der Fahrer betrunken war. Er hat Fahrerflucht begangen. Aber sie haben das Kennzeichen notiert. Man wird ihn fassen.« »Sie haben eine hübsche Krankenschwester«, sagte ich. »Oh, vielen Dank«, sagte sie. »Willst du eine Verabredung mit ihr?« fragte mich der Arzt. »Was ist das?« »Willst du mit ihr ausgehen?« »Ich weiß nicht, ob ich's mit ihr machen könnte. Ich bin noch zu jung.« »Was denn machen?« »Sie wissen schon.« »Na«, sagte die Schwester mit einem Lächeln, »komm doch mal vorbei, wenn deine Knie geheilt sind, dann werden wir sehen, was sich machen läßt.« »Ich muß weiter«, sagte der Arzt, »ich habe noch einen Unfallpatienten.« Er ging hinaus. »Also«, sagte die Schwester, »in welcher Straße wohnst du?« »Virginia Road.« »Sag mir auch noch die Nummer, Schätzchen.« Ich sagte ihr die Hausnummer. Sie fragte, ob wir Telefon hätten. Ich sagte, ich wüßte die Nummer nicht auswendig. »Macht nichts«, sagte sie. »Das läßt sich ja feststellen. Und mach dir keine Sorgen. Du hast Glück gehabt. Du hast nur ein paar Abschürfungen und eine Beule am Kopf.« Sie war nett, aber ich wußte, wenn meine Knie erst mal verheilt waren, würde sie mich nicht wiedersehen wollen. »Ich will hierbleiben«, sagte ich zu ihr.
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»Was? Soll das heißen, du willst nicht nach Hause zu deinen Eltern?« »Nein. Lassen Sie mich hierbleiben.« »Das geht nicht, mein Schatz. Wir brauchen diese Betten für Leute, die richtig verletzt und krank sind.« Sie lächelte mir noch einmal zu und verließ das Zimmer. Als mein Vater eintraf, kam er stracks ins Zimmer und holte mich wortlos aus dem Bett. Er trug mich hinaus und den Korridor hinunter. »Du kleiner Bastard! Hab ich dir nicht beigebracht, daß du in beide Richtungen schauen sollst, bevor du über die Straße gehst?« Im Eilschritt ging es weiter den Korridor hinunter. Wir kamen an der Krankenschwester vorbei. »Wiedersehn, Henry«, sagte sie. »Wiedersehn.« Wir bestiegen einen Fahrstuhl, in dem sich bereits ein alter Mann in einem Rollstuhl befand. Hinter ihm stand eine Krankenschwester. Der Lift setzte sich in Bewegung. Abwärts. »Ich glaube, ich muß sterben«, sagte der alte Mann, »Ich will nicht sterben. Ich habe Angst vor dem Tod ...« »Du hast lang genug gelebt, du alter Furz«, knurrte mein Vater. Der alte Mann sah ihn entgeistert an. Der Lift hielt, aber die Tür blieb zu. Jetzt erst fiel mir der Fahrstuhlführer auf. Er saß auf einem kleinen Hocker. Er war ein Zwerg und trug eine knallrote Uniform mit einer roten Mütze. Der Zwerg sah zu meinem Vater hinauf. »Sir«, sagte er, »Sie sind ein widerlicher Dummkopf.« »Mach die verdammte Tür auf, du Wichtel«, sagte mein Vater, »oder ich tret' dich in den Arsch!« Die Tür ging auf. Mein Vater schleifte mich vollends hinaus und stiefelte quer über den Rasen vor dem Hospital. Ich hatte immer noch mein weißes Krankenhemd an. Meine Kleider waren in einer Tüte, die mein Vater in der freien Hand hielt. Der Wind wehte mir das Nachthemd hoch, und ich sah meine aufgeschürften Knie, die mit Jod bepinselt waren. Mein Vater rannte jetzt beinahe. »Wenn sie diesen Dreckskerl festnehmen«, sagte er, »werd' ich ihn verklagen! Das kostet ihn seinen letzten Penny! Der wird mich für den Rest seines Lebens ernähren! Ich hab diese gottverdammte Milchkarre satt! Golden State Creamery! Jaja, der >goldene Staat< (Beiname des Bundesstaates Kalifornien); - am Arsch! Wir werden uns in die Südsee absetzen und von Ananas und Kokosnüssen leben!« Mein Vater hatte das Auto erreicht und verstaute mich auf dem Beifahrersitz. Er ging außen herum, stieg ein und warf den Motor an. »Ich hasse Säufer! Mein Vater war einer. Meine Brüder sind Säufer. Säufer sind Schwächlinge. Säufer sind feige. Und wenn so einer auch noch Fahrerflucht begeht, gehört er für den Rest seines Lebens hinter Gitter!« Während wir nach Hause fuhren, redete er weiter auf mich ein. »Weißt du, daß in der Südsee die Eingeborenen in Grashütten leben? Und wenn sie morgens aufstehen, fällt ihnen das Essen von den Bäumen und direkt vor die Füße. Sie brauchen es bloß aufheben und zu essen. Kokosnüsse und Ananas. Diese Eingeborenen denken sogar, die Weißen sind Götter! Sie fangen Fische und braten Wildschweine am Spieß, und ihre Mädchen 32
tanzen und haben Baströckchen an und streicheln ihre Männer hinter den Ohren. Golden State Creamery! Jaja — bei meinem haarigen Arsch!« Doch der Traum meines Vaters sollte nicht in Erfüllung gehen. Sie erwischten den Mann, der mich angefahren hatte, und steckten ihn ins Gefängnis. Er hatte allerdings eine Frau und drei Kinder und keinen Job. Er war ein Säufer, bei dem nichts zu holen war. Der Mann saß eine Weile ein, aber mein Vater verklagte ihn nicht. »Einem mickrigen Rettich«, sagte er, »kann man kein Blut ausquetschen!«
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Mein Vater scheuchte die Kinder aus der Nachbarschaft immer von unserem Haus weg. Mir wurde eingeschärft, nicht mit ihnen zu spielen, doch ich ging oft die Straße runter und sah ihnen beim Spielen zu. »He, Heini«, schrien sie, »warum gehst du nicht zurück nach Deutschland!« Irgendwie hatten sie herausbekommen, wo ich geboren war. Das Schlimmste war, daß sie alle ungefähr in meinem Alter waren und eine Clique bildeten, denn sie kamen nicht nur aus derselben Gegend, sie besuchten auch dieselbe katholische Schule. Sie waren ein ruppiger Verein. Sie spielten stundenlang Tackle-Football, und fast jeden Tag lieferten sich zwei von ihnen einen Faustkampf. Die vier auffälligsten Burschen waren Chuck, Eddie, Gene und Frank. »He, Heini! Geh zurück zu deinen Sauerkrautfressern!« Bei denen hatte ich keine Chance ... Dann zog ein rothaariger Junge mit seinen Eltern in das Haus neben Chuck. Er ging auf irgendeine besondere Schule. Eines Tages saß ich gerade draußen auf dem Bordstein, als er aus seinem Haus kam. Er setzte sich zu mir. »Tag, ich heiße Red.« »Ich Henry.« Wir saßen da und sahen den anderen zu, wie sie Football spielten. Dann sah ich mir Red näher an. »Wieso hast du 'n Handschuh an deiner linken Hand?« fragte ich. »Ich hab nur einen Arm«, sagte er. »Die Hand sieht ganz echt aus.« »Ist es aber nicht. Der Arm ist künstlich. Faß mal an.« »Was?« »Faß ihn ruhig an. Er ist künstlich.« Ich faßte den Arm an. Er war steinhart. »Wie ist das passiert?« »Ich bin schon so auf die Welt gekommen. Der Arm ist künstlich, bis rauf zum Ellbogen. Ich muß ihn anschnallen. Ich hab kleine Finger an meinem Ellbogen, mit Fingernägeln und allem, aber ich kann nichts mit ihnen anfangen.« »Hast du Freunde?« fragte ich.
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»Nein.« »Ich auch nicht.« »Wollen die da nicht mit dir spielen?« »Nein.« »Ich hab einen Football.« »Kannst du ihn fangen?« »Scheiße, und ob«, sagte Red. »Dann hol ihn doch.« »Okay ...« Red ging in die Garage seines Vaters und kam mit einem Football wieder heraus. Er warf ihn mir her. Dann ging er auf seinem Vorgartenrasen einige Schritte zurück. »Los, wirf mal ...« Ich warf. Sein gesunder Arm legte sich darum, dann sein verkrüppelter, und er hielt ihn fest. Der künstliche Arm quietschte ein wenig, als er den Ball fing. »Gut gemacht«, sagte ich. »Jetzt schmeiß mir einen!« Er holte aus und warf. Der Ball zischte wie ein Geschoß heran. Ich hatte keine Mühe, ihn festzuhalten, denn ich bekam ihn in die Magengrube. »Du bist zu nah«, sagte ich. »Geh weiter zurück.« Endlich mal ein bißchen Übung im Werfen und Fangen, dachte ich. Es war ein richtig gutes Gefühl. Dann mimte ich den Quarterback. Ich büchste nach hinten aus, stieß einem unsichtbaren Angreifer den Ellbogen rein und warf. Der Ball eierte in einer Spirale durch die Luft und kam zu früh herunter. Red rannte vorwärts, hechtete danach, bekam ihn zu fassen, überschlug sich drei- oder viermal auf dem Rasen, ließ den Ball aber nicht los. »Du bist gut, Red. Wie bist du so gut geworden?« »Mein Vater hat mir's beigebracht. Wir trainieren viel.« Dann ging Red zurück und zog einen Wurf ab. Der Ball schien mir über den Kopf zu gehen, also rannte ich rückwärts. Zwischen dem Haus von Red und dem von Chuck gab es eine Hecke. In die fiel ich rein, während ich nach dem Ball hangelte. Der Ball landete auf der Hecke, sprang noch einmal hoch und flog auf Chucks Rasen. Ich ging außen herum, um ihn zu holen. Chuck warf ihn mir zu. »Na, Heini? Da hast du dir ja 'n Freak angelacht, der richtig zu dir paßt...« Ein paar Tage später stand ich wieder einmal bei Red auf dem Rasen, und wir übten Kicks und Querpässe mit seinem Football. Chuck und seine Freunde waren nirgends zu sehen. Red und ich wurden zusehends besser. Übung, das war alles, was man brauchte. Jetzt mußten wir nur noch eine Chance bekommen. Aber das hing eben immer von irgendeinem ab, der bestimmte, wer eine Chance bekam und wer nicht. Ich fing einen Ball in Schulterhöhe, wirbelte herum und schleuderte ihn zurück, und Red machte einen Satz und angelte ihn aus der Luft. Vielleicht werden wir eines Tages mal für die University of Southern California spielen, dachte ich. Da sah ich auf dem Bürgersteig fünf Jungs auf uns zukommen. Keine aus meiner Schule. Sie waren in unserem Alter und machten den Eindruck, daß sie es auf uns abgesehen hatten. Red und ich warfen weiter den Ball hin und her. Sie blieben stehen und sahen zu.
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Dann kam einer zu uns auf den Rasen. Er war der größte von ihnen. »Wirf mir den Ball her«, sagte er zu Red. »Warum?« »Ich will sehn, ob ich ihn fangen kann.« »Mir doch egal, ob du ihn fangen kannst oder nicht.« »Wirf mir den Ball her!« »Er hat nur einen Arm«, sagte ich. »Laß ihn in Ruhe.« »Halt du dich da raus, du Arschgesicht!« Dann sah er wieder Red an. »Wirf mir den Ball her!« »Du kannst mich mal!« sagte Red. »Nehmt ihm den Ball weg!« sagte der Bursche zu den anderen. Sie rannten auf uns zu. Red drehte sich um und warf den Ball aufs Dach. Das Dach war schräg, und der Ball rollte wieder zurück, aber er verfing sich in der Dachrinne. Jetzt gingen alle auf uns los. Fünf gegen zwei, dachte ich, da haben wir keine Chance. Ich bekam eine Faust an die Schläfe und schlug zurück, aber der Schlag ging ins Leere. Dann trat mich einer in den Hintern. Es war ein harter Tritt, und der Schmerz zuckte mir den ganzen Rücken hoch. Plötzlich hörte ich etwas knallen. Es klang wie ein Schuß. Einer der Gegner lag am Boden und hielt sich die Stirn. »Au Scheiße«, sagte er, »ich hab 'n Loch im Kopf!« Ich sah Red mitten auf dem Rasen stehen. Er hatte seinen künstlichen Unterarm in der Hand und schwang ihn wie eine Keule. Er schlug erneut zu, und ein weiterer Gegner ging zu Boden. Das machte mir Mut. Ich boxte einen der Kerle auf den Mund und sah, wie seine Unterlippe platzte. Das Blut tropfte ihm vom Kinn herunter. Die restlichen beiden liefen weg. Der größte Kerl war als erster umgemäht worden. Er stand jetzt auf, und auch der andere rappelte sich hoch. Meiner mit dem blutverschmierten Mund stand benommen da. Dann verzogen sie sich. Als sie schon ein ganzes Stück entfernt waren, drehte sich der Große um und rief: »Wir kommen wieder!« Red rannte los und ich hinterher. Wir scheuchten sie die Straße hoch, bis sie um eine Ecke verschwanden. Wir gingen zurück, zogen die Leiter aus der Garage, holten den Football vom Dach und warfen ihn wieder hin und her. An einem Samstag beschlossen Red und ich, in das Freibad unten an der Rimini Street zu gehen. Red war ein seltsamer Bursche. Er redete nicht viel, aber ich war schließlich auch recht wortkarg, und so kamen wir gut miteinander aus. Es gab ohnehin nichts zu reden. Nur einmal fragte ich ihn nach seiner Schule, aber er sagte nur, es sei eine Sonderschule, und es koste seinen Vater einiges Geld. Es war früher Nachmittag, als wir ins Schwimmbad kamen. Wir besorgten uns Schlüssel für zwei Spinde und zogen uns aus. Unsere Badehosen hatten wir bereits an. Ich sah, wie Red seinen Arm abschnallte und im Spind verstaute. Es war das erste Mal seit der Schlägerei, daß ich ihn ohne seinen künstlichen Arm sah. Ich gab mir Mühe, den Stummel nicht anzusehen. Wir gingen zu dem kleinen flachen Becken, wo man sich die Füße in einer Chlorlösung einweichen mußte. Das Zeug stank, aber es verhinderte die Ausbreitung von Fußpilz oder so etwas. Dann gingen wir zum Schwimmbecken und wateten rein. Auch hier stank das Wasser, und als ich bis zum Bauch drin war, pißte ich rein. Es waren alle Altersgruppen vertreten, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Red fühlte sich richtig wohl im Wasser. Er hüpfte auf und nieder, tauchte unter, kam wieder hoch und spie einen Mundvoll Wasser aus. Ich versuchte, ein wenig zu schwimmen. Doch ich mußte immer wieder Reds halben Arm
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ansehen. Ich tat es allerdings nur, wenn ich sah, daß er durch etwas abgelenkt war. Der Arm endete am Ellbogen in einem runden Stummel, aus dem die kleinen verkümmerten Finger wuchsen. Ich wollte nicht so lange hinsehen, doch es schien, als seien es nur drei oder vier, sehr klein und gekrümmt. Sie waren ganz rot, und jeder hatte einen winzigen Fingernagel. Da wuchs nichts mehr nach. Alles hatte aufgehört. Ich wollte nicht daran denken. Ich tauchte, um Red von hinten an den Beinen zu packen und ihm einen Schrecken einzujagen. Ich stieß gegen etwas Weiches. Mein Gesicht grub sich richtig hinein. Es war der Hintern einer dicken Frau. Ich spürte, wie sie mich an den Haaren packte und aus dem Wasser zog. Sie trug eine blaue Badekappe, und der Gummiriemen saß unterm Kinn so straff, daß zwei Fleischwülste hervortraten. Ihre Schneidezähne hatten silberne Kronen, und ihr Atem roch nach Knoblauch. »Du perverser kleiner Schmutzfink! Willst hier wohl fummeln, was?« Ich stieß mich von ihr ab und paddelte rückwärts. Sie folgte mir und machte mit ihrem Hängebusen eine Welle wie bei einer Sturmflut. »Du dreckiges kleines Früchtchen! Willst du mir die Titten lutschen? Hast 'ne dreckige Phantasie, was? Willst du meine Scheiße essen? Wie wär's damit, hm? Du kleines Früchtchen!« Ich wich weiter vor ihr zurück, ins tiefe Wasser. Ich stand inzwischen auf den Zehenspitzen, und nach einem erneuten Schritt zurück schluckte ich Wasser. Sie stampfte auf mich zu. Ein Dampfschiff von einem Weib. Weiter konnte ich jetzt nicht mehr zurück. Ihre Augen waren ganz blaß und leer. Sie hatten überhaupt keine Farbe. Dann war sie heran und berührte mich mit dem Bauch. »Lang mir vorne hin«, sagte sie. »Ich weiß, daß du sie anfassen willst. Also los, faß sie an. Faß sie an, faß sie an!« Sie wartete. »Wenn du's nicht tust, sag ich dem Bademeister, daß du mich belästigt hast, und dann kommst du ins Gefängnis! Also los, faß sie an!« Ich brachte es nicht fertig. Plötzlich griff sie nach unten, packte mich an den Weichteilen und zog daran. Sie riß mir fast den Dong ab. Ich kippte nach hinten um, ging unter, ruderte mit Armen und Beinen, kam wieder hoch. Ich war jetzt sechs Fuß von ihr entfernt, schwamm in einem Bogen um sie herum und versuchte, seichtes Wasser zu erreichen. »Ich werd' dem Bademeister sagen, daß du mich belästigt hast!« schrie sie. Dann schwamm ein Mann zwischen uns durch. »Dieser kleine Schweinigel!« schrie sie und zeigte auf mich. »Er hat mir an die Fut gelangt!« »Lady«, sagte der Mann, »der Junge hat wahrscheinlich gedacht, es ist das Sieb über dem Abfluß.« Ich schwamm hinüber zu Red. »Hör zu«, sagte ich, »wir müssen hier weg! Die fette Dame da will dem Bademeister sagen, daß ich ihr an die Fut gelangt hab!« »Warum hast du denn das gemacht?« fragte Red. »Ich wollte mal sehn, wie es sich anfühlt.« »Und wie hat es sich angefühlt?« Wir stiegen aus dem Becken und duschten. Red schnallte sich den Arm wieder an, und wir zogen uns an. »Hast du's wirklich gemacht?« fragte er. »Na, irgendwann muß man mal anfangen.«
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Etwa einen Monat danach zog Reds Familie weg. Eines Tages waren sie einfach verschwunden. Red hatte mir nichts davon gesagt. Er war fort, sein Football war fort, und diese winzigen roten Finger mit den Fingernägeln waren auch fort. Er war ein guter Kumpel gewesen.
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Ich wußte nicht recht, warum, aber Chuck, Eddie, Gene und Frank ließen mich jetzt manchmal mitspielen. Ich glaube, es fing an, als bei ihnen ein neuer Junge dazukam, und da brauchten sie mich, um zwei Dreier-Mannschaften bilden zu können. Ich hatte immer noch einiges Training nötig, um wirklich gut zu werden, aber ich stellte mich immer besser an. Samstag war immer der beste Tag. Da hatten wir unsere großen Spiele, an denen auch noch andere Jungs teilnahmen. Auf dem Rasen spielten wir richtig, aber auf der Straße nur Touch-Football. Da wurden mehr Pässe geworfen, denn wenn einen der Gegner nur zu berühren brauchte, kam man nicht weit mit dem Ball. Bei mir zuhause gab es ständig Ärger. Meine Eltern hatten einen Ehekrach nach dem anderen, und die Folge war, daß sie kaum noch auf mich achteten. Ich konnte also jeden Samstag verschwinden und Football spielen. In einem Spiel durchbrach ich die gegnerische Verteidigung und sah Chuck den Ball werfen. Das lederne Ei segelte in einer weiten hohen Spirale durch die Luft, ich rannte los und sah dabei über die Schulter, der Ball kam herunter, fiel mir direkt in die Hände, und ich schickte mich an, einen Touchdown zu machen. In diesem Augenblick hörte ich meinen Vater brüllen. »HENRY!« Er stand vor unserem Haus. Ich warf den Ball einem Mitspieler zu, damit mein Team einen Kick-Off machen konnte. Dann ging ich zu meinem Vater. Er schien wütend zu sein. Ich konnte seine Wut fast körperlich spüren. Er stellte den einen Fuß immer ein wenig nach vorn, sein Gesicht war knallrot, und er atmete so schwer, daß ich seinen Bierbauch sehen konnte, wie er sich hob und senkte. Er war einsfünfundachtzig, wie ich schon sagte, und ich sah immer nur Ohren, Mund und Nase. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. »All right«, sagte er, »du bist jetzt alt genug, um den Rasen zu mähen. Du bist groß genug, also wirst du von jetzt an den Rasen mähen und die Ränder trimmen, und anschließend wirst du ihn wässern und auch die Blumen gießen. Wird Zeit, daß du hier mal was tust und deinen müden Arsch in Bewegung setzt!« »Aber ich spiel grade Football mit den Jungs. Samstag ist der einzige Tag, wo ich richtig dazu komme.« »Willst du mir etwa widersprechen?« »Nein.« Ich konnte meine Mutter sehen, die am Fenster hinter dem Vorhang stand und uns beobachtete. Samstags putzten sie immer das ganze Haus. Sie reinigten die Teppiche mit dem Staubsauger und wienerten die Möbel mit Politur. Sie nahmen die Teppiche raus und wachsten
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die Böden, und dann legten sie die Teppiche wieder hin, so daß man nicht einmal sehen konnte, daß gewachst worden war. Der Rasenmäher stand in der Einfahrt. Mein Vater zeigte mir, was ich zu tun hatte. »Also, du nimmst den Rasenmäher und schiebst ihn in geraden Bahnen über den Rasen - und daß du mir keine Stelle ausläßt! Den Grasbehälter leerst du hier aus, so oft er voll ist. So, und wenn du den Rasen in einer Richtung gemäht hast, dann mähst du ihn noch einmal quer dazu, kapiert? Erst rauf und runter, und dann nochmal quer. Hast du verstanden?« »Ja.« »Und mach nicht so ein beleidigtes Gesicht, oder ich geb dir einen Grund, um beleidigt zu sein! Wenn du mit dem Rasen fertig bist, nimmst du den kleinen Mäher hier und trimmst die Ränder. Fahr damit auch unter die Hecke, ja? Daß du mir auch jeden Grashalm erwischst! Und dann trimmst du den Rand, mit dieser senkrechten Scheibe da am Rand, die sich absenken läßt. Aber die Ränder müssen einwandfrei gerade werden. Verstanden?« »Ja.« »Also. Und wenn du damit fertig bist, nimmst du die hier ...« Er zeigte mir eine Gartenschere. »Du kniest dich damit hin und schneidest die Grashalme ab, die noch hochstehen. Dann nimmst du den Gartenschlauch und spritzt die Hecke und die Blumenbeete. Dann stellst du den Rasensprenger an und läßt ihn auf jedem Teil des Rasens eine Viertelstunde laufen. Erst machst du den Vorgartenrasen und dann den Rasen hinten im Garten und die Blumenbeete. Noch Fragen?« »Nein.« »Na schön. Aber eins sag ich dir: Wenn du mit allem fertig bist, komme ich raus und seh alles nach. Und dann will ich keinen einzigen Grashalm mehr stehen sehn! Nicht einen einzigen! Weder vor dem Haus noch hinten! Andernfalls ist was fällig!...« Er drehte sich um, ging die Einfahrt hoch, über die Veranda, machte die Haustür auf, knallte sie hinter sich zu und war verschwunden. Ich packte den Rasenmäher, schob ihn die Einfahrt hoch und begann, meine erste Bahn zu mähen. Weiter unten an der Straße konnte ich die Jungs hören, die Football spielten ... Ich brachte den Vorgartenrasen hinter mich, goß die Blumen und stellte den Rasensprenger an. Dann arbeitete ich mich nach hinten durch — in der Mitte der Einfahrt gab es einen Streifen Rasen, um den ich mich auch noch kümmern mußte. Ich wußte nicht mehr, ob ich unglücklich war oder nicht. Ich fühlte mich zu elend, um unglücklich sein zu können. Es war, als sei alles auf der Welt zu einem endlosen Rasen geworden, auf dem ich mich herumschinden mußte. Ich schob und ackerte, aber plötzlich ging mir auf, wie sinnlos alles war: Es würde Stunden dauern, den ganzen Tag, es würde mir zu keinem Football-Spiel mehr reichen. Die Jungs würden alle reingehen zum Abendessen, der Samstag würde vorüber sein, und ich würde immer noch Rasen mähen. Als ich mit dem hinteren Rasen anfing, standen meine Eltern auf der Veranda hinter dem Haus und sahen mir zu. Sie standen regungslos da und sagten keinen Ton. Doch als ich einmal mit dem Mäher dicht an ihnen vorbeikam, hörte ich meine Mutter zu meinem Vater sagen: »Schau mal, er schwitzt gar nicht wie du, wenn du den Rasen mähst. Sieh doch, er wirkt so ruhig.« »Ruhig? Er ist nicht ruhig — er pennt!« Als ich wieder vorbeikam, brüllte er mich an: »Schieb das Ding schneller! Du bewegst dich wie eine Schnecke!« Ich schob schneller. Es war anstrengend, aber es gab mir ein gutes Gefühl. Ich legte noch mehr zu. Ich rannte fast mit dem Mäher über den Rasen. Das Gras wurde mit solcher Wucht nach hinten geschleudert, daß das meiste über den Grasbehälter hinausflog. Ich wußte, daß ihn das ärgern würde. »Du Mistkerl!« brüllte er.
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Er rannte von der Veranda herunter und verschwand in der Garage. Als er wieder herauskam, hatte er ein Stück Holz in der Hand. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er es nach mir warf. Ich sah es kommen, aber ich machte keinen Versuch, ihm auszuweichen. Es traf mich hinten an die rechte Wade. Der Schmerz war fürchterlich. Das ganze Bein verkrampfte sich, und ich mußte mich zu jedem Schritt zwingen. Ich schob den Rasenmäher weiter und versuchte, nicht zu humpeln. Als ich umdrehte, um die nächste Bahn zu mähen, lag mir das Stück Holz im Weg. Ich hob es auf, legte es auf die Seite und mähte weiter. Plötzlich stand mein Vater neben mir. »Halt!« Ich blieb stehen. »Du machst jetzt nochmal den Teil, wo dir das ganze Gras rausgeflogen ist! Hast du verstanden?« »Ja.« Er ging zurück auf die Veranda und stellte sich wieder neben meine Mutter. Als letztes mußte das Gras zusammengekehrt werden, das auf dem Bürgersteig gelandet war, und dann mußte ich den Bürgersteig noch mit dem Schlauch abspritzen. Als auch das endlich getan war, mußte nur noch der Rasensprenger auf den hinteren Rasen. Fünfzehn Minuten für jeden Teil. Ich schleifte den Gartenschlauch nach hinten und wollte gerade den Rasensprenger anstellen, als mein Vater aus dem Haus kam. »Eh du den Rasensprenger anstellst, will ich den Rasen hier erst mal kontrollieren.« Er marschierte in die Mitte der Rasenfläche, ging auf Hände und Knie herunter, legte den Kopf schräg aufs Gras und spähte nach einem Halm, der womöglich noch hochstand. Er verdrehte den Hals, spähte und spähte, ringsherum. Ich wartete ab. »AHA!« Er sprang auf und rannte ins Haus. »MAMA! MAMA!« »Was ist denn?« »Er hat einen stehen lassen!« »Wirklich?« »Komm mit, ich zeig es dir!« Im Eilschritt kam er aus dem Haus, gefolgt von meiner Mutter. »Hier! Komm! Ich zeig es dir!« Er ging auf Hände und Knie herunter. »Ich seh es! Ich seh sogar zweil« Meine Mutter kniete sich neben ihn. Ich fragte mich, ob die beiden den Verstand verloren hatten. »Siehst du sie?« fragte er sie. »Zwei Halme! Siehst du sie?« »Ja, Daddy, ich sehe sie ...« Sie standen auf. Meine Mutter ging zurück ins Haus. Mein Vater baute sich vor mir auf. »Rein mit dir!« Ich ging auf die Veranda und ins Haus. Mein Vater folgte mir auf den Fersen. »Ins Badezimmer!« Er machte die Tür hinter uns zu. »Die Hosen runter!« 39
Ich hörte, wie er den Riemen vom Haken zerrte. Mein rechtes Bein schmerzte immer noch. Es half nicht, daß ich den Riemen schon viele Male erduldet hatte. Daß die ganze Welt da draußen meinem Schicksal gleichgültig gegenüberstand, half auch nicht. Millionen von Menschen waren da draußen, Hunde und Katzen und Taschenratten. Gebäude. Straßen. Doch das existierte alles nicht. Es gab nur meinen Vater und den Riemen und das Badezimmer und mich. An dem Riemen schärfte er jeden Morgen sein Rasiermesser, und ich haßte ihn jedesmal, wenn er mit eingeseiftem Gesicht vor dem Spiegel stand und sich rasierte. Der erste Hieb sauste nieder. Der Riemen machte ein flaches lautes Geräusch, und das Geräusch war fast so schlimm wie der Schmerz. Wieder landete der Riemen auf meinem Hintern. Es war, als sei mein Vater eine Maschine. Ich kam mir vor wie in einer Gruft. Bei jedem Hieb dachte ich, das müsse jetzt ganz bestimmt der letzte sein. War es aber nicht. Wieder holte mein Vater aus und schlug zu. Ich empfand keinen Haß mehr. Nur noch ein ungläubiges Staunen, daß es so etwas wie ihn geben konnte. Ich wollte nur noch weg von ihm. Nicht einmal heulen konnte ich. Dazu war ich zu angewidert und verwirrt. Noch einmal landete der Riemen. Dann hörte es auf. Ich richtete mich auf und wartete. Ich hörte, wie er den Riemen an die Wand hängte. »Nächstes Mal«, sagte er, »will ich keinen Halm mehr sehen!« Ich hörte ihn hinausgehen. Er machte die Tür zu. Die Wände strahlten mich plötzlich an, die Badewanne, das Waschbecken, der Duschvorhang. Sogar die Kloschüssel war wunderschön. Mein Vater war weg.
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Von den Jungs in der Nachbarschaft war Frank der angenehmste. Wir wurden Freunde und waren bald ständig zusammen. Die anderen brauchten wir nicht besonders. Sie hatten Frank mehr oder weniger aus der Clique verstoßen, und da ergab es sich von selbst, daß er sich mir anschloß. Er war nicht wie David, der von der Schule immer mit mir nach Hause gegangen war. Frank hatte wesentlich mehr los als David. Ich ging sogar in die katholische Kirche, nur weil Frank auch hinging. Meinen Eltern gefiel das sehr. Die Messe am Sonntagmorgen war elend langweilig. Und wir mußten auch noch in den Katechismus-Unterricht und den ganzen Kram lernen. Nichts als langweilige Fragen und Antworten. Eines Nachmittags saßen wir bei mir auf den Stufen der Veranda, und ich las Frank laut die Sprüche aus dem Katechismus vor. »Gott hat fleischliche Augen und sieht alles.« »Fleischliche Augen?« fragte Frank. »Ja.« »Du meinst — so?« Er ballte die Fäuste und drückte sie sich auf die Augen. »Er hat Milchflaschen als Augen«, sagte er und drehte sich zu mir um. Dann begann er zu lachen. Ich mußte auch lachen. Wir lachten eine ganze Zeit. Plötzlich verstummte Frank. »Meinst du, Er hat uns gehört?« »Glaub schon. Wenn Er alles sehen kann, dann kann Er wahrscheinlich auch alles hören.« »Ich hab Angst«, sagte Frank. »Vielleicht schlägt Er uns tot. Meinst du, Er wird uns killen?« 40
»Ich weiß nicht.« »Wir bleiben besser hier sitzen und warten mal. Rühr dich nicht. Sitz still.« Wir saßen da und warteten. »Er hat es vielleicht gar nicht eilig damit«, sagte ich. »Ja. Er wird sich Zeit lassen«, sagte Frank. Wir warteten eine ganze Stunde. Dann gingen wir zu Frank nach Hause. Er bastelte gerade ein Modellflugzeug, und ich wollte es mir mal ansehen ... Es kam der Nachmittag, als wir beschlossen, zu unserer ersten Beichte zu gehen. Wir machten uns auf den Weg zur Kirche. Wir kannten einen der Priester. Er war dort die Nummer eins. Wir waren ihm in einer Milchbar begegnet, und er hatte uns angesprochen. Wir waren sogar schon einmal bei ihm zuhause gewesen. Er wohnte direkt neben der Kirche und hatte eine alte Frau als Haushälterin. Wir waren eine ganze Weile geblieben und hatten ihm allerhand Fragen über Gott gestellt. Wie groß ist Er? Und sitzt Er den ganzen Tag nur in einem Lehnstuhl? Und muß Er auch aufs Klo wie alle anderen? Der Priester hatte uns etwas ausweichend geantwortet, aber er hatte ein freundliches Lächeln und schien ein recht netter Mensch zu sein. Auf dem Weg zur Kirche dachten wir an die Beichte und wie es wohl sein würde. Als wir fast dort waren, tauchte ein streunender Hund auf und lief neben uns her. Er sah sehr dürr und verhungert aus. Wir blieben stehen, streichelten ihn und kraulten ihn hinter den Ohren. »Wirklich ein Pech für Hunde, daß sie nicht in den Himmel kommen können«, sagte Frank. »Wieso nicht?« »Man muß getauft sein, damit man in den Himmel kommt.« »Dann sollten wir ihn taufen.« »Meinst du?« Ich nahm den Hund auf die Arme, und wir gingen in die Kirche hinein. Am Weihwasserbecken hielt ich ihn hoch, und Frank träufelte ihm das Wasser auf die Stirn. »Hiermit taufe ich dich«, sagte Frank. Wir gingen mit ihm raus, und ich setzte ihn wieder auf den Bürgersteig. »Er sieht sogar ganz verändert aus«, sagte ich. Der Hund verlor das Interesse und trottete davon. Wir gingen wieder rein, tunkten die Finger in das Weihwasser und bekreuzigten uns. Wir knieten uns in eine Bank neben dem Beichtstuhl und warteten. Der Vorhang teilte sich, und eine dicke Frau kam heraus. Sie hatte einen penetranten Körpergeruch, der mir in die Nase stieg, als sie an uns vorbeikam. Ihr Geruch mischte sich mit dem Geruch in der Kirche, der an abgestandene Pisse erinnerte. Jeden Sonntag kamen Leute zur Messe und atmeten diesen Geruch nach Pisse ein, und niemand sagte etwas. Ich nahm mir immer wieder vor, den Priester darauf anzusprechen, aber ich brachte es nicht fertig. Vielleicht lag es an den Kerzen. »Ich geh jetzt rein«, sagte Frank. Er stand auf und verschwand hinter dem Vorhang. Er blieb sehr lange drin. Als er herauskam, grinste er. »Es war große Klasse! Wirklich wahr! Komm, geh du jetzt rein!« Ich stand auf, schob den Vorhang zur Seite, ging rein und kniete mich hin. Es war dunkel. Alles, was ich vor meinen Augen sehen konnte, war ein engmaschiges Gitter. Frank hatte mir erzählt, dahinter sei Gott. Ich kniete da und versuchte, mich an etwas Schlechtes zu erinnern, das ich getan hatte, aber es fiel mir nichts ein. Die Knie taten mir weh, ich überlegte und überlegte, aber ich kam auf nichts. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. »Nun?« sagte eine Stimme. »Sag etwas!« 41
Die Stimme hörte sich zornig an. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich hier eine Stimme hören würde. Außerdem hatte ich immer geglaubt, Gott habe jede Menge Zeit. Ich bekam es mit der Angst. Ich beschloß, einfach etwas zu erfinden. »Naja«, sagte ich, ... ich hab meinen Vater ans Schienbein getreten. Ich ... habe auf meine Mutter geflucht ... ich habe ihr Geld aus der Handtasche gestohlen. Ich hab es für Schokolade ausgegeben. Ich habe Chuck die Luft aus dem Football rausgelassen. Ich habe einem kleinen Mädchen unter den Rock gesehen. Ich habe meine Mutter getreten. Ich hab mir in der Nase gepopelt und ein bißchen davon gegessen. Das ist eigentlich alles. Außer, daß ich vorhin noch einen Hund getauft habe.« »Du hast einen Hund getauft??« Jetzt war ich geliefert. Eine Todsünde. Es hatte keinen Zweck, daß ich noch etwas sagte. Ich stand auf. Ich weiß nicht mehr, ob mir die Stimme auftrug, einige Ave Marias zu sagen, oder ob sie überhaupt nichts sagte. Ich zog den Vorhang zur Seite, und da stand Frank und wartete auf mich. Als wir draußen waren, sagte Frank: »Ich fühl mich so richtig rein. Du nicht?« »Nein.« Ich ging nie mehr zur Beichte. Es war noch schlimmer als die l0-Uhr-Messe.
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Frank hatte es mit Flugzeugen. Er lieh mir seine ganzen Schundhefte über den 1. Weltkrieg. Am besten fand ich >Flying Aces<. Die Luftkämpfe zwischen den Spads und Fokkers waren großartig. Ich las jede einzelne Story. Es gefiel mir zwar nicht, daß die Deutschen dauernd verloren, aber abgesehen davon war es großartig. Ich ging gern zu Frank nach Hause, um geliehene Hefte zurückzubringen und mir neue zu borgen. Seine Mutter trug immer Stöckelschuhe und hatte fabelhafte Beine. Meistens saß sie in einem Sessel, hatte die Beine übereinandergeschlagen und den Rock ziemlich hoch. Auch Franks Vater saß gewöhnlich in einem Sessel, und die beiden hatten ständig einen Drink in Reichweite. Franks Vater war im 1. Weltkrieg Pilot gewesen und abgeschossen worden. Im einen Arm hatte er statt des Knochens einen dicken Silberdraht, und er bezog eine Rente als Kriegsversehrter. Er war ganz in Ordnung. Wenn wir ins Haus kamen, sagte er immer: »Wie geht's, Jungs? Was läuft so?« Eines Tages lasen wir etwas von einer Flugschau. Es sollte eine große Sache werden. Frank besorgte einen Stadtplan, und wir beschlossen, die Strecke zu trampen. Ich hatte Zweifel, ob wir das schaffen würden, aber Frank meinte, es würde gehen. Sein Vater gab uns Geld. Wir gingen mit unserem Stadtplan hinunter zum Boulevard und wurden sofort von einem älteren Typ mitgenommen. Er hatte sehr nasse Lippen, weil er sie ständig leckte, und er trug ein altes kariertes Hemd, dessen Kragen zugeknöpft war, obwohl er keinen Schlips trug. Seine Augenbrauen ringelten sich merkwürdig nach unten. »Ich heiße Daniel«, stellte er sich vor. Frank sagte: »Das ist Henry. Und ich bin Frank.« 42
Daniel fuhr eine Weile schweigend den Boulevard entlang. Dann steckte er sich eine Lucky Strike an. »Wohnt ihr bei euren Eltern?« »Ja«, sagte Frank. »Ja«, sagte ich. Daniels Zigarette war von seinen nassen Lippen schon ganz durchweicht. Er hielt an einer Ampel. »Gestern war ich am Strand und habe gesehen, wie sie unter dem Pier zwei Jungs erwischt haben. Die Cops haben sie verhaftet und eingebuchtet, weil der eine dem anderen einen geblasen hat. Ich möchte mal wissen, was das die Cops angeht. Hat mich richtig wütend gemacht.« Die Ampel sprang auf Grün, und Daniel fuhr wieder an. »Findet ihr das nicht auch blöde, daß die Cops zwei Jungs daran hindern, sich einen zu blasen?« Wir sagten nichts. »Na«, sagte Daniel, »meint ihr nicht, wenn zwei Jungs sich anständig einen blasen wollen, daß das ihr gutes Recht ist?« »Ich glaub schon«, sagte Frank. »Yeah«, sagte ich. »Wo wollt ihr beiden denn hin?« fragte Daniel. »Zu der Flugschau«, sagte Frank. »Ah, die Flugschau! Ich hab eine Schwäche für Kunstflieger! Ich sag euch was, Jungs: Wie wär's, wenn wir alle zusammen hingehn? Dann fahr ich euch direkt hin.« Wir gaben keine Antwort. »Na, wie wär's?« »Von mir aus«, sagte Frank. Franks Vater hatte uns nicht nur das Geld für den Eintritt gegeben, sondern auch für die Hinund Rückfahrt, aber wir hatten uns vorgenommen, das Fahrgeld zu sparen und lieber zu trampen. »Oder vielleicht würdet ihr lieber schwimmen gehn?« regte Daniel an. »Nee«, sagte Frank,»wir wollen die Flugschau sehn.« »Schwimmen macht doch mehr Spaß. Wir könnten um die Wette schwimmen. Ich kenne eine Stelle, wo überhaupt keine Leute sind. Ich geh nie am Pier schwimmen.« »Wir wollen zu der Flugschau«, sagte Frank. »Also gut«, sagte Daniel, »gehn wir zur Flugschau.« Wir erreichten den Parkplatz der Flugschau und stiegen aus. Während Daniel die Fahrertür abschloß, sagte Frank zu mir: »LOS!« Wir rannten in Richtung Eingang. Daniel sah uns weglaufen. »He, ihr kleinen Perversen! Kommt her! Kommt zurück!« Wir rannten weiter. »Mensch«, sagte Frank, »der Drecksack hat sie nicht mehr alle!« Wir waren fast am Eingang. »Ich krieg euch schon!« Wir lösten unsere Eintrittskarten und liefen rein. Die Show hatte noch nicht angefangen, aber es war bereits eine große Menschenmenge da. »Komm, wir verstecken uns unter der Tribüne, da kann er uns nicht finden«, sagte Frank. Die Tribüne bestand aus rohen Planken und war voll besetzt. Als wir unten durchgingen, sahen wir ungefähr in der Mitte zwei Burschen stehen, die nach oben starrten. Sie waren zwei oder drei Jahre älter als wir, also 13 oder 14. »Was starren die so?« sagte ich. 43
»Gehn wir mal nachsehen«, sagte Frank. Wir gingen hin. Der eine sah uns kommen und schrie uns entgegen: »Hey, ihr Strolche, verschwindet hier!« »Nach was schaut ihr da?« fragte Frank. »Ich hab gesagt, ihr sollt verschwinden!« »Ach Scheiße, Marty, laß sie doch gucken!« Wir stellten uns neben sie und sahen hoch. »Was ist da?« fragte ich. »Mensch, kannst du nicht sehen?« fragte der eine. »Was denn?« »Na, die Möse da!« »Eine Möse? Wo denn?« »Mach doch die Augen auf! Direkt da! Siehst du sie nicht?« Er zeigte nach oben. Da saß eine Frau mit einem weiten Rock. Sie hatte nichts darunter an, und wenn man zwischen den Planken hindurchspähte, konnte man ihre Möse sehen. »Siehst du's?« »Yeah, ich seh es. Es ist eine Möse«, sagte Frank. »So, jetzt verschwindet hier. Und haltet den Mund!« »Wir wollen es uns noch ein bißchen länger ansehn«, sagte Frank. »Laßt uns noch 'ne Weile gucken.« »Na gut, aber nicht zu lang!« Wir standen da und starrten hinauf. »Ich kann sie sehen«, sagte ich. »Es ist eine Möse«, sagte Frank. »Ja, 'ne richtige Möse.« »Yeah«, sagte der eine Bursche, »das isses.« »Das werd ich nie vergessen«, sagte ich. »All right, ihr Typen. Schluß jetzt.« »Wieso?« fragte Frank. »Warum können wir nicht noch gucken?« »Weil ich jetzt was machen will, und da kann ich euch nicht brauchen. Also ab mit euch!« Wir gingen weg. »Ich frag mich, was er vorhat«, sagte ich. »Vielleicht will er ihr 'n Stein rauf schmeißen«, meinte Frank. Wir kamen unter der Tribüne hervor und sahen uns nach Daniel um. Er war nirgends zu sehen. »Vielleicht ist er weggefahren«, sagte ich. »Ein Typ wie der hat für Flugzeuge nichts übrig«, sagte Frank. Wir setzten uns auf die Tribüne und warteten auf den Beginn der Show. Ich sah mir die Frauen an. »Was meinst du, welche es war?« fragte ich. »Ich glaub, das kann man von hier oben nicht sagen.«
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Dann ging es endlich los. Zuerst zeigte einer Kunststücke mit einer Fokker. Er war gut, er flog Schleifen und Loopings, er trudelte und fing die Maschine wieder ab, flog dicht über den Boden und machte einen Immelmann. Die Fokker hatte außen an jedem Flügel einen Haken. Damit zeigte er seinen besten Trick. An zwei Stangen wurden rote Taschentücher befestigt, etwa sechs Fuß über dem Boden. Der Pilot kam tief angeflogen, senkte kurz den einen Flügel und nahm das Taschentuch mit. Dann kam er aus der anderen Richtung zurück und erwischte auch das zweite Taschentuch. Danach gab es ein paar Himmelsschreiber, die uns langweilten, und eine Ballon-Wettfahrt, die recht blöde war. Aber dann kam wieder etwas Gutes — ein Wettfliegen um vier Stangen, in Bodennähe. Die Flugzeuge mußten die Stangen zwölfmal umrunden, und der Sieger sollte einen Preis bekommen. Wer die Stangen nicht richtig umflog, wurde automatisch disqualifiziert. Die Piloten ließen die Motoren warmlaufen. Es gab die unterschiedlichsten Konstruktionen zu sehen. Ein Flugzeug hatte einen langgestreckten Rumpf und Stummelflügel. Ein anderes war plump und eiförmig wie ein Football. Wieder ein anderes schien fast nur aus Flügeln zu bestehen. Alle waren bunt bemalt und sahen sehr schneidig aus. Für den Sieger sollte es 100 Dollar geben. Das Dröhnen der Motoren war erregend. Man spürte, daß es hier um eine aufregende Sache ging. Die Motoren röhrten, als wollten sie sich vom Rumpf losreißen. Dann senkte der Starter die Flagge, und sie preschten los. Es waren sechs Flugzeuge, und beim Umrunden der Stangen kamen sie jedesmal ziemlich ins Gedränge. Manche flogen die Stangen ganz tief an, andere höher, und manche so zwischendrin. Einige flogen sie schnell an und verloren Zeit, weil sie zu weit nach außen drifteten; andere flogen langsamer an und konnten dadurch engere Kurven machen. Es war ein herrlicher Anblick, doch zugleich wurde einem auch mulmig. Dann riß einem der Flügel ab. Rauch und Flammen schlugen aus dem Motor, die Maschine schlitterte über den Boden und überschlug sich. Feuerwehr und Ambulanz kamen angesaust. Die anderen flogen weiter. Dann flog einem der Motor auseinander. Der Rest der Maschine plumpste einfach herunter und ging in Stücke. Doch dem Piloten passierte merkwürdigerweise gar nichts. Griesgrämig schob er die Haube des Cockpits zurück, kletterte heraus und wartete auf den Ambulanzwagen. Er winkte der Menge zu, und sie applaudierte wie verrückt. Es war ein Wunder. Aber das Schlimmste kam noch. Zwei Flugzeuge verhedderten sich beim Umrunden einer Stange. Sie machten Bruch und standen im Nu in Flammen. Wieder sausten Feuerwehr und Ambulanz heran. Wir sahen, wie sie die beiden Piloten herauszogen und auf Bahren legten. Es war traurig, diese beiden tapferen Jungs zu sehen. Sie waren entweder tot, oder sie würden für den Rest ihres Lebens Krüppel sein. Damit waren nur noch zwei Maschinen im Rennen, die Nummer 5 und die Nummer 2. Nummer 5 war das langgestreckte Flugzeug mit den Stummelflügeln, und es war das schnellere von den beiden. Nummer 2 war der Football. Er hatte nicht viel Schub, und daß er in jeder Kehre etwas aufholte, nützte ihm nicht besonders. Die Nummer 5 vergrößerte ihren Vorsprung immer mehr. »Nummer fünf«, verkündete der Ansager, »hat jetzt zwei Runden Vorsprung. Noch zwei Runden zu fliegen.« Es sah danach aus, als würde die Nummer 5 den großen Preis gewinnen. Doch dann machte der Pilot bei einer Umrundung einen Fehler: Statt die Stange zu umfliegen, raste er direkt in
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sie rein und riß sie um. Er flog mit Vollgas weiter, dicht am Boden entlang, aber er kam nicht mehr hoch. Die Räder stießen gegen eine Bodenwelle, die Maschine wurde hochgeschleudert und überschlug sich und schlitterte auf dem Rücken über die Grasnarbe. Diesmal hatten das Löschfahrzeug und die Ambulanz recht weit zu fahren. Der Pilot von Nummer zwei umkurvte die umgerissene Stange und die drei, die noch standen. Dann landete er und kletterte heraus. Er hatte gesiegt. Er war ein plumper dicklicher Bursche, genau wie sein Flugzeug. Ich hatte einen schneidigen, gutaussehenden Kerl erwartet. Nun, er hatte eben Glück gehabt. Kaum jemand klatschte Beifall. Als Abschluß der Show hatten sie Fallschirmspringer, die ein Zielspringen machten. Auf dem Boden gab es einen großen weißen Kreis, und wer ihm am nächsten kam, hatte gewonnen. Das sah ziemlich langweilig aus. Es gab nicht viel Lärm und nichts Aufregendes zu sehen. Die Jungs sprangen eben da oben raus und strampelten sich in die Nähe des Kreises. »Das ist nicht besonders gut«, sagte ich zu Frank. »Nee«, sagte er. Sie kamen herunter und landeten in der Nähe des Kreises. Oben sprangen die nächsten heraus. Plötzlich gab es ein vielstimmiges »Oh!« und »Ah!« — ein Fallschirm hatte sich nur teilweise geöffnet. Es war nicht viel Luft drin, und der Springer fiel schneller als die anderen. Man konnte sehen, wie er an den Leinen zerrte, um die verhedderte Seide zu entwirren. Er kickte heftig mit den Beinen. »Meine Güte«, sagte Frank. Der Mann fiel immer schneller, und man konnte ihn immer deutlicher sehen. Er zerrte an den Leinen, aber es half nichts. Er knallte auf den Boden, wurde ein wenig hochgeschleudert, fiel zurück und lag still. Der halb geöffnete Fallschirm senkte sich auf ihn herab. Die restlichen Sprünge wurden gestrichen. Wir gingen in der Menge hinaus und hielten wieder wegen Daniel die Augen offen. »Auf dem Rückweg sollten wir nicht mehr trampen«, sagte Frank. »Mir recht«, sagte ich. Während ich mich in der Menge auf den Ausgang zuschob, fand ich es schwer zu sagen, was aufregender gewesen war — das Wettfliegen, der Absturz des Fallschirmspringers oder diese Möse da.
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In der fünften Klasse wurde es etwas besser. Meine Mitschüler schienen nicht mehr so feindselig eingestellt zu sein, und ich legte einiges an Körpergröße und Muskeln zu. Ich wurde immer noch in keine Mannschaft aufgenommen, aber wenigstens legte man sich nicht mehr so oft mit mir an. Seit David mit seinen Eltern und seiner Violine weggezogen war, ging ich nach der Schule immer allein nach Hause. Oft folgten mir ein oder zwei Burschen, von denen Jüan der schlimmste war, doch sie fingen nichts an. Jüan rauchte Zigaretten. Er ging hinter mir her, 46
paffte an einer Zigarette, und jedesmal hatte er einen anderen Kumpel dabei. Er ging mir nie alleine nach. Ich hatte ein ungutes Gefühl und wünschte mir, sie würden verschwinden. Doch im großen und ganzen ließ es mich kalt. Ich mochte Jüan nicht. Ich mochte überhaupt keinen in dieser Schule. Sie merkten das wohl, und deshalb hatten sie etwas gegen mich. Ich mochte nicht, wie sie sich bewegten, wie sie redeten und dreinschauten, aber ich mochte ja auch nicht einmal meine Eltern. Ich hatte immer noch das Gefühl, als sei ich umgeben von großen Quadern aus weißer Luft. Und nach wie vor war mir ständig ein bißchen schlecht. Jüan war ein dunkelhäutiger Bursche, der statt eines Gürtels eine Messingkette um den Bauch hatte. Die Mädchen fürchteten sich vor ihm, und auch die Jungs hatten Angst. Fast jeden Tag folgte er mir mit einem seiner Kumpel nach Hause. Wenn ich ins Haus ging, blieben sie draußen stehen. Jüan zog an seiner Zigarette und sah finster drein, und sein Kumpel stand daneben. Ich stellte mich hinter den Vorhang und beobachtete sie. Nach einer Weile gingen sie schließlich weg. Mrs. Fretag war unsere neue Englischlehrerin. Als sie das erste Mal in die Klasse kam, ließ sie sich unsere Namen sagen. »Ich möchte euch erst einmal alle kennenlernen«, sagte sie mit einem Lächeln. »So«, sagte sie dann, »ich bin sicher, jeder von euch hat einen Vater. Ich denke, es wäre interessant, wenn wir erfahren würden, welchem Beruf jeder Vater nachgeht. Wir werden hier vorne mit Platz eins beginnen und dann reihum durch die Klasse. Also, Marie, was macht dein Vater?« »Er ist Gärtner.« »Ah, das ist ein schöner Beruf! Platz zwei ... Andrew, was macht dein Vater?« Es war schauderhaft. Die Väter in meiner Nachbarschaft hatten alle ihren Job verloren. Meiner auch. Der Vater von Gene hockte den ganzen Tag auf der Veranda. Sämtliche Väter waren arbeitslos bis auf den von Chuck, der in einer Konservenfabrik arbeitete. Er fuhr einen roten Lieferwagen mit dem Namen der Firma auf der Seite. »Mein Vater ist Feuerwehrmann«, sagte Platz zwo. »Ah, das ist interessant«, sagte Mrs. Fretag. »Platz drei.« »Mein Vater ist Rechtsanwalt.« »Platz vier.« »Mein Vater ist äh ... Polizist.« Was sollte ich sagen? Vielleicht waren nur die Väter in meiner Nachbarschaft arbeitslos. Ich hatte vom großen Börsenkrach gehört. Das hatte etwas Schlimmes zu bedeuten. Aber vielleicht war die Börse nur in unserer Gegend eingebrochen? »Platz achtzehn ...« »Mein Vater ist Filmschauspieler.« »Neunzehn ...« »Mein Vater ist Konzertgeiger.« »Zwanzig ...« »Mein Vater arbeitet im Zirkus.« »Einundzwanzig ...« »Mein Vater ist Busfahrer.« »Zweiundzwanzig ...« »Mein Vater singt in der Oper.« »Dreiundzwanzig ...«
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Dreiundzwanzig. Das war ich. »Mein Vater ist Zahnarzt«, sagte ich. Mrs. Fretag machte die ganze Klasse durch, bis sie zur Nummer 33 kam. »Mein Vater ist arbeitslos«, sagte Nummer 33. Scheiße, dachte ich, war mir das doch selber eingefallen ... Eines Tages gab uns Mrs. Fretag eine Hausarbeit auf. »Unser verehrtes Staatsoberhaupt, Präsident Herbert Hoover, wird am Samstag nach Los Angeles kommen und eine Ansprache halten. Ich möchte, daß ihr alle hingeht und euch die Rede unseres Präsidenten anhört. Und ich möchte, daß ihr anschließend einen Aufsatz darüber schreibt und eure Eindrücke schildert und was ihr von Präsident Hoovers Rede haltet.« Samstag? Da konnte ich unmöglich hin. Da mußte ich doch den Rasen mähen. Und auch noch den letzten Halm erwischen. Was mir natürlich nie gelang. Fast jeden Samstag wurde ich mit dem Riemen verdroschen, weil mein Vater schon wieder einen Halm entdeckt hatte. Er verdrosch mich auch unter der Woche ein- oder zweimal, weil ich entweder etwas vergessen oder nicht richtig gemacht hatte. Ich konnte meinem Vater unmöglich damit kommen, daß ich dringend zu Präsident Hoover mußte. Ich ging also nicht. Am Sonntag nahm ich mir ein Blatt Papier, setzte mich hin und schilderte, wie ich den Auftritt des Präsidenten erlebt hatte. Sein offener Wagen, umweht von flatternden Fähnchen, war in das Football-Stadion eingefahren. Ein Wagen voll Secret-Service-Agenten fuhr ihm voraus, und zwei Wagen folgten ihm. Die Agenten waren tapfere Männer und hatten Pistolen, um den Präsidenten zu schützen. Die Menge erhob sich, als der Wagen des Präsidenten in die Arena fuhr. Keiner hatte je so etwas erlebt. Der Präsident war hier. Er war es wirklich. Er winkte. Wir jubelten ihm zu. Eine Kapelle spielte. Möwen kreisten über dem weiten Rund, als wüßten auch sie, daß der Präsident gekommen war. Es gab auch Flugzeuge, die Sachen an den Himmel schrieben. Zum Beispiel: »Der Wohlstand für alle ist in Sicht!« Der Präsident stand in seinem Wagen auf, und in diesem Augenblick teilten sich die Wolken, und sein Gesicht leuchtete in den Strahlen der Sonne. Es war fast so, als wüßte auch Gott, wer er war. Dann hielten die Wagen, und unser großer Präsident, umringt von Secret-Service-Agenten, schritt zur Rednertribüne. Als er am Mikrophon stand, kam ein Vogel vom Himmel herabgeflogen und setzte sich ganz in seiner Nähe auf das Geländer der Tribüne. Der Präsident winkte dem Vogel zu und lachte, und wir alle lachten mit ihm. Dann begann er zu reden, und die Menschen hörten ihm zu. Ich konnte die Rede nicht genau hören, weil ich zu nahe an der Popcorn-Maschine saß. Die Maiskörner platzten und knallten, und das machte eine Menge Lärm. Aber ich glaube, ich hörte ihn sagen, daß die Probleme in der Mandschurei nichts Ernstes wären, und bei uns zuhause würde alles in Ordnung kommen, wir sollten uns keine Sorgen machen, und wir müßten nur an Amerika glauben. Es würde bald genug Jobs für alle geben. Es würde genug Zahnärzte geben. Und genug Zähne, die sie ziehen konnten. Genug Feuer, und genug Feuerwehrleute, die sie löschen konnten. Gießereien und Fabriken würden den Betrieb wieder aufnehmen. Unsere Freunde in Südamerika würden ihre Schulden bezahlen. Bald würden wir alle in Frieden schlafen, mit vollen Mägen und vollem Herzen. Gott und unser großes Land würden uns mit ihrer Liebe umgeben und uns schützen vor allem Übel und vor den Sozialisten und uns erwecken aus unserem nationalen Alptraum — für alle Zeiten. Der Präsident nahm den Beifall entgegen, winkte und ging dann zurück zu seinem Wagen. Er stieg ein, und der Wagen setzte sich in Bewegung, gefolgt von den Wagen mit den Secret-Service-
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Agenten. Es ging auf den Abend zu, und die untergehende Sonne tauchte den Abendhimmel in ein wundervolles Licht, ganz rot und golden. Wir hatten Präsident Herbert Hoover gehört und gesehen. Am Montag gab ich meinen Aufsatz ab. Am Dienstag stellte sich Mrs. Fretag vor die Klasse und sagte: »Ich habe eure Aufsätze über den Besuch unseres verehrten Präsidenten in Los Angeles gelesen. Ich war dort. Einige von euch konnten, wie ich gesehen habe, aus diesem oder jenem Grund nicht kommen. Für diejenigen von euch, die nicht dabei sein konnten, möchte ich jetzt den Aufsatz von Henry Chinaski vorlesen.« In der Klasse wurde es unheimlich still. Ich war mit Abstand der unpopulärste Schüler. Sie mußten alle das Gefühl haben, als werde ihnen ein Messer ins Herz gebohrt. »Dies ist eine sehr kreative Leistung«, sagte Mrs. Fretag und begann zu lesen. Ich fand, daß sie recht hatte. Alle hörten zu. Meine Worte füllten den Raum, von Wand zu Wand, hallten von der Decke zurück, rieselten Mrs. Fretag auf die Schuhe herunter und sammelten sich vor ihr auf dem Boden. Einige der hübschesten Mädchen in der Klasse fingen an, mir verstohlene Blicke zuzuwerfen. Die harten Burschen ringsum waren alle stocksauer. Ihre Aufsätze waren keinen müden Furz wert gewesen. Ich trank meine Worte wie ein durstiger Wanderer. Allmählich glaubte ich sie sogar selbst. Ich sah Jüan dasitzen, als hätte ich ihn gerade mitten ins Gesicht geschlagen. Ich streckte die Beine aus und lehnte mich zurück. Viel zu rasch war es vorüber. »Mit diesem erhebenden Eindruck«, sagte Mrs. Fretag, »wollen wir die heutige Stunde ausklingen lassen. Ihr könnt gehen.« Sie packten ihre Sachen zusammen und standen auf. »Du nicht, Henry«, sagte Mrs. Fretag. Ich blieb sitzen. Mrs. Fretag stand vorne und sah zu mir her. Als alle draußen waren, sagte sie: »Henry, warst du dort?« Ich überlegte krampfhaft, wie ich mich herausreden sollte, aber ich kam auf nichts. »Nein«, sagte ich, »ich war nicht dort.« Sie lächelte. »Das macht es um so bemerkenswerter. « »Ja, Ma'am . ..« »Du kannst jetzt gehn, Henry.« Ich stand auf, ging hinaus und machte mich auf den Weg nach Hause. Das war es also, was sie wollten: Lügen. Wunderschöne Lügen. Das hatten sie alle so dringend nötig. Die Leute waren dumm. Es würde leicht für mich werden. Ich sah mich um. Jüan und sein Kumpel folgten mir nicht. Die Aussichten wurden allmählich besser.
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Es gab Zeiten, da kamen Frank und ich ganz freundschaftlich zurecht mit Chuck, Eddie und Gene. Doch es passierte immer wieder etwas (gewöhnlich ging es von mir aus), und dann war ich mal wieder draußen, und Frank war auch so gut wie draußen, weil er mein Freund war.
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Ich war gern mit Frank zusammen. Wir trampten überall hin. Eines unserer bevorzugten Ziele war das Gelände einer Filmgesellschaft. An einer Stelle des Zauns gab es hohes Unkraut. Da krochen wir immer unten durch. Wir sahen die riesige Mauer mit den Stufen, die sie in >King Kong< benutzt hatten. Wir sahen uns die nachgemachten Straßen und Gebäude an. Die Gebäude bestanden nur aus Fassade mit nichts dahinter. Wir gingen sehr oft hin und durchstreiften die Kulissen, bis uns der Wächter wegjagte. Wir trampten auch hinunter zum Vergnügungspavillon am Strand, hielten uns jedesmal drei oder vier Stunden dort auf und kannten das »Fun House« bald in- und auswendig. Dabei war es kein angenehmer Ort, denn es wurde von Landstreichern als Quartier für die Nacht benutzt. Sie kackten und pinkelten in die Ecken, überall lagen leere Flaschen herum, und in den Toiletten trat man auf runzelige verklebte Präservative. An diesem Vergnügungspavillon war eigentlich gar nichts vergnüglich. Das Spiegelkabinett war anfangs ganz gut, doch als wir es so weit erforscht hatten, daß wir wußten, wie man durch das Labyrinth zum Ausgang kam, war es nicht mehr interessant. Frank und ich hatten nie Streit. Wir waren neugierig, und es gab so viel zu entdecken. Im Kino unten am Pier gab es einen Film, in dem ein Kaiserschnitt vorkam. Wir gingen rein und sahen es uns an. Es war eine blutige Angelegenheit. Jedesmal, wenn sie bei der Frau einen Einschnitt machten, spritzte das Blut heraus. Ein Schwall nach dem anderen. Schließlich zogen sie das Baby heraus. Oft gingen wir angeln, vorne auf dem Pier, und wenn wir etwas fingen, verkauften wir es den alten jüdischen Damen, die auf den Bänken saßen. Von meinem Vater wurde ich so manches Mal verdroschen, weil ich mit Frank losgezogen war, ohne um Erlaubnis zu fragen. Aber ich sagte mir, daß ich die Dresche ohnehin kriegen würde, also wollte ich wenigstens auch ein paar Sachen tun, die mir Spaß machten. Mit den Jungs aus der Nachbarschaft hatte ich weiter meine Schwierigkeiten. Mein Vater machte alles noch schlimmer, indem er mir ein Indianerkostüm kaufte, samt Pfeil und Bogen. Die anderen liefen alle in Cowboy-Kluft herum. Es war also wieder das gleiche wie auf dem Schulhof — sie fielen über mich her. Die Cowboys kreisten mich ein und fuchtelten mit ihren Revolvern. Doch wenn es kritisch wurde, legte ich einfach mit Pfeil und Bogen auf sie an. Das schreckte sie immer ab. Ich zog dieses Indianerkostüm nie freiwillig an. Immer nur, wenn mein Vater darauf bestand. Ich verdarb es mit Chuck, Eddie und Gene, und dann vertrugen wir uns wieder eine Weile, und dann kam das nächste Zerwürfnis. Eines Nachmittags stand ich wieder einmal herum. Ich wurde von der Bande nicht unbedingt geschnitten, aber ich hatte sie mit etwas verärgert und mußte abwarten, bis die Sache wieder vergessen war. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Also schon wieder weiße Luft ringsum. Und warten. Nach einer Weile wurde ich es leid und beschloß, hinauf zum Washington Boulevard zu gehen, Richtung Osten zum Kino und wieder herunter zum West Adams Boulevard. Vielleicht würde ich auch bei der Kirche vorbeischauen. Ich machte mich auf den Weg. Da hörte ich Eddie rufen: »Hey! Henry! Komm mal her!« Die Jungs standen in einer Garageneinfahrt zwischen zwei Häusern. Eddie, Frank, Chuck und Gene. Sie beugten sich über einen großen Strauch und beobachteten etwas. »Komm her, Henry!« »Was ist denn?«
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Ich ging zu ihnen hin. »Eine Spinne«, sagte Eddie. »Sie hat 'ne Fliege gefangen und wird sie gleich fressen!« Ich sah nach. Die Spinne hatte zwischen den Zweigen des Strauchs ein Netz gesponnen, in dem sich eine Fliege verfangen hatte. Die Spinne war sehr erregt. Die Fliege versuchte loszukommen, und das ganze Netz zitterte. Sie surrte wie wild, aber sie war wehrlos, denn die Spinne umwickelte ihr die Flügel und den ganzen Leib mit immer neuen Fäden. Die Spinne war sehr groß und häßlich. »Jetzt macht sie's gleich!« schrie Chuck. »Gleich beißt sie zu!« Ich drängelte mich zwischen den Jungs durch und zerstörte das Spinnennetz mit einem Fußtritt. »Verdammt! Was fällt dir ein!« schrie Chuck. »Du elender Hund!« schrie Eddie. »Du hast uns alles verdorben!« Ich machte ein paar Schritte zurück. Sogar Frank starrte mich merkwürdig an. »Das soll er uns büßen!« schrie Gene. Sie waren zwischen mir und der Straße. Ich rannte die Einfahrt hoch und in den Hof hinter dem Haus. Sie kamen mir nach. Ich lief hinter die Garage. Dort gab es einen knapp zwei Meter hohen Zaun mit Kletterpflanzen. Ich stieg hinüber in den angrenzenden Hof und rannte die Einfahrt nach vorn zur Straße. Als ich nach hinten sah, kletterte Chuck gerade über den Zaun. Er rutschte ab, fiel herunter in den Hof und landete auf dem Rücken. »Scheiße!« rief er. Ich bog nach rechts in die Straße ein, rannte sieben oder acht Blocks, setzte mich auf einen Vorgartenrasen und verschnaufte. Es war niemand zu sehen. Ich fragte mich, ob Frank mir vergeben würde. Ich fragte mich, ob mir die anderen vergeben würden. Ich beschloß, mich eine Woche nicht mehr blicken zu lassen ... Sie vergaßen die Geschichte. Eine Weile passierte nicht viel. Es gab viele Tage, an denen sich überhaupt nichts tat. Dann nahm sich Franks Vater das Leben. Niemand wußte, warum. Frank sagte mir, er und seine Mutter müßten in eine kleinere Wohnung ziehen, in einer anderen Gegend. Er sagte, er würde mir schreiben. Das tat er auch. Nur schrieben wir uns keine Briefe - wir zeichneten Comics. Über Kannibalen. Er zeichnete etwas, das von Ärger mit Kannibalen handelte, und ich machte dort weiter, wo er aufgehört hatte, ebenfalls über Ärger mit Kannibalen. Meine Mutter entdeckte einen von Franks Comics und zeigte ihn meinem Vater. Das war das Ende dieses Briefwechsels. Ich kam in die sechste Klasse und überlegte langsam, ob ich nicht von zuhause weglaufen sollte. Aber dann entschied ich mich dagegen. Wenn die meisten unserer Väter keinen Job kriegen konnten, wie zum Teufel sollte es dann einer schaffen, der gerade einsfünfzig groß war? John Dillinger war der große Held, für die Erwachsenen wie für die Jungen. Er holte sich das Geld einfach aus den Banken. Und dann gab es noch Pretty Boy Floyd und Ma Barker und Machine Gun Kelly. Die Leute gingen jetzt auf leere Grundstücke, wo Unkraut wuchs. Sie hatten herausbekommen, daß man einiges davon kochen und essen konnte. Männer prügelten sich auf diesen Grundstücken und an Straßenecken. Alle waren gereizt. Die Männer rauchten Bull Durham und ließen sich von keinem in die Suppe spucken. Sie ließen die Schnüre mit dem kleinen runden Bull-Durham-Emblem aus ihren Hemdtaschen hängen, und jeder konnte Zigaretten mit einer Hand drehen. Wenn man einen mit Bull-Durham-Schnüren sah, war man gewarnt. 51
Die Leute redeten von einer zweiten und dritten Hypothek auf ihr Haus. Mein Vater kam eines Abends nach Hause und hatte einen gebrochenen Arm und zwei blaue Augen. Meine Mutter hatte irgendwo einen schlechtbezahlten Job gefunden. Jeder Junge in der Nachbarschaft hatte eine Hose für den Sonntag und eine für werktags. Wenn Schuhe kaputt gingen, gab es keine neuen. In den Kaufhäusern gab es Schusterleim, Sohlen und Absätze für 15 oder 20 Cents. Damit reparierte man sich die Schuhe selbst. Die Eltern von Gene hatten in ihrem Hof einen Hahn und ein paar Hennen, und wenn eine Henne nicht mehr genug Eier legte, kam sie in den Topf. Für mich blieb alles beim alten, in der Schule ebenso wie mit Chuck, Gene und Eddie. Nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder wurden fies. Und selbst die Tiere. Es war, als schauten sie es den Menschen ab. Eines Tages stand ich wieder einmal herum, war mit der Bande über Kreuz, wollte auch gar nicht mehr gut Freund mit ihnen sein. Da kam Gene angerannt. »Hey, Henry, komm mal!« »Was ist?« »Komm schon!« Gene rannte los. Ich hinterher. Wir liefen die Einfahrt der Gibsons hoch und nach hinten auf den Hof. Die Gibsons hatten eine hohe Backsteinmauer um ihren Hof. »Schau! Er hat die Katze da in der Ecke! Er wird sie killen!« In einer Ecke kauerte eine kleine weiße Katze. Sie konnte nicht nach oben über die Mauer, und unten kam sie auch nicht mehr weg. Sie machte einen Buckel und fauchte und zeigte ihre Krallen. Aber sie war viel zu klein. Chucks Bulldogge, Barney, knurrte und schob sich immer näher heran. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie die Katze da hingesetzt und dann den Hund geholt hatten. Ich merkte es an der Art, wie Chuck und Eddie und Gene dreinschauten sie hatten ein schlechtes Gewissen. »Ihr habt das so hingedreht«, sagte ich. »Nein«, sagte Chuck. »Die Katze ist selber schuld. Sie ist hier reingekommen. Soll sie doch sehn, wie sie sich wieder freikämpft.« »Ihr Scheißkerle«, sagte ich. »Ich hasse euch.« »Barney wird diese Katze killen«, sagte Gene. »Barney reißt sie in Fetzen«, sagte Eddie. »Er hat Angst vor ihren Krallen, aber wenn er sie zu packen kriegt, ist sie erledigt.« Barney war eine große braune Bulldogge mit triefenden Lefzen. Er war blöde und fett und hatte dumpfe braune Augen. Er knurrte und schob sich mit gesträubten Nackenhaaren zentimeterweise vorwärts. Am liebsten hätte ich ihn in seinen blöden Arsch getreten, aber ich mußte damit rechnen, daß er mir das Bein abriß. Er war ganz wild darauf, etwas zu killen. Die weiße Katze war noch nicht einmal ausgewachsen. Sie fauchte und drückte sich an die Mauer. Eine wunderschöne Kreatur. So rein. Der Hund schob sich immer näher. Warum brauchten die Burschen so etwas? Hier ging es nicht um Mut, es war nur ein dreckiges abgekartetes Spiel. Wo waren die Erwachsenen? Die Respektspersonen? Wenn es darum ging, mir die Leviten zu lesen, waren sie immer zur Stelle. Wo waren sie jetzt? Ich überlegte, ob ich mir die Katze schnappen und mit ihr wegrennen sollte, aber ich hatte nicht den Nerv dazu. Ich hatte Angst, daß mich der Hund angreifen würde. Daß ich nicht den
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Mut aufbrachte, das Notwendige zu tun, machte mich ganz krank. Ich ekelte mich vor mir selbst. Ich war ein Schwächling. Ich wollte nicht, daß es passierte, und doch konnte ich mich nicht dazu bringen, es zu verhindern. »Chuck«, sagte ich, »bitte laß die Katze gehn. Ruf deinen Hund zurück.« Chuck gab keine Antwort. Er starrte nur das Schauspiel an. Dann sagte er: »Barney, schnapp sie! Pack die Katze!« Barney ging auf sie los. Plötzlich machte die Katze einen Satz. Ein wütendes Fauchen, ein Aufblitzen von weißem Fell und Krallen und Zähnen. Barney wich zurück. Die Katze drückte sich wieder an die Mauer. »Los, Barney! Pack sie!« sagte Chuck noch einmal. »Verdammt nochmal, hör auf!« warnte ich ihn. »Nimm dich in acht, was du zu mir sagst«, kam es von Chuck. Barney schob sich wieder nach vorn. »Ihr Typen habt das so hingedreht«, sagte ich. Hinter uns hörte ich ein Fenster aufgehen und sah mich um. Der alte Mr. Gibson stand an seinem Schlafzimmerfenster und sah zu. Er wollte genau wie die Jungs, daß es die Katze erwischte. Warum nur? Mr. Gibson war unser Briefträger. Er hatte ein falsches Gebiß und eine Frau, die immer im Haus blieb. Sie kam nur heraus, um den Mülleimer auszukippen. Sie trug immer ein Haarnetz auf dem Kopf und lief ständig in Nachthemd, Morgenrock und Hausschuhen herum. Jetzt sah ich, wie Mrs. Gibson in ihrer üblichen Aufmachung dazukam und sich neben ihren Mann stellte. Auch sie wollte sich das Gemetzel nicht entgehen lassen. Der alte Gibson hatte als einer der wenigen Männer in unserer Gegend einen Job, und doch mußte er unbedingt sehen, wie es diese Katze erwischte. Er war genau wie Chuck, Eddie und Gene. Es gab zu viele von dieser Sorte. Die Bulldogge schob sich näher heran. Ich konnte es nicht mit ansehen. Ich schämte mich, daß ich so feige war und diese Katze einfach im Stich ließ. Natürlich war es immer noch möglich, daß sie einen Fluchtversuch unternahm. Aber ich wußte, daß sie das verhindern würden. Diese Katze hatte nicht nur eine Bulldogge gegen sich. Sie hatte es auch noch mit der Menschheit zu tun. Ich drehte mich um und ging weg, aus dem Hof, die Einfahrt nach vorn und die Straße hinunter zum Haus meiner Eltern. Mein Vater stand vor seinem Eigenheim und erwartete mich bereits. »Wo hast du dich herumgetrieben?« wollte er wissen. Ich gab keine Antwort. »Rein mit dir«, sagte er. »Und schau nicht so unglücklich drein, sonst gebe ich dir einen Grund, um wirklich unglücklich zu sein!«
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Ich wechselte auf die Mt. Justin Junior Highschool. Etwa die Hälfte der Jungs von der Delsey Grammar School war da — die größere und härtere Hälfte. Ein weiterer Trupp dieses Kalibers kam aus anderen Schulen dazu. Wir von der siebten Klasse waren größer als die Jungs von der neunten. Im Sportunterricht war es immer ein komisches Bild, denn die meisten von uns waren sogar größer als die Sportlehrer. Zum Appell traten wir in schlampiger Haltung an, mit hängenden Köpfen, eingefallenen Schultern und rausgestreckten Bäuchen. »Menschenskind«, sagte Wagner, unser Sportlehrer, »stellt euch mal gerade hin! Bauch rein und Brust raus!« Keiner rührte sich. Wir waren, wie wir waren, und wir wollten gar nichts anderes sein. Wir kamen alle aus Familien, denen die Wirtschaftskrise zugesetzt hatte, die meisten von uns waren schlecht ernährt, und trotzdem waren wir groß und kräftig geworden. Ich glaube, die wenigsten bekamen so etwas wie Zuwendung von ihren Eltern, aber wir wollten auch gar nicht geliebt und verhätschelt werden. Wir waren ein Witz, doch jeder hütete sich, uns ins Gesicht zu lachen. Es war, als seien wir zu schnell groß geworden, weil wir es satt hatten, Kinder zu sein. Wir hatten keinen Respekt vor den Älteren. Wir waren wie eine Horde von räudigen Tigern. Einem der jüdischen Jungs, Sam Feldmann, wuchsen schwarze Bartstoppeln, und er mußte sich jeden Morgen rasieren. Bis Mittag war sein Kinn schon wieder beinahe schwarz. Er hatte auch jede Menge schwarzer Haare auf der Brust, und seine Achselhöhlen verströmten einen schauerlichen Geruch. Ein anderer sah aus wie Jack Dempsey. Wieder ein anderer, Peter Mangalore, hatte einen Schwanz, der in erschlafftem Zustand gut fünfundzwanzig Zentimeter lang war. Und als wir das erste Mal unter der Dusche standen, stellte sich heraus, daß ich die größten Eier von allen hatte. »Hey! Seht euch doch bloß mal dem seine Klunker an!« »Heiliger Strohsack! Schwanz hat er ja nicht viel — aber diese Klunker!« »Donnerwetter!« Ich weiß nicht, was das mit uns war, aber wir hatten irgend etwas, und wir spürten es. Man sah es an der Art, wie wir gingen und redeten. Wir sagten nie viel, wir machten nur immer Andeutungen, und daß wir alles so selbstverständlich nahmen, machte die anderen wütend auf uns. Nach der Schule spielte unser Team immer Touch-Football gegen die Mannschaften der achten und neunten Klassen. Es war ein ungleicher Kampf. Wir gewannen jedesmal, wir deklassierten sie, und wir machten es mit Stil, fast mühelos. Bei Touch-Football warfen die meisten Teams nur Pässe, doch unsere schickten immer wieder einen Runner los. Dann konnten wir blocken, und unsere Spieler gingen auf die Gegner los und rissen sie zu Boden. Es war nur ein Vorwand, um gewalttätig werden zu können - keiner kümmerte sich darum, was der Runner da vorne machte. Die andere Seite war immer heilfroh, wenn wir einen Spielzug ankündigten, bei dem nur Pässe geworfen wurden. Die Mädchen blieben nach der Schule da und sahen zu. Manche von ihnen gingen bereits mit Jungs von der Oberstufe. Mit räudigen Punks wie uns wollten sie sich nicht abgeben, aber trotzdem blieben sie immer da und sahen dem Team der siebten Klasse zu. Wir waren bekannt. Jeden Tag fanden sich die Girls nach der letzten Stunde auf dem Sportplatz ein und 54
verfolgten unsere Spiele mit großen Augen. Ich war nicht im Team, aber ich stand an der Seitenlinie, rauchte heimlich Zigaretten und tat so, als sei ich einer der Trainer oder würde sonstwie dazugehören. Wir beobachteten die Girls und dachten immer, sie würden uns bald mal ranlassen, doch die meisten von uns mußten sich mit Onanieren begnügen. Onanieren. Ich erinnere mich noch, wie es für mich anfing. Eddie kam eines Morgens vorbei und kratzte an meinem Fenster. »Was ist?« fragte ich ihn. Er hielt ein Reagenzglas hoch, in dem unten etwas Weißes drin war. »Was'n das?« »Saft«, sagte Eddie. »Es ist mein Saft.« »So?« »Ja. Du spuckst einfach in die Hand und fängst an, dein Ding zu reiben. Du kriegst ein richtig gutes Gefühl, und ziemlich bald spritzt dir so weißer Saft vorne raus. Das Zeug nennt sich >Samen<.« »Yeah?« »Yeah.« Eddie verschwand mit seinem Reagenzglas. Ich dachte eine Weile darüber nach und beschloß, es auch mal zu versuchen. Mein Ding wurde steif, und es war ein recht gutes Gefühl. Es fühlte sich immer besser an, ich machte weiter, und es war ein Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte. Dann spritzte mir tatsächlich auch solcher Saft vorne raus. Danach machte ich es dann öfter. Es wurde noch besser, wenn man sich dabei vorstellte, daß man es mit einem Mädchen machte. Eines Tages stand ich wieder mal an der Seitenlinie und sah zu, wie unser Team einen Gegner zur Schnecke machte. Ich paffte heimlich eine Zigarette. Neben mir standen zwei Mädchen und sahen ebenfalls zu. Unsere Jungs sprachen den nächsten Spielzug ab und gingen auf ihre Positionen. Da sah ich unseren Sportlehrer, Curly Wagner, auf mich zukommen. Ich ließ die Zigarette fallen und klatschte in die Hände. »Schmeißt sie auf den Arsch, Jungs!« Wagner kam her, blieb vor mir stehen und starrte mich an. Ich hatte mir inzwischen einen finsteren Gesichtsausdruck zugelegt. »Ich krieg euch noch alle dran!« sagte Wagner. »Und dich ganz besonders!« Ich wandte den Kopf etwas zur Seite, streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick und sah wieder weg. Wagner blieb stehen und starrte mich noch eine Weile an. Dann ging er weg. Das tat mir gut. Es gefiel mir, daß er mich als üblen Burschen ansah. Das kam mir sehr entgegen, denn ich fühlte mich auch so. Ein braver Junge konnte jeder sein. Das erforderte kaum Mumm. Dillinger hatte Mumm. Und Ma Barker war ein Prachtweib. Sie brachte diesen ganzen Jungs bei, wie man mit einer Maschinenpistole umging. Ich wollte nicht wie mein Vater sein. Der tat nur so, als sei er gefährlich. Wenn man es wirklich war, brauchte man sich nicht zu verrenken. Man hatte es einfach. Es tat mir gut, einer von der üblen Sorte zu sein. Streber machten mich krank. Das Mädchen neben mir sagte jetzt: »So was brauchst du dir von Wagner nicht gefallen zu lassen. Oder hast du Angst vor ihm?« Ich drehte mich zu ihr um und sah sie an. Ich starrte sie eine ganze Weile an und regte keinen Muskel. 55
»Was ist denn mit dir los?« fragte sie. Ich wandte mich ab, spuckte auf den Boden und ging weg. Langsam schlurfte ich am Spielfeld entlang, ging aus dem hinteren Tor und machte mich auf den Weg nach Hause. Wagner lief immer in einem grauen Trainingsanzug herum. Er hatte einen deutlichen Bauchansatz. Und ständig fand er etwas an uns auszusetzen. Das einzige, was er uns voraus hatte, war sein Alter. Dauernd gab es irgendeinen, der mich keilte, ohne ein Recht dazu zu haben. Wagner. Mein Vater. Mein Vater und Wagner. Was wollten die? Warum war ich ihnen im Weg?
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Eines Tages hängte sich ein Junge an mich, genau wie David in der Grundschule. Er war klein und dürr und hatte oben auf dem Kopf kaum noch ein Haar. Die Jungs riefen ihn »Baldy«. Mit richtigem Namen hieß er Eli LaCrosse. Sein Name war das einzige, was mir an ihm gefiel. Er hing einfach an mir wie eine Klette. Ich brachte es nicht fertig, ihn wegzujagen. Er war so arm dran wie ein getretener und halb verhungerter Straßenköter. Mir war nicht wohl dabei, ihn am Hals zu haben. Aber ich wußte, wie man sich als Straßenköter fühlt. Also ließ ich ihn eben. Er brachte fast in jedem Satz mindestens einen unanständigen Ausdruck unter, aber das war nur Theater. Er war nicht ruppig. Er war ein Angsthase. Ich war keiner, aber ich war unsicher und durcheinander. Also gaben wir vielleicht doch ein gutes Paar ab. Nach der Schule ging ich jeden Tag mit ihm nach Hause. Außer seinen Eltern wohnte auch noch sein Großvater im Haus. Es war ein kleines Haus, gegenüber von einem kleinen Park. Ich mochte die Gegend, vor allem die großen schattigen Bäume dort. Manche hatten mir schon zu verstehen gegeben, daß ich häßlich sei, deshalb hielt ich mich lieber im Schatten als in der Sonne auf. Auf dem Nachhauseweg hatte mir Baldy einiges von seinem Vater erzählt. Der war Arzt gewesen, ein erfolgreicher Chirurg, aber er hatte seine Lizenz verloren, weil er zu sehr zur Flasche griff. Eines Tages lernte ich den alten Herrn kennen. Er saß in einem Lehnstuhl unter einem Baum. Hockte nur so da. »Dad«, sagte Baldy, »das ist Henry.« »Hallo, Henry.« Ich fühlte mich erinnert an die erste Begegnung mit meinem Großvater, wie er da auf den Stufen vor seinem Haus gestanden hatte. Baldys Vater hatte zwar schwarzes Haar und einen schwarzen Bart, aber seine Augen waren genauso - hell und glänzend, irgendwie eigenartig. Und da war Baldy, der Sohn, und an dem glänzte gar nichts. »Los«, sagte Baldy, »komm mal mit.« Wir stiegen hinunter in den Keller des Hauses. Es war dunkel und feucht, und wir mußten eine Weile stehen bleiben, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann konnte ich eine Reihe von Fässern erkennen. »In jedem von den Fässern ist 'ne andere Sorte Wein drin«, sagte Baldy. »Und jedes hat vorne einen Zapfhahn. Willst du mal probieren?« 56
»Nein.« »Na komm, so'n gottverdammtes Schlückchen kann doch nicht schaden.« »Wozu?« »Du hältst dich doch für 'n verdammt starken Macker?« »Hart genug bin ich.« »Also. Dann probier das Scheißzeug doch mal.« Der kleine Baldy. Wollte meinen Schneid auf die Probe stellen. Na, kein Problem. Ich ging vor einem der Fässer in die Hocke. »Dreh den verfluchten Hahn auf! Mach dein verdammtes Maul auf!« »Gibt es hier irgendwo Spinnen?« »Mach schon! Mach doch, verdammt!« Ich verrenkte den Kopf, hielt den Mund unter den Hahn und drehte ein wenig auf. Eine penetrante Flüssigkeit tröpfelte mir in den Mund. Ich spuckte das Zeug aus. »Jetzt kneif doch nicht! Scheiße! Schluck es runter!« Ich hielt noch einmal den Mund dran und drehte auf. Die penetrante Flüssigkeit lief mir in den Hals, und ich schluckte sie herunter. Ich drehte den Hahn zu und stand auf. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. »So, jetzt trink du mal«, sagte ich zu Baldy. »Aber gern«, sagte er. »Ich hab keinen Schiß!« Er kroch unter das Faß und schluckte eine ordentliche Portion. Nun, so ein kleiner Strolch sollte mich nicht ausstechen. Ich kroch unter das Faß daneben, drehte den Hahn auf und schluckte ebenfalls eine tüchtige Ladung. Als ich wieder aufstand, fühlte ich mich schon ganz gut. »Hey, Baldy«, sagte ich, »das Zeug schmeckt mir.« »Na Scheiße, dann bedien' dich doch.« Ich trank noch etwas. Es schmeckte immer besser. Ich fühlte mich immer besser. »Das Zeug gehört deinem Vater, Baldy. Ich sollte vielleicht noch was übrig lassen.« »Dem ist es egal. Der trinkt nicht mehr.« So wohl war mir noch nie gewesen. Es war besser als Onanieren. Ich machte ein Faß nach dem anderen durch. Es war traumhaft. Warum hatte mir davon noch keiner erzählt? Das hier machte das Leben zu einer reinen Freude. Es machte einen Mann unerschütterlich und unangreifbar. Ich stand auf und sah Baldy an. »Wo ist deine Mutter? Ich werd' deine Mutter pimpern!« »Du Bastard! Bleib ja von meiner Mutter weg, oder ich bring dich um!« »Du weißt, daß du gegen mich keine Chance hast, Baldy.« »Ja.« »Na gut, ich laß deine Mutter in Ruhe.« »Komm, wir gehn wieder, Henry.« »Augenblick. Nur noch einen Schluck ...« Ich duckte mich unter ein Faß und machte einen tiefen Zug. Dann gingen wir zusammen die Kellertreppe hoch. Als wir hinauskamen, saß Baldys Vater noch immer in seinem Lehnstuhl. »Ihr seid im Weinkeller gewesen, wie?« »Ja«, sagte Baldy. »Ihr fangt ein bißchen früh damit an, meint ihr nicht?« Wir gaben keine Antwort. Wir gingen hinüber zum Boulevard und betraten einen Laden, in dem es Kaugummi gab. Wir erstanden mehrere Packungen und stopften uns alles auf einmal in den Mund. Baldy machte sich Gedanken, ob seine Mutter das mit der Weinprobe merken würde. Ich machte mir um gar nichts Gedanken. Tja, dachte ich, während wir auf einer
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Parkbank saßen und kauten, da habe ich etwas gefunden, das wird mir noch sehr helfen. Für sehr lange Zeit... Das Gras im Park wirkte grüner, die Parkbänke wirkten einladender, und sogar die Blumen gaben sich mehr Mühe. Das Zeug war vielleicht nicht gerade das Ideale für einen Chirurgen, aber wenn einer unbedingt Chirurg werden wollte, stimmte sowieso etwas nicht mit ihm.
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Biologie machte uns an der Mt. Justin am meisten Spaß. Wir hatten Mr. Stanhope als Lehrer, einen alten Kerl von etwa 55, dem wir ziemlich auf der Nase herumtanzten. Und wir hatten Lilly Fischman in der Klasse. Die war schon richtig entwickelt, hatte einen enormen Busen und einen prachtvollen Hintern, den sie schlenkerte, wenn sie auf ihren Stöckelschuhen daherging. Sie war einsame Klasse, quatschte mit sämtlichen Jungs und rieb sich dabei an ihnen. In jeder Biologiestunde war es dasselbe. Wir kamen nie dazu, etwas zu lernen. Mr. Stanhope redete ungefähr zehn Minuten, und dann sagte Lilly regelmäßig: »Oh, Mr. Stanhope, lassen Sie uns doch eine Show machen!« »Nein!« »Oooch, Mr. Stanhope!« Sie ging nach vorn zu seinem Pult, beugte sich liebreizend zu ihm herunter und flüsterte etwas. »Oh, naja, meinetwegen ...«, sagte er jedesmal. Und dann fing Lilly an zu singen und ihre Sachen zu schlenkern. Sie eröffnete immer mit »Lullaby of Broadway«, und anschließend brachte sie ihre anderen Nummern. Sie war hinreißend, sie war heiß, sie brannte von innen heraus - und wir auch. Sie besorgte es Stanhope und uns, als sei sie schon eine richtig erwachsene Frau. Es war sagenhaft. Der alte Stanhope saß da und blubberte und sabberte. Wir lachten ihn aus und feuerten Lilly an. Das ging so, bis eines Tages der Direktor hereingestürzt kam. Mr. Lacefield. »Was ist denn hier los?« Stanhope saß nur da und brachte kein Wort heraus. »Der Unterricht ist beendet!« schrie Lacefield. Als wir hinausgingen, sagte er »Und Sie, Miss Fischman, melden sich in meinem Büro!« Wir machten natürlich nie unsere Hausaufgaben, und das ging auch alles gut bis zu dem Tag, als uns Mr. Stanhope die erste Prüfung verpaßte. »Scheiße«, entfuhr es Peter Mangalore, »was machen wir denn jetzt?« Peter war der mit den fünfundzwanzig Zentimetern. In erschlafftem Zustand. »Du wirst im Leben nie einen Finger krumm machen müssen«, sagte der Bursche, der wie Jack Dempsey aussah. »Wir haben hier ein Problem.« »Vielleicht sollten wir die Schule anzünden«, meinte Red Kirkpatrick. »Scheiße«, sagte einer aus der hintersten Reihe. »Jedesmal, wenn ich mit 'ner Sechs nach Hause komme, reißt mir mein Alter 'n Fingernagel raus.« Wir starrten auf unsere Prüfungsbogen. Ich dachte an meinen Vater. Dann dachte ich an Lilly Fischman. Lilly, dachte ich, du bist ein verfluchtes Luder. Du bist eine Hure. Mit deinem aufreizenden Gesinge und Gewackel bringst du uns noch in Teufels Küche ... Stanhope musterte uns. 58
»Warum schreibt denn keiner? Warum beantwortet keiner die Fragen? Haben alle einen Bleistift?« »Jaja, wir haben alle einen Bleistift«, sagte einer der Jungs. Lilly saß in der ersten Reihe, direkt vor dem Lehrerpult. Wir sahen, wie sie ihr Biologiebuch aufschlug und die Antwort auf die erste Frage einfach abschrieb. Das machte sofort Schule. Wir alle schlugen unsere Bücher auf. Stanhope saß da und starrte uns entgeistert an. Er wußte nicht, was er machen sollte. Dann fing er an, unartikulierte Laute auszustoßen. Nach fünf Minuten sprang er auf und lief im Mittelgang auf und ab. »Was macht ihr denn da? Weg mit den Büchern! Klappt die Bücher zu!« Jeder, an dem er vorbeikam, klappte sein Buch zu, um es im nächsten Augenblick wieder aufzuschlagen. Baldy saß neben mir. »Ist das ein Arschloch«, sagte er lachend. »Oh, was 'n Arschlochl« Stanhope tat mir ein bißchen leid, aber schließlich ging es hier um meine Haut. Er stellte sich hinter sein Pult und brüllte: »Entweder Sie klappen augenblicklich Ihre Bücher zu, oder ich lasse die ganze Klasse durchfallen!« Da stand Lilly Fischman auf. Sie zog ihren Rock hoch, stellte das eine Bein auf die Bank und zupfte an ihrem Seidenstrumpf herum. Sie zurrte ihn am Strumpfgürtel fest, und wir sahen ein weißes Stück Schenkel aufblitzen. Dann machte sie dasselbe mit dem anderen Bein. So etwas war uns noch nie geboten worden, auch dem alten Stanhope nicht. Lilly setzte sich wieder, und wir alle beendeten die Prüfung mit aufgeschlagenen Büchern. Stanhope saß restlos geschlagen hinter seinem Pult. Ein weiterer Lehrer, dem wir auf der Nase herumtanzten, war Pop Farnsworth im Werkunterricht. Es begann gleich am ersten Tag. »Hier«, sagte er, »lernen wir durch Praxis. Wir wollen gleich damit anfangen. Jeder von Ihnen wird im Laufe des Semesters einen Motor auseinanderbauen und wieder zusammensetzen, bis er reibungslos läuft. An der Wand hier hängen Pläne — für den Fall, daß Ihnen etwas unklar ist. Wir werden auch Filme zeigen, in denen Sie sehen können, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert. Doch zunächst beginnen Sie bitte mit dem Auseinanderbauen der Motoren. Die nötigen Werkzeuge liegen auf Ihren Werkbänken.« »Hey, Pop, wie war's, wenn wir uns erst mal die Filme ansehen?« fragte einer. »Ich habe gesagt, Sie sollen mit Ihrer Arbeit beginnen. « Ich weiß nicht, woher sie all diese Motoren hatten. Sie waren rostig und voll von schwarzer Schmiere. Sie sahen richtig abschreckend aus. »Scheiße«, sagte einer, »das Ding hier ist ja total eingerostet!« Wir beugten uns über unsere Motoren. Die meisten Jungs griffen zu einem Schraubenschlüssel. Red Kirk-patrick nahm einen Schraubenzieher, kratzte oben auf seinem Motor entlang und machte eine zwei Fuß lange Rille in die schwarze Schmiere. »Kommen Sie schon, Pop - wie wär's mit einem Film? Wir haben grade Sport gehabt. Uns hängt der Arsch bis in die Kniekehlen. Wagner hat uns rumhüpfen lassen wie 'n Haufen Frösche.« »Sie beginnen mit Ihrer Arbeit, wie ich es Ihnen gesagt habe!« Wir fingen an. Es war sinnlos. Es war schlimmer als Musikunterricht. Man hörte das Scheppern von Schraubenschlüsseln und schwere Atemgeräusche.
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»VERFLUCHT!« brüllte Harry Henderson. »Ich hab mir den ganzen gottverdammten Knöchel aufgeschürft! Das ist ja die reinste Sklavenarbeit!« Er wickelte sich vorsichtig ein Taschentuch um die rechte Hand und sah zu, wie das Blut durchkam. »Scheiße«, fluchte er vor sich hin. Wir anderen mühten uns weiter ab. »Lieber würd' ich meinen Schädel einem Elefanten ins Loch stecken«, sagte Red Kirkpatrick. Jack Dempsey warf seinen Schraubenschlüssel auf den Boden. »Ich hör auf«, sagte er. »Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, aber ich hör auf. Ihr könnt mich totschlagen, oder ihr könnt mir den Sack abschneiden - aber ich mach hier keinen Handgriff mehr.« Er ging rüber, lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme und starrte auf seine Schuhe herunter. Unsere Lage war wirklich grauenhaft. Es waren keine Mädchen da. Durch die offene Tür konnte man hinaus auf den Schulhof sehen. Alles so frei und sonnig und unbeschwert da draußen. Und wir beugten uns hier über idiotische Motoren, die nicht einmal in Autos eingebaut waren. Lauter nutzloser Krempel. Nichts als ein Haufen blödes Eisen. Eine blödsinnige Knochenarbeit. Wir brauchten etwas, das uns von diesem Schicksal erlöste. Unser Leben war eh schon bescheuert genug. Wir hatten gehört, daß sich Pop leicht herumkriegen ließ, aber das schien nicht zu stimmen. Er war ein gigantischer Schweinepriester mit einem Schmerbauch, steckte in einer verschmierten Kluft, hatte Schmiere am Kinn, und die Haare hingen ihm über die Augen. Arnie Whitechapel warf seinen Schraubenschlüssel hin und ging mit einem breiten Grinsen nach vorn zu Mr. Farnsworth. »Hey, Pop, was soll dieser Quatsch?« »Gehn Sie zurück zu Ihrem Motor, Whitechapel!« »Ach, kommen Sie, Pop. Das ist doch Scheiße!« Arnie war zwei Jahre älter als wir. Er hatte einige Jahre in einer Besserungsanstalt verbracht. Doch trotz des Altersunterschieds war er kleiner als wir anderen. Er hatte rabenschwarzes Haar, das er mit Hilfe von reichlich Brillantine straff nach hinten striegelte. Im Klo stand er immer vor dem Spiegel und drückte sich die Pickel aus. Er sagte Sauereien zu den Mädchen und hatte immer Pariser der Marke »Sheik« bei sich. »Ich weiß 'n guten Witz für Sie, Pop.« »So? Zurück an Ihren Motor, Whitechapel.« »Er ist wirklich Spitze, Pop.« Wir standen da und beobachteten, wie er Pop einen dreckigen Witz erzählte. Die beiden steckten die Köpfe zusammen. Pop fing an zu lachen. Sein gewaltiger Leib krümmte sich vor Lachen. Er mußte sich den Bauch halten. »Ach Gott, ach Gott! Meine Güte! Ach herrje!« Dann brach er ab. »Okay, Arnie. Zurück an Ihre Maschine!« »Nein, warten Sie, Pop - ich weiß noch einen!« »Ja?« »Ja. Passen Sie auf ...« Wir alle verließen nun unsere Werkbänke, gingen nach vorn, bildeten einen Kreis um die beiden und hörten zu, wie Arnie den nächsten Witz erzählte. Als er zu Ende war, bog sich Pop wieder vor Lachen. »Heiliger Bimbam! Ach Gott, ach Gott...!« »Ich weiß nochmal einen, Pop. Da fährt dieser Mann in seinem Auto durch die Wüste. Er sieht einen Typ, der hüpft da neben der Straße lang, splitternackt, an Händen und Füßen gefesselt. 60
Der Mann hält und fragt den Typ: >Hey, Sportsfreund, was'n passiert?< Und der Typ sagt: >Na, ich bin hier langgefahren und hab diesen Bastard gesehn, der den Daumen raushielt. Ich halt an, und da hat er plötzlich 'ne Knarre in der Hand. Er nimmt mir die Kleider weg und fesselt mich. Und dann hat mich der dreckige Bastard in den Arsch gepimpert!< >Ach ja?< sagt der Mann. >Ja, das hat er getan, dieser dreckige Bastard !< sagt der Typ. >Tja<, sagt der Mann und zieht sich vorne den Reißverschluß auf, >ich schätze, das ist heute einfach nicht dein Glückstag!<« Pop krümmte sich wieder vor Lachen. »Oh nein! OH! NEIN!! OH ... HEILIGER ... BIMBAM! Ach Gott, ach Gott...!« Endlich kriegte er sich wieder ein. »Gottverdammich«, sagte er leise. »Ach du meine Güte ...« »Wie wär's mit'm Film, Pop?« »Na schön. Meinetwegen.« Jemand machte die Tür zu, Pop zog eine verdreckte Leinwand herunter und knipste den Vorführapparat an. Es war ein lausiger Film, aber immer noch besser als die Plackerei an diesen Motoren. Das Kraftstoffgemisch wurde entzündet von den Funken der Zündkerze und die Explosion traf den Kolben und drückte ihn herunter und das drehte die Kurbelwelle und die Ventile gingen auf und zu und die Kolben gingen rauf und runter und veranlaßten die Kurbelwelle zu weiteren Drehungen. Nicht besonders interessant, aber es war angenehm kühl im Raum, und man konnte sich zurücklehnen und denken, was man wollte. Man brauchte sich nicht die Knöchel aufzuschürfen an diesem blöden Schrott. Wir kamen nie dazu, die Motoren auseinanderzunehmen. Geschweige denn, sie wieder zusammenzubauen. Ich weiß nicht, wie oft wir uns denselben Film ansahen. Whitechapel erzählte einen Witz nach dem anderen, und wir lachten uns dumm und dämlich, obwohl die meisten Witze ziemlich schauderhaft waren. Aber Pop Farnsworth fand sie toll und krümmte sich jedesmal vor Lachen - »Heiliger Bimbam! Oh nein! Oh, nein nein nein!! ...« Er war wirklich ganz in Ordnung. Wir mochten ihn.
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Miss Gredis, die wir in Englisch hatten, war mit Abstand die schärfste Lehrerin. Sie war eine Blondine und hatte eine lange spitze Nase. Daß die Nase nicht so toll war, vergaß man schnell, wenn man sich den Rest von ihr ansah. Sie trug immer enge Kleider mit tiefem Ausschnitt, schwarze Stöckelschuhe und Seidenstrümpfe. Sie hatte märchenhaft lange Beine und bewegte sich wie eine Schlange. Hinter dem Lehrerpult saß sie nur, bis sie die Anwesenheitsliste abgehakt hatte. Dann setzte sie sich auf eine Bank in der ersten Reihe, die zu diesem Zweck immer frei blieb. Da oben thronte sie, die Beine übereinander und den Rock hoch. Noch nie hatten wir solche Waden, solche Beine, solche Schenkel gesehen. Na gut, wir hatten Lilly Fischman, aber die war immer noch ein Mädchen, während Miss Gredis in voller Blüte stand. Und jeden Tag durften wir unsere Augen eine ganze Stunde an ihr weiden. Es gab keinen Burschen in dieser Klasse, dem es nicht leid tat, wenn die Glocke schrillte und die Englischstunde zu Ende war. Wir redeten oft von Miss Gredis. »Was meint ihr, ob die scharf 61
drauf ist?« »Nee, sie will uns bloß reizen. Sie weiß, daß sie uns damit wahnsinnig macht. Das reicht ihr schon. Das ist alles, was sie will.« »Ich weiß, wo sie wohnt. Ich geh da abends mal hin.« »Das traust du dich doch nie!« »Was?? Ich fick sie um den Verstand! Sie legt's ja richtig drauf an!« »Ich kenn einen aus der achten Klasse, der hat gesagt, er ist abends mal zu ihr gegangen.« »Yeah? Und was ist passiert?« »Sie ist im Nachthemd an die Tür gekommen, und die Titten sind ihr praktisch rausgehangen. Der Typ hat ihr gesagt, er hätte die Hausaufgaben vergessen. Sie hat ihn reingebeten.« »Ehrlich?« »Ja. Aber es ist nichts passiert. Sie hat ihm 'ne Tasse Tee gemacht und ihm die Hausaufgaben gesagt, und er ist wieder gegangen.« »Wenn sie mich reingelassen hätte, da war aber was fällig gewesen!« »So? Was hättest du denn gemacht?« »Erst hätt ich sie von hinten gepimpert, dann hätt ich ihr die Pussy kahlgefressen, dann hätt ich sie zwischen die Titten gefickt, und dann hätt ich sie gezwungen, mir einen runterzulutschen.« »Ach nee. Du träumst ja. Hast du's überhaupt schon mal gemacht?« »Shit, klar hab ich's schon gemacht. Schon öfter.« »Und wie war's?« »Beschissen.« »Ist dir nicht gekommen, wie?« »Von wegen. Ich hab alles verkleistert. Ich hab gedacht, es hört nicht mehr auf.« »Hast dir die ganze Hand verkleistert, was?« »Ha, ha ha ha!« »Ah, ha ha ha ha!« »Ha ha!« »Die ganze Hand voll, was?« »Ach leck mich doch!« »Ich glaub nicht, daß es einer von uns schon mal gemacht hat«, sagte einer der Jungs. Ein verlegenes Schweigen trat ein. »Quatsch, ich hab's schon gemacht, als ich sieben war.« »Das ist doch gar nichts! Ich schon mit vier!« »Sicher, Red, trag nur richtig dick auf.« »Ich hab diese Kleine da unterm Haus vernascht.« »Ist er dir steif geworden?« »Klar.« »Ist dir's auch gekommen?« »Glaub schon. Irgendwas ist rausgespritzt.« »Oh sicher. Du hast ihr reingepinkelt, Red.« »Von wegen!« »Wie hieß sie denn?«
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»Betty Ann.« »Scheiße«, sagte der Bursche, der behauptet hatte, er habe es schon im Alter von sieben Jahren gemacht. »Meine hieß auch Betty Ann.« »So eine Hure«, sagte Red. An einem prächtigen Frühlingstag hatten wir wieder einmal Englisch, und Miss Gredis saß wie immer auf der Schulbank in der ersten Reihe. Diesmal hatte sie den Rock besonders weit oben. Es war zum Fürchten schön. Märchenhaft. Und verdorben. Diese Beine, diese Schenkel. Und so dicht vor uns, dieses Wunder. Es war nicht zu fassen. Baldy saß auf meiner Höhe, auf der anderen Seite des Gangs. Er beugte sich herüber und stupste mich ans Bein: »Heute bricht sie sämtliche Rekorde«, flüsterte er. »Schau doch! Sieh dir das an!« »Menschenskind«, sagte ich, »sei still, oder sie zieht sich den Rock wieder runter!« Baldy setzte sich wieder gerade, und ich wartete einige bange Sekunden. Nein, wir hatten Miss Gredis nicht verschreckt. Ihr Rock blieb oben. Es war wirklich ein denkwürdiger Tag. Kein Bursche in der Klasse, der nicht einen stehen hatte, und Miss Gredis hielt unbeirrt ihren Unterricht. Ich bin sicher, daß keiner von uns Jungs auch nur ein Wort mitbekam. Die Mädchen allerdings warfen einander Blicke zu, als wollten sie sagen: Dieses Luder treibt es zu weit. Nun, uns konnte sie es gar nicht weit genug treiben. Diese Schenkel. Fast war es, als habe sie da nicht einmal eine Möse dazwischen, sondern etwas, das noch viel besser war. Die Sonne schien durchs Fenster herein, ergoß sich über diese Beine und Schenkel, spielte schillernd auf diesen warmen straffsitzenden Seidenstrümpfen. Der Rock war nun schon so hoch, daß wir uns inständig danach sehnten, einen Blick auf ein Stück Slip zu erhaschen, einen Blick auf irgend etwas! Herrgottnochmal, es war, als gehe die Welt unter und beginne von neuem, es war das Höchste, was man sich vorstellen konnte, ob wirklich oder erträumt - der Sonnenglanz auf diesen Schenkeln und dieser straffen Seide, so glatt, so warm, so lockend. Der ganze Raum pulsierte. Es verschwamm uns alles vor den Augen und wurde wieder klar, und Miss Gredis saß da und redete weiter, als sei nichts. Das machte es so gut und so schrecklich zugleich: Daß sie sich einfach benahm, als sei alles ganz normal. Ich sah einen Augenblick auf meine Tischplatte, und die Maserung im Holz begann zu kreisen, so daß es aussah wie fluoreszierende Strudel. Dann aber sah ich rasch wieder nach vorn und ärgerte mich, daß ich sekundenlang nicht hingesehen und womöglich etwas verpaßt hatte. Plötzlich hörte ich von hinten ein dumpfes Geräusch : Fump, fump, fump, fump ... Richard Waite. Er saß in der hintersten Bank. Er hatte einen zu großen Schädel mit gewaltigen Ohren und dicken, wulstigen, monströsen Lippen. In seinen fast farblosen Augen spiegelte sich weder Interesse noch Intelligenz. Er hatte große Füße, und sein Mund stand immer offen. Wenn er etwas sagte, kamen die Worte einzeln und zögernd heraus, mit langen Pausen dazwischen. Er war nicht einmal ein Schwächling, er war noch weniger. Niemand redete je ein Wort mit ihm. Niemand wußte, was er in unserer Schule zu suchen hatte. Er machte den Eindruck, als fehle es ihm am Nötigsten. Er trug saubere Sachen, aber hinten hing ihm immer das Hemd heraus, und ständig fehlten ein oder zwei Knöpfe am Hemd oder an der Hose. Richard Waite. Er wohnte irgendwo und kam jeden Tag zur Schule. Fump, fump, fump, fump, fump ... Richard Waite zollte den Schenkeln von Miss Gredis seinen Tribut, indem er sich einen runterholte. Er hatte den Punkt erreicht, wo er sich nicht mehr beherrschen konnte. Vielleicht 63
wußte er auch einfach nicht, was sich schickte und was nicht. Alle hörten ihn jetzt. Auch die Mädchen. Auch Miss Gredis. Wir wußten alle, was er da machte. Er war so entsetzlich dämlich, daß er nicht einmal soviel Verstand hatte, es leise zu tun. Er kam immer mehr in Fahrt. Und er wurde immer lauter. Seine geballte Faust stieß von unten gegen die Platte seines Pults. Fump, fump, fump, fump ... Wir sahen Miss Gredis an. Was würde sie tun? Sie unterbrach ihren Vortrag. Zögerte. Ihre Blicke huschten durchs Klassenzimmer. Sie lächelte, verlor keinen Augenblick die Fassung und redete weiter: »Ich glaube, die englische Sprache ist wohl die ausdrucksvollste und mitreißendste Form menschlicher Kommunikation. Wir sollten also schon einmal dankbar sein, daß wir über diese einzigartige Gabe einer großen Sprache verfügen. Und wenn wir sie mißbrauchen, tun wir es zu unserem eigenen Schaden. Laßt uns also unser Erbe annehmen und seinen Geheimnissen lauschen - was uns aber nicht hindern soll, die Möglichkeiten unserer Sprache zu erforschen und Neues in ihr zu wagen ...« Fump, fump, fump, fump ... »Wir müssen uns von der britischen Form unserer gemeinsamen Muttersprache lösen. Nichts gegen den dortigen Sprachgebrauch, aber unser amerikanisches Englisch enthält manch tiefen Quell, der noch ungehobene Schätze birgt. Da gibt es noch viel zu entdecken. Wenn die richtigen Umstände zusammentreffen und von talentierten Autoren genutzt werden, wird es eines Tages zu einer wahren literarischen Explosion kommen ...« FUMP, FUMP, FUMP, FUMP ... Tja. Richard Waite war einer der wenigen, mit denen wir nie ein Wort redeten. Eigentlich hatten wir Angst vor ihm. Er war nicht jemand, den man verprügeln konnte, denn bei einem wie ihm hätte man sich anschließend nicht besser gefühlt. Man wollte nur möglichst großen Abstand zu ihm halten, man wollte ihn gar nicht ansehen, nicht diese großen Lippen sehen müssen, diesen unförmigen Mund, der aussah wie das Maul eines überfahrenen Froschs. Man ging Richard Waite aus dem Weg, weil man ihn nicht besiegen konnte. Wir warteten und warteten, während Miss Gredis sich endlos verbreitete über die Vorzüge der amerikanischen Kultur gegenüber der britischen. Wir warteten, und Richard Waite hörte und hörte nicht auf. Seine Faust stieß von unten gegen die Platte des Pults, die Mädchen warfen sich verstohlene Blicke zu, und wir Jungs fragten uns, warum wir so ein Arschloch bei uns in der Klasse haben mußten. Er würde uns alles verderben. Ein einsames Arschloch würde dafür sorgen, daß sich Miss Gredis den Rock für immer nach unten zog. FUMP, FUMP, FUMP, FUMP ... Endlich hörte es auf. Richard saß da. Er war fertig. Wir sahen unauffällig zu ihm nach hinten. Er wirkte nicht anders als sonst. Hatte er seinen Saft auf dem Schoß? Oder hatte er ihn in der Hand? Die Glocke schrillte. Die Englischstunde war vorüber. Von da an passierte es nun regelmäßig. Richard Waite holte sich einen runter, und Miss Gredis saß da vorne auf dem Pult in der ersten Reihe und hatte die Beine übereinander. Wir Jungs fanden uns mit der Situation ab. Nach einer Weile amüsierte es uns sogar. Die Mädchen fanden sich auch damit ab, aber es gefiel ihnen gar nicht. Vor allem Lilly Fischman störte es: Sie war nun fast vergessen.
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Abgesehen von Richard Waite gab es für mich noch ein weiteres Problem in dieser Klasse: Harry Waiden. Die Mädchen fanden Harry Waiden toll. Er hatte lange goldene Locken und war immer seltsam affig gekleidet. Er wirkte wie ein Dandy aus dem 18. Jahrhundert mit seinen seltsamen Farbkombinationen - dunkelgrün, dunkelblau -, ich fragte mich, wo seine Eltern nur all die Sachen auftrieben. Er saß immer ganz still auf seinem Platz und hörte aufmerksam zu, als verstehe er alles. »Er ist ein Genie«, tuschelten die Mädchen untereinander. Mir sah er nach gar nichts aus. Ich verstand nicht, warum die ruppigen Burschen in der Klasse nie über ihn herfielen. Wie konnte der nur so leicht davonkommen? Eines Tages, als er mir im Flur über den Weg lief, hielt ich ihn an. »Ich finde nicht, daß du irgendwas los hast«, sagte ich. »Wieso denken alle, du wärst 'ne heiße Nummer?« Waiden warf einen Blick über meine linke Schulter, und als ich nach hinten sah, schlüpfte er an mir vorbei, als sei ich eine Kreatur aus der Gosse, und im nächsten Augenblick saß er auf seinem Platz im Klassenzimmer. Fast jeden Tag war es dasselbe. Miss Gredis zeigte alles her, und Richard fummelte unter seinem Pult, und dieser Waiden saß auf seinem Platz, sagte keinen Ton und führte sich auf, als sei er ein Genie. Ich wurde es langsam leid. Schließlich fragte ich mal einige von den Jungs. »Sagt mal, denkt ihr wirklich, Harry Waiden ist ein Genie? Er sitzt bloß in seinen zickigen Kleidern rum und sagt nichts. Was beweist das? Das könnte jeder von uns auch.« Sie gaben mir keine Antwort. Ich konnte nicht verstehen, was sie an diesem öden Kerl fanden. Und es wurde noch schlimmer. Es wurde herumerzählt, daß Harry Waiden jeden Abend zu Miss Gredis nach Hause ging, daß er ihr Lieblingsschüler sei, und daß sie es miteinander trieben. Das machte mich nun richtig krank. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er vorsichtig aus seinem empfindlichen blaugrünen Anzug stieg, ihn ordentlich über einen Stuhl hängte, dann seine orangefarbene Satin-Unterhose abstreifte und unter die Bettdecke kroch, wo Miss Gredis sein goldenes Köpfchen an ihre Schulter kuschelte und seine Löckchen zwirbelte und auch noch manches andere an ihm... Die Mädchen in der Klasse, die immer alles zu wissen schienen, tuschelten ständig darüber. Sie mochten zwar Miss Gredis nicht besonders, aber sie fanden, daß es ganz erklärlich und in Ordnung war, denn Harry Waiden war doch so ein zerbrechliches Genie und brauchte soviel Zuwendung, wie er nur irgend kriegen konnte. Ich paßte Harry Waiden erneut auf dem Korridor ab. »Dir ramponier ich den Arsch, du Schnösel! Du kannst mir nichts vormachen!« Harry sah mich an. Dann sah er mir verdutzt über die Schulter und zeigte irgendwohin und sagte: »Was ist denn das da?« Ich sah über die Schulter. Als ich mich wieder umdrehte, war er weg. Er saß im Klassenzimmer, umgeben von den Girls, die ihn vergötterten und für ein Genie hielten. Und weiter wurde davon geflüstert, daß Harry Waiden angeblich jede Nacht in den Armen von Miss Gredis verbrachte. An manchen Tagen erschien er überhaupt nicht zum Unterricht. Für mich waren das die besten Tage, denn da hatte ich es nur mit dem Wichser da hinten zu tun und nicht auch noch mit dem goldenen Lockenköpfchen und seiner abgöttischen Verehrung durch all diese kleinen Mädchen mit ihren Röcken und Pullis und gestärkten Baumwollkleidern. Wenn Harry nicht da war, tuschelten sie immer: »Er ist einfach zu zart und empfindlich ...« 65
Und Red Kirkpatrick sagte jedesmal: »Die fickt ihn noch zu Tode.« Eines Nachmittags kam ich ins Klassenzimmer, und der Platz von Harry Waiden war leer. Ich sagte mir, daß er mal wieder ausspannte, wie gewöhnlich. Dann kam die Nachricht durch, von Bank zu Bank. Ich war immer der letzte, der etwas erfuhr. Endlich kam die Botschaft auch zu mir durch: Harry Waiden hatte sich aufgehängt. In der letzten Nacht. Miss Gredis wußte es noch nicht. Ich sah hinüber zu seinem Platz. Da würde er nun nie mehr sitzen. All diese farbenprächtigen Klamotten - pfft. Miss Gredis ging die Anwesenheitsliste durch. Dann setzte sie sich vorne auf die Bank und schlug die Beine übereinander. Heute waren ihre Seidenstrümpfe heller als je zuvor. Ihr Rock war ihr an den Schenkeln hoch hinaufgerutscht. »Unsere amerikanische Kultur«, begann sie, »ist zu Großem bestimmt. Die englische Sprache, heute noch so beengt durch Regelwerk und Konvention, wird neu erfunden und ausgestaltet werden. Unsere Schriftsteller werden eines Tages etwas schreiben, das ich einmal als Americanese bezeichnen möchte ...« Ihre Strümpfe waren beinahe fleischfarben. Es war, als habe sie gar keine an, als sitze sie nackt vor uns. Daß es nur diesen Anschein hatte, machte alles noch besser als sonst. »Mehr und mehr werden wir unsere eigenen Wahrheiten entdecken und unsere eigene Art zu reden, und diese neue Stimme wird unbeeinträchtigt sein von alten historischen Gewohnheiten und Gebräuchen, von alten überlebten Erwartungen und Träumen ...« Fump, fump, fump, fump ...
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Curly Wagner nahm sich Morris Moscowitz vor. Es war nach der Schule, und acht oder zehn von uns Jungs hatten davon gehört und gingen hinter die Turnhalle, um den Kampf anzusehen. Wagner verkündete die Regeln: »Also wir schlagen uns, bis einer schreit, daß er aufgibt. « »Mir recht«, sagte Morris. Morris war ein hochgewachsener dürrer Bursche, ein bißchen dumm, aber er sagte nie viel und ließ einen in Ruhe. Wagner sah zu mir herüber. »Und wenn ich mit dem hier fertig bin, nehm ich dich ran!« »Mich, Trainer?« »Ja, dich, Chinaski!« Ich grinste ihn höhnisch an. Ich werde euch Burschen Respekt beibringen, verdammt nochmal, und wenn ich jeden einzelnen von euch verprügeln muß!« Wagner war ein rauflustiger Mensch. Er trainierte immer am Barren oder machte Überschläge auf der Matte oder rannte um den Sportplatz. Er stelzte arrogant durch die Gegend, aber seinen Bauchansatz hatte er nach wie vor. Mit Vorliebe baute er sich vor einem auf und starrte einen an, als sei man ein Haufen Scheiße. Ich wußte nicht, was ihn an uns störte. Wir machten ihn offenbar unsicher. Ich glaube, er dachte, wir würden die ganzen Girls ficken und er müßte sich deshalb unangenehme Gedanken machen. 66
Sie nahmen Aufstellung. Wagner hatte ein paar gute Bewegungen drauf. Er eierte hin und her, duckte ab, zeigte Beinarbeit, ging ran und wieder auf Distanz und gab zischende Laute von sich. Er war beeindruckend. Er erwischte Moscowitz mit drei linken Geraden. Moscowitz stand einfach da und ließ die Arme hängen. Er hatte keine Ahnung vom Boxen. Dann knallte ihm Wagner eine Rechte ans Kinn. »Scheiße!« sagte Morris und schlug einen Schwinger, unter dem Wagner sich wegduckte. Wagner konterte und verpaßte Morris eine Links-Rechts-Kombination ins Gesicht. Morris blutete aus der Nase. »Scheiße!« sagte er wieder. Dann legte er los. Und traf. Man hörte die Schläge richtig an Wagners Schädel knallen. Wagner versuchte zu kontern, doch seine Schläge hatten einfach nicht soviel Wucht und Wildheit wie die von Moscowitz. »Leck mich am Ärmel! Mach ihn fertig, Morrie!« Moscowitz war der geborene Puncher. Er verstaute einen linken Haken im Bauchansatz seines Gegners. Wagner schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Sein Gesicht war zerschunden und blutig. Er hatte das Kinn auf der Brust und sah sehr elend aus. »Ich gebe auf«, sagte er. Wir ließen ihn hinter der Turnhalle und gingen mit Morris Moscowitz weg. Er war unser neuer Held. »Shit, Morrie, du solltest Profi werden!« »Ach nee, ich bin doch erst dreizehn.« Wir stellten uns auf die Stufen, die zum Werkraum hinunterführten. Jemand steckte zwei oder drei Zigaretten an und ließ sie herumgehen. »Was hat dieser Mensch bloß gegen uns?« fragte Morris. »Ach Gott, Morrie, kapierst du denn nicht? Er ist neidisch! Er denkt, wir ficken die ganzen Weiber!« »Was ? Ich hab noch nichtmal mit einer geknutscht.« »Ehrlich, Morrie?« »Ehrlich.« »Du solltest mal 'n Trockenfick probieren, Morrie. Das ist sagenhaft gut.« Wir sahen Wagner vorbeikommen. Er tupfte sich das Gesicht mit seinem Taschentuch ab. »Hey, Trainer!« schrie einer der Jungs. »Wie wär's mit 'ner Revanche?« Er blieb stehen und sah zu uns herüber. »Macht diese Zigaretten aus!« »Ah nee, Trainer, wir qualmen doch so gern!« »Kommen Sie doch her und sehn Sie mal, ob Sie uns dazu kriegen, daß wir unsre Zigaretten ausmachen!« »Yeah, kommen Sie, Trainer!« Wagner starrte uns an. »Mit euch bin ich noch lange nicht fertig! Ich kriege jeden von euch dran! So oder so!« »Wie wollen Sie das machen, Trainer? Sieht nicht so aus, als hätten Sie viel drauf!« »Yeah, Trainer, wie woll'n Sie das machen?« Er ging über den Platz zu seinem Wagen. Er tat mir ein bißchen leid. Wenn sich einer so ruppig aufführte, hätte er auch das Zeug dazu haben sollen, um sich durchzusetzen. »Er denkt wahrscheinlich, bis wir hier unseren Abschluß machen, gibt's in der ganzen Schule keine Jungfrau mehr«, sagte einer der Jungs. 67
»Ich glaube«, sagte ein anderer, »dem hat jemand ins Ohr gewichst, und seitdem hat er nur noch Saft im Hirn.« Wir lösten unseren Stehkonvent auf und gingen nach Hause. Es war ein recht guter Tag gewesen.
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Meine Mutter ging jeden Morgen zu ihrem schlechtbezahlten Job, und mein Vater, der keinen Job hatte, ging auch jeden Morgen weg. Zwar waren die meisten Nachbarn arbeitslos, aber sie sollten nicht merken, daß er genauso dran war. Also stieg er jeden Morgen zur gleichen Zeit in sein Auto und ratterte los, als fahre er zur Arbeit, und jeden Abend kam er exakt zur gleichen Zeit zurück. Mir war das sehr recht, denn so hatte ich das Haus für mich allein. Sie schlossen zwar alles ab, aber ich wußte schon, wie ich reinkam. Die Tür mit dem Fliegengitter an der hinteren Veranda hatte innen einen Haken, den ich mit einem Stück Pappe hochheben konnte. Die eigentliche Tür war von innen abgeschlossen, und der Schlüssel steckte. Ich schob eine Zeitung unten durch, stocherte den Schlüssel heraus, bis er drinnen herunterfiel, und zog ihn dann mit der Zeitung heraus. Ich schloß auf und ging rein. Wenn ich das Haus wieder verließ, hängte ich die Tür mit dem Fliegengitter ein, verschloß den Hintereingang von innen und ließ den Schlüssel stecken. Dann ging ich vorn raus und stellte das Türschloß so, daß es fest einrastete, wenn ich die Tür zumachte. Es gefiel mir, so allein im Haus. Eines Tages machte ich mal wieder eines meiner Spiele: Luft anhalten. Auf dem Kaminsims stand eine Uhr, die einen Sekundenzeiger hatte, und davor stellte ich mich oft hin, um zu sehen, wie lange ich den Atem anhalten konnte. Jedesmal übertraf ich meinen alten Rekord. Ich stand ziemliche Qualen durch, aber ich war jedesmal stolz, wenn ich meinen Rekord um ein paar Sekunden verbessert hatte. Dieses Mal verbesserte ich mich um volle fünf Sekunden. Als ich mich wieder erholt hatte, ging ich ans Fenster zur Straße. Es war ein breites Fenster mit roten Vorhängen. Ich sah durch den Spalt hinaus — und erstarrte. Direkt gegenüber war die Veranda der Andersens. Mrs. Anderson saß auf der obersten Stufe ihrer Veranda, und ich konnte ihr glatt unters Kleid sehen. Sie war ungefähr 23 und hatte sehr edle Beine. Ich konnte ihr fast ganz bis rauf sehen. Da fiel mir der Feldstecher meines Vaters ein, der auf dem obersten Regal des Schranks im Schlafzimmer lag. Ich rannte rein und holte ihn, lief wieder nach vorn, ging vor dem Fenster in die Hocke und stellte die Schärfe auf Mrs. Andersons Beine ein. Das brachte mich direkt zu ihr hin. Und es war anders als bei Miss Gredis im Klassenzimmer, denn man mußte nicht so tun, als sehe man gar nicht hin. Nein, man konnte sich richtig darauf konzentrieren. Was ich auch tat. Ich war dicht vor ihr. Mir wurde richtig heiß. Mann Gottes, was für Beine, was für Schenkel. Jede Bewegung von ihr war unfaßbar und kaum noch zum Aushalten. Ich kniete mich hin, hielt mit einer Hand das Fernglas und holte mit der anderen mein Ding heraus. Ich spuckte in die Hand und fing an. Einen Augenblick war mir, als sehe ich einen Hauch von Slip. Fast wäre es mir gekommen. Ich hörte gerade noch rechtzeitig auf. Ich starrte weiter durchs Fernglas, und nach einer Weile fing ich wieder an. Als ich kurz davor war, legte ich wieder eine Pause ein. Beim nächsten Mal wußte ich, daß ich es nicht mehr bremsen 68
konnte. Sie saß dicht vor mir, und ich sah ihr direkt zwischen die Schenkel. Es war, als würde ich es ihr besorgen. Schon kam es mir und spritzte über die Dielen, weiß und dick. Ich stand auf, holte Klopapier aus dem Badezimmer, wischte es auf und spülte es im Klo runter. Mrs. Anderson saß fast jeden Tag auf ihrer Veranda, und jedesmal holte ich prompt das Fernglas aus dem Schrank und wichste mir einen ab. Wenn das ihr Mann rauskriegt, dachte ich, schlägt er mich tot... Meine Eltern gingen jeden Mittwochabend ins Kino. Die Eintrittskarten waren durchnumeriert, und mit manchen Nummern konnte man Geld gewinnen. Darauf waren sie aus. An einem dieser Mittwochabende machte ich in der Nachbarschaft eine weitere Entdeckung. Unsere Einfahrt lag zwischen unserem Haus und dem der Pirozzis, und die hatten an der Seite ein Fenster, durch das man in ihr Wohnzimmer sehen konnte. An dem Fenster hing nur ein dünner Vorhang. Ringsum waren Sträucher, und zur Straße hin gab es eine Mauer, die über unserer Einfahrt zu einem Bogen wurde. In den Sträuchern zwischen dem Fenster und der Mauer konnte ich von der Straße nicht gesehen werden. Schon gar nicht bei Nacht. Ich kroch dort rein. Es war hervorragend. Viel besser, als ich erwartet hatte. Mrs. Pirozzi saß auf der Couch und las die Zeitung. Sie hatte die Beine übereinander. In der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers saß Mr. Pirozzi in einem Sessel und las ebenfalls Zeitung. Mrs. Pirozzi war nicht so jung wie Miss Gredis oder Mrs. Anderson, aber sie hatte gute Beine und trug Stöckelschuhe, und fast jedesmal, wenn sie eine Seite umblätterte, schlug sie die Beine anders übereinander, und ihr Rock rutschte ein Stück höher, und ich konnte noch ein bißchen mehr sehen. Wenn meine Eltern vom Kino nach Hause kommen und mich hier erwischen, ist es aus mit mir, dachte ich. Aber das Risiko ist es mir wert. Ich verhielt mich ganz still, starrte durchs Fenster und genoß die Beine von Mrs. Pirozzi. Sie hatten einen großen Collie namens Jeff, der an der vorderen Tür lag und schlief. Ich hatte an diesem Tag bereits in der Englischstunde die Beine von Miss Gredis angestarrt und mir dann beim Anblick von Mrs. Andersons Schenkeln einen runtergeholt, und jetzt gab es hier noch mehr! Warum sah Mr. Pirozzi nicht die Beine seiner Frau an? Er saß nur da und las Zeitung. Dabei war es doch offensichtlich, daß ihn Mrs. Pirozzi reizen wollte, denn ihr Rock rutschte höher und höher hinauf. Sie blätterte eine Seite um, schlug ihre Beine sehr rasch und schwungvoll wieder anders übereinander, ihr Rock flippte förmlich hoch und entblößte ihre weißen Schenkel. Sie waren zart wie Buttermilch! Nicht zu fassen! Sie war am besten von allen! Da sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich Mr. Pirozzi bewegte. Er stand sehr rasch auf und ging zur Tür. Hastig arbeitete ich mich aus den Sträuchern heraus und lief weg. Ich hörte, wie er die Haustür öffnete. Ich war inzwischen in unserem Hof und verkroch mich hinter der Garage. Ich wartete eine Weile und lauschte. Dann kletterte ich hinten über den Zaun, hinüber aufs nächste Grundstück, lief nach vorn zur Straße und trabte in südlicher Richtung hinunter wie jemand, der Langlauf trainiert. Ein Blick nach hinten zeigte mir, daß Mr. Pirozzi nirgends zu sehen war, aber ich trabte trotzdem weiter. Ob er weiß, daß ich es war? Wenn er es meinem Vater sagt, bin ich geliefert. Aber vielleicht hat er nur seinen Hund zu einem Schiß rausgelassen? ... Ich lief hinunter zum West Adams Boulevard und setzte mich an der Straßenbahnhaltestelle auf die Bank. Dort blieb ich etwa fünf Minuten sitzen, dann ging ich zurück. Als ich zuhause
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ankam, waren meine Eltern noch nicht da. Ich ging rein, zog mich aus, knipste das Licht aus und wartete auf den Morgen ... An einem anderen Mittwochabend war ich mit Baldy unterwegs, und wir nahmen gerade unsere gewohnte Abkürzung zwischen zwei Wohnblocks. Wir wollten dem Weinkeller seines Vaters einen Besuch abstatten. Da blieb Baldy plötzlich vor einem Fenster stehen. Innen war das Rollo fast unten, aber nicht ganz. Baldy bückte sich und linste rein. Er winkte mich heran. »Was ist?« flüsterte ich. »Schau doch!« Ein Mann und eine Frau lagen im Bett. Nackt. Das Laken bedeckte sie nur zum Teil. Der Mann versuchte die Frau zu küssen, aber sie schob ihn immer wieder weg. »Verdammt, laß mich doch ran, Marie!« »Nein!« »Aber ich bin heiß! Bitte!...« »Nimm deine gottverdammten Pfoten weg!« »Aber Marie! Ich liebe dich doch!« »Du und deine beknackte Liebe ...« »Marie. Bitte ...« »Hörst du endlich auf?« Der Mann drehte sich zur Wand. Die Frau nahm eine Illustrierte in die Hand, schob sich ein Kissen in den Nacken und begann zu lesen. Baldy und ich gingen weiter. »Mensch, so eine Pleite«, sagte Baldy. »Zum Kotzen!« »Ich hab gedacht, wir kriegen was zu sehen«, sagte ich. Als wir den Weinkeller erreichten, stellte sich heraus, daß sein alter Herr an der Kellertür ein großes Vorhängeschloß angebracht hatte. Wir versuchten an jenem Fenster noch öfter unser Glück, doch wir bekamen nie etwas Handfestes zu sehen. Es war jedesmal dasselbe: »Marie, jetzt isses schon so lange her. Wir leben zusammen, verstehst du. Wir sind verheiratet.« »Jaja, und wie! Scheißspiel.« »Bloß dieses eine Mal, Marie, dann laß ich dich ja wieder in Ruhe. Dann laß ich dich ganz lange in Ruhe. Ehrlich.« »Hör auf! Du machst mich krank!« Baldy und ich gingen weg. »Scheiße«, sagte ich. »Scheiße«, sagte er. »Ich glaub, der hat gar keinen Schwanz«, sagte ich. »Braucht auch keinen, so wie's aussieht«, sagte Baldy. Wir gaben es auf und gingen nie mehr hin.
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Wagner war noch nicht fertig mit uns. Als ich während der Sportstunde auf dem Schulhof herumstand, kam er zu mir her. »Was machst du, Chinaski?« »Nichts.« »Nichts?« Ich schwieg. »Warum beteiligst du dich nicht an einem Spiel?« »Scheiße. Das ist was für kleine Kinder.« »Ich teile dich bis auf weiteres zum Papiersammeln ein.« »Wegen was? Was hab ich verbrochen?« »Faulenzen. Fünfzig Strafpunkte.« Die Strafpunkte mußte man in der Abfallkolonne abarbeiten. Wenn man mehr als zehn Strafpunkte hatte und sie nicht abarbeitete, wurde man nicht in die Oberstufe versetzt. Mir war es egal, ob ich versetzt wurde oder nicht. Das war denen ihr Problem. Wenn sie mich nicht auf die Senior Highschool ließen, würde ich eben dableiben, älter und älter werden, größer und größer. Ich würde die ganzen Mädchen kriegen. »Fünfzig Strafpunkte?« sagte ich. »Das ist alles, was Sie mir geben? Warum nicht hundert?« »Na schön, hundert. Ganz wie du willst.« Wagner stelzte davon. Peter Mangalore hatte fünfhundert Strafpunkte. Ich lag jetzt an zweiter Stelle. Und holte auf ... Am nächsten Tag trat ich mit Peter Mangalore während der letzten dreißig Minuten der Mittagspause zum Müllsammeln an. Es war einfach. Wir trugen eine Mülltonne durch die Gegend, und jeder hatte einen langen Stecken mit einem Nagel vorne dran. Wir spießten Papier und Abfälle auf und streiften es am Rand der Mülltonne ab. Die Mädchen beobachteten uns. Pete sah gelangweilt drein, und ich tat so, als sei mir alles piepe. Die Mädchen wußten Bescheid. Wir waren schlecht. »Kennst du Lilly Fischman?« fragte Pete. »Oh, und ob.« »Sie ist keine Jungfrau mehr.« »Woher willst du das wissen?« »Sie hat's mir erzählt.« »Wer hat sie denn entjungfert?« »Ihr Vater.« »Hmm. Tja. Kann man ihm nicht verdenken.« »Lilly hat gehört, daß ich 'n großen Schwanz hab.« »Yeah. Das weiß die ganze Schule.« »Sie will ihn haben. Sie behauptet, sie kann ihn wegstecken. « »Die reißt du doch mitten durch.« »Yeah. Werd' ich auch. Jedenfalls, sie will ihn.«
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Wir stellten die Mülltonne ab und starrten einige Mädchen an, die auf einer Bank saßen. Pete ging zu ihnen hin. Ich blieb stehen. Er beugte sich zu einem der Mädchen runter und flüsterte der Kleinen etwas ins Ohr. Sie kicherte. Pete kam zurück, wir hoben unsere Tonne hoch und gingen weiter. »Also«, sagte er, »heute mittag um vier. Da werd' ich diese Lilly rupfen.« »Yeah?« »Du kennst doch das kaputte Auto da hinten, aus dem Pop Farnsworth den Motor ausgebaut hat.« »Ja.« »Na, eh sie das Scheißding wegschleppen, werd' ich es noch schnell als Schlafzimmer benutzen. Ich werd's ihr auf dem Rücksitz besorgen.« »Manche Kerle kriegen wirklich alles im Leben.« »Ich krieg schon einen Steifen, wenn ich bloß dran denke«, sagte Pete. »Ich auch. Und ich bin nichtmal der Typ, der es machen wird.« »Ich hab da nur ein Problem«, sagte Pete. »Was denn? Kommt dir's nicht?« »Nee, das ist es nicht. Aber ich brauch jemand, der aufpaßt und mir sagt, ob die Luft rein ist.« »Ach so. Na, das kann ich doch machen.« »Machst du das?« »Klar. Wir sollten aber noch einen haben. Vier Augen sehen mehr.« »Na gut. An wen denkst du?« »Baldy.« »Baldy? Scheiße, der taugt doch nicht viel.« »Nee, aber er ist zuverlässig.« »Meinetwegen. Also ich seh euch dann um vier.« »Wir werden da sein.« Um vier Uhr trafen wir uns mit Pete und Lilly am Autowrack. »HÜ« sagte Lilly. Sie schien sehr spitz zu sein. Pete paffte eine Zigarette und gab sich gelangweilt. »Hallo, Lilly«, sagte ich. »Hi, Lilly Baby!« sagte Baldy. Auf dem angrenzenden Feld waren einige Jungs, die Touch-Football spielten, aber das machte es nur noch besser. Es war eine gute Tarnung. Lilly wackelte vor uns herum. Sie atmete schwer. Ihr Busen wogte auf und nieder. »Tja«, sagte Pete und warf seine Kippe weg, »dann laß uns mal Freundschaft schließen, Lilly.« Er hielt ihr den Schlag auf und machte eine Verbeugung. Lilly kletterte auf den Rücksitz. Pete folgte ihr hinein, zog seine Schuhe aus, dann die Hose, die Unterhose. Lilly sah an ihm herunter und betrachtete seinen gewaltigen schlaffen Zipfel. »Oh je«, sagte sie. »Ich weiß nicht...« »Komm schon, Baby«, sagte Pete. »Wir leben nicht ewig.« »Hm, naja. Mal sehn ...«
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Pete sah durchs Fenster zu uns heraus. »Was ist, paßt ihr auch auf, ob die Luft rein ist?« »Yeah, Pete«, sagte ich. »Wir passen auf.« »Wir halten die Augen offen«, sagte Baldy. Pete schob Lilly den Rock hoch. Über ihren Kniestrümpfen erschienen die weißen Schenkel, und man konnte ihren Slip sehen. Märchenhaft. Pete packte Lilly und küßte sie. Dann hob er den Kopf. »Du Nutte!« sagte er. »Pete! Sag nicht so fiese Sachen zu mir!« »Du Schlampe!« sagte er und schlug sie kräftig ins Gesicht. Sie begann zu schluchzen. »Nicht, Pete. Nicht...« »Halt die Klappe! Fotze!« Er zerrte jetzt an ihrem Slip. Aber damit hatte er fürchterliche Schwierigkeiten, denn der umspannte ihren drallen Hintern sehr straff. Mit einem wilden Ruck riß er den Slip an der einen Seite ein, zog ihn Lilly an den Beinen herunter und über die Schuhe und warf ihn auf die Fußmatte. Dann fing er an, ihre Möse zu befingern. Er fingerte und knetete daran herum, und dabei küßte er sie wieder und wieder. Dann richtete er sich auf und lehnte sich zurück. Er hatte nur halb einen stehen. Lilly sah an ihm herunter. »Was ist denn, bist du schwul?« »Nee, das ist es nicht, Lilly. Ich glaub nur, die beiden da draußen passen gar nicht auf. Sie sehen uns zu. Ich will hier drin nicht erwischt werden.« »Die Luft ist rein, Pete«, sagte ich. »Wir passen schon auf.« »Wir halten die Augen offen!« sagte Baldy. »Ich glaub denen nicht«, sagte Pete. »Die haben nur Augen für deine Fut, Lilly.« »Du hast Schiß! Da hast du soo 'n Ding, und es steht bloß auf Halbmast!« »Mir ist es hier einfach nicht geheuer, Lilly.« »Ich weiß schon, was man da macht«, sagte sie. Sie beugte sich herunter und züngelte ihm am Schwanz entlang. Sie schleckte an seiner monströsen Eichel herum. Dann hatte sie das ganze Ding im Mund. »Ach Gott, Lilly ...!« sagte Pete. »Ich liebe dich ... Lilly, Lilly, Lilly ... oh, oh ... oooh!... ooooh!...« »Henry!« schrie Baldy. »Da schau!« Ich drehte mich um. Wagner rannte quer übers Spielfeld auf uns zu, und hinter ihm kamen die Jungs, die Touch-Football gespielt hatten. Plus einige der Zuschauer. Jungs und Mädchen. »Pete!« brüllte ich. »Da kommt Wagner mit fünfzig Leuten!« »Scheiße«, stöhnte Pete. »Oh Scheiße«, sagte Lilly. Baldy und ich machten uns aus dem Staub. Wir rannten aus dem Tor und die halbe Straße hoch. Dann sahen wir durch den Zaun nach hinten. Pete und Lilly hatten nicht die geringste Chance. Wagner riß bereits die hintere Wagentür auf und machte Stielaugen. Dann war das Wrack umringt, und wir konnten nichts mehr sehen. Pete und Lilly kamen nicht mehr in die Schule. Wir wußten nicht, was mit ihnen geworden war. Baldy und ich bekamen je 1000 Strafpunkte aufgebrummt. Damit brachte ich es auf 1100 und hatte nun sogar Mangalore übertroffen. Die alle abarbeiten zu wollen, war aussichtslos. 73
Mr. Justin würde mich für den Rest meines Lebens behalten müssen. Natürlich wurden auch unsere Eltern benachrichtigt... »Rein mit dir«, sagte mein Vater, und ich ging mal wieder ins Badezimmer. Er nahm den Riemen vom Haken. »Hose und Unterhose runter«, sagte er. Ich rührte keinen Finger. Er griff außen herum, zurrte meinen Gürtel auf und zog mir die Hose herunter. Dann auch die Unterhose. Der Riemen sauste nieder. Alles wie gehabt. Dasselbe knallende Geräusch. Derselbe Schmerz. »Du bringst deine Mutter noch ins Grab!« brüllte er. Der nächste Hieb. Aber mir kamen keine Tränen. Meine Augen blieben merkwürdig trocken. Ich überlegte, wie ich ihn umbringen sollte. Es mußte eine Möglichkeit geben, ihn umzubringen. Noch ein paar Jahre, und ich würde ihn zu Tode prügeln können. Aber ich wollte ihn schon jetzt erledigen. Er war nicht viel wert. Bestimmt hatte er mich nur adoptiert. Wieder schlug er zu. Der Schmerz war derselbe wie immer, doch ich hatte keine Angst mehr davor. Der Riemen sauste wieder herunter. Vor meinen Augen verschwamm nichts mehr. Alles blieb ganz klar. Mein Vater schien die Veränderung in mir zu spüren und schlug nun immer wütender zu, doch je härter er schlug, um so weniger spürte ich. Fast war es, als sei er derjenige, der sich nicht zu helfen wußte. Etwas war geschehen, etwas hatte sich geändert. Er hörte auf, ganz außer Atem, und ich hörte, wie er den Riemen wieder an die Wand hängte. Er ging zur Tür. Ich drehte mich um. »Hey«, sagte ich. Er fuhr herum und sah mich an. »Gib mir noch ein paar mehr«, sagte ich. »Vielleicht fühlst du dich dann besser.« »Untersteh dich, so mit mir zu reden!« sagte er. Ich sah ihm ins Gesicht. Ich sah die fleischigen Lappen unter seinem Kinn und an seinem Hals. Ich sah traurige Furchen und Runzeln. Sein Gesicht war müde und wirkte wie graurosa Knetmasse. Er hatte nur sein Unterhemd an, das über seinem Hängebauch Falten schlug. Seine Augen waren nicht mehr zum Fürchten. Sie wichen meinem Blick aus. Etwas war mit ihm geschehen. Die Badetücher wußten es, der Duschvorhang, der Spiegel über dem Waschbecken, die Wanne und das Klo. Er drehte sich um und ging aus der Tür. Auch er wußte es. Das war meine letzte Dresche gewesen. Von ihm jedenfalls.
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Die Zeit in der Unterstufe verging ziemlich schnell. Kurz vor Beginn der neunten Klasse bekam ich dann Akne. Das hatten zwar viele andere auch, aber nicht so wie ich. Bei mir war es wirklich grauenhaft. Ich war der schlimmste Fall in der ganzen Stadt. Überall Pickel und Pusteln - im Gesicht, im Nacken, auf dem Rücken. Auch auf der Brust hatte ich ein paar. Es passierte ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ich drauf und dran war, als ruppiger Kerl mit Führungsqualitäten anerkannt zu werden. Ruppig war ich auch jetzt noch, aber es war eben nicht mehr wie sonst. Ich mußte mich zurückziehen. Was die anderen taten, konnte ich nur noch aus der Entfernung verfolgen. Es war wie ein Theaterstück, nur waren sie alle auf der Bühne, und ich saß allein im Zuschauerraum.
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Mit Mädchen hatte ich mich schon immer schwer getan, aber diese Akne machte es nun ganz unmöglich. Die Girls waren unerreichbarer denn je. Manche von ihnen waren richtige Schönheiten - ihre Kleider, ihr Haar, ihre Augen, die ganze Art, wie sie sich gaben. Nur mal mit so einer an einem Nachmittag die Straße langgehen, sich über dies und jenes unterhalten, das wäre wahrscheinlich ein sehr gutes Gefühl gewesen. Außerdem hatte ich immer noch etwas an mir, das mich ständig in Schwierigkeiten brachte. Die meisten Lehrer konnten mich nicht leiden und trauten mir nicht. Vor allem die Lehrerinnen. Ich gab zwar keine pampigen Antworten, aber sie behaupteten, meine »Einstellung« sei mies. Mein »Tonfall« paßte ihnen nicht. Und die Art, wie ich mich immer so mürrisch in meine Bank fläzte. Gewöhnlich warfen sie mir vor, ich würde sie geringschätzig ansehen, obwohl ich mir dessen gar nicht bewußt war. Oft mußte ich während des Unterrichts draußen vor der Tür stehen oder beim Direktor antanzen. Der machte jedesmal dasselbe: Er hatte in seinem Büro eine Telefonzelle, und in die mußte ich mich immer reinstellen und bei geschlossener Tür ausharren. Ich verbrachte viele Stunden in dieser Telefonzelle. Das einzige, was es da drin zu lesen gab, war diese Hausfrauenzeitschrift: >Ladies Home Journal<. Damit wollten sie einen wohl noch zusätzlich quälen. Ich las das >Ladies Home Journal< trotzdem. Ich bekam jedes neue Heft zu lesen. Ich hoffte, ich würde daraus vielleicht etwas über Frauen erfahren. Ich glaube, ich hatte gut 5000 Strafpunkte auf dem Kerbholz, als die Unterstufe zu Ende war. Aber das schien sie nicht zu stören. Sie wollten mich los sein. Und so stand ich also am Tag der Abschlußfeier vor der Turnhalle in der Schlange, die langsam nach drinnen vorrückte. Wir trugen alle die schwarzen Umhänge und billigen kleinen Pappdeckel mit Quaste dran, die von einer Abschlußklasse an die nächste weitergereicht wurden. Wir hörten, wie die Namen aufgerufen wurden und einer nach dem anderen auf die Bühne marschierte. Die taten gerade so, als sei der Abschluß der Junior Highschool die gottverdammt größte Sache der Welt. Die Band spielte das Lied unserer Schule: Oh Mount Justin, oh Mount Justin We will be true, Our hearts are singing wildly All our skies are blue ... Da standen wir in der Schlange, und jeder wartete darauf, den Gang zur Bühne anzutreten. Drinnen saßen die Eltern und Verwandten und Bekannten. »Mir kommt's gleich hoch«, sagte einer der Jungs. »Wir tappen bloß von einer Scheiße in die nächste«, sagte ein anderer. Die Mädchen dagegen schienen mit Ernst bei der Sache zu sein. Deshalb traute ich ihnen auch nie. Sie standen offenbar auf der falschen Seite. Für sie war das Lied dieser Schule kein Witz. »Wie mich das nervt!« sagte einer von den Burschen. »Wenn ich wenigstens was zu rauchen hätte.« »Da ...«, sagte einer und gab ihm eine Zigarette. Wir ließen sie herumgehen. Ich machte einen Zug, gab sie weiter und ließ den Rauch aus den Nasenlöchern quellen. Da sah ich Curly Wagner ankommen. »Tu die Lulle weg«, sagte ich, »da kommt der Kotzbrocken.« Wagner kam geradewegs auf mich zu. Er steckte wie immer in seinem grauen Trainingsanzug. Ich hatte ihn nie in etwas anderem gesehen. Er baute sich vor mir auf. »Hör mal zu«, sagte er, »du denkst vielleicht, du bist mich los, nur weil du jetzt hier rauskommst. Aber da irrst du dich! Du wirst mich den Rest deines Lebens im Nacken haben! Ich werde dir folgen bis ans Ende der Welt, und eines Tages krieg ich dich dran!« 75
Das war mir keine Antwort wert. Ich streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick, und er ging wieder weg. Seine kleine Abschiedsrede trug nur dazu bei, mein Ansehen bei den Jungs noch mehr zu festigen. Sie mußten denken, daß ich mir eine besonders üble Sache geleistet hatte, um ihn so zu verärgern. Dabei war es gar nicht so. Wagner war nur einfältig und bescheuert. Wir rückten dem Eingang der Turnhalle näher und näher. Wir hörten jetzt nicht mehr nur die Namen, die aufgerufen wurden, und den Beifall, der jedem Namen folgte - wir konnten jetzt auch die Gesichter dazu sehen. Dann war ich an der Reihe. »Henry Chinaski«, sagte der Direktor ins Mikrophon. Ich ging nach vorn auf die Bühne. Kein Applaus. Doch dann gab sich irgendeine menschenfreundliche Seele im Publikum einen Ruck und patschte zwei- oder dreimal in die Hände. Für die Abschlußklasse gab es mehrere Sitzreihen auf der Bühne. Wir saßen da und warteten. Der Direktor hielt seine Ansprache, von wegen was für Aussichten und Erfolg Amerika zu bieten hatte. Dann war alles vorüber. Die Band spielte wieder den Mount-Justin-Song. Wir stiegen von der Bühne herunter und mischten uns unters Publikum. Ich sah mich nach meinen Eltern um und konnte sie nirgends entdecken. Ich sah noch einmal gründlich nach, um mich zu vergewissern. Auch gut. Einer wie ich brauchte so etwas nicht. Ich legte meinen Umhang und die Troddelkappe ab, ging den Mittelgang runter und gab beides hinten beim Hausmeister ab. Er legte alles ordentlich zusammen. Für einen meiner Nachfolger. Ich ging hinaus. Ich war der erste, der die Veranstaltung verließ. Aber wo sollte ich hin? Ich hatte elf Cents in der Tasche. Ich ging dahin zurück, wo ich hergekommen war.
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In jenem Sommer, Juli 1934, erschossen sie John Dillinger vor dem Biograph-Filmtheater in Chicago. Er hatte nicht die geringste Chance. Die »Frau im roten Kleid« hatte ihn an die Bullen verraten. Etwas mehr als ein Jahr zuvor waren über fünftausend Banken pleite gegangen. Das Alkoholverbot wurde aufgehoben, und mein Vater trank wieder Eastside-Bier. Doch am schlimmsten war diese Sache mit Dillinger. Viele hatten Dillinger bewundert, und sein Ende setzte ihnen schwer zu. Roosevelt war jetzt Präsident und hielt regelmäßig Plauderstunden am offenen Kamin, die im Radio übertragen wurden. Alle saßen gebannt vor ihren Lautsprechern. Der konnte wirklich reden. Er ergriff auch Maßnahmen, um die Arbeitslosen von den Straßen zu holen, doch es stand immer noch sehr schlecht. Und meine Pusteln wurden schlimmer. Sie waren nun unvorstellbar groß. Im September sollte ich in die Woodhaven High-school kommen, doch mein Vater bestand darauf, daß ich auf die Chelsey High ging. »Hör mal«, sagte ich zu ihm, »die Chelsey ist nicht-mal in unserem Stadtteil. Das ist zu weit.« »Du tust, was ich dir sage. Du meldest dich in der Chelsey an.«
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Ich wußte, warum er mich in der Chelsey haben wollte: Dort gingen die Kinder der Reichen hin. Mein Vater war verrückt. Er wollte immer noch den Reichen mimen. Als Baldy hörte, daß ich auf die Chelsey gehen würde, beschloß er, dasselbe zu tun. Ich wurde ihn so wenig los wie meine Furunkel. Am ersten Schultag fuhren wir also mit unseren Fahrrädern zur Chelsey High. Als wir die Räder dort abstellten, kam ich mir vor wie der letzte Dreck. Die meisten Schüler, jedenfalls die älteren, hatten ihr eigenes Auto. Viele von ihnen fuhren nagelneue Kabrioletts, und die waren nicht schwarz oder dunkelblau wie die meisten Autos, nein, sie waren knallgelb, grün, orange und rot. Die Jungs saßen vor der Schule in ihren Schlitten, und die Mädchen umdrängten sie und ließen sich zu Spazierfahrten einladen. Alle waren adrett gekleidet, die Jungs wie die Mädchen. Pullover mit V-Ausschnitt. Armbanduhren. Modisches Schuhwerk. Sie wirkten sehr erwachsen und gewandt und überlegen. Und da stand ich nun mit meinem selbstgenähten Hemd, meiner abgetragenen Hose, meinen abgelatschten Schuhen. Und mit Pickeln von Kopf bis Fuß. Die Jungs mit den Autos brauchten sich wegen Akne keine Gedanken zu machen. Sie waren stattliche, hochgewachsene Burschen mit einer glatten reinen Haut und strahlend weißen Zähnen, und zum Haarewaschen nahmen sie auch keine Kernseife. Sie schienen etwas zu wissen, das mir verwehrt blieb. Ich war mal wieder der Bodensatz. Angesichts der vielen Autos genierten sich Baldy und ich wegen unserer Fahrräder. Wir ließen sie zuhause und gingen zu Fuß zur Schule. Zweieinhalb Meilen hin, zweieinhalb Meilen zurück. Unsere Pausenbrote brachten wir in braunen Papiertüten mit. Die meisten anderen Schüler aßen nicht einmal in der Schulkantine. Sie fuhren mit den Mädchen in die nächste Milchbar, drückten Platten auf der Jukebox und amüsierten sich. Auf sie wartete bereits die University of Southern California. Die Pickel waren mir sehr peinlich. In der Chelsey hatte man die Wahl zwischen Sport und R.O.T.C. (Reserve Officers' Training Corps). Ich entschied mich für den Kadettenverein, denn da mußte ich nicht in Sporthose und Trikot herumlaufen, und niemand konnte meinen pickeligen Körper sehen. Doch die Uniform haßte ich natürlich auch. Das Hemd war aus Wolle und juckte auf meiner entzündeten Haut. Die Uniform mußte von Montag bis Donnerstag getragen werden. Nur freitags durften wir in Zivil gehen. Wir studierten die Heeresdienstvorschrift und erfuhren alles über Kriegführung und solchen Kram. Wir mußten Prüfungen machen, wir exerzierten auf dem Sportplatz, und wir kloppten Griffe mit dem Gewehr. Das mit dem Gewehr erwies sich als unangenehm für mich. Ich hatte Pickel auf den Schultern, und wenn es »Gewehr über!« hieß und ich mir das Ding auf die Schulter knallte, platzte manchmal ein Pickel auf, und das Zeug drang mir durchs Hemd. Das Blut kam durch, aber da das wollene Hemd dick und saugfähig und olivgrün war, fiel der Fleck nicht sehr auf, und es sah nicht wie Blut aus. Ich erzählte meiner Mutter von dem Problem, und sie nähte mir Flicken unter die Hemdschultern, aber das half nur wenig. Einmal blieb der Offizier beim Waffenappell vor mir stehen. Er nahm mir das Gewehr aus der Hand, hielt es hoch und spähte durch den Lauf, um zu sehen, ob Fussel oder Staub drin waren. Er gab es mir zurück, und dann sah er einen Blutfleck auf meiner rechten Schulter. »Chinaski!« bellte er. »Aus ihrem Gewehr läuft Öl!« »Ja, Sir.« Ich brachte das erste Jahr hinter mich, aber mein Ausschlag wurde schlimmer und schlimmer. Die Pickel in meinem Gesicht waren jetzt so groß wie Walnüsse. Ich schämte mich in Grund
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und Boden. Manchmal stellte ich mich zuhause im Badezimmer vor den Spiegel und drückte einen auf. Gelber Eiter spritzte heraus und klatschte an den Spiegel. Oder es kam eine weißliche geronnene Masse heraus, wie bei Mitessern. Auf eine schauerliche Weise war es faszinierend, daß da all dieses Zeug drin war. Doch ich wußte, wie schwer es den anderen fiel, mich anzusehen. Die von der Chelsey müssen meinem Vater wohl einen Wink gegeben haben, denn am Ende des ersten Jahres wurde ich von der Schule genommen. Ich legte mich ins Bett, und meine Eltern rieben mich mit Salben ein. Es gab da eine braune stinkende Salbe, die mein Vater besonders gut für mich fand. Sie brannte nämlich. Er verlangte, daß ich sie viel länger drauf ließ, als es auf dem Beipackzettel empfohlen wurde. An einem Abend mußte ich sie stundenlang drauflassen. Ich fing an zu schreien, rannte ins Bad, ließ Wasser ein und wusch mir die Schmiere unter großen Schwierigkeiten ab. Alles war verbrannt. Gesicht, Rücken, Brust. Ich konnte mich nicht mehr hinlegen und mußte auf der Bettkante sitzen. Mein Vater kam zu mir herein. »Ich dachte, ich hab dir gesagt, du sollst das Zeug dranlassen!« »Sieh dir mal an, was passiert ist«, sagte ich. Meine Mutter kam herein. »Der Mistkerl will gar nicht gesund werden«, sagte er zu ihr. »Warum muß ich nur so einen Sohn haben!« Kurz danach verlor meine Mutter ihren Job. Mein Vater stieg weiterhin jeden Morgen in sein Auto, als fahre er zur Arbeit. »Ich bin Ingenieur«, erzählte er den Leuten. Ingenieur hatte er immer werden wollen. Sie vereinbarten für mich einen Termin im Kreiskrankenhaus und drückten mir eine längliche weiße Karte in die Hand. Damit stieg ich in eine Straßenbahn der Linie 7. Der Fahrpreis betrug einheitlich sieben Cents und ermäßigte sich noch etwas, wenn man ihre speziellen Münzen erstand - vier Stück für 25 Cents. Ich warf meine Münze in den Apparat, drückte mich durchs Drehkreuz und setzte mich ziemlich hinten auf einen Fensterplatz. Ich fuhr immer gern mit der Linie 7. Die Bahn fuhr sehr schnell und schlingerte hin und her. Draußen schien die Morgensonne. Ich war auf 8.30 Uhr bestellt. Nach einigen Haltestellen stiegen eine dicke Frau und ein Junge von etwa vier Jahren zu. Sie setzten sich in die Reihe hinter mir. Ich sah aus dem Fenster. »Mammi«, hörte ich den Jungen sagen, »was ist mit dem Mann seinem Gesicht?« Die Frau antwortete nicht. Der Junge stellte seine Frage noch einmal. Wieder keine Antwort. Jetzt schrie er es heraus: »Mammi! Was ist mit dem Mann seinem Gesicht!« »Sei still! Ich weiß nicht, was mit seinem Gesicht ist!« Im Krankenhaus hieß es, ich solle mich im vierten Stock melden. Auf der Station saß eine Schwester hinter einem Schreibtisch, die meinen Namen abhakte und mir sagte, ich solle warten. Es gab zwei lange Reihen von grünen Aluminiumstühlen, auf denen wir uns gegenübersaßen: Mexikaner, Weiße, Schwarze. Keine Orientalen. Es gab nichts zu lesen. Manche hatten die Zeitung vom Tag zuvor dabei. Es waren Patienten aller Altersgruppen vertreten, dicke und magere, kleine und große, alte und junge. Niemand sagte ein Wort. Alle wirkten sehr müde. Krankenpfleger kamen vorbei, manchmal sah man auch eine Schwester, aber nie einen Arzt. Eine Stunde verging. Zwei Stunden. Niemand wurde aufgerufen. Ich stand auf, um nachzusehen, ob sie irgendwo einen Trinkbrunnen hatten. Ich sah in die kleinen Räume hinein, in denen wir untersucht werden sollten. Es waren weder Ärzte noch Patienten drin. Ich ging nach vorn zum Schreibtisch. Die Schwester starrte in ihr dickes Bestellbuch. Das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab. 78
»Dr. Menen ist noch nicht da.« Sie legte auf. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ja?« »Die Ärzte sind noch nicht da. Kann ich nicht später wiederkommen ? « »Nein.« »Aber es ist niemand da.« »Die kommen schon noch.« »Aber ich bin auf 8.30 Uhr bestellt.« »Jeder hier ist auf 8.30 Uhr bestellt.« Es warteten 45 oder 50 Leute. »Na, ich steh ja auf der Liste - wie wär's, wenn ich in zwei Stunden wiederkomme? Vielleicht sind bis dahin ein paar Ärzte da.« »Wer jetzt weggeht, verliert automatisch seinen Termin und muß morgen wiederkommen. Falls er dann noch will.« Ich ging zurück zu meinem Stuhl und setzte mich wieder hin. Von den anderen beschwerte sich keiner. Es tat sich sehr wenig. Ab und zu kamen lachend zwei oder drei Krankenschwestern vorbei. Einmal schoben sie einen Mann in einem Rollstuhl durch den Korridor. Seine Beine waren dick mit Mullbinden umwickelt, und an der mir zugewandten Seite des Kopfes hatte er kein Ohr mehr. Man sah nur ein schwarzes Loch, das mit feinen Verästelungen gefüllt war. Als sei ihm eine Spinne hineingekrochen und habe ein Netz gesponnen. Die Stunden vergingen. Es wurde Mittag, ein Uhr, zwei Uhr. Wir saßen da und warteten. Dann sagte jemand: »Da kommt ein Doktor!« Der Arzt ging in eines der Behandlungszimmer und machte die Tür hinter sich zu. Wir sahen gespannt hin. Nichts. Eine Schwester ging hinein. Wir hörten sie lachen. Dann kam sie wieder heraus. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Der Arzt kam heraus und hatte eine Liste in der Hand. »Martinez?« rief er. »Jose Martinez?« Ein alter ausgemergelter Mexikaner stand auf und ging mühsam zu ihm hin. »Martinez? Martinez, alter Junge, wie geht's uns denn so?« »Schlecht, Doktor. Ich glaube, ich muß sterben ...« »Na, na. Kommen sie mal hier rein ...« Martinez blieb sehr lange drin. Ich hob eine alte Zeitung vom Boden auf und versuchte sie zu lesen. Doch wir dachten alle an Martinez. Wenn er da wieder herauskam, würde einer von uns an die Reihe kommen. Dann hörten wir Martinez schreien. »Aua! Aaauuuu! Hören Sie auf! Aaauu! Aufhören! Bitte hören Sie auf!« »Na, na, das tut doch gar nicht weh«, sagte der Arzt. Martinez schrie weiter. Eine Schwester rannte hinein. Es wurde still. Wir konnten nicht sehen, was drinnen vorging. Wir sahen nur den schwarzen Schatten der halb offenen Tür. Dann rannte ein Krankenpfleger rein. Martinez machte ein gurgelndes Geräusch. Sie rollten ihn auf einer Bahre heraus, schoben ihn im Eilschritt den Korridor hinunter, durch eine Schwingtür nach der anderen. Martinez lag unter einem Laken, aber tot konnte er noch nicht sein, denn sie hatten ihm das Laken nicht übers Gesicht gezogen.
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Der Arzt blieb zehn Minuten allein im Behandlungszimmer. Dann kam er wieder mit seiner Liste heraus. »Jefferson Williams?« Niemand reagierte. »Ist Jefferson Williams hier?« Keine Antwort. »Mary Blackthorne?« Keine Antwort. »Harry Lewis?« »Ja, Doktor.« »Kommen Sie bitte ...« Es ging sehr langsam voran. Der Arzt nahm noch fünf weitere Patienten dran. Dann kam er heraus, ging an den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und unterhielt sich eine Viertelstunde mit der Schwester. Er wirkte recht intelligent. Er hatte einen nervösen Tick - die ganze rechte Gesichtshälfte zuckte. Sein rotes Haar hatte einige graue Strähnen. Er trug eine Brille, die er ständig auf- und absetzte. Eine Schwester kam und brachte ihm eine Tasse Kaffee. Er nippte daran, stieß mit der freien Hand die Schwingtür auf und verschwand. Die andere Schwester kam mit unseren langen weißen Karten hinter ihrem Schreibtisch hervor und rief unsere Namen auf. Wir bekamen unsere Karten zurück. »Für heute ist Schluß. Bitte kommen Sie morgen wieder, wenn Sie wollen. Ihr Termin ist auf die Karte gestempelt.« Ich sah auf meine herunter. Sie war mit »8.30 Uhr« gestempelt.
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Am nächsten Tag hatte ich Glück. Sie riefen meinen Namen auf. Diesmal war es ein anderer Arzt. Ich machte den Oberkörper frei und setzte mich auf den Rand der Liege. Er knipste eine Lampe an und besah mich in ihrem grellen weißen Licht. »Hmmm, hmmm«, sagte er, »mhm ...« Ich saß da. »Wie lange hast du das schon?« »Zwei Jahre. Es wird immer schlimmer.« »Aha.« Er musterte mich weiter. »Na, dann leg dich jetzt mal auf den Bauch. Ich bin gleich wieder da.« Einige Augenblicke vergingen, und plötzlich war der Raum voll von Leuten. Alles Ärzte. Jedenfalls sahen sie so aus und redeten auch so. Wo kamen die auf einmal her? Ich hatte gedacht, es gebe kaum Ärzte im Los Angeles County General Hospital. »Acne vulgaris. Der schlimmste Fall, den ich in meiner ganzen Praxis erlebt habe.« »Fantastisch.«
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»Unglaublich.« »Sehn Sie sich mal das Gesicht an!« »Und den Nacken!« »Ich hatte gerade ein junges Mädchen mit Acne vulgaris zur Untersuchung da. Ihr ganzer Rücken war bedeckt. Sie flennte und sagte: >Wie soll ich je einen Mann kriegen? Mein Rücken wird für immer entstellt sein! Ich möchte mich umbringen!< Und jetzt sehn Sie sich mal diesen Burschen an? Wenn sie den sehen könnte, wüßte sie, daß sie gar keinen Grund zum Jammern hat!« Du blödes Arschloch, dachte ich, ist dir nicht klar, daß ich jedes Wort verstehen kann? Wie wurde so ein Mensch eigentlich Arzt? Nahmen die einfach jeden? »Schläft er?« »Warum?« »Er wirkt so ruhig.« »Nein, ich glaube nicht, daß er schläft. Schläfst du, mein Junge?« »Ja.« Sie drehten an der Lampe herum und richteten das grelle weiße Licht auf verschiedene Stellen meines Körpers. »Dreh dich mal um.« Ich drehte mich auf den Rücken. »Schauen Sie, da ist eine entzündete Stelle in seinem Mund.« »Tja, wie wollen wir da vorgehen?« »Erst mal drainieren, würde ich sagen. Mit der elektrischen Nadel...« »Ja, natürlich. Die elektrische Nadel ...« »Ja, die Nadel...« Die Sache war entschieden.
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Am nächsten Morgen saß ich wieder auf meinem grünen Metallstuhl im Korridor und wartete, daß ich an die Reihe kam. Mir gegenüber saß ein Mann, mit dessen Nase etwas nicht in Ordnung war. Sie war groß und dick und rot entzündet, und sie schien unaufhaltsam zu wuchern. Man konnte richtig sehen, wie sich ein Stück nach dem anderen angesetzt hatte. Irgend etwas hatte diese Nase einfach anschwellen und wuchern lassen. Ich versuchte, nicht hinzusehen, denn ich wollte nicht, daß der Mann etwas merkte. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm zumute sein mußte. Doch der Mann schien gar keine Beschwerden zu haben. Er war korpulent und saß da, als sei er halb eingeschlafen. Sie riefen ihn als ersten auf. »Mr. Sleeth?« Er bewegte seinen massigen Körper etwas nach vorn. »Sleeth? Richard Sleeth?«
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»Ah ... ja. Hier bin ich.« Er stand auf und ging zu dem Arzt hin. »Wie fühlen Sie sich heute, Mr. Sleeth?« »Gut. Ganz gut...« Die beiden verschwanden im Behandlungszimmer. Eine Stunde später war ich an der Reihe. Ich folgte dem Arzt durch mehrere Schwingtüren, und wir betraten einen Behandlungsraum, der größer war als der erste. Ich mußte mich wieder freimachen und auf die Liege setzen. Der Arzt sah mich an. »Dich hat es wirklich erwischt, was?« » Yeah.« Er drückte auf eine Pustel an meinem Rücken. »Tut das weh?« »Ja.« »Na«, sagte er, »dann versuchen wir es jetzt mal mit Drainieren.« Ich hörte, wie er einen Apparat anstellte. Es gab ein surrendes Geräusch, und nach einer Weile roch es nach heißem Öl. »Fertig?« fragte er. »Ja.« Er bohrte mir die elektrische Nadel in den Rücken. Die Schmerzen waren fürchterlich. Sie füllten den ganzen Raum. Ich spürte, wie mir das Blut den Rücken herunterlief. Er zog die Nadel heraus. »So, jetzt nehmen wir uns eine andere vor ...« Er rammte mir die Nadel rein. Dann zog er sie heraus und stach eine weitere Eiterbeule an. Zwei Männer waren inzwischen hereingekommen und sahen zu. Vermutlich waren es Ärzte. Wieder ging die Nadel rein. »Ich habe noch keinen erlebt, der die Nadel so wegsteckt«, sagte einer der beiden. »Er zuckt nicht einmal zusammen«, sagte der andere. »Warum gehn Sie nicht raus und kneifen irgend 'ne Schwester in den Arsch«, sagte ich. »Hör mal, Freundchen, so kannst du mit uns nicht reden!« Wieder wurde ich angestochen. Ich gab keinen Ton von mir. »Der Junge ist offensichtlich sehr verbittert...« »Ja, natürlich, das ist es ...« Die beiden gingen hinaus. »Das sind hochqualifizierte Leute«, sagte mein Arzt zu mir. »Es ist nicht anständig, so etwas zu ihnen zu sagen.« »Machen Sie nur weiter mit Ihrer Bohrmaschine«, sagte ich. Das tat er auch prompt. Die Nadel wurde sehr heiß, aber er legte keine Pause ein. Er bohrte mir auf dem ganzen Rücken herum, dann nahm er sich meine Brust vor und schließlich den Hals und das Gesicht. Eine Schwester kam herein und bekam ihre Instruktionen. »Also, Miss Ackerman, ich möchte, daß diese... Pusteln ... gründlich drainiert werden. Auch wenn Blut kommt - drücken Sie ruhig weiter. Das muß sehr gründlich geschehen.«
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»Ja, Dr. Grundy.« »Und anschließend eine UV-Bestrahlung. Für den Anfang zwei Minuten auf jeder Seite ...« »Ja, Dr. Grundy.« Ich folgte Miss Ackerman in einen anderen Raum und legte mich auf den Behandlungstisch. Sie nahm ein Kleenex in die Hand und begann mit der ersten Pustel. »Tut das weh?« »Es geht.« »Armer Kerl.« »Keine Sorge. Es tut mir nur leid, daß Sie das da machen müssen.« »Armer Junge ...« Miss Ackerman war der erste Mensch, der mir Mitgefühl entgegenbrachte. Es war ein seltsames Gefühl. Sie war eine mollige kleine Person, etwa Anfang dreißig. »Gehst du zur Schule?« fragte sie. »Nein. Sie mußten mich rausnehmen.« Sie drückte weiter und hielt dabei die Unterhaltung in Gang. »Was machst du so den ganzen Tag?« »Im Bett liegen.« »Das ist ja schrecklich.« »Nein, es ist schön. Mir gefällt es.« »Tut das weh?« »Es geht. Machen Sie nur weiter.« »Warum findest du es schön, den ganzen Tag im Bett zu liegen?« »Weil ich da niemand sehn muß.« »Und das tut dir gut?« »Oh ja.« »Und mit was vertreibst du dir die Zeit?« »Ich hör ab und zu Radio.« »Was hörst du dir an?« »Musik. Und was sie da so reden.« »Denkst du auch an Mädchen?« »Klar. Aber das ist aussichtslos.« »So was darfst du nicht denken.« »Ich mach mir Tabellen, in die ich die Flugzeuge eintrage, die übers Haus kommen. Sie kommen jeden Tag zur gleichen Zeit. Ich kenne von jedem den Flugplan. Wenn ich zum Beispiel weiß, daß eins um 11.15 Uhr fällig ist, fang ich so fünf Minuten vorher an zu horchen, ob ich das Motorengeräusch hören kann. Manchmal bilde ich mir nur ein, daß ich es höre, und manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, aber dann höre ich es ganz deutlich, noch aus großer Entfernung. Das Geräusch wird immer stärker, und Punkt 11.15 Uhr ist es dann ganz laut, und das Flugzeug ist direkt über dem Haus.« »Und das machst du jeden Tag?« »Natürlich nicht, wenn ich hier bin.« »Jetzt dreh dich mal um«, sagte Miss Ackerman. 83
Ich drehte mich auf den Rücken. Im angrenzenden Raum begann ein Mann zu schreien. Nebenan war die Psychiatrie. Es waren gellende Schreie. »Was machen sie mit dem?« fragte ich. »Er wird geduscht.« »Und da schreit er immer so?« »Ja.« »Ich bin schlimmer dran als der.« »Nein, das bist du nicht.« Ich mochte Miss Ackerman. Ich beobachtete sie verstohlen aus den Augenwinkeln. Sie hatte ein pausbäckiges Gesicht und war nicht sehr hübsch, aber ihr Häubchen saß schräg und keck auf ihrem Kopf, und sie hatte große dunkelbraune Augen. Die gefielen mir besonders. Als sie zum Müllschlucker ging, um einige verschmutzte Kleenex hineinzuwerfen, sah ich ihr nach. Nun, sie war keine Miss Gredis, und ich hatte schon allerhand Frauen mit einer besseren Figur gesehen, aber sie hatte so etwas Herzliches an sich. Und sie rieb einem ihre Weiblichkeit nicht ständig unter die Nase. »Wenn ich mit deinem Gesicht fertig bin«, sagte sie, »gebe ich dir die Bestrahlung. Dein nächster Termin ist übermorgen um 8.30 Uhr.« Während sie mit meinem Gesicht beschäftigt war, gab es keine Gelegenheit zu weiterer Unterhaltung. Schließlich war sie fertig. Ich band mir die Augenklappen um, und Miss Ackerman stellte den Bestrahlungsapparat an. Ich hörte ein tickendes Geräusch, das eine friedliche Stimmung verbreitete. Vielleicht war es die eingebaute Uhr. Oder der Reflektor der Lampe, der heiß wurde. Es war tröstlich und entspannend, doch als ich über die Sache nachdachte, kam ich zu dem Ergebnis, daß alles sinnlos war, was sie hier mit mir machten. Ich sagte mir, daß ich bestenfalls für den Rest meines Lebens eine vernarbte Haut haben würde. Das war schon schlimm genug, aber was mich noch mehr störte, war die Tatsache, daß sie nicht wußten, was sie mit mir anstellen sollten. Ich spürte es an ihren Diskussionen und ihrem ganzen Verhalten. Sie waren unschlüssig und unsicher, aber auch gleichgültig und gelangweilt. Letzten Endes war es egal, was sie taten. Irgend etwas mußten sie eben tun, denn gar nichts zu tun, wäre unprofessionell gewesen. Sie experimentierten an den mittellosen Patienten herum, und wenn etwas klappte, dann wandten sie es auch bei den Reichen an. Und wenn es schief ging, gab es ja immer noch mehr mittellose Patienten, an denen man herumexperimentieren konnte. Der Apparat schnarrte. Die zwei Minuten waren um. Miss Ackerman kam herein und sagte mir, ich solle mich auf den Bauch legen. Sie stellte den Apparat wieder an und ging. Sie war der freundlichste Mensch, der mir seit acht Jahren begegnet war.
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Das Anbohren und Ausdrücken zog sich mehrere Wochen hin, doch es nützte wenig. Sobald eine Pustel verschwand, erschien schon wieder eine neue. Oft stand ich vor dem Badezimmerspiegel und fragte mich, wie häßlich ein Mensch eigentlich werden konnte. Ich starrte ungläubig mein Gesicht an, dann drehte ich mich um und betrachtete meinen entstellten Rücken. Ich war entsetzt. Kein Wunder, daß ich von den Leuten angestarrt wurde. Kein Wunder, daß sie unerfreuliche Bemerkungen machten. Das war nicht einfach eine Akne, wie sie jeder Teenager bekommen konnte. Nein, das hier waren große entzündete Beulen, die sich erbarmungslos mit Eiter füllten. Ich kam mir vor wie ein Aussätziger, als sei ich dazu bestimmt, so zu sein. Meine Eltern sprachen nie mit mir über meinen Zustand. Sie lebten immer noch von der Fürsorge. Meine Mutter zog jeden Morgen los, um sich nach einem Job umzusehen, und mein Vater stieg weiterhin jeden Morgen in sein Auto, als fahre er zur Arbeit. Die Sozialfälle konnten sich jeden Samstag in den Läden eine gewisse Menge kostenloser Lebensmittel abholen. Es waren größtenteils Konserven, und aus irgendeinem Grund gab es fast immer Cornedbeef. Wir aßen jedenfalls sehr oft Cornedbeef. Und Brote mit Dosenwurst. Und Kartoffeln. Meine Mutter lernte, wie man Kartoffelpuffer zubereitet. Wenn meine Eltern am Samstag ihr Lebensmittelpaket abholten, taten sie es nicht im nächstgelegenen Laden. Sie hatten Angst, jemand aus der Nachbarschaft könnte sie sehen und würde dann wissen, daß sie von der Fürsorge lebten. Also gingen sie zwei Meilen den Washington Boulevard hinunter zu einem Laden, der einige Blocks hinter der Cren-shaw lag. Und dann gingen sie schwitzend die zwei Meilen zurück und schleppten ihre Einkaufstüten mit Cornedbeef und Kartoffeln und Dosenwurst und Karotten. Mein Vater nahm nie das Auto, denn er mußte Benzin sparen. Er brauchte das Benzin für die Fahrten zu seiner imaginären Arbeitsstelle. Die anderen Väter waren nicht wie er. Sie saßen still vor ihrem Haus auf der Veranda, oder sie trafen sich auf dem leeren Grundstück und machten mit Hufeisen Zielwerfen. Von meinem Arzt bekam ich ein weißes Zeug, mit dem ich mir das Gesicht einschmieren sollte. Es trocknete an und wurde hart wie eine Gipsmaske. Zu helfen schien es nicht. Eines Nachmittags war ich allein zuhause, stand in Unterhosen vor dem Spiegel und rieb mich damit ein. Ich versuchte gerade, die entzündeten Stellen auf meinem Rücken zu erreichen, als ich Stimmen hörte. Es war Baldy mit seinem Freund Jimmy Hatcher. Jimmy Hatcher war ein gutaussehender Bursche und ein Klugscheißer dazu. »Henry!« hörte ich Baldy rufen. Er sagte etwas zu Jimmy, dann kam er auf die Veranda und hämmerte an die Tür. »Hey, Hank! Ich bin's! Baldy! Mach auf!« Du verdammter Idiot, dachte ich, kapierst du nicht, daß ich niemand sehen will? »Hank! Hank! Wir sind's! Baldy und Jim!« Ich hörte, wie er zu Jim sagte: »Du, ich hab ihn gesehen! Ich hab ihn da drin rumlaufen sehen!« »Er gibt keine Antwort.« »Wir gehn besser rein, vielleicht ist er in Schwierigkeiten.« Du Idiot, dachte ich, ich bin dein Freund geworden, als niemand was von dir wissen wollte. Und jetzt so was!
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Ich konnte es nicht fassen. Ich rannte in den Flur, versteckte mich in einem Wandschrank und ließ die Tür ein wenig offen. Ich war mir sicher, daß sie nicht ins Haus kommen würden. Aber sie taten es doch. Ich hatte den Hintereingang nicht abgeschlossen. Ich hörte, wie sie durchs Haus gingen. »Er muß hier sein«, sagte Baldy. »Ich hab gesehen, daß sich was bewegt hat...« Herrgottnochmal, dachte ich, kann ich mich hier nicht mal bewegen? Schließlich wohne ich hier. Da hockte ich nun in diesem dunklen Wandschrank. Hier drin durften sie mich auf keinen Fall erwischen. Ich stieß also die Tür auf, sprang heraus und lief den Flur hinunter. »Macht, daß ihr hier verschwindet, ihr Arschlöcher!« Sie starrten mich an. »Raus hier! Ihr habt kein Recht, hier drin zu sein! Verschwindet, oder ich mach euch ein!« Sie rannten auf die hintere Veranda hinaus. »Los! Weg hier, oder ich bring euch um!« Sie rannten die Einfahrt hinunter zur Straße. Ich sah ihnen nicht nach. Ich ging in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Warum wollten die beiden unbedingt zu mir? Was wollten sie hier? Es gab nichts zu tun. Und zu reden gab es auch nichts. Ein paar Tage danach ging meine Mutter mal nicht auf Arbeitssuche, und ich hatte keinen Termin im Kreiskrankenhaus. Wir waren also zusammen im Haus. Das behagte mir gar nicht. Ich hatte das Haus lieber für mich allein. Ich blieb in meinem Zimmer und hörte zu, wie sie draußen herumpusselte. Mein Ausschlag war schlimmer denn je. Ich sah auf meiner Flugzeugtabelle nach. Die 11.30 Uhr-Maschine war fällig. Ich spitzte die Ohren. Nichts. Sie hatte Verspätung. Schließlich kam sie. Als sie über dem Haus war, stoppte ich drei Minuten Verspätung. Dann schellte es an der Haustür. Ich hörte, wie meine Mutter nach vorn ging und aufmachte. »Emily. Wie geht's?« »Hallo, Katy. Und dir?« Es war meine Großmutter. Sie war inzwischen sehr alt. Ich hörte die beiden reden, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dafür war ich dankbar. Sie unterhielten sich fünf oder zehn Minuten, dann kamen sie den Flur herunter, auf mein Zimmer zu. »Ich werde euch noch alle überleben«, hörte ich meine Großmutter sagen. »Wo ist der Junge?« Die Tür ging auf. Sie kamen herein und blieben stehen. »Hallo, Henry«, sagte meine Großmutter. »Deine Großmutter ist gekommen, um dir zu helfen«, sagte meine Mutter. Die Großmutter hatte eine geräumige Handtasche dabei. Sie stellte sie auf die Kommode und holte ein riesiges silbernes Kruzifix heraus. »Deine Großmutter will dir helfen, Henry.« Großmutter hatte noch mehr Warzen im Gesicht, und sie war noch dicker geworden. Sie wirkte unverwüstlich. Sie sah aus, als werde sie nie sterben. Sie war inzwischen so alt, daß es für sie fast sinnlos war, jetzt noch zu sterben. »Leg dich auf den Bauch, Henry«, sagte meine Mutter.
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Ich drehte mich auf den Bauch, und meine Großmutter beugte sich über mich. Aus einem halben Auge konnte ich sehen, daß sie dieses riesige Kruzifix über mir pendeln ließ. Ich hatte mich schon vor ein paar Jahren gegen die Religion entschieden. Wenn das Zeug stimmte, machte es die Leute zu Narren. Oder es zog Leute an, die schon welche waren. Und wenn es nicht stimmte, ließ es die Narren nur um so dämlicher aussehen. Aber hier wurde es schließlich von meiner Großmutter und Mutter praktiziert. Ich beschloß, ihnen ihren Willen zu lassen. Das Kruzifix pendelte über meinem verpickelten Rücken hin und her. »Gott«, betete meine Großmutter, »vertreibe den Satan aus dem Leib dieses armen Jungen! Sieh dir nur all diese Geschwüre an! Lieber Gott, mir wird ganz schlecht davon! Sieh sie dir an! Das ist der Satan, o Herr, der im Körper dieses Jungen haust. Herr, vertreibe ihn aus seinem Leib!« »Vertreibe den Satan aus seinem Leib, o Herr!« sagte meine Mutter. Was ich brauche, ist ein anständiger Arzt, dachte ich. Was ist los mit diesen Weibern? Warum lassen sie mich nicht in Frieden? »Gott«, sagte meine Großmutter, »warum duldest du, daß der Satan im Leib dieses Jungen haust? Siehst du nicht, wie der Satan es genießt? Sieh dir diese Geschwüre an, o Herr! Mir kommt es hoch, wenn ich sie nur ansehe! Sie sind so rot und groß und voll!« »Vertreibe den Satan aus dem Leib meines Jungen«, keifte meine Mutter. »Gott bewahre uns vor diesem Übel!« schrie meine Großmutter. Sie packte ihr Kruzifix und bohrte es mir mitten in den Rücken. Blut spritzte heraus. Ich spürte es, zuerst warm, dann plötzlich kalt. Ich wälzte mich herum und setzte mich auf. »Scheiße! Was machst du denn?!« »Ich mache ein Loch, durch das Gott den Satan austreiben soll!« sagte meine Großmutter. »Jetzt reicht mir's aber!« sagte ich. »Ich möchte, daß ihr beide hier verschwindet, aber schnell! Habt ihr mich verstanden?« »Er ist immer noch besessen!« sagte meine Großmutter. »Verfluchte Scheiße!« schrie ich. »Raus hier!« Schockiert und enttäuscht zogen sie sich zurück und machten die Tür hinter sich zu. Ich ging ins Badezimmer, knüllte eine Handvoll Klopapier zusammen und versuchte, die Blutung zu stillen. Als ich das Klopapier ansah, war es ganz durchweicht. Ich riß neues Papier von der Rolle und drückte es mir eine Weile auf den Rücken. Dann nahm ich die Flasche Jod vom Regal. Ich schwang den Arm nach hinten und versuchte, die Wunde mit dem Jod zu erreichen. Es war einigermaßen schwierig. Schließlich gab ich auf. Außerdem, wer hatte schon mal was von einer unheilbaren Rückenentzündung gehört. Entweder man lebte damit, oder man starb. Eine Möglichkeit, wie sie einem den Rücken amputieren konnten, hatten die Arschkrücken noch nicht entdeckt. Ich ging zurück in mein Zimmer, legte mich ins Bett und zog mir das Laken bis zum Kinn. Ich sah die Zimmerdecke an und führte Selbstgespräche: All right, Gott. Nehmen wir mal an, du bist wirklich da oben. Dann hast du mich in diese beschissene Lage gebracht. Du willst mich auf die Probe stellen, hm? Was ist, wenn ich dich mal auf die Probe stelle? Angenommen, ich bestreite, daß es dich gibt? Du hast mir da einen göttlichen Test verpaßt, mit meinen Eltern hier und mit diesen Eiterbeulen. Ich bilde mir ein, 87
daß ich die Probe bestanden habe. Ich bin härter als du. Wenn du jetzt hier runter kommst, spuck ich dir ins Gesicht. Falls du eins hast. Gehst du auch aufs Scheißhaus ? Die Frage hat uns dieser Pfarrer nie beantwortet. Er hat nur gesagt, wir sollen nicht zweifeln. An was denn? Ich finde, du hast mich schon viel zu lange getriezt, deshalb fordere ich dich jetzt auf, hier runter zu kommen, damit ich dich auf die Probe stellen kann! Ich wartete. Es tat sich nichts. Ich wartete auf Gott. Wartete und wartete. Schließlich muß ich wohl eingeschlafen sein. Ich schlief nie auf dem Rücken, doch als ich wieder wach wurde, lag ich auf dem Rücken. Das überraschte mich. Ich hatte die Beine angezogen, so daß das Laken wie ein Berg vor mir hochragte. Und als ich näher hinschaute, stellte ich fest, daß mich daraus zwei Augen anstarrten. Sie waren schwarz und leer, überschattet von einer Kapuze, einer spitzen schwarzen Kapuze, wie sie die Leute vom Ku-Klux-Klan trugen. Diese dunklen leeren Augen starrten mich an, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich bekam eine Heidenangst. Ich dachte mir, das müsse Gott sein. Aber der sollte doch angeblich gar nicht so aussehen ... Die Erscheinung hing da vor meinen Augen und starrte mich immer nur an. Stundenlang, wie es schien. Dann war sie plötzlich weg. Ich blieb im Bett und dachte darüber nach. Ich konnte nicht glauben, daß das Gott gewesen sein sollte. Mit so einer Kapuze. Das wäre doch wirklich ein billiger Trick gewesen .. . Nein, ich hatte mir natürlich alles nur eingebildet. Ich grübelte noch zehn oder fünfzehn Minuten, dann stand ich auf und ging an den kleinen braunen Kasten, den mir meine Großmutter vor Jahren einmal geschenkt hatte. Er enthielt winzige Papierröllchen mit Bibelsprüchen. Für jedes Röllchen gab es ein eigenes Fach. Man sollte eine Frage stellen und so ein Röllchen herausfischen, und darauf sollte dann die Antwort stehen. Ich hatte es einmal probiert, aber es war nichts dabei herausgekommen. Jetzt probierte ich es noch einmal. Ich fragte diesen braunen Kasten: »Was hat das bedeutet? Was hatten diese Augen zu bedeuten?« Ich nahm so ein Papier heraus und entrollte es. Es war ein winziger Schnipsel aus steifem Papier. Ich las, was daraufstand: GOTT HAT DICH VERSTOSSEN. Ich rollte es wieder zusammen und legte es zurück. Ich glaubte nicht daran. Ich legte mich ins Bett und machte mir meine Gedanken. Es war zu simpel. Zu direkt. Nein, ich glaubte es nicht. Ich überlegte, ob ich mir einen runterholen sollte, um wieder auf den Teppich zu kommen. Ich glaubte immer noch nicht, was ich da gelesen hatte. Ich stand wieder auf, nahm sämtliche Röllchen aus dem Kasten und wickelte sie auf. Ich las sie alle durch. Auf keinem stand etwas, von wegen »Gott hat dich verstoßen«. Ich rollte sie wieder ein und legte sie in ihre Fächer zurück. Die Pusteln wurden nun immer schlimmer, und ich fuhr weiterhin mit der Straßenbahn der Linie 7 zum Kreiskrankenhaus, und mit der Zeit verknallte ich mich in Miss Ackerman, die mir so hingebungsvoll die Dinger ausquetschte. Trotz dieser schauerlichen Sache mit Blut und Eiter war sie immer freundlich und rücksichtsvoll. Meine Gefühle für sie hatten nichts mit Sex zu tun. Ich wünschte mir nur, sie würde mich an ihren weißen gestärkten Busen drücken, und wir könnten gemeinsam aus dieser Welt verschwinden. Aber das tat sie nie. Dazu war sie zu praktisch veranlagt. Sie erinnerte mich immer nur an meinen nächsten Termin.
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Das Ticken des UV-Apparats verstummte. Ich war wieder auf beiden Seiten bestrahlt worden. Ich nahm die Augenschützer ab und begann, mich anzuziehen. Miss Ackerman kam herein. »Noch nicht. Laß deine Sachen noch aus.« Was hat sie denn jetzt mit mir vor? dachte ich. »Bleib da sitzen.« Ich saß da, und sie rieb mir das Gesicht mit einer Salbe ein. Es war eine dicke butterweiche Substanz. »Die Ärzte haben sich etwas anderes überlegt. Wir werden dir das Gesicht verbinden, damit es besser heilt.« »Miss Ackerman, was ist eigentlich aus dem Mann geworden, der diese große Nase hat? Die Nase, die immer weiter wächst?« »Mr. Sleeth?« »Der Mann mit der großen Nase.« »Das war Mr. Sleeth.« »Ich sehe ihn gar nicht mehr. Ist er geheilt?« »Er ist tot.« »Sie meinen, er ist an dieser großen Nase gestorben?« »Nein. Selbstmord.« Sie cremte mich weiter ein. Dann hörte ich in der Abteilung nebenan einen Mann schreien. »Joe, wo bist du? Joe, du hast gesagt, du kommst wieder! Joe, wo bist du?« Die Stimme war nicht nur laut. Sie klang so traurig, so gequält. »Das macht er schon die ganze Woche«, sagte Miss Ackerman. »Jeden Nachmittag. Und Joe wird nicht kommen und ihn holen.« »Kann man ihm nicht helfen?« »Ich weiß nicht. Am Ende werden sie alle ruhig. Jetzt halt mal den Finger auf den Mull da. Damit ich dir den Verband drumwickeln kann. So. Ja. Gut so. Jetzt laß los. Gut.« »Joe! Joe, du hast gesagt, du kommst wieder! Wo bist du, Joe?« »So, jetzt halt noch dieses Stück Mull fest. Ja. Drück drauf. Ich werde dich richtig vermummen. So. Jetzt noch die Enden abschneiden.« Dann war sie fertig. »Okay, kannst dich anziehen. Also dann bis übermorgen. Wiedersehn, Henry.« »Wiedersehn, Miss Ackerman.« Ich zog mich an, verließ den Raum und ging den Korridor hinunter. In der Halle hatten sie einen Zigarettenautomaten mit einem Spiegel darüber. Ich sah hinein. Fabelhaft. Mein ganzer Kopf war umwickelt. Alles weiß. Man sah nur noch Augen, Mund und Ohren, und oben auf meinem Kopf ragten ein paar Haarbüschel heraus. Wunderbar. Ich war getarnt. Ich machte mir eine Zigarette an und sah mich unauffällig um. Einige Patienten saßen in der Halle und lasen Zeitungen und Illustrierte. Ich kam mir sehr außergewöhnlich vor. Und ein
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bißchen zum Fürchten. Niemand konnte ahnen, was mir zugestoßen war. Ein Autounfall. Ein Kampf auf Leben und Tod. Ein Mord. Eine Brandkatastrophe. Niemand wußte es. Ich ging hinaus. Auf der Straße konnte ich ihn immer noch hören: »Joe! Joe! Wo bist du?« Joe kam nicht. Es machte sich nicht bezahlt, einem Mitmenschen zu vertrauen. Was immer es sein mochte - die Menschen hatten es nicht. Auf der Fahrt nach Hause saß ich in der Straßenbahn auf einem hinteren Platz und hatte eine qualmende Zigarette, die aus meinem bandagierten Kopf herausragte. Ich wurde angestarrt, aber es machte mir nichts mehr aus. In ihren Blicken lag jetzt mehr Angst als Abscheu. Ich hoffte, daß es immer so bleiben würde. Als ich an der Endstation ausstieg, ging es auf den Abend zu. Ich blieb an der Ecke Washington Boulevard und Westview Avenue stehen und sah mir die Leute an. Die wenigen, die einen Job hatten, kamen von der Arbeit nach Hause. Mein Vater würde auch bald von seinem eingebildeten Job zurückkommen. Ich hatte keinen Job, ging auch nicht zur Schule, hatte nichts zu tun. Ich war bandagiert, stand an einer Straßenecke herum und paffte eine Zigarette. Ich war ein harter Brocken, ein gefährlicher Mensch. Ich wußte über einiges Bescheid. Sleeth hatte sich das Leben genommen. Das würde ich nicht tun. Eher würde ich ein paar von denen killen. Ich würde vier oder fünf von ihnen mitnehmen. Ich würde ihnen zeigen, was zu gewärtigen war, wenn man an mir herumpfuschte. Eine Frau kam mir entgegen. Gute Beine. Ich starrte ihr direkt in die Augen, dann sah ich auf die Beine herunter, und als sie an mir vorbeiging, genoß ich ihren Hintern in vollen Zügen. Ich prägte mir jedes Schlingern ihres Hinterns ein, die pfeilgeraden Strumpf nähte an ihren strammen Waden. Ohne meinen Mullverband hätte ich mir das niemals leisten können.
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Am nächsten Tag wurde es mir im Bett zu langweilig, immer nur auf meine Flugzeuge zu warten. Ich stand auf und entdeckte ein großes gelbes Schreibheft, das für Schularbeiten gedacht war. Es war noch ganz leer. Ich suchte mir einen Stift, legte mich wieder ins Bett und fing an, einige Zeichnungen zu machen. Ich zeichnete Frauen mit Stöckelschuhen, die Beine übereinander, den Rock hoch. Dann fing ich an, eine Geschichte zu schreiben. Sie handelte von einem deutschen Jagdflieger im I. Weltkrieg: Baron von Himmlen. Er flog eine rote Fokker, und er war bei seinen Fliegerkameraden nicht beliebt. Er redete nicht mit ihnen, er trank allein, und er flog allein. Nicht einmal mit Frauen gab er sich ab, obwohl sie alle in ihn vernarrt waren. Er stand darüber. Er war zu beschäftigt. Er war damit beschäftigt, Flugzeuge der Alliierten vom Himmel zu schießen. Hundertzehn hatte er bereits abgeschossen, und der Krieg war noch nicht zu Ende. Seine rote Fokker, die er als »Herbstvogel des Todes« zu bezeichnen pflegte, war überall bekannt. Selbst die feindlichen Bodentruppen kannten ihn, denn er flog oft dicht über sie hinweg, ließ sich lachend von ihnen beschießen und warf ihnen Champagnerflaschen an kleinen Fallschirmen ab. Baron v. Himmlen wurde nie von weniger als fünf feindlichen Flugzeugen zugleich angegriffen. Er war ein häßlicher Mann mit vernarbtem Gesicht, doch 90
wenn man ihn lange genug ansah, strahlte er eine seltsame Schönheit aus - es lag an seinen Augen, seinem Stil, seinem Mut, seinem entschlossenen Einzelgängertum. Ich schrieb Seite um Seite über die Luftkämpfe des Barons. Wie er drei oder vier Flugzeuge herunterholte und wieder nach Hause flog, obwohl von seiner roten Fokker kaum noch was übrig war. Er setzte hüpfend auf der Landebahn auf, und die Maschine war noch nicht ausgerollt, da sprang er schon heraus und begab sich stracks in die Bar. Er griff sich eine Flasche, setzte sich allein an einen Tisch, schenkte sich ein Glas nach dem anderen ein und kippte es herunter. Keiner trank wie der Baron. Die anderen standen nur an der Bar und sahen ihm zu. Einmal fragte einer von ihnen: »Was ist, Himmlen? Sind Sie sich zu gut für uns?« Der Mann hieß Willi Schmidt und war der größte und stärkste Bursche in der ganzen Staffel. Der Baron kippte sein Glas, stellte es ab, stand auf und ging langsam auf Willi zu. Die anderen wichen zurück. »Meine Güte, was haben Sie denn vor?« fragte Willi. Der Baron ging weiter auf ihn zu. Langsam. Wortlos. »Herrgott, Baron, das war doch nur Spaß! Bei der Ehre meiner Mutter! Hören Sie, Baron ... Baron! ... der Feind ist da draußen! Baron!« Der Baron knallte ihm eine verdeckt geschlagene Rechte mitten ins Gesicht. Willi riß es komplett nach hinten über die Bar. Er krachte in den Spiegel, und ringsum schepperten die Flaschen nieder. Der Baron zog eine Zigarre aus seiner Brusttasche, zündete sie an, ging zurück zu seinem Tisch, setzte sich hin und goß sich den nächsten Drink ein. Von da an machte keiner mehr eine Bemerkung zu ihm. Sie hievten Willi hinter der Bar heraus. Sein Gesicht war nur noch roter Matsch. Der Baron holte ein Flugzeug nach dem anderen vom Himmel. Niemand wußte, wie er es zu solcher Kunstfertigkeit mit seiner roten Fokker gebracht hatte. Auch seine Eigenheiten blieben rätselhaft. Die Angewohnheit, auf eine Bemerkung mit der Faust zu antworten. Oder sein federnder Gang. Ungerührt flog der Baron seine Einsätze. Manchmal hatte er auch Pech. Eines Tages, als er vier alliierte Maschinen abgeschossen hatte und schwer angeschlagen in geringer Höhe mühsam über die feindlichen Stellungen nach Hause flog, durchschlug ein Schrapnell das Cockpit und riß ihm die rechte Hand ab. Er brachte seine rote Fokker trotzdem zurück. Von nun an flog er mit einer eisernen Prothese. Das beeinträchtigte seine fliegerische Kunst kein bißchen. Und die Burschen an der Bar nahmen sich jetzt noch mehr vor ihm in acht. Dem Baron stieß noch allerhand zu. Zweimal machte er im Niemandsland eine Bruchlandung, und jedesmal kroch er zu seiner Staffel zurück, halb tot, durch Stacheldraht und Leuchtkugeln und feindliches Feuer. Mehr als einmal wurde er von seinen Kameraden aufgegeben, weil sie dachten, er sei tot. Einmal blieb er acht Tage aus, und die Piloten saßen in der Bar und redeten davon, was für ein außergewöhnlicher Mensch er gewesen war. Als sie hochsahen, stand der Baron in der Tür, mit acht Tage alten Bartstoppeln, die Uniform verdreckt und zerrissen, die Augen rot und glasig, und seine eiserne Faust glitzerte im Schein der Deckenlampe. Er stand da und sagte: »Wenn ich nicht sofort einen gottverdammten Whisky kriege, nehme ich die Bude auseinander!« Der Baron vollbrachte noch so manches Wunder. Bald war das halbe Schreibheft voll mit seinen Abenteuern. Es gab mir ein gutes Gefühl, über den Baron zu schreiben. Der Mensch brauchte schließlich ein Vorbild. Und da weit und breit keines zu sehen war, mußte man eben eines erfinden, das so war, wie ein Mann zu sein hatte. Das war weder verlogen, noch war es Selbstbetrug. Das andere war verlogener Selbstbetrug: Ohne einen Mann wie ihn durchs Leben zu gehen. 91
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Die Mullverbände halfen. Das L. A. County Hospital war also endlich auf etwas gestoßen, das nützte. Die Pusteln trockneten langsam aus. Sie verschwanden nicht, aber sie wurden ein bißchen flacher. Es traten allerdings neue auf, und man mußte mich weiterhin anbohren und wieder verbinden. Meine Sitzungen mit der elektrischen Nadel zogen sich endlos hin. Ich brachte die zweiunddreißigste hinter mich, die sechsunddreißigste, die achtunddreißigste. Die Nadel hatte mir eigentlich nie Angst gemacht, ich war nur wütend über die endlose Prozedur, doch mittlerweile war auch die Wut vergangen. Ich empfand nicht einmal Resignation. Ich war nur gründlich verdrossen, daß das alles ausgerechnet mir passieren mußte, und ich war sauer auf die Ärzte, weil sie nicht damit fertig wurden. Sie waren hilflos, und ich war hilflos - nur mit dem Unterschied, daß sie zu ihren Frauen nach Hause fahren und alles vergessen konnten, während ich weiter mit diesem Gesicht herumlaufen mußte. Doch es gab auch Veränderungen in meinem Leben. Mein Vater fand Arbeit. Er machte eine Prüfung im L. A. County Museum und bekam einen Job als Wärter. Mit Prüfungen tat er sich nie schwer. Mathematik und Geschichte lagen ihm besonders. Er bestand also auch diese Prüfung und hatte nun endlich jeden Morgen ein festes Ziel. Drei Stellen für Wärter waren frei gewesen, und er hatte eine davon bekommen. Die vom Kreiskrankenhaus fanden das irgendwie heraus, und eines Tages sagte Miss Ackerman zu mir: »Henry, das ist heute deine letzte Behandlung. Ich werde dich vermissen.« »Ach kommen Sie«, sagte ich. »Mal ehrlich: Sie werden mich ungefähr so vermissen, wie mir diese elektrische Nadel da fehlen wird.« Doch sie war sehr eigenartig an diesem Tag. Ihre großen Augen hatten einen feuchten Schimmer. Ich hörte, wie sie sich heftig schneuzte, und dann hörte ich eine der Schwestern sagen: »Nanu, Janice, was hast du denn?« »Nichts. Nichts hab ich.« Die arme Miss Ackerman. Ich war fünfzehn Jahre alt und in sie verliebt, und ich hatte Pickel von Kopf bis Fuß, und keiner von uns konnte aus der Situation etwas machen. »So«, sagte sie, »das wird jetzt deine letzte Bestrahlung. Leg dich auf den Bauch.« »Ich weiß jetzt ihren Vornamen«, sagte ich. »Janice. Das find ich 'n hübschen Namen. Er paßt auch so zu Ihnen ...« »Ach sei still«, sagte sie. Ich sah sie noch einmal, als der Summer im Apparat ertönte. Ich drehte mich auf den Rücken, sie stellte die Uhr neu ein und verließ den Raum. Danach sah ich sie nie mehr wieder. Mein Vater hielt nichts von Ärzten, die etwas kosteten. »Sie lassen dich in ein Glas pissen, nehmen dir dein Geld ab und fahren wieder nach Hause zu ihren Weibern in Beverley Hills«, sagte er. Doch dann schickte er mich doch zu einem. Der Arzt roch aus dem Mund, und sein Kopf war rund wie ein Basketball, nur dass er im Gegensatz zu einem Basketball zwei kleine Augen hatte. Ich konnte meinen Vater nicht leiden, und dieser Arzt war kein bisschen besser. Nichts Gebratenes, sagte er, und viel Karottensaft trinken. Das war alles.
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Und dann eröffnete mir mein Vater, ich solle mit Beginn des nächsten Schuljahres wieder an der Chelsey High weitermachen. »Ich racker mir den Arsch ab, damit die Besucher nichts klauen. Gestern hat so ein Nigger eine Vitrine eingeschlagen und ein paar seltene Münzen gestohlen. Aber ich hab den Bastard erwischt. Ich hab mich mit ihm die ganze Treppe runtergewälzt und ihn festgehalten, bis die anderen dazugekommen sind. Ich riskiere jeden Tag mein Leben. Warum solltest du da auf deinem Arsch rumsitzen und den Griesgram mimen? Ich will, dass du mal Ingenieur wirst. Aber wie zum Deibel soll aus dir 'n Ingenieur werden, wenn ich nichts als Hefte finde, die voll sind von Weibern mit dem Rock rauf bis zum Hintern? Ist das alles, was du zeichnen kannst? Warum zeichnest du nicht Blumen oder Berge oder den Ozean? Du gehst mir wieder auf die Schule!« Ich trank also Karottensaft und wartete auf den Beginn des nächsten Schuljahrs. Ich hatte nur ein Jahr verpasst. Mein Ausschlag war noch nicht geheilt, aber er war nicht mehr so schlimm wie vorher. »Weißt du, was mich dein Karottensaft kostet? Die erste Stunde jeden Morgen arbeite ich bloß für deinen gottverdammten Karottensaft!« Ich entdeckte inzwischen die La Cienega Public Library und besorgte mir einen Ausweis. Es war eine sehr kleine Bücherei, in der Nähe der alten Kirche am West Adams Boulevard, und sie hatten dort nur eine einzige Bibliothekarin. Die Dame war eine vornehme Erscheinung und wirkte sehr gebildet. Sie war ungefähr 38, hatte aber schon ganz weißes Haar, das im Nacken zu einem straffen Knoten gebunden war. Sie hatte eine spitze Nase und grüne Augen und trug eine randlose Brille. Man hatte den Eindruck, als wüsste sie rein alles. Ich ging an den Regalen entlang und suchte nach Büchern, die mir etwas geben würden. Ich nahm eines nach dem anderen herunter, doch ich erlebte nur Pleiten. Sie waren elend langweilig. Die Autoren hatten Seite um Seite gefüllt, doch zu sagen hatten sie nichts. Und wenn sie etwas zu sagen hatten, dann taten sie es so weitschweifig, dass man bereits ermüdet war, wenn sie die Katze endlich aus dem Sack ließen. Ich suchte weiter. Unter den vielen Büchern musste doch wenigstens eines sein, das etwas taugte. Jeden Tag ging ich runter zur Ecke Adams und La Brea, und an ihrem Schreibtisch saß wie immer meine Bibliothekarin, streng und schweigend und gewissenhaft. Ich nahm Bücher aus den Regalen und stellte sie wieder zurück. Endlich machte ich eine Entdeckung. Das Buch war von einem Mann namens Upton Sinclair. Er machte einfache Sätze und schrieb sich seinen Zorn von der Seele: Er schrieb über die Schlachthöfe von Chicago. Er machte keine Umschweife und schilderte es einfach, wie es war. Dann fand ich noch einen. Sinclair Lewis hieß er, und sein Buch nannte sich >Main Street<. Er entlarvte die Einbildung und den Hochmut der Menschen, doch es schien ihm an Leidenschaft zu fehlen. Immer wieder kam ich zurück, fand weitere Bücher und lieh sie aus. Ich las jedes in einer einzigen Nacht durch. Eines Tages strich ich wieder einmal an den Regalen entlang und warf dabei meiner Bibliothekarin verstohlene Blicke zu. Da stieß ich auf ein Werk mit dem Titel >Bow Down To Wood and Stone<. Na, das musste doch gut sein. Das taten wir doch schließlich alle. Autor: Josephine Lawrence. Hm, eine Frau. Na gut, warum nicht. Jeder konnte tiefere Weisheiten entdecken. Ich las einige Seiten. Aber es war dasselbe wie mit den meisten anderen Büchern milchig, verschwommen und ermüdend. Ich stellte das Buch zurück, und da meine Hand nun schon oben war, griff ich zu einem Buch, das ganz in der Nähe stand. Auch jemand namens
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Lawrence. Ich schlug es irgendwo auf und begann zu lesen. Es ging da um einen Mann am Klavier. Auf den ersten Blick wirkte es recht gekünstelt, doch ich las weiter. Der Mann am Klavier hatte Sorgen. Allerhand düstere und merkwürdige Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Die Sätze auf dem Papier standen unter einem enormen Druck, als schreie er alles hinaus. Aber nicht so was wie »Joe, wo bist du?«, sondern eher: »Joe, wo ist denn überhaupt was?!« Dieser Lawrence schrieb eine harte und blutige Zeile. Man hatte mir noch nie etwas von ihm erzählt. Warum diese Heimlichtuerei? Warum machte man nicht Reklame für ihn? Ich las alles, was sie von D. H. Lawrence hatten. Jeden Tag lieh ich mir eines seiner Bücher aus, und die Bibliothekarin sah mich allmählich schon ganz eigenartig an. »Na, wie geht's heute?« fragte sie immer. Das klang jedes mal so gut. Als sei ich bereits mit ihr im Bett gewesen. D. H. Lawrence brachte mich auf die richtige Spur. Erst zu der Dichterin Hilda Doo-little, dann zu seinem Freund Huxley, dem jüngsten von den Huxleys. Ein Buch führte zum nächsten. Dos Passos. Nicht gerade überwältigend, aber gut genug. Für seine Trilogie über die USA brauchte ich mehr als eine Nacht. Dreiser gab mir nichts. Im Gegensatz zu Sherwood Anderson. Und dann kam Hemingway. Davon war ich restlos begeistert. Also der wusste wirklich, wie man einen Satz zu Papier bringt. Ein einziger Genuss. Worte waren nichts Langweiliges. Sie waren etwas, das die Hirnwindungen vibrieren ließ. Wenn man sie las, wenn man sich ihrer Magie überließ, fielen alle Qualen von einem ab, und man konnte mit Zuversicht durchs Leben gehen. Mochte kommen, was wollte. Zuhause freilich war es immer dasselbe. »LICHT AUS!« brüllte mein Vater jeden Abend. Ich las inzwischen die Russen, Turgenjew und Gorki. Mein Vater bestand darauf, dass Punkt acht Uhr die Lichter aus zu sein hatten. Er musste sich gut ausschlafen, damit er am nächsten Tag mit frischen Kräften seine Arbeit versehen konnte. Der Job war sein einziges Thema. Meiner Mutter lag er damit den ganzen Abend in den Ohren. Von dem Augenblick, wenn er zur Tür hereinkam, bis die beiden zu Bett gingen. Er war entschlossen, es an seinem neuen Arbeitsplatz zu etwas zu bringen. »All right! Schluß mit diesen gottverdammten Büchern. Licht aus!« Für mich waren diese Männer, die aus dem Nichts in mein Leben gekommen waren, meine einzige Chance. Sie waren die einzigen Stimmen, die mir etwas zu sagen hatten. »Ja, ist gut«, rief ich jedes mal. Dann nahm ich die Nachttischlampe unter die Bettdecke, zog auch das Kopfkissen darunter, stellte das Buch dagegen und las weiter. Mit der Lampe wurde es sehr heiß, und nach einer Weile bekam ich kaum noch Luft. Ich lüpfte die Bettdecke, um Luft hereinzulassen. » Was ist das? Sehe ich da Licht? Henry, hast du dein Licht aus?« Rasch deckte ich die Lampe wieder zu und wartete, bis ich meinen Vater schnarchen hörte. Turgenjew war ein sehr ernster Bursche, aber er brachte mich zum Lachen, denn eine Wahrheit, die einem zum ersten Mal begegnet, kann sehr komisch sein. Wenn man bei einem anderen eine verwandte Wahrheit entdeckt und er sie nur für einen selbst zu sagen scheint, ist das ein großes Erlebnis. So las ich also meine Bücher bei Nacht, mit der Lampe unter der Bettdecke. Ich las diese unglaublichen Sätze und rang dabei nach Luft. Es war wie ein Wunder. Und mein Vater hatte wieder Arbeit gefunden. Das war sein Wunder ...
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In der Chelsey High ging es weiter wie zuvor. Eine Abschlussklasse war abgegangen und ersetzt worden durch eine andere Gruppe von Seniors mit Sportwagen und teuren Kleidern. Ich wurde nie von ihnen belästigt. Sie ließen mich in Ruhe und ignorierten mich. Die Mädchen gaben ihnen genug zu tun. Mit den armen Schluckern redeten sie nie ein Wort, weder im Klassenzimmer noch außerhalb. Nach ungefähr einer Woche redete ich mal beim Abendessen ein ernstes Wort mit meinem Vater. »Hör mal«, sagte ich, »ich habe es in der Schule ziemlich schwer. Du gibst mir nur 50 Cents Taschengeld in der Woche. Kannst du mir nicht einen Dollar geben?« »Einen Dollar?« »Ja.« Er schob sich eine Portion Rote Bete in den Mund und kaute. Dann sah er unter seinen abwärts geringelten Augenbrauen hervor und musterte mich. »Wenn ich dir einen Dollar die Woche geben würde, dann wären das zweiundfünfzig Dollar im Jahr. Das würde heißen, ich müsste in meinem Job mehr als eine Woche nur für dein Taschengeld arbeiten. « Ich antwortete ihm nichts darauf. Aber im stillen dachte ich: Wenn du es so kleinlich siehst, kannst du dir überhaupt nichts mehr kaufen - Brot, Wassermelonen, Zeitungen, Mehl, Milch oder Rasiercreme. Ich verkniff mir jedes weitere Wort. Wenn man einen hasst, bittet man ihn nicht um einen Gefallen. Die reichen Jungs machten sich einen Spaß daraus, in ihren Sportwagen um die Ecken zu fegen, dass es nach verbranntem Gummi stank, und dann machten sie eine Vollbremsung, ihre Wagen glitzerten in der Sonne, und die Mädchen scharten sich um sie. Der Unterricht war für sie ein Witz, sie waren im Geiste bereits auf dem College, sie machten hier alles mit links und lachten darüber. Sie bekamen gute Noten, man sah sie selten mit einem Buch in der Hand, man sah sie nur um die Ecken schleudern, das Auto voll mit kreischenden lachenden Mädchen. Ich sah ihnen zu mit meinen 50 Cents in der Tasche. Ich wusste nicht einmal, wie man ein Auto fährt. Die armen Schlucker hängten sich weiterhin an mich, die Verlorenen und die Idioten. Ich hatte einen Platz unter der Haupttribüne des Football-Spielfelds, wo ich gerne meine Pausenbrote verzehrte. Kaum saß ich da, in der Hand die braune Tüte mit meinen zwei BolognaSandwiches, da kamen sie schon an. »Hey, Hank, kann ich mich zu dir setzen?« »Hau bloß ab hier, verdammt! Ich sag's nicht zweimal!« Ich hatte schon genug von der Sorte am Hals, und ich hatte für keinen etwas übrig. Baldy. Jimmy Hatcher. Und so ein dürrer schlaksiger jüdischer Bursche namens Abe Mortenson. Er war Einserschüler, aber er war einer der größten Idioten in der ganzen Schule. Er war irgendwie total daneben. Ständig hatte er den Mund voll Spucke, doch statt sie auf den Boden zu spucken, hielt er sich die Hand vor den Mund und spuckte sie da rein. Ich verstand nicht, warum er das tat, aber ich fragte ihn nicht danach. Es wäre mir peinlich gewesen. Ich sah ihm nur zu und ekelte mich. Einmal ging ich mit ihm nach Hause, und da kam ich dahinter, warum er lauter Einsen schrieb: Seine Mutter ließ ihn sofort die Nase in ein Buch stecken und achtete darauf, dass er sie nicht mehr herausnahm. Er musste seine ganzen Schulbücher durchackern, 95
wieder und wieder, Seite um Seite. »Er muss einen guten Abschluss machen«, sagte sie zu mir. Es kam ihr nie in den Sinn, dass diese Bücher womöglich gar nichts taugten. Oder dass es überhaupt nicht darauf ankam. Ich sprach sie erst gar nicht darauf an. Es war wieder wie in der Grundschule. Ich war umgeben von den Schwachen, den Hässlichen, den Verlierern. Es sah ganz so aus, als sollte es mein Schicksal sein, den Rest meines Lebens in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Das störte mich nicht einmal so sehr wie die Tatsache, dass sie offenbar unwiderstehlich von mir angezogen wurden. Ich war wie ein Batzen Kot, der Fliegen anzieht. Statt einer Blume, die von Schmetterlingen und Bienen angeflogen wird. Ich wollte alleine leben, denn da fühlte ich mich immer am besten, auch sauberer, aber ich war nicht clever genug, mir die Typen vom Hals zu halten. Vielleicht waren sie meine Herren und Meister: Väter in anderer Gestalt. Wie auch immer, es war schwer, sie um mich zu haben, während ich dasaß und meine Wurstbrote aß.
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Es gab allerdings auch gute Augenblicke. Gene, mein gelegentlicher Freund aus der Nachbarschaft, war ein Jahr älter als ich und hatte einen Kumpel namens Harry Gibson, der bereits einen Profi-Boxkampf bestritten hatte (er hatte verloren). Eines Nachmittags war ich drüben bei Gene, seine beiden älteren Brüder Larry und Dan waren auch da, und wir rauchten eine Zigarette. Da erschien Harry Gibson und hatte zwei Paar Boxhandschuhe um den Hals hängen. Gibson war ein nassforscher Typ. »Will einer gegen mich antreten?« fragte er. Niemand sagte etwas. Larry, der älteste Bruder von Gene, war so an die zweiundzwanzig. Er war der größte, doch er war irgendwie ängstlich und leicht zurückgeblieben. Er hatte einen gewaltigen Schädel, war kurz und gedrungen, eigentlich richtig gut gebaut, aber alles machte ihm Angst. »Nee «, sagte er, »nee, ich will nicht boxen. « Also sahen wir alle Dan an, den Zweitältesten. Dan war ein Musikgenie und hätte einmal fast ein Stipendium bekommen, aber eben nur fast. Jedenfalls, da Larry die Herausforderung von Harry Gibson nicht angenommen hatte, stellte sich Dan zum Kampf. Harry Gibson war ein Hundsknochen auf glitzernden Rädern. Selbst die Sonne gab sich Mühe, seine Boxhandschuhe besonders leuchten zu lassen. Seine Bewegungen waren präzise, selbstsicher und elegant. Er stelzte und tänzelte um Dan herum. Dan behielt die Deckung oben und wartete ab. Dann zuckte Gibsons erster Schlag heraus. Er knallte wie ein Schuß. Im Garten gab es einen Hühnerstall, und zwei von den Hühnern machten vor Schreck einen Luftsprung. Dan taumelte rückwärts, fiel der Länge nach ins Gras und streckte beide Arme von sich wie ein billiger Christus. Larry warf ihm einen Blick zu und sagte: »Ich geh ins Haus.« Er ging rasch zur Hintertür, machte sie auf und verschwand. Wir anderen gingen hinüber zu Dan. Gibson beugte sich über ihn und hatte ein kleines Grinsen im Gesicht. Gene bückte sich und hob Dan ein wenig den Kopf an. »Dan? Bist du in Ordnung? « Dan schüttelte benommen den Kopf und setzte sich langsam auf. »Menschenskind, dieser Kerl läuft mit einer tödlichen Waffe rum. Macht mir diese Handschuhe ab! «
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Gene nestelte ihm den einen Handschuh auf, und ich kümmerte mich um den anderen. Dan stand auf und schlurfte wie ein alter Mann zur Hintertür. »Ich leg mich ein bisschen hin .. .« Er ging ins Haus. Harry Gibson hob die Handschuhe auf und sah Gene an. »Wie wär’s, Gene? « Gene spuckte ins Gras. »Scheiße, was hast du denn vor? Willst du die ganze Familie umnieten? « »Ich weiß, du bist der beste Boxer hier, Gene. Aber ich werd' trotzdem nicht voll aufdrehen. « Gene nickte, und ich machte ihm die Handschuhe an. Als Sekundant war ich wirklich gut. Sie nahmen Aufstellung. Gibson umkreiste Gene und brachte sich in Fahrt. Er ging rechts herum, links herum, duckte ab und schlingerte hin und her. Dann machte er einen Schritt nach vorn und schlug eine harte linke Gerade. Sie traf Gene direkt auf die Nasenwurzel. Gene ruderte nach rückwärts, und Gibson setzte nach. Als er Gene am Drahtzaun des Hühnerhofs hatte, nagelte er ihn mit der Linken fest und knallte ihm eine harte Rechte an die Schläfe. Gene taumelte am Maschendraht entlang bis zum Gartenzaun. Dann drückte er sich auch dort entlang und hielt sich die Fäuste vors Gesicht. Er machte keinen Versuch, sich zu wehren. Dan kam aus dem Haus mit einem Brocken Stangeneis, den er in einen Scheuerlappen gewickelt hatte. Er setzte sich auf die Stufen und drückte es sich auf die Stirn. Gene wich weiter am Zaun zurück. Harry stellte ihn in der Ecke zwischen Zaun und Garage. Er verpasste ihm einen linken Haken in den Magen, und als Gene einknickte, brachte er ihn mit einem rechten Uppercut wieder hoch. Das missfiel mir. Gibson hielt sich nicht an sein Versprechen, nur mit halber Kraft zu boxen. Ich geriet in Wallung. »Schlag zurück, Gene! Gib's diesem Scheißer! Er ist ein Feigling! Gib's ihm! « Gibson ließ die Fäuste sinken, sah mich von der Seite an und kam zu mir her. »Was hast du gesagt, du halbe Portion? « »Ich hab meinen Mann angefeuert«, sagte ich. Dan war inzwischen bei Gene und machte ihm die Handschuhe ab. »Hab ich da nicht was von >Feigling< gehört? « »Du hast gesagt, du drehst bei ihm nicht voll auf. Hast du aber doch. Du hast draufgedroschen mit allem, was du hast. « »Nennst du mich vielleicht 'n Lügner? « »Ich sag, dass du nicht dein Wort hältst.« »Kommt her und zieht diesem Strolch die Handschuhe an! « Gene und Dan kamen her und zogen sie mir an. »Setz ihm nicht so zu, Hank«, sagte Gene. »Denk daran, dass er sich schon mit uns hier verausgabt hat. « An einem denkwürdigen Tag, von neun Uhr morgens bis abends um sechs, hatten es Gene und ich schon einmal mit bloßen Fäusten ausgetragen. Gene war ziemlich gut gewesen. Ich hatte kleine Hände, und wenn man kleine Hände hat, muss man entweder beinhart schlagen können, oder man muss einiges an Technik draufhaben. Ich hatte von beidem nur sehr wenig. Am nächsten Tag hatte ich am ganzen Oberkörper purpurne Schwellungen gehabt, zwei verquollene Lippen und ein paar lose Vorderzähne. Jetzt sollte ich gegen den Kerl antreten, der gerade meinen letzten Bezwinger vermöbelt hatte ... Gibson tänzelte nach links und nach rechts herum, und dann ging er auf mich los. Ich sah seine linke Gerade überhaupt nicht kommen. Ich wusste auch nicht, wo sie mich getroffen hatte. Aber ich ging zu Boden. Es hatte nicht einmal weh getan, aber da lag ich nun schon auf 97
den Knien. Ich stand wieder auf. Wenn seine Linke soviel anrichten konnte, was würde dann erst seine Rechte tun? Ich musste mir schleunigst etwas einfallen lassen. Harry Gibson kam auf meine linke Seite herum. Statt ihm nach rechts auszuweichen, machte ich einen Schritt nach links. Er sah überrascht drein, und als wir voreinander waren, schlug ich einen wilden linken Schwinger, der ihn mitten auf die Stirn traf. Das war ermutigend. Wenn man einen Kerl einmal treffen kann, dann kann man ihn auch ein zweites Mal treffen. Wir standen uns gegenüber, und er kam sofort zur Sache. Er erwischte mich mit einer Linken, aber ich duckte ab, so schnell ich konnte, und seine hinterher geschlagene Rechte zischte über mich hinweg. Ich ging in den Clinch und trommelte ihm auf die kurzen Rippen. Dann stieß ich mich von ihm ab und fühlte mich wie ein Profi. »Du kannst ihn fertigmachen, Hank!« schrie Gene. »Los, mach ihn fertig, Hank!« schrie Dan. Ich machte einen Satz nach vorn und versuchte, die rechte Führhand ins Ziel zu bringen. Sie ging vorbei, und sein linker Cross knallte mir ans Kinn. Ich sah grüne und gelbe und rote Sternchen, und im nächsten Augenblick verstaute er bereits einen rechten Haken in meinem Magen. Ich hatte das Gefühl, als käme mir seine Faust hinten wieder heraus. Ich packte ihn und klammerte. Doch zur Abwechslung hatte ich jetzt mal keine Angst, und das war ein gutes Gefühl. »Ich mach dich kalt, du Scheißer!« eröffnete ich ihm. Jetzt wurde nicht mehr geboxt, nur noch gedroschen. Seine Schläge kamen schnell und hart. Er war treffsicherer, hatte mehr Pep dahinter, doch auch ich landete ein paar harte Knaller, und das gab mir Auftrieb. Je öfter er mich traf, desto weniger spürte ich. Ich zog den Bauch ein und machte ihn hart. Die Action machte mir Spaß. Dann waren plötzlich Gene und Dan zwischen uns und drängten uns auseinander. »Was ist denn?« fragte ich. »Geht hier nicht dazwischen! Ich kann den Kerl erledigen!« »Red' keinen Quatsch, Hank«, sagte Gene. »Sieh dich doch mal an.« Ich sah an mir herunter. Das Hemd war dunkel von Blut, mit einigen Eiterflecken dazwischen. Die Schläge hatten drei oder vier Pusteln platzen lassen. Bei meinem Kampf mit Gene war das nicht passiert. »Das ist gar nichts«, sagte ich. »Bloß ein bisschen Pech. Er hat mich nirgends verletzt. Gib mir 'ne Chance, ich leg ihn flach!« »Nein, Hank«, sagte Gene. »Sonst kriegst du 'ne Infektion oder so was.« »Ach Scheiße!« sagte ich. »Dann mach mir halt die Handschuhe ab.« Gene nestelte mir die Dinger auf. Als er sie runter hatte, merkte ich, dass meine Hände zitterten. Sogar die Arme, wenn auch nicht ganz so stark. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen. Dan machte inzwischen Harry die Handschuhe ab. Harry sah mich an. »Du bist ziemlich gut, Kid.« »Danke. Tja, dann bis später mal, ihr Typen ...« Ich drehte mich um und ging weg. Nach einigen Schritten nahm ich die Hände aus den Hosentaschen. Als ich vorne an der Straße war, blieb ich stehen, fischte eine Zigarette heraus und steckte sie in den Mund. Ich versuchte, ein Streichholz anzureißen, aber meine Hände zitterten so sehr, dass es nicht ging. Ich winkte den Burschen zu, so richtig nonchalant, und ging weg.
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Zuhause betrachtete ich mich im Spiegel. Hm, gar nicht so übel. Ich machte mich nicht schlecht. Ich zog das Hemd aus und warf es unters Bett. Ich musste irgendeine Möglichkeit finden, das Blut herauszuwaschen. Da ich nicht viele Hemden hatte, würde ihnen sofort auffallen, dass eines fehlte. Für mich jedenfalls war es endlich mal ein erfolgreicher Tag gewesen, und davon hatte ich noch nicht allzu viele erlebt.
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Abe Mortenson war mir ziemlich lästig, aber er war ja nur ein Idiot, und einem Idioten kann man verzeihen, denn er läuft nur in eine Richtung und kann keinem was vormachen. Schlecht fühlt man sich nur, wenn man von einem reingelegt wird. Jimmy Hatcher hatte glattes schwarzes Haar und eine helle reine Haut. Er war nicht so groß wie ich, aber das glich er durch bessere Haltung aus. Er war besser gekleidet als die meisten von uns, und er hatte die Fähigkeit, mit jedem gut auszukommen, bei dem ihm danach war. Seine Mutter war Bardame, und sein Vater hatte Selbstmord begangen. Jimmy hatte perfekte Zähne und ein einnehmendes Lächeln, und die Mädchen mochten ihn, obwohl er nicht das Geld hatte wie die reichen Jungs. Ich sah ihn dauernd mit irgendeinem Mädchen reden. Ich hatte keine Ahnung, was er mit ihnen redete, und ich wusste auch nicht, was die anderen Jungs mit ihnen redeten. Die Mädchen waren für mich unerreichbar, also tat ich einfach, als existierten sie nicht. Mit Hatcher verhielt es sich genau umgekehrt. Ich wusste, dass er nicht schwul war, aber ich hatte ihn ständig auf der Pelle. »Hör mal, Jimmy, warum läufst du mir dauernd nach? Ich kann dich kein bisschen leiden.« »Ach komm, Hank, wir sind doch Freunde.« »So?« »Yeah.« Einmal stand er sogar in der Englischstunde auf und las einen Aufsatz zum Thema >Der Wert der Freundschaft< vor, und dabei sah er wiederholt zu mir her. Es war ein blöder Aufsatz, schlapp und durchschnittlich, doch die ganze Klasse klatschte Beifall, als er fertig war. Naja, dachte ich, so denken sie eben. Was kann man schon dagegen tun? Ich konterte mit einem eigenen Aufsatz unter der Überschrift: >Warum Freundschaft rein gar nichts wert ist<. Die Lehrerin bat mich nicht, ihn der Klasse vorzulesen. Sie gab mir eine »D«. Jimmy, Baldy und ich gingen jeden Tag nach der Schule zusammen nach Hause. (Abe Mortenson blieb uns erspart, da er in der entgegengesetzten Richtung wohnte.) Eines Tages sagte Jimmy auf dem Nachhauseweg: »Hey, laß uns doch mal bei meiner Freundin vorbeischauen. Ich möchte, dass ihr sie kennenlernt. « »Ach Quatsch«, sagte ich. »Scheiß drauf.« »Nein wirklich«, sagte Jimmy, »sie ist sehr nett. Ihr müsst sie unbedingt kennenlernen. Ich hab's ihr schon mit dem Finger besorgt.« Ich kannte seine Freundin bereits. Sie hieß Ann Weatherton, sah wirklich gut aus, hatte langes braunes Haar und große braune Augen. Stiller Typ. Gute Figur. Ich hatte nie mit ihr 99
gesprochen, doch ich wusste, dass sie Jimmys Freundin war. Sie sah aus, als hätte sie eine Menge los. »Ich hab einen Schlüssel zu ihrer Wohnung«, sagte Jimmy. »Wir gehn rein und warten auf sie. Sie hat heute noch eine Stunde länger Schule.« »Find ich aber langweilig«, sagte ich. »Ach komm, Hank«, meinte Baldy, »du gehst ja doch nur nach Hause und zitterst dir einen runter.« »Das hat manchmal auch was für sich«, sagte ich. Als wir dort waren, schloss Jimmy mit seinem Schlüssel die Haustür auf, und wir gingen hinein. Es war ein gemütliches, sauberes Häuschen. Eine kleine schwarzweiße Bulldogge kam angerannt, hüpfte vor Jimmy herum und wackelte mit dem Stummelschwanz. »Das ist Bones«, sagte Jimmy. »Bones hat mich gern. Passt mal auf...» Er spuckte in die Hand, packte Bones am Penis und begann zu reiben. »Hey, Scheiße, was machst du denn?« fragte Baldy. »Sie haben Bones den ganzen Tag draußen auf dem Hof angebunden. Er kriegt es nie. Er muss sich mal abreagieren«, sagte Jimmy und machte drauflos. Der Hundepenis wurde ekelhaft rot. Ein dünnes, langes, tropfendes, idiotisches Ding. Bones fing an, winselnde Laute von sich zu geben. Jimmy fummelte weiter und sah dabei zu uns hoch. »Hey, wollt ihr wissen, was unser Lieblingssong ist? Ich meine, von Ann und mir? >When the Deep Purple Falls Over Sleepy Garden Walls<.« Dann kam es Bones. Der Saft schlingerte heraus und landete auf dem Teppich. Jimmy stand auf, stellte den einen Fuß drauf und rieb es in den Teppichflor rein. »Demnächst werd' ich Ann mal richtig ficken. Wir sind nah dran. Sie sagt, sie liebt mich. Und ich liebe sie auch. Ich liebe ihre gottverdammte Fut.« »Du Arschloch«, sagte ich. »Du machst mich krank.« »Ach, ich weiß doch, dass du das gar nicht so meinst, Hank.« Jimmy ging nach nebenan in die Küche. »Sie hat eine nette Familie. Sie lebt hier mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Ihr Bruder weiß, dass ich sie ficken werde. Und wie! Aber er kann nichts dagegen tun, weil ich ihn jederzeit fertigmachen kann. Er hat nichts drauf. Hey, passt mal auf ...« Er machte den Kühlschrank auf und holte eine Flasche Milch heraus. Bei mir Zuhause hatten wir immer noch einen altmodischen Eiskasten. Die Weathertons waren offensichtlich wohlhabend. Jimmy holte seinen Schwanz aus der Hose, machte den Pappdeckel von der Flasche ab und hielt sein Ding rein. »Bloß ein bisschen, wißt ihr. Sie werden es nicht schmecken, aber sie werden meine Pisse trinken..« Dann machte er den Deckel wieder drauf, schüttelte die Flasche durch und stellte sie zurück in den Kühlschrank. »Ah«, sagte er, »da ist auch noch Wackelpudding. Den werden sie heute Abend zum Nachtisch essen. Na, ich geb ihnen noch ein bisschen Soße dazu ...« Er holte die Schüssel heraus, und gerade als er sie in der Hand hielt, hörten wir einen Schlüssel in der Haustür. Sie ging auf. Jimmy stellte rasch die Schüssel zurück und machte die Tür des Kühlschranks zu. Ann kam in die Küche herein.
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»Ann«, sagte Jimmy, »ich möchte dir Hank und Baldy vorstellen. Sie sind zwei gute Freunde von mir.« »Hi« »Hi.« »Hi.« »Das da ist Baldy. Der andere ist Hank.« »Ich hab euch schon auf dem Campus gesehen.« »Sicher«, sagte ich, »da sind wir öfters. Und dich haben wir auch schon gesehen.« »Yeah«, sagte Baldy. Jimmy sah sie an. »Alles klar, Baby?« »Ja, Jimmy. Ich hab grad an dich gedacht.« Sie ging zu ihm hin, und die beiden umarmten sich. Dann knutschten sie. Direkt vor uns. Jimmy sah zu uns her und zwinkerte bedeutungsvoll mit dem rechten Auge. »Tja«, sagte ich, »wir müssen wieder los.« »Yeah«, sagte Baldy. Wir verließen die Küche, gingen durchs Wohnzimmer, zur Haustür raus, und machten uns auf den Weg zu Baldy. »Der Kerl hat wirklich das große Los gezogen«, sagte Baldy. »Yeah«, sagte ich.
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An einem Sonntag überredete mich Jimmy, mit ihm an den Strand zu fahren. Er wollte schwimmen gehen. Da ich einen Rücken voll Pickelnarben und Pusteln hatte, wollte ich nicht in Badehosen gesehen werden. Zwar war ich ansonsten ganz ansehnlich gebaut — breite Brust, starke Beine -, aber das würde keiner sehen. Darauf würden sie nicht achten. Es war nirgends was los, ich hatte kein Geld, die Jungs spielten sonntags keinen Football auf der Straße, also entschied ich, dass der Strand allen gehörte und folglich auch ich ein Recht hatte, dort zu sein. Schrunden und Pusteln waren schließlich nicht gegen das Gesetz. Wir stiegen also auf unsere Fahrräder und machten uns auf den Weg. Fünfzehn Meilen. Das schreckte mich nicht. Ich hatte das Nötige in den Beinen. Bis Culver City radelte ich gemütlich neben Jimmy her. Dann legte ich allmählich zu. Jimmy strampelte und versuchte mitzuhalten. Ich konnte sehen, dass er allmählich ins Schnaufen kam. Ich fischte mir eine Zigarette heraus, steckte sie an, hielt ihm die Packung hin: »Hier. Willst du eine, Jim?« »Nee ... danke ...« »Also das ist noch besser als Vögel mit 'm Luftgewehr abknallen«, sagte ich. »Wir sollten das öfter machen. « Ich legte noch ein bisschen mehr zu. Ich hatte noch jede Menge Reserven. »Wirklich wahr«, sagte ich. »Sogar besser als Wichsen.«
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»Hey, mach mal 'n bisschen langsamer!« Ich sah zu ihm nach hinten. »Gibt doch nichts Schöneres, als mit einem guten Freund 'ne Radtour zu machen. Komm schon, Sportsfreund!« Ich legte einen Zwischenspurt ein. Der Wind wehte mir ins Gesicht. Es tat richtig gut. »Hey, warte! Verdammt! Warte doch mal!« schrie Jimmy. Ich lachte und drehte nun voll auf. Bald war er einen halben Block zurück, einen ganzen Block, zwei Blocks. Niemand ahnte, wie gut ich war. Keiner hatte eine Ahnung, was alles in mir steckte. Ich war so was wie ein Wundertier. Die Sonne schmiss überall mit Gelb um sich, und ich schnitt glatt durch, wie ein irres Messer auf Rädern. Mein Vater war ein Bettler auf den Straßen von Indien, und alle Frauen der Welt liebten mich ... Ich erreichte in voller Fahrt eine rote Ampel, sauste zwischen zwei Reihen wartender Autos durch und über die Kreuzung. Jetzt hatte ich sogar diese Autos hinter mir gelassen. Doch nicht für lange. Ein Kerl und sein Mädchen holten mich in ihrem grünen Coupe ein und fuhren neben mir her. »Hey, Kid!« »Yeah?« Ich sah auf den Kerl herunter. Er war ein massiger Typ von Mitte zwanzig und hatte stark behaarte Arme mit einer Tätowierung drauf. »Was bildest du dir eigentlich ein? Bist du nicht bei Trost?« Er wollte vor seiner Freundin angeben. Sie war eine Wucht. Ihre langen blonden Haare flatterten im Wind. »Leck mich, Kumpel!« eröffnete ich ihm. »Was?« »Ich sagte: Leck mich!« Ich zeigte ihm den Finger. »Willst du dir das von so einem Kid gefallen lassen, Nick?« fragte ihn seine Freundin. Er fuhr weiter neben mir her. »Hey, Kid«, sagte er, »ich hab nicht ganz verstanden, was du gesagt hast. Wärst du vielleicht so nett und sagst es nochmal?« »Yeah, sag das nochmal!« kam es von der Ische, und ihre langen blonden Haare flatterten im Wind. Dass die mich nun auch noch herausforderte, machte mich sauer. Ich sah den Kerl an. »All right, willst du Zoff? Park deine Karre. Ich besteh aus nichts als Zoff!« Er preschte einen halben Block voraus, parkte und schwang die Fahrertür auf. Als er ausstieg, umkurvte ich ihn und geriet dabei vor einen Chevy, der ärgerlich hupte. Ich bog in die nächste Querstraße ein. Hinter mir hörte ich den großen Kerl schallend lachen. Ich wartete, bis er weitergefahren war, dann radelte ich auf den Washington Boulevard zurück, fuhr ein paar Blocks, stieg ab, setzte mich an einer Bushaltestelle auf die Bank und wartete auf Jim. Ich sah ihn bereits kommen. Als er vor mir hielt, stellte ich mich, als sei ich eingeschlafen. »Komm schon, Hank! Spiel mir hier kein Theater!« »Oh .. . hallo, Jim? Du bist schon da?« Am Strand versuchte ich Jim dazu zu bringen, dass er eine Stelle aussuchte, wo nicht so viele Leute waren. Solange ich mein Hemd anhatte, fühlte ich mich ganz normal, aber ohne es war
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ich ihren Blicken ausgeliefert. Ich hasste sie wegen ihrer lupenreinen Körper. Ich hasste all die gottverdammten Leute, die sich bräunen ließen oder im Wasser planschten oder aßen oder schliefen oder quatschten oder sich gegenseitig Wasserbälle zuwarfen. Ich hasste ihre Hintern und ihre Gesichter und ihre Ellbogen und ihr Haar und ihre Augen und ihren Nabel und ihre Badeanzüge. Ich legte mich in den Sand. Hätt ich diesem fetten Scheißer doch eine aufs Maul geschlagen, dachte ich. Was wusste der denn schon? Jim legte sich neben mich. »Ach, was soll's«, sagte er. »Komm, wir schwimmen. « »Jetzt noch nicht«, sagte ich. Das Wasser war voll von Menschen. Was war an einem Strand nur so faszinierend? Warum gefiel es ihnen hier so sehr? Hatten sie denn nichts Besseres zu tun? Was für rammdösige Scheißer sie doch waren. »Stell dir nur mal vor«, sagte Jim. »Die Weiber gehn da ins Wasser und pissen rein.« »Yeah, und du schluckst es dann.« Ich sah für mich keine Möglichkeit, jemals mit den Leuten problemlos leben zu können. Vielleicht würde ich Mönch werden. So tun, als glaubte ich an einen Gott, in einer Zelle hausen, Orgel spielen und mich jeden Tag mit Wein besaufen. Da würde mich niemand nerven. Ich konnte monatelang in einer Zelle hocken und meditieren, ich würde niemanden sehen müssen, und sie brauchten mir nur den Wein reinzuschicken. Die Schwierigkeit war nur, dass diese Mönchskutten aus reiner Wolle waren. Sie waren schlimmer als die Uniformen vom R.O.T.C. Also die würde ich nicht tragen können. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. »Au Mann«, sagte Jim. »Was ist denn?« »Da drüben sind ein paar Weiber, die sehn zu uns her.« »Na und?« »Sie tuscheln und lachen. Vielleicht kommen sie rüber.« »Yeah?« »Yeah. Wenn sie kommen, geb ich dir Bescheid, dann legst du dich auf den Rücken.« Auf der Brust hatte ich nur vereinzelte Narben und Pusteln. »Also vergiss nicht«, sagte Jim,“wenn ich dir Vorwarnung gebe, drehst du dich auf den Rücken.« »Hab schon verstanden.« Ich hatte den Kopf auf den Armen. Ich wusste, dass Jim zu ihnen hinübersah und ihnen zulächelte. Er verstand sich darauf. »Beknackte Mösen«, sagte er. »Richtig dumm.« Warum bin ich nur hierher gekommen? dachte ich. Warum geht es immer um die Wahl zwischen zwei Übeln? »Mensch, Hank — da kommen sie!« Ich schaute hoch. Es waren fünf. Ich drehte mich auf den Rücken. Sie kamen kichernd heran und blieben vor uns stehen. »Hey, die Kerle sind aber süß!« sagte eine.
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»Wohnt ihr hier in der Gegend?« fragte Jim. »Na klar«, sagte eine andere, »wir haben unsere Nester da oben auf den Klippen, bei den Möwen.« »Na, und wir sind die Adler«, sagte Jim. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir wüssten, was wir mit Möwen anstellen sollen. « »Wie machen es Vögel überhaupt? « Fragte eine. »Ich will verdammt sein, wenn ich's weiß«, meinte Jim. »Aber vielleicht können wir's rauskriegen. « »Warum kommt ihr nicht rüber und legt euch zu uns auf die Decke?« fragte eine. »Aber gern«, sagte Jim. Drei von den Mädchen hatten den Mund aufgemacht. Die beiden anderen hatten nur dagestanden und sich die Badeanzüge hinten über die Arschbacken runtergezogen. »Ich passe«, sagte ich. »Was hat denn dein Freund?« fragte eine der beiden, die den Sitz ihres Badeanzugs korrigiert hatten. »Er ist 'n bißchen komisch«, sagte Jim. »Was fehlt ihm denn?« meldete sich jetzt die letzte von den fünfen. »Er ist halt ein bißchen eigen«, sagte Jim. Er stand auf und ging mit den Mädchen weg. Ich machte die Augen zu und hörte auf das Plätschern der Wellen. Tausende von Fischen waren da draußen und fraßen sich gegenseitig auf. Mäuler, die schluckten. Und Ärsche, die es wieder ausschieden. Die ganze Welt bestand aus nichts als Mäulern und Ärschen. Aus Fressen und Ausscheiden. Und Ficken. Ich drehte mich auf die Seite und sah Jim und den Mädchen zu. Er stand vor ihnen, streckte die Brust raus, zeigte die Wölbungen seiner Eier her. Er war nicht so dauerhaft gebaut wie ich. Er war schlank und elegant, mit seinem schwarzen Haar und dem kleinen arroganten Mund und den perfekten Zähnen, mit seinen kleinen runden Ohren und seinem langen Hals. Ich hatte keinen Hals. Jedenfalls nicht viel. Mein Kopf schien direkt auf den Schultern zu sitzen. Aber ich war kräftig und hatte ein ruppiges Temperament. Das war freilich nicht gut genug. Als Dandy kam man bei den Mädchen besser an. Wenn die Narben und Pusteln nicht gewesen wären, hätte ich jetzt wahrscheinlich auch vor ihnen gestanden und ihnen ein oder zwei Sachen vorgeführt. Ich hätte mit meinen Eiern angegeben und ihre hohlen Köpfe in Habt-achtStellung gebracht. Ich mit meinen 50 Cents die Woche. Dann sah ich, wie sie aufsprangen und Jim ins Wasser folgten. Ich hörte sie kichern und kreischen wie hirnlose ... was? Nein, sie waren ganz nett. Sie waren nicht wie die Erwachsenen, die Eltern. Sie lachten. Für sie gab es noch Spaß im Leben. Sie hatten keine Angst, Gefühle zu zeigen. Das Leben und wie alles zusammenhing - es war kein Sinn darin. D. H. Lawrence hatte das gewusst. Sicher brauchte der Mensch Liebe, aber nicht die Sorte, wie sie die meisten Menschen konsumierte. Oder sich davon verbrauchen ließen. Der alte D. H. hatte da durchgeblickt. Sein Freund Huxley war nur ein intellektueller Fatzke, aber was für ein Prachtexemplar. Besser als G. B. Shaw, dessen harter geistiger Kiel ständig auf Grund scheuerte. Sein bemühter Witz war letzten Endes nur eine Pflichtübung, eine Last für ihn, ein Hindernis, so dass er gar nichts mehr richtig empfinden konnte. Sein brillanter Vortrag nur eine öde Leier, die ihm den Geist und die Sensibilität abschliff. Trotzdem war es gut, denen ihr ganzes Zeug zu lesen. Es brachte einen darauf, dass Worte und Gedanken faszinierend sein konnten, wenn auch letzten Endes nutzlos. Jim bespritzte die Mädchen inzwischen mit Wasser. Er war der Neptun, und sie beteten ihn an. Er war die Chance und das Versprechen. Er gab eine große Vorstellung. Er wusste, wie man 104
es anstellt. Ich hatte eine Menge Bücher gelesen, aber er hatte eines gelesen, das mir entgangen war. Er war ein Künstler mit seiner kleinen Badehose und seinen Eiern und seinen neckischen kleinen Blicken und seinen runden Ohren. Er war der Bessere von uns beiden. Gegen ihn kam ich so wenig an wie gegen diesen massigen Kerl im grünen Coupe mit seiner tollen Ische, deren Haar im Wind flatterte. Beide hatten bekommen, was sie verdienten. Ich war nur ein 50-Cent-Batzen, der im großen grünen Ozean des Lebens dümpelte. Ich sah ihnen zu, wie sie aus dem Wasser kamen, glitzernd, glatthäutig, jung, unbesiegt. Ich wäre gern in ihren Kreis aufgenommen worden. Nur nicht aus Mitleid. Doch obwohl sie geistig und körperlich keinen Kratzer hatten, fehlte ihnen etwas. Sie hatten noch keine Bewährungsprobe bestanden. Wenn ihnen im Leben schließlich etwas zustieß, würde es womöglich zu spät kommen oder zu schwer für sie sein. Ich war vorbereitet. Vielleicht. Ich sah Jim zu, wie er sich mit einem ihrer Handtücher abfrottierte. In diesem Augenblick kam ein kleiner Junge von etwa vier Jahren an, bückte sich und warf mir eine Handvoll Sand ins Gesicht. Dann stand er da, sah mich drohend an und verzog seinen sandigen stupiden kleinen Mund zu einem Siegergrinsen. Ein wagemutiger süßer kleiner Scheißer. Ich krümmte den Zeigefinger und winkte ihn näher heran. Er rührte sich nicht vom Fleck. »Komm her, Kleiner«, sagte ich. »Ich hab ein Stück Schokolade mit 'ner Füllung aus purer Scheiße für dich.« Der kleine Wichser sah mich an, drehte sich um und rannte weg. Sogar sein Hintern war stupid. Die beiden pfirsichförmigen Bäckchen eierten in verschiedene Richtungen, als hätten sie ein Eigenleben. Immerhin, ich war wieder einen Feind losgeworden. Dann war Jim wieder da. Der Ladykiller. Er stand da und sah auf mich herunter. Auch er machte jetzt ein finsteres Gesicht. »Sie sind weg«, sagte er. Ich sah hinüber zu der Stelle, wo die fünf Mädchen gewesen waren. Tatsächlich, sie waren weg. »Wo sind sie hin?« fragte ich. »Ist doch egal. Was soll's. Ich hab mir von den zwei besten die Telefonnummern geben lassen.« »Die besten für was?« »Na, zum Ficken, du Armleuchter!« Ich stand auf. »Ich glaube, ich muss dir mal eine verplätten, du Armleuchter!« Sein Gesicht sah gut aus in der frischen Brise vom Meer. Ich sah ihn bereits am Boden, wie er sich im Sand krümmte und mit seinen weißen Fußsohlen in die Luft kickte. Er machte einen Schritt zurück. »Komm, beherrsch dich, Hank. Du kannst ihre Telefonnummern ja haben!« »Behalt sie nur. Ich hab schließlich nicht deine gottverdammt zickigen Ohren!« »Okay, reg dich ab. Wir sind doch Freunde. Oder hast du das vergessen?« Wir gingen rauf zu dem Strandhaus, hinter dem wir unsere Räder abgestellt hatten. Wir wussten beide, wer heute seinen großen Tag gehabt hatte. Wenn ich ihm eine vor den Latz knallte, hätte das nichts daran geändert. Es hätte vielleicht geholfen, aber nicht genug. Auf der Fahrt nach Hause versuchte ich nicht mehr, ihn abzuhängen. Um Befriedigung zu empfinden,
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wäre mehr nötig gewesen. Vielleicht diese Blondine mit den langen Haaren, die im Wind flatterten.
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Das Reserve Officers' Training Corps war etwas für Leute, die eine Macke hatten. Wie gesagt, entweder das oder Sport. Ich hätte mich ohne weiteres für Sport entschieden, aber ich wollte die anderen meine Pickel nicht sehen lassen. Mit jedem, der im Kadettenverein mitmachte, stimmte etwas nicht. Die Truppe bestand fast ausschließlich aus Burschen, die entweder eine Abneigung gegen Sport hatten oder von ihren Eltern zu R.O.T.C. gezwungen wurden, weil die dachten, das sei patriotisch. Die Eltern der reichen Jungs neigten dazu, besonders patriotisch zu sein, denn sie hatten am meisten zu verlieren, wenn das Land vom Feind überrannt wurde. Die weniger begüterten Eltern waren lange nicht so patriotisch, führten sich aber oft so auf, weil es eben erwartet wurde, oder weil man sie so erzogen hatte. Irgendwie war ihnen natürlich klar -vor allem, wenn sie eine dunkle Hautfarbe hatten —, dass es für sie so gut wie keinen Unterschied machen würde, wenn die Russen oder Deutschen oder Chinesen oder Japaner das Land übernahmen. Im Zweifelsfall konnte es für sie eher besser werden. Jedenfalls, da die Eltern der meisten Schüler reich waren, hatten wir einen der größten Kadettenvereine in der Stadt. Wir marschierten also in der Sonne herum und lernten, wie man Latrinen aushebt, Schlangenbisse kuriert, die Verwundeten behandelt, Schlagadern abbindet und dem Feind das Bajonett reinstößt. Wir erfuhren alles über Handgranaten, Infiltration, Truppenaufstellung, Manöver, Rückzug und Vormarsch, geistige und körperliche Disziplin. Wir zogen zum Schießstand, bang-bang, und kriegten unsere Schießauszeichnungen. Wir hatten richtige Manöver draußen in den Wäldern und fochten erfundene Kriege aus. Mit dem Gewehr im Anschlag robbten wir bäuchlings aufeinander zu und waren mit großem Ernst bei der Sache. Sogar ich. Es war da etwas dran, das einem das Blut in Wallung brachte. Sicher war es stupid, und das wussten wir auch alle, oder jedenfalls die meisten von uns, aber irgend etwas klickte in unserem Hirn, so dass wir uns richtig reinknien wollten. Als Kommandeur hatten wir einen alten pensionierten Berufsoffizier: Colonel Sussex. Er wurde allmählich senil und hatte dauernd Speichelfäden aus den Mundwinkeln hängen. Der Sabber lief ihm herunter und sammelte sich unter seinem Kinn. Er sagte nie ein Wort. Er stand nur da in seiner Uniform, die Brust voll Lametta, und ließ sich von der Chelsey Highschool ein Gehalt zahlen. Während unserer Manöver schleppte er ein Clipboard mit einer Tabelle durch die Gegend und trug darauf ein, wie viele Punkte jede Partei machte. Er stand auf einem Feldherrenhügel und hakte seine Tabelle ab. Oder auch nicht. Jedenfalls sagte er uns nie, wer gewonnen hatte. Jede Seite behauptete also regelmäßig, der Sieger zu sein. Das gab jedes mal böses Blut. Leutnant Herman Beechcroft war am besten. Sein Vater hatte eine Bäckerei und einen »Hotel Catering Service« - was immer das sein mochte. Vor jedem Manöver hielt der Leutnant die gleiche Rede:
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»Denkt dran, ihr müsst den Feind hassen! Die wollet eure Mütter und Schwestern vergewaltigen! Wollt ihr vielleicht, dass diese Monster eure Mütter und Schwestern vergewaltigen?« Lt. Beechcroft hatte fast gar kein Kinn. Sein Gesicht brach einfach ab, wo das Kinn hätte sein sollen, und er hatte da nur so einen kleinen Knopf. Wir waren uns nicht sicher, ob es eine Missbildung war oder nicht. Aber seine Augen waren prachtvoll in ihrer Wildheit -große blaue gleißende Symbole von Krieg und Sieg. »Whitlinger! »Ja, Sir!« »Würden Sie wollen, dass diese Kerle Ihre Mutter vergewaltigen?« »Meine Mutter ist schon tot, Sir.« »Oh. Das tut mir leid. Drake!« »Ja, Sir!« »Wollen Sie, dass diese Kerle Ihre Mutter vergewaltigen?« »Nein, Sir!« »Gut. Also denkt daran: Wir sind im Krieg Wenn man uns schont, haben wir nichts dagegen, aber wir gewähren keine Schonung! Ihr müsst den Feind hassen. Killen müsst ihr ihn! Ein toter Mann kann euch nicht mehr besiegen. Verlieren ist eine Krankheit! Nur der Sieger macht Geschichte! SO, UND JETZT GEHN WIR DA RAUS UND GREIFEN UNS DIESE SCHWANZLUTSCHER!« Wir schwärmten aus, schickten Späher vor und fingen an, durchs Gebüsch zu kriechen. Auf seinem Hügel konnte ich Col. Sussex mit seinem Clipboard sehen. Die Blauen kämpften gegen die Grünen, und jeder hatte einen Lappen mit seiner Farbe um den Oberarm. Ich war bei den Blauen. Diese Kriecherei im Gestrüpp war die reine Hölle. Es war heiß, es gab Insekten, Staub, Steine, Dornen. Ich wusste bald nicht mehr, wo ich war. Kozak, unser Zugführer, war irgendwo verschwunden. Die Verständigung klappte nicht. Wir waren geliefert. Unsere Mütter würden alle vergewaltigt werden. Ich kroch vorwärts, schürfte mir alles mögliche auf, hatte ein verirrtes Gefühl und einige Angst, aber am meisten kam ich mir wie ein Idiot vor. All das freie Gelände, der leere Himmel darüber, Hügel, Wasserläufe, ein Hektar nach dem anderen. Wem gehörte das alles? Wahrscheinlich dem reichen Vater irgendeines Mitschülers. Wir würden hier überhaupt nichts erobern. Vermutlich hatte man der Schule das Gelände einfach so überlassen. RAUCHEN VERBOTEN stand auf einem Schild. Ich kroch voran. Wir hatten keine Luftüberlegenheit, keine Panzer, gar nichts. Wir waren nichts als ein Haufen Schwuchteln bei einem laschen Manöver, ohne Fressen, ohne Frauen, ohne Sinn und Verstand. Ich stand auf, ging zu einem Baum, setzte mich hin und legte mein Gewehr weg. Keiner wusste, wo es lang ging, die ganze Geschichte war verfahren, warum also weitermachen? Ich nahm die Armbinde ab und wartete auf eine Ambulanz vom Roten Kreuz oder sonst was. Krieg mochte durchaus die Hölle sein, aber die Pausen dazwischen waren ausgesprochen langweilig. Da teilte sich das Gestrüpp. Ein Kerl sprang heraus und sah mich. Er hatte einen grünen Lappen am Arm. Aha. Ein Frauenschänder. Er legte mit seiner Flinte auf mich an. Er wollte
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einen Gefangenen machen. Ich kannte ihn. Er hieß Harry Missions, und seinem Vater gehörte eine Holzhandlung. Ich saß da, an meinen Baum gelehnt. »Blau oder Grün?« brüllte er. »Ich bin Mata Hari.« »Ein Spion! Die fang ich auch!« »Komm, lass den Quatsch, Harry. Das ist doch ein Spiel für kleine Kinder. Lass mich in Frieden mit deinem ranzigen Melodrama.« Wieder teilte sich das Gestrüpp, und Lt. Beechcroft stand da. Missions und Beechcroft starrten einander an. »Ich nehme Sie hiermit gefangen!« schrie Beechcroft. »Ich nehme Sie hiermit gefangen!« brüllte Missions. Ich konnte richtig spüren, wie fickrig und aufgebracht die beiden waren. Beechcroft zog seinen Säbel. »Ergeben Sie sich, oder ich durchbohre Sie!« Missions drehte sein Gewehr herum und packte es am Lauf. »Kommen Sie hierher, oder ich haue Ihnen die gottverdammte Rübe runter!« Nun wurde es im ganzen Unterholz lebendig. Das Gebrüll hatte sowohl die Blauen als auch die Grünen angelockt. Ich saß da an meinem Baum, während sie sich in den Nahkampf stürzten. Es wurde gerangelt und gefochten, der Staub wallte auf, und ab und zu hörte man das böse Geräusch, das ein Gewehrkolben macht, wenn er auf einen Schädel trifft. »Oje! Oh! Mein Gott!« Einige lagen jetzt am Boden. Gewehre gingen verloren. Sie knallten mit den Köpfen zusammen und lieferten sich Faustkämpfe. Ich sah sogar zwei Grüne in tödlicher Umarmung. Dann erschien Col. Sussex. Er blies seine Trillerpfeife mit solcher Wucht, dass er ringsum Spucke versprühte. Dann zückte er seine Reitgerte und drosch auf seine Truppen ein. Das machte er wirklich gut. Die Gerte knallte wie eine Peitsche und schnitt ins Fleisch wie ein Rasiermesser. »Scheiße! Ich ergebe mich!« »Nein! Aufhören! Mein Gott! Gnade!« »Mama!« Die verfeindeten Parteien trennten sich, standen da und starrten einander an. Col. Sussex hob sein Clipboard vom Boden auf. Seine Uniform hatte keinen einzigen Knitter. Seine Medaillen hingen alle noch an ihrem Platz. Seine Mütze saß in korrektem Winkel auf seinem Kopf. Er warf sein Stöckchen in die Luft, fing es auf und marschierte davon. Wir trotteten hinterher. Wir bestiegen wieder unsere alten Armeelastwagen mit den zerfledderten Planen. Die Motoren sprangen an, und es ging wieder heimwärts. Wir saßen uns auf den langen Holzbänken gegenüber. Zum Manöver waren wir getrennt gekommen, die Blauen im einen LKW, die Grünen im anderen. Jetzt saßen wir alle durcheinander. Die meisten von uns starrten auf ihre abgestoßenen, eingestaubten Schuhe. Wir ließen uns hin und her und auf und nieder rütteln und schaukeln, während die Lastwagen über alte Wege und Straßen voller Schlaglöcher rumpelten. Wir waren müde, wir waren besiegt, und wir waren frustriert. Der Krieg war vorbei.
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Wegen des R.O.T.C. kam ich nicht dazu, mich sportlich zu betätigen, während die anderen jeden Tag trainierten. Sie kamen in die Schulmannschaft, gewannen Auszeichnungen und bekamen die Mädchen ab. Ich verbrachte meine Tage größtenteils in Marschordnung und schwitzte mir da einen ab. Das einzige, was man sah, waren die Ohren und der Hintern des Vordermanns. Ich hatte den militärischen Drill ziemlich bald satt. Die anderen polierten ihre Stiefel auf Hochglanz und schienen bei den Manövern mit Begeisterung bei der Sache zu sein. Ich konnte darin keinen Sinn sehen. Sie wurden nur in Form gebracht, um sich später die Eier aus dem Sack pusten zu lassen. Andererseits konnte ich mich auch nicht in blauweißer Kluft sehen, die Nummer 69 auf dem Rücken, einen Footballhelm auf dem Kopf und die Schulterpolster angeschnallt, wie ich einen gemeinen Hundesohn vom anderen Ende der Stadt abblockte oder irgendeinen vierschrötigen Gorilla, dessen Atem nach Tacos stank, aus dem Weg zu räumen versuchte, damit der Sohn des Staatsanwalts auf der linken Seite durchbrechen und sechs Yards gutmachen konnte. Das Problem war, dass man immer nur die Wahl zwischen zwei Übeln hatte, und wofür man sich auch entschied, sie säbelten einem Scheibe um Scheibe ab, bis nichts mehr übrig war. Mit fünfundzwanzig waren die meisten erledigt. Eine ganze gottverdammte Nation von Arschkrücken, die Auto fuhren, aßen, Kinder kriegten und alles verkehrt machten; z. B. ihre Stimme dem Präsidentschaftskandidaten gaben, der sie am meisten an sie selber erinnerte. Ich hatte keine Interessen. Nichts konnte mich begeistern, und ich hatte auch keine Ahnung, wie ich da herauskommen sollte. Die anderen fanden wenigstens halbwegs Geschmack am Leben. Sie schienen etwas zu verstehen, wozu es mir nicht reichte. Vielleicht hatte ich ein Manko. Durchaus möglich. Ich fühlte mich oft minderwertig. Ich wollte nur weg von ihnen. Aber es gab keinen Ausweg. Und Selbstmord? Ach Gott, das war ja schon wieder Arbeit. Am liebsten hätte ich fünf Jahre an einem Stück geschlafen. Aber sie ließen mich nicht. Also war ich weiter in der Chelsey High, immer noch im R.O.T.C., immer noch mit meinen Pickeln. Die erinnerten mich immer daran, wie verkorkst ich war. Schließlich kam unser großer Tag. Wer in seinem Zug beim Exerzieren mit dem Gewehr am besten abgeschnitten hatte, trat zur Endausscheidung an. Irgendwie hatte ich das Griffe kloppen in meinem Zug gewonnen. Ich hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Ich war kein Streber. Es war ein Samstag, und zahlreiche Mütter und Väter saßen auf den Tribünen. Jemand blies auf einem Signalhorn. Ein Degen blitzte auf. Kommandos hallten über den Platz. Gewehr rechts, Gewehr links. Gewehrschäfte knallten auf Schultern, Gewehrkolben knallten auf den Boden und Schäfte wieder auf Schultern. Allerhand Mädchen saßen auf den Tribünen in ihren blauen und grünen und gelben und orangefarbenen und rosaroten und weißen Kleidern. Es war heiß, es war langweilig, es war die schiere Verblödung. »Chinaski, Sie verteidigen die Ehre unseres Zugs!« »Ja, Corporal Monty.« All diese Mädchen auf den Tribünen, und jede wartete darauf, dass ihr Lover, ihr zukünftiger leitender Angestellter den Sieg davontrug. Es war traurig. Einige Tauben, aufgeschreckt von einer Zeitungsseite, die der Wind hochwirbelte, suchten geräuschvoll das Weite. Ich sehnte mich danach, mir einen Bierrausch anzutrinken. Ich wollte sonst wo sein, nur nicht hier.
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Wer einen Fehler gemacht hatte, trat einen Schritt zurück. Bald standen nur noch sechs in der Reihe, dann fünf, dann drei. Ich war immer noch dabei. Ich hatte kein Bedürfnis, der Erste zu werden. Ich wusste, dass ich nicht gewinnen würde. Bald würde auch ich ausgeschieden sein. Ich wollte nur weg hier. Ich war müde und gelangweilt. Und voll von Pickeln. Der Ruhm, dem sie hier nachjagten, war mir keinen Pfifferling wert. Doch ich konnte keinen absichtlichen Fehler machen. Damit hätte ich Corporal Monty gekränkt. Dann waren wir nur noch zu zweit. Andrew Post und ich. Post war bei allen beliebt. Sein Vater war ein großer Strafverteidiger und saß mit Andrews Mutter auf der Tribüne. Post kam ins Schwitzen, doch er ließ nicht locker. Wir wussten beide, dass er gewinnen würde. Ich konnte seine Energie und Entschlossenheit fast körperlich spüren. Macht nichts, dachte ich. Er braucht das. Er und seine Eltern und all die anderen. So ist es eben. Und so soll's wahrscheinlich auch sein. Wir machten weiter und weiter und wiederholten die ganzen Handgriffe aus der Exerziervorschrift. Aus den Augenwinkeln konnte ich die hohen Torstangen am Ende des Spielfelds sehen. Wenn ich mich mehr reingekniet hätte, war ich jetzt vielleicht ein erstklassiger Footballspieler, dachte ich. »GEWEHR ...!« schrie der Kommandeur, und ich rammte den Bolzen ins Schloss. Es gab nur einen Klick — neben mir klickte es nicht. Andrew Post stand da wie erstarrt. Ein schwaches Stöhnen drang von den Tribünen herüber. »... ÜBER!« kam der Rest des Kommandos, und ich schulterte das Ding. Post tat dasselbe, aber sein Gewehrschloss stand offen ... Bei der Siegerehrung war ich zum Glück nicht allein. Es gab noch andere, die auch irgendeine Auszeichnung bekamen. Mit ihnen stand ich da und wartete, in Linie angetreten, während Col. Sussex von einem zum anderen ging. Meine Pickel waren schlimmer denn je, und wie immer, wenn ich diese juckende Uniform aus braunem Wollstoff trug, brannte die Sonne besonders heiß herunter, so dass ich jede einzelne Faser dieses verfluchten Hemds auf der Haut spürte. Alle wussten, dass ich als Soldat nicht viel taugte. Ich hatte nur gewonnen, weil mir die ganze Geschichte so wenig bedeutete, dass ich kein bißchen aufgeregt war. Für Col. Sussex tat es mir leid, denn ich wusste, was er dachte. Und er wusste wahrscheinlich auch, was ich dachte: Dass mir die von ihm geschätzte Art von Hingabe und Mut als nichts Besonderes erschien. Dann war er vor mir angelangt. Ich stand in Habt-acht-Stellung da und durfte nicht die Augen bewegen. Trotzdem gelang es mir, einen kurzen Blick auf ihn zu werfen. Die Speichelfäden flatterten ihm ums Kinn, denn trotz der Hitze wehte ein frischer Westwind. Wahrscheinlich musste er erst richtig verbittert sein, ehe sein Speichelfluß versiegte. Er pinnte mir die Medaille an. Dann streckte er mir die Hand hin, und ich ergriff sie. »Meinen Glückwunsch«, sagte er. Und ehe er weiterging, lächelte er mir doch tatsächlich zu. Nanu? Der alte Knacker. Vielleicht war er am Ende gar nicht so übel ... Auf dem Nachhauseweg hatte ich die Medaille in der Hosentasche. Wer ist schon Colonel Sussex? dachte ich. Doch auch bloß irgendein Typ, der sich den Arsch abwischen muss wie wir alle. Jeder musste sich anpassen und einordnen. Ob Arzt, Anwalt oder Soldat - es spielte gar keine Rolle. Und wenn man sich eingeordnet hatte, musste man sehen, wie man vorankam. In der Beziehung stand Sussex unter dem gleichen Zwang wie jeder andere. Entweder man kam damit zurecht, oder man verhungerte auf der Straße. Auf meiner Straßenseite, kurz vor dem ersten Boulevard auf dem langen Weg nach Hause, gab es einen kleinen heruntergekommenen Laden. Ich blieb stehen und sah ins Schaufenster. Die 110
Auslage enthielt verschiedene Gegenstände mit alten fleckigen Preisschildern. Ich sah einige Kerzenhalter, einen Toaster, eine Tischlampe. Die Scheibe des Schaufensters war außen und innen verschmutzt. Durch staubigen schlierigen braunen Belag erkannte ich zwei grinsende Spielzeughunde. Eine Spieldose in Form eines winzigen Konzertflügels. All diese Dinge waren zu verkaufen, doch sie wirkten nicht gerade einladend. Es gab keine Kunden im Laden, und ich sah auch nirgends einen Verkäufer. Ich war an dem Geschäft schon oft vorbeigekommen, aber ich war nie stehen geblieben, um es mir näher anzusehen. Ich sah hinein, und es gefiel mir. Nichts tat sich da drin. Es war ein Ort zum Ausruhen und Dösen. Alles war wie ausgestorben. Ich konnte mich hier durchaus als glücklichen und zufriedenen Angestellten sehen. Solange keine Kundschaft zur Tür hereinkam. Ich wandte mich ab und ging wieder ein Stück. Als ich kurz vor dem Boulevard auf die andere Straßenseite wechselte, sah ich fast vor meinen Füßen die breite Öffnung eines Abflußkanals. Sie wirkte wie ein großer schwarzer Schlund, der in die Tiefen der Erde führte. Ich griff in die Hosentasche, nahm die Medaille heraus und warf sie in das schwarze Loch. Sie verschwand in der Finsternis. Als ich zuhause ankam, waren meine Eltern mal wieder beim Hausputz. Es war Samstag, und ich musste den Rasen mähen und trimmen, den Rasensprenger aufstellen und die Blumen gießen. Ich zog meine Arbeitssachen an. Unter den wachsamen Augen meines Vaters, die unter seinen schwarzen dräuenden Brauen hervorsahen, öffnete ich das Garagentor und zog vorsichtig den Rasenmäher rückwärts heraus. Die Rotorblätter drehten sich dabei noch nicht. Aber sie warteten schon gierig darauf.
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»Du solltest dir an Abe Mortenson ein Beispiel nehmen«, sagte meine Mutter. »Er kriegt lauter Einsen. Warum kannst du nicht auch welche kriegen?« »Henry ist einfach stinkfaul«, sagte mein Vater. »Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass er mein Sohn ist. « »Willst du denn nicht glücklich sein, Henry?« fragte meine Mutter. »Man sieht dich nie lächeln. Lach doch mal und sei fröhlich.« »Tu dich nicht dauernd bemitleiden«, sagte mein Vater. »Sei ein Mann!« »Lächle, Henry!« »Was soll aus dir mal werden? Wie zum Teufel willst du's im Leben zu was bringen? Du hast kein bißchen Pep und Antrieb!« »Warum gehst du nicht rüber zu Abe? Sprich mit ihm und schau dir was ab von ihm«, sagte meine Mutter ... Ich ging rüber zu den Mortensons und klopfte an die Tür. Abes Mutter machte mir auf. »Du kannst nicht zu Abe. Er muss lernen.« »Ich weiß, Mrs. Mortenson. Ich will ihn nur schnell was fragen.« »Na gut. Sein Zimmer ist gleich da hinten.«
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Ich ging nach hinten. Er hatte seinen eigenen Schreibtisch. Da saß er, ein offenes Buch vor sich, das auf zwei weiteren Büchern lag. Ich erkannte das Buch an der Farbe des Umschlags: Staatsbürgerkunde. Mein Gott, und das an einem Sonntag. Abe hob den Kopf und sah mich kurz an. Er spuckte in die Hand und vertiefte sich wieder in sein Buch. »Hi«, sagte er und las bereits weiter. »Ich wette, du hast diese Seite schon zehnmal gelesen, du Arschloch. « »Ich muss mir das alles einprägen.« »Ist doch alles Humbug.« »Ich muss meine Tests bestehen.« »Schon mal dran gedacht, ein Mädchen zu pimpern?« »Was?« Er spuckte wieder eine Portion Speichel in die Hand. »Hast du schon mal einer untern Rock gesehen und noch 'n bißchen mehr sehn wollen? Schon mal an ihre Muschi gedacht?« »Das ist doch nicht wichtig.« »Na, für sie ist es aber wichtig.« »Ich muss lernen.« »Wir wollen ein Baseball-Spiel machen. Ein paar Jungs aus der Schule.« »Am Sonntag?« »Warum denn nicht? Die Leute machen sonntags alles mögliche.« »Aber Baseball?« »Die Profis spielen ja auch sonntags.« »Die werden auch dafür bezahlt.« »Wirst du dafür bezahlt, wenn du immer wieder die gleiche Seite durchackerst? Komm schon, puste dir mal die Lunge durch. Dann wird vielleicht auch dein Kopf wieder klar.« »Meinetwegen. Aber nur ganz kurz.« Er stand auf, und ich folgte ihm durch den Flur nach vorn. Als wir uns der Tür näherten, hörten wir seine Mutter: »Abe, wo gehst du hin?« »Nur mal kurz weg.« »Na gut, aber komm gleich wieder. Du hast zu lernen.« »Ich weiß ...« »Also Henry, du achtest darauf, dass er gleich wiederkommt. « »Ich pass schon auf ihn auf, Mrs. Mortenson.« Baldy und Jimmy Hatcher waren da, einige weitere Jungs aus der Schule und ein paar aus der Nachbarschaft. Wir hatten nur sieben Spieler auf jeder Seite, so dass in der Verteidigung einige Lücken blieben, aber das war mir gerade recht. Ich spielte Centerfield. Ich hatte inzwischen einiges aufgeholt und war ganz gut geworden. Da ich schnell auf den Beinen war, deckte ich den größten Teil des Outfield ab. Ich spielte gern innen, wo ich die kurzen Bälle fangen konnte, doch am liebsten war es mir, wenn ich nach außen rennen und mir die harten hohen Bälle angeln konnte, die mir über den Kopf zischten. Das machte auch Jigger Statz bei den Los Angeles Angels. Als Hitter brachte er es nur auf ungefähr 280, aber was er an gegnerischen Bällen abfing, machte ihn so wertvoll wie einen Hitter, der aus jedem zweiten Ball was macht. Ein Dutzend Mädchen oder mehr kamen aus unserer Gegend jeden Sonntag auf das freie Gelände und sahen uns zu. Ich ignorierte sie. Sie kreischten immer los, wenn etwas Aufregendes passierte. Wir spielten Hardball, und jeder hatte seinen eigenen Fanghandschuh, sogar Mortenson. Seiner war noch wie neu, denn er benutzte ihn so selten. Ich trottete ins Centerfield, und das Spiel begann. Wir hatten Abe auf Second Base. Ich drosch die Faust in meinen Handschuh und brüllte zu Mortenson hinüber: »Hey, Abe, hast du schon mal mit 'nem Eidotter in der Hand gewichst? Da brauchst du gar nicht mehr sterben, um zu wissen, wie's im siebten Himmel ist!« Ich hörte die Girls lachen. 112
Der erste gegnerische Spieler auf der Platte schlug daneben. Er taugte nicht viel. Ich schlug zwar auch oft daneben, aber härter als alle anderen. Und wenn ich mal einen Ball traf, flog er bis vorn auf die Straße. Ich stand immer in sehr geduckter Haltung auf der Platte, wie eine angespannte Stahlfeder. Jeder Augenblick des Spiels war für mich erregend. All die verpassten Spiele, als ich den Rasen hatte mähen müssen, all die Tage in der Schule, als sie mich als vorletzten für eine Mannschaft ausgesucht hatten — damit war es nun vorbei. Ich stellte jetzt etwas vor. Ich wusste, dass ich es drauf hatte, und es war ein tolles Gefühl. »Hey, Abe«, schrie ich wieder, »mit soviel Spucke im Maul brauchst du gar keinen Eidotter!« Der nächste Spieler traf, aber der Ball kam sehr hoch, und ich rannte nach hinten, um ihn abzufangen. Ich sprintete, fühlte mich großartig und war mir sicher, dass ich das Wunder ein weiteres Mal vollbringen würde. Tja, Scheiße. Der Ball segelte in einen hohen Baum am hinteren Rand des Feldes. Dann sah ich ihn durch die Zweige herunterkommen. Ich postierte mich darunter und wartete. Nicht so gut — er wanderte nach links. Ich rannte nach links. Dann kam er wieder nach rechts herüber. Ich rannte nach rechts. Er fiel auf einen Ast herunter, blieb einen Augenblick liegen, glitt dann durchs Laub und landete in meinem offenen Handschuh. Die Mädchen kreischten. Ich feuerte den Ball zu unserem Pitcher hinein und lief zurück auf meine Position. Der nächste Spieler verfehlte jeden Ball. Unser Pitcher, Harvey Nixon, hatte den Bogen raus. Wir wechselten die Seiten, und ich kam als erster auf die Platte. Den Burschen, den die anderen als Werfer aufboten, hatte ich noch nie gesehen. Er war nicht von der Chelsey High. Ich fragte mich, woher sie ihn hatten. Alles an ihm war groß: der Schädel, der Mund, die Ohren, der ganze Kerl. Das Haar fiel ihm nach vorn über die Augen, und er sah aus, als sei er nicht bei Trost. Er hatte braunes Haar und grüne Augen, und diese grünen Augen starrten mich durch die Haarsträhnen an, als habe er einen Hass auf mich. Sein linker Arm wirkte länger als der rechte. Er warf also mit links. Einen Linkshänder hatte ich noch nie gegen mich gehabt, jedenfalls nicht bei Hardball. Aber auch damit konnte man fertig werden. Wenn man sie auf den Kopf stellte, waren sie alle gleich. »Kitten« Floss nannten sie ihn. Und was für ein niedlicher kleiner Kater. 190 Pfund. »Los, Butch, baller einen in die Wolken«, rief mir eines der Mädchen zu. Sie nannten mich »Butch«, weil ich ein gutes Spiel machte und ihnen die kalte Schulter zeigte. Mit seinen grünen Augen, die von zwei großen Ohren gerahmt wurden, funkelte mich Kitten an. Ich spuckte auf die Platte, stemmte die Füße in den Dreck und schwang meinen Schläger. Floss nickte jetzt, als habe ihm sein Fänger ein Zeichen gemacht. Nichts als Theater. Dann sah er durchs Infield. Noch mehr Theater. Das tat er nur wegen der Mädchen. Er konnte anscheinend nur noch an Muschi denken. Er ringelte sich zusammen. Ich starrte auf den Ball in seiner linken Hand und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Ich hatte das Geheimnis gelüftet: Man konzentrierte sich auf den Ball und folgte seiner Flugbahn, bis er die Platte erreichte, und dann killte man ihn mit dem Holz. Ich sah, wie der Ball seine Finger verließ und durch die Sonnenstrahlen heranzischte wie eine mordgierige Hummel. Aber er kam nur knapp in Kniehöhe, weit unterhalb der Schlagzone. Sein Fänger musste sich praktisch auf den Bauch werfen, um ihn zu erhaschen.
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»Erster Ball«, murmelte der alte Trottel aus der Nachbarschaft, der bei unseren Spielen den Schiedsrichter mimte. Er war Nachtwächter in einem Kaufhaus und quatschte gern die Mädchen an. »Ich hab zwei Töchter zu Haus, die sind genau wie ihr. Richtig süß. Tragen auch immer so enge Kleider ...« Er stand immer breitbeinig und geduckt hinter der Platte und zeigte ihnen seine großen Arschbacken. Das war alles, was er vorzuweisen hatte. Das und einen Goldzahn. Der Fänger warf Kitten Floss den Ball zurück. »Hey, Pussy!« schrie ich zu ihm hinaus. »Redest du mit mir?« »Ganz recht, Kurzarm. Musst schon ein bißchen dichter ran mit dem Ball, sonst brauch ich ein Taxi.« »Den nächsten verpass ich dir richtig«, eröffnete er mir. »Gut«, sagte ich und stemmte die Füße in den Boden. Er gab wieder seine gewohnte Vorstellung. Nickte mit dem Kopf, als bekomme er ein Zeichen. Spähte durchs Infield. Und dann starrten mich die grünen Augen wieder durch die schmutzbraunen Haarsträhnen an. Ich beobachtete ihn, wie er zum Wurf ansetzte. Ich sah den Ball aus seinen Fingern zischen, ein dunkler Wischer in der grellen Sonne, und dann merkte ich plötzlich, dass er direkt auf meinen Kopf zukam. Ich ging blitzartig in die Knie und spürte, wie er meine Haare streifte. »Strike one«, murmelte der alte Furz. »Was??« schrie ich. Der Fänger hatte den Ball noch im Handschuh. Die Entscheidung unseres Schiedsrichters verblüffte ihn so sehr wie mich. Ich nahm den Ball an mich und zeigte ihn dem Alten. »Was ist das?« fragte ich ihn. »Ein Baseball.« »Schön. Dann sieh mal zu, dass du ihn nicht nochmal mit einem Schläger verwechselst.« Ich ging mit dem Ball hinaus zum Pitcher. Die grünen Augen hinter den schmutzigen Haarsträhnen betrachteten mich, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Doch der Mund öffnete sich ein klein wenig. Wie bei einem Fisch, der Luft holt. Ich blieb vor Kitten stehen. »Ich tu hier keine Bälle köpfen«, sagte ich. »Wenn du nochmal so einen wirfst, stopf ich ihn dir durch die Unterhose, und zwar genau da rein, wo du heut´ früh vergessen hast, dich abzuputzen!« Ich gab ihm den Ball, ging zurück zur Platte, stemmte die Füße in den Boden und schwenkte den Schläger. »Eins-eins«, sagte der alte Furz. Floss kickte den Dreck auf seinem kleinen Erdhügel herum. Er spähte ins linke Spielfeld hinaus. Dort gab es nichts als einen halbverhungerten Köter, der sich hinterm Ohr kratzte. Floss sah ins Infield, als erwarte er ein Zeichen. Er dachte mal wieder an die Mädchen und wollte gut aussehen. Der Alte duckte sich breitbeinig hinter der Platte, streckte seinen blöden Hintern raus und wollte ebenfalls gut aussehen. Vermutlich war ich einer der wenigen, die auch einen Gedanken an das Spiel verschwendeten. Endlich war Kitten Floss soweit und ringelte sich zusammen. Dieser Windmühlenflügel, den er an seiner linken Seite hatte, konnte einen in Panik versetzen, wenn man sich darauf einließ. 114
Man musste Geduld habe und auf den Ball warten. Am Ende mussten sie ihn alle fliegen lassen. Dann hatte man die Chance, den Wurf zunichte zu machen, und je härter sie den Ball warfen, desto weiter konnte man ihn wegschlagen. Eines der Mädchen kreischte, als er seinen Wurf abzog. Er hatte nichts an Wucht verloren. Der Ball sah aus, als käme er richtig, doch dann wurde er merkwürdig groß - er flog schon wieder auf meinen Schädel zu. Ich warf mich hin, so schnell ich konnte und bekam eine Ladung Dreck in den Mund. »SEERIKE TWO! « hörte ich den Alten brüllen. Er konnte das Wort nicht einmal richtig aussprechen. Wenn einer sonntags umsonst als Schiedsrichter arbeitet, hat er auch sonst nichts los. Ich stand auf und klopfte mir den Dreck ab. Sogar in der Unterhose hatte ich welchen. Ich konnte schon meine Mutter hören: »Henry, wie bringst du es bloß fertig, deine Unterhosen so dreckig zu machen? Und mach nicht so ein Gesicht! Tu doch mal lächeln und sei fröhlich!« Ich ging zum Pitcher hinaus und blieb vor ihm stehen. Wortlos starrten wir einander an. Ich hob den Schläger und drückte ihm damit die Nase platt. Er schlug ihn weg. Ich drehte mich um und ging zurück in Richtung Platte. Auf halbem Wege blieb ich stehen, drehte mich um und starrte ihn noch einmal an. Dann ging ich zur Platte, nahm Aufstellung und schwenkte wieder die Keule. Der nächste Ball würde mir gehören. Kitten hielt Ausschau nach seinem imaginären Zeichen. Er spähte geraume Zeit mit seinen grünen Augen durch die schmutzigen Haarsträhnen und schüttelte schließlich den Kopf. Ich schwenkte die Keule etwas energischer. »Drisch ihn raus, Butch!« schrie eines der Mädchen. »Butch! Butch! Butch!« kreischte eine andere. Dann wandte uns Kitten den Rücken zu und starrte einfach ins Centerfield. »Auszeit«, sagte ich und verließ meine Position. Mein Blick streifte für einen Augenblick eine sehr reizende Kleine, die ein orangefarbenes Kleid trug und lange blonde Haare hatte, die ihr wie ein gelber Wasserfall über den Rücken fielen und wirklich wunderschön anzusehen waren. »Bitte tu es, Butch«, sagte sie. »Halt die Klappe«, sagte ich und nahm wieder Aufstellung. Ich sah den Ball kommen. Genau richtig, wie es schien. Dummerweise erwartete ich wieder einen zum Kopf. Ich wollte, dass er nochmal so einen warf, damit ich zu ihm rausgehen und ihn zu einem Kampf auf Leben und Tod herausfordern konnte. Der Ball sauste aber direkt auf die Mitte der Platte zu. Bis ich mich darauf eingestellt hatte, konnte ich nur noch schwach drüber wegschlagen. Der Bastard hatte mich voll reinrasseln lassen. Einem von unseren Jungs gelang es schließlich, einen Treffer zu landen, der wenigstens für einen Run zur First Base reichte. Als Feldspieler dagegen war ich gut. Ich rannte da draußen herum und fing einige Bälle ab. Ich wusste, je länger ich den mörderischen Wurf von Kitten beobachtete, um so besser würde es mir gelingen, ihn zu parieren. Es war nicht mehr nötig, dass er versuchte, mir ein Loch in den Kopf zu werfen. Er setzte mir auch so schon genug zu. Ich hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es mir gelang, ihm einen abzuschmettern.
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Doch es wurde zusehends schlimmer. Es gefiel mir gar nicht. Auch die Girls wurden kleinlaut. Der Grünäugige war nicht nur ein guter Werfer, er war auch gut mit dem Schläger. Er schlug einen Home Run und einen Double, und beim dritten Mal traf er den Ball schräg von unten, so dass er in hohem Bogen zwischen mir im Centerfield und Abe auf Second Base angesegelt kam. Ich rannte darauf zu, die Girls kreischten, doch Abe kam mir rückwärts entgegen, sah über die Schulter nach hinten, schaute mit offenem Mund nach oben. Er wirkte wie der letzte Idiot mit seinem offenen Mund voll Spucke. »Der gehört mir!« schrie ich in vollem Lauf. Eigentlich war es sein Ball, aber irgendwie fand ich den Gedanken unerträglich, ihm den Fang zu überlassen. Der Kerl war nichts als ein dämlicher Bücherwurm, und ich konnte ihn eigentlich gar nicht leiden, also rannte ich stur weiter auf ihn zu. Als der Ball herunterkam, prallten wir zusammen, der Ball sprang ihm aus dem Handschuh in die Luft, als er zu Boden ging, und im nächsten Augenblick hatte ich den Ball in der Hand. Dann stand ich mit gespreizten Beinen über ihm. »Steh auf, du Blödmann«, sagte ich. Abe blieb liegen. Er flennte und hielt sich den linken Arm. »Ich glaub, mein Arm ist gebrochen«, sagte er. »Steh schon auf, Schlappschwanz.« Schließlich rappelte er sich hoch, ging schluchzend vom Feld und hielt sich seinen Arm. Ich sah mich um. »All right«, rief ich, »jetzt spielen wir mal richtig!« Doch alle waren schon am Gehen, sogar die Mädchen. Das Spiel war offensichtlich vorüber. Ich hing noch eine Weile herum, dann machte ich mich auf den Weg nach Hause ... Kurz vor dem Abendessen läutete das Telefon. Meine Mutter nahm ab. Ihre Stimme wurde sehr aufgeregt. Sie legte auf, und ich hörte, wie sie auf meinen Vater einredete. Dann kam sie zu mir ins Zimmer. »Komm mal bitte mit nach vorn.« Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. Meine Eltern saßen in den beiden Sesseln. So war es immer. Sessel bedeuteten, dass man hier zuhause war. Die Couch war für Besucher. »Mrs. Mortenson hat eben angerufen. Sie haben Abe den Arm röntgen lassen. Du hast ihm den Arm gebrochen. « »Es war ein Unfall«, sagte ich. »Sie sagt, sie wird uns verklagen. Sie nimmt sich einen jüdischen Rechtsanwalt. Die werden uns alles wegnehmen, was wir haben.« »Wir haben ja nicht viel.« Meine Mutter war eine von den stummen Weinern. Immer mehr Tränen rollten ihr übers Gesicht. Ihre Wangen begannen im Abendrot zu glitzern. Sie tupfte sich die Augen ab. Sie waren hellbraun und hatten einen stumpfen Glanz. »Warum hast du dem Jungen den Arm gebrochen?« »Es war ein Pop-up. Wir sind beide nach dem Ball gegangen.« »Was ist das, ein >Pop-up« »Wer zuerst drankommt, der kriegt ihn.« »Und du hast ihn gekriegt?« »Ja.«
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»Aber was haben wir davon? Dieser jüdische Anwalt kann immer noch den gebrochenen Arm anführen.« Ich stand auf, ging zurück in mein Zimmer und wartete auf das Abendessen. Mein Vater hatte kein Wort gesagt. Er war unschlüssig, was er davon halten sollte. Es machte ihm Sorgen, daß er sein bißchen Hab und Gut verlieren könnte, doch zugleich war er stolz, daß er einen Sohn hatte, der einem den Arm brechen konnte.
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Jimmy Hatcher arbeitete stundenweise in einem Lebensmittelgeschäft. Keiner von uns konnte eine Arbeit finden, doch er jederzeit. Er hatte sein kleines Filmstar-Gesicht, und seine Mutter hatte sagenhafte Kurven. Mit seinem Gesicht und ihrer Figur hatte er keinerlei Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden. »Warum kommst du heute Abend nach dem Essen nicht mal bei mir vorbei?« fragte er mich eines Tages. »Wozu?« »Ich klau denen jede Menge Bier. Ich schaff es hinten raus. Wir könnten das Bier zusammen trinken.« »Wo hast du's denn?« »Im Kühlschrank.« »Das will ich erst mal sehn.« Wir waren etwa einen Block von seiner Wohnung entfernt. Als wir in den Hausflur kamen, sagte er: »Warte mal, ich muss in den Briefkasten sehen.« Er nahm seinen Schlüssel heraus und schloss den Kasten auf. Es lag nichts darin. Er schloss ihn wieder ab. »Mein Schlüssel passt auch für den Briefkasten von dieser Frau. Schau her.« Er schloss den Briefkasten auf, nahm einen Brief heraus und riss ihn auf. Er las mir den Brief vor: »Liebe Betty. Ich weiß, dass dieser Scheck verspätet kommt, und dass du schon sehr darauf wartest. Ich habe meinen Job verloren. Jetzt habe ich einen anderen, aber das hat eben alles verzögert. Hier ist also endlich der Scheck. Ich hoffe, es geht dir gut. Herzliche Grüße Don.« Jimmy nahm den Scheck heraus und betrachtete ihn. Er riss ihn in kleine Stücke und den Brief ebenfalls. Die Schnipsel steckte er in seine Jackentasche. Dann schloss er den Briefkasten wieder ab. »Komm.« Wir gingen in seine Wohnung, und in der Küche machte er den Kühlschrank auf. Er war randvoll mit Bier Dosen. »Weiß das deine Mutter?« »Klar. Sie trinkt auch davon.« Er stieß die Tür wieder zu. »Sag mal, Jim, hat sich dein alter Herr wirklich wegen deiner Mutter das Hirn aus dem Schädel geblasen?« »Ja. Er hat sie angerufen und ihr gesagt, er hätte eine Pistole in der Hand. Er sagte: >Wenn du nicht zu mir zurückkommst, bring ich mich um. Kommst du zu mir zurück ?< Meine Mutter sagte nein. Da gab es einen Knall, und das war's dann.« »Und was hat deine Mutter gemacht?« »Sie hat aufgelegt.« »Tja, also dann bis heute Abend.« Am Abend sagte ich meinen Eltern, ich müsste rüber zu Jimmy und einige Hausaufgaben mit ihm machen. Meine Art von 117
Hausaufgaben, dachte ich. »Jimmy ist ein netter Junge«, sagte meine Mutter. Mein Vater sagte nichts. Als ich hinkam, holte Jimmy das Bier aus dem Kühlschrank, und wir machten uns an die Arbeit. Es gefiel mir bei ihm. Seine Mutter bediente bis zwei Uhr früh in einer Bar, so dass wir die Wohnung ganz für uns hatten. »Deine Mutter hat wirklich 'ne Figur. Wie kommt es eigentlich, dass manche Frauen so klasse gebaut sind, während die meisten anderen aussehen, als wären sie verkrüppelt? Warum können nicht alle Frauen tolle Kurven haben?« »Ach Gott, was weiß ich. Wenn alle Frauen gleich wären, würden sie uns vielleicht langweilen.« »Trink mal. Du bist so langsam.« »Schon gut.« »Noch ein paar Biere, und ich hau dich vielleicht grün und blau.« »Wir sind doch Freunde, Hank.« »Ich hab keine Freunde. Los, trink!« »Ist ja gut. Wozu die Eile?« »Du musst sie dir nacheinander runterkippen, sonst spürst du nichts.« Wir knackten weitere Dosen. »Wenn ich 'ne Frau wäre«, sagte Jimmy, »würd ich mit dem Rock bis hier hoch rumlaufen und sämtlichen Männern einen Steifen hinzaubern.« »Du machst mich krank.« »Meine Mutter kannte mal einen, der ihre Pisse getrunken hat.« »Was?« »Ja. Sie haben die ganze Nacht gebechert, und dann hat er sich in die Badewanne gelegt, und sie hat ihm in den Mund gepisst. Er hat ihr jedes Mal fünfundzwanzig Dollar gegeben.« »Und das hat sie dir erzählt"?« »Seit mein Vater tot ist, vertraut sie mir alles an. Es ist, als hätte ich jetzt seine Stelle eingenommen.« »Soll das heißen ... ?« »Oh. Nein. Sie erzählt mir nur alles.« »So wie das mit dem Kerl in der Badewanne.« »Ja.« »Erzähl mir noch 'n paar so Sachen.« »Nein.« »Komm, trink noch was. Hat deine Mutter auch einen, der ihre Kacke ißt?« »Red' nicht so Zeug.« Ich trank meine Dose aus und warf sie durchs Zimmer. »Die Bude gefällt mir. Vielleicht zieh ich hier ein.« Ich ging hinaus zum Kühlschrank und kam mit einer neuen Sechserpackung zurück. »Ich bin ein hundsgemeiner Knochen«, verkündete ich. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich in meiner Nähe dulde.« »Wir sind doch Freunde, Hank.« Ich stupste ihm eine volle Dose unter die Nase. »Da. Trink!« Ich ging ins Badezimmer und pinkelte. Es war ein sehr damenhaftes Badezimmer - bunte Frotteetücher, flauschige rosarote Fußmatten. Sogar die Klobrille war rosa. Auf der ließ sie
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sich nieder mit ihrem großen weißen Arsch, und ihr Name war Cläre. Ich sah auf meinen jungfräulichen Schwanz herunter. »Ich bin ein Mann«, sagte ich laut. »Ich werde mit jedem fertig.« »Ich muss auch mal, Hank«, sagte Jim vor der Tür. Ich ließ ihn herein, und im Hinausgehen hörte ich, wie er kotzte. »Ach Scheiße«, sagte ich und machte mir die nächste Dose Bier auf. Nach einigen Minuten kam Jim heraus und sank in einen Sessel. Er war sehr blass. Ich hielt ihm eine Dose unter die Nase. »Trink was! Sei ein Mann! Du warst Manns genug, das Bier zu stehlen, jetzt sei auch Manns genug und trink es!« »Lass mich erst mal 'ne Weile verschnaufen.« »Trink es!« Ich setzte mich auf die Couch. Es war gut, sich einen anzutrinken. Ich entschied, dass ich davon noch oft etwas haben würde. Es ließ die öden gewöhnlichen Dinge verschwinden, die alle anderen taten, und wenn man sich davon oft genug lösen konnte, wurde man vielleicht auch selbst kein öder Typ. Ich sah hinüber zu Jimmy. »Trink was, du Niete!« Ich warf meine leere Dose durchs Zimmer. »Erzähl mir noch mehr von deiner Mutter, Jimmy-Boy. Was hat sie alles gesagt über den Mann, der in der Badewanne ihre Pisse geschluckt hat?« »Sie hat gesagt: >Die Schluckspechte werden nicht alle. <« »Jim.« »Hm?« »Trink aus. Sei ein Mann!« Er setzte seine Bierdose an. Dann rannte er ins Bad, und ich hörte ihn wieder kotzen. Als er nach einer Weile herauskam und in seinen Sessel sank, sah er ziemlich schlecht aus. »Ich muss mich hinlegen«, sagte er. »Jimmy«, sagte ich, »ich werde hier warten, bis deine Mutter nach Hause kommt.« Er rappelte sich aus dem Sessel hoch und steuerte das Schlafzimmer an. »Und wenn sie nach Hause kommt, werde ich sie ficken, Jimmy.« Er hörte es nicht. Er wankte nur ins Schlafzimmer. Ich ging in die Küche und holte weiteres Bier. Ich saß da, trank Bier und wartete auf Cläre. Wo blieb sie denn, diese Hure? So eine Schlamperei durfte ich nicht durchgehen lassen. Bei mir hatte man pünktlich zu sein. Ich stand auf und sah im Schlafzimmer nach. Jimmy lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett. Nicht einmal die Schuhe hatte er ausgezogen. Ich ging wieder raus. Nun, es war offensichtlich, dass dieser Bursche nichts vertragen konnte. Cläre brauchte einen Mann im Haus. Ich setzte mich, knackte die nächste Dose und trank einen ordentlichen Schluck. Auf dem Couchtisch lag eine angebrochene Packung Zigaretten. Ich steckte mir eine an. Ich weiß nicht, wie viele Dosen ich noch leerte, während ich auf Cläre wartete, doch endlich hörte ich den Schlüssel in der Tür, und sie kam herein. Da war sie nun, Cläre, mit ihren Kurven und ihrem strahlend blonden Haar. Sie stand auf hochhackigen Pumps und schwankte
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ein wenig. Kein Kunstmaler hätte es besser hinkriegen können. Sogar die Wände starrten sie an, die Lampenschirme, die Sessel, der Teppich. Reine Magie... »Wer zum Teufel bist du? Was soll das?« »Cläre, wir sind uns schon begegnet. Ich bin Hank. Der Freund von Jimmy.« »Verschwinde hier!« Ich lachte. »Ich zieh hier ein, Baby. Wir bleiben zusammen.« »Wo ist Jimmy?« Sie rannte ins Schlafzimmer, und als sie wieder herauskam, schrie sie: »Du kleiner Scheißer! Was ist hier eigentlich los?« Ich nahm mir eine Zigarette. Gab mir Feuer. Grinste. »Du bist hinreißend, wenn du eine Wut hast.« »Du bist nichts als ein gottverdammter kleiner Junge, der einen sitzen hat. Geh nach Hause.« »Setz dich her, Baby. Trink ein Bier.« Cläre setzte sich. Das überraschte mich sehr. »Du gehst auf die Chelsey, nicht?« fragte sie. »Yeah. Jim und ich sind Kumpel.« »Du bist Hank.« »Ja.« »Er hat mir von dir erzählt.« Ich hielt ihr eine Dose Bier hin. Meine Hand zitterte. »Hier, trink 'n Bier, Baby.« Sie knackte die Dose und nippte daran. Ich sah ihr in die Augen, hob mein Bier und trank einen Schluck. Sie war ein Vollweib, ein Mae-West-Typ. Trug auch genau so ein engsitzendes Kleid. Breite Hüften, starke Beine. Und was für ein Busen. Umwerfend. Cläre schlug ihre sagenhaften Beine übereinander, und das Kleid rutschte ein wenig nach oben. Ihre Beine waren wohlgerundet und golden, und die Strümpfe saßen wie eine zweite Haut. »Ich kenn deine Mutter«, sagte sie. »Wir haben uns mal getroffen.« Ich trank meine Dose aus, stellte sie zwischen den Füßen ab, griff mir eine neue, riss sie auf, nahm einen Schluck. Dann sah ich zu Cläre hinüber. Ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. Auf ihren Busen, auf ihre Beine oder in ihr müdes Gesicht. »Tut mir leid, dass ich deinen Sohn besoffen gemacht habe. Aber ich muss dir unbedingt was sagen.« Sie wandte den Kopf, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann sah sie mich wieder an. »Ja?« »Cläre, ich liebe dich.« Sie lachte nicht. Sie verzog nur leicht die Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln. »Armer Junge. Du bist doch nichts als ein kleines Hühnchen. Noch nicht mal trocken hinter den Ohren.« Das stimmte zwar, aber die Bemerkung ärgerte mich. Vielleicht gerade, weil sie damit recht hatte. Doch der Traum und das Bier wollten es anders. Ich trank noch einen Schluck, sah sie
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an und sagte: »Lass den Quatsch. Zieh dein Kleid hoch. Zeig mir ein bißchen Bein. Ein bißchen Schenkel.« »Du bist doch bloß ein Junge.« Jetzt sagte ich es. Ich weiß nicht, woher die Worte kamen, aber ich sagte es: »Ich kann dich mitten durchreißen, Baby, wenn du mich ranlässt.« »So ?« »Yeah.« »Na schön. Wollen wir doch mal sehn.« Und da tat sie es. Einfach so. Sie machte die Beine breit und zog sich das Kleid hoch. Sie hatte nichts darunter an. Ich sah ihre gewaltigen weißen Schenkel. Ein Gewoge von Fleisch. An der Innenseite des linken Schenkels wölbte sich eine große Warze heraus. Und zwischen den Schenkeln gab es einen Dschungel von verhedderten Haaren, doch die waren nicht strahlend blond wie das Haar auf ihrem Kopf — sie waren braun mit grauen Fäden dazwischen, alt wie ein halb abgestorbener Busch, leblos und traurig. Ich stand auf. »Ich muss gehn, Mrs. Hatcher.« »Ach Gott, und ich hab gedacht, du willst einen draufmachen!« »Nicht solang Ihr Sohn nebenan ist, Mrs. Hatcher.« »Um den mach dir mal keine Gedanken, Hank. Der ist total hinüber.« »Nein, Mrs. Hatcher, ich muss wirklich gehn.« »Na, dann hau doch ab, du gottverdammter kleiner Pisser!« Ich machte die Tür hinter mir zu, ging durch den Hausflur, hinaus auf die Straße. Wenn man sich überlegte, dass jemand wegen so was Selbstmord begangen hatte ... Die Nacht war mit einem Mal richtig wohltuend. Ich machte mich auf den Weg zurück zum Haus meiner Eltern.
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Ich sah deutlich vor mir, wie es weitergehen würde. Ich war arm, und ich würde auch arm bleiben. Doch zu Geld wollte ich gar nicht unbedingt kommen. Ich wusste nicht, was ich wollte. Oh doch, ich wusste es: Einen Ort, wo ich mich verkriechen konnte. Irgendwo sein, wo man nichts zu tun brauchte. Die Vorstellung, jemand zu sein, etwas darzustellen, war nicht nur abschreckend, sie war mir ausgesprochen zuwider. Anwalt zu sein, Stadtverordneter, Ingenieur oder sonst etwas in dieser Art, erschien mir völlig unmöglich. Heiraten, Kinder haben, in die Falle eines reglementierten Familienlebens geraten. Jeden Tag irgendwohin zur Arbeit fahren und abends zurückkommen. Nicht auszudenken. All diesen üblichen Kram mitmachen -Familienpicknicks, Weihnachten, 4. Juli, Tag der Arbeit, Muttertag ... war der Mensch nur auf der Welt, um all das zu ertragen und dann zu sterben? Da würde ich doch
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lieber Tellerwäscher sein, abends allein in einer winzigen Bude sitzen und mich in den Schlaf trinken. Mein Vater hatte eine genaue Vorstellung, wie ein Lebensplan auszusehen hatte. »Mein Sohn«, sagte er, »jeder Mann sollte sich im Leben ein Haus anschaffen. Wenn er stirbt, hinterlässt er das Haus seinem Sohn. Der Sohn bringt es ebenfalls zu einem eigenen Haus und stirbt und hinterlässt beide Häuser seinem Sohn. Damit sind es schon zwei Häuser. Dieser Sohn bringt es dann auch zu einem eigenen Haus, und jetzt sind es bereits drei Häuser ...« Lauter treusorgende Familienväter. Die Familie als sicherster Weg, um alle Fährnisse des Lebens zu meistern. Er glaubte daran. Familie plus Gott und Vaterland, ein Zehn-Stunden-Tag dazu, und schon hatte man alles, was man brauchte. Ich sah mir meinen Vater an, seine Hände, sein Gesicht, seine Augenbrauen, und ich wusste, dass dieser Mann nichts mit mir zu tun hatte. Er war ein Fremder. Auch meine Mutter existierte für mich so gut wie gar nicht. Ich war verflucht. Alles an meinem Vater war widerwärtig und öde. Schlimmer noch - er fürchtete sich sogar noch mehr als die meisten anderen, im Leben zu versagen. Jahrhunderte von dumpfen Bauern in der Familie, mit der entsprechenden Erziehung. Das Blut der Chinaskis war ausgedünnt durch eine Serie von Tagelöhnern, die ihr Leben für kärgliche und illusionäre Vorteile drangegeben hatten. Kein einziger meiner Vorfahren hatte je gesagt: »Ich will nicht ein Haus, ich will tausend Häuser! Sofort!« Er hatte mich in diese Schule der Reichen geschickt, weil er hoffte, die Einstellung der Herrschenden würde auf mich abfärben, während ich den reichen Jungs zusah, die in ihren cremefarbenen Coupes angeknattert kamen und die Mädchen in ihren bunten Kleidern auflasen. Statt dessen zog ich daraus nur die Lehre, dass die Armen gewöhnlich arm bleiben. Dass die jungen Reichen den Mief der Armut schnüffeln und lernen, ihn ein bißchen amüsant zu finden. Sie mussten ja auch darüber lachen, sonst wäre es zu erschreckend gewesen. Im Lauf der Jahrhunderte war ihnen das eingegeben worden. Ich würde den Girls nie verzeihen, dass sie zu diesen lachenden Burschen in die cremefarbenen Coupes stiegen. Natürlich konnten sie gar nicht anders, aber man dachte eben immer: Vielleicht... Doch nein, es gab kein Vielleicht. Wohlstand bedeutete, dass man eine Siegernatur war, und das war die einzige Realität. Welche Frau gibt sich schon freiwillig mit einem Tellerwäscher ab? Während der restlichen Zeit in der Highschool versuchte ich, nicht zu sehr daran zu denken, wie es für mich am Ende ausgehen würde. Es schien besser, das Nachdenken zu vertagen ... Schließlich kam der Tag des Abschlußballs. Sie machten ihn in der Turnhalle der Mädchen, mit einer richtigen Band. Ich weiß nicht, warum, aber an jenem Abend ging ich hin, zu Fuß, die ganzen zweieinhalb Meilen von Zuhause. Ich stand draußen in der Dunkelheit und sah durch das Drahtgitterfenster hinein, und was ich sah, erstaunte mich. Die Mädchen wirkten alle sehr vornehm und erwachsen, sie waren alle so schön, so hinreißend in ihren langen Ballkleidern. Auch die Boys sahen prächtig aus in ihren Smokings, sie tanzten so gerade, jeder ein Mädchen im Arm und das Gesicht in ihrem Haar. Alle bewegten sich elegant über die Tanzfläche, und die Musik war laut und klar und gut und mitreißend. Dann sah ich für einen Augenblick mein Spiegelbild im Fenster, wie ich zu ihnen hineinstarrte. Die Pusteln und Schrunden in meinem Gesicht, das verlotterte Hemd. Ich war wie ein Tier aus dem Dschungel, das vom Licht angelockt wird und große Augen macht. Warum war ich gekommen? Ich fühlte mich elend. Trotzdem sah ich ihnen weiter zu.
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Der Tanz endete, und es gab eine kleine Pause. Die Paare unterhielten sich ungezwungen. Alles war so natürlich und zivilisiert. Wo hatten sie das her, wie man Konversation macht und tanzt? Ich konnte weder das eine noch das andere. Sie alle verstanden sich auf Dinge, die mir verwehrt waren. Die Mädchen sahen so gut aus, die Jungs so stattlich. Ich hätte viel zu große Angst gehabt, eines der Mädchen überhaupt nur anzusehen, geschweige denn, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen. So einer in die Augen zu sehen oder mit ihr zu tanzen, wäre mir nie möglich gewesen. Und dennoch wusste ich, dass das, was ich hier sah, nicht so einfach und gut war, wie es schien. Es musste ein Preis für all das gezahlt werden: Eine allgemeine Selbsttäuschung, der man leicht zum Opfer fiel und die der erste Schritt in eine Sackgasse sein konnte. Die Band spielte weiter, die Paare begannen wieder zu tanzen, abwechselnd gestreift von kreisenden Scheinwerfern in Gold, Rot, Blau und Grün. Und während ich ihnen zusah, sagte ich mir: Eines Tages wird mein Tanz anfangen, und wenn dieser Tag kommt, werde ich etwas haben, was die da nicht haben ... Doch dann wurde mir ihr Anblick zuviel. Ich hasste sie. Ich hasste ihre Schönheit, ihre sorglose Jugend. Ich besah sie mir, wie sie durch die magischen Lichtornamente glitten, einander hielten, sich gut fühlten wie kleine unbeschwerte Kinder, die eine vorübergehende Glückssträhne auskosten, und ich hasste sie, weil sie mir etwas voraus hatten. Und wieder sagte ich mir: Eines Tages werde ich so glücklich sein wie ihr. Ihr werdet schon sehen. Sie drehten sich weiter im Takt, und ich wiederholte es noch einmal halblaut. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch. »Hey! Was hast du da zu suchen?« Es war ein alter Mann mit einer Stablampe. Er hatte einen Kopf wie ein Frosch. »Ich seh mir den Ball an.« Er hielt sich die Stablampe direkt unter die Nase. Seine Augen waren groß und rund und glitzerten wie die einer Katze im Mondschein. Sein Mund war faltig und leicht einwärts gestülpt, und sein merkwürdig kreisrunder Schädel erinnerte an einen Kürbis, der versucht, den gelehrten Eierkopf zu mimen. »Sieh zu, dass du hier verschwindest!« Der Lichtkegel seiner Stablampe strich an mir auf und nieder. »Wer sind Sie?« fragte ich. »Der Wachmann von der Nachtschicht. Verschwinde, oder ich ruf die Polizei!« »Wieso? Ich bin in der Abschlußklasse, die hier ihren Ball macht.« Er leuchtete mir ins Gesicht. Die Band spielte gerade >Deep Purple<. »Von wegen!« sagte er. »Du bist mindestens zweiundzwanzig!« »Ich steh im Jahrbuch. Abschlußklasse 1939. Henry Chinaski.« »Warum bist du dann nicht da drin am Tanzen?« »Vergessen Sie's. Ich geh nach Hause.« »Na dann tu es auch!« Ich drehte mich um und ging weg. Der Lichtkegel seiner Stablampe folgte mir, bis ich das Schulgelände verlassen hatte. Es war eine angenehm warme Nacht, fast schwül. Ich glaubte, einige Glühwürmchen zu sehen, aber ich war mir nicht sicher.
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Abschlußfeier. Mit unseren Troddelkappen und schwarzen Umhängen zogen wir zu den Klängen von >Pomp and Circumstance< in die Turnhalle ein. In unseren drei Jahren mussten wir wohl irgend etwas gelernt haben. Unsere Rechtschreibung hatte sich wahrscheinlich verbessert, und wir waren ein paar Zentimeter gewachsen. Ich war immer noch Jungfrau. »Hey, Henry, hast du schon deine Unschuld verloren?« »Keine Chance«, sagte ich jedes Mal. Jimmy Hatcher saß neben mir. Der Direktor hielt seine Rede und rührte kräftig in der alten Scheiße. »Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und wer es hier zu etwas bringen will, ob Mann oder Frau, wird auch Erfolg haben ...« »Tellerwäscher«, sagte ich. »Hundefänger«, sagte Jimmy. »Einbrecher«, sagte ich. »Müllmann«, sagte Jimmy. »Irrenhauswärter«, sagte ich. »Amerika ist mutig, Amerika wurde aufgebaut von den Mutigen ... Wir sind eine gerechte Gesellschaft ...« »Aber es reicht bloß für die paar Wenigen«, sagte Jimmy. »... eine faire Gesellschaft, und alle, die den großen Traum am Ende des Regenbogens suchen, werden ...« »... einen haarigen, madigen Scheißhaufen finden«, gab ich zu bedenken. »Und ich kann ohne Zögern sagen: Dieser Jahrgang, der heute unsere Schule verlässt, weniger als eine Dekade nach dem Beginn unserer schrecklichen Wirtschaftskrise - diese Abschlußklasse vom Sommer 1939 ist erfüllt von mehr Mut, Talent und Hingabe als alle bisherigen Klassen, die ich miterleben durfte!« Frenetischer Applaus von Müttern, Vätern und Verwandten. Ein paar Schüler schlossen sich an. »Abschlußklasse 1939, ich bin stolz auf eure Zukunft! Ich bin mir eurer Zukunft gewiss! Ich entlasse euch nun in euer großes Abenteuer< Für die meisten ging es gleich nach nebenan in die University of Southern California ,wo sie mindestens weitere vier Jahre dem Ernst des Lebens ausweichen konnten. »Meine besten Wünsche und Gebete begleiten euch auf eurem Weg!« Die Musterschüler bekamen ihr Diplom zuerst. Einer nach dem anderen marschierte auf die Bühne. Abe Mortenson wurde aufgerufen und nahm seinen Wisch in Empfang. Ich applaudierte. »Wo wird der mal landen?« fragte Jimmy. »Als Buchhalter in einem Großhandel für Auto-Ersatzteile, irgendwo hinter Gardena.« »Ein Leben lang denselben Job«, sagte Jimmy. »Und dieselbe Frau«, ergänzte ich. »Abe wird sich nie elend fühlen ...« »Aber glücklich auch nicht.« »Ein braver Schlucker ...« »... der andern die Dreckarbeit macht.« 124
»Und sich ausnutzen lässt.« »Ein Hampelmann.« Als sie mit den Musterschülern fertig waren, kamen wir dran. Ich fühlte mich unbehaglich. Am liebsten wäre ich rausgegangen. Ich wurde aufgerufen. »Henry Chinaski!« »Lakai im öffentlichen Dienst«, sagte ich zu Jimmy. Ich ging auf die Bühne, nahm das Diplom entgegen, schüttelte dem Direktor die Hand. Es war ein schleimiges Gefühl, als greife man in ein vergammeltes Aquarium. (Zwei Jahre danach kam heraus, daß er Schulgelder veruntreut hatte; er wurde angeklagt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.) Auf dem Rückweg kam ich an Abe Mortenson und den anderen Musterschülern vorbei. Er sah zu mir her und zeigte mir den Finger. Das verblüffte mich. Es kam so unerwartet. Ich setzte mich wieder neben Jimmy und sagte: »Mortenson hat mir den Finger gezeigt!« »Nein! Das darf doch nicht wahr sein!« »Leck mich am Arsch. Er hat mir den ganzen Tag ruiniert. Der war zwar eh nicht viel wert, aber jetzt hat er mir die Laune vollends verdorben!« »Ich kann's nicht glauben, dass er sich getraut hat, dir den Finger zu zeigen.« »Es passt gar nicht zu ihm. Denkst du, jemand hat ihm auf die Sprünge geholfen?« »Ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Dabei weiß er ganz genau, dass ich ihn übers Knie brechen kann, ohne überhaupt Luft zu holen!« »Verpass ihm halt 'ne Abreibung.« »Aber verstehst du denn nicht? Er hat mir eins ausgewischt! Er hat mich richtig überrumpelt!« »Brauchst ihn bloß kräftig in den Arsch zu treten.« »Was meinst du, ob der Scheißer aus all diesen Büchern, die er durchgebüffelt hat, was dazugelernt hat? Aber ich weiß doch, dass da nichts drinsteht. Ich hab schließlich jede vierte Seite gelesen ...« »Jimmy Hatcher!« Jetzt war er an der Reihe. »Pfarrer«, sagte er. »Geflügelzüchter«, sagte ich. Jimmy ging rauf und brachte es hinter sich. Ich klatschte laut Beifall. Wer mit einer Mutter leben konnte, wie er sie hatte, verdiente einigen Zuspruch. Er kam zurück, und wir saßen da und sahen zu, wie all die goldenen Boys und Girls auf die Bühne gingen und sich bedienen ließen. »Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen, dass sie reich sind«, meinte Jimmy. »Nee, aber ihren verschissenen Eltern mach ich 'n Vorwurf.« »Und ihren Großeltern«, sagte Jimmy. Die Parade der goldenen Boys und Girls auf der Bühne nahm kein Ende. Ich saß da und überlegte, ob ich Abe k.o. schlagen sollte oder nicht. Ich konnte schon sehen, wie er sich auf dem Gehsteig wälzte, noch in Troddelkappe und Umhang, das Opfer meines rechten Hakens, und all die hübschen Mädchen würden kreischen und sich im stillen sagen: Mein Gott, dieser Chinaski muss ja ein Bulle auf der Matratze sein!
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Andererseits war an Abe nicht viel dran. Er existierte kaum. Es hätte nichts dazu gehört, ihn k.o. zu schlagen. Ich beschloss, darauf zu verzichten. Ich hatte ihm ja schon den Arm gebrochen. Seine Eltern hatten meine schließlich doch nicht verklagt. Wenn ich ihm jetzt aber den Schädel einschlug, würden sie garantiert vor Gericht gehen. Sie würden meinem Alten den letzten roten Heller wegnehmen. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Es ging mir mehr um meine Mutter. Sie hätte blöd dagestanden, denn sie hätte sinnlos und ohne Grund gelitten. Endlich war die Feier vorüber. Die Schüler erhoben sich von ihren Plätzen und gingen im Gänsemarsch hinaus. Auf dem Rasen mischten sie sich unter die Eltern und Verwandten, und es wurde ausgiebig umarmt und geherzt. Ich sah meine Eltern warten, ging hin und blieb etwa vier Schritte vor ihnen stehen. »Verschwinden wir hier«, sagte ich. Meine Mutter betrachtete mich. »Henry, ich bin ja so stolz auf dich!« Dann wandte sie den Kopf zur Seite. »Oh, da ist Abe mit seinen Eltern! Sie sind so nette Menschen! Oh, Mrs. Mortenson!« Sie blieben stehen. Meine Mutter lief hin und schlang die Arme um Mrs. Mortenson. Es war Mrs. Mortenson gewesen, die nach stundenlangen Telefongesprächen mit meiner Mutter beschlossen hatte, auf eine Klage zu verzichten. Man hatte sich darauf geeinigt, dass ich schwer erziehbar und meine Mutter damit schon genug gestraft war. Mein Vater schüttelte Mr. Mortenson die Hand, und ich nahm mir inzwischen Abe vor. »Okay, Schwanzlutscher. Wie kommst du dazu, mir den Finger zu zeigen?« »Was?« »Den Finger!« »Ich weiß nicht, von was du redest!« »Den Finger!« »Henry, ich hab wirklich keine Ahnung, von was du redest!« »Komm jetzt, Abraham!« rief seine Mutter. »Wir müssen gehn!« Die Familie Mortenson spazierte davon. Ich stand da und sah ihnen nach. Dann machten wir uns auf den Weg zu unserem alten Auto. Wir gingen den Block nach Westen runter und bogen um die Ecke. »Also dieser Junge von den Mortensons weiß wirklich, wie man sich anstellen muss!« sagte mein Vater. »Wie willst du es je zu etwas bringen? Ich hab noch nie erlebt, dass du ein Schulbuch wenigstens mal ansiehst. Geschweige denn, dass du rein siehst!« »Manche Bücher sind eben langweilig«, sagte ich. »Ach, sie sind langweilig, wie? Du willst also gar nichts lernen? Was kannst du überhaupt anfangen? Wozu taugst du eigentlich? Was kannst du denn? Es hat mich Tausende von Dollars gekostet, dich aufzuziehen und zu füttern und dir Sachen zum Anziehen zu kaufen! Angenommen, ich lass dich hier auf der Straße stehn - was würdest du dann machen? »Schmetterlinge fangen.« Meine Mutter begann zu flennen. Er zerrte sie weg, den Block runter, wo sie die zehn Jahre alte Karre geparkt hatten. Während ich dastand, donnerten andere Familien in ihren neuen Wagen vorbei. Dann sah ich Jimmy Hatcher und seine Mutter kommen. Sie blieb stehen. »Warte einen Moment«, sagte sie zu Jimmy, »ich will Henry gratulieren.«
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Jimmy blieb stehen, und Cläre kam zu mir her. Sie stellte sich ganz dicht vor mich hin und sagte leise, damit Jimmy es nicht hören konnte: »Hör mal, Honey, falls du auf ein wirkliches Reifezeugnis aus bist, kannst du's bei mir jederzeit kriegen.« »Danke, Cläre. Ich komm vielleicht darauf zurück.« »Ich reiß dir die Eier ab, Henry!« »Das glaub ich dir ohne weiteres, Cläre.« Sie ging zurück zu Jimmy, und die beiden entfernten sich. Ein sehr altes Fahrzeug kam angefahren und hielt. Der Motor soff ab. Ich sah, daß meine Mutter immer noch flennte. Große Tränen kullerten ihr über die Backen. »Henry, steig ein. Bitte, steig ein! Dein Vater hat recht, aber ich liebe dich trotzdem!« »Vergiss es. Ich muss woanders hin.« »Nein, Henry, steig ein!« zeterte sie. »Steig ein, oder ich überlebe es nicht!« Ich ging hin, machte den Schlag auf und kletterte auf den Rücksitz. Der Motor sprang an, und wir waren mal wieder einträchtig unterwegs. Da hockte ich, Henry Chinaski, Abschlußklasse 1939, und fuhr meiner strahlenden Zukunft entgegen. Nein, ich wurde gefahren. An der ersten Ampel soff der Motor wieder ab. Als es grün wurde, murkste mein Vater immer noch herum. Hinter uns hupte jemand. Mein Vater kriegte den Motor an, und wir setzten uns wieder in Bewegung. Meine Mutter hatte aufgehört zu weinen. So fuhren wir dahin. Wortlos.
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Es waren immer noch schlechte Zeiten. Niemand war daher so überrascht wie ich, als jemand von Sears-Roebuck anrief und mich aufforderte, am folgenden Montag zur Arbeit zu erscheinen. Da es sonst nichts zu tun gab, hatte ich einige Dutzend Firmen abgeklappert und mich um eine Stelle beworben. Zwar wollte ich gar keinen Job, aber bei meinen Eltern wollte ich auch nicht länger wohnen. Bei Sears-Roebuck mussten sich Tausende von Bewerbungen gestapelt haben. Ich konnte es nicht fassen, dass sie mich genommen hatten. Es war ein Kaufhaus mit Filialen in zahlreichen Städten. Am folgenden Montag zog ich also los, in der Hand eine braune Papiertüte mit meinem Lunch. Das Kaufhaus lag nur wenige Blocks von der Chelsey High-school entfernt. Ich konnte mir immer noch nicht erklären, warum die Wahl auf mich gefallen war. Ich hatte meine Bewerbung ausgefüllt, und das anschließende Gespräch hatte nur ein paar Minuten gedauert. Offenbar hatte ich ihnen die richtigen Antworten gegeben. Sobald ich meinen ersten Wochenlohn habe, dachte ich, nehme ich mir ein Zimmer in der Innenstadt, möglichst nahe bei der Stadtbibliothek. Während ich die Straße hinunterging, hatte ich das Gefühl, gar nicht mehr so allein zu sein. Ich war es auch nicht: Ein verhungerter Straßenköter folgte mir. Der arme Kerl war entsetzlich abgemagert. Seine Rippen standen heraus, seinem Fell waren die meisten Haare ausgefallen, und der Rest hing in strohigen verdrehten Büscheln dran. Der Hund war ein geprügeltes, eingeschüchtertes, verlassenes und verängstigtes Opfer des Homo sapiens. Ich blieb stehen, ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Er wich zurück. 127
»Komm her, Alter, ich bin dein Freund ... na los, komm schon ...« Er kam etwas näher. Er hatte unendlich traurige Augen. »Was haben sie mit dir gemacht, Boy?« Er kam noch näher. Tief geduckt kroch er heran, zitterte und wedelte unruhig mit dem Schwanz. Dann sprang er mir mit den Vorderpfoten an die Brust. Er war recht groß. Es war noch genug von ihm übrig. Ich fiel nach hinten um, lag platt auf dem Gehsteig, und er leckte mir das Gesicht. Mund, Ohren, Stirn, alles. Ich schob ihn von mir herunter, stand auf und wischte mir das Gesicht ab. »Nur nichts überstürzen. Du brauchst was zu beißen. ESSEN!« Ich griff in meine Tüte und holte einen Sandwich heraus. Ich wickelte ihn aus und brach eine Portion ab. »Stück für dich, und 'n Stück für mich, alter Junge.« Ich legte ihm sein Stück aufs Pflaster. Er schnupperte daran, machte kehrt und hampelte davon. Einmal sah er noch zurück. »Hey, warte, Kumpel! Das war ja einer mit Erdnußbutter! Komm her, ich hab auch noch einen mit Wurst. Hey, Boy, komm her! Komm zurück!« Vorsichtig kam er wieder an. Ich nahm den Bologna-Sandwich heraus, riss ein Stück ab, wischte den billigen wässrigen Senf herunter und legte es ihm auf den Gehsteig. Er ging hin, schnupperte, drehte sich um und trollte sich wieder. Diesmal sah er nicht mehr zurück. Er verfiel sogar in einen leichten Trab. Kein Wunder, dass ich schon mein Leben lang so deprimiert war: Ich bekam nicht die richtige Nahrung. Ich ging weiter in Richtung Kaufhaus. Es war dieselbe Straße, die ich täglich zur Schule gegangen war. Als ich dort war, suchte ich den Personaleingang, stieß die Tür auf und ging hinein. Ich kam aus der prallen Sonne in einen dämmrigen Korridor. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich ein paar Schritte vor mir einen Mann. Er hatte irgendwann die Hälfte seines linken Ohrs verloren. Er war groß und hager, und seine winzigen grauen Pupillen gaben seinen ansonsten farblosen Augen einen stechenden Blick. In krassem Gegensatz zu seiner großen hageren Gestalt quoll ganz unvermutet ein trauriger und fürchterlich wabbeliger Bauch über seinen Hosenbund. Sein ganzes Fett hatte sich darin gesammelt, während der restliche Körper dürr und faltig geworden war. »Ich bin Superintendent Ferris«, sagte er. »Ich nehme an, Sie sind Mr. Chinaski?« »Ja, Sir.« »Sie kommen fünf Minuten zu spät.« »Ich bin aufgehalten worden, weil ... Naja, ich bin unterwegs stehn geblieben, um einen verhungerten Hund zu füttern«, sagte ich mit einem Grinsen. »Das ist eine der kläglichsten Ausreden, die ich je gehört habe, und ich bin schon fünfunddreißig Jahre hier. Konnten Sie sich nicht was Besseres ausdenken?« »Ich fang ja erst an, Mr. Ferris.« »Sie sind auch fast schon wieder entlassen.« Er hob den Arm und zeigte zur Wand. »Also, da drüben ist die Stechuhr und daneben das Regal mit den Karten. Suchen Sie Ihre Karte und stempeln Sie ein.«
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Ich fand meine Karte. Henry Chinaski, Angestellter Nr. 68754. Ich stellte mich damit vor die Stechuhr, wusste aber nicht, wie ich es machen sollte. Ferris kam her, stellte sich hinter mich und starrte aufs Zifferblatt. »Jetzt sind Sie schon sechs Minuten zu spät. Wenn Sie zehn Minuten Verspätung haben, ziehen wir Ihnen eine Stunde ab.« »Dann sollte man vielleicht besser gleich 'ne Stunde zu spät kommen.« »Reißen Sie keine Witze. Wenn ich einen Komiker will, hör ich mir Jack Benny an. Wenn Sie eine Stunde zu spät kommen, sind Sie gleich Ihren ganzen gottverdammten Job los.« »Sie müssen schon entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie man eine Stechuhr bedient. Ich meine, wie stempelt man da ein?« Ferris nahm mir die Karte aus der Hand. Er zeigte darauf. »Sehn Sie den Abschnitt hier?« »Yeah.« »Was?« »Ja, wollte ich sagen.« »Okay, das ist der Abschnitt für den ersten Wochentag. Heute.« »Ah.« »Mit dem Abschnitt voran steckt man die Karte ein. So ...« Er steckte sie rein und zog sie wieder heraus. »Und wenn Ihre Karte drin ist, drücken Sie diesen Hebel herunter.« Ferris zog an dem Hebel, obwohl die Karte gar nicht drin war. »Verstehe. Kann losgehn.« »Nein, warten Sie noch.« Er hielt mir die Karte unter die Nase. »Wenn Sie Mittagspause machen, stempeln Sie diesen Abschnitt hier.« »Ja. Verstanden.« »Und nach der Mittagspause den Abschnitt daneben. Die Pause dauert dreißig Minuten.« »Dreißig Minuten. Alles klar.« »Also, und wenn Sie Feierabend machen, stempeln Sie den letzten Abschnitt. Sie müssen also jeden Tag viermal stempeln. Dann gehn Sie nach Hause oder in Ihre Bude oder was weiß ich, schlafen sich aus, kommen wieder und machen Ihre vier Stempel, jeden Arbeitstag, bis Sie entweder gefeuert werden oder kündigen oder sterben oder in Rente gehn.« »Alles klar.« »Und jetzt muss ich Ihnen noch sagen, dass ich wegen Ihnen zu spät zu meiner Belehrung für die neuen Angestellten komme. Zu denen Sie vorläufig noch gehören. Ich habe hier das Sagen. Mein Wort ist Gesetz, und was Sie wollen, ist unwichtig. Wenn mir etwas an Ihnen nicht passt - wie Sie sich die Schuhe zubinden oder die Haare kämmen oder einen Furz lassen -, dann sitzen Sie wieder auf der Straße. Kapiert?« »Ja, Sir!« Mit wehenden Haaren rannte und schlingerte jetzt ein junges Mädchen auf Stöckelschuhen herein. Sie trug ein enges rotes Kleid. Ihre Lippen waren groß und ausdrucksvoll und übertrieben geschminkt. Sie nahm mit theatralischer Gebärde ihre Karte aus dem Regal,
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stempelte ein, gab ein leicht erregtes Keuchen von sich und steckte die Karte wieder an ihren Platz. Sie warf Ferris einen Blick zu. »Hi, Eddie!« »Hi, Diana!« Diana war offensichtlich Verkäuferin. Ferris ging zu ihr, und die beiden unterhielten sich. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich hörte sie lachen. Dann ging Diana nach hinten und wartete auf den Fahrstuhl, der sie zu ihrem Arbeitsplatz bringen sollte. Ferris kam zu mir zurück. Er hatte noch immer meine Karte in der Hand. »Ich werde jetzt einstempeln, Mr. Ferris«, sagte ich. »Lassen Sie mich das tun. Ich möchte, dass Sie richtig anfangen.« Er steckte meine Karte in den Schlitz und wartete. Ich hörte die Stechuhr ticken. Dann drückte er den Hebel herunter. Er stellte die Karte zurück ins Regal. »Wie viel war ich zu spät, Mr. Ferris?« »Zehn Minuten. Kommen Sie jetzt.« Ich folgte ihm. Ich sah sie schon warten: vier Männer und drei Frauen. Alle waren alt. Sie hatten Probleme mit ihrem Speichel. Kleine Klümpchen hatten sich in ihren Mundwinkeln gebildet, waren angetrocknet und weiß geworden, und frische glänzende Spucke war nachgekommen. Manche waren zu dünn, manche zu dick. Einige waren kurzsichtig, andere zitterten. Ein alter Kerl in einem knallbunten Hemd hatte einen Buckel. Alle lächelten, rauchten Zigaretten und husteten. Da wurde es mir klar: Sears-Roebuck suchte Leute, die blieben. Die Firma hielt nichts von häufigem Wechsel beim Personal. Diese neu Eingestellten hatten nur noch das Grab vor sich, und bis dahin würden sie dankbare und treue Angestellte sein. Und ich war dazu ausersehen, an ihrer Seite zu arbeiten. Die Dame im Personalbüro hatte mich auf Anhieb in diese klägliche Gruppe von Verlierern eingeordnet. Was würden die Jungs aus der Highschool denken, wenn sie mich hier sahen? Mich, einen der Abgebrühtesten des ganzen Jahrgangs ... Ich stellte mich zu meiner Gruppe. Ferris setzte sich uns gegenüber auf einen Tisch. Durch ein Oberlicht fiel ein Streifen Sonne auf ihn. Er zog an seiner Zigarette und lächelte uns an. »Willkommen bei Sears-Roebuck ...« Dann schienen seine Gedanken abzuschweifen. Vielleicht dachte er an den Tag vor fünfunddreißig Jahren, als er in die Firma eingetreten war. Er blies ein paar Rauchringe und sah ihnen zu, wie sie aufstiegen. Sein halbes Ohr wirkte eindrucksvoll in dem Licht von oben. Der Kerl neben mir, ein kleiner verhutzelter Mann, stieß mich mit seinem spitzen Ellbogen an. Er gehörte zu jenen Brillenträgern, denen das Gestell dauernd von der Nase zu rutschen scheint. Er war noch hässlicher als ich. »Hü« flüsterte er. »Ich bin Mewks. Odell Mewks.« »Hallo, Mewks.« »Hör zu, Kid, wie wär's, wenn wir nach Feierabend 'ne Tour durch die Kneipen machen? Vielleicht können wir ein paar Girls aufgabeln.« »Ich kann nicht, Mewks.«
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»Angst vor Mädchen?« »Es ist wegen meinem Bruder. Er ist krank. Ich muss mich um ihn kümmern.« »Krank?« »Noch schlimmer. Krebs. Seine Pisse läuft durch einen Schlauch in eine Flasche, die sie ihm ans Bein geschnallt haben.« Ferris kam wieder zur Sache. »Für den Anfang bekommen Sie einen Stundenlohn von vierundvierzig-einhalb Cents. Gewerkschaft gibt's hier nicht. Die Geschäftsleitung findet, was gut für die Firma ist, ist auch gut für euch. Wir sind wie eine Familie. Dienst am Kunden und Gewinn machen, darum geht's uns. Unsere Angestellten bekommen auf alle Waren, die sie bei Sears-Roebuck kaufen, zehn Prozent Rabatt...« »OH, BOY!« entfuhr es Mewks. »Ja, Mr. Mewks, das ist eine lohnende Sache. Tun Sie Ihr Bestes für uns, dann tun wir auch was für Sie.« Ich könnte siebenundvierzig Jahre bei Sears-Roebuck bleiben, dachte ich. Ich konnte mit einer verrückten Freundin leben, mir das linke Ohr absäbeln lassen und vielleicht den Job von Ferris erben, wenn er in den Ruhestand ging. Ferris gab uns noch die Regelung für Urlaub und Feiertage bekannt, dann war der Vortrag beendet. Wir bekamen unsere Kittel und Spinde, und dann mussten wir uns in den Keller begeben, wo das Warenlager war. Ferris arbeitete auch da unten. Er bediente die Telefone. Wenn ein Anruf kam, hielt er den Hörer jedes Mal mit der linken Hand an sein halbes linkes Ohr und klemmte die rechte Hand unter die linke Achselhöhle. »Ja? Ja? Ja! Kommt sofort!« »Chinaski!« »Ja, Sir.« »Wäscheabteilung ...« Dann griff er zum Bestellblock, notierte die angeforderten Sachen und die jeweilige Stückzahl. Er machte es nie, während er den Hörer noch am Ohr hatte. Immer erst danach. »Suchen Sie das zusammen, liefern Sie es in der Abteilung Damenunterwäsche ab, lassen Sie den Zettel gegenzeichnen, und kommen Sie wieder.« Sein Spruch änderte sich nie. Meine erste Lieferung war tatsächlich für die Abteilung Damenunterwäsche bestimmt. Ich suchte die Sachen zusammen, verstaute sie in meiner kleinen grünen Karre mit Gummirädern und ging damit zum Lift. Der Lift war in einem der oberen Stockwerke. Ich drückte auf den Knopf und wartete. Nach einiger Zeit erschien der Boden des Fahrstuhls. Er kam sehr langsam herunter. Schließlich blieb er im Kellergeschoss stehen, die Tür ging auf, und ich sah, dass der Lift von einem Albino bedient wurde, der nur noch ein Auge hatte. O Gott. Er sah mich an. »Neu hier, hm?« fragte er. »Ja.« »Was hältst du von Ferris?« »Ich finde, er ist ein richtiger Pfundskerl.« Wahrscheinlich teilten sich die beiden ein Zimmer und bedienten abwechselnd die elektrische Kochplatte.
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»Ich kann dich nicht raufbringen.« »Warum nicht?« »Ich muss mal scheißen.« Da stand ich also in meinem Kittel. So lief es meistens. Man war Gouverneur oder Müllmann, Seiltänzer oder Bankräuber, Zahnarzt oder Birnenpflücker, dies oder jenes. Man wollte ordentliche Arbeit leisten, erschien pünktlich auf seinem Posten, und dann stand man herum und wartete auf irgendein Arschloch. Ich stand in meinem Kittel neben meiner grünen Karre, und der Fahrstuhlmann nahm sich Zeit für einen Schiss. Jetzt ging mir ein Licht auf. Das war es, worüber die reichen goldenen Boys und Girls immer lachten. Sie wussten Bescheid. Der Albino kam zurück. »Ah, war das gut. Ich fühl mich dreißig Pfund leichter.« »Gut. Können wir jetzt?« Er schloss die Tür, und wir fuhren hoch zur Verkaufsetage. »Viel Glück«, sagte er, als er mich herausließ. Ich schob die grüne Karre durch die Gänge und suchte die Wäscheabteilung. Eine Miss Meadows war dort zuständig. Miss Meadows erwartete mich schon. Sie war schlank und sah nach Klasse aus. Sie wirkte wie ein Mannequin. Ihre Arme waren verschränkt. Als ich näher kam, fielen mir ihre Augen auf. Sie waren smaragdgrün und tief und schienen einiges zu wissen. So eine müsste ich mal kennen, dachte ich. Solche Augen. So was von Klasse. Ich hielt meine Karre vor ihrem Verkaufsstand an. »Hallo, Miss Meadows«, sagte ich mit einem Lächeln. »Wo zum Teufel sind Sie so lange gewesen?« fragte sie. »Es hat eben so lang gedauert.« »Können Sie sich nicht denken, dass ich hier Kunden warten habe? Ist Ihnen nicht klar, dass ich versuche, die Abteilung hier in Schwung zu halten?« Die Verkäufer bekamen in der Stunde zehn Cents mehr als wir, und dazu eine Kommission für jeden Artikel, den sie verkauften. Ich sollte bald feststellen, dass sie uns nie freundlich begegneten. Ob weiblich oder männlich, die Verkäufer waren alle gleich. Jeden vertraulichen Ton fassten sie als Beleidigung auf. »Ich hätte gute Lust, Mr. Ferris anzurufen.« »Nächstes Mal streng ich mich mehr an, Miss Meadows.« Ich packte ihr die Sachen auf den Tisch und gab ihr den Zettel zum Unterschreiben. Sie kritzelte wütend ihren Namen auf das Papier. Statt es mir zurückzugeben, warf sie es in meine grüne Karre. »Mein Gott, ich weiß nicht, wo sie Leute wie Sie immer finden!« Ich schob meine Karre zum Lift, drückte auf den Knopf und wartete. Die Tür ging auf, und ich walzte hinein. »Wie isses gelaufen?« fragte mich der Albino. »Ich fühl mich dreißig Pfund schwerer«, sagte ich. Er grinste, die Tür ging zu, und wir fuhren abwärts.
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Nach meinem ersten Arbeitstag sagte meine Mutter beim Abendessen: »Henry, ich bin ja so stolz auf dich, dass du jetzt einen Job hast!« Ich sagte nichts. »Was ist«, fragte mein Vater, »bist du nicht froh, dass du einen Job hast?« »Yeah.« »>Yeah Ist das alles, was du sagen kannst? Weißt du, wie viele Männer in diesem Land heute arbeitslos sind?« »Ne Menge, schätze ich.« »Dann solltest du dankbar sein.« »Schau her, können wir nicht einfach essen?« »Für dein Essen solltest du auch dankbar sein! Weißt du, wie viel dieses Essen gekostet hat?« Ich schob meinen Teller weg. »Scheiße! Ich kann das Zeug nicht essen!« Ich stand auf und ging zu meinem Zimmer. »Am liebsten würde ich dahinten reinkommen und dir beibringen, wo's lang geht!« Ich blieb stehen. »Ich werd' auf dich warten, Alter.« Dann ging ich ins Zimmer und wartete ab. Aber ich wusste, dass er mir nicht nachkommen würde. Ich stellte den Wecker, um rechtzeitig wieder bei Sears-Roebuck zu sein. Ich knipste das Licht aus und lag im Dunkeln da. Es gab nichts zu tun, ich konnte nirgends hin. Bald würden auch meine Eltern die Lichter ausmachen und zu Bett gehen. Mein Vater hielt es mit dem Spruch: »Früh zu Bett und früh aus den Federn, das hält gesund, macht dich wohlhabend und weise.« Doch für ihn hatte es nichts dergleichen bewirkt. Ich entschied, dass ich vielleicht das Gegenteil versuchen sollte. Ich konnte nicht einschlafen. Sollte ich erst noch onanieren und dabei an Miss Meadows denken? Nein. Zu billig. Ich wälzte mich im dunklen Zimmer auf dem Bett hin und her und wartete auf etwas.
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Die ersten drei oder vier Tage bei Sears-Roebuck verliefen genau gleich. Überhaupt konnte man sich bei Sears-Roebuck darauf verlassen, dass sich nie etwas änderte. Die hierarchische Ordnung war allgemein anerkannt. Es gab keinen einzigen Verkäufer, der zu einem aus dem Lager mehr als ein oder zwei beiläufige Worte sagte. Das machte mir zu schaffen. Ich dachte darüber nach, während ich meine Karre herumschob. War es möglich, dass die vom Verkauf intelligenter waren als die im Lager? Sie waren auf jeden Fall besser angezogen. Es machte mir Sorgen, dass sie ihre Stellung für so bedeutend hielten. Möglich, dass ich als Verkäufer genauso gedacht hätte. Ich hatte für die Angestellten im Lager nicht viel übrig. Für die Verkäufer aber auch nicht.
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So, dachte ich, während ich meine Karre schob, jetzt habe ich also diesen Job. Soll das schon alles sein? Kein Wunder, dass es Männer gab, die Banken ausraubten. Es gab zu viele entwürdigende Jobs. Warum zum Teufel war ich nicht Richter am Appellationsgericht? Oder Konzertpianist? Weil man dafür eine Ausbildung brauchte, und die kostete Geld. Aber ich wollte ja gar nichts sein. Was mir auch außerordentlich gut gelang. Ich schob meine Karre zum Lift und drückte auf den Knopf. Frauen wünschten sich Männer, die viel Geld verdienten. Frauen wollten Männer, die etwas vorstellten. Wie viele Frauen lebten mit Wermutbrüdern zusammen? Nun, ich wollte sowieso keine Frau. Jedenfalls nicht mit einer zusammenleben. Wie konnten Männer überhaupt mit Frauen leben? Was bedeutete es? Ich wollte nichts als eine Höhle in Colorado, mit Vorräten an Essen und Trinken für drei Jahre. Den Arsch würde ich mir mit Sand abwischen. Ich würde sonst was tun, um nur nicht in dieser öden, trivialen, miesen Existenz versacken zu müssen. Der Lift kam herauf. Er wurde immer noch von dem Albino bedient. »Hey, ich höre, du hast gestern Abend mit Mewks die Kneipen durchgemacht!« »Er hat mich zu ein paar Glas Bier eingeladen. Ich bin pleite.« »Habt ihr was ins Bett gekriegt?« »Ich nicht.« »Warum nehmt ihr mich nächstes Mal nicht mit? Ich werd' euch zeigen, wie ihr was für die Matratze kriegt.« »Was weißt denn du schon.« »Ich kenn mich aus. Erst letzte Woche hatte ich eine Chinesin. Und weißt du, was? Es ist genau so, wie alle sagen.« »Was denn?« »Bei denen ist der Schlitz nicht senkrecht, sondern quer.« Ferris erwartete mich. »Wo sind Sie so lange gewesen, verdammt nochmal!« »In der Pflanzenabteilung.« »Was haben Sie denn gemacht? Die Fuchsien gedüngt?« »Yeah. Ich hab in jeden Topf 'ne Handvoll Scheiße reingetan.« »Hören Sie mal, Chinaski ...« »Ja?« »Die Witze hier mache ich. Kapiert?« »Kapiert.« »Also. Hier, da ist eine Bestellung von der Herrenabteilung. « Er gab mir einen Bestellzettel. »Suchen Sie die Sachen heraus, liefern Sie sie ab, lassen Sie den Zettel gegenzeichnen, und kommen Sie wieder.« Die Herrenabteilung hatte Mr. Justin Phillips jr. unter sich. Er war wohlerzogen, höflich und ungefähr zweiundzwanzig. Er hielt sich sehr gerade, hatte dunkles Haar, dunkle Augen und einen grüblerischen Zug um den Mund. Dass man bei ihm keine Backenknochen sah, war bedauerlich, aber es fiel kaum auf. Er war blas und trug immer dunkle Anzüge mit wunderschön gestärkten Hemden. Die Verkäuferinnen verehrten ihn. Er war sensibel, intelligent, clever. Er war auch ein klein wenig fies. Vielleicht hatte er das von einem
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Vorfahren geerbt. Er hatte nur einmal die Tradition durchbrochen und etwas zu mir gesagt: »Das sind aber ziemlich hässliche Narben in Ihrem Gesicht. Wirklich ein Jammer, nicht?« Als ich mit meiner Karre in die Herrenabteilung kam, stand Justin Phillips in sehr gerader Haltung da, hielt den Kopf ein wenig schräg, wie er es die meiste Zeit tat, und schaute in die Ferne, als sehe er etwas, was wir anderen nicht sahen. Er sah etwas da draußen. Vielleicht war es einfach so, dass ich keinen Blick für gute Erziehung hatte. Er machte eindeutig den Eindruck, als sei er über seine Umgebung erhaben. Möglicherweise war es das, was der Geschäftsleitung und den Verkäuferinnen an ihm gefiel. Der Mann war wahrhaftig zu gut für das, was er hier tat, aber er tat es trotzdem. Ich hielt vor ihm mit meiner Karre. »Hier sind Ihre Bestellungen, Mr. Phillips.« Er sah einfach über mich hinweg. Das kränkte mich irgendwie, doch andererseits war es mir ganz recht. Ich stapelte ihm die Sachen auf den Tisch, während er ins Leere starrte. Auf eine Stelle direkt über der Fahrstuhltür. Dann vernahm ich ein gepflegtes Lachen und sah mich um. Es waren einige Kerle aus meinem Jahrgang an der Chelsey High. Sie probierten Pullover an, Wanderhosen und verschiedene andere Sachen. Ich kannte sie nur vom Sehen, da wir in unseren vier Jahren Highschool nie miteinander geredet hatten. Ihr Anführer war Jimmy Newhall. Er hatte Halfback gespielt in unserem Football-Team, das drei Jahre unbesiegt geblieben war. Sein Haar war strahlend blond, und die Sonne schien immer diese oder jene Stelle besonders hervorzuhaben. Entweder die Sonne oder die Lichter im Klassenzimmer. Er hatte einen kräftigen, dicken Hals, und darauf saß das Gesicht eines vollkommenen Jünglings, modelliert von einem meisterlichen Bildhauer. Alles war genau, wie es zu sein hatte. Nase, Stirn, Kinn, alles. Und der restliche Körper ebenso perfekt. Die Jungs in seiner Begleitung waren nicht so vollkommen wie er, aber sie kamen ihm nahe. Sie standen da, probierten Pullover an, lachten und sahen ihrem Studium an der University of Southern California oder an der Stanford-Uni entgegen. Justin Phillips unterschrieb meinen Zettel. Ich war gerade auf dem Weg zum Lift, als ich eine Stimme hörte: »HEY, SKI! DEIN KLEINES KITTELCHEN STEHT DIR ABER PRÄCHTIG!« Ich blieb stehen, drehte mich um und winkte ihnen mit der linken Hand lässig zu. »Seht euch den an! Der härteste Kerl in der Stadt seit Tommy Dorsey!« »Dagegen ist Clark Gable der reinste Klostampfer.« Ich ließ meine Karre stehen und ging auf sie zu. Ich wusste nicht, was ich tun würde. Ich stand da und sah sie an. Ich mochte sie nicht. Hatte sie nie gemocht. Auf andere machten sie vielleicht einen tollen Eindruck, aber nicht auf mich. Es lag an ihrem Körperbau. Sie wirkten irgendwie verweichlicht. Sie waren schlappe Figuren, sie hatten nie im Feuer gestanden. Sie waren wunderschöne Nullen. Mir wurde schlecht von ihrem Anblick. Ich hasste sie. Sie waren ein Teil des Alptraums, der mich in der einen oder anderen Gestalt dauernd verfolgte. Jimmy Newhall lächelte mich an. »Hey, Ladenschwengel, wieso hast du dich nie für die Mannschaft beworben?« »Weil mich so was nicht interessiert.« »Keinen Mumm, was?« »Weißt du, wo hier oben der Parkplatz ist?« »Klar.«
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»Dort treffen wir uns ...« Sie schlenderten hinaus zur Parkfläche auf dem Dach, während ich meinen Kittel auszog und in die Karre warf. Justin Phillips jr. sah mich an und sagte mit einem Lächeln: »Mein lieber Freund, Sie kriegen da draußen den Frack poliert.« Jimmy Newhall, umringt von seinen Busenfreunden, erwartete mich. »Hey, da kommt der Ladenschwengel!« »Was meint ihr, ob er Damenunterwäsche anhat?« Newhall stand in der Sonne. Er hatte Hemd und Unterhemd ausgezogen, zog den Bauch ein und drückte die Brust raus. Sehr eindrucksvoll. Teufel nochmal, auf was hatte ich mich da eingelassen? Ich spürte, dass meine Unterlippe zitterte. Ich bekam es mit der Angst, hier draußen auf dem Dach. Ich sah mir Newhall an. Sein blondes Haar glänzte wie Gold in der Sonne. Ich hatte ihm oft beim Football zugesehen, wie er Sprints über fünfzig und sechzig Yards abzog, während ich die andere Mannschaft anfeuerte. Jetzt standen wir uns gegenüber. Ich ließ mein Hemd an. Wir sahen uns an. Keiner rührte sich. Schließlich sagte Newhall: »Okay, jetzt bist du fällig. « Er machte einen Schritt nach vorn. In diesem Augenblick kam eine kleine alte schwarzgekleidete Dame heraus, die mit vielen Paketen beladen war. Auf dem Kopf hatte sie einen winzigen grünen Filzhut. »Hallo, Jungs!« sagte sie. »Hallo, Ma'am.« »Reizender Tag ...« Sie machte die Tür ihres Wagens auf und lud die Sachen ein. Dann wandte sie sich zu Jimmy Newhall um. »Haben Sie aber Muskeln, mein Junge! Ich wette, Sie könnten Tarzan bei den Affen spielen.« »Nein, Ma'am«, sagte ich. »Entschuldigen Sie, aber er ist der Affe, und die anderen sind seine Horde.« »Oh«, sagte sie. Sie stieg in ihren Wagen, ließ den Motor an, und wir warteten, bis sie rückwärts herausgesetzt hatte und weggefahren war. »Okay, Chinaski«, sagte Newhall. »In der Schule warst du immer bekannt für deine höhnische Fratze und dein großes Maul. Jetzt werd' ich dich davon kurieren!« Er machte einen Satz nach vorn. Er war soweit. Ich noch nicht ganz. Ich sah nichts als blauen Himmel, nackten Oberkörper und Fäuste. Er war schneller als ein Affe - und größer. Ich konnte keinen Schlag anbringen, ich spürte nur seine Fäuste, und die waren steinhart. Durch verquollene, zusammengekniffene Augen sah ich seine Schwinger kommen, und sie trafen so hart und genau, daß ich dachte: Mein Gott, hat der Pep dahinter. Es wollte nicht mehr aufhören, und es gab keinen Ausweg. Ich überlegte, ob ich vielleicht doch ein Schwächling war. Vielleicht sollte ich mich dazu bekennen und einfach aufstecken. Doch während er weiter auf mich einschlug, verschwand das mulmige Gefühl. Ich staunte nur noch über seine Kraft und Ausdauer. Wo hatte er das her? Ein Schwein wie er? So was von Energie. Ich konnte nichts mehr sehen. Gelbe und grüne und purpurne Blitze zuckten vor meinen Augen. Dann eine fürchterliche feuerrote Explosion. Ich spürte, wie ich einknickte. Kommt so das Ende? dachte ich. Ich hatte das eine Knie am Boden. Über mir hörte ich ein Flugzeug und wünschte mir, ich säße darin. Ich spürte, dass mir etwas über den Mund und am Kinn herunterlief — es war warmes Blut aus meiner Nase. »Lass ihn, Jimmy. Der ist fertig . ..« 136
Ich sah Newhall an und sagte: »Deine Mutter lutscht Schwanz.« »ICH BRING DICH UM!« Er erwischte mich, ehe ich ganz aufstehen konnte. Er packte mich an der Kehle, und wir wälzten uns unter einen Dodge. Ich hörte, wie sein Kopf irgendwo anschlug. Ich wusste nicht, was es war, aber ich hörte das dumpfe Geräusch. Es passierte sehr schnell, und die anderen bekamen es nicht so mit wie ich. Ich stand auf. Dann rappelte sich auch Newhall auf. »Dich mach ich kalt«, sagte er. Mit weiten Schwüngen ging er auf mich los. Dieses Mal war es nicht annähernd so schlimm. Er schlug mit derselben Wut, aber etwas fehlte. Er war schwächer. Wenn er mich traf, sah ich keine Blitze mehr. Ich konnte den Himmel sehen, die geparkten Autos, die Gesichter seiner Freunde und ihn. Ich hatte schon immer eine Weile gebraucht, um richtig in Fahrt zu kommen. Newhall ging immer noch entschlossen zur Sache, aber er war eindeutig schwächer geworden. Und ich hatte meine kleinen Hände. Ich war gesegnet mit kleinen Händen. Miserable Waffen. Was war das doch für eine elende Zeit. Ich hatte den Wunsch und das Verlangen zu leben, aber nicht die Fähigkeit dazu. Ich grub ihm eine harte Rechte in den Magen, und als ich ihn nach Luft schnappen hörte, packte ich ihn mit der linken Hand im Nacken und verstaute noch eine Rechte in seinem Magen. Dann schob ich ihn von mir weg und knallte ihm eine Links-Rechts-Kombination mitten in sein edles Gesicht. Der Ausdruck in seinen Augen tat mir unendlich gut. Ich verhalf ihm zu einem Gefühl, das er nie gekannt hatte. Er war entsetzt. Entsetzt, weil er nicht wusste, wie man mit einer Niederlage fertig wird. Ich beschloss, ihn ganz langsam zu erledigen. Da drosch mir jemand auf den Hinterkopf. Ein kräftiger, gut gezielter Schlag. Ich drehte mich um. Es war sein rothaariger Freund, Cal Evans. Ich zeigte auf ihn und schrie: »Bleib mir ja weg, du Scheißer! Ich werd' euch alle nacheinander verarzten! Sobald ich mit dem hier fertig bin, kommst du dran!« Es brauchte nicht viel, um Jimmy den Rest zu geben. Ich versuchte sogar ein bißchen elegante Beinarbeit. Ich stocherte ein wenig, spielte mit ihm herum, dann begann ich ihn mit Schlägen einzudecken. Er steckte sie ziemlich gut weg, und eine Weile dachte ich, ich würde es nicht zu Ende bringen, doch auf einmal warf er mir einen ganz eigenartigen Blick zu, als wollte er sagen: »Hey, hör mal, vielleicht sollten wir uns lieber vertragen und ein paar Biere trinken gehn ...« Dann fiel er um. Seine Freunde drängten sich dazwischen, hoben ihn auf, stützten ihn, redeten auf ihn ein. »Hey, Jim, alles in Ordnung?« »Was hat der Scheißkerl mit dir gemacht, Jim? Wir reißen ihm den Kopf ab. Brauchst es nur zu sagen.« »Bringt mich nach Hause«, sagte Jim. Ich sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinuntergingen. Alle versuchten gleichzeitig, ihn zu stützen. Einer trug ihm Hemd und Unterhemd nach. Ich ging wieder hinein zu meiner Karre. Justin Phillips stand immer noch da. »Ich habe nicht geglaubt, dass Sie wiederkommen«, sagte er und lächelte herablassend. »Keine Vertraulichkeiten mit den ungelernten Arbeitskräften«, erinnerte ich ihn.
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Ich schob ab. Mein Gesicht, meine Kleider- ich war ziemlich übel zugerichtet. Ich ging zum Lift und drückte auf den Knopf. Der Albino ließ nicht lange auf sich warten. Die Tür ging auf. »Es hat sich schon rumgesprochen«, sagte er. »Ich höre, du bist der neue Meister aller Klassen.« Neuigkeiten sprechen sich schnell herum an einem Ort, wo sich kaum etwas tut. Ferris mit seinem halben Ohr erwartete mich bereits. »Man läuft hier nicht herum und verprügelt die Kunden!« »Es war nur einer.« »Wir können ja nicht wissen, wann Sie auch noch auf die anderen losgehen.« »Der Kerl hat sich mit mir angelegt.« »So etwas kommt vor, aber das interessiert uns kein bißchen. Uns reicht es, dass Sie sich danebenbenommen haben.« »Was ist mit meinem Lohn?« »Bekommen Sie mit der Post.« »Schön. Dann bis später mal ...« »Warten Sie. Ich brauche noch Ihren Spindschlüssel. « Ich holte meinen Schlüsselbund heraus. Es hingen nur zwei Schlüssel daran. Ich machte den vom Spind ab und gab ihn Ferris. Dann ging ich zum Personalausgang und zog an der Tür. Es war eine wuchtige Stahltür, die sich schwer öffnen ließ. Als sie aufging und das Tageslicht in den Korridor fiel, drehte ich mich um und winkte Ferris flüchtig zum Abschied. Er reagierte nicht. Er sah mich nur ungerührt an. Dann fiel die Tür ins Schloss. Ich mochte ihn irgendwie.
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»Du hast den Job also nicht mal eine Woche halten können, wie?« Wir aßen Fleischklöße und Spaghetti. Meine Probleme wurden regelmäßig beim Abendessen erörtert. Abendessen bedeutete fast immer, dass es für mich ungemütlich wurde. Ich gab meinem Vater keine Antwort. »Was war denn los? Warum haben sie dir den Arsch auf die Straße gesetzt?« Ich sagte nichts. »Henry, antworte deinem Vater, wenn er mit dir spricht!« sagte meine Mutter. »Er hat es nicht gebracht, das ist alles!« »Schau dir sein Gesicht an«, sagte meine Mutter. »Ganz geschwollen und aufgeschürft. Hat dich dein Boss geschlagen, Henry?« »Nein, Mutter ...« »Warum isst du nichts, Henry? Du hast anscheinend nie Hunger.«
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»Er kann nicht essen«, sagte mein Vater, »er kann nicht arbeiten, er kann gar nichts! Er ist keinen Furz wert!« »Du solltest bei Tisch nicht so reden, Daddy«, sagte meine Mutter. »Na, ist doch wahr!« Mein Vater hatte sich eine Riesenportion Spaghetti auf die Gabel gerollt. Er stopfte es sich in den Mund und fing an zu kauen, und während er noch daran kaute, spießte er einen großen Fleischklops auf, rammte auch den in den Mund und schob noch ein Stück Weißbrot nach. Ich erinnerte mich, was Iwan in >Die Brüder Karamasow< gesagt hatte: »Wer wünscht sich nicht, den Vater zu erschlagen?« Während mein Vater mit vollen Backen kaute, hing ihm ein langer Spaghettifaden aus dem Mundwinkel. Er bemerkte ihn schließlich und sog ihn schmatzend ein. Dann rührte er sich zwei gehäufte Teelöffel Zucker in den Kaffee, hob die Tasse zum Mund und trank einen gewaltigen Schluck, den er augenblicklich wieder auf seinen Teller und das Tischtuch ausspie. »Das Scheißzeug ist zu heiß!« »Du solltest vorsichtiger sein, Daddy«, sagte meine Mutter. Vom nächsten Tag an »klapperte ich den Stellenmarkt ab«, wie man es damals zu nennen pflegte, doch das erwies sich als ödes und sinnloses Unterfangen. Man musste Beziehungen haben, um einen Job zu bekommen, und sei es auch nur als niedere Küchenhilfe in einem Restaurant. Die Folge war, dass die Stadt überquoll von arbeitslosen Tellerwäschern. An den Nachmittagen saß ich mit ihnen am Pershing Square herum. Die Erweckungsprediger waren auch da, manche mit Tambourin, manche mit Gitarre, und hinter den Sträuchern des Parks und in der öffentlichen Bedürfnisanstalt wimmelte es von Homos. »Manche von denen sind reich«, erzählte mir ein jugendlicher Stadtstreicher. »Mich hat mal so einer mitgenommen, und ich hab zwei Wochen bei ihm gewohnt. Ich konnte essen und trinken, soviel ich wollte, und er hat mir auch Sachen zum Anziehen gekauft. Aber er hat mich ausgelutscht bis zum letzten Tropfen, und am Ende könnt' ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Eines Nachts hab ich gewartet, bis er eingeschlafen war, und dann bin ich da rausgekrochen, auf allen vieren. Es war schauderhaft. Einmal hat er mich abgeküsst, und ich hab ihm eine gescheuert, dass er quer durchs Zimmer geflogen ist. >Mach das nochmals hab ich zu ihm gesagt, >und ich murks dich ab!<« In Clifton's Cafeteria ließ es sich aushaken. Wenn man nicht genug Geld hatte, brauchte man nur soviel zu bezahlen, wie man konnte. Und wenn man pleite war, musste man überhaupt nichts bezahlen. Manche Penner gingen dort regelmäßig essen, und zwar gut und reichlich. Das Lokal gehörte einem netten reichen Alten, der ein sehr ungewöhnlicher Mensch war. Ich brachte es nie fertig, hineinzugehen und einfach zu schnorren. Ich ließ mir gewöhnlich einen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen geben und zahlte ihnen fünf Cents. Manchmal bekam ich auch ein Paar Wiener. Es war still und angenehm kühl im Lokal. Und sauber. Hinten hatten sie einen großen künstlichen Wasserfall, und wenn man sich neben ihn setzte, konnte man sich einbilden, es sei eigentlich alles ganz in Butter. Auch Philippe's Cafeteria war nicht übel. Für drei Cents bekam man eine Tasse Kaffee und konnte sich nachfüllen lassen, sooft man wollte. Man konnte den ganzen Tag dasitzen und Kaffee trinken, und sie komplimentierten einen nie hinaus, egal wie abgerissen man aussah. Die Penner wurden lediglich gebeten, ihre Wermutflaschen draußen zu lassen. Solche Orte waren ein Lichtblick in einer Zeit, in der es nicht viel Hoffnung gab.
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Auf dem Pershing Square stritten sie den ganzen Tag, ob Gott existierte oder nicht. Die meisten hatten keinen besonders guten Vortrag, doch ab und zu traf ein religiöser Fanatiker auf einen versierten Atheisten, und dann wurde es eine gute Show. Wenn ich ein bißchen Kleingeld hatte, ging ich immer in die Bar im Souterrain des großen Kinos. Ich war zwar erst achtzehn, aber ich wurde ohne weiteres bedient. So wie ich aussah, hätte ich fast in jedem beliebigen Alter sein können. Manchmal wirkte ich wie fünfundzwanzig, und manchmal fühlte ich mich wie dreißig. Die Bar wurde geführt von Chinesen, die nie ein Wort mit einem redeten. Alles, was ich brauchte, war das Geld für mein erstes Bier, und dann kamen bereits die Homos und luden mich ein. Worauf ich prompt zu Whisky-Sour überging. Ich ließ sie für einen Whisky-Sour nach dem anderen blechen, und wenn sie anfingen, mich zu betätscheln, wurde ich grob, stieg von meinem Barhocker herunter und ging. Nach einer Weile sprach es sich bei ihnen herum, und die Bar war für mich gestorben. Von all den Orten, die ich aufsuchte, war keiner so deprimierend wie die Zweigstelle der Stadtbibliothek. Ich hatte schon alle Bücher durch, und nach einiger Zeit nahm ich nur noch wahllos irgendeinen Wälzer aus dem Regal und sah mich nach Mädchen um. Eine oder zwei saßen immer da. Ich setzte mich drei oder vier Stühle weiter und tat so, als würde ich in meinem Buch lesen. Ich versuchte intelligent drein zusehen und hoffte, dass mich eine ansprechen würde. Ich wusste, dass ich hässlich war, aber ich dachte, wenn ich intelligent genug auf sie wirkte, hätte ich vielleicht eine Chance. Es klappte nie. Die Girls kritzelten nur ihre Notizblöcke voll, und dann standen sie auf und gingen, während ich diesen Körpern nachsah, die sich rhythmisch und magisch unter ihren sauberen Kleidern bewegten. Ich fragte mich, was Maxim Gorki unter solchen Umständen getan hätte. Zuhause war es immer dasselbe. Sobald wir die ersten Bissen des Abendessens verzehrt hatten, kam unweigerlich die Gretchenfrage aufs Tapet. Mein Vater schaute hoch und fragte: »Hast du heute eine Arbeit gefunden?« »Nein.« »Hast du's überhaupt irgendwo versucht?« »Ich hab sie reihenweise durchgemacht. Bei manchen bin ich jetzt schon das zweite oder dritte Mal gewesen.« »Das glaube ich dir nicht.« Es stimmte aber. Es stimmte auch, dass manche Firmen jeden Tag eine Anzeige in die Zeitung setzten, obwohl sie gar keine offenen Stellen hatten. Es gab den Personalabteilungen dieser Firmen etwas zu tun. Es verplemperte auch vielen verzweifelten Menschen die Zeit und raubte ihnen die letzte Hoffnung. »Morgen wirst du bestimmt was finden, Henry«, sagte meine Mutter jedes Mal.
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Ich suchte den ganzen Sommer nach einem Job und konnte keinen finden. In Europa machte Hitler eine Menge Wirbel und holte massenhaft Arbeitslose von den Straßen. Jimmy Hatcher kam in einem Werk von Douglas Aircraft unter. Wir gingen zusammen hin, füllten unsere Bewerbungsformulare aus und schrieben so ziemlich dasselbe rein. Nur mit einem Unterschied: Wo es Geburtsort hieß, schrieb ich »Andernach, Deutschland« und er »Reading, Pennsylvania«. »Jimmy hat einen Job«, sagte meine Mutter. »Ihr habt dieselbe Schule besucht und seid beide gleich alt. Warum hast du nicht eine Anstellung in diesem Flugzeugwerk kriegen können?« »Die sehn es einem Kerl eben gleich an, ob er arbeitsscheu ist«, sagte mein Vater. »Der will doch bloß in seinem Zimmer auf seinem faulen Arsch sitzen und sich Sinfonien anhören!« »Na schön, der Junge hat was übrig für Musik. Ist doch wenigstens etwas.« »Aber er fängt nichts damit an! Er macht nichts daraus!« »Was soll er denn machen?« »Er sollte zum Rundfunk gehn und denen sagen, daß er die Sorte von Musik mag und sich einen Job als Ansager besorgen.« »Ach Gott, so geht das doch nicht. So einfach ist das nicht.« »Was weißt du denn davon? Hast du's schon probiert?« »Ich sag dir, das geht nicht einfach so.« Mein Vater schob sich ein großes Stück Schweinskotelett in den Mund. Der Fettrand hing ihm zwischen den Lippen heraus, während er kaute. Es sah aus, als hätte er drei Lippen. Dann saugte er die Schwarte schmatzend ein und sah meine Mutter an. »Weißt du, Mama, der Junge will einfach nichts arbeiten.« Meine Mutter sah mich an. »Henry, warum isst du nicht endlich?« Schließlich wurde entschieden, dass ich mich im Los Angeles City College einschreiben sollte. Dort gab es keine Studiengebühren, und die Bücher konnte man im Coop Bookstore antiquarisch kaufen. Mein Vater schämte sich einfach, dass ich arbeitslos herumhing. Wenn ich zur Schule ging, dachte er, würde ich wenigstens ein bißchen was darstellen. Eli La Crosse (Baldy) war schon seit einem Semester dort. Ich ließ mich von ihm beraten. »Was ist von den ganzen Scheißfächern das leichteste?« fragte ich ihn. »Journalismus. Die mit Journalismus als Hauptfach machen hier keinen Finger krumm.« »Okay, dann werd' ich Journalist.« Ich sah mir die Broschüre für Studienanfänger durch. »Was ist diese Studienberatung, von der da die Rede ist?« »Ach, das kannst du vergessen. Das ist Humbug.« »Danke für die Auskunft, Kumpel. Dann werden wir statt dessen in die Kneipe da hinterm Campus gehn und uns ein paar Gläser Bier reintun.« »Das ist die richtige Einstellung!« »Yeah.« Am Tag nach der Studienberatung sollte man sich für die einzelnen Fächer einschreiben. Überall rannten sie aufgeregt mit Papieren und Broschüren herum. Ich war mit der 141
Straßenbahn gekommen. Mit der Linie »W« bis zur Vermont und dann mit der »V« nach Norden zur Monroe. Ich wusste nicht, wo die hier alle hinrannten, oder was ich zu tun hatte. Mir war elend. »Entschuldigung ...«, wandte ich mich an ein Mädchen. Sie sah mich kurz an und ging rasch weiter. Ein Kerl rannte vorbei. Ich packte ihn hinten am Gürtel und hielt ihn an. »Hey! Was soll denn das?« fragte er. »Schrei nicht rum. Ich will wissen, was hier läuft! Ich will wissen, was ich tun muss!« »Das haben sie dir doch alles bei der Studienberatung erklärt.« »Ach so ...« Ich ließ ihn los, und er rannte weiter. Ich wusste nicht, was zu tun war. Ich hatte mir vorgestellt, dass man einfach irgendwo erschien und sagte, man wolle Journalismus für Anfänger belegen, und dann würden sie einem den Stundenplan geben. Nichts dergleichen. Alle wussten hier, was sie tun mussten, und mir wollten sie es nicht verraten. Ich kam mir vor, als sei ich wieder in der Grundschule und würde geschnitten von den anderen, die mehr wussten als ich. Ich setzte mich auf eine Bank und sah ihnen zu, wie sie hin und her eilten. Vielleicht konnte ich mich durchschummeln. Ich würde meinen Eltern einfach erzählen, ich ginge aufs L. A. City College, und ich würde jeden Tag herkommen und mich ins Gras legen. Dann sah ich wieder einen vorbeirennen. Es war Baldy. Ich erwischte ihn hinten am Kragen. »Hey, hey, Hank! Was'n los?« »Ich sollte dir sofort eine verplanen, du kleines Arschloch!« »Wieso? Was ist denn?« »Wie komm ich hier in einen verdammten Kurs rein? Was muss ich tun!?« »Na, ich hab gedacht, das weißt du!« »Woher denn? Bin ich vielleicht mit diesem Wissen schon auf die Welt gekommen, abrufbereit im Kopf?« Ich bugsierte ihn, ohne meinen Griff zu lockern, hinüber zu einer Bank. »So, jetzt erzähl mir mal schön der Reihe nach, was hier zu tun ist, und wie man's anstellt. Wenn du's anständig machst, lass ich dich vielleicht nochmal davonkommen.« Baldy erklärte mir alles. Ich bekam meine ganze Studienberatung auf einen Schlag. Ich hielt ihn immer noch am Kragen fest. »Ich lass dich jetzt gehn. Aber eines Tages komm ich darauf zurück und lass es dich büßen, dass du mir einen reingewürgt hast. Du wirst nicht wissen, wann es soweit ist, aber passieren wird es.« Ich ließ ihn los, und er rannte mit den anderen davon. Ich sah keinen Anlass, mir Sorgen zu machen oder mich zu beeilen. Ich würde jetzt ohnehin nur noch die schlimmsten Kurse bekommen, die schlechtesten Lehrer und den schlechtesten Stundenplan. Gemächlich schlenderte ich herum und trug mich für die Kurse ein, die noch nicht voll waren. Ich war offenbar der einzige Student auf dem Campus, der ganz gelassen blieb. Ich kam mir schon richtig überlegen vor. Bis zu meiner ersten Englischstunde, morgens um sieben. Es war bereits 7.30 Uhr, als ich schwer verkatert vor der Tür des Klassenzimmers ankam und lauschte. Ich hatte die Bücher verkauft, die meine Eltern für mich erstanden hatten, und das Geld hatte ich vertrunken. In der Nacht zuvor war ich aus meinem Fenster geklettert und hatte in der nächsten Kneipe gezecht bis zur Polizeistunde. Ich hatte so viel Bier getrunken, dass ich jetzt noch halb betrunken war. 142
Ich drückte die Klinke nieder, ging ins Klassenzimmer und blieb stehen. Der Englischlehrer, Mr. Hamilton, stand vor der Klasse und sang aus voller Kehle. Auf dem Plattenspieler in der Ecke lief eine laute Schallplatte, und die ganze Klasse sang mit. Es war etwas von Gilbert und Sullivan: Now I am the ruler of the Queen's Navy ... I copied all the letters in a big round band ... Now I am the ruler of the Queen's Navy ... Stick close to your desks and never go to sea ... And you all may be rulers of the Queen's Navy ... Ich ging nach hinten und fand einen leeren Platz in der letzten Reihe. Hamilton ging zum Plattenspieler und stellte ihn ab. Er trug einen schwarzweiß karierten Anzug mit einem leuchtend orangefarbenen Hemd. Er wirkte damit wie Nelson Eddy. (Populärer Schnulzensänger der dreißiger und vierziger Jahre). Er stellte sich vor die Klasse, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wandte sich an mich. »Sie sind wohl Mr. Chinaski?« Ich nickte. »Sie kommen dreißig Minuten zu spät.« »Ja.« »Würden Sie auch zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung dreißig Minuten zu spät kommen?« »Nein.« »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Naja, wenn es meine Beerdigung wäre, müsste ich ja pünktlich sein. Und wenn es meine Hochzeit wäre, dann war's gleichzeitig auch meine Beerdigung.« Ich und mein vorlautes Mundwerk. Ich würde es nie lernen. »Mein lieber Freund«, sagte Mr. Hamilton. »Wir haben uns gerade etwas von Gilbert und Sullivan angehört, um den richtigen Vortrag zu lernen. Stehen Sie bitte auf.« Ich stand auf. »So, und jetzt singen Sie bitte: Stick dose to your desks and never go to sea and you'll always be the ruler of the Queen's Navy.« Ich stand nur da. »Na los doch! Bitte schön!« Ich brachte es hinter mich und setzte mich wieder. »Chinaski, ich habe kaum etwas gehört. Könnten Sie das nicht ein klein wenig schwungvoller singen?« Ich stand wieder auf, pumpte mir die Lungen bis zum Bersten voll und legte los: »IF YA WANNA BE DA RULLER OF DEY QUEEN'S NABY, STICK CLOSE TA YUR DESKS AN NEVA GO TA SEA!« Ich hatte alles durcheinandergebracht. »Chinaski«, sagte Mr. Hamilton, »bitte setzen Sie sich.« Ich setzte mich. An allem war nur dieser Baldy schuld.
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Die Turnstunde war für alle gemeinsam. Baldy hatte einen Spind in der gleichen Reihe wie ich, etwa vier oder fünf Türen weiter. Ich ging frühzeitig zu meinem Spind, denn Baldy und ich hatten das gleiche Problem: Wir hassten wollene Hosen, weil sie uns an den Beinen juckten. Unsere Eltern dagegen waren darauf versessen, uns Hosen aus Wollstoff zu kaufen. Ich hatte das Problem für Baldy und mich gelöst und ihm mein Geheimnis anvertraut: Man brauchte nur die Schlafanzughose darunter zu tragen. Ich öffnete meinen Spind und zog die Hose aus. Dann streifte ich die Schlafanzughose ab und versteckte sie oben auf dem Spind. Als ich in den Trainingsanzug stieg, kamen nach und nach die anderen Jungs herein. Baldy und ich hatten allerhand tolle Pyjama-Geschichten zu erzählen, doch er hatte eine erlebt, die unschlagbar war. Eines Abends war er einmal mit seiner Freundin tanzen gegangen, und zwischen zwei Tänzen hatte sie plötzlich gesagt: »Was ist das denn?« »Was?« »Aus deiner Hose guckt was unten raus.« »Was?« »Meine Güte! Du hast ja deinen Schlafanzug drunter an!« »Wie? Ach das ... Muss ich wohl vergessen haben.« »Ich bleibe hier keine Sekunde länger!« hatte sie gesagt und war nie mehr mit ihm ausgegangen. Die Jungs waren inzwischen alle da und zogen sich um. Dann kam Baldy herein und ging an seinen Spind. »Wie geht's, Kumpel?« fragte ich ihn. »Oh, hallo, Hank ...« »Ich habe eine Englischstunde morgens um sieben erwischt. Da fängt der Tag gleich richtig an. Nur sollte man es besser Musikunterricht nennen ...» »Ach so, ja. Hamilton. Hab schon von ihm gehört, hee hee hee ...« Ich ging zu ihm hin. Baldy hatte sich gerade die Gürtelschnalle geöffnet. Ich packte seine Hose und zog sie ihm herunter. Er trug einen Pyjama mit grünen Streifen. Er versuchte, seine Hose wieder hochzuziehen, aber ich hielt sie eisern fest. »Hey, schaut mal her! Menschenskind, der Kerl kommt im Schlafanzug in die Schule!« Baldy zerrte verzweifelt. Er war knallrot im Gesicht. Einige kamen her und sahen es sich an. Dann machte ich das Schlimmste: Ich zog ihm auch die Schlafanzughose herunter. »Und seht euch mal das an! Der arme Wichser ist nicht nur kahl, er hat auch kaum was zwischen den Schenkeln! Was soll dieser arme Wichser bloß machen, wenn er's mal mit einer Frau zu tun kriegt?« Ein großer Kerl in meiner Nähe sagte: »Chinaski, du bist wirklich ein Stück Scheiße!« »Yeah«, sagten zwei oder drei andere. »Yeah«, hörte ich weitere Stimmen. »Yeah ...«
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Baldy zog sich die Hosen hoch. Mit Tränen im Gesicht wandte er sich an die Burschen und schrie: »Chinaski hat selber seine Schlafanzughose drunter! Er hat mich überhaupt drauf gebracht! Ihr braucht nur mal in seinen Spind zu sehn!« Er rannte zu meinem Spind, riss die Tür auf und zerrte meine Sachen heraus. Die Schlafanzughose war nicht dabei. »Er hat sie versteckt. Er hat sie irgendwo versteckt!« Ich ließ meine Kleider auf dem Boden liegen und ging hinaus auf den Platz, wo wir anzutreten hatten. Ich stellte mich in die zweite Reihe und machte einige Kniebeugen. Mir fiel auf, dass hinter mir schon wieder so ein wuchtiger Kerl stand. Ich hatte seinen Namen schon gehört. Sholom Stodolsky. »Chinaski«, sagte er, »du bist ein Stück Scheiße.« »Leg dich nicht mit mir an, du. Ich bin ein reizbarer Mensch.« »Na, ich leg mich aber mit dir an.« »Treib es nicht zu weit, Dicker.« »Kennst du den Platz zwischen dem Biologie-Gebäude und den Tennisplätzen?« »Hab ihn schon gesehn.« »Dort werd' ich nach dem Turnen auf dich warten.« »Okay«, sagte ich. Doch ich ließ mich nach dem Turnen nicht blicken. Ich schwänzte die restlichen Stunden und fuhr mit der Straßenbahn zum Pershing Square. Dort setzte ich mich auf eine Bank und wartete, dass sich etwas tat. Es dauerte recht lange. Schließlich gerieten sich ein Religiöser und ein Atheist in die Haare, doch sie waren nicht besonders gut. Ich war Agnostiker, und als solcher hatte man nicht viel zu streiten. Ich verließ den Park und ging hinunter zur Ecke 7th Street und Broadway. Dies war das Stadtzentrum, aber auch hier war anscheinend nichts los. Ich sah nur Leute, die an Fußgängerampeln warteten, bis sie über die Straße konnten. Dann spürte ich, dass meine Beine anfingen zu jucken. Ich hatte meine Schlafanzughose auf dem Spind vergessen. Was war das doch für ein elend beschissener Tag gewesen, von Anfang bis Ende. Ich stieg in eine Bahn der Linie »W«, setzte mich auf einen hinteren Platz und ließ mich nach Hause fahren.
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Im ganzen City College traf ich nur einen, den ich leiden konnte. Er hieß Robert Becker und wollte Schriftsteller werden. »Ich werde mir das Schreiben so gründlich beibringen, wie's nur geht. Als würde ich ein Auto auseinandernehmen und wieder zusammenbauen.« »Hört sich nach Arbeit an«, sagte ich. »Ich werd' es aber tun.« Becker war zwei oder drei Zentimeter kleiner als ich, aber er war gut beieinander, hatte breite Schultern und kräftige Arme.
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»Ich hatte eine Kinderkrankheit«, erzählte er mir, »da musste ich mal ein ganzes Jahr im Bett liegen, und der Arzt ließ mich Tennisbälle kneten, in jeder Hand einen. Davon bin ich so kräftig geworden.« Er hatte abends einen Job als Telegrammbote, und tagsüber ging er aufs College. »Wie bist du an den Job gekommen?« »Ich kannte einen Typ, und der kannte wieder einen.« »Wetten, dass ich dich fertigmachen kann?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich interessiere mich nur fürs Schreiben.« Wir saßen auf der Kante eines Erkerfensters. Unten auf dem Rasen blieben zwei Kerle stehen und starrten mich an. »Hey«, sagte der eine, »kann ich dich mal was fragen?« »Nur zu.« »Ich erinnere mich, dass du in der Grundschule immer ein Schlappschwanz warst. Und jetzt bist du so ein harter Knochen. Wie kommt das?« »Keine Ahnung.« »Bist du ein Zyniker?« »Wahrscheinlich.« »Macht dich das froh?« »Ja.« »Dann kannst du aber kein Zyniker sein. Die sind nämlich nicht froh!« Die beiden patschten sich wie ein Vaudeville-Team auf die ausgestreckten Handflächen und rannten lachend davon. »Die haben dich schlecht aussehen lassen«, sagte Becker. »Nee. Die Nummer war zu angestrengt.« »Bist du ein Zyniker?« »Ich lass mir zu leicht die Stimmung verderben. Wenn ich zynisch wäre, hätt' ich wahrscheinlich bessere Laune.« Wir rutschten von der Fensterbank herunter. Wir hatten unsere Kurse für diesen Tag hinter uns, und Becker wollte noch zu seinem Spind, um seine Bücher zu verstauen. Wir gingen hin, und er warf sie rein. Dann drückte er mir fünf oder sechs Blatt Papier in die Hand. »Hier, lies das mal. Es ist eine Kurzgeschichte.« Wir gingen zu meinem Spind. Ich schloss auf und gab ihm meine Flasche in ihrer braunen Papiertüte. »Trink 'n Schluck ...« Es war Portwein. Becker trank einen Schluck. Ich genehmigte mir auch einen. »Hast du immer eine Flasche in deinem Spind?« fragte er. »So oft es dazu reicht, ja.« »Hör zu, ich hab heut' Abend frei. Wie wär's, wenn wir uns treffen, und ich stell dir ein paar von meinen Freunden vor?« »Leute geben mir nicht viel.« »Die sind aber was Besonderes.«
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»Ja? Wo denn? Bei dir?« »Nein. Warte mal, ich schreib dir die Adresse auf...« Er schrieb etwas auf einen Zettel. »Sag mal, Becker, was machen denn deine Freunde so?« »Trinken«, sagte Becker. Ich steckte den Zettel ein. Am Abend nach dem Essen las ich Beckers Kurzgeschichte. Sie war gut. Ich war neidisch auf ihn. Es ging darum, wie er eines Abends mit seinem Fahrrad durch die Gegend geradelt war und einer wunderschönen Frau ein Telegramm gebracht hatte. Er schrieb objektiv und klar, und er schilderte die Begegnung mit Anstand und Gefühl. Becker behauptete, von Thomas Wolfe beeinflusst zu sein, aber er schwafelte nicht und drückte nicht so auf die Tube wie Wolfe. Seine Emotionen waren da, aber sie knallten einem nicht in Neonbuchstaben entgegen. Becker konnte schreiben. Er konnte es besser als ich. Meine Eltern hatten mir eine Schreibmaschine gekauft, und ich hatte mich an einigen Erzählungen versucht, doch sie waren mir sehr abgehackt und verbittert geraten. Nicht, dass daran etwas schlecht war. Es fehlte ihnen nur etwas - sie hatten kein eigenes Leben. Meine Geschichten waren finsterer und ausgefallener als die von Becker, aber sie überzeugten nicht. Nun ja, eine oder zwei fand ich durchaus gelungen, doch es war eher so, als wären sie von allein auf die Reihe gekommen und nicht dahin gebracht worden. Becker war eindeutig besser. Vielleicht sollte ich es lieber mit Malen versuchen. Ich wartete, bis meine Eltern zu Bett gegangen waren. Mein Vater schnarchte immer sehr laut. Als er nebenan loslegte, schob ich das Fenster hoch und kroch durch den Vogelbeerstrauch hinaus auf den Weg zwischen unserem Haus und dem des Nachbarn. Ich tastete mich in der Dunkelheit nach vorn, ging die Longwood Avenue hinauf zur 21. Straße und dann auf der Westview zur Endstation der Linie »W«. Ich warf meine Münze in den Apparat, drückte mich durchs Drehkreuz, setzte mich hinten im Wagen ans Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Wenn Beckers Freunde auch nur annähernd so gut waren wie seine Kurzgeschichte, dann würde es eine sehr beachtliche Nacht werden ... Als ich das Haus in der Beacon Street endlich gefunden hatte, saß Becker bereits bei seinen Freunden in der Küche. Er stellte mich allen vor: Harry, Lana, Gobbles, Stinky, Marshbird, Ellis, Dogface und The Ripper. Sie saßen um den großen Küchentisch, waren jung und schlank und rauchten Selbstgedrehte. Harry hatte irgendwo einen festen Job. Er und Becker waren die einzigen, die Arbeit hatten. Lana war mit Harry verheiratet, und Gobbles in einem hohen Kinderstuhl war der kleine Sohn der beiden. Lana war anscheinend die einzige Frau in der Clique. Als ich ihr vorgestellt wurde, sah sie mir offen in die Augen und lächelte mich an. »Becker hat uns von dir erzählt«, sagte Harry. »Er sagt, du bist Schriftsteller.« »Naja, 'ne Schreibmaschine hab ich.« »Wirst du auch über uns schreiben?« fragte Stinky. »Ich würde lieber was trinken.« »Auch gut. Wir saufen hier immer um die Wette«, sagte Stinky. »Hast du Geld dabei?« »Zwei Dollar ...« »Okay, der Einsatz ist zwei Dollar«, sagte Harry. »Fahrt eure Scheine aus.« Das ergab achtzehn Dollar. Sah gut aus, all dieses Geld auf dem Tisch. Eine Flasche erschien. Dann Whiskygläser. »Becker sagt, du hältst dich für einen harten Burschen. Bist du das auch?«
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»Yeah.« »Na, werden wir ja sehn ...« Das Licht in der Küche war sehr grell. In der Flasche war echter Bourbon. Bernsteinfarben. Harry machte die Gläser voll. Es war ein erhebender Anblick. Mein Mund und meine Kehle brannten vor Ungeduld. Das Radio war an, und jemand sang: Oh Johnny, oh Johnny, how you can love! »Runter damit!« sagte Harry. Hier konnte ich unmöglich verlieren. Ich konnte tagelang trinken. Ich hatte noch nie genug zu trinken bekommen. Gobbles hatte sein eigenes Whiskyglas, nur in Babygröße. Als wir unsere Gläser hoben und kippten, tat er es uns nach. Das fanden alle sehr lustig. Ich fand es nicht so lustig, dass ein Baby Whisky trank, aber ich sagte nichts. Harry schenkte die nächste Runde ein. »Hast du meine Story gelesen, Hank?« fragte Becker. »Ja.« »Und? Hat sie dir gefallen?« »Sie war gut. Du bist schon voll drauf. Jetzt brauchst du nur noch ein bißchen Glück.« »Runter damit!« sagte Harry. Die zweite Runde war kein Problem. Alle tranken ex. Auch Lana. Harry sah mich an. »Prügelst du dich gerne, Hank?« »Nein.« »Na, falls du Lust kriegst - dafür haben wir Dogface hier.« Dogface war mir zwei Nummern zu groß. Es war wirklich ermüdend, auf dieser Welt zu sein. Jedesmal, wenn man sich umsah, stand schon einer bereit, der einen plätten konnte, ohne auch nur Luft zu holen. Ich nickte Dogface zu. »Hi, Kumpel.« »Von wegen Kumpel«, sagte er. »Sieh zu, daß du deinen nächsten Drink runterkriegst.« Harry goß die Gläser wieder voll. Gobbles ließ er diesmal aus. Ich wusste das zu schätzen. Na schön, wir hoben die Gläser, und auch diese Runde ging allen glatt runter. Dann stieg Lana aus. »Jemand muss schließlich morgen früh den ganzen Dreck hier wegmachen und Harry wieder fit kriegen für seine Arbeit«, sagte sie. Die nächste Runde wurde eingeschenkt. Die Gläser waren gerade voll, da knallte die Tür auf, und ein großer gutaussehender Bursche von etwa zweiundzwanzig kam hereingestürzt. »Mensch, Harry«, sagte er, »du musst mich verstecken! Ich hab grad eine Tankstelle ausgemistet!« »Mein Auto steht in der Garage«, sagte Harry. »Kriech hinten rein, leg dich flach und rühr dich nicht vom Fleck.« Wir tranken aus. Die nächste Runde wurde eingeschenkt. Eine neue Flasche erschien. Die achtzehn Dollar lagen noch immer in der Mitte des Tischs. Alle waren noch dabei, bis auf Lana. Es würde eine Menge Whisky erfordern, um uns weich zu machen. »Hey«, sagte ich zu Harry, »wird denn der Sprit auch reichen?« »Zeig's ihm, Lana ...«
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Lana klappte die Türen eines Wandschranks auf. Ich sah mehrere Reihen Whiskyflaschen hintereinander, alle von derselben Marke. Es sah aus wie die Beute vom Überfall auf einen Lastzug. Vermutlich war es das auch. Und das hier waren die Mitglieder der Bande: Harry, Lana, Stinky, Marshbird, Ellis, Dogface und The Ripper, vielleicht auch Becker, und höchstwahrscheinlich auch der junge Bursche, der jetzt in Harrys Wagen auf Tauchstation lag. Ich fühlte mich geehrt, dass ich mit einem so aktiven Teil der Bevölkerung von Los Angeles trinken durfte. Becker konnte nicht nur schreiben, er verkehrte auch mit den richtigen Leuten. Ich beschloss, Robert Becker meinen ersten Roman zu widmen. Es würde ein besserer Roman sein als dieser Wälzer von Thomas Wolfe. Harry goss wieder nach, und wir leerten immer wieder unsere Gläser. Die Küche war inzwischen blau von Zigarettenqualm. Marshbird fiel als erster aus. Er hatte eine sehr lange Nase und schüttelte nur noch den Kopf. »Nein, nein, nichts mehr« —, und alles, was man sehen konnte, war diese lange Nase, die im blauen Qualm hin und her schlenkerte. Ellis war der nächste, der ausstieg. Er hatte jede Menge Haare auf der Brust, aber offensichtlich nicht so viele an seinen Eiern. Dann war Dogface fällig. Er sprang auf, rannte ins Klo und reiherte. Als Harry das hörte, kam ihm derselbe Gedanke. Er sprang auf und kotzte in den Ausguss. Damit waren noch Becker, Stinky, The Ripper und ich übrig. Becker machte als nächster schlapp. Er verschränkte einfach die Arme auf dem Tisch, legte seinen Kopf darauf, und das war's. »Die Nacht ist noch jung«, sagte ich. »Ich trinke meistens, bis die Sonne aufgeht.« »Yeah«, sagte der Ripper, »und du scheißt auch ins Nähkörbchen!« »Ganz recht. Und es hat ungefähr die Form von deinem Kopf.« Der Ripper stand auf. »Dich mach ich fertig, du Affenarsch!« Er holte zu einem Schwinger aus, verfehlte mich und boxte die Flasche vom Tisch. Lana holte einen Scheuerlappen und wischte auf. Harry schraubte eine neue Flasche auf. »Hock dich hin, Rip, oder du verlierst deinen Einsatz«, sagte er und schenkte eine weitere Runde ein. Wir tranken unsere Gläser aus. Der Ripper stand auf, ging zum Hinterausgang, machte auf und starrte in die Nacht hinaus. »Hey, Rip, was zum Deibel machst du denn?« fragte Stinky. »Ich seh bloß nach, ob Vollmond ist.« »Und?« Es kam keine Antwort. Wir hörten, wie er nach draußen fiel, die Stufen hinunter und ins Gebüsch. Wir ließen ihn liegen. Jetzt waren nur noch Stinky und ich im Rennen. »Ich hab noch keinen gesehen, der gegen Stinky gewinnt«, sagte Harry. Lana hatte Gobbles zu Bett gebracht und kam in die Küche zurück. »Meine Güte! Schnapsleichen, wo man hinsieht!« »Schenk ein, Harry«, sagte ich. Harry machte Stinky und mir die Gläser wieder voll. Ich wußte, daß ich diesen Drink nicht mehr unterbringen konnte. Also tat ich das einzige, was mir blieb: Ich redete mir ein, es sei
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kinderleicht. Ich packte das Glas und schluckte den Inhalt herunter. Stinky sah mich entgeistert an. »Gleich wieder da. Ich muß mal aufs Klo.« Wir saßen da und warteten. »Stinky ist ein netter Kerl«, sagte ich. »Ihr solltet nicht Stinky zu ihm sagen. Wie ist er zu dem Spitznamen gekommen?« »Keine Ahnung«, sagte Harry. »Hat sich irgend jemand für ihn ausgedacht.« »Was ist mit dem Kerl draußen in deinem Auto? Kommt der da auch mal wieder raus?« »Nicht vor morgen früh.« Wir saßen weiter da und warteten. »Ich glaube«, sagte Harry, »wir sollten doch besser mal nachsehen.« Wir machten die Tür zum Badezimmer auf. Stinky schien nicht da zu sein. Dann sahen wir ihn: Er war in die Badewanne gefallen, und seine Füße ragten nur knapp heraus. Er hatte die Augen zu, lag da unten drin und war völlig hinüber. Wir gingen zurück an den Küchentisch. »Das Geld gehört dir«, sagte Harry. »Wie wär's, wenn ihr mich ein paar von den Flaschen bezahlen lasst, die wir geleert haben?« »Vergiss es.« »Dein Ernst?« »Klar.« Ich nahm das Geld und stopfte es mir in die Hemdtasche. Dann sah ich das volle Glas an, das Stinky hatte stehen lassen. »Wär schade um den Drink«, sagte ich. »Soll das heißen, du willst das auch noch trinken?« fragte Lana. »Warum nicht? Einen für unterwegs ...« Ich schluckte es runter. »Okay, bis nächstes Mal. Hat mir sehr bei euch gefallen. « »Gute Nacht, Hank ...« Ich ging aus der Hintertür und stieg über den regungslosen Ripper hinweg. Durch eine Gasse gelangte ich in eine Seitenstraße und bog links ab. Einige Schritte vor mir stand ein grüner Chevrolet. Als ich auf gleicher Höhe war, gaben meine Beine ein wenig nach. Ich packte den Griff der hinteren Wagentür und hielt mich daran fest. Die verdammte Tür war nicht abgeschlossen. Sie ging auf, und ich stürzte der Länge nach aufs Pflaster und schürfte mir den linken Ellbogen auf. Bei der Gelegenheit konnte ich jetzt auch sehen, dass wir Vollmond hatten. Der Whisky war mir urplötzlich in die Knochen gefahren. Ich hatte das Gefühl, nie mehr aufstehen zu können. Aber ich musste hoch. Angeblich war ich doch ein harter Bursche. Ich versuchte es, fiel gegen die halboffene Wagentür und grapschte nach einem festen Halt. Ich bekam den Innengriff zu fassen und zog mich vollends hoch. Ich zwängte mich auf den Rücksitz und saß eine ganze Weile benommen da. Dann kam es mir hoch. Ein Schwall nach dem anderen. Es wollte gar nicht mehr aufhören, und am Ende schwamm der ganze Boden im hinteren Teil des Wagens. Ich saß noch eine Weile da und rang nach Luft. Irgendwie gelang es mir, diese Limousine wieder zu verlassen. Ich fühlte mich nicht mehr so benebelt. Mit meinem Taschentuch wischte ich mir den Kotier von Hosenbeinen und Schuhen, so gut es ging. Ich warf die Wagentür zu und ging weiter. Jetzt musste ich nur noch eine Straßenbahn der Linie »W« erwischen. Das musste eigentlich zu schaffen sein. 150
War es auch. Ich fuhr bis zur Endstation, bewältigte die Westview Street und die 21. Straße, bog nach Süden ab und ging die Longwood Avenue hinunter zur Nr. 2122. Ich ging die Zufahrt zur Garage des Nachbarhauses hoch, ortete den Vogelbeerstrauch, zwängte mich hindurch und stieg durch das offene Fenster in mein Zimmer. Ich musste gut einen Liter Whisky weggesteckt haben. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Mein Vater schnarchte noch so anhaltend wie vor Stunden, als ich mich davongemacht hatte, nur dass es sich jetzt noch lauter und widerwärtiger anhörte. Meinen Schlaf konnte er damit nicht stören. Wie üblich kam ich am nächsten Morgen zu Mr. Hamiltons Englischstunde genau dreißig Minuten zu spät: 7.30 Uhr war es, als ich vor der Tür des Klassenzimmers anlangte. Ich blieb einen Augenblick stehen und horchte. Sie nahmen immer noch Gilbert und Sullivan durch, und es war immer noch dasselbe Lied - von wegen »going to the sea« und »the Queen's Navy«. Anscheinend konnte Hamilton davon nicht genug kriegen. In der Highschool hatte ich einen Englischlehrer gehabt, bei dem es auch nicht vorangegangen war. Nichts als Poe, Poe, Edgar Allan Poe. Ich öffnete die Tür. Hamilton ging an den Plattenspieler und nahm die Nadel aus der Rille. Dann baute er sich vor der Klasse auf und verkündete: »Wenn Mr. Chinaski kommt, wissen wir immer, dass es genau 7.30 Uhr ist. Mr. Chinaski ist immer pünktlich. Das Problem ist nur, dass er nie rechtzeitig kommt.« Er machte eine Pause und musterte die Gesichter seiner Schüler. Er strahlte eine Menge Würde aus. Dann wandte er sich an mich. »Chinaski, es ist mir gleichgültig, ob Sie mit halbstündiger Verspätung oder überhaupt nicht zum Unterricht kommen. Ich gebe Ihnen in Englisch eine >D<.« »Eine >D<, Mr. Hamilton?« sagte ich und beehrte ihn mit der höhnischen Grimasse, für die ich so bekannt war. »Warum nicht gleich eine >F« »Weil man >F< zu leicht mit >Fick< assoziiert. Und Sie sind keinen Fick wert!« Die ganze Klasse johlte und wieherte und stampfte und trampelte. Ich drehte mich um, machte die Tür hinter mir zu und ging den Korridor hinunter. Hinter mir hörte ich sie noch immer. Sie kriegten sich nicht mehr ein.
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Der Krieg in Europa lief ausgezeichnet — für Hitler. Die meisten Studenten hatten keine besondere Meinung dazu. Im Gegensatz zu den Dozenten, die fast durchweg linksorientiert und deutschfeindlich waren. Einen rechten Flügel schien es beim Lehrkörper nicht zu geben, bis auf Mr. Glasglow in Wirtschaftslehre, doch der hielt sich sehr zurück. Unter Intellektuellen galt es als populär und selbstverständlich, für einen Kriegseintritt gegen Deutschland zu sein, um den Faschismus einzudämmen. Mich dagegen reizte es überhaupt nicht, in einen Krieg zu ziehen, um das Leben zu verteidigen, das ich hier führte, oder die trübe Zukunft, die mir wahrscheinlich bevorstand. Ich hatte keine Freiheit. Ich hatte gar nichts. Unter Hitler würde ich vielleicht ab und zu sogar etwas fürs Bett kriegen und mit mehr als einem Dollar Taschengeld in der Woche rechnen können. Soweit ich sehen konnte, hatte ich
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nichts, das sich zu verteidigen lohnte. Und da ich in Deutschland geboren war, empfand ich eine ganz natürliche Loyalität und konnte es nicht leiden, dass man alle Deutschen als Unholde und Idioten hinstellte. (In den Kinos ließ man Wochenschauberichte mit doppelter Geschwindigkeit laufen, so dass Hitler und Mussolini wie übergeschnappte Irre herumhüpften.) Außerdem fand ich es undenkbar, mich der Haltung meiner deutschfeindlichen Dozenten einfach anzuschließen. Aus innerer Abneigung und purem Trotz beschloss ich, ihnen Kontra zu geben. >Mein Kampf< hatte ich nie gelesen, und ich hatte auch keine Lust dazu. Hitler war für mich ein Diktator wie jeder andere, nur dass er mir statt einer Standpauke beim Abendessen vermutlich den Schädel oder die Eier weggepustet hätte, falls ich gegen ihn in den Krieg zog. Wenn sich die Dozenten endlos über das Unheil des Faschismus und die bösen Nazis verbreiteten (wir mussten »nazi« immer mit einem kleinen »n« schreiben, sogar am Anfang eines Satzes), sprang ich manchmal auf und ließ irgendwelche Sprüche los: »Das Überleben der menschlichen Rasse hängt ab von selektivem Verantwortungsbewusstsein!« Was heißen sollte: Pass auf, mit wem du ins Bett gehst. Aber das wusste nur ich. Es machte wirklich alle stocksauer. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf all dieses Zeug kam. »Demokratie krankt unter anderem daran, dass lauter Durchschnittsbürger eine durchschnittliche Figur zum Präsidenten wählen, und der sorgt dann dafür, dass es bei uns vollends öde und apathisch und durchschnittlich zugeht!« Ich vermied jede direkte Anspielung auf Juden und Schwarze, denn die hatten mir nie Ärger gemacht. Meine Schwierigkeiten waren immer von weißen Nichtjuden ausgegangen. Ich war also kein Nazi aus Veranlagung oder eigenem Entschluss, sondern die Lehrer zwangen es mir mehr oder weniger auf, weil sie sich alle so sehr glichen und dasselbe dachten und stur antideutsch eingestellt waren. Hinzu kam, dass ich irgendwo gelesen hatte, man könne um so wirkungsvoller agieren, je weniger man von einer Sache verstand oder daran glaubte. In der Beziehung war ich gegenüber meinen Lehrern entscheidend im Vorteil. »Wenn man einen Ackergaul mit einem Rennpferd kreuzt, kommt etwas heraus, was weder schnell noch stark ist. Eine neue Herrenrasse wird nur durch gezielte Züchtung entstehen!« »Es gibt keine guten oder schlechten Kriege. Das einzig Schlechte an einem Krieg ist, wenn man ihn verliert. In allen Kriegen haben beide Seiten für eine sogenannte >gute Sache< gekämpft. Aber nur die Sache des Siegers steht dann vor der Geschichte als gerecht und nobel da. Es kommt nicht darauf an, wer recht oder unrecht hat. Das einzig Entscheidende ist, wer die besten Generäle und die bessere Armee hat!« Es machte mir großen Spaß. Ich konnte vom Stapel lassen, was mir gerade gefiel. Natürlich verdarb ich mir damit jede Chance bei den Mädchen. Aber so gut waren meine Aussichten bei ihnen ohnehin nie gewesen. Ich glaubte, ich sei wegen meiner Hetztiraden ganz allein auf dem Campus. Aber das war nicht der Fall. Einige hatten mir gut zugehört. Eines Tages hörte ich auf dem Weg zu meinem Kurs in Zeitgeschichte, wie mir jemand folgte. Ich konnte es nicht leiden, wenn man mir nachging, also drehte ich mich im Gehen um. Es war der AStA-Vorsitzende Boyd Taylor. Er war bei den Studenten sehr beliebt und als einziger in der Geschichte des College zweimal hintereinander gewählt worden. »Hey, Chinaski, ich muss mit dir reden.« Ich hatte von Boyd nie viel gehalten. Er war der typische gutaussehende amerikanische Jüngling mit garantierter Zukunft, immer proper angezogen, lässig, glatt und mit einem 152
sorgfältig getrimmten Schnurrbärtchen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihn bei den Kommilitonen so beliebt machte. Er ging neben mir her. »Meinst du nicht, Boyd, dass es schlecht für dich ist, wenn du mit mir gesehen wirst?« »Das lass mal meine Sorge sein.« »Na schön. Was willst du?« »Chinaski, das bleibt aber jetzt ganz unter uns, ja?« »Sicher.« »Weiß du, ich halte eigentlich nichts von dem, was Typen wie du vertreten, oder was du da versuchst.« »Und?« »Aber ich möchte dir sagen, wenn ihr in Europa und hier damit durchkommt, dann schließ ich mich euch an.« Ich konnte ihm nur ins Gesicht lachen. Ich ließ ihn stehen und ging weiter. Einem gepflegten Schnurrbart soll man nie über den Weg trauen. Noch andere hatten mir zugehört. Als ich aus meinem Kurs in Zeitgeschichte herauskam, stand Baldy da und hatte einen bei sich, der fünf Fuß hoch und drei Fuß breit war. Der Kerl hatte einen kugelrunden Kopf, der ihm tief zwischen den Schultern saß, kleine Ohren, kurzgeschorenes Haar, Knopfaugen und einen winzigen nassen runden Mund. Ein Spinner, dachte ich. Ein Killer. »HEY, HANK!« brüllte Baldy. Ich ging zu ihm hin. »Ich dachte, wir sind fertig miteinander, La Crosse.« »Ach was! Für uns gibt's noch große Dinge zu tun!« Scheiße! Baldy war also auch einer! Warum lockte die Herrenrasse nichts als geistige und körperliche Krüppel an? »Ich möchte dir Igor Stirnoff vorstellen.« Ich gab dem Kerl die Hand. Er drückte sie mir mit voller Kraft. Es tat richtig weh. »Lass los«, sagte ich, »oder ich brech dir deinen verstunkenen Hals. Auch wenn du keinen hast.« Igor ließ meine Hand los. »Ich traue keinem Mann, der einen schlaffen Händedruck hat. Warum gibst du einem so schlapp die Hand?« »Ich hab heut meinen schwachen Tag. Beim Frühstück haben sie mir den Toast angebrannt, und beim Lunch hab ich meinen Kakao verschüttet.« Igor drehte sich zu Baldy um. »Was ist denn mit dem los?« »Mach dir nichts draus. Er ist nur ein bißchen eigen.« Igor wandte sich wieder an mich. »Mein Großvater war Weißrusse. Während der Revolution haben ihn die Roten umgelegt. Ich muss mich an diesen Schweinehunden rächen.« »Verstehe.« Ein weiterer Kommilitone kam auf uns zu. »Hey, Fenster!« schrie Baldy. Fenster kam her. Ich begrüßte ihn mit einem schlaffen Händedruck. Ich hatte etwas gegen Händeschütteln. Ich erfuhr, dass er mit Vornamen Bob hieß, und dass es am Abend in einem Haus in Glendale eine Versammlung der »Americans for America« geben sollte. Fenster
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vertrat die Partei auf dem Campus. Als er wieder ging, flüsterte mir Baldy ins Ohr: »Das sind Nazis!« Wir trafen uns bei Baldy vor dem Haus. Igor kam mit dem Wagen und brachte eine Korbflasche voll Rum mit, die er herumgehen ließ. Das Zeug war stark, es verbrannte einem fast die Schleimhäute. Igor fuhr seinen Wagen wie einen Panzer, bei Rot über jede Kreuzung, die anderen Fahrer mussten voll auf die Bremse treten, und während sie ein Hupkonzert veranstalteten, drohte ihnen Igor mit einem schwarzen Spielzeugrevolver. »He, Igor«, sagte Baldy, »lass Hank mal deine Knarre ansehn.« Baldy und ich saßen auf dem Rücksitz. Igor reichte mir seinen Revolver nach hinten. Ich sah ihn mir an. »Ist er nicht klasse?« sagte Baldy. »Er hat ihn aus einem Stück Holz geschnitzt und mit Schuhcreme eingeschwärzt. Sieht wie echt aus, nicht?« »Yeah«, sagte ich. »Er hat sogar ein Loch in den Lauf gebohrt.« Ich gab Igor den Revolver zurück. »Nicht schlecht«, sagte ich. Er gab uns die Korbflasche nach hinten. Ich trank einen Schluck und gab sie an Baldy weiter. Er sah mich an und sagte: »Heil Hitler!« Es war ein großes stattliches Haus. Wir kamen als letzte an. Vor dem Eingang erwartete uns ein dicker lächelnder Bursche, der aussah, als habe er sein ganzes Leben am offenen Kamin verbracht und geröstete Kastanien gegessen. Seine Eltern waren anscheinend nicht da. Er nannte sich Larry Kearney. Wir folgten ihm durch das weitläufige Haus, und dann ging es eine lange dunkle Treppe hinunter. Ich sah nur noch seinen Kopf und die Schultern. Er war wirklich ein gutgenährter Bursche, und er wirkte wesentlich vernünftiger als Baldy, Igor und ich. Vielleicht konnte man hier noch etwas dazulernen. Dann waren wir im Keller. Jeder suchte sich einen Stuhl. Fenster nickte uns zu. Es waren noch sieben andere da, die ich nicht kannte. Auf einem Podium stand ein Schreibtisch. Larry ging hinauf und stellte sich hinter den Tisch. Die Wand hinter ihm war mit einem großen Sternenbanner drapiert. Larry nahm Haltung an. »Wir werden jetzt den Eid auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika sprechen!« O Gott, dachte ich, hier bin ich aber verkehrt! Wir standen auf und sprachen den Eid. Nach den Worten »Ich schwöre Treue ...« bewegte ich nur noch die Lippen. Ich sagte nicht, wem oder was ich die Treue schwor. Wir setzten uns. Larry blieb hinter dem Schreibtisch stehen und erklärte uns, dass dies die erste Zusammenkunft sei, und deshalb werde er den Vorsitz übernehmen. Wenn wir uns besser kennen gelernt hatten, konnten wir einen Vorsitzenden wählen. Aber bis dahin ... »Wir haben es heute in Amerika mit einer zweifachen Bedrohung unserer Freiheit zu tun. Mit der Wühlarbeit der Kommunisten und mit einem Umsturz der Schwarzen. In den meisten Fällen arbeiten sie Hand in Hand. Als wahre Amerikaner werden wir uns dieser Drohung entgegenstellen. Dazu sind wir hier versammelt. Es ist schon so weit gekommen, daß kein anständiges weißes Mädchen mehr auf die Straße kann, ohne von einem Schwarzen belästigt zu werden!« Igor sprang auf. »Wir killen sie alle!« »Die Kommunisten wollen eine Umverteilung des Wohlstands, für den wir so lange gearbeitet haben, für den sich unsere Väter geplagt haben und ihre Väter vor ihnen. Und wem wollen die
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Kommunisten unser Geld geben? Jedem Schwarzen, Homo, Strauchdieb, Mörder und Kinderschänder, der unsere Straßen unsicher macht!« »Wir legen sie alle um!« »Die müssen gestoppt werden!« »Wir bewaffnen uns!« »Ja, wir werden uns bewaffnen! Und wir werden hier regelmäßig zusammenkommen und einen Plan aufstellen zur Rettung Amerikas!« Alle johlten Beifall. Zwei oder drei brüllten »Heil Hitler!« Dann gingen wir zum gemütlichen Teil des Abends über. Larry verteilte eisgekühltes Bier in Dosen, und wir standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten uns. Es wurde nicht viel von Bedeutung gesagt. Wir waren uns nur alle einig, dass wir uns dringend im Schießen üben mussten, damit wir mit unseren Waffen richtig umgehen konnten, wenn es soweit sein würde. Anschließend fuhren Baldy und ich mit Igor nach Hause. Auch Igors Eltern waren gerade weg. Er stellte eine Bratpfanne auf den Gasherd und ließ vier Würfel Butter schmelzen. Dann setzte er einen großen Topf auf und goss den Rum hinein. »Jetzt zeig ich euch mal, was Männer trinken.« Er sah Baldy an. »Bist du ein Mann?« Baldy hatte schon einen sitzen. Er nahm Haltung an und legte die Hände an die Hosennaht. »JA, ICH BIN EIN MANN!« Dann kamen ihm die Tränen. »ICH BIN EIN MANN!« Er riss sich zusammen und schrie »HEIL HITLER!«, und die Tränen kullerten ihm über die Backen. Igor wandte sich an mich. »Und du? Bist du ein Mann?« »Keine Ahnung. Ist der Rum bald fertig?« »Ich weiß nicht, ob ich dir trauen soll. Ich bin mir nicht sicher, dass du einer von uns bist. Bist du ein Spion? Ein feindlicher Agent?« »Nein.« »Bist du einer von uns?« »Weiß ich nicht. Ich weiß nur eins.« »Nämlich?« »Dass ich dich nicht leiden kann. Ist der Rum noch nicht fertig?« »Siehst du?« sagte Baldy. »Ich hab dir ja gesagt, er ist 'ne harte Nuss.« »Eh der Abend vorbei ist«, sagte Igor, »werden wir wissen, wer von uns am härtesten ist.« Er goss die zerlassene Butter in den Rum, drehte die Flamme aus und rührte um. Ich mochte ihn nicht, aber er war auf jeden Fall anders als die anderen, und das gefiel mir. Er holte drei große blaue Henkeltassen mit kyrillischen Buchstaben darauf und goß den gebutterten Rum ein. »Okay«, sagte er, »trink!« »Scheiße, wird auch langsam Zeit«, sagte ich und ließ es mir durch die Kehle rinnen. Das Zeug war ein bißchen zu heiß, und es stank. Ich beobachtete Igor, wie er seine Portion trank. Über dem Rand der Tasse sah ich seine kleinen Knopfaugen. Er brachte es runter, aber aus seinem kleinen blöden Mund lief ihm links und rechts ein goldgelbes Rinnsal. Er musterte jetzt Baldy, der dastand und in seine Tasse starrte. Ich wusste von früher, dass Baldy einfach keinen natürlichen Hang zum Trinken hatte. Igor starrte ihn strafend an. »Trink schon!«
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»Ja, Igor. Ja ...« Baldy hob die Tasse zum Mund. Es fiel ihm sichtlich schwer. Der Rum war ihm zu heiß, und er mochte den Geschmack nicht. Die Hälfte lief ihm aus dem Mund und tropfte ihm vom Kinn auf das Hemd. Seine leere Tasse fiel auf den Küchenboden. Igor baute sich vor ihm auf. »Du bist kein Mann!« »Doch, Igor! Ich bin ein Mann!« »Du lügst!« Igor schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, und als Baldys Kopf zur Seite zuckte, brachte er ihn mit einem Schlag auf die andere Backe wieder auf Vordermann. Baldy stand in steifer Habt-acht-Stellung da und drückte die Arme fest an die Seiten. »Ich bin ... ein Mann ...» Igor rührte sich nicht vom Fleck. »Ich werde einen Mann aus dir machenl« »Okay«, sagte ich zu Igor, »lass ihn in Ruhe.« Igor ging aus der Küche. Ich goss mir noch einen Rum ein. Es war ein schauerliches Zeug, aber es gab ja nichts anderes. Igor kam wieder herein. Er hatte eine Knarre in der Hand. Eine echte diesmal. Es war ein alter sechs schüssiger Trommelrevolver. »Wir werden jetzt Russisches Roulette spielen«, verkündete er. »Von wegen«, sagte ich. »Ich mach mit, Igor«, sagte Baldy. »Ich mach mit! Ich bin ein Mann!« »Also gut«, sagte Igor. »Es ist nur eine Patrone in der Trommel. Ich lasse jetzt die Trommel rotieren, und dann gebe ich dir die Waffe in die Hand.« Er ließ die Trommel rotieren und hielt Baldy den Revolver hin. Baldy nahm ihn und hielt sich die Mündung an die Schläfe. »Ich bin ein Mann ... Ich bin ein Mann ... Ich tu es!« Er fing wieder an zu flennen. »Ich tu es ... Ich bin ein Mann .. .« Er ließ die Mündung des Revolvers von seiner Schläfe abrutschen, bis der Lauf an seinem Kopf vorbeizeigte. Dann drückte er ab. Es gab ein trockenes Klicken. Igor nahm ihm die Waffe ab, ließ die Trommel rotieren und drückte mir das Ding in die Hand. Ich gab es ihm zurück. »Du zuerst.« Igor drehte die Trommel, hielt die Waffe ans Licht und sah durch die Kammern. Dann hielt er sich den Revolver an die Schläfe und drückte ab. Es klickte. »So ein Schmäh«, sagte ich. »Du hast erst nachgesehen, wo die Patrone steckt.« Igor ließ wieder die Trommel rotieren und gab mir die Waffe in die Hand. »Jetzt du ...« Ich gab sie ihm zurück. »Schieb dir das Ding irgendwo rein«, sagte ich zu ihm. Ich ging an den Herd und goss mir noch einen Rum ein. Da gab es einen Knall. Ich sah nach unten. Der Küchenboden hatte dicht neben meinem Fuß ein Loch. Ich drehte mich um. »Wenn du mit der Knarre noch einmal auf mich anlegst, mach ich dich kalt, Igor.« »So?«
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»Ja!« Er stand da und lächelte mich an. Langsam hob er den Revolver. Ich wartete ab. Dann ließ er ihn wieder sinken. Damit war der Abend so ziemlich gelaufen. Wir gingen hinaus zum Wagen, und Igor fuhr uns nach Hause. Doch unterwegs hielten wir erst noch am Westlake Park, mieteten ein Ruderboot und fuhren auf den See hinaus, um den restlichen Rum zu trinken. Nach dem letzten Schluck lud Igor seinen Revolver und durchlöcherte den Boden des Kahns. Wir waren knapp vierzig Meter vom Ufer und mussten an Land schwimmen ... Es war spät, als ich nach Hause kam. Ich zwängte mich durch den alten Vogelbeerstrauch und stieg durchs Fenster in mein Zimmer, zog mich aus und legte mich ins Bett. Nebenan schnarchte mein Vater.
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Ich war auf dem Nachhauseweg vom College und ging die Westview hinunter. Bücher hatte ich nie dabei. Ich hörte mir an, was in den Kursen vorgetragen wurde, und wenn es einen Test gab, riet ich eben die Antworten. Ich musste nie büffeln. Für eine »B« reichte es jederzeit. Während ich jetzt auf der Straße bergab ging, lief ich geradewegs in ein riesiges Spinnennetz. Das passierte mir ständig. Ich blieb stehen, pflückte mir das klebrige Gewebe von den Kleidern und suchte nach der Spinne. Endlich sah ich sie: Ein großes, fettes, schwarzes Scheißvieh. Ich zertrat sie. Auf Spinnen hatte ich schon lange einen Hass. Wenn ich mal in die Hölle kam, würde ich von einer Spinne gefressen werden. In meinem ganzen Leben war ich in dieser Gegend nur in Spinnweben gelaufen, von Amseln angefallen worden und hatte obendrein noch meinen Vater ertragen müssen. Alles war unendlich öde, trübselig und ausweglos. Selbst das Wetter war eine unverschämte Zumutung. Entweder herrschte wochenlang eine unerträgliche Hitze, oder es regnete, und wenn es regnete, dann jedes Mal fünf oder sechs Tage an einem Stück. Das Wasser schwappte über den Rasen und lief in die Häuser. Wer hier die Kanalisation entworfen hatte, war für seine Unfähigkeit wahrscheinlich viel zu gut bezahlt worden. Meine Aussichten waren noch genauso trüb wie am Tag meiner Geburt. Der einzige Unterschied war, dass ich mich jetzt ab und zu betrinken konnte, wenn auch nicht oft genug. Trinken war das einzige, was einen Mann davor bewahrte, sich für alle Zeiten dumpf und nutzlos zu fühlen. Alles andere war nur ein ermüdend gleichförmiger Trott und Verschleiß. Nirgends etwas, das auch nur im entferntesten interessant war. Die Menschen waren alle zugeknöpft und vorsichtig, und mit diesen Scheißern sollte ich nun mein ganzes restliches Leben verbringen. Mein Gott. Sie hatten alle ihre Ärsche und Geschlechtsorgane, ihre Münder und Achselhöhlen, sie schissen und quatschten und waren langweilig wie Roßäpfel. Die Mädchen sahen aus der Entfernung ganz gut aus, wie ihnen die Sonne durch die Kleider schien und auf ihrem Haar glänzte. Doch wenn sie vor einem standen und den Mund aufmachten, wollte man sich am liebsten am Fuß eines Hügels eingraben und verkriechen, mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Bestimmt würde ich es nie fertig bringen, ein glücklicher Mensch zu sein, zu heiraten, Kinder zu haben. Zum Teufel, ich konnte es ja nicht einmal zu einem Job als Tellerwäscher bringen. 157
Vielleicht sollte ich Bankräuber werden. Oder sonst was Abartiges. Etwas mit Flair und Feuer. Man hatte nur einen Versuch im Leben. Wozu also Fensterwäscher werden? Ich steckte mir eine Zigarette an und ging weiter die abschüssige Straße hinunter. War ich der einzige, der sich wegen einer aussichtslosen Zukunft den Kopf zerbrach? Schon wieder sah ich eine dieser großen schwarzen Spinnen. Sie hing in ihrem Netz, etwa in Höhe meines Gesichts, genau in meinem Weg. Ich nahm die Zigarette aus dem Mund und hielt das glühende Ende an sie. Sie machte einen Satz, dass das ganze Netz zuckte und schnalzte. Sogar die Zweige des Strauchs erzitterten. Sie fiel aus dem Netz und landete auf dem Gehsteig. Feige Fliegenkiller, der ganze Verein. Ich zermalmte sie unter meinem Schuh. Zwei Spinnen erledigt. Der Tag hatte sich gelohnt. Aber ich hatte die natürliche Ordnung aus dem Gleichgewicht gebracht — jetzt würden wir alle von Käfern und Fliegen aufgefressen werden. Ich ging weiter bergab, und als ich fast unten war, bebte ein großer Busch. Aha. Da lauerte wohl die Spinnenkönigin auf mich. Ich machte einen entschlossenen Schritt nach vorn, um mich ihr zu stellen. Meine Mutter sprang hinter dem Busch hervor. »Henry, Henry, geh nicht nach Hause, geh nicht nach Hause — dein Vater will dich umbringen!« »Wie stellt er sich das vor? Ich kann ihn jederzeit plätten.« »Nein, er ist außer sich, Henry! Geh nicht nach Hause! Er bringt dich um! Ich warte hier schon seit Stunden auf dich!« Die angstgeweiteten Augen meiner Mutter waren richtig schön. So groß und braun. »Was macht er schon so früh zuhause?« »Er hatte Kopfweh, da haben sie ihm den Nachmittag freigegeben.« »Und du? Ich hab gedacht, du hast einen Job und gehst arbeiten?« Sie hatte eine Stelle als Haushälterin bekommen. »Er ist vorbeigekommen und hat mich geholt! Er ist außer sich vor Wut! Er bringt dich um!« »Keine Angst, Mom. Wenn er mir dumm kommt, schlag ich ihn zusammen, das versprech ich dir.« »Henry, er hat deine Geschichten gefunden! Er hat sie alle gelesen!« »Ich hab ihn nie darum gebeten.« »Er hat sie in einer Schublade gefunden! Er hat sie alle gelesen!« Ich hatte zehn oder zwölf Kurzgeschichten geschrieben. Gib einem Mann eine Schreibmaschine, und er wird zum Schriftsteller. Die Stories hatte ich unter dem Papier versteckt, mit dem die Schublade ausgelegt war, in der ich meine Unterhosen und Socken hatte. »Na schön«, sagte ich, »der Alte hat rumgekramt und sich dabei die Finger verbrannt.« »Er hat gesagt, er bringt dich um! Er hat gesagt, kein Sohn von ihm kann solche Sachen schreiben und mit ihm unter einem Dach leben!« Ich nahm sie am Arm. »Komm, gehn wir nach Hause, Mom. Dann werden wir ja sehn, was er tut...« »Henry, er hat deine Kleider auf den Rasen vor dem Haus geworfen! Deine ganze Wäsche, die Schreibmaschine, deinen Koffer und deine Geschichten!« »Meine Stories auch?«
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»Ja, die auch ...« »Den mach ich kalt!« Ich ließ sie los und ging über die 21. Straße in Richtung Longwood Avenue. Sie lief mir nach. »Henry, Henry, geh da nicht rein!« Die arme Frau zerrte mich hinten am Hemd. »Henry, hör zu, nimm dir irgendwo ein Zimmer! Hier, ich hab zehn Dollar! Nimm sie und besorg dir irgendwo ein Zimmer!« Ich drehte mich um. Sie hatte eine Zehn-Dollar-Note in der Hand. »Vergiss es«, sagte ich. »Ich geh einfach so.« »Henry, nimm das Geld! Tu es für mich! Tu es für deine Mutter!« »Na schön, meinetwegen ...« Ich nahm den Zehner und steckte ihn ein. »Danke. Das ist viel Geld.« »Lass nur, Henry. Ich liebe dich, Henry — aber du musst fort.« Ich ging auf unser Haus zu. Sie rannte jetzt vor mir her. Dann sah ich es: alles lag über den Rasen verstreut, meine schmutzige und saubere Wäsche, der aufgesprungene Koffer, Socken, Hemden, Schlafanzug, ein alter Bademantel, alles durch die Gegend geworfen, teils auf dem Rasen und teils auf der Straße. Und ich sah meine Manuskripte im Wind davon wehen. Sie lagen im Rinnstein und überall. Meine Mutter lief die Einfahrt zum Haus hoch, und ich schrie hinter ihr her, damit er es drinnen hören konnte: »SAG IHM, ER SOLL HIER RAUSKOMMEN, DANN HAU ICH IHM SEINE GOTTVERDAMMTE RÜBE RUNTER!« Um die Manuskripte kümmerte ich mich zuerst. Dass er das getan hatte, war wirklich ein Schlag unter die Gürtellinie. Sie waren das einzige, worauf er kein Recht hatte. Während ich eine Seite nach der anderen aufhob, aus dem Rinnstein, vom Rasen und von der Straße, fühlte ich mich langsam wieder besser. Ich suchte zusammen, was ich finden konnte, legte die Seiten in den Koffer und beschwerte sie mit einem Schuh. Dann rettete ich die Schreibmaschine. Sie war aus ihrem Koffer gefallen, schien aber noch ganz zu sein. Ich sah mir meine Klamotten an, die ringsum verstreut lagen. Die schmutzige Wäsche ließ ich liegen. Auch den Schlafanzug — er war ein abgelegtes Stück von ihm. Ansonsten gab es nicht viel einzupacken. Ich machte den Koffer zu, hob ihn auf, nahm die Schreibmaschine in die andere Hand und ging weg. Hinter dem Fenstervorhang sah ich zwei Gesichter, die mir nachschauten. Aber das vergaß ich schnell. Ich ging auf der Long-wood zurück, über die 21. Straße und wieder die alte Westview hinauf. Ich fühlte mich nicht viel anders als sonst, weder froh gestimmt noch niedergeschlagen. Es schien alles nur weiterzugehen wie gewohnt. Ich würde in eine Bahn der Linie »W« steigen, einen Fahrschein lösen und irgendwohin in die Innenstadt fahren.
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Ich fand ein Zimmer in der Temple Street, im Filipino-Viertel. Es lag im ersten Obergeschoß und kostete $ 3.50 in der Woche. Die Vermieterin war eine Blondine in mittleren Jahren. Ich zahlte ihr die Miete für eine Woche im voraus. Toilette und Bad waren am Ende des Flurs, aber im Zimmer gab es ein Waschbecken, in das man reinpinkeln konnte.
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An meinem ersten Abend entdeckte ich unten eine Bar, gleich rechts neben dem Hauseingang. Das gefiel mir. Ich musste nur die Treppe hochsteigen, und schon war ich zuhause. Die Bar war voll von kleinen dunkelhäutigen Männern, aber die störten mich nicht. Ich wusste, was man sich von den Filipinos erzählte. Sie hatten es auf weiße Mädchen abgesehen, besonders auf Blondinen; sie hatten immer ein Stilett bei sich; und da sie alle dieselbe Größe hatten, legten immer sieben von ihnen zusammen und kauften einen teuren Anzug mit allem Drum und Dran, und den durfte dann jeder an einem Abend in der Woche tragen. George Raft hatte irgendwo gesagt, die Filipinos bestimmten den Trend der Mode. Sie standen an Straßenecken herum und schlenkerten dünne Goldkettchen, die achtzehn oder zwanzig Zentimeter lang waren - damit gab jeder an, wie lang sein Penis war. Auch der Barkeeper war ein Filipino. »Neu hier, was?« fragte er. »Ich wohne da oben im ersten Stock. Ich bin Student. « »Kein Kredit.« Ich legte einige Münzen auf den Tresen. »Gib mir ein Eastside.« Er brachte mir eine Flasche. »Wo kann man hier ein Mädchen auftreiben?« fragte ich. Er nahm einen Teil der Münzen an sich. »Keine Ahnung«, sagte er und ging zur Kasse. In dieser ersten Nacht war ich der letzte, der die Bar verließ. Niemand wollte etwas von mir. Ich sah einige Blondinen mit Filipinos weggehen. Die Männer waren stille Trinker. Sie saßen in kleinen Gruppen an den Tischen, steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich, und ab und zu wurde leise gelacht. Ich mochte sie. Als die Bar schloss und ich aufstand, um zu gehen, sagte der Barkeeper: »Bedanke mich.« Das war in weißen Bars nicht üblich. Mir war es jedenfalls noch nie passiert. Die neue Situation gefiel mir. Jetzt musste ich nur noch zu Geld kommen. Ich beschloss, weiter aufs College zu gehen. Das würde mir tagsüber etwas zu tun geben. Mein Freund Becker war ausgestiegen. Es gab keinen, von dem ich etwas hielt, bis auf den Dozenten in Anthropologie, der als Kommunist bekannt war. Er lehrte nicht viel Anthropologie. Er war ein korpulenter Mann mit lässigen Umgangsformen. Ein sympathischer Mensch. »Also jetzt sag ich euch mal, wie ihr ein Porter-house-Steak braten müsst«, verkündete er der Klasse. »Ihr lasst die Pfanne glühend heiß werden, trinkt ein Glas Whisky und streut eine dünne Schicht Salz in die Pfanne. Dann legt ihr das Steak rein und lasst es anbraten, aber nicht zu lange. Dann wendet ihr es und bratet es von der anderen Seite an. Dann trinkt ihr nochmal ein Glas Whisky, nehmt das Steak heraus und esst es auf der Stelle.« Einmal war er an mir vorbeigekommen, als ich auf dem Campus im Gras lag. Er war stehen geblieben und hatte sich neben mir ausgestreckt. »Chinaski, Sie glauben doch nicht diesen ganzen Nazi-Quatsch, den Sie hier verbreiten, oder?« »Das verrate ich nicht. Glauben Sie denn an Ihren Quatsch?« »Natürlich.« »Na, dann viel Glück.« 160
»Chinaski, Sie sind höchstens ein Wiener Schnitzel.« Er stand auf, klopfte sich Grashalme und Laub von der Hose und ging weg ... Ich wohnte noch keine Woche in der Temple Street, als mich Jimmy Hatcher ausfindig machte. Er klopfte an die Tür, und als ich aufmachte, stand er mit zwei Kollegen vom Flugzeugwerk da. Der eine hieß Delmore, der andere Fastshoes. »Warum nennt ihr ihn >Fastshoes« »Brauchst ihm nur mal Geld zu leihen, dann wirst du's schon sehn.« »Kommt rein. Wie hast du mich hier bloß gefunden?« »Deine Eltern haben dich von einem Privatdetektiv suchen lassen.« »Verdammt. Die wissen wirklich, wie sie einem das Leben vergällen können.« »Vielleicht machen sie sich Sorgen.« »Wenn sie sich Sorgen machen, brauchen sie mir nur Geld zu schicken.« »Sie behaupten, du versäufst es nur.« »Dann sollen sie sich eben weiter ihre Sorgen machen ...« Die Drei kamen herein, setzten sich aufs Bett und auf den Boden. Sie hatten eine kleine Flasche Whisky und einige Pappbecher dabei. Jimmy schenkte jedem etwas ein. »Hübsche Bude hast du hier.« »Ja, hervorragend. Wenn ich das Rathaus sehen will, brauch ich nur den Kopf aus dem Fenster zu stecken.« Fastshoes holte einen Satz Karten aus der Tasche. Er saß auf dem Teppich und sah zu mir hoch. »Spielst du?« »Jeden Tag. Sind deine Karten gezinkt?« »Komm mir ja nicht so, du Hundsknochen!« »Mach mich nicht an, oder ich nagel deine Perücke über den Kamin.« »Ehrlich, Mann, die Karten sind sauber.« »Ich spiele nur Poker und 21. Wie hoch ist das Limit?« »Zwei Dollar.« »Dann lass uns mal abheben und sehn, wer gibt.« Ich hatte die höhere Karte und bestand auf Draw-Poker. Regulär. Ich wollte keine »Querschläger« im Spiel haben, denn dabei brauchte man zuviel Glück. Eröffnet wurde mit zwei »Bits« - 25 Cents. Während ich die Karten gab, schenkte Jimmy die nächste Runde ein. »Wie kommst du so über die Runden, Hank?« »Ich schreib den anderen ihre Seminararbeiten.« »Raffiniert.« »Yeah ...« »Hey«, sagte Jimmy zu den beiden anderen, »hab ich's euch nicht gesagt? Der Kerl ist ein Genie.« »Yeah«, sagte Delmore. Er saß rechts von mir. Er eröffnete. »Zwei Bits«, sagte er. Wir machten unsere Einsätze. »Drei Karten«, sagte Delmore. »Eine«, sagte Jimmy. »Drei«, sagte Fastshoes.
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»Ich bin satt«, sagte ich. »Erhöhe um zwei«, sagte Delmore. Wir gingen alle mit. Dann sagte ich: »Die zwei Bits -und nochmal zwei Dollar.« Delmore stieg aus. Jimmy stieg aus. Fastshoes sah mich an. »Was siehst du außer dem Rathaus noch, wenn du den Kopf aus dem Fenster steckst?« »Spiel du nur dein Blatt. Ich bin nicht hier, um über Kopfverrenkungen oder die schöne Aussicht zu schwafeln.« »Okay«, sagte er, »ich bin draußen.« Ich raffte das Geld zusammen und sammelte die Karten ein. Meine ließ ich umgedreht liegen. »Was hast du denn gehabt?« fragte Fastshoes. »Wer sehn will, muss zahlen.« Ich rührte meine Karten unter die anderen, mischte, kam mir vor wie Gable, ehe ihm Gott beim großen Erdbeben von San Francisco den Schneid abkaufte. Die Karten wurden nun reihum von den anderen gegeben, doch mein Glück blieb mir die meiste Zeit treu. Im Flugzeugwerk war Zahltag gewesen. Einem armen Mann soll man nie mit viel Geld auf die Bude rücken. Er kann nur das bißchen verlieren, was er hat. Während er andererseits alles gewinnen kann, was man mitbringt. Geld und einen armen Mann sollte man nie zu nahe zusammenbringen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies meine Nacht sein sollte. Delmore hatte bald genug und ging. »Leute«, sagte ich, »ich hab eine Idee. Mit Karten geht es zu langsam. Werfen wir doch einfach Münzen. Zehn Dollar pro Wurf. Die ungerade Zahl gewinnt.« »Mir recht«, sagte Jimmy. »Okay«, sagte Fastshoes. Der Whisky war alle. Wir tranken inzwischen eine Flasche von meinem billigen Wein. »Also«, sagte ich »Werft die Münzen hoch und fangt sie auf. Und wenn ich sage >Hand auf!< sehn wir nach, was jeder hat.« Wir warfen sie hoch und fingen sie auf. »Hand auf!« sagte ich. Ich hatte die ungerade Zahl. Shit, zwanzig Dollar! Einfach so. Ich stopfte mir die Zehner in die Tasche. »Hoch damit!« sagte ich. Wir warfen sie hoch. »Hand auf!« sagte ich. Ich hatte schon wieder gewonnen. »Hoch damit!« »Hand auf!« Diesmal gewann Fastshoes. Den nächsten Wurf gewann wieder ich. Dann hatte Jimmy einen Treffer. Ich gewann die nächsten beiden. »Augenblick«, sagte ich. »Ich muss mal pissen.« Ich ging ans Waschbecken und pinkelte. Wir hatten die Flasche Wein ausgetrunken. Ich öffnete die Schranktür. »Ich hab hier noch eine drin«, sagte ich zu den beiden. Ich nahm die meisten Scheine aus der Tasche und warf sie in den Schrank. Dann machte ich die Flasche auf und schenkte uns allen ein. »Scheiße«, sagte Fastshoes und sah in seine Brieftasche. »Ich bin fast pleite.« »Ich auch«, sagte Jimmy. »Ich frag mich, wer das ganze Geld hat«, sagte ich. Sie waren keine guten Trinker. Wein und Whisky durcheinander war schlecht für sie. Sie schwankten ein wenig. Fastshoes fiel gegen die Kommode und warf einen Aschenbecher herunter, der entzweiging. »Heb das auf«, sagte ich. »Einen Dreck heb ich auf«, sagte er. »Ich sagte: >Heb das auf!<« »Nix heb ich auf.« 162
Jimmy bückte sich und hob die Scherben auf. »Raus hier«, sagte ich zu den beiden. »Du kannst mich nicht dazu zwingen«, sagte Fastshoes. »Na schön«, sagte ich, »wenn du noch einmal den Mund aufmachst und einen einzigen Ton sagst, stopf ich dir den Kopf in den Arsch!« »Komm, Fastshoes. Gehn wir«, sagte Jimmy. Ich hielt ihnen die Tür auf, und sie wankten an mir vorbei. Ich folgte ihnen auf dem Flur bis zum Treppenabsatz. Dort blieben wir stehen. »Hank«, sagte Jimmy, »bis später mal. Mach's gut.« »Okay, Jim ...« »Hör mal«, sagte Fastshoes, »du ...« Ich knallte ihm eine rechte Gerade auf den Mund. Er fiel rückwärts die Treppe hinunter, drehte sich dabei um die eigene Achse und prallte von einigen Stufen ab. Er war ungefähr so groß wie ich, einsdreiundachtzig, und man konnte das Gepolter einen ganzen Block weit hören. Im Hausflur standen zwei Filipinos und die blonde Vermieterin. Sie sahen Fastshoes zu, wie er eine Bauchlandung machte, doch sie gingen nicht zu ihm hin. »Du hast ihn umgebracht!« sagte Jimmy. Er rannte die Treppe hinunter und drehte Fastshoes auf den Rücken. Fastshoes blutete aus Mund und Nase. Jimmy hielt ihm den Kopf und sah zu mir hoch. »Das war nicht recht, Hank ...« »So? Was willst du dagegen machen?« »Ich glaube«, sagte Jimmy, »wir kommen wieder rauf und schnappen dich ...« »Moment mal«, sagte ich. Ich ging zurück in mein Zimmer und schenkte mir einen Wein ein. Die Pappbecher, die Jimmy mitgebracht hatte, waren mir unsympathisch, deshalb hatte ich die ganze Zeit aus einem leeren Marmeladenglas getrunken. Das Etikett klebte noch dran, verschmutzt und voll Weinflecken. Ich ging damit hinaus. Fastshoes kam langsam zu sich. Jimmy half ihm gerade auf die Beine und legte sich seinen Arm um den Hals. Sie standen schwankend da. »Also«, sagte ich, »was wolltest du sagen?« »Du bist ein widerlicher Mensch, Hank. Dir gehört mal 'ne Lektion.« »Soll das heißen, ich seh nicht gut aus?« »Es soll heißen, du benimmst dich widerlich.« »Schaff deinen Freund da raus, eh ich runterkomme und ihm den Rest gebe!« Fastshoes hob sein blutiges Gesicht. Er hatte ein geblümtes Hawaii-Hemd an, dessen Farben jetzt zum Teil unter roten Placken verschwanden. Er starrte zu mir hinauf. Dann sagte er etwas. Es kam sehr leise heraus, aber ich hörte es. Er sagte: »Ich bring dich um ...« »Yeah«, sagte Jimmy. »Dich kriegen wir schon.« »Ach wirklich?« schrie ich. »Ihr Wichser! Ich geh nirgends hin! Ihr findet mich jederzeit in Zimmer fünf! Ich werde auf euch warten! Zimmer fünf! Könnt ihr euch das merken? Und die Tür lass ich offen!«
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Ich hob das Marmeladenglas voll Wein und trank es aus. Dann schleuderte ich es zu ihnen hinunter. Ich warf es mit ziemlicher Wucht, aber ich zielte schlecht. Es prallte an der Wand neben der Treppe ab und flog zwischen die Vermieterin und ihre beiden Filipino-Freunde. Jimmy drehte Fastshoes herum und bugsierte ihn langsam in Richtung Ausgang. Es war ein mühevoller, quälender Weg. Ich hörte Fastshoes noch einmal, halb stöhnend, halb schluchzend: »Ich bring ihn um ... ich bring ihn um . . .« Dann hatte ihn Jimmy draußen. Sie waren weg. Die blonde Vermieterin und die beiden Filipinos standen immer noch im Hausflur und sahen zu mir hoch. Ich war barfuss und hatte mich seit fünf oder sechs Tagen nicht mehr rasiert. Auch einen Haarschnitt hatte ich nötig. Ich fuhr mir nur morgens einmal durch die Haare und kümmerte mich dann nicht mehr darum. Meine Sportlehrer waren dauernd wegen meiner Haltung hinter mir her. »Die Schultern zurück! Warum starren Sie immer auf den Boden? Was gibt's denn da unten zu sehn?« Modische Trends würde ich auch nie bestimmen. Mein weißes T-Shirt hatte Weinflecken, war mit Blut und Kotter gesprenkelt und hatte zahlreiche Brandlöcher von Zigarren- und Zigarettenglut. Es war mir zu klein und reichte mir immer nur bis zum Nabel, so dass man meinen Bierbauch sah. Meine Hosen waren auch zu klein. Sie saßen sehr knapp, und ich schob Hochwasser. Die Drei standen da und sahen zu mir nach oben. »Hey«, rief ich zu ihnen hinunter, »kommt doch auf'n kleinen Drink hoch!« Die beiden kleinen Männer grinsten. Die Vermieterin, eine verblichene Carole-LombardType, verzog keine Miene. Mrs. Kansas wurde sie genannt. Konnte es sein, dass sie in mich verknallt war? Sie trug rosarote Stöckelschuhe und ein schwarzes Kleid mit Pailletten, die im elektrischen Licht glitzerten und zu mir hinaufblinkten. Ihr Busen war etwas, das ein bloßer Sterblicher niemals entblößt sehen würde — das war nur für Könige, Diktatoren, Herrscher. Und Filipinos. »Hat jemand was zu rauchen?« fragte ich. »Mir sind die Zigaretten ausgegangen.« Der eine dunkelhäutige Kerl machte eine kaum merkliche Handbewegung. Eine Packung Camel kam aus seiner Jackentasche und flog in die Luft. Geschickt fing er sie mit der anderen Hand auf. Ein unsichtbares Antippen mit dem Finger, und eine Zigarette rutschte aus der Packung, groß und echt und einzig und einladend. »Hey, Shit, vielen Dank«, sagte ich. Ich machte einen Schritt die Treppe hinunter, verfehlte die Stufe, kippte nach vorn, fiel beinahe auf die Nase, bekam das Treppengeländer zu fassen, richtete mich auf, nahm Maß und ging ohne weiteren Zwischenfall hinunter. War ich betrunken? Ich ging zu dem kleinen Kerl, der die Packung in der Hand hielt. Mit einer leichten Verbeugung nahm ich mir die Camel heraus. Ich warf sie in die Luft, fing sie auf und steckte sie mir in den Mund. Mein dunkelhäutiger Freund verzog keine Miene. Sein Grinsen war verschwunden, als ich oben an der Treppe ins Straucheln gekommen war. Er beugte sich nach vorn, hielt die Hände um eine Streichholzflamme und gab mir Feuer. Ich machte einen Zug. »Hört mal, warum kommt ihr nicht alle mit rauf in meine Bude, und wir trinken ein paar Gläser?« »Nein«, sagte der kleine Kerl, der mir Feuer gegeben hatte. »Vielleicht erwischen wir im Radio was von Bach oder Beethoven. Ich bin gebildet, müsst ihr wissen. Ich bin Student . . .« 164
»Nein«, sagte der andere kleine Kerl. Ich machte einen tiefen Lungenzug und sah mir dabei Carole Lombard an — Mrs. Kansas. Dann wandte ich mich wieder an meine beiden Freunde. »Ich spann sie euch nicht aus. Ich will sie nicht. Ihr könnt sie behalten. Kommt einfach mit rauf. Wir trinken ein bißchen Wein. Im guten alten Zimmer fünf.« Keine Antwort. Ich wippte ein bißchen auf den Zehen, während sich in mir Whisky und Wein darum balgten, wer wohl der Stärkere sei. Ich ließ mir die Zigarette aus dem rechten Mundwinkel baumeln und schickte eine Rauchwolke in die Luft. Die Zigarette ließ ich weiterbaumeln. Ich wusste, dass sie Stilette hatten. In der kurzen Zeit, die ich hier war, hatte ich schon zwei Erstochene erlebt. Eines Nachts hatte ich Sirenen gehört und aus dem Fenster geschaut, und genau unter mir auf dem Gehsteig hatte im Mondlicht ein regloser Körper gelegen. Zwei oder drei Tage später nochmal dasselbe. Die Nächte des Stiletts. Einmal ein Weißer, das andere Mal einer von ihnen. Jedes mal war Blut über das Pflaster geflossen, richtiges Blut, einfach so. Es floss in den Rinnstein, und man konnte sehen, wie es dort entlang kroch, sinnlos und dumpf. Erstaunlich, dass aus einem einzigen Mann soviel Blut kommen konnte. »Na schön, Freunde«, sagte ich zu ihnen. »Nichts für ungut. Dann trink ich eben alleine ...« Ich wandte mich ab und fing an, die Treppe hochzusteigen. »Mr. Chinaski«, hörte ich hinter mir die Stimme von Mrs. Kansas. Ich drehte mich um und sah sie an. Sie wurde immer noch flankiert von meinen kleinen Freunden. »Gehn Sie mal schön auf Ihr Zimmer und schlafen sich aus. Wenn Sie noch einmal solchen Ärger machen, rufe ich die Polizei.« Ich drehte mich um und ging hinauf. Nirgends eine Spur von Leben in dieser Stadt, in dieser Bruchbude, in dieser müden, ausgelaugten Existenz ... Meine Tür stand offen. Ich ging ins Zimmer. Die Flasche mit dem billigen Wein war nur noch zu einem Drittel voll. Hatte ich vielleicht noch eine im Schrank? Ich öffnete die Schranktür. Keine Flasche. Aber überall Zehn- und Zwanzig-Dollar-Scheine. Ein gerollter Zwanziger lag zwischen zwei schmutzigen Socken mit Löchern in den Zehen. Über einem Hemdkragen hing ein Zehner, und in der ausgebeulten Tasche einer alten Jacke hatte sich ein weiterer Zehner verfangen, doch das meiste Geld lag auf dem Boden. Ich hob einen Schein auf, steckte ihn in die Hosentasche, ging aus der Tür, schloss sie hinter mir ab und ging hinunter in die Bar.
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Ein paar Tage später kam Becker gegen Abend vorbei. Meine Adresse hatte er wohl von meinen Eltern oder vom College bekommen. Bei der Arbeitsvermittlung im College stand ich unter der Rubrik »Ungelernte Arbeitskräfte« in der Kartei. »Ich nehme jede Arbeit an, ob
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ehrlich oder nicht«, hatte ich dort angegeben. Keine Angebote. Becker setzte sich auf einen Stuhl, und ich schenkte uns einen Wein ein. Er trug eine Uniform. Marine-Infanterie. »Ich sehe, du bist ihnen auf den Leim gekrochen«, sagte ich. »Ich hab meinen Job bei der Western Union verloren. Und was anderes gab es nicht.« Ich reichte ihm sein Glas. »Dann bist du also kein Patriot?« »Ach Gott, nein.« »Warum bist du ausgerechnet zu den Ledernacken?« »Ich hab gehört, wie es bei denen in der Grundausbildung zugeht. Ich wollte sehen, ob ich es durchstehe. « »Und das hast du.« »Ja. Manche von den Kerlen sind total verrückt. Fast jeden Abend gibt es eine Schlägerei. Niemand geht dazwischen. Sie bringen sich beinah gegenseitig um.« »Find ich gut.« »Dann mach doch mit.« »Ich will nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehn müssen, und rumkommandieren lass ich mich auch nicht gern.« »Wie willst du hier über die Runden kommen?« »Ich weiß nicht. Wenn ich pleite bin, geh ich einfach rüber zu den Pennern.« »Bei denen gibt es aber gefährliche Spinner.« »Die gibt es überall.« Ich schenkte Becker noch ein Glas ein. »Das Problem ist«, sagte er, »dass mir jetzt kaum noch Zeit zum Schreiben bleibt.« »Willst du immer noch Schriftsteller werden?« »Na sicher. Und du?« »Schon«, sagte ich, »aber es ist ziemlich aussichtslos.« »Du meinst, du bist nicht gut genug?« »Nein, die sind nicht gut genug.« »Wen meinst du damit?« »Liest du nicht die Zeitschriften? Die Sammelbände mit den >besten Short-Stories des Jahres Es gibt mindestens ein Dutzend davon.« »Ja, sicher les ich sie ...« »Liest du den >New Yorker >Harper's >The Atlantic« »Ja ...« »Wir haben 1940, und die drucken immer noch Sachen wie aus dem 19. Jahrhundert. Umständlich, bemüht und gespreizt. Entweder man kriegt Kopfweh, wenn man das Zeug liest, oder man schläft dabei ein.« »Was stört dich denn wirklich daran?« »Es ist ein Trick. Ein Schwindel. Ein kleines Spielchen unter Insidern.« »Hört sich an, als hätten sie deine Sachen abgelehnt.« »Das weiß ich doch schon im voraus. Warum soll ich mein Geld für Briefmarken verschwenden? Ich brauch es für Wein.« »Ich werde es schaffen«, sagte Becker. »Eines Tages siehst du meine Bücher in den Bibliotheken.« »Komm, reden wir nicht von Literatur.« »Ich hab dein Zeug gelesen«, sagte Becker. »Du bist zu verbittert. Du hast auf alles einen Hass.« »Lass uns von was anderem reden ...« »Jetzt nimm zum Beispiel mal Thomas Wolfe ...« »Ach scheiß doch auf Thomas
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Wolfe! Er hört sich an wie ' ne alte Frau am Telefon!« »Na gut, wer ist denn dein Star?« »James Thurber.« »Ach, der mit seinem Palaver aus den besseren Kreisen ...« »Der weiß wenigstens, dass alle spinnen.« »Thomas Wolfe steht mit beiden Beinen auf der Erde ...« »Nur Arschlöcher reden über Literatur ...« »Nennst du mich ein Arschloch?« »Ja.« Ich schenkte ihm und mir noch einen Wein ein. »Du bist ein Idiot, dass du diese Uniform angezogen hast.« »Erst sagst du Arschloch zu mir, und jetzt auch noch Idiot. Ich dachte, wir sind Freunde.« »Sind wir auch. Ich finde nur, du siehst dich nicht vor.« »Ich seh dich jedes mal mit einem Glas in der Hand. Nennst du das vielleicht dich vorsehen?« »Es ist der einzige Dreh, den ich kenne. Ohne die Trinkerei hätt' ich mir schon längst den Hals durchgeschnitten.« »Das ist doch Quatsch.« »Wenn mir etwas hilft, ist es kein Quatsch. Die Prediger auf dem Pershing Square haben ihren Gott, ich hab meinen. Ich trinke sogar sein Blut.« Ich hob mein Glas und trank es aus. »Du drückst dich bloß vor der Realität«, sagte Becker. »Und? Was spricht denn dagegen?« »Du wirst niemals ein Schriftsteller, wenn du dich vor der Realität drückst.« »Was redest du denn da? Genau das tun doch Schriftsteller!« Becker stand auf. »Schrei mich nicht an, wenn du mit mir redest.« »Was willst du denn? Dass ich dir meinen Schwanz zeige?« »Du hast ja gar keinen!« Ich überraschte ihn mit einer rechten Geraden, die ihn hinter dem Ohr traf. Das Glas flog ihm aus der Hand, und er stolperte durchs Zimmer. Becker war ein starker Kerl, viel stärker als ich. Er prallte gegen die Kommode, und als er sich umdrehte, verpasste ich ihm noch eine Rechte, diesmal auf den Backenknochen. Er taumelte auf das offene Fenster zu. Ich setzte nicht nach, weil ich fürchtete, er könnte aus dem Fenster fallen. Becker fing sich wieder und schüttelte den Kopf. »Schluss damit«, sagte ich. »Trinken wir noch ein bißchen was. Gewalt ekelt mich an.« »Okay«, sagte Becker. Er ging zum Tisch und nahm sein Glas in die Hand. Der billige Wein, den ich trank, hatte keine Korken, nur Schraubverschlüsse. Ich schraubte eine neue Flasche auf. Becker hielt mir sein Glas hin, und ich goss ihm ein. Dann goss ich auch mir etwas ins Glas und stellte die Flasche weg. Wir tranken aus. »Nichts für ungut«, sagte ich. »Nee, was soll's, Kumpel«, sagte Becker und stellte sein Glas hin. Im nächsten Augenblick boxte er mich in den Magen. Ich knickte ein, er drückte mir den Kopf herunter und stieß mir sein Knie ins Gesicht. Ich fiel auf die Knie. Das Blut lief mir aus der Nase und verkleckerte mir das ganze Hemd. »Gieß mir 'n Drink ein, Kumpel«, sagte ich. »Lass uns mal überlegen, ob es nicht auch anders geht.« »Steh auf«, sagte Becker, »das war erst ein Vorgeschmack. « 167
Ich stand auf und ging auf ihn los. Ich blockte seine Rechte mit dem Ellbogen ab und setzte ihm meine kurz und trocken auf die Nase. Er zuckte zurück. Jetzt hatten wir beide eine blutige Nase. Ich setzte nach. Wir schlugen blind drauflos. Er landete ein paar gute Treffer bei mir und boxte mir noch einmal die Rechte in den Magen. Ich knickte ein, kam aber mit einem Uppercut hoch, der voll traf. Es war ein wunderschöner Schlag. Ein Glückstreffer. Becker taumelte rückwärts an die Kommode. Sein Kopf knallte gegen den Spiegel, der in Scherben ging. Becker war benommen. Ich hatte ihn soweit. Ich packte ihn vorne am Hemd und drosch ihm die Rechte hinters Ohr. Er fiel auf die Knie und stützte sich mit den Händen ab. Ich ging an den Tisch und goss mir etwas wackelig einen Drink ein. »Becker«, sagte ich, »ich teile hier ungefähr zweimal in der Woche aus. Du hast einen schlechten Tag erwischt. « Ich leerte mein Glas. Becker stand auf. Er sah mich eine Weile an. Dann kam er auf mich zu. »Becker«, sagte ich, »hör mal ...« Er täuschte eine rechte Gerade an, nahm sie zurück und knallte mir die Linke auf den Mund. Wir fingen wieder an. Es wurde nicht viel abgeblockt, nur eisern draufgeschlagen. Er drosch mich rückwärts über einen Stuhl, der unter mir in Stücke ging. Ich stand auf und erwischte ihn, als er nachsetzen wollte. Er prallte mit dem Rücken an die Wand, dass die ganze Bude zitterte. Er federte zurück, seine Rechte traf mich mitten auf die Stirn, und ich sah bunte Blitzlichter: grün, gelb, rot... Dann schlug er mir einen linken Haken auf die kurzen Rippen und eine rechte Gerade ins Gesicht. Ich schlug zurück und verfehlte ihn. Verdammt, dachte ich, hört denn niemand diesen Krach? Warum kommen sie nicht rein und machen der Sache ein Ende? Warum rufen sie nicht die Polizei? Becker griff schon wieder an. Ich schlug einen rechten Schwinger ins Leere, und dann ging ich k.o. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Ich lag unter dem Bett. Nur noch mein Kopf ragte heraus. Ich musste mich wohl da unten verkrochen haben. Ich war ein Feigling. Ich hatte mich von oben bis unten vollgekotzt. Ich kroch unter dem Bett hervor. Ich sah mir den zerbrochenen Stuhl und die Scherben des Spiegels an. Der Tisch war umgestürzt. Ich versuchte, ihn wieder hinzustellen. Er klappte zusammen: Zwei Tischbeine waren angeknackst. Ich versuchte sie zu richten, so gut ich konnte, stellte den Tisch auf, er blieb einen Augenblick stehen, dann fiel er wieder um. Der Teppich war nass von Wein und Kotter. Ich sah eine Weinflasche am Boden liegen. Es war noch ein bißchen drin. Ich trank es und sah mich nach mehr um. Nichts. Es gab nichts mehr zu trinken. Ich machte die Kette an die Tür. Ich entdeckte eine Zigarette, zündete sie mir an, stellte mich ans Fenster, sah hinunter auf die Temple Street. Es war eine angenehme Nacht draußen. Dann klopfte jemand an die Tür. »Mr. Chinaski?« Es war Mrs. Kansas. Sie war nicht allein. Ich hörte flüsternde Stimmen. Sie hatte ihre kleinen dunkelhäutigen Freunde dabei. »Mr. Chinaski?« »Ja?« »Ich möchte mal in Ihr Zimmer.« »Wozu?« »Die Bettwäsche wechseln.« »Das geht nicht. Mir ist schlecht.« »Ich will nur die Bettwäsche wechseln. Es dauert nur ein paar Minuten.« »Nein, Sie können jetzt nicht rein. Kommen Sie morgen früh.« Ich hörte, wie sie tuschelten. Dann gingen sie den Flur hinunter. Ich setzte mich aufs Bett. Ich brauchte dringend einen Schluck. Es war Samstagnacht, und die ganze Stadt war betrunken. 168
Vielleicht konnte ich mich unbemerkt verdrücken ? Ich ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt, ließ die Kette dran und spähte hinaus. Auf der obersten Treppenstufe kniete ein Filipino mit einem Hammer in der Hand. Es war einer der beiden Freunde von Mrs. Kansas. Er schaute hoch, grinste mich an und schlug einen Nagel in den Teppichläufer, als müsse er ein loses Ende befestigen. Ich machte die Tür zu. Ich ging im Zimmer auf und ab und überlegte, wie ich zu einem Drink kommen sollte. Warum konnten alle auf der Welt etwas zu trinken bekommen, nur ich nicht? Wie lange würde ich in diesem Zimmer noch ausharren müssen? Ich machte noch einmal die Tür auf. Wieder dasselbe. Er schaute hoch, grinste mich an und schlug wieder einen Nagel ein. Ich drückte die Tür zu. Ich holte den Koffer vom Schrank und fing an, meine paar Sachen hineinzuwerfen. Von meinem Spielgewinn hatte ich noch einiges übrig, aber ich wusste, dass ich damit den Schaden an der Einrichtung niemals bezahlen konnte. Ich wollte es auch gar nicht. Es war wirklich nicht meine Schuld gewesen. Sie hätten die Schlägerei ja stoppen können. Und den Spiegel hatte Becker zerbrochen. Meine Sachen waren gepackt. Ich hatte den Koffer in der einen Hand, die Reiseschreibmaschine in der anderen. Vor der Tür blieb ich eine Weile stehen. Ich sah hinaus. Er war immer noch da. Ich machte die Kette ab. Dann riss ich die Tür auf, stürzte hinaus und rannte zur Treppe. »Hey! Wo willst du hin?« fragte der kleine Kerl. Er kniete noch halb am Boden und begann den Hammer zu heben. Ich schwang die Schreibmaschine und knallte sie ihm seitlich an den Kopf. Es gab ein fürchterliches Geräusch. Dann war ich die Treppe hinunter, rannte durch den Hausflur und hinaus auf die Straße. Vielleicht hatte ich den Kerl umgebracht. Ich lief die Temple Street hinunter. Nach einer Weile sah ich ein Taxi. Es war leer. Ich warf mich hinein. »Bunker Hill«, sagte ich. »Schnell!«
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Am Fenster einer Pension sah ich ein Schild: Zimmer frei. Ich ließ den Fahrer halten, gab ihm sein Geld, ging ein paar Stufen hoch und drückte auf die Klingel. Von meinem Boxkampf hatte ich ein blaues Auge und an der anderen Augenbraue einen Riss, meine Nase war geschwollen, meine Lippen waren aufgeplatzt. Mein linkes Ohr war knallrot, und wenn ich es anfasste, durchzuckte mich jedes mal ein stechender Schmerz. Ein alter Mann kam an die Tür. Er trug ein Unterhemd, dem man ansah, dass er Chili und Bohnen gegessen hatte. Sein Haar war grau und ungekämmt, er hatte eine Rasur nötig, und er paffte eine nasse Zigarette, die stank. »Sind Sie der Besitzer?« fragte ich. »Yep.« »Ich brauche ein Zimmer.« 169
»Haben Sie Arbeit?« »Ich bin Schriftsteller.« »Sie sehn nicht wie ein Schriftsteller aus.« »Wie sehn die denn aus?« Er antwortete nicht. Dann sagte er: »Zweifünfzig die Woche.« »Kann ich mir's mal ansehen?« Er rülpste. »Kommen Sie mit«, sagte er. Wir gingen durch einen langen Flur. Einen Teppichläufer gab es hier nicht. Die Dielen quietschten bei jedem Schritt und bogen sich durch. Aus einem der Zimmer hörte ich eine männliche Stimme: »Lutsch mir einen runter, du Stück Scheiße!« »Drei Dollar«, sagte eine Frauenstimme. »Drei Dollar? Dir ramponier ich gleich den Arsch!« Er verpasste ihr eine kräftige Ohrfeige. Sie kreischte. Wir gingen weiter. »Das Zimmer liegt hinten auf dem Hof«, sagte der Alte. »Aber Sie können das Bad hier im Haus benutzen. « Hinten gab es einen Schuppen mit vier Eingängen. Er ging zur Tür Nr. 3 und machte sie auf. Wir gingen hinein. Ich sah eine Pritsche mit einer Wolldecke, eine kleine Kommode und einen Hocker mit einem Elektrokocher. »Sie haben hier eine elektrische Kochplatte«, sagte er. »Sehr schön.« »Zweifünfzig. Im voraus.« Ich gab ihm das Geld. »Die Quittung gebe ich Ihnen morgen früh.« »Is gut.« »Wie heißen Sie?« »Chinaski.« »Ich bin Connors.« Er machte einen Schlüssel von seinem Bund ab und gab ihn mir. »Wir halten hier auf Ruhe und Ordnung. Ich möchte, dass es auch so bleibt.« »Klar.« Ich machte die Tür hinter mir zu. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Eigentlich war das Zimmer ganz ordentlich. Nicht übel. Ich ging hinaus, schloss hinter mir ab, verließ den Hinterhof und ging durch eine Gasse. Ich hätte dem Kerl nicht meinen richtigen Namen sagen sollen, dachte ich. Es könnte sein, dass ich meinen kleinen dunkelhäutigen Freund drüben in der Temple Street erledigt habe ... Ich erreichte einen steilen Abhang, an dem eine Holztreppe hinunter zur Straße führte. Ziemlich romantisch. Ich ging unten lang, bis ich einen Spirituosenladen entdeckte. Ich würde also doch noch zu meinem Drink kommen. Ich ließ mir zwei Flaschen Wein geben, und da ich mich hungrig fühlte, erstand ich auch noch einen großen Beutel Kartoffelchips.
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Wieder zurück in meiner Bude, zog ich mich aus, setzte mich auf die Pritsche, lehnte mich an die Wand, zündete eine Zigarette an und goss mir ein Glas Wein ein. Ich fühlte mich wohl. Es war still hier auf dem Hof. Aus den Zimmern in meinem Schuppen hörte ich keinen Laut. Ich musste pissen, also zog ich meine Unterhose an, ging hinter den Schuppen und ließ es plätschern. Von hier oben konnte man die ganzen Lichter der Stadt sehen. Los Angeles war eine gute Gegend. Es gab hier eine Menge armer Leute, unter denen man sich leicht verlieren konnte. Ich ging zurück ins Zimmer und setzte mich wieder auf die Pritsche. Solange man Wein und Zigaretten hatte, konnte man immer durchhalten. Ich trank mein Glas aus und schenkte mir nach. Vielleicht konnte ich mich durchmogeln. Ein Acht-Stunden-Tag war unmöglich, auch wenn sich fast alle anderen damit abfanden. Und der Krieg, alle redeten vom Krieg in Europa. Ich interessierte mich nicht für die Geschicke der Welt, nur für mein eigenes. Was für ein Mist: Die Eltern pissten auf einen und hatten einen unter der Fuchtel, bis man erwachsen war, und kaum schickte man sich an, auf eigenen Beinen zu stehen, da wollten einen andere in eine Uniform stecken, damit man sich totschießen lassen konnte. Der Wein schmeckte hervorragend. Ich trank noch ein Glas. Der Krieg. Hier saß ich und hatte noch nicht einmal meine Unschuld verloren. Konnte man sich vorstellen, in einem Krieg das Leben zu verlieren, ehe man überhaupt wusste, was eine Frau war? Ehe man sein erstes Auto besaß? Was würde ich denn verteidigen? Andere. Andere, die sich einen Dreck um mich scherten. In einem Krieg zu sterben hatte noch nie den nächsten verhindert. Ich konnte es schaffen. Ich konnte Trinkwettbewerbe gewinnen, ich konnte im Glücksspiel etwas anschaffen. Vielleicht konnte ich auch ein paar Raubüberfälle machen. Ich verlangte nicht viel. Nur, dass man mich in Ruhe ließ. Ich leerte die erste Flasche und machte mich an die zweite. Als ich sie halb leer hatte, hörte ich auf und legte mich lang. Meine erste Nacht in der neuen Wohnung. Alles war in Ordnung. Ich schlief ein. Ich wurde wach, als sich ein Schlüssel in der Tür drehte. Dann ging die Tür auf. Ich fuhr hoch. Ein Mann machte Anstalten hereinzukommen. »Hau bloß ab hier!« schrie ich. Im Nu war er weg. Ich hörte ihn davonrennen. Ich stand auf und knallte die Tür zu. Es gab solche Leute. Sie mieteten sich ein Zimmer, zahlten keine Miete mehr, und wenn sie rausgeworfen wurden, nahmen sie den Schlüssel mit. Sie schlichen sich zum Übernachten zurück, wenn das Zimmer leer stand, oder sie räumten die Bude aus, wenn der neue Mieter gerade nicht da war. Nun, der da würde nicht wiederkommen. Er wusste, was ihm blühte, falls er es versuchte. Ich setzte mich wieder auf meine Pritsche und trank noch ein Glas. Ich war ein bißchen nervös. Ich würde mir hier ein Messer zulegen müssen. Ich trank das Glas aus, schenkte mir nach, trank auch das und legte mich wieder schlafen.
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Eines Tages wurde ich von Mrs. Curtis aufgefordert, nach dem Englischkurs noch zu bleiben. Sie hatte großartige Beine und lispelte, und diese Kombination machte mich irgendwie scharf. Sie war etwa zweiunddreißig und sehr kultiviert, doch wie alle anderen war auch sie eine gottverdammte Linksliberale, und das erforderte nicht viel Originalität oder Anstrengung, es war nichts als eine abgöttische Nachahmung von Franky Roosevelt. Ich mochte Franky wegen seiner Maßnahmen für die Armen während der Wirtschaftskrise und auch wegen seines Stils, aber ich glaube, die Armen waren ihm in Wirklichkeit völlig egal. Immerhin, er war ein bemerkenswerter Schauspieler, hatte eine prachtvolle Stimme und einen erstklassigen Redenschreiber. Doch er wollte uns unbedingt in diesen Krieg hineinziehen. Das würde ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Präsidenten, die einen Krieg führten, bekamen mehr Machtbefugnisse und hinterher mehr Seiten im Geschichtsbuch. Mrs. Curtis war genau so eine wie der alte Franky, nur dass sie die besseren Beine hatte. Der arme Franky konnte mit seinen Beinen nichts mehr anfangen, aber dafür hatte er einen unglaublichen Verstand. In einem anderen Land hätte er ein mächtiger Diktator sein können. Als alle draußen waren, ging ich zu Mrs. Curtis nach vorn ans Pult. Sie schaute hoch und lächelte mich an. Ich hatte viele Stunden nur ihre Beine angestarrt, und das wusste sie auch. Sie wusste, was ich wollte, und dass mir ihr Lehrstoff nichts zu bieten hatte. Sie hatte nur einmal etwas gesagt, das mir in Erinnerung geblieben war. Es war offensichtlich nicht auf ihrem Mist gewachsen, aber es gefiel mir: »Man kann die Dummheit des breiten Publikums gar nicht überschätzen.« »Mr. Chinaski«, sagte sie jetzt, »wir haben in diesem Kurs gewisse Studenten, die glauben, sie wüssten schon alles.« »Ja?« »Mr. Feiton hält sich für besonders schlau.« »Wenn Sie meinen.« »Was stört Sie denn hier?« »Wie?« »Etwas stört Sie doch anscheinend ...« »Kann schon sein.« »Sie werden nach diesem Semester abbrechen, habe ich recht?« »Wie haben Sie das erraten?« Ich hatte mich von ihren Beinen bereits verabschiedet. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass das College nur ein Ort war, wo man sich herumdrückte. Es gab einige ewige Studenten, die gar nicht mehr weg wollten. Das College war eine durch und durch schlappe Szene. Man bekam hier nie gesagt, was einen draußen in der harten Wirklichkeit erwartete. Sie stopften einen mit theoretischem Zeug voll, aber sie sagten einem nicht, wie hart das Straßenpflaster war. Ein College-Studium konnte einen Menschen für den Rest seines Lebens kaputtmachen. Die Bücher gaukelten einem vor, das Leben sei leicht. Wenn man sie weglegte und wirklich da raus ging, musste man etwas wissen, was man hier nie erfahren hatte. Ich hatte beschlossen, nach diesem Semester auszusteigen und mich mit Stinky und der Bande herumzutreiben.
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Vielleicht würde ich an jemanden geraten, der genug Mumm hatte, um einen Spirituosenladen zu überfallen. Oder besser noch - eine Bank. »Ich wusste, dass Sie aufhören würden«, sagte sie leise. »Erst mal richtig anfangen, würde ich eher sagen.« »Es wird Krieg geben. Haben Sie >Sailor Off The Bremen< gelesen?« »Das Zeug aus dem >New Yorker< gibt mir nichts.« »Sie müssen aber solche Sachen lesen, wenn Sie verstehen wollen, was heute vorgeht.« »Das finde ich nicht.« »Sie rebellieren immer nur gegen alles. Wie wollen Sie im Leben durchkommen?« »Ich weiß nicht. Ich fühl mich jetzt schon schlapp.« Mrs. Curtis betrachtete lange die Platte ihres Pults. Dann sah sie wieder zu mir hoch. »Wir werden in den Krieg hineingezogen, so oder so. Werden Sie sich freiwillig melden?« »Das spielt doch keine Rolle. Vielleicht ja, vielleicht nicht.« »Sie würden einen guten Matrosen abgeben.« Ich lächelte. Ich überlegte, wie ich mich als Matrose fühlen würde und entschied mich dagegen. »Sie müssten nur noch ein Semester durchhalten«, sagte sie, »dann könnten Sie alles haben, was Sie wollen.« Sie sah mich an, und ich wusste genau, was sie damit sagen wollte. Und sie wusste, dass ich es wusste. »Nein«, sagte ich. »Ich mach hier Schluss.« Ich ging zur Tür, blieb stehen, drehte mich um und nickte ihr flüchtig zum Abschied zu. Dann ging ich draußen unter den Bäumen des Campus entlang. Überall sah man Pärchen. Mrs. Curtis saß allein an ihrem Pult, und ich ging hier allein vor mich hin. Was für ein großer Triumph wäre es doch gewesen, diese lispelnden Lippen zu küssen und diese prachtvollen Beine auseinander zu drängeln, während sich Hitler ganz Europa krallte und seinen Blick gierig auf London richtete ... Ich lief eine Weile herum, dann ging ich in Richtung Turnhalle, um meinen Spind auszuräumen. Keine Rumpfbeugen mehr für mich. Dauernd redeten sie davon, wie gut und sauber der Geruch von frischem Schweiß sei. Sie mussten immer eine Entschuldigung dafür suchen. Keiner redete je davon, wie gut und sauber der Geruch von frischer Scheiße war. Dabei war doch nichts so erhebend wie ein anständiger Bierschiss nachdem man in der Nacht zuvor zwanzig oder fünfundzwanzig Glas geleert hatte. Ein solcher Bierschiss verbreitete einen Geruch, der sich gut anderthalb Stunden hielt. Er machte einem bewusst, dass man richtig lebendig war. Ich schloss meinen Spind auf, nahm Trainingsanzug und Turnschuhe heraus und warf sie in die Mülltonne. Und zwei leere Weinflaschen hinterher. Dem nächsten, der meinen Spind bekommen würde, wünschte ich viel Glück. Vielleicht brachte er es einmal zum Bürgermeister von Boise, Idaho. Ich machte das Vorhängeschloss ab und warf es ebenfalls in den Müll. Seine Zahlenkombination hatte ich nie gemocht: 1-2-1-1-2. Das verlangte einem geistig nicht viel ab. Die Hausnummer meiner Eltern war 2122. Alles so kleinkariert. Im R. O.T.C. war es auch nur bis vier gegangen: »Links-zwo-drei-vier, links-zwo-drei-vier!« Vielleicht würde ich mich eines Tages mal auf fünf verbessern . ..
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Ich verließ die Turnhalle und nahm eine Abkürzung zwischen den Sportplätzen. Auf dem einen Feld spielten sie gerade Touch-Football. Ich machte einen Bogen um den Platz. Da hörte ich Baldy rufen: »Hey, Hank!« Ich sah nach oben. Er saß mit Monty Ballard auf der Tribüne. Mit Ballard war nicht viel los. Das einzig Gute an ihm war, dass er nur den Mund aufmachte, wenn er etwas gefragt wurde. Ich fragte ihn nie etwas. Er besah sich nur das Leben, sah durch seine schmutzig-gelben Haarsträhnen und sehnte sich danach, einmal Biologe zu werden. Ich winkte ihnen zu und ging weiter. »Komm rauf, Hank!« schrie Baldy. »Es ist wichtig!« Ich ging zu ihnen hinauf. »Was ist denn?« »Hock dich hin. Sieh dir mal den bulligen Kerl da im Trainingsanzug an.« Ich schaute aufs Feld. Es gab nur einen, der im Trainingsanzug war. Er trug Rennschuhe mit Spikes. Er war nicht groß, aber sehr kräftig gebaut. Erstaunlicher Bizeps, gewaltige Schultern, Stiernacken, kurze stämmige Beine. Sein Haar war schwarz, sein Gesicht fast platt, er hatte einen kleinen Mund, nicht viel Nase, und wo seine Augen saßen, musste man raten. »Hey«, sagte ich, »von dem hab ich schon gehört.« »Schau ihm mal zu«, sagte Baldy. Sie hatten vier Spieler in jeder Mannschaft. Der Ball kam nach hinten, und der Quarterback büchste seitwärts aus, um einen Pass zu werfen. King Kong jr. spielte Verteidiger, ungefähr in Halfback-Position. Einer der Angreifer lief weit nach vorn, ein anderer kurz. Der Center blockte ab. King Kong jr. senkte die Schultern und rannte auf den Kerl zu, der Short spielte. Er hechtete ihm mit der Schulter in die Magengrube und schleuderte ihn zu Boden. Dann drehte er sich um und trottete davon. Der Spieler, der weit nach vorne gelaufen war, bekam den Pass und machte einen Touchdown. »Siehst du?« sagte Baldy. »King Kong ...« »King Kong spielt überhaupt nicht Football. Er sucht sich nur in jedem Spiel einen Kerl raus und rammt ihn in den Boden.« »Man kann keinen umrennen, eh er den Ball gefangen hat«, sagte ich. »Das ist gegen die Regeln.« »Wer soll ihm das beibringen?« fragte Baldy. »Wie wär's mit dir?« fragte ich Ballard. »Nee«, sagte Ballard. Das Team von King Kong machte den Kick-Off, und er konnte jetzt legal blocken. Er nahm sich den kleinsten Kerl auf dem Feld vor und hebelte ihn so brutal um, dass sich der Bursche mit dem Kopf zwischen den Beinen überschlug. Der Kleine kam nur mühsam wieder hoch. »Dieser King Kong ist nicht normal«, sagte ich. »Wie hat der je die Aufnahmeprüfung geschafft?« »Hier gibt's doch keine.« King Kongs Mannschaft nahm Aufstellung. Joe Stapen war der beste Spieler im gegnerischen Team. Er wollte einmal Psychiater werden. Er war ein sehniger Kerl von einsvierundachtzig und ein Draufgänger. Stapen und King Kong gingen aufeinander los. Stapen hielt sich ziemlich gut. Er ging nicht zu Boden. Im nächsten Spielzug gingen die beiden wieder aufeinander los. Diesmal prallte Joe ab und verlor ein wenig Boden. »Scheiße«, sagte Baldy, »Joe lässt nach.«
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Das nächste Mal ging Kong noch härter zur Sache. Joe drehte sich um die eigene Achse, Kong rammte ihm die Schulter in den Rücken und trieb ihn fünf oder sechs Yards zurück. »Das ist ja zum Kotzen!« sagte ich. »Der Kerl ist nichts als ein elender Sadist!« Baldy wandte sich an Ballard. »Was meinst du?« »Ja, er ist ein elender Sadist«, sagte Ballard. Im nächsten Spielzug nahm sich Kong wieder den Kleinsten auf dem Platz vor. Er rannte ihn einfach um, warf sich auf ihn und begrub ihn unter sich. Der Kleine blieb eine Weile regungslos liegen. Dann setzte er sich auf und hielt sich den Kopf. Es sah aus, als sei er erledigt. Ich stand auf. »Na, dann wollen wir mal«, sagte ich. »Schnapp dir diesen Drecksack!« sagte Baldy. »Klar«, sagte ich. Ich ging hinunter aufs Feld. »Hey! Braucht ihr 'n Spieler?« Der kleine Kerl stand auf und begann, vom Platz zu gehen. Als er auf meiner Höhe war, blieb er stehen. »Geh da nicht rein«, sagte er. »Der will unbedingt einen killen.« »Ist doch nur Touch-Football«, sagte ich. Wir waren am Zug. Ich stellte mich zu Joe Stapen und den anderen beiden Überlebenden, und wir steckten die Köpfe zusammen. »Was für 'ne Taktik spielt ihr?« fragte ich. »Wir können bloß noch auf Überleben spielen«, sagte Joe Stapen. »Wie steht die Partie?« »Ich glaub, die sind am Gewinnen«, sagte Lenny Hill, der Center spielte. Wir gingen auf unsere Plätze. Stapen stellte sich hinter Lenny und wartete auf den Ball. Ich stand Kong gegenüber. Ich hatte ihn noch nie auf dem Campus gesehen. Wahrscheinlich drückte er sich in der Turnhalle auf dem Klo herum. Er sah mir aus wie einer, der an Kacke schnuppert und zum Frühstück eine Frühgeburt verspeist. »Time!« rief ich. Lenny Hill ließ den Ball liegen und richtete sich auf. Ich sah Kong ins Gesicht und sagte: »Ich heiße Hank. Hank Chinaski. Journalismus.« Kong sagte nichts. Er starrte mich nur an. Seine Haut war perlweiß, und seine Augen waren stumpf und leblos. »Wie heißt du« fragte ich ihn. Keine Antwort. »Was ist denn? Steckt dir noch 'ne halbe Plazenta zwischen den Zähnen?« Kong hob langsam den rechten Arm, streckte ihn gerade und zeigte auf mich. Dann ließ er ihn wieder sinken. »Na, leck mich am Ärmel«, sagte ich, »was soll denn das bedeuten?« »Los, spielen wir endlich weiter«, sagte einer von Kongs Mannschaft. Lenny beugte sich über den Ball und schlenzte ihn durch die Beine nach hinten. Kong ging so blitzartig auf mich los, dass ich es gar nicht richtig mitbekam. Die Tribüne, ein Teil des Chemie-Gebäudes und einige Bäume verwackelten vor meinen Augen, als er auf mich prallte. 175
Er warf mich auf den Rücken, umkurvte mich und flappte die Arme, als hätte er Flügel. Benommen rappelte ich mich auf. Erst hatte mich Becker flachgelegt und jetzt auch noch dieser sadistische Affe. Er miefte. Er stank. Wahrhaftig ein übler Knochen. Stapen hatte einen Pass geworfen, der nichts brachte. Wir steckten wieder die Köpfe zusammen. »Ich hab 'ne Idee«, sagte ich. »Und die wäre?« fragte Joe. »Ich werf den Ball, und du blockst.« »Lassen wir's lieber, wie es ist«, sagte Joe. Wir gingen auf die Plätze. Lenny beugte sich über den Ball und schnalzte ihn nach hinten zu Stapen. Kong ging auf mich los. Ich senkte die eine Schulter und rammte ihn. Er war zu stark. Ich prallte ab, und als ich mich aufrichtete, hechtete er mir mit der Schulter in den Bauch. Ich fiel um. Ich sprang sofort wieder auf, aber mir war gar nicht danach. Ich hatte Atemschwierigkeiten . Stapen war ein kurzer Pass gelungen. Wir machten gleich weiter. Als der Ball nach hinten kam, gingen Kong und ich aufeinander los. Im letzten Augenblick machte ich einen Satz und warf mich auf ihn. Er ging unter meinem Gewicht zu Boden. Im Fallen trat ich nach ihm und traf ihn mit voller Wucht am Kinn. Wir lagen jetzt beide auf der Erde. Ich stand als erster auf. Als Kong hochkam, hatte er seitlich am Kinn eine Platzwunde, und Blut sickerte ihm aus dem Mundwinkel. Wir trabten zurück auf unsere Positionen. Der Pass von Stapen hatte uns nicht vorangebracht. Er ging nach hinten, um einen Kick zu machen. Kong ging in seiner Spielhälfte nach hinten, um seinen letzten Mann abzuschirmen. Der erwischte den Ball und rannte los. Kong vorneweg. Ich stürmte auf die beiden zu. Kong erwartete, dass ich wieder einen hohen Satz machen würde. Also tauchte ich diesmal ab und säbelte ihm die Beine weg. Er knallte mit dem Gesicht ins Gras. Er blieb wie betäubt liegen und streckte die Arme von sich. Ich rannte zu ihm hin, kniete mich auf ihn, drückte ihm von hinten den Hals zu und rammte ihm mein Knie ins Kreuz. »Hey, Kong. Alles in Ordnung, Kumpel?« Die anderen kamen angerannt. »Ich glaub, er hat sich weh getan«, sagte ich. »Komm, hilf mir mal einer. Wir müssen ihn vom Platz schleppen.« Stapen stützte ihn von der einen Seite, ich von der anderen, und so führten wir ihn zur Seitenlinie. Kurz davor täuschte ich ein Stolpern vor und trat ihn dabei voll an den Knöchel. »Oh laß mich doch in Ruhe«, sagte Kong. »Ich helf dir doch nur, Kumpel...« Als wir ihn an der Seitenlinie hatten, ließen wir ihn fallen. Er hockte da und wischte sich das Blut vom Mund. Dann griff er nach unten und betastete seinen Knöchel, der aufgeschürft war und bald anschwellen würde. Ich beugte mich zu ihm herunter. »Hey, Kong. Komm, machen wir das Spiel zu Ende. Wir liegen 7:42 hinten und brauchen 'ne Chance, damit wir aufholen können.« »Nee, ich hab jetzt gleich 'n Kurs.« »Ich hab gar nicht gewusst, dass man hier auch Hundefänger lernen kann.« »Es ist English Lit I.« »Is ja praktisch dasselbe. Na schön, dann helf ich dir jetzt rüber in die Turnhalle und stell dich unter die Dusche. Was meinst du?« »Nee, bleib mir bloß weg.« Kong stand auf. Er war ziemlich übel zugerichtet. Die gewaltigen Schultern hingen schlaff herunter, und sein Gesicht war verschmutzt und blutig. Er humpelte ein paar Schritte. »Hey, Quinn«, sagte er zu einem aus seiner Mannschaft, »hilf mir mal...«
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Quinn packte ihn am Arm, und sie gingen langsam übers Spielfeld zur Turnhalle. »Hey, Kong!« schrie ich ihm nach. »Ich hoffe, du kommst nicht zu spät zu deinem Kurs! Sag Bill Saroyan einen Gruß von mir!« Die anderen standen um mich herum. Einschließlich Baldy und Ballard, die von der Tribüne heruntergekommen waren. Da hatte ich nun meine beste Vorstellung aller Zeiten gegeben, und weit und breit war kein hübsches Girl zu sehen. »Hat jemand was zu rauchen?« fragte ich. »Ich hab ein paar Chesterfields«, sagte Baldy. »Rauchst du immer noch diese Weiberzigaretten?« fragte ich. »Ich nehm eine«, sagte Joe Stapen. »Na schön«,sagte ich, »wenn's nichts anderes gibt...« Wir standen da und rauchten. »Wir sind immer noch genug für ein Spiel«, sagte einer. »Scheiß drauf«, sagte ich. »Ich kann Sport nicht leiden.« »Na, diesem Kong hast du's aber gegeben«, meinte Stapen. »Yeah«, sagte Baldy, »ich hab alles gesehen. Nur eins ist mir jetzt nicht mehr so klar.« »Was denn?« fragte Stapen. »Ich weiß nicht, wer von den beiden der Sadist ist.« »Tja«, sagte ich, »ich muss wieder los. Heute Abend zeigen sie einen Cagney-Film, da nehm ich meine Ische mit.« Ich ging über den Platz davon. »Du willst sagen, du nimmst deine rechte Hand mit ins Kino, was?« schrie mir einer der Kerle nach. »Alle beide«, rief ich über die Schulter nach hinten. Ich ging vom Platz, am Chemie-Gebäude entlang und über die große Rasenfläche des Campus. Da saßen sie, die Boys und Girls, auf Bänken, unter Bäumen oder im Gras. Mit ihren grünen und blauen und braunen Büchern. Sie unterhielten sich, lächelten einander an, lachten ab und zu. Ich ging hinüber zur Endstation der Linie »V«. Ich stieg ein, löste einen Fahrschein, setzte mich wie üblich in die letzte Reihe und wartete.
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Zur Vorbereitung auf mein weiteres Leben hielt ich mich an manchen Tagen schon mal im Pennerviertel auf. Es gefiel mir nicht, was ich dort zu sehen bekam. Diese Männer und Frauen zeichneten sich weder durch Courage noch durch besonderen Einfallsreichtum aus. Sie wollten dasselbe wie alle anderen. Es gab auch einige, die eindeutig klinische Fälle waren und frei herumlaufen durften. Es war mir schon aufgefallen, dass in den untersten und obersten Schichten der Gesellschaft die Irren oft ungeschoren blieben. Ich wusste, dass auch ich nicht ganz bei Verstand war. Schon seit meiner Kindheit war mir klar, dass an mir irgend etwas seltsam war. Ich hatte das Gefühl, als sei ich dazu bestimmt, entweder ein Mörder, Bankräuber 177
oder Frauenschänder zu werden oder ein Heiliger, ein Mönch, ein Einsiedler. Ich musste dringend einen Ort finden, wo ich ungestört blieb. Ein Leben bei den Pennern war zum Kotzen. Und das Leben des normalen Durchschnittsmenschen war stumpfsinnig und schlimmer als der Tod. Aber dazwischen schien es nichts zu geben. Auch Schulbildung war nur eine Falle. Das bißchen Bildung, das zu mir durchgedrungen war, hatte mich nur noch misstrauischer gemacht. Was waren denn Arzte, Anwälte, Wissenschaftler? Doch auch nur Menschen, die sich die Freiheit nehmen ließen, selbständig zu denken und zu handeln. Ich ging zurück in meinen Schuppen und trank. Wenn ich so herumsaß und trank, dachte ich oft an Selbstmord, doch dazu war mir mein Leben irgendwie zu schade. Es hatte eine Menge Schrammen, aber es gehörte mir. Manchmal sah ich in den Spiegel über der Kommode und sagte mir mit einem Grinsen: Wenn du schon abtreten willst, kannst du auch gleich acht oder zehn oder zwanzig von denen mitnehmen ... An einem Samstagabend im Dezember saß ich wieder mal in meiner Bude, trank viel mehr als gewöhnlich, rauchte eine Zigarette nach der anderen, dachte an Mädchen, an die Stadt, an Jobs und an die Jahre, die vor mir lagen. Soweit ich sehen konnte, hatte ich kaum etwas Erfreuliches zu erwarten. Ich war kein Menschenhasser, ich war auch kein Frauenfeind, aber ich blieb gern allein. Es war ein gutes Gefühl, allein in einer kleinen Bude zu sitzen, zu trinken und zu rauchen. Mit mir allein hatte ich mich noch nie gelangweilt. Da wurde nebenan das Radio angestellt. Viel zu laut. Eine ekelhafte Schnulze. »Hey, Mann!« schrie ich. »Stell das Ding leiser!« Keine Reaktion. Ich stand auf und hämmerte an die Wand. »Ich hab gesagt, stell das verdammte Ding leiser!« Es blieb so laut wie es war. Ich ging hinaus und stellte mich vor seine Tür. Ich hatte nur eine Unterhose an. Ich holte mit dem Fuß aus und trat die Tür ein. Auf der Pritsche lagen zwei Menschen: ein alter fetter Kerl und eine alte fette Frau. Sie fickten gerade. Auf dem Tisch brannte eine kleine Kerze. Der alte Kerl war obenauf. Er hörte auf und sah zu mir her. Die Frau spähte unter ihm hervor. Sie hatten die Bude ganz gemütlich hergerichtet, mit Vorhängen und einem kleinen Teppich. »Oh, Entschuldigung...« Ich machte die Tür zu und ging zurück in mein Zimmer. Es war mir entsetzlich peinlich. Die Armen hatten ein Recht auf einen ungestörten Fick, um ihre schlechten Träume vergessen zu können. Sex und Alkohol und vielleicht Liebe. Das war alles, was sie hatten. Ich setzte mich wieder und goss mir ein Glas Wein ein. Die Tür ließ ich offen. Das Mondlicht drang herein und die Geräusche der Großstadt — Jukebox Gedudel, Autos, Flüche, Hundegebell, Radios ... Wir waren alle zusammengesperrt, saßen alle in der gleichen Scheiße. Es gab kein Entrinnen. Wir würden den gleichen Weg wie die Scheiße nehmen. Eine kleine Katze blieb an der Tür stehen und sah zu mir herein. Ihre Augen phosphoreszierten im Mondschein. Feuerrot. Wunderschöne Augen. »Komm her, Miez ...« Ich streckte die Hand aus, als hielte ich ihr etwas zu fressen hin. »Miez, Miez ...« Die Katze lief weg. Ich hörte, wie nebenan das Radio abgestellt wurde. Ich leerte mein Glas und ging wieder hinaus. In meiner Unterhose, wie zuvor. Ich zog sie hoch und vergewisserte mich, dass nichts heraushing. Vor der Tür des Nebenzimmers sah ich, dass ich das Schloss zerbrochen hatte. Der Kerzenschein drang durch einen Spalt heraus. Sie hatten innen etwas gegen die Tür 178
gestemmt, wahrscheinlich einen Stuhl. Ich klopfte leise an. Keine Antwort. Ich klopfte noch einmal. Ich hörte etwas. Dann ging die Tür auf. Der alte fette Kerl stand da. Sein Gesicht bestand aus dicken Sorgenfalten. Man sah nichts als Augenbrauen und Schnurrbart und zwei traurige Augen. »Hören Sie«, sagte ich, »das von vorhin tut mir sehr leid. Wollen Sie und Ihre Freundin nicht auf einen Drink zu mir rüberkommen?« »Nein.« »Oder vielleicht kann ich Ihnen was zu trinken bringen?« »Nein«, sagte er. »Lassen Sie uns bitte in Ruhe.« Er machte die Tür zu. Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem meiner schlimmsten Kater. Ich schlief sonst immer bis Mittag, doch an diesem Tag gelang es mir nicht. Ich ging nach vorn in die Pension und machte mich im Badezimmer frisch. Dann ging ich durch die Gasse, die Holztreppe hinunter und auf die Straße. Sonntag. Der gottverdammt mieseste Tag von allen. Ich ging rüber zur Main Street. Eine Kneipe neben der anderen. Die Animierdamen saßen dicht beim Eingang, hatten die Röcke hoch und schlenkerten ihre Füße mit den Stöckelschuhen. »He, Schatz, komm doch rein!« Main Street. East 5th. Bunker Hill. Stinklöcher Amerikas. Nirgends etwas, das sich lohnte. Ich betrat eine Penny Arcade, lief herum, sah mir die Spielautomaten an, doch ich hatte keine Lust auf ein Spiel. Dann sah ich einen Marinesoldaten. Er stand an einem Flipper und ruckelte ihn mit beiden Händen, um die Kugel zu lenken. Ich ging hin, packte ihn hinten am Kragen und am Gürtel. »Becker! Ich verlange eine Revanche!« Ich ließ ihn los, und er drehte sich um. »Nee«, sagte er, »nichts zu machen.« »Wetten, dass ich dir zwei von drei Spielen abnehme?« »Quatsch«, sagte er. »Ich lad dich zu einem Drink ein.« Wir verließen den Spielsalon und gingen die Main Street entlang. Aus einer der Kneipen rief eine Animierdame heraus: »He, Soldat, komm rein!« Becker blieb stehen. »Ich geh rein«, sagte er. »Komm«, sagte ich, »das sind doch Kakerlaken in Menschengestalt.« »Ich hab grade meinen Sold kassiert.« »Die Girls trinken Tee, und dir tun sie Wasser in deine Drinks. Alles kostet das Doppelte, und das Girl kriegst du hinterher nicht mehr zu sehen.« »Ich geh rein.« Becker ging hinein. Einer der besten unveröffentlichten Autoren Amerikas, todesmutig und in vollem Wichs. Ich folgte ihm. Er ging zu einer der beiden Bardamen und sprach sie an. Sie zog den Rock hoch, schlenkerte ihre Stöckelschuhe und lachte. Sie gingen nach hinten und setzten sich in eine Nische. Der Barkeeper kam hinter dem Tresen hervor, um ihre Bestellung aufzunehmen. Das andere Girl an der Bar sah mich an. »Hey, Honey, willst du nicht auch ein bißchen rumspielen?«
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»Yeah, aber nur wenn's nach meinen Spielregeln geht.« »Hast du Angst? Oder bist du schwul?« »Sowohl als auch«, sagte ich und setzte mich ans andere Ende der Bar. Zwischen uns saß einer, der den Kopf auf dem Tresen hatte. Seine Brieftasche war weg. Wenn er aufwachte und sich beschwerte, würde ihn der Barkeeper an die Luft setzen oder die Polizei rufen. Der Barmann bediente Becker und das Girl, ging wieder hinter den Tresen und kam zu mir nach hinten. »Yeah?« »Nichts.« »So? Was wollen Sie dann hier drin?« »Ich warte auf meinen Freund«, sagte ich und nickte zur Nische hinüber. »Wer hier sitzen will, muss was trinken.« »Okay. Wasser.« Er ging weg, kam mit einem Glas Wasser zurück und stellte es vor mich hin. »Zwei Bits.« Ich schob ihm 25 Cents hin. »Der ist entweder schwul, oder er traut sich nicht«, sagte das Girl an der Bar zu ihm. Der Barkeeper sagte nichts. Nach einer Weile machte ihm Becker ein Zeichen, und er ging hin und nahm eine weitere Bestellung auf. Das Girl sah mich an. »Wieso bist du nicht in Uniform?« »Ich lauf nicht gern rum wie alle anderen.« »Hat das nicht noch andere Gründe?« »Die anderen Gründe gehn nur mich was an.« »Ach leck mich doch«, sagte sie. Der Barkeeper kam wieder an. »Sie brauchen noch was zu trinken.« »Okay«, sagte ich und schob ihm nochmals 25 Cents hin. Dann war ich mit Becker wieder draußen, und wir gingen weiter die Main Street entlang. »Wie war's?« fragte ich ihn. »Tja, zwei Runden Drinks, und der Tisch hat extra gekostet - zweiunddreißig Dollar, alles in allem.« »Mein Gott, davon könnt' ich mich zwei Wochen besaufen.« »Sie hat mir unterm Tisch an den Schwanz gelangt und dran gefummelt.« »Und was hat sie gesagt?« »Nichts. Sie hat mir nur am Schwanz gefummelt.« »Den würd ich mir lieber selber fummeln und die zweiunddreißig Dollar behalten.« »Aber sie war so schön.« »Menschenskind, ich lauf hier im Gleichschritt mit einem Vollidioten durch die Gegend!« »Eines Tages werde ich über alles schreiben. Es wird in den Bibliotheken im Regal stehen: BECKER. Unter >B< steht noch nicht viel. Die brauchen Verstärkung.« »Du redest mir zuviel von Literatur.«
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In der Nähe des Busbahnhofs fanden wir eine Bar, die kein Nepplokal war. Es gab nur den Barkeeper und fünf oder sechs Touristen. Alles Männer. Wir setzten uns. »Geht auf meine Rechnung«, sagte Becker. »Eastside. In der Flasche.« Becker bestellte zwei. Dann sah er mich an. »Komm schon, sei ein Mann, geh zum Militär. Melde dich zu den Ledernacken.« »Ich finde es nicht aufregend, ein Mann sein zu wollen.« »Aber du prügelst dich anscheinend ständig mit irgendeinem rum.« »Das mach ich nur zum Zeitvertreib.« »Lass dich doch anwerben. Dann hast du später was, worüber du schreiben kannst.« »Becker, es gibt immer etwas, über das man schreiben kann.« »Was willst du denn dann machen?« Ich zeigte auf meine Flasche und nahm sie in die Hand. »Wie willst du über die Runden kommen?« »Die Frage hör ich schon mein ganzes Leben.« »Naja, ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich werde alles ausprobieren. Krieg, Frauen, Reisen, Heirat, Kinder, alles. Sobald ich mein erstes Auto habe, werde ich es komplett auseinandernehmen und dann wieder zusammenbauen! Ich will Bescheid wissen, wie alles funktioniert. Ich würde gerne mal Korrespondent in Washington werden. Ich war gern an einem Ort, wo große Dinge passieren.« »Washington ist doch Krampf, Becker.« »Und Frauen? Heiraten? Kinder?« »Krampf.« »Yeah? Na, was willst du denn?« »Mich unsichtbar machen.« »Du armer Scheißer. Du brauchst noch ein Bier.« »Da hast du recht.« Das Bier kam. Wir saßen da und schwiegen. Ich spürte, dass Becker seinen Gedanken nachhing. Er malte sich wahrscheinlich aus, wie es bei den Ledernacken sein würde, was er alles schreiben würde, und was er im Bett erleben würde. Vermutlich würde ein guter Schriftsteller aus ihm werden. Er platzte vor Enthusiasmus, und wahrscheinlich konnte er allen möglichen Dingen etwas abgewinnen. Dem Flug eines Falken, dem gottverdammten Ozean, Vollmond, Balzac, Brücken, Theater, Pulitzerpreis, dem Klavierspiel und der gottverdammten Bibel. In der Bar gab es ein kleines Radio. Sie spielten gerade einen Schlager. Plötzlich wurde die Sendung unterbrochen, und man hörte den Ansager: »Soeben erreicht uns eine Meldung. Die Japaner haben Pearl Harbor bombardiert. Ich wiederhole: Die Japaner haben Pearl Harbor bombardiert. Alle Angehörigen der Streitkräfte werden aufgefordert, sich unverzüglich in ihren Standorten zu melden.« Wir sahen einander an und konnten kaum begreifen, was wir da gehört hatten. »Tja«, sagte Becker leise, »jetzt ist es soweit.« »Trink dein Bier aus«, sagte ich. Er trank einen Schluck. »Herrgott nochmal. Angenommen, irgendein blödes Arschloch schwenkt sein MG auf mich und drückt ab ...«
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»Das kann durchaus passieren.« »Hank ...« »Was?« »Fährst du mit mir bis zur Kaserne?« »Das kann ich nicht.« Der Barkeeper, ein Mann von etwa fünfundvierzig mit einem Schmerbauch und unsteten Augen, kam zu uns her. »Na, Soldat«, sagte er zu Becker, »sieht so aus, als ob du zurück in deine Kaserne musst, hm?« Das ärgerte mich. »Hey, Fettsack, lass ihn erst mal sein Bier trinken, ja?« »Aber sicher, klar ... wie wär's mit einem auf Kosten des Hauses, Soldat? Vielleicht ein ordentlicher Whisky?« »Nein«, sagte Becker, »schon gut.« »Na los«, sagte ich zu Becker, »nimm den Drink. Er denkt, du opferst dein Leben, um ihm seine Kneipe zu retten.« »Na gut«, sagte Becker, »ich nehm den Drink.« Der Barkeeper ignorierte mich und sah nur Becker an. »Du hast 'n ziemlich ruppigen Freund...« »Bring du ihm nur seinen Drink«, sagte ich. Die anderen im Lokal schnatterten aufgeregt über Pearl Harbor. Vorher hatten sie kein Wort miteinander geredet. Jetzt waren sie aufgescheucht: Die Horde war in Gefahr. Becker bekam seinen Drink. Es war ein doppelter Whisky. Er trank ihn herunter. »Ich hab dir das nie erzählt«, sagte er, »aber ich bin Vollwaise.« »Na, ich will verdammt sein ...« »Bringst du mich wenigstens an den Bus?« »Klar.« Wir standen auf und gingen zum Ausgang. Der Barkeeper wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. Er hatte die Schürze ganz zusammengeknüllt und rieb sich aufgeregt die Hände daran ab. »Viel Glück, Soldat!« schrie er. Becker ging hinaus. Ich blieb stehen und wandte mich zum Barkeeper um. »Im Ersten Weltkrieg dabei gewesen, hm?« »Yeah, yeah ...«, sagte er begeistert. Ich holte Becker ein. Halb im Laufschritt gingen wir gemeinsam zum Busbahnhof. Die ersten Jungs in Uniform trafen bereits ein. Der ganze Platz war in Aufregung. Ein Matrose rannte an uns vorbei. »Ich greif mir so 'n Japs und leg ihn um!« brüllte er. Becker stellte sich am Fahrkartenschalter an. Einer der Soldaten hatte seine Freundin dabei. Sie redete auf ihn ein, weinte, drückte sich an ihn, küsste ihn. Der arme Becker hatte nur mich. Ich stand etwas abseits und wartete. Es dauerte lange. Der Matrose, der vor einer Weile herumgebrüllt hatte, kam zu mir her. »Hey, Mann, willst du uns nicht helfen? Was stehst du hier rum? Warum gehst du nicht da runter und meldest dich freiwillig?« Er stank nach Whisky, hatte Sommersprossen und eine große Nase. »Du verpasst deinen Bus«, sagte ich. Er ging zu der Haltebucht, wo der Bus bereitstand. »Verrecken sollen sie, die gottverdammten Scheiß Japse!« rief er. 182
Endlich hatte Becker seine Fahrkarte. Ich begleitete ihn zum Bus. Dort musste er wieder anstehen. »Hast du noch einen guten Rat für mich?« fragte er. »Nein.« Langsam rückte die Reihe in den Bus vor. Das Mädchen weinte und redete hastig und leise auf den Soldaten ein. Dann war Becker an der Tür. Ich boxte ihn an die Schulter. »Du bist der Beste, den ich je gekannt habe.« »Danke, Hank ...« »Mach's gut...« Ich ging weg. Mit einem Mal waren die Straßen voll von Autos. Die Leute fuhren unbeherrscht, schrien sich gegenseitig an, fuhren bei Rot durch. Ich ging zurück zur Main Street. Amerika war im Krieg. Ich sah in meine Brieftasche: Ich hatte noch einen Dollar. Ich zählte mein Kleingeld: 67 Cents. Ich ging die Main Street entlang. Für die Animierdamen würde heute nicht viel abfallen. Plötzlich stand ich wieder vor der Penny Arcade. Es war niemand drin. Ich sah nur den Inhaber, der in seiner erhöhten Kabine stand. Ich ging hinein. Es herrschte dämmriges Licht in der Flipperdiele, und es stank nach Pisse. Ich ging durch die Reihen, an den ramponierten Spielautomaten entlang. Sie nannten es »Penny Arcade«, doch die meisten Spiele kosteten fünf Cents und manche sogar zehn. Ich blieb vor dem Box-Automaten stehen. Der hatte mir immer am besten gefallen. Zwei kleine Männer aus Eisen standen in einem Glaskasten, jeder mit einem Knopf am Kinn. An jeder Seite ragten zwei Handgriffe heraus, die Abzugshebel hatten wie Pistolengriffe. Wenn man die Hebel betätigte, schnellten die Arme des Boxers hoch und schlugen wilde Aufwärtshaken. Man konnte den Boxer vor und zurück bewegen, nach rechts und links. Wenn man den Knopf am Kinn des Gegners traf, fiel er nach hinten um und war k.o. Ich erinnerte mich, wie ich als Junge nach dem k.o.-Sieg von Max Schmeling über Joe Louis auf die Straße gerannt war und meinen Spielkameraden zugerufen hatte: »Hey, Max Schmeling hat Joe Louis k.o. geschlagen!« Keiner hatte etwas gesagt. Wortlos waren sie weggegangen und hatten die Köpfe hängen lassen. Für das Boxerspiel musste man zu zweit sein. Und mit dem Abartigen, dem der Laden gehörte, wollte ich nicht spielen. Doch dann sah ich einen kleinen Mexikaner von acht oder neun Jahren den Mittelgang herunterkommen. Er wirkte nett und intelligent, der Kleine. »Hey, Kid.« »Ja, Mister?« »Willst du 'ne Runde an dem Boxkasten mit mir spielen?« »Für umsonst?« »Klar. Ich bezahle. Such dir 'n Boxer aus.« Er lief um den Kasten und spähte durchs Glas. Er schien mit großem Ernst bei der Sache zu sein. Schließlich sagte er: »Okay, ich nehm den mit der roten Hose. Der sieht mir am besten aus.« »Na schön.« Der Junge stellte sich auf seine Seite und besah sich seinen Boxer durch die Glasscheibe. Dann schaute er zu mir hoch. »Mister, wissen Sie nicht, dass Krieg ist?« »Doch.« 183
Wir standen da. »Sie müssen Geld einwerfen«, sagte er. »Was machst du hier drin?« fragte ich ihn. »Warum bist du nicht in der Schule?« »Heut' ist doch Sonntag.« Ich warf zehn Cents ein. Der Junge drückte auf seine Abzugshebel, ich auf meine. Er hatte eine schlechte Wahl getroffen. Der linke Arm seines Boxers war beschädigt und kam nur noch halb hoch. Damit konnte er niemals den Knopf am Kinn meines Mannes treffen. Er konnte nur mit der Rechten schlagen. Ich beschloss, mir Zeit zu lassen. Mein Boxer trug eine blaue Hose. Ich bewegte ihn vor und zurück und ließ ihn plötzlich Ausfälle machen. Der Mexikanerjunge war fabelhaft. Er versuchte es immer wieder. Er ließ den linken Abzugshebel los und betätigte nur noch den für den rechten Arm. Ich ließ meinen Blauen beidhändig schlagend nach vorn preschen und eine schnelle Entscheidung suchen. Doch der Junge pumpte unentwegt den rechten Arm des Roten. Plötzlich fiel der Blaue um, als habe ihn der Blitz getroffen. Er machte ein schepperndes Geräusch. »Ich hab Sie, Mister«, sagte der Junge. »Du hast gewonnen«, sagte ich. Der Junge war begeistert. Immer wieder sah er den Blauen an, der platt auf dem Arsch lag. »Wollen Sie nochmal, Mister?« Ich zögerte, ohne recht zu wissen, warum. »Ist Ihr Geld schon alle, Mister?« »Oh ... nein.« »Okay, dann boxen wir doch!« Ich warf noch einmal zehn Cents ein, und der Blaue kam mit einem Satz auf die Beine. Der Junge drückte auf seinen rechten Abzugshebel, und der rechte Arm des Roten pumpte und pumpte. Ich hielt meinen Blauen eine Weile auf Distanz und überlegte. Dann nickte ich dem Jungen zu. Ich schob den Blauen nach vorn, mit pausenlosen Rechts-Links-Kombinationen. Ich hatte das Gefühl, unbedingt siegen zu müssen. Es schien sehr wichtig zu sein. Ich konnte mir nicht erklären, warum es mir so wichtig war, und ich fragte mich immer wieder: Warum kommt mir das eigentlich so wichtig vor? Und etwas anderes in mir antwortete: Weil es eben so ist. Da fiel der Blaue wieder nach hinten um und knallte hart auf den Boden. Wieder gab es dasselbe scheppernde Geräusch. Ich sah ihn an, wie er da auf dem Rücken lag, auf seiner kleinen grünen Samtmatte. Dann drehte ich mich um und ging hinaus.
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