Was verbergen die apokryphen Evangelien? Enthalten sie wichtige, neue Aussagen über Jesus? Enthüllen sie, was bisherverschwiegen wurde? Kompakt und seriös informiert dieses Buch über eine Fülle außerkanonischer Jesusüberlieferungen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt bei den Mitte des 20. Jahrhunderts neu entdeckten Texten aus Nag Hammadi. Hans-Josef Klauck OFM, geb. 1946, Professor für Neu es Testament und frühe christliche Literatur an der Divinity School der Universität Chicago, USA.
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Hans-JosefKlauck ·Apokryphe Evangelien
Hans-Josef Klauck
Apokryphe Evangelien Eine Einführung
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bibelwerk
Dritte, durchgesehene Auflage 2008 www.bibelwerk.de ISBN 978-3-460-33180-8 Alle Rechte vorbehalten. Zwei Auflagen dieses Titels sind als broschierte Fassung unter der ISBN 978-3-460-33022-1 erschienen. © 2002 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart Umschlagbild: Papyrus Egerton 2, erstes Blatt Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Layout und Satz: Rund ums Buch - Rudi Kern, Kirchheim/Teck Druck und Bindung: made in Tschechien
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Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Agrapha ("versprengte Jesusworte") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Textbeispiele... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16 16 18 33
2.
Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Papyrus Egerton 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Papyrus Oxyrhynchos 840 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Straßburger koptische Papyrus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das "Unbekannte Berliner Evangelium"............... e) Das "Geheime Evangelium nach Markus" . . . . . . . . . . . . .
35 36 40 41 42 48
3. Judenchristliche Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Hebräerevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Nazaräerevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ebionäerevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 55 62 72
4.
Das Ägypterevangelium a 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der griechische Text bei Clemens von Alexandrien. . . . . . . b) Der koptische Text aus Nag Hammadi. . . . . . . . . . . . . . . .
77 77 82
5.
Kindheitsevangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Protevangelium des Jakobus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kindheitserzählung des lhomas. . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Pseudo-Matthäusevangelium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 89 99 105
6.
Evangelien über Jesu Tod und Auferstehung. . . . . . . . . . . . . . a) Das Petrusevangelium.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Nikodemusevangelium (Pilatusakten). . . . . . . . . . . . . c) Das Bartholomäusevangelium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 110 118 130
6
Inhaltsverzeichnis
7.
Evangelien aus Nag Hammadi........................ a) Das Thomasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Philippusevangelium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Evangelium Veritatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 141 160 175
8.
Gespräche mit dem auferstandenenJesus................ a) Die SophiaJesu Christi............................ b) Epistula Apostolorum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Evangelium der Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Apokryphon des Johannes......................
186 188 194 204 214
9.
"Ortlose" Dialoge mit Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Buch des Thomas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Dialog des Erlösers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223 223 233
10. Legenden um Marias Tod............................ a) Typologie und Topologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ein Textbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242 242 244
11. Verlorene Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
12. Ein Anti-Evangelium: die Toledot Jeschu . . . . . . . . . . . . . . . .
262
Abschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Stellenregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sach- und Namensregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
279 283 285
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Einführung Literatur: S. BYRSKOG, Story as History. - H. KoESTER, Ancient Christian Gospels. D. LÜHRMANN, Fragmente apokryph gewordener Evangelien. - C. MARK.scHIES, "Neutestamentliche Apokryphen". Bemerkungen zu Geschichte und Zukunft einer von Edgar Heunecke im Jahr 1904 begründeten Quellensamrnlung, in: Apocrypha 9 (1998) 97-132.- R. ]. MrLLER, The Complete Gospels.- S. C. MrMOUNI (Hrsg.), Apocryphite: histoire d' un concept transversal aux religions de Iivre. En hommage a Pierre Geolrrain (BEHER 113), Tournhout 2002.- T. NrcKLAs, "Ecrits apocryphes chretiens": ein Sammelband als Spiegel eines weitreichenden Paradigmenwechsels in der Apokryphenforschung, in: VigChr 61 (2007) 70-95. - W REBELL, Neutestamentliche Apokryphen 11-20. - J. ScHRÖTER, Jesus im frühen Christentum: Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Jesusüberlieferungen, in: VuF 51,1 (2006) 25-40.
Was "apokryphe Evangelien" und darüber hinaus apokryphe Schriften überhaupt eigentlich sind, lässt sich gar nicht so leicht definieren. Wollte man sich die Aufgabe einfach machen, könnte man sagen: ,,Apokryphen" meint alle Texte, die in der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm Sehneemdeher weiter betreuten Sammlung "Neutestamentliche Apokryphen" (NTApo, S. das Literaturverzeichnis) vereinigt sind. Aber mit dieser Begriffsbestimmung würde man einem Zirkelschluss erliegen, denn die Auswahl der Texte für diese Sammlung geht bereits von einem bestimmten Vorverständnis dessen, was "apokryph" sei, aus. In den bisher vorliegenden Auflagen dieses Standardwerks hat sich außerdem der Inhalt nicht unbeträchtlich gewandelt. In der ersten Auflage (1904) und in der zweiten Auflage (1924) waren z. B. auch die ,,Apostolischen Väter" enthalten: der erste und zweite Clemensbrief, die Ignatiusbriefe, der Polykarpbrief, der Barnabasbrief, die Didache, der Hirt des Hermas; auch bei dieser Schriftengruppe handelt es sich um ein künstlich zusammengestelltes Korpus, das seine Bezeichnung als ,,Apostolische Väter" einer Textausgabe von 1672 verdankt. Von der dritten Auflage (1959) an fand in den "Neutestamentliche(n) Apokryphen" das Schrifttum von Nag Hammadi (s.u. in Kap. 7) zunehmend Berücksichtigung. Einiges kam hinzu und fiel wieder heraus, wie der Brief an Diognet, die Sprüche des Sextus (beide nur in der zweiten Auflage) und die Oden Salomos (in der zweiten und dritten Auflage). Christoph Markschies, der eine Neubearbeitung des bewährten Sammelwerks in Angriff genommen hat, schlägt neuerdings vor, von "antiken christlichen Apokryphen" zu sprechen. Mit "antik" wird die Beschränkung auf die Zeit der Alten Kirche signalisiert, denn tatsächlich ging die Abfassung von Apokryphen auch im Mittelalter und in der Neuzeit weiter, und
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Einführung
"christlich" soll den Begriff von seiner Fixierung auf das Neue Testament lösen, aber ob damit alle terminologischen Schwierigkeiten beseitigt sind, bleibt eine offene Frage. Zudem soll das Schrifttum von Nag Hammadi, zu dem unter anderem das viel beachtete Thomasevangelium gehört, aus dem neuen Werk wieder herausgenommen und einer eigenen Gesamtübersetzung zugewiesen werden. Das Wort "apokryph", um damit zu fortzufahren, kommt aus dem Griechischen (and-KpuqJO~). Es bedeutet wörtlich so viel wie "verborgen", "versteckt", "geheim". Auf Schriften des frühen Christentums angewandt, geht seine Sinngebung in zwei Richtungen, die trotz ihrer Gegenläufigkeit in Beziehung zueinander stehen: (1) Mit der Bezeichnung "apokryph" werden geheime Offenbarungen bezeichnet, die nicht
in dem allgemein akzeptierten Bestand an Offenbarungsurkunden enthalten sind, für bestimmte Gruppen aber weit höhere Relevanz besitzen als die in der kirchlichen Öffentlichkeit bekannten und akzeptierten Lehren. ,,Apokryph" hat hier einen vorbehaltlos positiven Klang, und in dieser Bedeutung ist das Wort z. B. auch bei Clemens von Alexandrien anzutreffen. (2) Im Gegenzug wird von den Anhängern der großkirchlichen Orthodoxie, die einen klar umrissenen Schrifi:enkanon verteidigen, "apokryph" mit "gefolscht", "unzuverlässig" gleichgesetzt. Im Decretum Gelasianum, einem Kanonverzeichnis aus dem 6. Jahrhundert, erscheint "apokryph" stereotyp bei einer großen Anzahl von Schrifi:en und bedeutet soviel wie "häretisch". Dem so qualifizierten Schrifi:tum soll damit jegliche Autoritätsbasis entzogen werden.
In beiden Einschätzungen wird ein Bezug zwischen den apokryphen Schriften und dem neutestamentlichen Kanon, der gegen Ende des 3. Jahrhunderts in seinen Grundzügen feststand, hergestellt. Für einen Teil der sogenannten Apokryphen, vor allem für die zeitlich späteren, dürfte damit ein Faktor, der zu ihrer Produktion führte, richtig umschrieben sein: Man nahm Maß an den neutestamentlichen Schriften, wollte sie ergänzen, fortschreiben und vermeintliche Lücken auffüllen, teils auch ihnen gegenüber eigene theologische Anliegen zur Geltung bringen, und man adaptierte deshalb ihre Großgattungen: das Evangelium, den Brief, die Apostelakte, die Apokalypse. Ein Aspekt kommt bei dieser Sichtweise allerdings zu kurz (und insofern trifft auch die Definition der Apokryphen als "Konkurrenztexte zum Neuen Testament" bei Walter Rebell nur einen Teil und nicht das Ganze). Einige der von uns "apokryph" genannten, zeitlich frühen Texte sind erst im Nachhinein apokryph geworden (was Dieter Lührmann schon im Titel seines einschlägigen Werks zum Ausdruck bringt). Das will sagen: Siegehören von Haus aus zu jenem breiteren Strom frühchristlicher schriftlicher
Einführung
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Erzeugnisse, die dem Kanonisierungsprozess vorausliegen und sich daher selbst gar nicht am Kanon messen und nicht an ihm gemessen werden wollen. Neuerdings wird vor allem in der nordamerikanischen Forschung (vgl. z. B. Helmut Koester), aber nicht nur dort, verstärkt mit der These gearbeitet, manche "apokryphen" Texte seien nicht nur gleich alt, sondern sogar älter als die im Neuen Testament versammelten Schriften, sie seien, so die konsequenteste Ausprägung dieser Position, von neutestamentlichen Autoren direkt als Quellen benutzt worden und daher für die Rekonstruktion der historischen Ursprünge des Christentums von zentraler Bedeutung. Doch ist auch gegenüber solch pointierten Stellungnahmen, die sich in dieser Zuspitzung nicht halten lassen, Vorsicht angebracht. Man läuft sonst Gefahr, lediglich die eine, ältere Ideologie, die von der Vorherrschaft des Kanons überzeugt war, durch eine andere, jüngere, die ein nicht kanonisches, unorthodoxes, "freies" Schrifttum (und Christentum) favorisiert, zu ersetzen (viel zu viel verspricht z. B. die auf dem Umschlagdeckel abgedruckte Werbung von John Dominic Crossan für den Sammelband von Robert J. Miller: "Everything you need to ernpower your own search for the historical Jesus"). Globale Urteile sind hier fehl am Platz. Wir müssen vielmehr in jedem Einzelfall gerrauer hinsehen und dann die angemessene Hypothese bilden. Wenn der Gesamteindruck letztlich doch mehr in Richtung der älteren Einschätzung tendiert, liegt dem kein apologetisches Bestreben zugrunde. Vielmehr hat die weithin unbefangene Arbeit an den Texten zu diesem Urteil geführt. Eine methodologische Weichenstellung, die dabei eine Rolle spielt, sei ausdrücklich offen gelegt. Für den Vergleich von "apokryph gewordenen" mit "kanonisch gewordenen" Evangelien ist ein Phänomen, das dieneuere Forschung erst herausgestellt hat, stärker als bisher zu beachten: das der "sekundären Mündlichkeit" (s. dazu das wichtige Werk von Samuel Byrskog). Den schriftlichen Texten liegen in vielen Fällen mündliche Traditionen voraus, die auch neben den Texten her weiterlaufen. Vor allem aber werden auch verschriftlichte Stoffe in der Antike oft mündlich weitergegeben. Im Fall der kanonischen Evangelien ist das ohne weiteres einsichtig, wenn man nur an ihre regelmäßige Verlesung im Gottesdienst denkt. Die Erzählungen aus den kanonischen Evangelien gehen in eine Phase neuer, eben sekundärer Mündlichkeit über, wo sie wieder der freien Umgestaltung und vor allem der harmonisierenden Angleichung der verschiedenen Fassungen offen stehen. Auf die Abfassung apokrypher Texte können die kanonischen Evangelien auch auf diesem Umweg eingewirkt haben.
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Einführung
In der Textauswahl wird die folgende Einführung in die apokryphen Evangelien pragmatisch vorgehen müssen, ohne sich also zu sehr durch die Definitionsprobleme und die Quellenlage einschränken zu lassen. Das heißt vor allem, dass das Schrifttum aus Nag Hammadi in ausgewählten Teilen mitberücksichtigt wird. Kriterien für die ausführlichere oder kürzere Behandlung eines Textes (oder auch dafür, ihn wegzulassen) sind Alter, Inhalt, Bedeutung, Bekanntheitsgrad und Nachgeschichte. Die teils summarischen Überblicke und die Literaturhinweise geben dem Leser und der Leserin - hoffentlich - genügend Anregung, sich selbst auf weitere Entdeckungsreisen in eine faszinierende, teils zu wenig bekannte Welt zu begeben. Zum neuerlich (2006) zugänglich gewordenen Judasevangelium, das noch keine Aufnahme in diesen um 2000 entstandenen Band Iinden konnte, vgl. H. J. Kr.AucK, Judas, un disciple de Jesus: Exegese et repercussions historiques. Übers. von J. Hoffmann (Lectio Divina: 212), Paris 2006, 149-159; H. J. Kr.AucK, Verräter oder Freund? Das Evangelium des Judas, in: Zur Debatte 37/2 (2007) 29-32; H. J. Kr.AucK, Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen 2008, Kap. 1/1.
Nicht wegen der durchgehend negativen Wertung, von der auch eine ganze Reihe von Theologen betroffen ist, sondern mehr um einen Überblick über die Fülle dessen zu geben, was im 6. Jahrhundert an apokryphen Schriften bekannt war, soll abschließend wenigstens ein Textbeispiel aus einem Kanonverzeichnis geboten werden. Wir wählen dazu das oben schon angesprochene Decretum Gelasianum aus (vgl. NTApo 6 I, 30-33; weitere Erläuterungen, vor allem zu den inkriminierten Theologen, bei E. VON DoBSCHÜTz,
TU 38,4 [1912]):
Die übrigen (Schriften), welche von Häretikern oder Schismatikern zusammengeschrieben oder verkündet worden sind, nimmt die katholische und apostolische römische Kirche keinesfalls an; von diesen glaubten wir einige, die überliefert sind und die von Karholiken zu meiden sind, unten anführen zu müssen: Zuerst bekennen wir, dass die Synode zu Ariminum, die von Kaiser Konstantius, dem Sohn Konstantins, einberufen wurde durch den Präfekten Taurus, von damals ab und jetzt und in Ewigkeit verdammt sei. Itinerar (Reisebeschreibung) unter dem Namen des Apostels Petrus, das genannt wird 9 Bücher des heiligen Clemens Akten unter dem Namen des Apostels Andreas Akten unter dem Namen des Apostels lhomas Akten unter dem Namen des Apostels Petrus Akten unter dem Namen des Apostels Philippus Evangelium unter dem Namen des Matrhias Evangelium unter dem Namen des Barnabas Evangelium unter dem Namen des Jacobus des Jüngeren
apokryph apokryph apokryph apokryph apokryph apokryph apokryph apokryph
Einführung
Evangelium unter dem Namen des Apostels Petrus ' Evangelium unter dem Namen des Thomas, welches die Manichäer benutzen Evangelien unter dem Namen des Bartholomäus Evangelien unter dem Namen des Andreas Evangelien, welche Lucian gefälscht hat Evangelien, welche Hesych gefälscht hat Buch über die Kindheit des Erlösers Buch über die Geburt des Erlösers und über Maria oder die Hebamme Buch, welches genannt wird des Hirten Alle Bücher, welche Leucius, der Schiller des Teufels, gemacht hat apokryph . Buch, das Fundament genannt wird Buch, das Schatz genannt wird Buch über die Töchter Adams: Leptogenesis (?) Cento über Christus, in vergilianischen Versen zusammengefügt Buch, das genannt wird Akten der Thekla und des Paulus Buch, das dem Nepos zugeschrieben wird Buch der Sprüche, von Häretikern zusammengeschrieben und mit dem Namen des Sixtus bezeichnet Offenbarung, die dem Paulus zugeschrieben wird Offenbarung, die dem Thomas zugeschrieben wird Offenbarung, die dem Stephanus zugeschrieben wird Buch, das Heimgang der heiligen Maria genannt wird Buch, das Buße des Adam genannt wird Buch über den Riesen Ogias, von dem die Häretiker behaupten, er habe nach der Sintflut mit dem Drachen gekämpft Buch, das Testament des Hiob genannt wird Buch, das Buße des Origenes genannt wird Buch, das Buße des heiligen Cyprian genannt wird Buch, das Buße Jamnes und Mambres genannt wird Buch, das Lose der Apostel genannt wird Buch, das Spiele (?) der Apostel genannt wird Buch, das Canones der Apostel genannt wird Das Buch Physiologus, von Häretikern zusammengeschrieben und mit dem Namen des seligen Ambrosius bezeichnet Die Geschichte des Eusebius Pamphili Werke Tertullians Werke des Laktantius Werke des Postumian und des Gallus Werke des Montanus, der Priscilla und der Maximilla Werke des Manichäers Faustus Werke des Commodian Werke des anderen Clemens, von Alexandrien Werke des Thascius Cyprian Werke des Arnobius Werke des Tichonius Werke des Cassian, des Presbyters in Gallien Werke des Victorin von Pettau
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Einführung
Werke des Faustus von Riez in Gallien Werke des Frumentius Caecus Brief Jesu an Abgar Brief des Abgar an Jesus Passio (Märtyrerakten) des Cyricus und der Iulitta Passio des Georg Schrift, welche Verbot (Beschwörung?) Salomos heißt Alle Amulette, welche nicht, wie jene erdichten, im Namen der Engel, sondern vielmehr der Dämonen zusammengeschrieben sind
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Dieses und das, was ihm ähnlich ist, was Sirnon Magus, Nikolaus, Kerinth, Markion, Basilides, Ebion, Paul von Samosata, Photin und Bonosus, die an ähnlichem Irrtum krankten, auch Montanus mit seinen ekelhaften Anhängern, Apollinaris, Valentinus der Manichäer, Faustus der Mrikaner, Sabellius, Arius, Macedonius, Eunomius, Novatus, Sabbatius, Calistus, Donatus, Eustatius, Iovianus, Pelagius, Julianus von Eclanum, Caelestius, Maximian, Priscillian aus Spanien, Nestorius von Konstantinopel, Maximus der Kyniker, Lampetius, Dioscur, Eutyches, Petrus und der andere Petrus, von denen der eine Alexandrien, der andere Antiochien befleckte, Acacius von Konstantinopel mit ihren Genossen, und was auch alle Schüler der Häresie und der Häresien oder Schismatiker gelehrt haben oder zusammengeschrieben haben, deren Namen wir kaum behalten haben, das bekennen wir, dass es nicht nur verworfen sei, sondern von der ganzen römischen katholischen und apostolischen Kirche ausgeschlossen sei und mit seinen Verfassern und den Anhängern der Verfasser unter der unlöslichen Fessel des Anathema in Ewigkeit verdammt sei.
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Literaturverzeichnis
Die Abkürzungen richten sich nach S. ScHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 2 1992 =Abkürzungsverzeichnis der TRE. In den Literaturangaben zu den einzelnen Abschnitten wird die hier erfasste Literatur nur mit Verfassernamen und Kurztitel angeführt.
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1. Agrapha ("versprengte Jesusworte") Literatur. 0. HoFIUS, in: NTApo 6 I, 76-79:- A. REscH, Agrapha.- M. AsiN Y PAPACI-
os, Logia et Agrapha Domini Jesu apud moslemicos scriptores, asceticos praesertim, usitata, in: PO 13,3 (1919) 327-431; 19,4 (1926) 528-624.- K. BERGER I C. NoRD, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften 1112-1262.- W G. MoRRICE, Hidden Sayings of]esus.- ]. H. CHARLESWORTH I C. A. EvANs, Jesus in the Agrapha and Apocryphal Gospels, in: B. CHILTON I C. A. EvANs (Hrsg.), Studying the Hisrorical Jesus (NTTS 19), Leiden 1994, 479-533.- ]. ]EREMIAS, Unbekannte Jesusworte.- 0. HOFIus, Art. Agrapha, in: TRE II (1978) 103-110.-0. HOFIUS, "Unbekannte Jesusworte", in: DERS., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 161-188. - T. NICKLAS, Zur Problematik der sogenannten ,,Agrapha". Eine Thesenreihe, in: RB 113 (2006) 78-93.- W D. STROKER, Extracanonical Sayings of]esus (SBL. ResBibSt 18), Adanta, Ga. 1989.
a) Begriffsbestimmung
,,Agrapha" sind, wörtlich übersetzt, "ungeschriebene" Worte, in unserem Fall "ungeschriebene" Jesusworte. Aber diese Wiedergabe macht wenig Sinn, denn die Aussprüche Jesu, um die es im Folgenden geht, sind uns nicht in mündlicher Fassung überliefert, sondern meist größeren Textzusammenhängen entnommen. Gemeint sind also, grob gesagt, Jesusworte, die außerhalb der kanonischen Evangelien begegnen (deshalb wird im Englischen dafür auch die Bezeichnung "extracanonical sayings" verwendet), und zwar, so müssen wir noch hinzufügen, in der Regel solche Worte, die in den Quellen dem irdischen ]esus zugeschrieben werden (gelegentliche Ausnahmen zugestanden). Man könnte ,,Agrapha" auch mit "unverbuchte Worte" wiedergeben, weil sie nicht im kanonischen "Buch" der vier Evangelien zu finden sind; "ungeschrieben" hätte dann den speziellen Sinn: nicht in dem Teil der "Schrift" enthalten, dem wir ansonsten die Jesusüberlieferung verdanken. Eingebürgert hat sich auch die Redeweise von "unbekannten" oder "versprengten" Herrenworten. Alle Definitions- und Abgrenzungsprobleme sind damit aber noch immer nicht gelöst, wie ein Blick in die vorliegenden Sammlungen von Agrapha zeigt. Der Begriff selbst wurde, auch wenn es Vorläufer gibt, im Grunde erst von Alfred Resch im späten 19. Jahrhundert in die Forschung eingeführt. Reschlistetin seiner immer noch grundlegenden Sammlung 194 Agrapha auf, die zum größten Teil aus der neutestamentlichen Textüberlieferung und den Schriften der Kirchenväter geschöpft sind. Davon unterscheidet er
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die ,,Apokrypha", womit er zur Hauptsache Fragmente apokrypher Evangelien meint, daneben aber auch außerkanonische Worte der Apostel und sogar nicht verifizierbare Zitate aus dem Alten Testament. Diese Differenzierung in Agrapha und Apokrypha wurde später leider aufgegeben. Unter den Agrapha tauchen fortan regelmäßig auch Stücke aus den Resten der judenchristliehen Evangelien, aus den Fragmenten apokrypher Evangelien auf Papyrus und besonders aus dem neuentdeckten Thomasevangelium auf. Das aber macht wenig Sinn, denn die dort überlieferten Jesusworte haben in der Regel einen selbstständigen literarischen Kontext, in dessen Rahmen sie behandelt werden sollten, anstatt sie in isolierter Fassung unter die Agrapha zu zählen. Zwischenzeitlich hatte Michael Asin y Palacios reichhaltiges Material aus moslemischen Autoren zusammengestellt. Er bietet in zwei Faszikeln der "Patrologia Orientalis" insgesamt 233 Texte im arabischen Original mit lateinischer Übersetzung und Erläuterung. Diese Sammlung fand bei den Exegeten erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Die deutschsprachige Forschung schlug zunächst einen anderen Weg ein. In seinem bekannten und einflussreichen, auch verdienstvollen Buch "Unbekannte Jesusworte" behandelt Joachim Jeremias nur noch achtzehn bzw., wenn man die beiden Logien im Anhang hinzunimmt, zwanzig Agrapha. Darunter finden sich bezeichnenderweise auch Texte aus dem Hebräerevangelium, dem Nazaräerevangelium, dem Thomasevangelium und dem Evangelienfragment POxy 840. Bei Otfried Hofius, der es übernommen hat, das Erbe von Joachim Jeremias weiter zu pflegen, wird dieser Bestand noch einmal energisch reduziert, so dass in NTApo 6 I zuletzt nur noch sieben Agrapha übrig bleiben. Leitendes Prinzip bei dieser Reduktion ist die formale, inhaltliche und überlieferungsgeschichtliche Vergleichbarkeit der außerkanonischen Logien mit den Jesusworten der synoptischen Evangelien. Hinzu kommt aber besonders bei Joachim Jeremias noch das Interesse daran, ob für diese Worte historische Echtheit zumindest erwogen werden kann oder nicht (man beachte die damit verbundene Wertung: "Nur hie und da glänzt inmitten von Geröll und Schutt ein funkelnder Edelstein" [Unbekannte Jesusworte 112]). Dass solche Fragen zu diskutieren sind, wird man nicht bestreiten. Ob sie aber bereits als Grundlage der Textauswahl dienen sollten, ist sehr zu bezweifeln, zumal man zu sicheren Ergebnissen kaum je wird gelangen können und somit immer subjektives Ermessen mit im Spiel bleibt. Dieses kritische Reduktionsverfahren hat die Erforschung der Agrapha letztlich in eine Sackgasse geführt.
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Neuere Übersichten schlagen deswegen auch wieder andere Wege ein. William D. Stroker zitiert in seiner nützlichen Sammlung 266 Texte, darunter allerdings fast das ganze Thomasevangelium. Klaus Berger und Christiane Nord bringen es auf 270 Agrapha. Sie werten dabei auch das erste der beiden Faszikel mit Jesusworten bei islamischen Autoren (s.o. zu Asin y Palacios) aus, übergehen das zweite Faszikel allerdings mit Stillschweigen. Wir sehen, dass der Begriff ,,Agrapha" sich bei gerrauerer Analyse als eine sehr nebulöse Kategorie entpuppt. Was also bleibt davon noch übrig, vor allem, wenn man entschieden dafür plädiert, die judenchristliehen Evangelien und das Thomasevangelium gesondert zu behandeln? Man kann ,,Agrapha" weiterhin als eine heuristische Größe benutzen, die es erlaubt, außerevangeliare Jesusworte aufZuspüren, die durch unsere sonstigen Kategorien wie "Fragmente apokrypher Evangelien" o.ä. nicht erfasst werden. Den Kernbestand werden dabei wieder, wie schon bei Alfred Resch, Jesusworte bei den Kirchenvätern bilden, angereichert mit weiteren Materialien unterschiedlicher Herkunft. Die Echtheitsfrage sollte, wenn überhaupt, keinesfalls zu früh gestellt werden. Die folgende Darbietung und Besprechung einiger ausgewählter Agrapha ist primär als exemplarische Illustration der bisherigen Ausführungen gedacht. Es kommen die meisten jener Jesusworte vor, die in keiner der oben genannten Sammlungen fehlen. Ferner wurde darauf geachtet, dass die verschiedenen Quellen, aus denen Agrapha gewonnen werden, Berücksichtigung finden. An manchen Einzelbeispielen lassen sich schließlich auch die Schwierigkeiten der Abgrenzung und der Definition besser verdeutlichen, aber auch Gründe für die Entstehung von Agrapha aufZeigen.
b) Textbeispiele Literatur. T. NrcKLAS, Das Agraphon vom "Sabbatarbeiter" und sein Kontext: Lk 6,1-11
in derTextform des Codex Bezae Cantabrigiensis (D), in: NT 44 (2002) 160-175.- M. PESCE, Le parole dimenticate di Gesu (Scritti greci e latine), Milano 2004; ausführliche Würdigung durch E. NoRELLI, in: Apocrypha 17 (2006) 223-244.
(1) Geben und Nehmen
Wenn wir unter Agrapha Jesusworte außerhalb der kanonischen Evangelien verstehen, finden sich erste Beispiele bereits im Neuen Testament. An
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vorderster Stelle ist hier die Apostelgeschichte des Lukas zu nennen. In der Abschiedsrede, die Paulus in Milet vor den Ältesten der Gemeinde von Ephesus hält, führt er unter anderem aus: In allem habe ich euch gezeigt, dass man .sich auf diese Weise abmühen und sich der Schwachen annehmen soll, in Erinnerung an die Worte Jesu, des Herrn, der selbst gesagt hat: "Geben ist selig, mehr denn nehmen" (Apg 20,35).
Das Herrenwort, das der lukanische Paulus zitiert, findet sich in den Evangelien nicht, auch nicht im Lukasevangeliurn, obwohl es seiner Ausrichtung nach sehr gut dorthin passen würde, betont doch Lukas mehr als die anderen Evangelisten die sozialen Motive in der Botschaft Jesu. Man hat ihn schon als "Evangelisten der Armen" bezeichnet, ob ganz zu Recht, bleibe dahingestellt. Paulus erweist sich durch seine Worte und sein Verhalten (vgl. seinen Hinweis aufUnterhaltsverzieht und Handarbeit in Apg 20,33f.) unter leicht veränderten Vorzeichen als echter Jünger und Nachfolger Jesu. Allerdings wird die Radikalität mancher Jesusworte im Evangelium, die völligen Besitzverzicht fordern, an dieser Stelle nicht erreicht. So verwundert es nicht, dass gerade der Vorrang des Gebens vor dem Nehmen auch in der außerchristlichen und außerjüdischen antiken Ethik belegt ist. Es scheint sich um eine Maxime volkstümlicher Idealmoral zu handeln. Als Beleg genüge eine Stelle aus Thukydides (II 97,4): "Denn anders als im Perserreich führten sie (die Thraker) den Brauch ein., lieber zu geben als zu nehmen, und schändlicher war es, als Gebetener nicht zu geben denn als Bittender nichts zu erlangen."
(2) Das Kommen des Herrn Einige wenige Jesusworte zitiert auch Paulus selbst in seinen Briefen. Die meisten davon haben Parallelen in der synoptischen Jesusüberlieferung, können also nicht als Agrapha betrachtet werden. Das gilt für das Ehescheidungsverbot in 1 Kor 7,1 Of., für die Deuteworte im Abendmahlsbericht 1 Kor 11 ,24f., für das Unterhaltsrecht der Wanderrnissionare in 1 Kor 9,14 und für das Wort von der Reinheit aller Speisen in Rörn 14, 14. Auch das an Frauen adressierte Schweigegebot in 1 Kor 14,34f. sollte man (gegen Resch und Berger I Nord) nicht zu den Agrapha rechnen, selbst wenn in V. 37 der Ausdruck "Gebot des Herrn" folgt, und das "Herrenwort" in 2 Kor 12,9: "Es genügt dir meine Gnade" hat Paulus vorn Erhöhten vernommen. Übrig bleibt als diskutable Größe vor allem 1 Thess 4,15-17:
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4,15 Denn dies sagen wir euch mit einem Wort des Herrn: Wir, die Lebenden, die noch übrig sind, werden, wenn der Herr kommt, den Verstorbenen nichts voraushaben. 16 Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen. 17 Dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein.
Auf Anfiihrungszeichen wurde bei der Wiedergabe dieses Textes bewusst verzichtet, weil nicht klar ist, wo sich das vermutete "Wort des Herrn" findet, ob allein in V. 15 (vom Doppelpunkt an) oder eher im Kernbestand von V. 16-17. Dass wir auf jeden Fall mit einer nicht nur geringfügigen Bearbeitung durch Paulus rechnen müssten, geht schon daraus hervor, dass in allen Versen in der dritten Person vom "Herrn" die Rede ist, was zur Perspektive eines "Herrenworts", das die Ich-Form benutzen sollte, nicht recht passt. Bestehen bleibt ferner die Unsicherheit darüber, ob es sich der Intention nach um ein Wort des irdischen Jesus oder um eine Offenbarung des Auferstandenen handelt. Nicht so schwer ins Gewicht fällt - da wir nicht allein an der Echtheit interessiert sind- der Verdacht, dass tatsächlich ein urchristliches Prophetenwort vorliegen dürfte, das Paulus aufgreift und durch Rückführung auf den Herrn mit höherer Autorität versieht.
(3) Gebrauch und Missbrauch der Freiheit Als ein weiterer Fundort für Agrapha erweist sich die handschriftliche Überlieferung des Neuen Testaments. Gelegentlich enthalten Evangelienhandschriften Zusätze, die in textkritischer Hinsicht als sekundär zu beurteilen sind, die aber anscheinend auf einen noch existierenden Bestand an mündlicher Jesusüberlieferung zurückgreifen können. So bietet der Codex Bezae Cantabrigiensis (Sigel: D) aus dem 5. Jahrhundert zwischen der Perikope vom Ährenraufen der Jünger in Lk 6,1-5 und der Perikope von der Heilung der verdorrten Hand am Sabbat in Lk 6,6-11 noch das folgende thematisch passende, kleine, aber in sich geschlossene Erzählstück, das nach Art eines Apophthegmas aus einer kurzen Situationsangabe und einem pointierten Jesuswort besteht (Lk 6,5 D; den eigentlichen V. 5 bei Lukas: "Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat" lässt 0 dafür hier aus und fügt ihn erst nach Lk 6,10 an): Und als er am selben Tag jemanden am Sabbat arbeiten sah, sprach er zu ihm: "Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig; wenn du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes."
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Vorausgesetzt ist das biblisch-jüdische Sabbatgebot, das ein Arbeitsverbot einschließt (vgl. die Geschichte von dem Mann, der am Sabbat Holz sammelte und mit dem Tode bestraft wurde, in Num 15,32-36). Das Wort, mit dem Jesus auf die Gesetzesübertretung reagiert, besteht aus drei Teilen: der Anrede mit "Mensch", einer bedingten Seligpreisung und einem gleichfalls bedingten Fluchspruch. Die Bedingung lautet jeweils: "wenn du weißt". Der Ton liegt also auf dem Wissen, das hier aber wohl nicht rein gnostisch zu interpretieren ist ("Gnosis" bedeutet "Erkenntnis", "Wissen"), als solle gesagt werden: Der wahre Gnostiker und nur er allein steht über jedem Gesetz. Es scheint in diesem Logion auch nicht mehr primär um Geltung oder Überwindung des jüdischen Gesetzes zu gehen; das Gesetz dient eher als praktisches Beispiel. Weiter kommen wir, wenn wir das Wort in einer innerchristlichen Diskussion um die Bedeutung christlicher Freiheit verorten und als drohende Gefahr einen christlichen Libertinismus im Blick behalten (im Sinne des ,,Alles ist erlaubt" aus 1 Kor 10,23, dem Paulus sofort "aber nicht alles nützt und baut auf" hinzufügt). Das rechte Wissen bezieht sich dann darauf, dass Freiheit nicht Bindungslosigkeit, sondern neue Bindung in Glauben und Liebe meint (vgl. W KÄSER, Exegetische Erwägungen zur Seligpreisung des Sabbatarbeiters Lk 6,5 D, in: ZThK 65 [1968] 414-430).
(4) Unglaube und Umkehr Das Markusevangelium endet in Mk 16,8 sehr abrupt mit der Flucht der Frauen weg vom leergefundenen Grab. Dieser Schluss wurde als unbefriedigend empfunden. In einem Teil der Handschriften tritt deshalb als Mk 16,9-20 eine im 2. Jahrhundert entstandene Kompilation aus den Erscheinungsberichten der anderen Evangelien hinzu. Dieser sekundäre längere Markusschluss (es gibt auch noch eine kürzere Alternative) berichtet in V. 14, Jesus habe dieJünger wegen des Unglaubens und der Verstocktheit, mit der sie anfänglich auf die Auferstehungsbotschaft reagierten, scharf getadelt. Recht unvermittelt schließt sich daran in V. 15-18 eine Aussendungsrede des Auferstandenen an, ehe V. 19 von seiner Himmelfahrt erzählt und V. 20 im Zeitraffer den großen Erfolg der nachösterlichen Missionspredigt rekapituliert. Die in direkter Rede gehaltenen Verse 15-18 hat man auch schon zu den Agrapha gezählt, auch wenn hier Worte des Auferstandenen vorliegen. Der Evangeliencodex Freerianus aus dem 5. Jahrhundert, der heute in der (nach dem Geldgeber benannten) Freer-Bibliothek in Washington liegt
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(Sigel: W), schiebt zwischen V. 14 und V. 15 noch das sogenannte "FreerLogion" ein, das auch Hieronymus zu kennen scheint. Es besteht tatsächlich aus einem kleinen Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern, so dass man den Text statt zu den Agrapha auch zu den "Gesprächen mit dem auferstandenen Jesus" zählen könnte (so NTApo6 I, 204f.). Das Textstück hat zunächst die Funktion, den harten Übergang zwischen V. 14 und V. 15 abzufedern und zu erklären, wie es nach Ostern erneut zum Unglauben der Jünger kommen konnte (Mk 16,14 W): Und jene entschuldigten sich mit den Worten: "Dieser Äon der Gesetzlosigkeit und des Unglaubens ist unter dem Satan, der durch die unreinen Geister die echte Krafi: Gottes nicht erfassen lässt. Deshalb offenbare deine Gerechtigkeit schon (jetzt)!" (Das) sagten jene zu Christus. Und Christus entgegnete jenen: "Erfüllt ist das Maß der Jahre der Vollmacht des Satan. Aber andere schreckliche Dinge nahen auch über die, fur welche ich, da sie gesündigt hatten, in den Tod dahingegeben wurde, damit sie umkehren zur Wahrheit und nicht mehr sündigen, damit sie die im Himmel (aufbewahrte) geistliche und unvergängliche Herrlichkeit der Gerechtigkeit erben werden."
Die Jünger bitten den Herrn, er möge angesichts der ungebrochen scheinenden Herrschaft des Satans über diese Weltzeit (vgl. 2 Kor 4,4) den Vollendungszustand möglichst sofort herbeiführen. Der Auferstandene bekräftigt, dass die Macht des Satans durch sein Erdenwirken (vgl. Lk 10, 18) und seinen Kreuzestod (vgl. Joh 12,31) bereits gebrochen ist. Die Endereignisse mit ihren schrecklichen Begleiterscheinungen stehen dennoch weiterhin aus. Das hat auch einen bestimmten Sinn: Möglichst vielen sündigen Menschen soll die Möglichkeit geboten werden, rechtzeitig Buße zu tun und des ewigen Lebens teilhaftig zu werden (vgl. 2 Petr 3,9).
(5) Variationen der Goldenen Regel Eine Gruppe von frühchristlichen Schriften, die zeitlich eng an das Neue Testament anschließt, fasst man unter dem - wenig sinnvollen - Namen ,,Apostolische Väter" zusammen. Dazu gehört auch der erste Clemensbrief, den sein Verfasser, vermutlich der Bischof Clemens von Rom, zwischen 93 und 97 n. Chr. nach Korinth sandte. Mit der Aufforderung "Vor allem lasst uns der Worte des Herrn Jesus eingedenk sein, die er sprach, als er Milde und Langmut lehrte" bezieht er sich in 13,1 dezidiert auf den irdischen Jesus, und er fährt fort (1 Clem 13,2): Denn so hat er (Jesus) gesagt: "Erbarmt euch, damit ihr Erbarmen findet.
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Vergebt, damit euch vergeben werde. Wie ihr tut, so wird an euch- getan werden. Wie ihr gebt, so wird euch gegeben werden. Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden. Wie ihr euch gütig erweist, so wird euch Güte erwiesen werden. Mit demselben Maß, mit dem ihr messt, wird euch gemessen werden."
Warum diese kleine Komposition aus sieben Jesusworten in manchen Sammlungen von Agrapha fehlt, ist nicht recht erfindlich, denn formal sind die Anforderungen, die an Agrapha zu stellen sind, alle erfüllt. Anklänge an die Bergpredigt meint man zwar durchgehend zu vernehmen - mit Ausnahme der Aufforderung zur Güte im sechsten Wort, für die es keine Parallele gibt-, und insgesamt handelt es sich um Variationen und Konkretisierungen der Goldenen Regel (vgl. Mt 7,12), die im dritten Ausspruch auch direkt vorkommt. Aber der Verfasser wird, auch angesichts des frühen Datums seines Schreibens, noch direkt aus der mündlichen Jesusüberlieferung geschöpft haben und nicht direkt aus dem Matthäusevangelium.
(6) Einlassbedingungen Weniger deutlich fällt der Bezug auf Herrenworte im Barnabasbrief (um 130 n. Chr.) aus. Erwähnung verdient aber die eigenwillige Wiedergabe und Ausdeutung des alttestamentlichen Sündenbockrituals in Barn 7,611. Sie mündet in eine Anwendung ein, die Jesus in den Mund gelegt wird und formal den Eindruck eines Jesuslogions erweckt (Barn 7,11): "Ebenso", meint er, "die mich sehen und in mein Reich gelassen werden wollen, müssen mich unter Qualen und Leiden empfangen."
Inhaltlich liegt eine Einlassbedingung für das Gottesreich vor, wie z. B. in Mt 5,20. Zu fragen ist in solchen alttestamentlich geprägten Kontexten allerdings immer auch, ob das Jesuswort intentional nicht eher vom präexistenten Christus gesprochen sein könnte, der bereits im Vorwissen und im Vorgriff auf seinen Erdenweg die biblischen Verheißungen auf sich bezieht.
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(7) Paradiesische Zustände Nur in mehrfacher Brechung ist uns das nächste, besonders umfangreiche Agraphon überliefert. Im frühen 2. Jahrhundert stellte Papias, Bischof von Hierapolis, eigene Nachforschungen an und gab die Jesusworte, deren er noch habhaft werden konnte, in einer mehrbändigen Sammlung unter dem Titel ,,Auslegung der Herrenworte" heraus. Daraus wiederum zitiert Irenäus von Lyon, beruft sich eingangs aber auf Presbyter, die das Logion noch vom Apostel Johannes gehört hatten, ehe er gegen Ende hin auf seine Bezeugung durch Papias zu sprechen kommt (Adversus haereses V 33,3f.): So erinnern sich die Presbyter, die Johannes, den Herrenjünger, gesehen hatten, von ihm gehört zu haben, wie der Herr betreffs jener Zeiten gelehrt und gesagt habe: "Es werden Tage kommen, in denen Weinstöcke wachsen, von denen jeder 10.000 Schösslinge haben wird und jeder Schössling 10.000 Zweige und jeder Zweig 10.000 Ranken und jede Ranke 10.000 Trauben und jede Traube 10.000 Beeren, und jede Beere wird ausgepresst 1000 Liter Wein ergeben. Und wenn einer der Heiligen nach einer Traube greift, wird eine andere rufen: Ich bin eine bessere Traube, nimm mich, preise durch mich den Herrn. Ebenso wird auch ein Weizenkorn 10.000 Ähren hervorbringen, und jede Ähre wird 10.000 Körner haben und jedes Korn zehn Pfund weißes, reines Mehl ergeben; und auch die übrigen Früchte (werden) Samen wie Halm in der ihnen angemessenen Weise (hervorbringen); und alle Tiere werden sich von solchen Speisen nähren, die ihnen die Erde darbietet, friedlich und einträchtig miteinander leben, den Menschen in völligem Gehorsam unterworfen." Dieses aber bezeugt Papias, der Hörer des Johannes und Gefährte des Polykarp, ein alter Mann, schriftlich im vierten seiner Bücher; sein Gesamtwerk umfasst nämlich fünf Bücher. Und er fügt hinzu: "Dieses aber ist den Glaubenden glaubhaft." Und als Judas der Verräter, so berichtet er, es nicht glauben wollte und fragte: "Wie soll denn solches Wachstum vom Herrn hervorgebracht werden?", habe der Herr gesagt: "Die werden es sehen, die hineinkommen."
Judas als Prototyp des Unglaubens dürfte hier auch für solche Hörer stehen, die diesem Zukunftsgemälde, das für die noch innerweltlich gedachte Messiaszeit die Wiederkehr paradiesischer Zustände verheißt, skeptisch gegenüberstanden. Das Motiv der wunderbaren Fruchtbarkeit der Erde als Kennzeichen dieses Zeitraums kennt auch die zeitlich benachbarte jüdische Apokalyptik. Man braucht dazu nur eine Stelle aus der Baruchapokalypse zu vergleichen (syrBar 29,5): ,,Auch wird die Erde ihre Früchte zehntausendfaltig bringen. An einem Weinstock werden tausend Reben sein, und eine Rebe trägt dann tausend Trauben und eine Traube tausend Beeren, und eine Beere gibt ein Kor voll Wein."
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(8) Nah und fern Von den Papyrusfragmenten, die an sich, wie gesagt, eine eigene Behandlung verdienen (s. Kap. 2), sei beispielhalber eines hier schon besprochen, nicht zuletzt deswegen, weil darin das Agraphon etwas überraschend in einem ansonsten wohlbekannten Kontext auftaucht. Es handelt sich dabei um einen Fetzen Papyrus aus den Funden von Oxyrhynchos, der ins 4. Jahrhundert zu datieren ist (POxy 1224): Die Schriftglehrten aber und [Pharisäer und Priester, als sie ihn sah[en, waren aufgebracht, [dass er mit Sündern zu Tische [lag. Jesus aber hörce [es und sprach: "Nicht nötig haben die Ge[sunden den Arzt. . . . Und betet für eure Feinde. Denn wer nicht gegen euch] ist, der ist für euch. Wer euch] heute fern ist- morgen wird er nahe von euch] sein."
Die Zeilen 1-6 kennen wir aus dem Zöllnergastmahl in Mk 2, 16f. Die anschließenden Zeilen 7-8 enthalten einen Anklang an Mt 5,44, während die Zeilen 8-9 aus Mk 9,40 vertraut sind. Das Agraphon steht erst in Z. 9f. und lautet in einer etwas anderen Rekonstruktion: "Die weit weg standen, morgen wird ihre Stunde sein" (zu vergleichen wäre dann evtl. ]es 57,19: "Friede, Friede den Fernen und den Nahen, spricht der Herr, ich werde sie heilen").
(9) Die Spaltungen Wir kommen damit zu den Apologeten, zu denen unser nächster Autor, Justin, gehört. Justin zitiert in seinem Dialog mit dem jüdischen Rabbi Trypho bzw. Tarphon unter anderem die folgenden, teils synoptisch belegten Jesusworte (Dialog 35,3): Denn er Oesus) sprach: "Viele werden kommen in meinem Namen (Mk 13,6), außen gekleidet in Felle von Schafen, innen drin aber sind sie reißende Wölfe (Mt 7,5)", und: "Es wird Spaltungen und Parteiungen geben", und: "Hütet euch vor den falschen Propheten ... "
Die Ansage von Spaltungen, die z. B. mitten durch die Familie gehen können (vgl. Lk 12,52f.), gehört zum festen Bestand der endzeitlich ausgerichteten Worte Jesu in den Evangelien. Dennoch hat der Ausspruch "Es
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wird Spaltungen und Parteiungen geben" seine nächste Parallele nicht dort, sondern bei Paulus in 1 Kor 11, 18f.: Zunächst höre ich, dass es, wenn ihr· als Gemeinde zusammenkommt, Spaltungen unter euch gibt, und zum Teil glaube ich das auch. Denn es muss auch Parteiungen geben unter euch; nur so wird sichtbar, wer unter euch zuverlässig ist.
Konsequenterweise meinte deshalb Alfred Resch, dass Paulus hier ein verstecktes Jesuswort aus einer Endzeitrede zitiere. Wahrscheinlicher aber wurde eine Aussage des Paulus nachträglich in einen Ausspruch Jesu umgewandelt. Als Jesuslogion begegnet der Spruch auch noch in anderen frühchristlichen und patristischen Schriften, so in den pseudoklementischen Homilien (zweimal), in der syrischen Didaskalie, bei Lactanz und bei Didymos.
(10) Der Maßstab beim Gericht Im seihen Werk führt Justin ein weiteres Jesuswort an, das den jeweiligen Zustand, in dem ein Mensch vom Herrn bei seinem Kommen angetroffen wird, gleichsam festschreibt und zum Maßstab für das Gericht erklärt (Dialog 47,5): Darum hat unser Herr Jesus Christus gesagt: "Worin ich euch antreffe, darin werde ich euch auch richten."
Etwas anders formuliert den gleichen Sachverhalt das "syrische Stufenbuch" (Liber Graduum; ca. 4. Jahrhundert), das Anweisungen zum stufenweisen Erwerb christlicher Vollkommenheit zum Inhalt hat. Als Bildhintergrund ist dabei die Vorstellung vorausgesetzt, dass der Herr beim Endgeschehen seine Engel aussenden wird (vgl. Mt 13,41), um alle Menschen einzusammeln für das bevorstehende Gericht (Sermo 3,3 u.ö.): Wie ihr gefunden werdet, so werdet ihr hinweggefiihrt!
Nicht als Jesuslogion, sondern als Wort Gottes oder als Prophetenspruch begegnet diese Aussage von Clemens von Alexandrien an noch 18-mal in der patristischen Literatur. Den biblischen Anknüpfungspunkt könnte Ez 33,20 bieten: "Doch ich werde euch richten, ihr vom Haus Israel, jeden nach seinem Verhalten", evtl. vermittelt über das jüdische ,,Apokryphon Ezechiels".
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(11) Unablässiges Beten Bleiben wir in Syrien und wenden wir uns dem syrischen Kirchenvater Aphrahat aus dem 4. Jahrhundert zu, der in seiner Darlegung über das Gebet bemerkt (Demonstrationes 4,16): Unser Herr sprach: "Betet und werdet nicht müde."
Die Einleitung zum Gleichnis vom ungerechten Richter und der bittenden Witwe im Sondergut des Lukas lautet: "Jesus sagte ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten" (Lk 18, 1). Wieder stehen wir vor der Alternative: Hat etwa Lukas ein Jesuswort in eine Erzählnotiz umgesetzt (so Resch)? Oder haben nicht vielmehr spätere Rezipienten die indirekte Rede bei Lukas in direkte Rede verwandelt? Das Letztere trifft zu.
(12) Dem Feuer nahe Wir kommen zu Origenes, dem größten Exegeten und Theologen der Alten Kirche. In seinen Predigten zum Jeremiabuch, die nur in der lateinischen Übersetzung des Rufin erhalten sind, leitet er ein Agraphon mit bemerkenswert vorsichtigen Wendungen ein, aber er zitiert es immerhin und verwirft es nicht einfach (In Jer. homiliae 3,3): Ich las irgendwo als Wort des Heilands (und ich frage mich, ob jemand die Rolle des Heilands angenommen oder aus dem Gedächtnis zitiert hat, oder aber, ob es wahr ist, was gesagt ist), jedenfalls sagt dort der Heiland: "Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe; wer mir fern ist, ist dem Königreich fern".
Die griechische Fassung dieses Wortes steht bei Didymos dem Blinden aus Alexandrien (gest. um 398). Erinnert fühlen wir uns an synoptische Jesuslogien wie Lk 12,49: "Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen" und Mk 9,49: "Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden." Das Feuer steht für die Intensität, mit der die Botschaft von der Herrschaft Gottes die Menschen ergreifen, läutern und verwandeln will und mit der sie sich ausbreiten will wie ein Flächenbrand. Zu verweisen ist aber auch auf ein dem Äsop zugeschriebenes Sprichwort: "Wer Zeus nahe ist, ist dem Blitz nahe", dessen Anwendung aber eher auf eine Warnung vor zu großer Nähe zu Zeus abzielt. Inzwischen kennen wir das Wort vom Feuer und vom Reich auch aus dem koptischen Thomasevangelium, wo es als Logion 82 gezählt wird. Da-
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mit hat es streng genommen seinen Status als Agraphon verloren. Da Origenes an anderer Stelle ein Thomasevangelium erwähnt, kann es durchaus sein, dass er unser Logion aus einer ihm vorliegenden griechischen Fassung des koptisch überlieferten Thomasevangeliums geschöpft hat.
(13) Vom Weg ins Himmelreich Tertullian erzählt in seiner Abhandlung über die Taufe die Ölbergszene nach. Er zitiert Mk 14,38: "Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt", geht dem Thema des Versuchtwerdens der Jünger in der Passion Jesu weiter nach und fügt hinzu (De baptismo 20,2): Denn es war auch das Wort vorausgegangen: "Niemand kann das Himmelreich erlangen, der nicht durch die Versuchung ging."
Tertullian platziert dieses Logion (wegen Lk 22,28f?) anscheinend in den Kontext des Abendmahls, sei es als Teil des Tischgesprächs oder als Teil des Weggesprächs beim Gang nach Getsemani. Die übrigen ca. acht Zeugnisse, die den Wortlaut bieten (darunter die Didaskalie und die Apostolischen Konstitutionen), verzichten auf seine Charakterisierung als Jesuswort. Das Thema wird auch angeschlagen in Apg 14,22: "Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes gelangen" (so Paulus und Barnabas bei ihrer "Pastoralreise" zu bereits gegründeten Gemeinden) und in Jak 1,12f: "Glücklich der Mann, der in der Versuchung standhält. Denn wenn er sich bewährt, wird er den Kranz des Lebens erhalten".
(14) Sein Leben retten Clemens von Alexandrien hat das Schrifttum eines gnostischen Lehrers des 2. Jahrhunderts, Theodotos, der ein Schüler Valentins war, exzerpiert. Theodotos wiederum hat Clemens zufolge als Herrenwort überliefert (Excerpta ex Theodotou 2,2): Darum sagt der Heiland: "Rette dich und dein Leben!"
Der Wortlaut ähnelt verblüffend dem Befehl, den der Engel in Gen 19,17 dem Lot, der aus Sodom fliehen soll, erteilt: "Bring dich in Sicherheit, es geht um dein Leben". Auf diese Begebenheit nimmt die Endzeitrede Jesu in Lk 17,29 und 17,32 Bezug, die im Übrigen die Dringlichkeit der
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Fluchtangesichts der Endereignisse beschwört (vgl. auch Mk 13,14-16). Der Imperativ lautet also nicht unbedingt: Rette deine Seele! (obwohl das der gnostischen Perspektive entsprochen haben wird), sondern kann auch so verstanden werden: Suche dir vor der kommenden Katastrophe rechtzeitig einen sicheren Zufluchtsort.
(15) Großes und Kleines Bleiben wir bei Clemens von Alexandrien für ein weiteres Wort, das wir auch nach Origenes, Eusebius oder Ambrosius anführen könnten. In seinem großen Sammelwerk "Teppiche", einem Beispiel für antike Buntschriftstellerei, schreibt er (Stromateis I 158,2): "Erbittet euch nämlich", sagt er Oesus), "das Große, so wird euch das Kleine (von Gott) hinzugefügt werden."
Die anderen Referenten ergänzen teils noch als zweiten Teil: "Erbittet euch das Himmlische, und das Irdische wird euch hinzugefügt werden" (vgl. Joh 3,12). Verbindungslinien verlaufen hin zu einem Wort aus der Logienquelle: "Strebt also nach seinem Reich, und dies alles wird euch hinzugegeben werden" (Mt 6,33 par Lk 12,31).
(16) Vom Geldwechseln Clemens von Alexandrien ist auch einer von ca. siebzig Zeugen für das bei den Theologen der Alten Kirche mit Abstand beliebteste Agraphon, das von ihnen durchweg als authentisches Jesuswort angesehen wurde. In Reinform findet es sich aber nicht bei Clemens von Alexandrien, sondern in den pseudoklementinischen Homilien, die nichts mit ihm zu tun haben, sondern sich auf Clemens von Rom berufen. Dort lautet es (PsClem Horn li 51,1): ' Treffend hat unser Lehrer gesagt: "Werdet gute Wechsler!"
Diese Kurzform erscheint in den Quellen oft kombiniert oder gar im Wortlaut vermischt mit 1 Thess 5,21f.: ,,Alles aber prüft, das Gute haltet fest! Von jeder Gestalt des Bösen haltet euch fern!" Der Grund dafür liegt nicht unmittelbar auf der Hand, erschließt sich aber vom Griechischen her. Das Adjektiv "gut" oder "bewährt" lautet im Griechischen dokimos. Damit ver-
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wandt ist die Vokabel für den Imperativ "prüft" bei Paulus: dokimazete. Außerdem hat man "von jeder Gestalt des Bösen" in 11hess 5,21 oft verstanden als "von jedem schlechten Geldstück", was rein sprachlich möglich wäre. Damit sind wir schon bei den "guten Wechslern" angelangt und gewinnen wichtige Hinweise für das Verständnis des Logions und vielleicht auch für seine Entstehung. Die Pointe besteht also nicht darin, dass der gute Wechsler auf seinen eigenen Gewinn bedacht sein wird oder die Rolle eines Bankiers übernimmt, der Zinsen zahlt (so Mt 25,27). Seine wirkliche Qualität erweist er dadurch, dass er Falschmünzen auf den ersten Blick erkennt und nicht auf sie hereinfallt. Gute Wechsler werden also jede Münze sorgfaltig prüfen. Das Logion von den guten Wechslern erweist sich somit als eine metaphorische Umsetzung der Aufforderung zur Prüfung und Unterscheidung der Geister. Es könnte sich sogar aus der Exegese und Anwendung von 11hess 5,21f. enrwickelt haben.
(17) Jüngerunverständnis Für das nächste Agraphon müssen wir zu einer neuen Textgattung überwechseln, nämlich zu den apokryphen Apostelakten. In den Petrusakten kommt der römische Senator Marcellus, der vom chrisdichen Glauben bereits wieder abgefallen war, reumütig zu Petrus und erfleht dessen Fürbitte. Zu seinen Gunsren führt er an, Petrus selbst habe zu Lebzeiten Jesu noch keinen festen Glauben besessen und manchmal gezweifelt. Das unterstreicht er mit der Bemerkung (ActPetr 10): Ich hörte nämlich, dass er Qesus) auch gesagt habe: "Die mit mir sind, haben mich nicht verstanden."
Das Unverständnis der Jünger vor Ostern ist ein fester Topos im Markusevangelium und kommt auch in Job 14,9 zum Ausdruck: "Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?" Das Agraphon bringt somit in konzentrierter Form einen wichtigen Zug des evangeliaren Jüngerbildes zur Geltung.
(18) Zeichenglaube Als erstes Beispiel für außerevangeliare Jesusüberlieferungen im Islam sei ein Textstück aus dem Koran zitiert (Sure 3,49):
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Ich bin mit einem Zeichen von eurem Herrn zu et.ich gekommen: Ich mache euch aus Lehm etwas, das so aussieht wie Vögel. Dann blase ich hinein, und wenn Gott will, werden es wirkliche Vögel. Und wenn Gott will, werde ich Blinde und Aussätzige heilen und Tote lebendig machen. Und ich werde euch von dem erzählen, was ihr in euren Häusern esst und speichert. Wenn ihr gläubig seid, ist das für euch ein Zeichen.
Die Anspielung auf die Heilungswunder Jesu überrascht nicht, wohl aber der Anfang mit dem eigenartigen Schauwunder, das darin besteht, aus Lehm geformten Vögeln Leben einzuhauchen. Eben dies erzählt aber das Kindheitsevangelium des Thomas von Jesus (vgl. KThom 2,2-4; s.u. Kap. 5b), und von dort dürfte die Episode auch in den Koran übernommen sein. Das verwundert nicht weiter, denn die benachbarte Sure 3,44 z. B. reflektiert das Losverfahren aus dem Protevangelium des Jakobus (Protev 8-9; s.u. Kap. 5a). Ein beträchtlicher Teil der Jesusüberlieferung im Koran und im Islam ist durch den Filter apokrypher Traditionen hindurchgegangen.
(19) Jesus als Vorläufer Von den weiteren Agrapha im Koran (vgl. Sure 5,72; 43,63; 61,14) sei nur noch Sure 61,6 hervorgehoben, weil darin Jesus zum Vorläufer Muhammads umgedeutet wird, woran man erkennt, wie manchmal handfeste Interessen zu der Produktion von neuen Agrapha beitragen können: Und damals, als Jesus, der Sohn der Maria, sagte: "Ihr Kinder Israels! Ich bin von Gott zu euch gesandt, um zu bestätigen, was vor mir da war, nämlich die Tora, und einen Gesandten mit einem hochlöblichen Namen zu verkünden, der nach mir kommen wird."
(20) Die Welt als Brücke Ein islamisches Agraphon wurde nicht zuletzt durch seinen eigenartigen Fundort berühmt. Es ist nämlich anscheinend heute noch als Inschrift an einer Moschee in Fathpur Sikri in Indien zu lesen, die 1601 dort angebracht wurde. Die Faszination, die dieser erst 1900 mitgeteilte epigraphische Fund ausübte, lässt gerne übersehen, dass Michael Asin y Palacios dieses Logion auch literarisch bei erheblich älteren islamischen Schriftstellern nachgewiesen hat (vgl. Nr.46 und Nr. 75 in seiner Sammlung). Sein Wortlaut: Jesus, über dem Friede sei, hat gesagt: "Die Welt ist eine Brücke. Gehr über sie hinüberaber lasst euch nicht auf ihr nieder!"
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Dieses eindrucksvolle Wort, das zur Distanz gegenüber allzu engen Verstrickungen in diese Welt aufruft, hat eine verkürzte inhaltliche Parallele im Tho~asevangelium, wo es in Logion 42 heißt: "Seid Vorübergehende!"
(21) Bedürfnislosigkeit Lassen wir aus einem bestimmten Grund noch eine islamische Jesuserzählung zu Wort kommen, auch wenn sie kein direktes Jesuswort enthält, obwohl sich ein solches leicht formen ließe, wie wir gleich sehen werden (bei Asin y Palacios als Nr. 81): Der Messias trug nichts anderes bei sich als einen Kamm und ein Trinkgefäß. Als er einen Menschen erblickte, der sich den Bart mit seinen Fingern kämmte, warf er sofort den Kamm weg. Als er einen anderen sah, der mit seinen Händen zum Trinken Wasser aus einem Fluss schöpfte, warf er sogleich das Trinkgefäß weg.
Hier wurde offenkundig eine Wanderlegende aufJesus übertragen, wie ein Blick in die " Philosophenviten" des Diogenes Laertios lehrt. Dort wird nämlich vom Kyniker Diogenes von Sinope berichtet (Vit Phil6,37): Einmal sah er ein Kind, das aus den Händen trank. Da warf er den Becher aus seinem Rucksack weg und bemerkte: "Ein Kind hat mich in der Genügsamkeit übertroffen." Auch seine Schüssel warf er weg, als er ein Kind beobachtete, das seinen Teller zerbrochen hatte und nun für seinen Linsenbrei ein hohles Brotstück als Gefäß benutzte.
In der islamischen Variante ist lediglich die Schüssel gegen den Kamm ausgetauscht worden. Bei Diogenes Laertios sieht man auch, dass die Erzählung eigentlich nach einem apophthegmatischen Wort in direkter Rede verlangt.
(22) Vom Aufstehen nach dem Fall Aus der alten griechischen Liturgie stammt ein Agraphon, dessen Alter sich nicht einmal ungefähr bestimmen lässt. Es gehört dort zum Ritus der Krankensalbung und steht in einer Reihe mit drei evangeliaren Jesusworten, mit denen es auch die Einleitungsformel gemeinsam hat (vgl. J. l
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Auch hier fallt eine biblische Rückbindung nicht schwer, hören wir doch in Jer 8,4: "So spricht der Herr: Wer hinfallt, steht der nicht wieder auf? Wer vom Weg abkommt, kehrt der nicht wieder zurück?'' Die theologische Tendenz des Jesus zugeschriebenen Wortes zielt darauf ab, auch für Christen, die nach der Taufe noch schwere Sünden begehen, den Weg zu Umkehr und Buße offen zu halten.
c) Rückblick Im Rückblick zeigt sich nicht nur deutlich die Vielzahl der Quellen, denen wir Agrapha verdanken und die kurz rekapituliert seien: im Neuen Testament die Apostelgeschichte und die Briefliteratur (z. B. sind auch 1 Petr 4,8: "Die Liebe deckt viele Sünden zu" und Eph 4,26: "Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen" zu Herrenworten geworden), sodann die handschriftliche Überlieferung der Evangelien (auch die heimatlose Perikope von Jesus und der Ehebrecheein in Joh 7,53- 8,11 mit ihren drei kurzen Jesusworten könnte man hier einordnen), ferner die apokryphen Apostelakten sowie liturgische Texte der Alten Kirche, vor allem aber die Werke der Apostolischen Väter, der Apologeten und der Kirchenväter, schließlich auch der Koran und weitere islamische Autoren (als wenig ergiebig erweist sich das rabbinische Schrifttum). Auch die Art der Jesusworte, die wir in diesen Quellen vorfinden, fallt sehr unterschiedlich aus. Neben dem knappen Imperativ "Werdet gute Wechsler" steht das verhältnismäßig lange Redestück, das die paradiesischen Zustände im messianischen Reich ausmalt. Manche Texte sind dialogisch angelegt oder durch eine rudimentäre Erzählung gerahmt, in anderen Fällen blieb nur das Wort erhalten. Auch eine reine Erzählung ohne direkte Figurenrede fand sich in unserer Auswahl (vgl. Nr. 21), doch ließe sich dort ein pointierter Ausspruch leicht ergänzen, und ein solcher ist vielleicht auch nur dem Überlieferungsweg zum Opfer gefallen. Nicht selten konnten wir auch Gründe für die sekundäre Entstehung von Agrapha namhaft machen. Man hat Erzählreferate oder indirekte Rede in den Evangelien in direkte Jesusrede umgesetzt, manche schon vorhandenen Logien weitergesponnen und sie neu arrangiert. Man hat Jesus Worte aus der Briefliteratur in den Mund gelegt. Manchmal stand auch das Alte Testament bei der Bildung eines Jesuswortes Pate. Volkstümliche Sprichwörter und Wanderlegenden wurden auf ihn übertragen. Wohlgemeinte theologische Gründe und handfeste ideologische Absichten trugen das Ihre
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bei und beflügelten die Erfindungskraft. Ein treibendes Motiv ist dabei nicht zu verkennen: Was als Jesuswort daherkommt, besitzt größere Autorität und einen höheren paradigmatischen Wert. Sicher nicht ganz umgehen lässt sich die Frage nach der historischen Aurhentizität. Mit anderen Worten: Können wenigstens einige der Agrapha auf Jesus selbst zurückgefuhrt werden? Sind sie historisch echt? Hier und nur hier kommt das eingangs angesprochene kritische Reduktionsprinzip zu seinem Recht. Wir müssen dann nämlich alle Worte ausklammern, deren sekundäre Entstehung wir ohne weiteres plausibel machen können. Sicher gibt es Grenzfälle, über die man endlos streiten kann, und es bleibt in jedem Fall ein gewisser Grundbestand an Logien übrig. Aus unserer kleinen Sammlung würde ich dazu rechnen die Erzählung vom Sabbatarbeiter, die Worte von den Fernen und den Nahen und vom Feuer und vom Reich sowie, mit gewissen Vorbehalten, die Geldwechsler und die Welt als Brücke. Letztlich müssen wir zugeben, dass wir keine Kriterien haben, um eine sichere Entscheidung über Echrheit und Unechtheit zu fällen. Die Ergebnisse, die hier anhand einer begrenzten Textauswahl exemplarisch entwickelt wurden, ändern sich nicht wesentlich, wenn wir nicht 22, sondern 220 Agrapha zur näheren Behandlung heranziehen würden. Für die historische Jesusforschung erweist sich der Wert der Agrapha somit als begrenzt. Umstürzende Veränderungen des Jesusbildes, das sich aus den kanonischen Evangelien ergibt, sind von ihnen - trotz gelegentlicher gegenteiliger Behauptungen - nicht zu erwarten. Aber die Echtheitsfrage ist, das sei noch einmal nachdrücklich betont, nur ein Aspekt des Ganzen. Alle Agrapha behalten ihren traditionsgeschichtlichen Wert, wenn man sie als Wirkungsgeschichte der Gestalt Jesu versteht und als Reflexe der Faszination, die von ihr immer wieder ausgeht. Und auch die spirituelle Kraft mancher Agrapha hängt nicht allein an ihrer Echtheit. Das Wort von den guten Wechslern und das Logion von der Welt als Brücke kann man meditieren und daraus Impulse fur die eigene Lebensgestaltung gewinnen. Wer auch immer sie geprägt haben mag, sie bleiben "geistliche Klassiker" und gehören zu den Aussprüchen großer geistlicher Meister und Lehrer.
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2. Fragmente
J. }EREMIAS I W ScHNEEMELCHER, in: NTApo I, 80-92.- D. LüHRMANN, Fragmente 139-185.- A. DE SANTOS ÜTERO, Los Evangelios Ap6crifos 76-107.
Literatur:
Die Ausbeute an Papyri, die seit dem 19. Jahrhundert durch Zufallsfunde und systematische Suche in Ägypten zu Tage gefördert wurden, erwies sich als so reichhaltig, dass ein beträchtlicher Teil der Texte nach wie vor unediert in den Kellerräumen von Museen und Bibliotheken schlummert. Breiteren Kreisen, auch innerhalb der Wissenschaft, werden sie aber erst in dem Moment wirklich zugänglich, wo es zu ihrer Veröffentlichung und Übersetzung kommt. Insofern ist es keineswegs verwunderlich, wenn von Zeit zu Zeit neue christliche Texte, die schon vom Schriftbild her durch den Gebrauch von Abkürzungen für nomina sacra als solche kenntlich sind, auftauchen, wie es zuletzt 1997 mit dem "Unbekannten Berliner Evangelium" geschah. Soweit in diesen Papyri an Jesusüberlieferung angeknüpft wird, gelingt in manchen Fällen die Zuordnung zu einem schon bekannten -kanonischen oder apokryphen- Evangelium (s. beim EvPetr, EvThom und EvMar). Anderes bleibt unidentifiziert. Aufgrund des geringen Umfangs und des schlechten Zustands lässt sich nicht einmal immer sagen, ob überhaupt Reste eines Evangeliums vorliegen oder ob es sich nicht z. B. um ein Stück aus einer Predigt oder einem Kommentar handelt. Zur näheren Betrachtung greifen wir lediglich einige längere Fragmente mit narrativen Bestandteilen heraus. Zuvor sei summarisch auf andere, öfter genannte Bruchstücke hingewiesen: PMerton 51, ein doppelseitig beschriebenes Papyrusblatt aus dem 3. Jahrhundert, enthält Jesusworte, die mit Lk 7,29f. und Lk 6,45f. verwandt sind. In POxy 210, gleichfalls aus dem 3. Jahrhundert, ist kaum mehr auszumachen als die Erwähnung eines Engels auf der Vorderseite sowie das Bildwort von den guten und schlechten Früchten und ein johanneisch klingendes Ich-bin-Wort auf der Rückseite. In POxy 1224 (4. Jahrhundert, aus einem Kodex), sind vor allem die Schlusszeilen von Interesse, die vielleicht ein ,,Agraphon" enthalten (s.o. in Kap. 1). Das sogenannte Fajjumfragment (PVindob g 2325), das bei seiner Veröffentlichung 1885 als erstes Beispiel solcher Textreste Aufsehen erregte, besteht nur aus einer verkürzten Parallele zu Mk 14,27-30. Petrus kommt darin in der Ich-Form zu Wort, sein Name wird als nomen sacrum behandelt und ist mit roter Tinte geschrieben. Neuerdings wurde daher auch versucht, das Textstück dem Petrusevangelium (s.u. Kap. 6a) zuzuordnen. In PBerlin 11710 (ca. 6. Jahrhundert), einem Dialog zwischen Jesus und Nathanael, erscheint bemerkenswert die zweifache Anrede Jesus als "Rabbi" und vor allem seine Bezeichnung als "Rabbi" im Erzählreferat (kein Anzeichen für hohes Alter, eher trifft das Gegenteil zu).
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PCairo 10735 entstammt erst dem 6./7. Jahrhundert und berührt sich im Textstück auf der Vorderseite mit Mt 2,13, im Textstück auf der Rückseite mit Lk 1,36.
a) Paiwrus Egerton 2 (PEg 2) Literatur.]. }EREMIAS I W ScHNEEMELCHER, in: NTApo I, 82-85.- D. LüHRMANN, Fragmente 142-153 (mit Lit.).- H. I. BELL I T. C. SKEAT, Fragments of an Unknown Gospel and Other Early Christian Papyri, London 1935, und: The New Gospel Fragments, London 1935.- M. GRONEWALD, Kölner Papyri, Bd. 6 (PapyCol 7,6), Opladen 1987, 136-145 (= PKöln 255).- G. MAYEDA, Das Leben-Jesu-Fragment Papyrus Egerton 2 und seine Stellung in der urchristlichen Literaturgeschichte, Bern 1946. - H. KoESTER, Gospels 205-216. - D. LüHRMANN, Die apokryph gewordenen Evangelien 125-143 (ausführlicher zu PKöln 255). - T. NICKLAS, Papyrus Egerton 2: The ,Unknown Gospel', in: ET 118 (2007) 261-266.- GuteAbbildungen des Textes und weitere Informationen im Internet: www-user.uni-bremen.del~wiel EgertoniEgerton_home. html.
(1) Zur Einordnung
Der Papyrus Egerton 2 trägt seinen Namen nach einem Mäzen, der dem Britischen Museum in London 1934 den Ankauf von ägyptischen Papyri ermöglichte. Darunter befanden sich vier Blätter, die beidseitig beschrieben sind, also auf der Vorderseite (recto, mit horizontal verlaufenden Fasern und deshalb besser beschreibbar) und auf der Rückseite (verso, mit vertikalen, gegen die Schreibrichtung verlaufenden Fasern), und die nicht von einer Rolle, sondern aus einem Kodex stammen. Die Reste des Blattes, das seit der Erstedition (durch Bell I Skeat) als Nr. 4 gezählt wird, sind so gering, dass nur ein einziger Buchstabe wirklich erkennbar ist. Auch das Blatt Nr. 3 besteht nur aus einem Fetzen, der immerhin auf der Vorderseite noch einen Anklang an Joh 10,30-32 erkennen lässt, wenn wir folgendermaßen rekonstruieren: "[ ... Ich und der Vater] sind eins", mit anschließendem Steinigungsversuch seitens der Juden. Es bleiben die beiden ersten, besser erhaltenen Blätter, die vier oder fünf Episoden aus der Jesusüberlieferung bieten. Möglicherweise entstammen sie einem umfangreicheren Evangelium (das Petrusevangelium [s.u.] wurde vorgeschlagen; aber das ist sehr unwahrscheinlich). Genaueres wissen wir darüber nicht. Die Seiten tragen im Original keine Paginierung. Das bedeutet, dass wir nicht sicher sagen können, in welcher Reihenfolge sie gelesen werden
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sollen. Selbst die Abfolge von Vorder- und Rückseite steht nicht fest, da der Kodex aus verschiedenen Lagen von Papyrusblättern bestand, die in der Mitte gefalzt wurden. Durch das Falzen konnte eine recto-Seite nach links oder nach rechts geraten und somit entweder eine gerade oder eine ungerade Paginierung tragen. Wir folgen hier der Zählung durch die Ersteditoren, die aber verschiedendich in Zweifel gezogen wird (z. B. bei Lührmann). Die fehlende untere linke bzw. rechte Ecke des ersten Blattes mit fünf bis sechs fragmentarischen Zeilen hat der Zufall nach Köln verschlagen. Sie wurde inzwischen als PKöln 255 veröffentlicht (s. Gronewald) und von den neuesten Textausgaben in die Rekonstruktion von Frag. 1 integriert (s. Lührmann). Die Erstherausgeber datierten den Fund nur aufgrund der Schriftform auf ca. 150 n. Chr. und nahmen an, dass der Inhalt um einige Jahrzehnte älter sein dürfte. Dass es sich bei dem Text um eine spätere Abschrift handele, wie von ihnen vorausgesetzt, ist aber keineswegs sicher. In der Datierungsfrage äußern sich die Papyrologen, auf deren Urteil wir uns verlassen müssen, inzwischen vorsichtiger und begnügen sich mit einer Ansetzung auf ca. 200 n. Chr. Der Versuch einer Frühdatierung auf 50 oder 60 n. Chr., der PEg 2 zu einer Vorstufe oder Quelle der vier neutestamentlichen Evangelien macht (so Koester), hat diesen Befund gegen sich.
(2) Zum Inhalt In Frag. 1 versowendet Jesus sich zunächst an die Gesetzeslehrer mit der Aufforderung: "Bestraft (oder: überführt) jeden Gesetzlosen, der zuwiderhandelt, aber nicht mich". Den Grund dafür gibt die schwierig zu verstehende Wendung in Z. 5 an: "was er tut, wie er es tut", die man vielleicht auf die Formel bringen könnte: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch nicht dasselbe; Jesus steht mit anderen Worten über dem Gesetz. Dann richtet Jesus das Wort an die Obersten des Volkes. Was er ihnen sagt, hat enge Parallelen bei Johannes: Sie sollen die Schriften erforschen, die Zeugnis über Jesus ablegen (vgl. Joh 5,39). Nicht Jesus klagt sie an (wegen ihres Unglaubens, Z. 18), sondern Mose (vgl. Joh 5,45). Ihrem Einwand, Mose würden sie kennen, über die Herkunft Jesu aber nichts wissen (vgl. Joh 9,29), begegnet ]esus mit der Bekräftigung, dass Mose über ihn schrieb und dass Glaube an Mose Glauben an ihn zur Folge haben müsse (vgl. ]oh 5,46).
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Auch Frag. 1 recto verbleibt in Z. 1-10 bei johanneischen Themen. Es ist die Rede von dem Versuch der Zuhörer, Jesus zu steinigen. Die Führer des Volkes wollen ihn ergreifen und der Menge (!) ausliefern, womit die Veranrwortung für Jesu Tod auf den jüdischen Part verschoben wird. Aber Jesus geht ungehindert von dannen (vgl. neben Joh 10,39 u.ö. auch Lk 4,30), denn "noch war die Stunde seiner Auslieferung nicht gekommen" (Z. 7f.). In Z. 7-23 von Frag. 1 recto schließt sich die Heilung eines Aussätzigen an, die im Vergleich zur parallelen Erzählung in Mk 1,40-44 im Mittelteil kürzer ausfällt, in der Exposition aber eine novellistische Erweiterung aufweist, wenn der Aussätzige dort erklärt: "Lehrer Jesus, als ich mit Aussätzigen wanderte und mit ihnen aß in der Herberge, wurde auch ich selbst aussätzig" (Z. 12-15). Diese Solidarität mit den Aussätzigen und der Umgang mit ihnen, den man in der Regel sorgsam vermied, prädestinieren den Mann,. der sich bei dieser Aktion selbst infizierte, zur Rettung durch Jesus. Seine Heilung ist der Lohn für seine Nächstenliebe. Zum Schluss sagt Jesus zu ihm: "und sündige nicht mehr", was anJoh 5,14 (vgl. 8,11) anklingt. Mit einer captatio benevolentiae, aber in versucherischer Absicht reden "sie"- d. h. jüdische Gesprächspartner- in Frag. 2 recto Jesus an: "Lehrer Jesus, wir wissen, dass du von Gott gekommen bist; denn was du tust, legt Zeugnis ab über alle Propheten hinaus" (Z. 3-5; vgl. Joh 3,2). Es folgt die aus Mk 12,13-17 bekannte Zinsgroschenfrage, in einer verallgemeinerten Fassung: "Ist es recht, den Königen (statt: dem Caesar) das der Herrschaft Geziemende zu geben?" (Z. 6f.). Jesus ergrimmt und anrwortet polemisch mit einem Zitat ausJes 29,13, das auch in Mk 7,6f. in einem Streitgespräch Verwendung findet: Sie ehren ihn mit den Lippen, hören aber nicht auf das, was er sagt. Besonders stark zerstört ist leider Frag. 2 verso, wo sich zwei anderweitig unbekannte und deshalb auch kaum rekonstruierbare Traditionsstücke finden, die durch das Thema der ,,Aussaat" miteinander verbunden sind. Für die Anfangszeilen schlägt Gronewald die Lesung vor: "Wenn ein Landmann Samen an einem verborgenen Ort einschließt- solange er unsichtbar unten liegt, wie kann er sein unwägbares Gewicht empfangen?" Offenbar liegt hier die Metaphorik von Aussaat und überreicher Ernte zugrunde, wie in den Saatgleichnissen in Mk 4,3-20.26-32 oder im Wort vom sterbenden Weizenkorn Joh 12,24. Das scheint auch die "fremde Frage" zu sein, mit der Jesus seine Zuhörer in Verlegenheit bringt (Z. 4f.). In der zweiten Szene geht Jesus zur Aktion über, stellt sich an das Ufer des Jordan und streckt seine rechte Hand aus. Erkennbar ist dann nur noch, dass erwas gesät wird (oder auch mit Wasser besprengt wird) und
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Frucht hervorbringt, zur Freude aller. Anscheinend vollbringt Jesus ein Wunder besonderer Art. Entweder säte er tatsächlich Samen ins Wasser, was in der Antike eine sprichwörtliche Umschreibung für ein völlig vergebliches Tun war (vgl. Theognis 1,105-108; Ps.-Phokylides 152), hatte damit aber unerwarteten Erfolg. Oder er säte die Körner in den Sand am Ufer und sprengte Wasser aus dem Fluss darüber, was zum sofortigen Wachstum führte. Dafür könnte man an die "Kornmumien" in Ägypten, dem Fundort und evd. auch Herkunftsort unseres Textes, erinnern: Man füllte Erde in hölzerne Schablonen, die den toten Osiris darstellen sollten, säte Getreide hinein, goss Nilwasser darüber und wartete das Emporsprießen der Halme ab. Das Ganze verstand man als Symbol für die Überwindung des Todes durch das Leben. Ein weiterer Rekonstruktionsversuch, der hier einen verdorrten Feigenbaum (vgl. Mk 11,20) einträgt und seine "Wiederbelebung" inszeniert sieht, erscheint demgegenüber weniger plausibel.
(3) Zur Bewertung Die zuletzt besprochene, zweiteilige Erzählung beweist, dass PEg 2 auch auf unbekannte Jesustraditionen synoptischen Zuschnitts zurückgreift (die man allerdings kaum als historisch im strengen Wortsinn ansehen wird). Insofern würde die These, PEg 2 sei gänzlich von den vier Großevangelien abhängig, sowieso zu kurz greifen. Was die Affinitäten zum Johannesevangelium angeht, das anscheinend recht früh schon in Ägypten bekannt war, kommt man allerdings an der Annahme einer direkten Benutzung johanneischen Materials durch den Verfasser von PEg 2 kaum vorbei. Die entsprechenden Parallelen sind so typisch für johanneische Sprache und johanneische Theologie, dass man sie schwerlich auf eine gemeinsame Quelle, die der Johannesevangelist bloß übernommen hätte und der er seine besondere Denkweise verdanken würde, zurückführen kann. Allerdings braucht die Bekanntschaft des PEg 2 mit dem Johannesevangelium nicht rein literarisch vermittelt zu sein. Hier hilft wie auch sonst das Konzept einer "sekundären Oralität" weiter. Die Kenntnis der johanneischen Stoffe kann aus dem mündlichen Vortrag des Evangeliums und seiner mündlichen Weitergabe in der Glaubensgemeinschaft gewonnen sein. Manche Freiheiten, die sich der Verfasser von PEg 2 in der Kombination weit auseinander liegender Stellen herausnimmt, ließen sich dadurch sogar besser erklären.
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In abgeschwächter Weise gilt Ähnliches auch für die Verwendung der Synoptiker im PEg 2. Hier könnte man zusätzlich noch an einen Rückgriff auf gemeinsame ältere Überlieferungen an den verschriftlichten Fassungen vorbei denken. Als wirklich notwendig erweist sich diese Annahme aber an keiner einzigen Stelle - mit Ausnahme der Doppelepisode aus Frag. 2 verso (s.o.).
b) Papyrus Oxyrhynchos 840 (POxy 840) Literatur: J. }EREMIAS I W ScHNEEMELCHER, in: NTApo 6 I, 81f. - D. LüHRMANN, Fragmente 164-169. - ]. }EREMIAS, Unbekannte Jesusworte 50-60.98f. - F. BovoN, Fragment Oxyrhynchus 840, Fragment of a Lost Gospel, Witness of an Early Christian Controversy over Purity, in: JBL 119 (2000) 705-728.- M. J. KRuGER, The Gospel of rhe Savior: An Analysis of POXY. 840 and its Place in the Gospel Traditions of Early Christianity (Texts and Editions for NewTestarnent Studies 1), Leiden 2005.
Obwohl als Papyrus gezählt, handelt es sich bei POxy 840 um ein Pergamentblatt aus einem kleinformatigen Kodex (8,5 x 7 cm), der aus dem 3./4. Jahrhundert stammt und vielleicht als Amulett gedient hat. Die Vorderseite beginnt, mitten im Satz, mit dem Schluss einer Warn- und Gerichtspredigt Jesu. Danach nimmt Jesus seine Jünger mit in den inneren Tempelbezirk Dort kommt es zu einem Streitgespräch über Fragen der Reinheit (vgl. Mk 7,1-23) zwischen ihm und einem diensthabenden Oberpriesteraus den Reihen der Pharisäer (eine trotz aller Erklärungsversuche problematische Kombination; auch die historische Authentizität der folgenden Episode unterliegt starken Zweifeln). In polemischem Ton fragt der Oberpriester, der vielleicht Levi hieß, Jesus, wie er und seine Jünger dazu kämen, den heiligen Ort zu betreten und die heiligen Geräte - z. B. Gefaße für die Trankspenden mit Wasser, Wein und Öl oder für die Schaubrote- zu betrachten, ohne sich vorher die Füße zu waschen und die Kleider zu wechseln. Auf eine knappe Rückfrage Jesu hin (Z. 23f.: "Und du, der du auch hier im Tempel bist, bist du rein?") bekräftigt der Priester seine eigene Reinheit: Er hat sich im Teich Davids (vielleicht der Teich Betesda aus Joh 5,2?) gewaschen, für den Rückweg die andere der beiden Treppen genommen (zwei Treppen waren vorhanden, damit Reinheitssuchende und schon Gereinigte sich nicht zu begegnen brauchten) und saubere weiße Kleider angelegt. Das gibt Jesus, der im Erzählreferat als "Erlöser" (Z. 30: soter) bezeichnet wird, Gelegenheit zu einer
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neuen Strafpredigt, die mit einem Weheruf einsetzt und äußere und innere Reinheit miteinander kontrastiert (vgl. Mt 23,25-28), leider aber wieder mitten im Satz endet (Z. 31-45; die "Hunde und Schweine" in Z. 33 sind wohl metaphorisch auf unmoralische Menschen zu beziehen): "Wehe, Blinde, die nicht sehen! Du hast dich in diesen ausgegossenen Wassern gewaschen, in denen Hunde und Schweine liegen Nacht und Tag, und hast tlir beim Waschen tlie äußere Haut abgerieben, die auch die Dirnen und Flötenspielerinnen salben und waschen und einreiben und schminken zur Begierde der Menschen; inwendig aber sind jene voll von Skorpionen und von allem Übel. Ich aber und meine Jünger, von denen du sagst, wir hätten uns nicht gebadet, wir haben gebadet in Wassern des ewigen Lebens, tlie kommen von ... Aber wehe denen ... "
Die "Wasser des ewigen Lebens", die an den Dialog Jesu mit der samaritanischen Frau über das "lebendige Wasser" in Joh 4 erinnern, könnten einen Fingerzeig auf den Sitz im Leben dieses Textes geben, den man (mit Bovon) besser in Auseinandersetzungen um rituelle Reinheit und um die richtige Taufpraxis in jüdisch-christlichen Täufergruppen des 2. oder 3. Jahrhunderts verorten wird. Der Verfasser unseres Textes vertritt in dieser Kontroverse einen Standpunkt, der die Bedeutung des Rituellen herunterspielt und mehr ins Spirituelle zielt.
c) Der Straßburger koptische Papyrus Literatur: W ScHNEEMELCHER, in: NTApo 6 I, 87-99. - D. A. BERTRAND, in: Ecrits apocryphes chretiens 425-428. - S. EMMEL, Unbekanntes Berliner Evangelium = the Strasbourg Coptic Gospel: Prolegomena to a New Edition of the Strasbourg Fragments, in: H. G. BETHGE u. a. (Hrsg.), For the Children, Perfeet Insteuerion (FS H. M. ScHENKE) (NHMS 54), Berlin 2002, 353-374.
Beim Straßburger koptischen Papyrus handelt es sich genauer um zwei doppelseitig beschriebene, sehr schlecht erhaltene Blätter aus einem Papyruskodex des 5./6. Jahrhunderts. Dieser Text findet neuerdings wieder verstärktes Interesse wegen seiner offenkundigen inhaltlichen Nähe zum "Unbekannten Berliner Evangelium" (= UBE, s.u.). Die Vorderseite des ersten Blatts bietet ein Abschiedsgebet Jesu mit fernen Anklängen an Joh 17 und deutlicheren Anleihen aus 1 Kor 15 ("Du wirst mir [alles] unterworfen machen ... Durch wen wird [der letzte] Feind vernichtet werden? ... Durch wen wird der Stachel des Todes [vernichtet]?"). Im Blick auf das UBE ist festzuhalten, dass jeder Satz dieses Gebets mit einem responsorischen ,,Amen" abgeschlossen wird.
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Der Text auf der Rückseite orientiert sich stärker am Matthäusevangelium und verweist durch Zitate wie "Die Stunde ist nahe, da ich von euch genommen werde. Der Geist [ist] willig, aber das Fleisch [ist] schwach. Bleibet nun und wachet [mit mir]" (vgl. Mt 26,38. 41. 45) auf Getsemani. Bedeutsam ist vor allem, dass die ,,Apostel" hier schon in der Wir-Form reden: "Wir aber, die Apos[tel, wir] weinten, [indem wir zu ihm] sprachen ... " Das setzt sich fort auf der Rückseite des zweiten Blattes, wo eine visionäre Erfahrung der Apostel wiedergegeben wird: "Unsere Augen durchdrangen alle Orte, wir schauten die Herrlichkeit seiner Gottheit und die ganze Herrlichkeit [seiner] Herrschaft". Erst das UBE ermöglicht vielleicht eine einigermaßen verlässliche Einordnung dieser Vision (zur möglichen Zugehörigkeit des Straßburger Fragments zum UBE siehe jetzt Emmel).
d) Das "Unbekannte Berliner Evangelium" (UBE = PBero/22220) Literatur. U. K. PuscH, Verborgene Worte Jesu 27-34. - C. W HEDRICK I P. A. MIRECK!, Gospel ofthe Savior. A New Ancient Gospel, Santa Rosa, Calif. 1999.- H. M. SCHENKE, Das sogenannte "Unbekannte Berliner Evangelium" (UBE), in: Zeitschrift für Antike und Christentum 2 (1998) 199-213.- ]. FREY, Leidenskampf und Himmelsreise. Das Berliner Evangelienfragment (Papyrus Berolinensis 22220) und die Gethsemane-Tradition, in: BZ NF 46 (2002) 71-96.- S. EMMEL, The Recencly Published Gospel of the Savior ("Unbekanntes Berliner Evangelium"): Righting the Order of Pages and Events, in: HThR 95 (2002) 45-72.
(I) Zur Einordnung 1961 hatte das Ägyptische Museum in Berlin im Antiquitätenhandel Reste eines Pergamentkodex aus Ägypten erworben. Obwohl ein unbekannter Archivar gleich zu Beginn auf einem Zettel notiert hatte: "neutestamentliches Apokryphon (angebliche Reden Jesu)", blieb der Fund zunächst unbeachtet unter den nicht edierten und nicht konservierten Beständen des Museums liegen. Es war dem amerikanischen Spezialisten Paul A. Mirecki vorbehalten, 1991 bei Bibliotheksarbeiten in Berlin auf den Text zu stoßen. Erste Pressenotizen um Ostern 1997 ließen eine kleine Sensation erwarten, sprachen sie doch von einem unbekannten Evangelium, das ein ganz neues Licht auf die Anfänge des Christentums werfe. Bezeichnenderweise wurde von der Edition des Textes 1999 dann kaum noch Notiz genommen.
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Der Kodex wird aufgrund äußerer Indizie~ in die Zeit vom 4. bis zum 7. Jahrhundert datiert, mit leichter Favorisierung des 6. Jahrhunderts. Der koptische Text gibt sich durch manche Spracheigentümlichkeiten als Übersetzung aus dem Griechischen zu erkennen. Die Datierung der ursprünglichen griechischen Fassung kann nur noch mit Hilfe inhaltlicher Überlegungen vorgenommen werden. Anfangliehe Frühdatierungen auf 100-150 n. Chr. haben inzwischen nüchterneren Erwägungen Platz gemacht: Der Text dürfte frühestens gegen Ende des 2. Jahrhunderts entstanden sein, möglicherweise erst im 3. Jahrhundert. Er scheint das Petrusevangelium zu benutzen und weist inhaltliche Verwandtschaften zum Straßburger koptischen Evangelienfragment auf Der neuerdings gern benutzte Titel "Evangelium des Erlösers" wurde dem Fund erst durch die Editoren beigelegt, die sich dafür auf die Beobachtung stützen, das Jesus im Erzählreferat meist als "Soter" (Retter, Erlöser, Heiland) bezeichnet wird, daneben aber auch als "Herr" (wie durchgehend im Petrusevangelium) und als "Sohn". Hier wird stattdessen die neutralere Bezeichnung als "Unbekanntes Berliner Evangelium" beibehalten. Da zwei Seitenzahlen (99/100 und 107/108) zu lesen sind, weiß man, dass der Kodex mehr als 100 Seiten umfasste. Erhalten sind die Reste von ca. 30 Seiten, aber nur drei Doppel- und zwei Einzelblätter sind einigermaßen lesbar. Daneben gibt es noch 29 kleinere Fragmente, teils mit bloßen Buchstabenresten. Die Textabfolge ist, von den wenigen paginierten Seiten abgesehen, nicht zwingend vorgegeben, was dazu führt, dass die vorliegenden Rekonstruktionen in der Zuordnung der einzelnen Blätter nicht unerheblich divergieren. Es gibt deshalb auch noch keine verbindliche Zählung. Der folgende Überblick orientiert sich hinsichdich Textfolge, Zählung und Übersetzung zur Hauptsache an Plisch.
(2) Zum Inhalt Wie umfangreich das Gesamtevangelium war, aus dem unsere Fragmente stammen, ob es zuvor eine Erzählung über das öffentliche Wirken Jesu enthielt und mit Ostererscheinungen weitergeführt wurde, können wir aufgrund der Überlieferungslage nicht mehr feststellen. Der erhalten gebliebene Abschnitt jedoch lässt sich recht genau lokalisieren: Er gehört in die Passionsgeschichte, und zwar in die kurze Zeitspanne zwischen dem letzten Abendmahl und der Kreuzigung, unter Einschluss der GetsemaniEpisode. In dieser Phase sind Reden Jesu und Gespräche mit den Aposteln
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(nicht: "Jüngern"; das Wort fallt im Text nicht) untergebracht. Die Situation ähnelt also derjenigen der Abschiedsreden imJohannesevangelium, die sich dort inJoh 14-17, zwischen dem Beginn der Passionsereignisse inJoh 12 - 13 (Einzug in Jerusalem, Abschiedsmahl) und ihrer Fortsetzung in Joh 18- 19 (Verhaftung, Prozess und Kreuzigung), finden. Sie weicht somit deutlich ab von der in gnostischen Evangelien bevorzugten Situierung solcher Gespräche in die Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt. Schon das warnt davor, den neuen Fund in rein gnostischem Sinn zu interpretieren. In § 1 spricht der "Erlöser" unter anderem einen Makarismus aus: "Selig ist, wer mit mir essen wird im Königreich der Himmel" (vgl. Lk 14,15) und erwähnt ein "Kleid des Reiches, das ich empfangen (?) habe im Blut der Weintraube". Falls "empfangen" durch "gewaschen" ersetzt werden dürfte, wäre der Bezug zu Gen 49,11, dem Segen Jakobs über Juda, noch deutlicher. Außerdem wird man mit einer Anspielung auf die Eucharistie zu rechnen haben. In § 2 kommt Andreas zu Wort, aber was er sagt, ist weggebrochen. § 3 enthält eine klare Ansage des Abstiegs Christi in die Unterwelt: Wenn ich den Bewohnern dieser Welt gedient habe, ist es auch nötig, dass ich in das Totenreich hinabsteige wegen der Seelen, die an jenem Ort gefesselt sind.
§ 4 verbindet die Ansage der Jüngerflucht aus Mk 14,26f (mit Zitat aus Sach 13,7) und die Überleitung in Mk 14,42 geschickt mit johanneischen Themen (die Orientierung an Johannes und die Verknüpfung von synoptischen und johanneischen Jesusworten stellt überhaupt ein Charakteristikum des UBE dar): Ihr werdet alle fliehen und mich allein lassen, aber ich bleibe nicht allein, denn mein Vater ist bei mir. Ich und mein Vater, wir sind ein einziger ... Ich aber bin der gute Hirte und werde mein Leben für euch geben. Auch ihr sollt euer Leben für eure Freunde geben, damit ihr meinem Vater wohlgefällig seid, denn es gibt kein größeres Gebot als dieses, dass ich mein Leben gebe für die Menschen. Darum liebt mich mein Vater, weil ich seinen Willen erfülle, denn ich bin Gott und wurde Mensch ... (vgl. Joh 16,32; 10,30; 10,11; 15,13).
Der letzte Satz bringt johanneische Präexistenzchristologie und besonders die "Fleischwerdung" des Logos aus J oh 1, 14 auf eine griffige, sprachlich neu gestaltete Formel: Menschwerdung Gottes. In § 5 fragt ein besorgter Jünger, ob Jesus nach ihnen senden und sie aus der Welt zu sich holen werde (vgl. Joh 14,2f). Eine bevorzugte Anrede Jesu an seine Jünger, deren erster Teil noch mehrfach vorkommt, begegnet in § 6: "0 meine heiligen
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Glieder, meine gesegneten Samen!" (die Gemeinde als Leib Christi und die Gläubigen .als Same Abrahams bei Paulus könnten im Hintergrund stehen). Besondere Aufmerksamkeit verdient der§ 7: ... ]auf dem Berg. Auch wir wurden wie geistige Leiber, und unsere Augen wurden nach allen Seiten hin geöffnet, und der ganze Ort wurde vor uns entbüllt. Wir näherten uns den Himmeln, (während] sie sich zueinander öffneten. Die Torhüter wankten. Die Engel fürchteten sich und flohen ... Wir sahen unseren Erlöser, wie er alle Himmel durchquerte [... es fehlt ca. eine halbe Kolumne ... ] aus allen Himmeln. Da wurde vor uns, den Aposteln, diese Welt wie Finsternis. Wir wurden wie (die], die in den Äonen der Herrlichkeit sind, während unsere (Augen sämtliche] Himmel durchdrangen und die (Gnade?] uns mit unserer Apostelschaft bekleidete. Und wir sahen unseren Erlöser, als er zum siebenten Himmel gelangte ...
Danach wird der Text immer unleserlicher, aber es kommen noch Engel, Erzengel und Cherubim vor, die ihre Kronen vor dem Thron des Vaters zu Boden werfen (vgl. Offb 4, 10). Festzuhalten ist zunächst die Erzählperspektive: die Apostel reden in der Wir-Form (ohne dass man deshalb unseren Text, wie auch schon erwogen wurde, zu einem bei verschiedenen Kirchenvätern erwähnten "Evangelium der Apostel" oder "Evangelium der Zwölf" erklären sollte). Die Apostel werden vom Erlöser mitgenommen auf eine Himmelsreise (vgl. das Erlebnis des Paulus in 2 Kor 12,1-4), die sie bis in den Thronsaal Gottes führt. Man ist zunächst sicher versucht, an Auferstehung und Himmelfahrt Christi zu denken, deren direkte Zeugen die Apostel werden. Aber die Gesamtanlage des UBE lässt diese Deutung nicht zu. Dann bleibt als Bezugspunkt nur noch die Verklärung Jesu übrig, die auf einem Berg in Gegenwart von drei Jüngern aus dem Zwölferkreis geschah. Sie wird hier in kosmische Dimensionen hinein erweitert und zu einer förmlichen Himmelsreise der Zeugen, d. h. jetzt aller zwölf Apostel, ausgestaltet, und bei diesem Anlass geschieht deren Einsetzung als Apostel (angezeigt in dem Satz" ... und die [Gnade?] uns mit unserer Apostelschaft bekleidete"). Außerdem wird die Vision so mit der Getsemani-Perikope verknüpft, dass von diesem Geschehen, bei dem sich die Vorzugsjünger an sich durch unrühmliches Einschlafen auszeichnen, nicht mehr viel übrig bleibt. Immerhin ist von der Betrübnis Jesu beim Gebetskampf in Getsemani in § 8 noch die Rede. Seine Betrübnis resultiert allerdings ausschließlich aus seinem Wissen darum, dass er "durch das Volk Israel getötet werden" wird. Darauf bezieht sich seine Bitte "0 mein [Vater], wenn es möglich ist, möge dieser Kelch an mir vorübergehen. Möge ich [getötet] werden durch ein anderes, sündiges [Volk]", was anscheinend aber nicht der Fall sein wird, auch wenn Jesus im weiteren Verlauf erneut darauf insistiert:
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Ich] werde freudig sterben und mein Blut vergießen für das Menschengeschlecht, aber ich weine bloß um meine Geliebten, die da sind: [Abraham], Isaak und Jakob, denn [wenn sie] sich hinstellen werden [am] Tag des Gerichts und ich auf meinem Thron sitzen und die Welt richten werde, werden sie zu mir sagen: [... der Text bricht an dieser Stelle leider ab].
Während aus§ 9 und§ 10 aufgrundder Textzerstörung nicht viel zu entnehmen ist, richten in § 11 zunächst die Apostel {"Wir sprachen zu ihm") und dann Johannes Fragen an Jesus, die sich auf seine Wiederkunft beziehen. Jesus antwortet ihnen zunächst mit Worten aus Joh 20, 17, die dort allerdings nur zu Maria Magdalena gesagt sind: ,,Aber berührt mich ja nicht, bis ich zu meinem Vater aufgestiegen bin, der auch euer Vater ist, und zu [meinem Gott], der auch euer Gott ist". Dann schließt sich ein Satz an, der auch aus EvThom 82 und als Agraphon bekannt ist: "Ich bin das lodernde Feuer. Wer [mir nahe ist, der] ist dem Feuer nah. Wer mir fern ist, ist dem Leben fern". Zu einem Dialog eigener Art, der an die gottesdienstliche Praxis gemahnt, kommt es in § 13. Auf jede Aussage des Erlösers antworten die Apostel im Chor mit ,,Amen" (so die m.E. plausiblere Vermutung, aber der Text gibt den Subjektwechsel nicht deutlich frei; das bekräftigende ,,Amen" könnte somit auch einfach vom Erlöser selbst gesprochen sein; vgl. im Übrigen auch noch das Tanzlied der Johannesakten [Act]oh 94-96]). Inhaltlich wird teils das Geschehen bei der Kreuzigung vorwegnehmend angesprochen. Auffällig ist dabei auch, dass erzählende oder kommentierende Stücke aus den kanonischen Passionsgeschichten in wörtliche Figurenrede verwandelt werden, was man besonders deutlich an der Einarbeitung des Lanzenstichs und des Zeugen aus Joh 19,34f. erkennt: " ... Ich bin der König."- ,,Amen."- "Ich bin der Sohn des Königs"- ,,Amen.". "Ich kämpfe gemeinsam mit euch. Und auch ihr: Kämpft!"- ,,Amen."- "Ich werde gesandt, und ich will euch senden."- ,,Amen." ... "Weint von nun an nicht mehr, sondern freut euch doch!"- ,,Amen."- "Ich habe die Welt besiegt. Ihr aber, lasst nicht zu, dass euch die Welt besiegt!" - ,,Amen." - "Man wird mich mit einer Lanze in die Seite stechen. Der es gesehen hat, soll Zeugnis geben. Und sein Zeugnis ist wahr." -,,Amen." ... "Wer meinen Leib und mein Blut nicht empfangt, der ist mir fremd."- ,,Amen." ...
Der letzte Satz (vgl. Joh 6,53f.) lässt wieder darauf schließen, dass die Gruppe, in der das UBE beheimatet ist, die Eucharistie feierte (und deshalb der ganze Abschnitt in liturgischem Stil gehalten ist?). Auch nach diesem Wechselgesang geht es noch immer nicht mit der Kreuzigung weiter, sondern Jesus hält in§ 14, dem letzten erhaltenen Textstück, eine Ansprache an das Kreuz, das als sein lebendiges Gegenüber gedacht zu sein scheint und ihm vorangeht nach Golgota:
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" ... erhebe dich bis zum Himmel, denn dies ist dei~ Wille, o Kreuz. Fürchte dich nicht! Ich bin reich und werde dich mit meinem Reichtum erfüllen. [Ich] werde auf dich hinaufsteigen, oKreuz.... Weine [nicht], o [Kreuz], sondern freue dich doch, und erkenne, was der Herr besitzt, wenn er dich verherrlichen wird, denn reich ist er ... sie erwarteten dich: einer, der lacht und sich freut; ein anderer, der weint, [trauert] und wehklagt. Komm mir jetzt zuvor, o Kreuz, wie auch ich dir zuvorkommen werde und diesen verlassen ... "
Auch in den vielen kleinen Fragmenten begegnet mehrfach das Kreuz. Erwähnt seien außerdem, ehe wir zur Einordnung übergehen, aus den Fragmenten noch: die "heiligen Glieder" (9H; Zählung nach Hedrick/Mirecki), die (neue) Stadt Jerusalem (14F), der Thron des Vaters (17H), die verwitwete Frau (19F), Milch und Honig und die Quelle des Wassers des Lebens (19H), die direkte Anrede des Judas durch Jesus (20F) und das vierfache Vorkommen von "Pfund" (A.{rpa) in 24H, das vielleicht an die Grabbeigaben anknüpft.
(3) Zur Einordnung Rätselhaft mutet in der Ansprache Jesu an das Kreuz vor allem das Paar an, das gegen Ende hin auftritt: "einer, der lacht und sich freut" und "ein anderer, der weint, trauert und wehklagt". Wenn das auf den himmlischen Christus, der von der Kreuzigung gar nicht berührt wird, und seinen irdischen Stellvertreter zu deuten wäre, hätten wir es mit einer Spielart doketistischer Christologie zu tun, die mit ähnlichen Kunstgriffen arbeitet, um das Leiden des Erlösers zu eliminieren. Andererseits fehlen im übrigen Text eindeutige weitere Signale, die in diese Richtung weisen würden, so dass wir besser zu anderen Deutungen greifen werden. Es könnten z. B. auch die beiden Mitgekreuzigten gemeint sein, von denen einer versteht, was geschieht, und der andere nicht, oder es werden die unterschiedlichen Reaktionen der Zuschauer bei der Kreuzigung angesprochen: Es gibt welche, die höhnen und spotten (Mk 15,29-32), und andere, die weinen und wehklagen (Lk 23,27). Trotz dieser Konzession, die auf eine gnostische Lektüre des UBE verzichtet, bleibt festzuhalten, dass der Text mit dem Leiden des Erlösers sehr zurückhaltend umgeht. Das zeigt sich zum einen in der Neufassung der Getsemani-Perikope, die mit der Verklärung verbunden, zu einer Himmelsreise umgestaltet und dadurch letztlich entschärft wird. Das zeigt sich zum anderen darin, dass die Kreuzigung im antifonalen Wechselgesang und in der Ansprache des Erlösers an sein Kreuz weithin vorweggenommen und zu einer Feier der Erlösung umgestaltet wird.
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Wenn der Erlöser zuletzt zum Kreuz sagt: "wie auch ich dir zuvorkommen werde", zielt das vermutlich auf die Auferstehung ab: Dann wird der Auferstandene dem Kreuz voranschreiten. Wir fühlen uns dadurch unmittelbar an das Petrusevangelium (s.u. in Kap. 6a) erinnert, wo eben dies erzählt wird. Hier gibt es Verbindungslinien, die am einfachsten zu erklären sind, wenn man von einer Benutzung des Petrusevangeliums im zeitlich wohl späteren UBE ausgeht. Noch enger sind in einigen Punkten die Berührungen mit dem Straßburger koptischen Papyrus. Es ist nicht auszuschließen, dass beide Texte einen bestimmten Evangelientyp bezeugen, der die Apostel als Augenzeugen berichten lässt und dem Kreuzesgeschehen einiges von seiner Härte nimmt.
e) Das "Geheime Evangelium nach Markus" (gE) Literatur. H. MERKEL, in: NTApo I, 89-92.- D. LüHRMANN, Fragmente 182-185.M. SMITH, Clement of Alexandria and a Secret Gospel ofMark, Cambridge, Mass. 1973 (WISSEnschaftlich). - The Secret Gospel: The Discovery and Interpretation of the Secret Gospel According to Mark, New York 1973 (populär; dt. Übers.: Auf der Suche nach dem historischen Jesus, Frankfurt a.M. u. a. 1974). - H. MERKEL, Auf den Spuren des Urmarkus? Ein neuer Fund und seine Beurteilung, in: ZThK 71 (1974) 123-144.- M. W MEYER, The Youth in the Secret Gospel ofMark, in: Semeia 49 (1990) 129-153.- E. RAu, Das geheime Markusevangelium. Ein Schrili:fund voller Rätsel, Neukirchen-Vluyn 2003.- www-user.uni-bremen.de/ ~wie/Secret/ secmark_home.html.
(1) Fundumstände
1958 war der amerikanische Gelehrte Morton Smith damit beschäftigt, im Wüstenkloster Mar Saba in der Nähe Jerusalems Bücher und Handschriften zu katalogisieren. In einer gedruckten Ausgabe der Briefe des Ignatius aus dem 17. Jahrhundert entdeckte er auf dem freien letzten Blatt und dem Innendeckel einen handgeschriebenen Text, der sich bei näherem Hinsehen als ein bisher unbekannter Brief des Clemens von Alexandrien erwies. In dem Brief wiederum zitierte Clemens aus einem "mystischen" Markusevangelium, das in Alexandrien in Kreisen von Eingeweihten im Gebrauch war. Zu einer Veröffentlichung des Fundes durch den Entdecker kam es erst 1973. Smith benutzte dafür Fotografien, die er seinerzeit angefertigt hatte. Auf ihrer Grundlage hatten zwischenzeitlich eine Reihe von Experten bestätigt, dass der Text wohl auf Clemens zurückgehe, die Handschrift aber deutlich ins 18. Jahrhundert verweise. Dazu muss man wissen,
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dass das Beschreiben von leeren Blättern und Zwischenräumen in Büchern und das Kopieren von fr~gmentarischen älteren Texten um diese Zeit im Kloster Mar Saba anscheinend üblich war. In diesem Kloster wirkte im 8. Jahrhundert Johannes Damaszenus, der nach eigener Aussage noch Briefe des Clemens zur Hand hatte. Von daher ergibt sich eine schmale Traditionslinie, die einen so ungewöhnlichen Überlieferungsweg überhaupt als entfernt möglich erscheinen lässt. Leider verknüpfte Smith seine Erstausgabe mit weitreichenden Folgerungen, die er hinsichtlich des Jesusbildes daraus zog (und die er später in seinem Buch "Jesus der Magier" [dt. 1981] weiter ausbaute). Man konnte den Eindruck gewinnen, auch wenn Smith das nicht so deutlich sagte, dass der Text eine homoerotische Beziehung Jesu zu wenigstens einem seiner Jünger impliziere. Nicht zuletzt aus diesem Grund, aber auch aus prinzipiellen Erwägungen heraus sind die Zweifel am Status dieses Fundes nie ganz verstummt. Es könnte sich auch um eine geschickte Fälschung handeln, für die der ganze Zeitraum von der Spätantike bis zum 20. Jahrhundert in Frage käme. Ein Urteil darüber wird durch die Tatsache erschwert, dass kein Wissenschaftler nach Smith das Original je zu Gesicht bekam. Nachforschungen ergaben bisher, dass der Band von Mar Saba ins orthodoxe Patriarchat nach Jerusalem transportiert worden ist, dass dort die von Hand beschriebenen Blätter herausgetrennt wurden, um sie besser konservieren zu können, dass gegenwärtig aber der amtierende Bibliothekar des Patriarchats nicht mehr in der Lage ist, sie aufzufinden und vorzuweisen (im Internet verfügt das gE über eine eigene Homepage, auf der man Stationen dieser "Chronique scandaleuse" bis hin zu den neuesten Nachrichten mitverfolgen kann). Inzwischen scheinen immerhin weitere ältere Fotografien, die vom früheren Bibliothekar der Jerusalemer Patriarchatsbibliothek gemacht worden sind, zu Tage getreten zu sein.
(2) Zum Inhalt In dem Brief, der an einen Theodoros gerichtet ist, setzt Clemens sich mit der gnostischen Gruppe der Karpokratianer auseinander, denen er eine libertinistische Haltung in Fragen der Sexualmoral unterstellt. Weil sie sich auf eine besondere Fassung des Markusevangeliums berufen, rekapituliert er zunächst die Entstehung dieses Evangeliums in der Umgebung des Petrus in Rom. Danach sei Markus nach Alexandrien gekommen, mit weiteren petrinischen Aufzeichnungen im Gepäck, und habe hier eine zweite,
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geistliebere Fassung seines Evangeliums für vollkommene Gläubige erstellt (bei der Beschreibung dieses Vorgangs bedient sich Clemens, wie er es auch sonst tut, der Sprache der Mysterienkulte). Dieses geheime Evangelium habe Karpokrates sich besorgt und es verfalscht. Wir haben es also mit drei Fassungen des Markusevangeliums zu tun: (a) einer ersten Version, die Markus in Rom erstellt hatte und die wir kennen, (b) einer zweiten, pneumatischeren Ausgabe, die Markus in Alexandrien herausbrachte, und (c) einer dritten, von Karpokrates in seinem Sinn erweiterten Auflage. Am Schluss der zweiten Seite und auf der dritten Seite der Briefabschrift wird dann endlich zitiert, was Clemens in dem von ihm akzeptierten gE (in der zweiten Fassung also) gefunden hat, und zwar zwischen Mk 10,34 und Mk 10,35, wo sich im Erzählablauf eine Lücke auftut. Das Textstück beginnt mit der Auferweckung eines verstorbenen jungen Mannes, die in Betanien spielt und nicht nur dadurch an die Auferweckung des Lazarus in Joh 11 erinnert, mit einer Besonderheit: Man hört aus dem Grab bereits die laute Stimme des Jünglings hervordringen, ehe Jesus selbst den Stein vom Eingang wegwälzt, ihn an der Hand fasst und aufrichtet. Die Reaktion des Jünglings wird so beschrieben: "Der Jüngling aber blickte ihn an, gewann ihn lieb und begann ihn zu bitten, er möge bei ihm bleiben" (III 4f.). Sie begeben sich ins Haus des Jünglings, von dem wir noch erfahren, dass er reich war (vgl. Lk 18,23; auch Mk 10,21, wo umgekehrt von Jesus gesagt wird, dass er den Mann lieb gewinnt). Die nächste Szene, die sich in zeitlichem Abstand abspielt, enthält die eigentliche Besonderheit des gE, die auch zu den diversen Verdächtigungen Anlass gab (III 6-9): Und nach sechs Tagen trug ihm Jesus (etwas) auf. Und als es spät geworden war, kommt der Jüngling zu ihm, nur mit einem Gewand auf dem bloßen Leib bekleidet. Und er blieb bei ihm jene Nacht; denn es lehrte ihn Jesus das Geheimnis des Reiches Gottes.
Von einer Belehrung über das "Mysterium" des Reiches Gottes erfahren wir auch in Mk 4,11, während der nächtliche Gang des Jünglings zu Jesus an Nikodemus in Joh 3 erinnert. Vor allem aber ist hier die rätselhafte Stelle Mk 14,51 heranzuziehen, wo ein junger Mann, der nur ein Gewand über den nackten Leib geworfen hatte, Jesus zunächst ins Leiden zu folgen versucht, dann aber unter Zurücklassung des Gewandes sein "nacktes Leben" rettet. Clemens trägt später noch einen Vers aus dem gE nach, der seinen Platz zwischen dem Hineingehen Jesu nach Jericho und seinem sofort sich anschließenden Hinausgehen in Mk 10,46 findet. In Jericho trifft Jesus die Schwester des Jünglings, seine Mutter und eine Salome, von denen es aber
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überraschenderweise heißt: "Jesus aber nahm sie nicht auf" (III 16; evtl. weil er nur an dem Jüngling als echtem Jünger interessiert war?). Weitere Ergänzungen, auf die sich die Karpokratianer berufen, bezeichnet Clemens global als Lügen. Ein Beispiel hatte er zwischendurch schon gegeben: Die Wendung "ein Nackter mit einem Nackten", die das nächtliche Mysterium noch anstößiger erscheinen lässt, steht nur in der Version der Karpokratianer (d. h. in der dritten Fassung), nicht aber in seinem eigenen gE. Im übrigen wird man die Nacktheit, wenn man sie ernsthaft zu erklären versucht, von einem Taufkontext her deuten: Der Täufling, manchmal auch der Täufer, legte dafür sein Gewand ab und stieg nackt ins Wasser hinab. Getauft wurde zur Zeit der Morgendämmerung. Die Einführung ins Geheimnis des Reiches Gottes bestünde demnach in der Taufe, was auch dem Eindruck einer Initiation, den wir aus dem Text mit seinen vielen Anspielungen auf die Sprache der Mysterienkulte gewinnen, Rechnung trägt. Die Erzählung fungiert als "Einsetzungsbericht" für die christliche Taufe.
(3) Zur Auswertung Literatur: S. G. BROWN, Mark's Other Gospel: Rethinking Morton Srnith's Contraversial Diseovery (Studies in Christianiry and Judaisrn 15), Waterloo, Ont. 2005.- S. C. CARLsoN, lhe Gospel Hoax: Morton SMITH's Invention of Seeret Mare, Waeo, Tex. 2005. - P. }EFFERY, lhe Seeret Gospel of Mark Unveiled: lrnagined Rituals of Sex, Death, and Madness in a Biblieal Forgery, New Haven 2007. - P. PIOVANELLI, I.:Evangile seeret de Mare trente-trois ans apres, entre potentialites exegetiques et diffieultes teehniques, RB
114 (2007) 52-72.237-254.
Inzwischen wurden auf der Grundlage des gE nicht nur fragwürdige historische, sondern auch weitreichende traditions- und redaktionsgeschichtliche Schlüsse gezogen. Das gE sei älter als unser kanonisches Markusevangelium; letzteres stelle eine gekürzte und entschärfte Fassung des gE, dem seinerseits noch ein Urmarkus vorausliege, dar. Für den Jüngling würde das z. B. bedeuten (s. Meyer): Es handelt sich um den reichen Mann aus Mk 10,17-22, der sich zuerst nicht darauf einlässt, dass Jesus ihn lieb gewinnt, sondern davongeht, nach seiner Erweckung vom Tod (im gE) aber Jesu Liebe erwidert und zum "Lieblingsjünger" wird, bei der Gefangennahme Jesu trotzanfänglichen Bemühens letztlich wieder versagt (Mk 14,51), aber durch seine Präsenz im leeren Grab (Mk 16,5), die seine Bereitschaft, Jesus Todesschicksal zu teilen, demonstriert, endgültig rehabilitiert wird.
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Von der Textlage her, das muss man deutlich sagen, sind solche kühnen Konstruktionen nicht gedeckt. Akzeptieren wir einmal die Authentizität des Clemensbriefes und gestehen wir zu, dass Clemens ein gE kannte, so genügt es doch, für das gE eine Entstehung um ca. 150 n. Chr. anzusetzen. Die antike Rhetorik kennt das Stilmittel der ,,Amplifikation", der Erweiterung und Ausschmückung vorgegebener Texteinheiten. Ein Redaktor in Alexandrien hätte demnach den markinischen Erzählfaden als Grundlage gewählt und zusätzlich weitere Stoffe, auch aus dem Johannesevangelium, eingebracht. Offen bleibt allerdings die Frage, wie es um die Echtheit des Textes bestellt ist und ob sich die aufgebrachte Mühe überhaupt lohnt (vgl. jetzt den Disput zwischen Carlson und Jeffery als Anwälte der Fälschungsthese einerseits und Brown und Pionvanelli als Verteidiger der Echtheit andererseits).
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3. Judenchristliche Evangelien Literatur. P. VIELHAUER I G. STRECKER, in: NTApo 6 1, 114-147.- D. LüHRMANN, Fragmente 32-55. -S. C. MIMOUNI, Le judeo-christianisme. -A. F. J. KiiJN I G. J. REININK, Patristic Evidence for Jewish-Christan Sects (NT.S 36), Leiden 1973.- A. F. J. KiiJN, Das Hebräer- und das Nazoräerevangelium, in: ANRW 11!25.5 (1988) 3997-4033. D. LÜHRMANN, Die apokryph gewordenen Evangelien 229-258.- J. CARLETON PAGET, Jewish Christianity, in: CHJud III (1999) 731-775.- S.C. MIMOUNI, Les fragements Evangeliques judeo-chretiens "apocryphises": Recherehes er perspectives (CahRB 66), Paris 2006.- P. L. ScHMIDT, "Und es war geschrieben auf Hebräisch, Griechisch und Lateinisch": Hieronymus, das Hebräer-Evangelium und seine mittelalterliche Rezeption, in: Filologia Mediolatina 5 (1998) 49-93.
Das Christentum entstand aus einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung. Insofern gab es am Anfang überhaupt nur Judenchristen, und die eigentliche historische Frage ist die, wie und warum es überhaupt zur Entstehung der Kirche aus den Völkern und zur Trennung von Judentum und Christentum kam. Wenn wir heute von Judenchristentum sprechen, legen wir ein engeres Konzept zugrunde, das den vollzogenen Trennungsprozess schon voraussetzt. Als "judenchristlich" bezeichnen wir Gruppen, die sich zu Jesus Christus bekannten und gleichzeitig an jüdischer Lebensweise festhielten, also weiterhin den Sabbat feierten, die Beschneidung praktizierten und die Speisevorschriften einhielten. Im Verlauf der Zeit gerieten sie zwischen alle Stühle, weil sie von Christen und Juden gleichermaßen als häretisch verdächtigt wurden. Dennoch sind judenchristliche Gemeinden als lokale Größen sicher bis ins 4. oder 5. Jahrhundert nachzuweisen, vielleicht über islamische Quellen - sogar noch länger. Dass diese Gruppen über ein eigenes Schrifttum verfügten, ist anzunehmen. Leider ist davon im Original nichts erhalten geblieben, nicht ein einziges Fragment auf einem Papyrusblatt oder auf einer Seite Pergament. Was wir lediglich haben, sind Zitate bei den Kirchenvätern, und damit beginnen die Probleme. Sie lassen sich gut anhand einer Stelle bei Hieronymus illustrieren, der in der Einleitung zurTaufperikope, auf die wir zurückkommen müssen, schreibt (Adversus Pelagianos 3,2): In dem Evangelium nach den Hebräern, das in chaldäischer und syrischer Sprache, aber mit hebräischen Buchsraben geschrieben ist, das bis heute die Nazaräer gebrauchen, das (Evangelium also) nach den Aposteln oder, wie viele meinen, nach Marrhäus, das auch in der Bibliothek von Caesarea vorhanden ist ...
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Hier stoßen wir also auf ein Hebräerevangelium, geschrieben in hebräischer Quadratschrift, aber in aramäischer Sprache (sie ist mit chaldäisch und syrisch, oft auch mit hebräisch gemeint). Als Trägergruppe identifiziert Hieronymus die Nazaräer, und als alternativen Titel kennt er die Bezeichnung "Evangelium der Apostel". Außerdem gibt er noch der Erwägung Raum, dieses Evangelium könne identisch sein mit dem hebräisch geschriebenen Urmatthäus, dessen Existenz Papias von Hierapolis (frühes 2. Jahrhundert) postulierte. Diese so präzise scheinende Beschreibung, der andere bei Hieronymus zur Seite treten, sorgt für erhebliche Konfusion. Dass die Gleichsetzung von Hebräerevangelium und Urmatthäus unhaltbar ist, gehört zu den wenigen Ergebnissen, die in der Forschung konsensfähig sind. Nicht bestreiten lässt sich auch, dass Hieronymus nur mit einem einzigen judenchristliehen Evangelium rechnet, das er je nach Kontext unterschiedlich charakterisiert. Als Titel dafür ist im gesamten Schrifttum der Alten Kirche nur "Hebräerevangelium" belegt. Erst mittelalterliche Quellen sprechen auch von einem "Nazaräerevangelium". Im 20. Jahrhundert hat die Forschung dennoch ein fast kanonisch gewordenes Modell entwickelt, das die Existenz von drei judenchristliehen Evangelien voraussetzt: ein Hebräerevangelium (im Folgenden EvHeb), ein Nazaräerevangelium (im Folgenden EvNaz) und ein Ebionäerevangelium (im Folgenden EvEb; der Titel selbst wurde erst im 19./20. Jahrhundert geprägt). Während das EvEb nur bei Epiphanius von Salamis bezeugt ist, benutzen ein EvHeb vor Hieronymus bereits Clemens von Alexandrien und Origenes. Textbelege für das EvNaz gewinnt man vor allem dadurch, dass man die Stellen bei Hieronymus auf EvHeb und EvNaz verteilt. Hieronymus gerät dadurch sehr ins Zwielicht, weil er dann irrige oder bewusst falsche Angaben gemacht hätte. Neuerdings hat eine Gegenreaktion eingesetzt (s. Schmidt), die Hieronymus wieder mehr Zutrauen schenkt, neben dem EvEb nur noch das EvHeb gelten lässt und ihm alle bislang auf EvHeb und EvNaz verteilten Materialien zuschreibt. Demgegenüber ist aber doch zu bedenken, dass uns drei außerkanonische Erzählungen von der Taufe Jesu vorliegen (s.u.), die so unterschiedlich sind, dass sie unmöglich aus einem oder auch aus zwei Werken stammen können, sondern drei selbstständige Kontexte voraussetzen. Wir wollen die Verwirrung, die sowieso schon besteht, hier nicht noch weiter steigern. Im Folgenden halten wir uns bei der Präsentation des Materials an die konventionelle Dreiteilung, versehen das EvNaz aber im
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Zwischentitel mit einem Fragezeichen, um auf den prekären Status gerade dieses Textkomplexes hinzuweisen. Die Lösung dürfte aber nicht in der Reduktion auf ein einziges EvHeb bestehen. Wir müssen mit der Existenz einer breiteren Überlieferung rechnen, die neben mündlichen Traditionen auch mehr Quellenschriften kannte als nur zwei oder drei oder zumindest verschiedene Ausgaben dieser zwei bis drei Quellen. Was ihre Entstehung angeht, gelangen wir allgemein in die Jahre zwischen 100 und 150. Als Sprache kommt sowohl Aramäisch wie auch Griechisch infrage (teils wird sogar mit einer Rückübersetzung aus dem Griechischen ins Aramäische gerechnet).
a) Das Hebräerevangelium (EvHeb) Literatur: P. VIELHAUER I G. STRECKER, in: NTApo 6 1, 142-147.- D. LüHRMANN, Fragmente 40-55.- A.F. J. I
Die ersten einigermaßen sicheren Zeugnisse für das EvHeb bieten uns die alexandrinischen Theologen Clemens und Origenes, und es scheint, als habe das EvHeb in Ägypten seine eigentliche Heimat gehabt - oder eher eine neue Heimat gefunden? In dem Zusammenhang könnte eine Angabe über Pantainos, den Lehrer von Clemens und Origenes, aufschlussreich sein, trotz ihres legendarischen Charakters. Pantainos sei, so Eusebius (Historia ecdesiastica V 10,3), bis nach Indien gekommen und habe dort das Matthäusevangelium in hebräischer Sprache schon vorgefunden; es sei vom Apostel Bartholomäus dorthin vermittelt worden. Clemens und Origenes lag das EvHeb zweifellos in griechischer Sprache vor. Für seine Entstehung wird man in die ersten Jahrzehnte des 2. Jahrhunderts herabgehen können. In Alexandrien hat auch Hieronymus, der 385/86 in Ägypten weilte, das EvHeb kennen gelernt. Bemerkenswert ist noch, dass das EvHeb bei den Alexandrinern und auch weiterhin nicht als häretisches Zeugnis behandelt wird, sondern dass man teils respektvoll daraus zitiert, auch da, wo man es nicht auf eine Stufe mit den kanonischen Evangelien stellen will. Dabei dürfte die anscheinend unausrottbare Assoziation mit dem hebräischen Urmatthäus eine wesentliche Rolle gespielt haben.
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(1) Suchen und Finden bei Clemens von Alexandrien
Ein schönes Wort, das Clemens von Alexandrien zweimal bringt und an einer Stelle dem EvHeb zuweist, wurde inzwischen auch als Logion 2 im Thomasevangelium (in der griechischen und in der koptischen Fassung, s.u. Kap. 7a) identifiziert. Es könnte in beiden Texten gestanden haben. Wir wollen es hier schon behandeln und gehen von einer Synopse der vier Belege aus (die ersten beiden Spalten stammen aus den "Teppichen" des Clemens von Alexandrien, die dritte Spalte fußt auf dem koptischen Text des Thomasevangeliums und die vierte Spalte auf der- teils rekonstruierten- griechischen Fassung): Strom II 45,5
Strom V96,3
EvThom 2
POxy 654,5-9
Wieauch im Hebräerevangelium geschrieben steht:
Mitdiesen {Worten) ist jenes gleich:
]esus sagte:
Es spricht ]esus
Nicht aufhören soll der Suchende,
Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet;
Nicht aufhören soll der Suchende zu suchen bis er findet;
wenn er aber fand, wird er betroffen sein;
und wenn er findet, wird er bestürzt sein;
und wenn er fand, wird er betroffen sein;
wenn er aber betroffen ist,
und wenn er bestürzt ist,
und wenn er betroffen ist,
Wer zu staunen begann,
wird er erstaunt sein,
wird herrschen;
wird er herrsehen;
und wer zu herrschen begann, wird Ruhe finden.
wenn er aber zu herrschen begann, wird er Ruhe finden.
und er wird herrschen über das All.
wird er herrsehen; und wenn er zu herrschen begann, wird er Ruhe finden.
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Als Experiment kann man aus den vier Fassungen eine Langform des Logions herstellen, die alle Elemente zu integrieren versucht: Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Wenn er fand, wird er betroffen sein. Wenn er betroffen ist, wird er zu staunen beginnen. Wenn er zu staunen begann, wird er herrschen. Wenn er zu herrschen begann, wird er Ruhe finden.
Die Form dieses Wortes bezeichnet man als "Kettenschluss": Das letzte Wort der einen Zeile wird zu Beginn der nächsten Zeile wieder aufgenommen. Der Effekt dieses rhetorischen Kunstgriffs besteht darin, dass der Eindruck einer geradez~ zwingenden Notwendigkeit entsteht; eines greift logisch ins andere. Inhaltlich steht, wenn auch etwas entfernt, im Hintergrund das Jesuswort vorn Suchen und Finden in Mt 7,7 (vgl. auch Mt 11,28f.), das aber alleine nicht genügt. Das Staunen z. B. stellt nach Platon den Anfang des Philosophierens dar, und Clernens zitiert das Logion denn auch im Kontext eines Platonzitats. Das Herrschen kann man mit der Herrschaft Gottes, an der die Geretteten teilhaben werden, als zentralem Inhalt der Predigt Jesu zusammenbringen. Es wird hier aber nicht endzeitlich, sondern präsentisch oder zeitlos gesehen. In der kynisch-stoischen Philosophie gab es darüber hinaus einen Grundsatz, den auch Philo von Alexandrien verwendete, dass nämlich nur der Weise wirklich König sei und herrsche. Die Ruhe als höchstes Heilsgut schiebt sich in der Gnosis mehr und mehr in den Vordergrund. Ein gewolltes Paradox dieses Wortes besteht darin, dass nur die rastlose Tätigkeit des Suchens zu der ersehnten Ruhe führt. Was aber soll eigentlich gesucht werden? Wenn man das Thornasevangeliurn als Interpretationsrahmen zur Hilfe nimmt, gilt es, die tiefere Bedeutung der Worte Jesu zu entdecken. Das kann man auf die Schrift überhaupt ausweiten, aber z. B. auch auf die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz. In der jüdischen Weisheitsliteratue richtet sich die Suche auf die göttliche Weisheit. Diese Weisheitsüberlieferung bildet einen integrierenden Bezugspunkt für verschiedene Elemente unseres Logions, wie folgendes Zitat aus Sir 6,27f. zeigt: Frage und forsche, suche und finde! Hast du sie (die Weisheit) erfasst, lass sie nicht wieder los! Denn schließlich wirst du bei ihr Ruhe finden, sie wandelt sich dir in Freude.
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(2) Die "Mutter" Jesu bei Origenes Ein Wort aus dem EvHeb hat offenbar besonders beeindruckt, bringt Origenes es doch zweimal und Hieronymus gleich dreimal. Bei Origenes lautet die Stelle, die auch die Quellenangabe enthält (In Joh 2,12): Wenn aber jemand das Hebräerevangelium akzeptiert, wo der Erlöser selbst sagt: "Neulich nahm mich meine Mutter, der heilige Geist, an einem meiner Haare und trug mich fort auf den großen Berg Tabor", so muss er sich fragen, wie "Mutter" Christi der durch den Logos gewordene heilige Geist sein kann.
Origenes war mit der Rolle, die dem Geist im Zitat zugeschrieben wird, offenkundig nicht einverstanden, musste sich aber damit auseinandersetzen. Dass vom Geist als "Mutter" Jesu überhaupt gesprochen werden kann, setzt semitisches Denken voraus, denn anders als im Griechischen und Lateinischen ist das Wort für "Geist" im Semitischen ein Femininum. Beim Berg Tabor assoziieren wir vermutlich als erstes die Verklärung Jesu, aber auch eine Begebenheit aus der Versuchungsgeschichte wurde von der Tradition dort lokalisiert. Was in Mt 4,8 der Versucher tut ("Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg"), wird hier dem Geist zugeschrieben (vgl. Mt 4,1). Wenn es sich um die Versuchung Jesu handelt, macht auch die Sprecherperspektive Sinn: Bei der Verklärung waren die drei Vorzugsjünger dabei, bei der Versuchung aber fehlten auch sie. Deshalb berichtet Jesus jetzt seinen Jüngern im Nachhinein, was bei der Gelegenheit geschah. Dass der Geist oder ein Engel jemanden beim Haarschopf packen und hinweg transportieren kann, wissen wir auch von Ezechiel (Ez 8,3) und Habakuk (Dan 14,36). Aber dass Jesus an einem seiner Haare davongetragen wird, hat dort dennoch keine Parallele. "Damit soll offenbar ausgedrückt werden, dass Jesus nicht erst gezogen zu werden brauchte; er folgte dem Flug des Geistes kraft inneren Triebes wie von selbst, sodass nur eine ganz leise Führung wie an einem Härlein genügt" (so Arnold Meyer, in: Handbuch zu den Neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 1904, 28).
(3) Jesus und die Sünderin bei Didymos dem Blinden Eusebius führt eine von Papias aufbewahrte Erzählung über eine Frau, die vieler Sünden angeklagt war und zu Jesus gebracht wurde, auf das EvHeb zurück (Historia ecdesiastica III 39, 19). Dafür kommt am ehesten die ort-
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lose, wenn man so will "apokryphe" Perikope von Jesus und der Sünderin in Frage, die nur zufallig ins Johannesevangelium geraten ist Qoh 8,3-11; allerdings wird auch die Meinung vertreten, dass Papias sich aufLk 7,36-50 beziehe). Glückliche Papyrusfunde haben nun eine andere Fassung zutage gefördert, die sich in einem Bibelkommentar von Didymos dem Blinden aus Alexandrien (!),einem Lehrer des Hieronymus und des Origenes-Übersetzers Rufin, findet (bei Lührmann fr. 3b): Wir berichten nun in gewissen Evangelien: Eine Frau wurde, heißt es, verurteilt von den Juden aufgrund einer Sünde und, um gesteinigt zu werden, an den Ort getrieben, wo das zu geschehen pflegte. Als der Erlöser, heißt es, sie erblickte und sah, dass sie bereit waren, sie zu steinigen, sagte er zu denen, die sie mit Steinen bewerfen wollten: "Wer nicht gesündigt hat, hebe einen Stein auf und werfe ihn. Wenn jemand sich gewiss ist, nicht gesündigt zu haben, nehme er einen Stein und treffe sie." Und niemand wagte es. Indem sie sich selbst überprüften und erkannten, dass auch sie verantwortlich wären für einiges, wagten sie nicht, jene (zu bewerfen).
Diese Version fallt einerseits deutlich knapper aus als die in Joh 8,3-11, weist aber andererseits im Jesuswort eine unnötige Verdoppelung auf. Das erschwert ihre Beurteilung. Wahrscheinlich liegt nicht einfach eine verkürzte Wiedergabe von Joh 8,3-11 vor, sondern eine selbständige Überlieferungsvariante hohen Alters, die Didymos in einem nichtkanonischen, in Alexandrien vorhandenen Evangelium fand.
(4) Die Taufe Jesu bei Hieronymus Zwei der drei außerkanonischen Fassungen der Taufe Jesu stehen bei Hieronymus. Obwohl in der Einleitung von "Nazaräern" die Rede ist, ordnet die neuere Forschung die folgende Version dem EvHeb zu (Hieronymus, lnJes 11,2): Nach dem Evangelium, das, in hebräischer Sprache verfasst, die Nazaräer lesen, wird auf ihn Qesus) die ganze Quelle des Heiligen Geistes herabsteigen ... Ferner finden wir in dem Evangelium, das wir eben erwähnt haben, folgendes geschrieben: Es geschah aber, als der Herr aus dem Wasser heraufgestiegen war, stieg die ganze Quelle des Heiligen Geistes auf ihn herab und ruhte auf ihm und sprach zu ihm: "Mein Sohn, in allen Propheten erwartete ich dich, dass du kämest und ich in dir ruhte. Denn du bist meine Ruhe; du bist mein erstgeborener Sohn, der du herrschest in Ewigkeit."
Wenn der Geist Jesus mit "mein Sohn" anredet, fühlt man sich als erstes an die oben schon erörterte Konzeption vom Geist als Mutter Jesu erinnert. Ansonsten überschneiden sich hier zwei Traditionslinien aus dem
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Alten Testament, eine prophetische und eine weisheitliche. Nicht zufällig zitiert Hieronymus diese Tauferzählung bei der Kommentierung von Jes 11,2: "Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm (d. h. dem Spross aus der Wurzel Isais): der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht." Die Propheten des Alten Bundes hatten Anteil an diesem Geist, aber erst auf Jesus ruht er in seiner ganzen Fülle. Die Umschreibung dieser Fülle mit "Quelle" kann man mit dem Ausdruck "Quell der Weisheit" in Bar 3,12 vergleichen. Von der Weisheit wird gesagt: "Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten" (Weish 7,27), und sie kommt selbst zu Wort mit der Feststellung: "Bei ihnen allen suchte ich einen Ort der Ruhe, ein Volk, in dessen Land ich wohnen könnte" (Sir 24,7). In gewisser Weise sind hier gegenläufige Tendenzen am Werk. Dass auf die Taube, die vom Himmel herabsteigt, verzichtet wird, und dass keine Stimme aus dem Himmel ertönt, sondern der Geist direkt (in seinem Innern?) zu Jesus spricht, kann man als Reduzierung des mythischen Beiwerks ansehen. An seine Stelle tritt auf der anderen Seite der Weisheitsmythos des frühen Judentums, der in der Gnosis erst sein ganzes Potential entfalten sollte.
(5) Der Herrenbruder Jakobus bei Hieronymus Zweimal zitiert Hieronymus aus dem EvHeb Mahnungen zur brüderlichen Liebe und Rücksichtsnahme, wie sie besonders einer relativ geschlossenen, nicht zu großen (judenchristlichen) Gruppe gut anstehen. Jesus selbst habe, so überliefert er, gesagt: "Und niemals sollt ihr fröhlich sein, wenn ihr nicht euren Bruder in Liebe anblickt" (In Eph 5,4), und eine der größten Sünden habe begangen, "wer den Geist seines Bruders betrübt hat" (In Ez 18,5-9). Diese beiden Worte dürften am Platz sein als Überleitung zu einer Erzählung, in der neben Jesus sein Bruder Jakobus (nicht der Apostel Jakobus aus dem Zwölferkreis!) eine Schlüsselrolle übernimmt. Das Geschehen spielt nach Ostern, doch ist auch ein Rückverweis in die vorösterliche Situation des letzten Abendmahls eingebaut (Hieronymus, Oe viris illustribus 2): ... und auch das Evangelium, das Hebräerevangelium genannt wird und von mir neulich in die griechische und lateinische Sprache übersetzt worden ist, das auch der Stählerne (d. h. Origenes) häufig benutzt, berichtet nach der Auferstehung des Erlösers:
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Als aber der Herr das Leintuch dem Knecht des Priesters gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Jakobus ha.tte nämlich geschworen, dass er nicht mehr essen werde von jener Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn auferstehen sehen würde von den Schlafenden. Und wiederum sagt der Herr etwas später: "Bringt einen Tisch und Brot!" Und sogleich wird hinzugefügt: Er nahm das Brot und dankte und brach es und gab es Jakobus, dem Gerechten, und sagte zu ihm: "Mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist auferstanden von den Schlafenden."
Das zentrale Anliegen dieses Texts geht dahin, die Ersterscheinung des Auferstandenen (in Weiterführung von 1 Kor 15,7) dem Herrenbruder Jakobus zuteil werden zu lassen, um diesen so als Haupt der Gemeinde nach Ostern zu legitimieren. Jakobus war der große Heros des Judenchristentums, wo er wie hier den Beinamen "der Gerechte" trägt. Der Popularität dieser Überlieferung unter Judenchristen ist es auch zu verdanken, dass wir dafür insgesamt sechs Belege besitzen (Klijn Nr. 15). Befremdlich erscheint, dass der Auferstandene selbst dem Knecht des Hohenpriesters sein Leintuch, in das der Leichnam gewickelt war (vgl. Joh 20,6f.), übergibt. Da die phantasievolle Erklärung, das Leintuch werde als Decke für den später herangebrachten Tisch benötigt, sicher nicht haltbar ist, kann das Leintuch nur den Sinn haben, die Realität der Auferstehung zu unterstreichen, mit der Folge: "In dem Auferstehungsbericht selbst muss im Unterschied von den biblischen Berichten geschildert gewesen sein, wie der Herr vor den Augen dieser Grabwache aus dem Grab hervorging. Denn er selbst gibt jenem Knecht sein Leintuch, damit er es als Beweis seiner Auferstehung dem Hohenpriester überbringe" (so immer noch treffend Hans Waitz, in: NTApo2, Tübingen 1924, 49). Der erzählerische Rückblick will absichern, dass der Herrenbruder Jakobus auch beim letzten Abendmahl dabei war und aus dem Kelch des Herrn trank (andere, weniger überzeugende Möglichkeit: es ist der Kelch des Leidens gemeint, wie in Mk 10,38f.). Analog zu dem Verzichtsgelübde Jesu in Mk 14,24 legt Jakobus das Gelübde ab, nichts mehr zu essen, es sei denn, Jesus würde von den Toten wieder auferstehen. Auch daraus lässt sich ein apologetisches Argument gewinnen: Wenn der gerechte Jakobus von seinem Gelübde wieder abrückt, kann es dafür keinen anderen Grund geben, als dass die Auferstehung tatsächlich geschehen ist und der Auferstandene seinen Bruder wieder zum Essen bewogen hat.
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b) Das Nazaräerevangelium (?) (EvNaz) Literatur: P. VIELHAUER I G. STRECKER, in: NTApo 6 1, 128-138. -A. F.]. Kr.rJN, JewishChristian Gospel Tradition. - P. VIELHAUER, Geschichte 648-652. - S. C. MrMOUNI, Le judeo-christianisme ancien 207-225. - ]. FREY, Die Scholien nach dem,jüdischen Evangelium' und das so genannte Nazoräerevangelium, in: ZNW 94 (2003) 122-37.
]esus aus Nazareth wird in den Evangelien wegen seiner Herkunft auch "Nazarener" (Mk 1,4 [im Griechischen!]) oder "Nazaräer" (Mt 2,23) genannt. Letzteres erlaubt eine deutlichere Anspielung auf hebräische Wurzeln mit der Bedeutung "Geweihter" oder "Spross". Nach Ostern scheinen die Jesusanhänger eine zeitlang, besonders in Syrien, generell als "Nazaräer" oder "Nazaräer" (beides kommt vor) bezeichnet worden zu sein. Daraus entwickelte sich allmählich ein Etikett für judenchristliche Sondergruppen in der Jordangegend und in Syrien. Das Evangelium, das sie benutzten, firmiert in der Forschung (nicht in den Quellen) als "Nazaräerevangelium", für das man eine Entstehung um 150 oder früher postuliert. Eusebius, der zeitlich zwischen den Alexandrinern und Hieronymus steht, schreibt die Kenntnis eines Hebräerevangeliums bereits Hegesipp (um 160-180) zu (Historia ecclesiastica IV 22,8), und er zitiert selbst aus einem "in hebräischen Buchstaben geschriebenen Evangelium" eine moralisierende Sonderfassung des Gleichnisses von den Talenten, in der die Strafe des Herrn nicht den trifft, der das Geld vergraben hatte, sondern einen anderen, "der das Vermögen des Herrn mit Huren und Flötenspielerinnen durchbrachte" (in einem "Theophania" betitelten Fragment). Aus dem Wortlaut ist nicht zu erkennen, dass es sich dabei um das EvNaz handeln soll, dem die meisten modernen Ausgaben beide Notizen zuschreiben. Die folgenden Textbeispiele aus dem EvNaz stehen also unter dem doppelten Vorbehalt, dass sie (a) auch dem EvHeb angehören könnten, für das wir dann über eine wesentlich breitere Grundlage verfügen würden, oder dass sie (b) anderen, nicht mehr identifizierbaren Werken und Kontexten entnommen sind. Der Beschäftigung mit den einzelnen Überlieferungen selbst, um die es uns im Folgenden zur Hauptsache geht, tut die Unsicherheit hinsichtlich der Zuweisung keinen Abbruch.
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(1) Der reiche Mann bei Origenes (?)
Nur in der lateinischen Version des Matthäuskommentars des Origenes findet sich zu Mt 19,16-24 eine Parallelüberlieferung, die in der Einleitung auf das EvHeb zurückgeführt, von der neueren Forschung aber mehrheitlich dem EvNaz zugewiesen wird (erst der lateinische Bearbeiter, so die Argumentation, habe es in den Text des Origenes eingeschoben). Ganz abgesehen von der strittigen Herkunft lohnt es sich, diese Fassung genauer mit der Perikope bei Matthäus zu vergleichen:
Mt 19,16-24
Nazaräerevangelium
Und siehe, einer trat zu ihm und fragte:
Es sprach zu ihm der andere der beiden Reichen
"Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben erlange?''
"Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich lebe?''
Er aber sprach zu ihm: "Was fragst du mich nach dem Guten? Einer nur ist,der Gute'.
Er sprach zu ihm:
Wenn du in das Leben eingehen willst, so halte die Gebote.
"Mensch, erfülle das Gesetz und die Propheten.
((
((
Er sagt ihm: "Welche?" Jesus sprach: "Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen. Ehre deinen ~ter und deine Mutter, und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Da sagt ihm der junge Mann. ,,Alles dieses habe ich beachtet. Was fehlt mir noch?"
Er antwortete ihm: "Das habe ich getan.
((
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Jesus sagte zu ihm: "Wenn du vollkommen sein willst, so geh, verkaufe, was dir gehört, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben. Dann komme und folge mir nach."
Als der junge Mann diese Worte gehört hatte, ging er betrübt hinweg; er war nämlich Besitzer vieler Güter.
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Er sprach zu ihm:
"Gehe hin und verkaufe alles, was du besitzt, und verteile es unter die Armen,
und dann komm und folge mir nach." Da begann aber der Reiche sich am Kopfe zu kratzen, und es (das Wort) gefiel ihm nicht. Und der Herr sprach zu ihm: "Wie kannst du sagen, Gesetz und Propheten habe ich erfüllt? Steht doch im Gesetz geschrieben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und siehe, viele deiner Brüder, Söhne Abrahams, starren vor Schmutz und sterben vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und gar nichts kommt aus ihm heraus zu ihnen!"
Jesus sprach zu seinen Jüngern: "Wahrlich, ich sage euch, dass ein Reicher nur schwer in das Hirnmelreich eingehen wird.
Und er wandte sich um und sagte zu Simon, seinem Jünger, der bei ihm saß:
Nochmals sage ich euch: Leichter ist es, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineingeht."
"Simon, Sohn des Jona, es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher ins Himmelreich."
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Streng genommen müssten wir wenigstens ~och Mk 10, 17f. hinzunehmen, weil dort der Fragesteller sagt: "Guter Meister, was soll ich tun, damit ich ewiges Leben erbe?" und Jesus die Anrede zurückweist mit den Worten: "Was nennst du mich gut? Niemand ist gut, nur der eine Gott". Das christologische Problem, das in der Zurückweisung des Attributs "gut" durch Jesus steckt, haben das Matthäusevangelium und das EvNaz gleichermaßen entschärft, indem sie es weglassen und statt dessen vom "Gutes tun" reden. Gleich zu Beginn wird im EvNaz von dem "anderen der beiden Reichen" gesprochen. Also sollte vorher, anders als bei Matthäus, bereits von dem ersten der beiden die Rede gewesen sein. Das könnte auf eine Art Evangelienharmonie hinweisen, in der z. B. Lk 12,13-21 Gesus wird als Schlichter in einem Erbstreit angerufen und erzählt das Gleichnis vom reichen Kornbauern) voranging. Was im EvNaz in der Exposition des Erzählstücks besonders auffällt, ist einerseits die umfassende Formulierung "Mensch, erfülle das Gesetz und die Propheten" und andererseits die Tatsache, dass die Zitierung von fünf Geboten des Dekalogs und des Gebots der Nächstenliebe aus Lev 19,18 durch Jesus in Mt 19, 18f. fehlt. Beides hängt zusammen: Es geht im EvNaz nicht nur um den Dekalog, sondern um das ganze jüdische Gesetz, und der Dekalog selbst braucht nicht eigens in Erinnerung gerufen zu werden. Darin kann man bereits eine judenchristliche Eigenheit sehen. Die direkte Bezeichnung des Mannes als "der Reiche" findet sich nur im EvNaz, aber ihr entspricht bei Matthäus der Besitz vieler Güter (Lk 18,23 hat: "er war nämlich überaus reich"). Dass sich der Reiche am Kopf zu kratzen beginnt, anstatt betrübt wegzugehen, ist ein novellistisches, anschauliches Detail, das aber kaum Aussicht hat, ursprünglicher zu sein als die Formulierung bei Matthäus. Der Verzicht auf das Weggehen hat aber auch zur Folge, dass Jesus den Reichen noch einmal anreden kann. Das kleine Redestück, das sich anschließt, trägt die Erwähnung des Gebotes der Nächstenliebe (bei Matthäus in V 19b) nach und führt es ausdrücklich auf das Gesetz (Lev 19, 18) zurück. Wenn die Brüder des Reichen als "Söhne Abrahams" gekennzeichnet werden, wird wieder der Horizont einer judenchristliehen Gemeinde sichtbar. Hier hält man die sozialen Verpflichtungen, die sich gleichfalls aus dem Gesetz ergeben (vgl. Dtn 15,4: "Es soll keine Armen bei dir geben") hoch. Ihnen kommt der Reiche nicht nach, was seine anfängliche Behauptung, die Forderungen des Gesetzes und der Propheten in allem einzulösen, als hohl entlarvt. Auf ähnlichen Überlegungen baut im Übrigen auch das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus in Lk 16, 19-31 auf.
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Die Anrede des Sirnon Petrus als "Sohn des Jona" im Schlusssatz läuft parallel mit "Simon Barjona" in Mt 16,17. Eine Randlesart im Evangelienkodex 566 zu Mt 16,17 liest unter Berufung auf To Ioudaikon stattdessen "Simon, Sohn des Johannes" (wie Joh 1,42). Wir kommen auf diesen eigentümlichen Textzeugen im Anschluss an den nächsten Punkt zurück.
(2) Die Fragmente bei Hieronymus Wenn man EvHeb und EvNaz unterscheidet, wird Hieronymus zum Hauptzeugen für das letztere. Seine Gewährsleute, denen er die Kenntnis des EvNaz verdankt, lokalisiert er in Beröa (nahe Aleppo in Syrien). Drei Bezugnahmen auf das EvNaz bei Hieronymus verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. a) Ein Problem war schon für die neutestamentliche Überlieferung und erst recht für die frühe Kirche die Frage, warum sich Jesus der Bußtaufe Johannes' des Täufers unterzogen hat. Das zeigt sich in der zweiten der drei außerkanonischen Fassungen der Taufperikope, die Hieronymus in Adversus Pelagianos 3,2 aufbewahrt hat: Siehe, die Mutter des Herrn und seine Brüder sagten zu ihm: "Johannes der Täufer tauft zur Vergebung der Sünden; wir wollen hingehen und uns von ihm taufen lassen." Er aber sprach zu ihnen: "Was habe ich gesündigt, dass ich hingehe und mich von ihm taufen lasse? Es sei denn das, was ich gesagt habe, ist Unwissenheit" (Sünde in Unwissenheit?).
Dass Jesus sich von Johannes habe taufen lassen, scheint hier rundweg abgelehnt zu werden (was jedoch erst der fehlende Erzählkontext dieses Fragments wirklich klar stellen könnte; vielleicht hat man auch nur eine Sicherung eingebaut wie in Mt 3,15, wo Jesus sich lediglich taufen lässt, weil es sich für ihn ziemt, "jede Gerechtigkeit zu erfüllen"). Für die christologische Einordnung hängt einiges vom Verständnis der "Unwissenheit" ab. Man könnte versucht sein, es lediglich auf die voranstehende Frage "was habe ich denn gesündigt" zu beziehen: Sollte sie etwa von einer irrtümlichen Voraussetzung ausgehen? Aber das sieht doch nach einer Verlegenheitslösung aus. Eher wird hier damit gerechnet, dass Jesus zwar keine schweren, absichtlichen Verfehlungen begangen hat, wohl aber unabsichtliche, unwissentliche - eine Differenzierung, die auch das Alte Testament kennt (vgl. Lev 5,18). Das wäre ein weiteres Relikt einer alten, judenchristliehen Christologie, die längst nicht alle Lehrentwicklungen in der Großkirche mitzutragen gewillt war.
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b) Viel umrätselt ist das griechische Wort epiousios in der vierten Vaterunserbitte, für das es keine~ weiteren Beleg mehr gibt. Heißt es "täglich" oder "morgig" oder "notwendig" oder "übernatürlich" oder was sonst? Hieronymus hat dazu eine eigene Meinung, aber er verfügt auch über einen weiteren Vorschlag (In Mt 6,11): In dem sogenannten Evangelium nach den Hebräern habe ich anstelle von "zum Dasein notwendig" gefunden mahar, das heißt "morgig", so dass der Sinn ist: "Unser morgiges"das heißt zukünftiges- "Brot gib uns heute".
Hieronymus hat "morgig" eschatologisch verstanden: Das "morgige" Brot ist das "zukünftige", d.h. es ist die Speise, die uns für die Zeit der Vollendung, wo wir mit Jesus zusammen ein Festmahl feiern werden, verheißen ist. Möglicherweise haben die ältesten Gewährsleute das noch ganz anders, nämlich wörtlich verstanden: Wer eine heimatlose Wanderexistenz als Apostel und Missionar führt, ist froh, wenn er die Brotration für den folgenden Tag schon heute zur Verfügung hat und sich wenigstens darum nicht mehr zu sorgen braucht. Das ist eine Deutung, die in der neueren Exegese sogar für den ursprünglichen Sinn der vierten Vaterunserbitte in Erwägung gezogen wird. c) In Mt 12,9-14 heilt Jesus einen Mann mit einer verdorrten Hand am Sabbat in der Synagoge. Das ist, wie die Reaktion der Pharisäer in V. 14 beweist, ein klarer Gesetzesbruch. Die Schilderung der näheren Lebensumstände dieses Mannes, die neben seinem körperlichen auch sein soziales Elend herausstellt und tiefes Mitleid mit ihm erweckt, schwächt diesen Eklat schon etwas ab, was wiederum judenchristlichem Empfinden entgegenkommt (Hieronymus, In Mt 12,13): In dem Evangelium, das die Nazarener und Ebioniten gebrauchen, das wir neulich aus der hebräischen Sprache in die griechische übersetzt haben und das von den meisten als das authentische (Evangelium) des Matthäus bezeichnet wird, wird der Mann, der die verdorrte Hand hatte, als Maurer beschrieben, der mit folgenden Worten um Hilfe bat: "Ich war Maurer und verdiente mit (meinen) Händen (meinen) Lebensunterhalt; ich bitte dich, Jesus, dass du mir die Gesundheit wieder herstellst, damit ich nicht schimpflich um Essen betteln muss."
Mit Absicht wurde auch die Einleitung, die Hieronymus beisteuert, mitzitiert, weil sie erneut die Problematik der Suche nach judenchristliehen Evangelien bewusst macht. Hier identifiziert Hieronymus das ihm bekannte Evangelium der Nazaräer mit dem der Ebionäer, nimmt für sich in Anspruch, es ins Griechische übersetzt zu haben (wenn, dann sicher mit sprachkundigen Helfern) und referiert schließlich noch die beliebte Gleichsetzung mit dem hebräischen Urmatthäus.
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(3) Die "Evangelienausgabe Zion" Oben haben wir bereits den Evangelienkodex 566 herangezogen. Zusammen mit wenigen anderen Kodices notiert er zum Matthäusevangelium (!) Randglossen, die auf To loudaikon zurückgeführt werden, auf ein jüdisches Evangelium also, das man in der Forschung wahlweise mit dem EvHeb oder dem EvNaz zusammenbringt oder als selbstständige Größe ansieht. Diese Randbemerkungen gehen, so eine Vermutung, auf eine alte Evangelienhandschrift zurück, die einst in der Basilika auf dem Zionsberg in Jerusalem aufbewahrt wurde; deswegen bezeichnet man diesen verlorenen Archetyp als "Evangelienausgabe Zion". Diese Evangelienausgabe hat, um einige Beispiele zu bringen, innerhalb der Versuchungsgeschichte in Mt 4,5 nicht: der Teufel nahm Jesus mit in die heilige Stadt, sondern: er nahm ihn mit nach ]erusalem. In Mt 5,22 liest ein beträchtlicher Teil der Zeugen: "Jeder, der seinem Bruder grundlos zürnt, wird dem Gericht verfallen sein". Hier stellt ein Randverweis in Kodex 1424 fest, dass in einigen Zeugen und "im jüdischen Evangelium" das Wort "grundlos" fehlt, somit jegliches, auch begründetes Zürnen dem Verdikt Jesu unterliegt. In diesem Fall hat das "jüdische Evangelium" die ältere Lesart aufbewahrt, die auch die heutigen kritischen Textausgaben favorisieren. Eine andere Auslassung referiert Kodex 899 zum Spruch vom Jonaszeichen in Mt 12,40: "Denn wie Jonas drei Tage und drei Nächte im Bauch des Walfischs war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein", wenn es dort in der Glosse heißt: "To Ioudaikon hat nicht:,drei Tage und drei Nächte'". Der Grund dafür dürfte sein, dass die Rechnung mit den drei Tagen und besonders den drei Nächten nicht ganz aufgeht, wenn man sie mit den Osterereignissen vergleicht. Zwar kommt man, wenn man den Karfreitag und den Ostersonntag als angebrochene Tage mitzählt, gerade noch auf drei Tage, aber nur auf zwei Nächte. Eine Präzisierung, die das "jüdische Evangelium" in Mt 27,65 hinsichtlich der Aufgabe der Wachposten am Grab Jesu vornimmt, gemahnt fast schon an das Petrusevangelium: "Und er (Pilatus) gab ihnen (den Pharisäern) bewaffnete Männer, damit sie sich gegenüber der Höhle (mit dem Grab Jesu) setzten und ihn Tag und Nacht bewachten." Manchmal kommt das "jüdische Evangelium" auch mit Hieronymus überein, so besonders in der Abänderung von Mt 18,21f. bei Hieronymus, Adversus Pelagianos 3,2, einerseits und in den Kodices 566 und 899 andererseits:
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Er Gesus) sagre: "Wenn dein Bruder mit einem Wtm gesündigr und dir Genugtuung geleistet hat, nimm ihn sieben Mal am Tage an." Sprach zu ihm Simon, sein Jünger: "Sieben Mal am Tage?" Der Herr antwortete und sprach zu ihm: "Ja, ich sage dir, bis zu siebzig Mal sieben Mal. Denn auch bei den Propheten, nachdem sie mit dem heiligen Geist gesalbt worden waren, ist (ein) W&rt der Sünde gefunden worden."
Der Ausdruck "Wort der Sünde" ist wohl nicht so zu verstehen, wie einige Übersetzungen suggerieren, als hätten die Propheten unter anderem das Wort "Sünde" gebraucht. Das haben sie zweifellos getan, aber nicht das ist hier das Thema, sondern gesagt werden soll, dass selbst die Propheten nach ihrer Berufung - sie ist mit der Geistsalbung gemeint - nicht davor bewahrt blieben, zu sündigen und folglich immer wieder der Vergebung bedurften. Möglich wäre allerdings, dass ihre Sünde auf reine Wortsünden eingeschränkt wird (vgl. Sir 19,16: "Wer hätte noch nie mit seiner Zunge gesündigt?") und dass deshalb eine zwischenmenschliche Vergebung genügt. Dafür spricht, dass auch der Einleitungssatz über Mt 18,21 hinaus auf die Sünde mittels eines Wortes und auf die Genugtuung, die vor der Vergebung zu leisten ist, abzielt. Interessant ist als letztes vielleicht noch ein Jesuswort, das Kodex 1424 aus To Ioudaikon zu Mt 7,5 nachträgt, das vom Inhalt her aber sicher zu Mt 7,21-23 gehört: "Wenn ihr an meiner Brust seid und den Willen meines Vaters im Himmel nicht tut, werde ich euch von meiner Brust stoßen" (zitiert auch in 2 Clem 4,5). Das Eingehen in das Himmelreich, das Mt 7,21 an das Tun des Willens Gottes knüpft, illustriert dieser Zusatz, indem er das Bild vom endzeitliehen Festmahl, bei dem die Auserwählten an der Seite des Herrn zu Tische liegen werden (vgl. Joh 13,23), heraufbeschwört.
(4) Die Tradierung im Mittelalter Ein judenchristliches Evangelium oder besser das judenchristliche Evangelium, das als Einheit aufgefasst wurde und hinter dem man die Autorität des hebräischen Urmatthäus stehen sah, hat auch im Mittelalter ein reiches Nachleben entfaltet und neue Erzählzüge hervorgebracht. Das Alter dieser Traditionen lässt sich kaum bestimmen. Manches mag tatsächlich auf das verlorengegangene judenchristliche Schrifttum zurückgehen. Erst hier taucht auch das Etikett "Nazaräerevangelium" auf, z. B. bei Haimo von Halberstadt (9. Jahrhundert): "Wie es nämlich im Evangelium der Nazaräer heißt:,Auf dieses Wort des Herrn hin wurden viele Tausende der um das Kreuz stehenden Juden gläubig'" (Klijn Nr. 47). Bei dem Wort des Herrn
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ist sicher an Lk 23,34: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" gedacht, und zu den Tausenden von Neubekehrten kann man die Erfolgsberichte der Apostelgeschichte vergleichen (z. B. Apg 2,41). Ein weiteres Mal findet sich der Titel, sogar im Plural, handschriftlich in einer Randbemerkung zu einem Werk des Petrus von Riga (12. Jahrhundert): "In den Büchern der Evangelien, die die Nazarener gebrauchen, liest man:,Strahlen gingen aus seinen Augen hervor, durch die sie erschreckt wurden und flohen'" (Klijn Nr.46). Als Kontext kommt die Tempelreinigung in Frage. Oft dient die Berufung auf ein EvNaz oder EvHeb dazu, Details zu ergänzen und exegetische Schwierigkeiten zu lösen. So wird, um zunächst bei den Details zu bleiben, die Zahl der vielen Wunder, die Jesus laut Lk 10,13 in Chorazim und Betsaida vollbrachte, auf 53 festgelegt (sollten es vielleicht eigendich 153 sein, analog zu Joh 21,11?). In Einlösung des Programms "Namen für die Namenlosen" erhält die blutflüssige Frau aus Mt 9,20 den Namen "Mariosa", der Mann mit der vertrockneten Hand aus Mt 12,10, der wie bei Hieronymus (s.o.) als Maurer bezeichnet wird, heißt "Malchus" und die Königin des Südens aus Mt 12,42 "Meroe". Schwierigkeiten hatte man unter anderem damit, dass Jesus in Mt 21,1-3 einfach zwei Reittiere konfisziert. Die Lösung lautet: ,,Aber diese Tiere wurden vom Erlöser zu ihren Eigentümern zurückgebracht, wie es im Evangelium nach den Hebräern heißt" (Klijn Nr. 56). Man konnte sich auch nicht erklären, warum in Joh 18,16 der Lieblingsjünger Johannes als Bekannter des Hohenpriesters in dessen Hof gelangt und Petrus nicht. Als Erklärung erzählt eine mittelalterliche "Historia Passionis Domini" (Klijn Nr.54): Im Evangelium der Nazaräer wird der Grund angegeben, woher Johannes mit dem Hohenpriester bekannt war: Er hatte, da er der Sohn des armen Fischers Zebedäus war, oft Fische in den Palast des Hohenpriesters Annas und Kajafas gebracht. Johannes ging aber zur Türhüterin hinaus und erreichte von ihr, dass sein Gefährte Petrus, der laut weinend vor der Pforte stand, eingelassen wurde.
Es kommen aber auch neue Irrtümer zustande. Hugo von St. Cher (13. Jahrhundert) schreibt dem Nazaräerevangelium die in seinen Augen irrige Behauptung zu, der Auferstandene sei als erstes seiner Mutter Maria erschienen (Klijn Nr. 50). Hier liegt eine Verwechselung mit Maria Magdalena vor. Derselbe Autor weiß aus gleicher Quelle, dass die Ersterscheinung noch vor Maria Magdalena dem Josef von Arimathäa zuteil wurde, der um Jesu willen im Gefängnis saß (Klijn Nr.49), und dass nach Jesu Auferstehung zwei heilige Männer, die schon ca. vierzig Jahre tot waren, den
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Tempel betraten und zu verstehen gaben, dass sie nach Pergarnon gehen wollten (Klijn Nr. 48). Hier werden Querverbindungen zum Nikodemusevangelium, dem sich diese Notizen eher verdanken könnten, sichtbar (s.u.
l(ap. 6b). Längere Erzählstücke sind, wie man sieht, selten. Eine Ausnahme macht Sedulius Scottus (9. Jahrhundert), der in seinem Matthäuskommentar einer Alternativfassung von Mt 2,1-12 breiten Raum gibt (Klijn Nr.41): Denn so berichtet das Evangelium, das "nach den Hebräern" betitelt ist: Als Joseph mit seinen Augen hinblickte, sah er eine Menge Wanderer, die geschlossen als Gruppe zur Höhle kamen, und sagte: "Ich will aufstehen und hinaus ihnen entgegengehen". Als Joseph aber hinausgegangen war, sagte er zu Sirnon (seinem erwachsenen Sohn, vgl. Mk 6,3): "Mir scheint es, als ob die Kommenden Wahrsager (augures) seien; denn siehe, jeden Augenblick schauen sie zum Himmel auf und unterreden sich untereinander. Aber sie scheinen auch Fremde zu sein, da ihr Aussehen sich von unserem unterscheidet; denn ihre Kleidung ist sehr reich und ihre Hautfarbe ganz dunkel, sie haben Mützen (pileos) auf dem Kopf, und ihre Gewänder scheinen mir weich zu sein, und an ihren Beinen haben sie Beinkleider (saraballae, ein persisches Lehnwort). Und siehe, sie sind stehen geblieben und schauen mich an, und siehe, sie haben sich wieder in Bewegung gesetzt und kommen hierher."
Aus diesen Worten geht klar hervor, dass nicht nur drei Männer, sondern eine Menge Wanderer zum Herrn gekommen sind, wenn auch nach einigen die vornehmsten Führer dieser Schar mit bestimmten Namen Malchus, Kaspar, Phadizarda benannt werden. Das schöne Porträt der Sternkundigen Fremden (sie "schauen jeden Augenblick zum Himmel auf'), das Josef in direkter Rede entwirft, verweist nach Persien, nicht zuletzt wegen der Mützen und der Sandalen. Dem Berichterstatter kommt es vor allem darauf an, dass es mehr als nur drei weise Männer waren, die nach Betlehem reisten, und damit befindet er sich im Einklang mit Mt 2,1-12, wo von "drei Königen" nirgends die Rede ist. Doch werden immerhin drei von ihnen als Führer hervorgehoben und mit Namen belegt, die uns teils vertraut sind, auch wenn wir sie in etwas anderer Fassung kennen: Kaspar, Melchior und Balthasar. Wieso Josef einen erwachsenen Sohn hat, werden wir im Protevangelium des Jakobus erfahren (s. Kap. 5a).
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c) Das Ebionäerevangelium (EvEb) Literatur: P. VIELHAUER I G. STRECKER, in: NTApo 6 I, 138-142.- D. LüHRMANN, Fragrnenre 32-39. - A. F. ]. KLIJN, Jewish-Christian Gospel Tradition 65-77. - S. C. MIMOUNI, Le judeo-christianisrne 257-272.- D. A. BERTRAND, L'Evangile des Ebionites: Une harrnonie evangelique anrerieure au Diatessaron, in: NTS 26 (1980) 548-563.- G. HowARD, The Gospel of rhe Ebionites, in: ANRW II/25.5 (1988) 4034-4053.<'
Für das EvEb sind wir auf Epiphanius von Salamis verwiesen, der von 366-403 als Bischof auf Zypern amtierte und dort sein Hauptwerk verfasste, das den schönen Titel trägt: ,,Arzneikasten gegen alle Häresien". Im 30. Buch, aus dem wir im Folgenden zitieren, beschäftigt er sich mit den Ebioniten oder Ebionäern, deren Entstehen er mit anderen Vätern irrtümlich auf einen Sektengründernamens "Ebion" zurückführt. Zugrunde liegt vielmehr das hebräische Wort ebionim, die ,,Armen", was ein Ehrentitel für jüdische Fromme war. Nach Epiphanius benutzten diese Ebionäer, deren Sitz man im Ostjordanland vermuten kann, ein Evangelium, das sie "Matthäusevangelium" oder "Hebräisches (Evangelium)" nennen (13,2). Es stellt den frühen Versuch einer Evangelienharmonie aus den drei Synoptikern (ohne Johannes, aber vielleicht unter Einschluss der Apostelgeschichte) dar. Als Entstehungszeit kommen die mittleren Jahrzehnte des 2. Jahrhunderts in Frage. Epiphanius macht den Ebionäern den Vorwurf, ihr Evangelium sei "verfilscht und verstümmelt" (13,2). Wieso, wird gleich bei den ersten Zitaten deutlich: Es fehlt die Kindheitsgeschichte samt dem Stammbaum aus Mt 1-2 (13,6; 14,3), was aufjudenchristliche Vorbehalte gegenüber der Lehre von der jungfräulichen Empfängnis Jesu hindeutet. Das EvEb beginnt also wie das Markusevangelium mit dem Auftreten Johannes' des Täufers. Von ihm wird gesagt (13,4f.): Und seine Speise, heißt es, war Wildhonig, dessen Geschmack der von Manna ist, wie in Öl gebackener Kuchen (egkris). So wollten sie das Wort der Wahrheit in Lüge verkehren und anstelle der "Heuschrecken" (akrides, im Singular akris) "Kuchen" setzen.
Zunächst notieren wir das Wortspiel, das im EvEb mit egkris, "Kuchen", und akris, "Heuschrecke", getrieben wird. Da es nur im Griechischen funktioniert, ergibt sich daraus zwingend, dass das EvEb auf Griechisch vorlag und wohl auch griechisch konzipiert war, auf der Basis der griechischen Synoptikertexte. Im Alten Testament wird vom Manna berichtet, dass es wie Ölkuchen (Num 11,8) oderwie Honigkuchen (Ex 16,31) schmeckte. Noch entscheidender aber war für die Ersetzung der (gerösteten) Heuschrecken durch den Honigkuchen der strenge Vegetarismus der Ebioniten; schon
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die bloße Andeutung einer Fleischesnahrung ging ihnen zu weit. Das wird durch den folgenden Text, der Lk 22,15 aufnimmt, bestätigt (22,4f): Sie haben aber eigenmächtig die wahrheitsgemäße Wortfolge verlassen und das Gesagte verändert, das doch allen klar ist aus den zusammengehörigen Worten, und ließen die Jünger sagen: "Wo willst du, dass wir dir das Passarnahl herrichten?" und ihn vorgeblich antworten: "Habe ich etwa begehrt, Fleisch an diesem Passa mit euch zu essen?" Weshalb aber wurde ihr Leichtsinn nicht aufgespürt, da doch die Reihenfolge schreit, dass das My und das Eta hinzugesetzt sind? Denn anstarr zu sagen: "Ich begehrte", haben sie das "nicht" als Zusatz hinzugefügt. In Wahrheit hat er nämlich gesagt: "Ich begehrte dieses Passa mit euch zu essen." Die aber, die das "Fleisch" hinzuschrieben, begaben sich leiehrsinnig in Irrtum und sagten: "Habe ich etwa begehrt, an diesem Passa Fleisch mit euch zu essen?"
Die griechischen Buchstaben "my" und "eta" ergeben zusammen die Negation me. In das Jesuswort aus Lk 22,15 wird also zum einen die Präzisierung eingetragen, dass beim Passamahl das Fleisch des Passalammes verzehrt wird, und durch die Negierung des ganzen Satzes wird ein starkes Argument gegen den Fleischgenuss und für eine vegetarische Lebensweise gewonnen. Dieser Vegetarismus ruht zur Hauptsache auf radikalisierten jüdischen Essens- und Reinheitsvorschriften auf, die von dieser judenchristliehen Gruppe weiter befolgt wurden. In einer vorwiegend nichtjüdischen Umwelt war man gerade beim Fleisch nie ganz sicher, ob es nicht doch von einem unreinen Tier stammte oder mit Götzenopfern in Berührung gekommen war. Als verlässliche Alternative bot sich der völlige Fleischverzicht an. Möglicherweise ist dies auch ein Aspekt der Opferkritik, die Jesus im EvEb in den Mund gelegt wird (16,5): "Ich kam, die Opfer aufz.uheben; und wenn ihr nicht aufhört zu opfern, wird der Zorn nicht von euch weichen." Darüber hinaus treffen wir im Judenchristentum auch andernorts eine teils heftige Polemik nicht nur gegen heidnischen, sondern auch gegen alttestamentlich-jüdischen Opferkult an, eine Polemik, zu deren Rahmenbedingungen die faktische Beendigung jüdischer Opferpraxis durch die Tempelzerstörung gehört. Aus dem EvEb stammt auch die dritte außerkanonische Parallele zur Erzählung von derTaufe Jesu durch Johannes (13,7f.): Als das Volk getauft war, kam auch Jesus und wurde von Johannes getauft. Und als er emporstieg aus dem Wasser, öffneten sich die Himmel, und er sah den heiligen Geist in Gestalt einer Taube, die herabkam und in ihn einging. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: "Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen." Und weiter: "Heute habe ich dich gezeugt." Und sofort umstrahlte den Ort großes Licht. Ihn sehend, heißt es, sagt Johannes zu ihm: "Wer bist du, Herr?" Und erneut (sprach) eine Stimme aus dem Himmel zu ihm: "Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." Und dann, heißt es, fiel Johannes vor ihm nieder und sagte: "Ich bitte dich, Herr, taufe du mich." Er aber wehrte ihm und sagte: "Lass, denn so gehört es sich, dass alles erfüllt wird."
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Zu den Besonderheiten dieser Perikope zählen das Verschmelzen des Geistes mit Jesus bei der Taufe, das große Licht, das plötzlich aufstrahlt, und die Verdoppelung der Himmelsstimme, die sich beim ersten Mal an Jesus und dann an den Täufer wendet. Die abwehrende Reaktion des Täufers und Jesu Antwort knüpfen an Mt 3, 14f. an. Der eigentliche Sprengstoff dieser Version der Tauferzählung besteht darin, dass sich das EvEb beim ersten der beiden Zitate von Ps 2,7 in der Himmelsstimme nicht mit der ersten Hälfte des Psalmverses "Mein Sohn bist du" begnügt, sondern mit einer eigenen Überleitungsformel die zweite Hälfte "Heute habe ich dich gezeugt" daran anschließt (was übrigens einige Handschriften auch in Lk 3,22 tun; das gibt uns Gelegenheit zu der Feststellung, dass sich manche Eigenheiten apokrypher Evangelien auch in der neutestamentlichen Textüberlieferung spiegeln). Die Ergänzung von "Heute habe ich dich gezeugt" ermöglicht eine adoptianische, wenn nicht sogar doketistische Interpretation der Taufszene. Adoptianisch wäre: Erst aus Anlass der Taufe hat Gott den Menschen Jesus von Nazareth als Sohn angenommen und zum Sohn erklärt, während die doketistische Lesart entsteht, wenn man die Verschmelzung mit dem Geist hinzunimmt: Erst bei der Taufe geht ein himmlisches Geistwesen in den Menschen Jesus ein. Dass diese Christologie dem strenggläubigen Epiphanius als defizitär erscheinen musste, versteht sich. Solche Defizite macht er auch noch anderweitig aus. An einer Stelle behauptet er, die Ebioniten würden direkt leugnen, dass Jesus ein Mensch sei (14,5). Und ein andermal schreibt er ihnen die Meinung zu, Jesus sei nicht "aus Gott, dem Vater, geboren, sondern geschaffen worden wie einer von den Erzengeln" (16,4). Bei den Ebioniten könnte sich folglich das Modell einer Engelchristologie erhalten haben, die Jesus analog zu Michael etwa als den großen Engel Gottes verstand. Eine letzte Passage aus dem Ebionäerreferat des Epiphanius hat in der Forschung mehr Bedeutung gewonnen, als sie aufgrund ihrer problematischen Natur verdient (13,2f.): Es war ein gewisser Mann mit Namen Jesus, und er war etwa dreißig Jahre alt, der uns erwählte. Und als er nach Kapharnaum kam, ging er in das Haus Simons mit dem Beinamen Petrus, öffnete seinen Mund und sagte: "Als ich am See Tiberias entlangging, erwählte ich Johannes und Jakobus, die Söhne von Zebedäus, und Sirnon und Andreas und lhaddäus und Simon, den Zeloten, und Judas, den lskariot, und dich, Matthäus, der du am Zollhaus saßest, rief ich, und du folgtest mir nach. Ich will nun, dass ihr zwölf Apostel seid zum Zeugnis für Israel."
Dass im Schlusswort zwölf Apostel angesprochen werden, vorher aber nur acht Namen aufgezählt wurden, ist nur ein kleiner Schönheitsfehler. Die
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Jüngerberufungen, die bei den Synoptikern erzählt werden, rekapituliert Jesus hier selbst in direkter Rede, als Vorbereitung zur Aussendung der Zwölf. Eine solche Umsetzung von Erzählreferat in Jesusrede ist uns auch im UBE (s.o. Kap. 2d) begegnet. Besonderes Gewicht liegt durch die Endstellung und die Angabe von Einzelheiten auf der Berufung des "Zöllners" Matthäus, was in einem "Matthäusevangelium" durchaus Sinn machen würde. Darin, dass die Zwölf zum "Zeugnis für Israel" bestimmt sind, besteht der unverwechselbar judenchristliche Charakter dieses Textstücks. Ins Auge fällt aber gleich zu Beginn ein anderes Detail. Es heißt dort: "der uns erwählte". Das bedeutet, dass hier in der ersten Person Plural aus der Perspektive von Augenzeugen, für die evtl. Matthäus als Sprecher fungiert, erzählt wird, und da es sich bei diesen Augenzeugen um die Apostel handelt, hat man das EvEb verschiedentlich mit dem auch bei Origenes und Hieronymus erwähnten "Evangelium der zwölf Apostel" (auch "der Zwölf'' oder einfach "der Apostel") identifiziert. Aber dann sollte eigentlich das ganze EvEb in der Wir-Form gehalten sein, was sich leider an Hand der wenigen vorhandenen Fragmente weder sicher nachweisen noch völlig ausschließen lässt. Skepsis scheint aber angebracht, auch gegenüber der anderen Möglichkeit eines abrupten Wechsels zwischen einer personalen (Wir-Stil) und einer neutralen (Er-Stil) Erzählperspektive. Es könnte sich auch so verhalten, dass der zuletzt zitierte Abschnitt nicht demselben Evangelium angehört wie die übrigen Textstücke (in der oben schon zitierten Einleitung zu unserem letzten Zitat in 13,2 spricht Epiphanius einerseits vom "Matthäusevangelium", andererseits von einem "hebräischen Evangelium", was nicht unbedingt das gleiche sein muss, auch wenn Epiphanius das meint). In Grundzügen liegt uns damit das Material vor Augen, das der judenchristlichen Sonderüberlieferung zugerechnet wird. Sein fragmentarischer Zustand und die Probleme der Zuordnung sind gleichfalls spürbar geworden. Eine verlässliche Beurteilung der Traditionsgeschichte der Stoffe wird dadurch sehr erschwert. Allgemein kann man festhalten, dass wir es mit einer eigentümlichen Mischung von überwiegend sekundären Zügen und manchen archaischen Überresten zu tun haben. Die dreifache TaufPerikope ist dafür ein gutes Beispiel. Dass sie das meiste mit den Synoptikern gemeinsam hat und weitgehend auf deren Grundlage entstand, sei nicht bestritten. Aber ist damit z. B. auch schon die Erwägung, ob Jesus unabsichtliche Sünden begangen haben kann, hinreichend erklärt? Es muss sich nicht unbedingt so verhalten, wie Alfred Resch seinerzeit noch meinte:
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"Das Judenchristentum ist auf dieser Stufe schon dazu fortgeschritten, dass es die Sündlosigkeit Jesu anzutasten wagt", wenn auch vorerst nur in einer "verschämten Weise" (Agrapha 234). Plausibler scheint der umgekehrte Schluss: Dieser Zug entstammt einem frühen Stadium und einem Milieu, wo die Vorstellung eines Sündenbewusstseins Jesu zwar schon als problematisch, aber noch nicht als so anstößig und häretisch empfunden wurde wie später in der Großkirche. Damit, das Judenchristentum, das hinter diesen Texten steht, als "häretisch" und als "synkretistisch-gnostisch" zu bezeichnen, ist nicht viel gewonnen. Produktiver wäre es, die Gedankenanstöße, die von ihnen ausgehen, aufzunehmen und einzubringen in das heutige jüdisch-christliche Gespräch.
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4. Das Ägypterevangelium a2 Von einem Ägypterevangelium zu sprechen, ist heute eigentlich irreführend, weil wir inzwischen zwei Texte haben, die diesen Titel tragen und die inhaltlich nicht miteinander verwandt sind. Ein Ägypterevangelium, von dem bei Clemens von Alexandrien einige griechische Fragmente erhalten geblieben sind, kannte man schon länger; es fehlt in keiner Sammlung von neutestamentlichen Apokryphen. Ein zweites Ägypterevangelium wurde erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts zugänglich. Es liegt in koptischer Sprache vor und gehört zu den Funden von Nag Hammadi. Zwar handelt es sich der Gattung nach bei diesem zweiten Text nicht wirklich um ein Evangelium, und auf Nag Hammadi werden wir erst in Kap. 7 näher eingehen. Wegen der Namensgleichheit und der hohen Verwechslungsgefahr wollen wir aber auch das Ägypterevangelium aus den Nag-Hammadi-Kodizes (NHC) hier schon mitbehandeln. Es kann uns auch einen ersten Eindruck dessen verschaffen, was später noch folgen wird.
a) Der griechische Text bei Clemens von Alexandrien (EvÄg [griech.]) Literatur: W ScHNEEMELCHER, in: NTApo 6 1, 174-179.- D. LüHRMANN, Fragmente 26-31. - P. VIELHAUER, Geschichte 662-665. - S. PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 77-79.195-220.
(1) Zur Einordnung
Origenes kennt ein Evangelium "nach den Ägyptern", lehnt seine Benutzung aber ab, da es nicht zu den vier kanonischen Evangelien gehört (In Luc 1,2). Nach Hippolyt berief sich die gnostische Gruppe der Naassener für ihre besondere Seelenlehre auf das EvÄg (Refutatio V 7,8f), und Epiphanius nennt den Titel in seinem ,,Arzneikasten" bei der Besprechung der Sekte der Sabellianer (LXII 2,4). Alle drei Autoren beurteilen das EvÄg als nicht mehr rechtgläubige Schrift. Anders verhält es sich bei Clemens von Alexandrien. Im 3. Buch seiner "Teppiche" behandelt er Fragen um Ehe und Geschlechtlichkeit. Dabei setzt er sich auch mit Enkratiten auseinander, d. h. mit Gläubigen, die enthaltsam lebten, selbst in der Ehe, da sie Sexualität und Fortpflanzung ab-
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lehnten. Sie hatten für sich radikale Folgerungen aus dem gezogen, was im Ansatz auch Paulus in 1 Kor 7 empfiehlt, und sie beriefen sich dafür auf das EvAg. Clemens will ihnen dieses Argument aus der Hand schlagen und ihr Verständnis des EvÄg als irrig erweisen. Diese mehrfache Brechung macht es schwer, zur eigentlichen Intention der Aussagen aus dem EvÄg vorzustoßen. Da Clemens das EvÄg kennt, muss es im 2. Jahrhundert entstanden sein, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Aus dem Titel hat man früher geschlossen, es sei das Evangelium der ägyptischen Heidenchristen gewesen, neben dem Hebräerevangelium als Evangelium der ägyptischen Judenchristen. Der Titel "nach den Ägyptern" könne ihm erst außerhalb Ägyptens beigelegt worden sein, z. B. in Rom. Oie neueren Optionen fallen, was die Verbreitung des EvÄg angeht, zurückhaltender aus. Es würde genügen, es als Basistext einer autochthon-ägyptischen Gruppe in Alexandrien anzusehen (vgl., auch zum Folgenden, bes. Petersen).
(2) Zum Inhalt Oie Sätze, die Clemens aus dem EvÄg zitiert, scheinen einem geschlossenen Zusammenhang entnommen zu sein, und zwar einem Schulgespräch zwischen Jesus und Salome. Nicht klar wird, ob der auferstandene Herr mit Salome spricht - dann würde der Text zu den Dialogevangelien zählen (s. Kap. 8) - oder der irdische Jesus. Salome gehört zu den Frauen, die in Mk 15,40 von weitem beim Kreuz stehen und in Mk 16,1 zum Grab gehen, sie ist also eine Jesusjüngerin. In Mt 27,56, der Parallelstelle zu Mk 15,40, heißt sie nicht mehr Salome, sondern wird als Mutter der Zebedäussöhne Jakobus und Johannes bezeichnet (vgl. auch Mt 20,20). Ob diese implizite Gleichsetzung historisch gesehen zutrifft, ist schwierig zu beurteilen. Oie spätere Tradition neigte jedenfalls dazu, solche Identifikationen beizubehalten und neue einzuführen. Falls Salome auch im EvÄg als Mutter von Jakobus und Johannes angesehen wurde, hätte das Folgen für das Verständnis einer Stelle (s.u.). Wenn wir uns an die Reihenfolge der Zitate bei Clemens halten (im EvÄg selbst kann die Anordnung anders ausgesehen haben), stoßen wir als erstes auf einen knappen Dialog zwischen Salome und Jesus (Stromateis III 45,3; die Stücke aus dem EvÄg sind kursiv gesetzt):
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Als Salome fragte: "Wie lange wird der Tod Macht ha6en?': antwortete der Herr: ,,Solange ihr Frauen gebärt." {Das sagte er nicht,) weil das Leben etwa übel sei und die Schöpfung böse, sondern (er sagte es), um die natürliche Abfolge zu lehren. Denn dem Entstehen folgt allemal auch das Vergehen.
Die Eingangsfrage der Salome begegnet später noch einmal in der Form "Wie lange werden die Menschen sterben?" (III 64,1). Sie zielt auf die Dauer dieser irdischen, vom Tod beherrschten Weltzeit. Der Sinn der rätselhaften Antwort Jesu wird sich im Verlauf der weiteren Argumentation noch klären, aber wir können hier schon auf das Wort Gottes an die Frau in Gen 3,16 blicken: "Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder." Das Gebären ist ein Signum der gefallenen Welt. Die Gesprächspartner des Clemens haben das zum Anlass für ihre Ablehnung des Vollzugs der Ehe genommen. Clemens hingegen versteht das Wort mehr weisheitlieh als Beschreibung der notwendigen Abfolge der Generationen und weist negative Folgerungen hinsichtlich der Schöpfung, zu der auch die Zweigeschlechtlichkeit gehört, ab. Ein weiteres Herrenwort führt diese Thematik nicht nur fort, sondern spitzt sie auch weiter zu (Stromateis 111 63,1): Diejenigen, die sich der Schöpfung Gottes durch die besagte Enthaltsamkeit widersetzen, führen auch jenes zu Salome Gesagte an, das wir zuvor erwähnten. Es steht meines Wissens im Ägypterevangelium. Sie erzählen nämlich, dass der Erlöser selbst sagte: ",ch kam, die ~rke des ~iblichen zu vernichten." Es bedeutet aber "des Weiblichen" soviel wie: der Begierde, "die Werke" aber bedeuten: Werden und Vergehen.
Das klingt geradezu programmatisch: die Vernichtung der "Werke des Weiblichen". Clemens entschärft das Wort, indem er es allegorisch und moralisierend auslegt: Das Weibliche steht für Begierden wie Geldgier, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Päderastie (so Clemens im weiteren Verlauf), denen die Gläubigen nicht mehr nachgeben sollen. Aber auch die Deutung durch die Gegner des Clemens auf geschlechtliche Enthaltsamkeit hin greift noch zu kurz. Das EvÄg dachte eher an eine prinzipielle Aufhebung der Zweigeschlechtlichkeit, die zwar bei der Schöpfung grundgelegt wurde, aber als Merkmal einer negativen Zerteilung und Zertrennung in der Endzeit wieder in einer übergreifenden Einheit aufgehen wird. Dass dieser Gedanke vom Weiblichen als der zu überwindenden Größe aus entwickelt wird und nicht vom Männlichen, hängt mit dem sozialen Kontext zusammen, der patriarchalisch geprägt war und das Männliche höher wertete als das Weibliche. Außerdem wird im zweiten Schöpfungsbericht in Gen 2 der (männliche) Mensch Adam zuerst geschaffen und dann erst die "Männin" Eva. Rückkehr zum Anfang würde demnach bedeuten: Rückkehr zum männlichen Prinzip.
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Das Agypterevangelium
Die naheliegende Reaktion der Salome und die erneute Antwort des Herrn haben laut Clemens seine Adressaten weggelassen, woraus auch hervorgeht, dass er seine Kenntnisdes EvÄg nicht nur ihnen verdankt (Stromateis III 66, 1f.): Warum führen sie (die Enkratiten) nicht auch das an, was dem zu Salome Gesagten folgt, sie, die allem eher folgen als der wahrheitsgemäßen Richtschnur ("Kanon" im Griechischen) des Evangeliums? Denn als sie (Salome) sagte:" Gut hätte ich also daran getan, nicht zu gebären"- als ob es unpassend sei, das Gebären auf sich zu nehmen -, antwortete der Herr entprechend: "Jede Pflanze iss, die aber Bitternis enthält, sollst du nicht essen. "
Meist werden Salomes Worte wiedergegeben mit "Gut habe ich also daran getan, nicht zu gebären"; sie wäre demnach kinderlos geblieben. Falls aber das EvÄg sie als Mutter der Zebedäussöhne auffasst, muss die Aussage, was philologisch möglich ist, in den Irrealis gesetzt werden und gewinnt eine etwas andere Note: Salome müsste dann eigentlich bereuen, diese bedeutenden Söhne zur Welt gebracht zu haben. Wieder wirkt Jesu Antwort rätselhaft. Clemens könnte sie erneut weisheitlieh verstanden haben, in dem Sinn (mit Petersen 211): "Du kannst tun, was du willst, aber sei dir über die Konsequenzen klar", hat aber damit den intendierten Sinn schwerlich getroffen. Die "bittere Pflanze" sollte im Kontext des EvÄg etwas mit der Geschlechtlichkeit und vor allem mit dem Gebären zu tun haben. "Bitter" kann man das nennen im Blick auf die Folgen: die Schmerzen der Geburt, die Mühe, die das AufZiehen von Kindern bereitet, die im antiken Kontext geforderte Unterordnung unter den Ehemann. Auch hier liegt ein Blick auf Gen 3,16 nahe: "Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen." Außerdem erinnert die Satzstruktur des Herrenworts an Gen 2,16f.: "Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen ... (sonst) wirst du sterben". Diesen ganzen Komplex von Sündenfall, Zweigeschlechtlichkeit, Gebären und Tod kleidet das EvÄg in die Metapher von der bitteren Pflanze. Besser ist es folglich, sich all dem zu entziehen und zu versuchen, in den Zustand zurückzukehren, der vor der Aufspaltung in Männlich und Weiblich gegeben war. Das bedeutet aber, dass auch das EvÄg in einem höheren Maß enkratitisch ausgerichtet war, als Clemens wahrhaben möchte. Enkratitisch heißt nicht schon gnostisch; die Gnostiker, die Clemens vor Augen hat, haben dem EvÄg ihrerseits erst dualistische Weltverneinung unterstellt. Schließlich nennt Clemens sein Gegenüber auch noch mit Namen. Es handelt sich um Julius Cassian, einen alexandrinischen Theologen, mit des-
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senWerk "Über Enthaltsamkeit oder über Eunuchentum" Clemens sich auseinandersetzt (Stromateis 111 92,2- 93, 1): Darum also erzählt Cassian: Als Salome fragte, wann man das erkennen werde, wonach sie gefragt habe, sprach der Herr: "Wenn ihr das Kleid der Scham mit Füßen tretet, und wenn die zwei eim werden und das Männliche mit dem Weiblichen (eim wird), (so dass es) weder männlich noch weiblich (mehr gibt)." Erstens nun: In den uns überlieferten vier Evangelien haben wir das Gesagte nicht, sondern in dem der Ägypter. Weiter scheint er mir zu verkennen, dass mit dem männlichen Trieb der Zorn und mit dem weiblichen die Begierde angedeutet ist.
Clemens rettet sich erstens mit einem "kanonischen" Argument: das steht "nur" im EvÄg und nicht in den neutestamentlichen Evangelien, und zweitens erneut mit der allegorischen Auslegung: Männlich steht fur Zorn und Weiblich fur Begierde. Das Herrenwort im EvÄg geht diesmal vom ersten Schöpfungsbericht aus, wo der Mensch als Mann und Frau geschaffen wird (Gen 1,27), und klingt daher mehr egalitär, wie der paulinische Programmsatz in Gal 3,28: "Da ist nicht männlich und weiblich" (fur das Folgende sind auch die Gewandmetaphorik in Gal 3,27: "Ihr habt Christus angezogen" und die Einheitsthematik in Gal3,28: "Ihr alle seid Einer in Christus" zu beachten). Mit dem "Kleid der Scham" ist im EvÄg der menschliche Leib gemeint und zugleich eine weitere Anspielung auf den Sündenfall gegeben, der daran schuld ist, dass Gen 2,25: "Und beide, Adam und seine Frau, waren nackt und schämten sich nicht" aufgehoben ist. Deutlicher noch als bei dem früheren Logion von den "Werken des Weiblichen" tritt hier die Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit als erstrebenswertes Ziel vor Augen. Das letzte Zitat hat eine Parallele im zweiten, pseudepigrafen Brief, der Clemens von Rom zugeschrieben wird (2 Clem 12,2): Als nämlich der Herr selbst von jemand gefragt wurde, wann sein Reich kommen werde, sagte er: "Wenn die zwei Eines sein werden, und das Äußere wie das Innere, und das Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch weiblich."
Außerdem berührt es sich im Wortlaut und in der Programmatik mit mehreren Logien aus dem Thomasevangelium (vgl. bes. EvThom 22 u. 37). Wir müssen dort auf das Thema zurückkommen (s.u. Kap. 7a). Fragen wir hier nur noch nach dem Verhältnis der verschiedenen Überlieferungen des einen Wortes zueinander. Direkte Übernahmen, etwa durch den Verfasser des 2 Clem aus dem EvÄg oder umgekehrt, sind zwar nicht ganz auszuschließen. Aber es kann ebenso gut sein, dass wir es mit einem verbreiteten Wort zu tun haben, das den einzelnen Zeugen aus der teils noch mündlichen Tradition zugänglich war.
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b) Der koptische Text aus Nag Hammadi (EvÄg NHC) Literatur: U. K. PuscH, in: Nag Hammadi Deutsch I, 239-321.- G. LüDEMANN IM. ]ANSSEN, Bibel der Häretiker 230-246.- A. BöHLIG I F. WISSE, Nag Hammadi Codices 111,2 and IY,2 (NHS 4), Leiden 1975. -A. BöHLIG, Das Ägypterevangelium als ein Dokument der mythologischen Gnosis, in: DERS., Gnosis und Synkretismus (WUNT 47), Tübingen 1989, 341-370.- H. J. KLAucK, Von Kassandra bis zur Gnosis. Im Umfeld der frühchristlichen Glossolalie, in: ThQ 179 (1999) 289-312, hier 305-310.
( 1) Zur Einordnung Nahe dem ägyptischen Ort Nag Hammadi wurden um die Mitte des 20. Jahrhunderts dreizehn Kodizes mit Schriften meist gnostischen Inhalts in koptischer Sprache entdeckt; davon wird in Kap. 7 noch zu reden sein. Jeweils an zweiter Stelle finden sich im dritten Kodex, Seite 40, Zeile 12, bis Seite 69, Zeile 20 (abgekürzt zitiert als NHC III,2 p.40,12-69,20), und im vierten Kodex, Seite 50, Zeile 1, bis Seite 81, Zeile 2 (NHC IV,2 p.50,181,2) zwei Traktate gleichen Inhalts. Sie sind dennoch nicht unmittelbar voneinander abhängig, sondern stellen zwei eigenständige Übersetzungen einer gemeinsamen griechischen Vorlage dar. Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen gehen nicht nur auf den doppelten Übersetzungsvorgang zurück, sondern auch auf die Texttradition. Das will sagen, dass die beiden schriftlichen Dokumente, die wir noch besitzen, nicht direkt aus einem einzigen griechischen Archetyp übersetzt wurden, sondern ihrerseits ältere koptische Handschriften wiedergeben, die wiederum auf verschiedenen griechischen Handschriften beruhen können. Dieser komplizierte Überlieferungsvorgang ist auch für die Bestimmung des Alters zu beachten. Wir müssen dabei zwischen dem aktuellen Text und seinem Inhalt unterscheiden. Die vorliegenden Abschriften stammen erst aus der Mitte des 4. Jahrhunderts, aber für das Original können wir über die verschiedenen Zwischenstufen bis ins frühe 3. oder ins 2. Jahrhundert herab gehen. Das Kolophon (d. h. die Schlussformel) bezeichnet die Fassung in III,2 (auf die wir uns im Folgenden vor allem beziehen, da IV,2, obwohl vom Inhalt her genauer, sehr schlecht erhalten ist) als "Das Evangelium der Ägypter" (p.69,6), was evtl. auf die Entstehung und vor allem auf die Benutzung des Traktats in Ägypten hinweist. Der eigentliche Titel dieses Werkes ist das nicht. Er wird nach antikem Brauch als Subscriptio (als Unterschrift, nicht als Überschrift) geboten und lautet: "Das heilige Buch des großen, un-
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sichtbaren Geistes" (p.69,18-20). Dem korrespondiert das Incipit, der Buchanfang in p.40,12-14: "Das heilige Buch der Ägypter über den großen, unsichtbaren Geist, den Vater, dessen Name nicht ausgesprochen werden kann ... ". Der Titel "Evangelium" wurde dem Text möglicherweise erst nachträglich verliehen, um ihn fiir die Gläubigen der Großkirche akzeptabel zu machen. Ein Evangelium in unserem Sinn stellt das Werk nicht dar. Jesus Christus fehlt zwar nicht ganz, kommt aber nur in einer Nebenrolle vor (selten so pointiert wie im Kolophon in p.69,14f.: "Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter, Fisch [ein Christussymbol]"). Als Zentralfigur agiert der große Seth, der Sohn Adams aus Gen 5,3. "Seth" heißt aber auch eine einheimische ägyptische Gottheit, die an sich die böse Gegenmacht verkörpert. Aber die Gnosis liebt es auch sonst, radikale Umwertungen und Neubewertungen vorzunehmen (z. B. bringt Seth in unserem Traktat seine Nachkommen ausgerechnet in Sodom und Gomorra unter). Die Doppeldeutigkeit des Namens "Seth" dürfte beabsichtigt und auf einen ägyptischen Rezeptionshorizont hin abgestimmt sein. Wir spüren schon, dass wir hier das Gebiet der ausufernden, teils künstlich geschaffen gnostischen Mythologie betreten. Was konnte überhaupt Anlass dazu geben, dennoch von einem "Evangelium" zu sprechen? Der Begriff wird gleichsam analog verwendet: Auch im koptisch-gnostischen Ägypterevangelium geht es um Heilsgeschichte im weitesten Sinn, die zwar sehr weit zurückverfolgt wird, bis zu einem Zeitpunkt vor der Entstehung der Welt, aber das tut z. B. auch das Johannesevangelium in seinem Prolog, wenn auch sehr viel knapper. Es geht im Ägypterevangelium aus Nag Hammadi ferner um den Weg einer Erlösergestalt namens Seth und um die Rettung all derer, die zu ihr gehören. Für den Umgang mit solchen schwer zugänglichen und auf den ersten Blick befremdlichen Werken gilt: Wir brauchen die darin entwickelte Weltsicht nicht zu teilen, aber wir sollten sie zunächst unvoreingenommen zur Kenntnis nehmen und uns darum bemühen, ihre Aussagen und Anliegen zu verstehen.
(2) Zum Inhalt Was den Aufbau angeht, lässt sich das Werk in vier Hauptteile untergliedern, zwei längere und zwei kürzere. Der erste, umfangreiche Hauptteil behandelt den Ursprung der himmlischen Welt (p.41,8-55,16), der zweite
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den Weg Seths und seiner Nachkommen (p.55,16-66,8). Es folgen noch ein kürzerer hymnischer Abschnitt mit Gebeten (p.66,8-67,26) und ein gleichfalls kurzer Schlussabschnitt (p.68,1-69,20). -Vom Ursprung der himmlischen Welt
Am Anfang steht der Vatergott, der unsichtbare Geist, der im vollkommenen Licht und im Schweigen wohnt und über den nur negative Aussagen gemacht werden können. Aus ihm geht eine eigenartige Trinität hervor, zu der erneut ein Vater, diesmal, auch wenn es nicht direkt im Text steht, zweiten Grades, gehört (p.41,7-12): Es kamen aus ihm (dem ersten Vater) hervor drei Kräfte. Diese sind der (zweite) Vater, die Mutter, der Sohn; (sie stammen) aus dem lebendigen Schweigen, das hervorkam aus dem unvergänglichen (ersten) Vater. Diese kamen hervor aus dem Schweigen des unbekannten (ersten) Vaters.
Diese drei Größen werden sodann als ;,Ogdoaden", als Achtheiten, charakterisiert, die in sich weitere Kräfte bergen und sie aus sich heraus freisetzen. So kommt es zu fortwährenden Emanationen und zu Ausdifferenzierungen innerhalb der himmlischen Welt, die sich im Text über Seiten hinweg fortsetzen. Das Anliegen, das im Hintergrund steht, ist dies: Der Abstand zwischen dem obersten Gott und der Menschenwelt, der als unendlich groß empfunden wird, soll überbrückt werden. Unter den zahlreichen Gestalten, die nach und nach in Erscheinung treten, befinden sich auch der "große Christus, den der große, unsichtbare Geist gesalbt hat" (p.44,22-24), sowie, für den Fortgang wichtig, der erste Mensch ,,Adamas" (p.49,8f). Die entscheidende Weichenstellung erfolgt in p.51,5-14: Der unvergängliche Adamas erbat für sie (die zur Rettung bestimmten Menschen) einen Sohn aus sich selbst, damit er (der Sohn) Vater werden könne des unerschütterlichen, unvergänglichen Geschlechts, so dass durch es (dieses Geschlecht) das Schweigen und die Stimme erscheinen können und durch es die tote Welt sich selbst aufrichte, so dass sie sich auflösen kann.
Die Selbstauflösung der toten Welt ist nicht als Strafgericht gedacht, sondern als notwendiger Bestandteil der Erlösung. Der Sohn Adamas ist Seth (Gen 5,3), und sein Geschlecht umfasst die Gnostiker, die der Vollendung entgegensehen. Doch gibt es vorerst nur die "unvergängliche, geistige Kirche" (p.55,3f.) in der himmlischen Welt.
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_ Seth und seine Nachkommen Im zweiten Hauptteil schlägt, wenn man so will, die Stunde des großen Seth, den es nach seinem "Samen", seinen Nachkommen, verlangt. Jetzt erst kommt es zur Erschaffung der Welt durch den großen Engel Saklas und den großen Dämon Nebruel. Weil das aber als "Betriebsunfall" zu werten ist, trägt Saklas zwar Züge des biblischen Schöpfergotts, wird aber weit vom höchsten Vater abgesetzt und der Arroganz beschuldigt (p.58,23-59,4): Und nach der Grundlegung der Welt sagte Saklas zu seinen Engeln: "Ich, ich bin ein eifersüchtiger Gott, und ohne mich kam nichts in Dasein", weil er auf sein Wesen vertraute. Dann kam eine Stimme aus der Höhe, indem sie sprach: "Es existiert der Mensch und der Sohn des Menschen."
Die Himmelsstimme kündet das Werden des irdischen Menschen an, und zugleich mit ihm tritt Metanoia, die personifizierte Umkehr, ins Dasein. Sie macht schon durch ihren Namen darauf aufmerksam, dass diese Schöpfungsphase ein bleibendes Defizit aufweist und überwunden werden muss. Eine paradoxe Grundfigur bestimmt die Heils- und Unheilsgeschichte, die der zweite Hauptteil im Abriss darbietet: Seths Nachkommen bilden bereits das unerschütterliche, nicht zu verderbende Geschlecht, sind aber dennoch Anfeindungen und Gefahrdungen ausgesetzt. So versucht der Teufel mit seinen Helfern, in mannigfacher Verkleidung und mit zahlreichen Tricks die Anhänger Seths von ihrem Weg abzubringen. Seth schickt ihnen Wächter zur Hilfe und kommt schließlich selbst, um sie zu retten. Eine von Seths Erscheinungsformen ist Jesus Christus. Das wird schon angedeutet, wenn die Rede ist von dem "durch den Logos geschaffenen Leib, welchen der große Seth sich bereitet hat, insgeheim durch die Jungfrau" (p.63,10-13), und es wird präzisiert durch eine Aussage wie "Jesus, der Lebendige, den der großeSethangezogen hat" (p.64,1-3). Eine lange Liste von Heilsbringern, die sich offenbaren, beginnt in p.64,9-11 mit dem seltsamen Namen "Jesseus Mazareus Jessedekeus", in dem der Jesusname stecken dürfte, und diese Liste umfasst auch "Jesus, der Leben hat und der kam und das kreuzigte, was sich im Gesetz befindet" (p.65,17f.). Man beachte, dass die Kreuzigung hier von einem passiven Widerfahrnis in eine aktive Tat uminterpretiert wird. Für die "Sethianer", wenn wir sie so nennen dürfen, hat das alles zur Folge: "Sie werden keinesfalls den Tod schmecken" (p.66,7f.).
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-Hymnischer Abschnitt und Schluss Auf diese Heilsbotschaft reagiert der Lobpreis im hymnischen Teil. Die Sprache muss dazu bis an ihre Grenzen und darüber hinaus strapaziert werden (p.69,9-22): Wahrlich, wahrhaftig, oh Jesseus Mazareus Jessedekeus, lebendiges Wasser, Kind des Kindes, herrlicher Name! Wahrlich, wahrhaftig, seiender Äon, iiii
eeee oooo uuuu öööö aaaa.
Wahrlich, wahrhaftig ei aaaa öööö, oh Seiender, der die Äonen sieht! Wahrlich, wahrhaftig, aee eee iiii uuuuuu ö ö ö ö ö ö ö ö, der ewig ist auf ewig. Wahrlich, wahrhaftig, iea aiö im Herzen, der existiert uaei eisaei eioei eiosei.
Die Vokalfolgen, auf die wir hier stoßen, reduzieren die Sprache auf ihre bloße klingende Essenz. Sie sind außerdem verwandt mit dem urchristlichen Phänomen der Zungenrede, über das Paulus in 1 Kor 14 handelt. Im Allgemeinen wird man darin keinen besonderen Sinn suchen. Dennoch kann man aus der letzten Zeile, wenn man sie auf Griechisch liest und folgendermaßen abtrennt und ergänzt: (h)u(os) aei eis aei, ei o ei, ei os ei, mit etwas Phantasie heraushören: "der existiert als Sohn auf immer und ewig. Du bist, was du bist. Du bist, wer du bist". Der Schlussabschnitt ist locker gefügt aus einem ersten Buchschluss und einem zweiten Buchschluss sowie Kolophon und Subscriptio, über die wir schon gesprochen haben. Wir erfahren Näheres über die Umstände der Entstehung des Textes: "Dies ist das Buch, das der große Seth geschrieben hat und niedergelegt hat aufhohen Bergen" (p.68,1-3). Er hat dafür hundertdreißig Jahre gebraucht, und künden will er vor allem davon, dass es dieses unvergängliche, heilige Geschlecht seiner Nachkommen bereits gibt.
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Ein Vergleich der beiden Ägypterevangelien, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigt haben, lässt sich kaum durchführen, da der Erhaltungsund Überlieferungszustand so unterschiedlich aussieht: ein geschlossener, längerer koptischer Text in zwei Exemplaren hier, wenige griechische Fragmente, zitiert von einem Kirchenvater, dort. So können wir zwar feststellen, dass Diskussionen um Zweigeschlechtlichkeit und Enthaltsamkeit im EvÄg (NHC) fehlen, aber wir wissen auch nicht, ob sie im EvÄg (griech.) so im Vordergrund standen, wie es jetzt aufgrund der gezielt gewählten Ausschnitte scheint. Dennoch kommt man kaum umhin, schon rein atmosphärisch große Divergenzen zu verspüren. Festmachen lässt sich das an der Position, die Jesus Christus eingeräumt wird. Ist er im EvÄg (griech.) fraglos der autoritative Sprecher und die Hauptperson, so wird er im EvÄg (NHC) an den Rand gedrängt durch Seth oder besser noch: er wird in ein System, in dem Seth von vornherein im Mittelpunkt stand, marginal eingeführt. Dem können wir für die Gnosis entnehmen, dass sie mehrere Erlösergestalten bzw. mehrere Namen für die Manifestation dieser Erlöserfigur kannte und benutzte. Erkennbar wird auch die Spannbreite dessen, was wir unter dem Sammelnamen "antike christliche Apokryphen" an Werken verbuchen. Die Funde von Nag Hammadi haben, das können wir hier schon festhalten, diesbezüglich eine erhebliche Ausweitung unseres Gesichtsfeldes mit sich gebracht.
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5. Kindheitsevangelien Literatur.]. K. ELLIOTT, A Synopsis of the Apocryphal Nativiry and lnfancy Narratives (NTTS 34), Leiden 2006.- F. BovoN, Die Geburt und die Kindheit Jesu, in: BiKi 42 (1987) 162-170.- R. F. HocK, Tbe Infancy Gospels of]ames and Tbomas (Tbe Schalars Bible 2), Santa Rosa, CaliE 1995. - G. ScHNEIDER, Evangeliae lnfantiae Apocryphal Apokryphe Kindheitsevangelien (FC 18), Freiburg i.Br. 1995.
Der Ausdruck "Kindheitsevangelien" birgt streng genommen einen Widerspruch in sich, da "Evangelium" sich in urchristlichem Sprachgebrauch zunächst auf die mündliche Verkündigung von Kreuzestod und Auferstehung Jesu bezieht, bei Markus erstmals in die narrative Schilderung der Jesusgeschichte vom Auftreten des Täufers bis zur Auffindung des leeren Grabes eingeht und sich von da aus schließlich zu einer Gattungsbezeichnung entwickelt, die ihren Schwerpunkt nach wie vor keinesfalls bei der Geburt Jesu hat. Matthäus und Lukas schicken ihren Werken in je zwei Kapiteln erstmals diesbezügliche Angaben voraus, verstehen sie aber als Vorspiel oder "Probelauf' zum eigentlichen Korpus ihrer Darstellung, das Jesu öffentlichem Wirken und seiner Passion gewidmet ist. Bei den sogenannten apokryphen "Kindheitsevangelien" liegt die Verbindung zu den Vorgeschichten in Mt 1 - 2 und Lk 1 - 2 auf der Hand, was sich auch im Einzelnen nachweisen lässt. Einen wesentlichen Impuls zu ihrer Entstehung verdanken sie den erzählerischen Nullstellen, die bei Matthäus und Lukas vorliegen und nach Auffüllung verlangen, den offenen Fragen, die sich aus einem Vergleich der beiden sehr unterschiedlichen Vorgeschichten ergeben, und dem Bedürfnis, über die beteiligten Hauptpersonen mehr zu wissen. Die Jahre Jesu als Heranwachsender werden ausgeschmückt. Maria, seine Mutter, wird mit einer Erzählung ihrer eigenen Kindheit bedacht. Auch Josef und Johannes der Täufer eignen sich für biographische Exkurse. Ihren Stoff entnehmen die Verfasser der Kindheitsevangelien dem gesamten Neuen Testament, auch über Mt 1 - 2 und Lk 1 - 2 hinaus, ferner dem Alten Testament in seiner griechischen Fassung und der spätantiken biographischen Literatur, die feste Topoi für die Beschreibung der Herkunft großer Persönlichkeiten entwickelt hat. Die Abkoppelung der vorbereitenden Phase im Leben Jesu vom Kern des verkündigten und erzählten Evangeliums und ihre isolierte Expansion (rhetorisch würde man von einer amplificatio sprechen) führt zu Ergebnissen, die in theologischer Hinsicht nicht immer unbedenklich sind. Historisch zuverlässige Informationen, die
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unser Wissen um die Ursprünge Jesu bereichern würden, darf man von dieser Literatur nicht erwarten, nicht einmal in Ausnahmefallen.
a) Das Protevangelium des Jakobus (Protev) Literatur: 0. CuLLMANN, in: NTApo 6 I, 334--349. - R. F. HocK, lnfancy Gospels 2-81. _ G. ScHNEIDER, Kindheitsevangelien 95-145. - H. R. SMID, Protevangelium Jacobi. A Commentary (ANT 1), Assen 1965.- E. DE STRYCKER, La forme Ia plus ancienne du Protevangile de Jacques. Recherehes sur le Papyrus Bodmer 5 avec une edition critique du texte grec et une traduction annotee (SHG 33), Brüssel1961.- 0. EHLEN, Leitbilder und romanhafte Züge 95-179.- M. F. FosKETT, A Virgin Conceived: Mary and Classical Representations ofVirginity, Bloomington 2002. - C B. HoRN, lntersections: The Reception History of the Protevangelium ofjames in Sources from the Christian East and in the Qu'rän, in: Apocrypha 17 (2006) 113-150.
(1) Zur Einordnung Der Name "Protevangelium", d. h. "Erst-Evangelium", wurde dieser Schrift erst im 16. Jahrhundert beigelegt, als sie von dem französischen Humanisten Guillaume Postel für den Westen wiederentdeckt wurde. Damit scheint die Vorstellung verbunden gewesen zu sein, sie gehöre als Vorspann vor den Beginn des Markusevangeliums, das in 1,1-8 recht unvermittelt mit dem Auftreten Johannes des Täufers einsetzt. In der ältesten Handschrift, dem Papyrus Bodmer V aus dem frühen 4. Jahrhundert, lautet ihr Haupttitel "Geburt Marias" und der sekundär hinzugetretene Untertitel "Offenbarung des Jakobus". Mit Jakobus ist nicht der Zebedäussohn aus dem Zwölferkreis (Mk 3, 17), sondern der gleichnamige Herrenbruder (Mk 6,3) gemeint, auch wenn gelegentlich sogar an Jakobus den Jüngeren aus Mk 15,40 gedacht wurde. Es liegt in jedem Fall eine durchsichtige Verfasserfiktion vor, die der Text selbst vorgibt, und zwar in 25,1: "Ich aber,]akobus, der ich diese Geschichte aufgeschrieben habe ... " Entstanden ist das Protev zwischen 150 und 200 n. Chr. an unbekanntem Ort (Ägypten wird vorgeschlagen, aber auch Syrien oder Kleinasien kommen in Frage). Die hohe Zahl der griechischen Handschriften - es sind ca. 140 bekannt - weist ebenso wie die vielen Übersetzungen in orientalische Sprachen auf die große Beliebtheit unserer Schrift im Osten hin. Die Textgestalt ist dabei wenig fixiert, es kommt zu Kürzungen, zu Erweiterungen und zu Paraphrasen (selbst der älteste Textzeuge, Papyrus Bodmer V, weist schon
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Spuren erheblicher, meist kürzender Bearbeitung auf). Von einer Übersetzung ins Lateinische existieren nur noch wenige Reste, und das hat seine Gründe. Das Decretum Gelasianum (s. in der Einführung), ein Kanonverzeichnis aus der westlichen Kirche, verwirft das Protev als apokryphe, gefährliche Schrift. Stein des Anstoßes war die Tatsache, dass das Protev in der Frage der Brüder Jesu die bis heure in der Ostkirche vorherrschende Position vertritt. Ihr zufolge sind darunter Söhne zu verstehen, die Josef als Witwer aus seiner ersten Ehe mitbrachte. Im Westen jedoch setzte sich eine von Hieronymus favorisierte andere Möglichkeit durch, nämlich die Brüder und Schwestern Jesu als seine Vettern und Kusinen aufZufassen. Damit ist auch schon einiges angedeutet hinsichtlich des Inhalts und der Quellen des Protev. In Kap. 11-21 unternimmt es den erstaunlich geschickt durchgeführten Versuch, die unterschiedlichen Erzählzyklen Lk 1 - 2 und Mt 1 - 2 zu einem geschlossenen Ablauf zu kombinieren. Weiteres Material tritt hinzu; manchmal erhalten Sonderüberlieferungen wie die von der Geburt Jesu in einer Höhle den Vorrang vor der lukanischen Darstellung. In Kap. 1 - 10 schickt der Verfasser dem Bericht über Empfangnis und Geburt Jesu eine weitere Vorgeschichte voraus, die sich auf die Gestalt der Maria konzentriert. Ihre Eltern werden vorgestellt, und wir erfahren unbekannte Details über die frühen Jahre Marias. Als Quelle dafür diente neben der frommen Einbildungskraft vor allem die Septuaginta, d. h. die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische. Aus seiner Bibel entlehnt der Verfasser die Personennamen, aus ihr entnimmt er bestimmte jüdische Sitten, die er teils verzerrt wiedergibt. In Kap. 21 - 24 zeigt er, wie der von Herades befohlene Kindermord auch Johannes den Täufer gefährdete und wie sein Vater Zacharias ihm als Märtyrer zum Opfer fiel. In einem kurzen Epilog in Kap. 25 ergreift der bis dahin auktorial (mit Ausnahme von 18,2 - 19, 1, s.u.) agierende Erzähler in der personalen Ich-Form direkt das Wort und gibt sich zu erkennen. Als Charakterisierung der Gesamtintention dieses Werks, das manche anrührenden Züge enthält und sich mit Ausnahme der Szene um Salome in Kap. 19 - 20 vor krassen Übertreibungen hütet, bietet sich das Stichwort "Marienlob" an. Die Reinheit Marias, der neuen "Eva", von ihrer eigenen Empfängnis und Geburt über ihre früheste Kindheit, ihre Jahre als "Tempeljungfrau" und ihre "Scheinehe" mit Josef bis zur Geburt Jesu, die ihre Jungfräulichkeit nicht verletzt, soll in penetranter Weise demonstriert werden. Man hat dahinter apologetische Motive vermutet: Es könnte sich z. B. um eine Reaktion auf die aus der Gegenschrift des Origenes bekann-
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ten Anwürfe des heidnischen Philosophen Celsus (zwischen 170 und 180 n. Chr.) handeln, der sich über die niedrige Herkunft Jesu mokierte und die jungfräuliche Empfängnis mit Hohn und Spott übergoss. Im Gegenzug rücken im Protev die Eltern Marias in eine sozial hochgestellte Position ein, und Marias Jungfräulichkeit wird von den verschiedensten Instanzen - Engel, Josef, Priester, Volk, nicht zu vergessen die Hebammen - massiv bestätigt. Mindestens ebenso wichtig dürfte aber eine andere Tendenz gewesen sein, die in Richtung eines Enkomions, einer Lobrede auf Maria zielt. In Einklang mit den Regeln der Rhetorik wird dieses Enkomion durch Schilderung der vornehmen Herkunft Marias (genos), ihrer Geburt (genesis), ihrer Erziehung (paideia) und ihrer Taten (praxeis) durchgeführt.
(2) Zum Inhalt -Die Vorgeschichte In Kap. 1 wird Joachim, der künftige Vater Marias, vorgestellt. Seine Charakterisierung als "sehr reich" ( 1,1) verweist auf Jojakim, den Gatten der Susanna, in Dan 13,1-4, der bei der Wahl des Namens Pate stand, während Joachims Frau Anna nach dem Vorbild der Hanna in 1 Sam 1,2 modelliert ist. Aus Anlass einer Opferdarbringung an einem Festtag macht Rubel oder Reuben, der als Sprecher Israels fungiert, dem frommen und mildtätigen Joachim seine fehlende Nachkommenschaft zum Vorwurf. Traurig zieht dieser sich daraufhin in die Wüste zurück und fastet vierzig Tage lang, findet aber Trost im Gedanken an den Patriarchen Abraham, dem Gott im hohen Alter noch einen Sohn schenkte. Währenddessen muss sich Anna ähnliche Vorwürfe wegen ihrer Kinderlosigkeit von ihrer Magd gefallen lassen. Sie wendet sich im Gebet an Gott, der "die Mutter Sara gesegnet und ihr als Sohn den Isaak gegeben" hat (2,4; vgl. auch Tob 3,7-15). In einem bewegenden, mehrstrophigen Klagelied, das die Gattung des alttestamentlichen Weherufs aufnimmt, vergleicht Anna sodann die Fruchtbarkeit der Natur in dem großen Garten Joachims, in dem sie sich aufhält, mit ihrer eigenen Unfruchtbarkeit (Kap. 3). Ein Engel des Herrn erscheint und richtet Worte an sie, die an Lk 1,26-31 erinnern: ,,Anna, Anna, Gott, der Herr, hat dein Gebet erhört. Du wirst empfangen, und du wirst gebären, und reden wird man von deiner Nachkommenschaft auf dem ganzen Erdkreis" (4,1). Anna verspricht,
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das Kind, sei es Knabe oder Mädchen, dem Tempeldienst zu weihen (vgl. 1 Sam 1, 11). Ein anderer Engel teilt Joachim mit: "Siehe, deine Frau Anna hat in ihrem Leib empfangen" (andere Lesart: "wird empfangen"), und fordert ihn zur Rückkehr von seinem selbst gewählten Aufenthalt in der Wüste auf (4,2). -Jungfräuliche Empfängnis? Die textkritische Frage nach der Zeitstufe stellt sich erneut im Selbstbericht der Anna bei ihrer Begegnung mit Joachim in 4,4. Sollen wir lesen: "Siehe, ich habe im Leibe empfangen" oder "Siehe, ich werde im Leibe empfangen"? Die vermutlich ältere Fassung mit der Vergangenheitsform stilisiert die Empfängnis Marias in Abwesenheit Joachims zu einer wunderbaren Empfangnis ohne Zutun eines Mannes empor, überträgt also auf Maria, was in den neutestamentlichen Traditionen teils von Jesus ausgesagt wird. Andernfalls würde sich die Empfangnis auf normalem Weg hinter der Schlussnotiz "Und Joachim ruhte am ersten Tag in seinem Hause aus" in 4,4 verbergen, und man müsste dann versuchen, die Perfektformen als verkappte Futura (sogenanntes "prophetisches Futur") zu lesen. Im Übrigen ist hier auch bei der weitreichenderen Deutung die "Unbefleckte Empfangnis Marias" noch nicht direkt im Blick, da sie die Befreiung Marias von der Erbsünde beinhaltet und nicht ihre Empfangnis ohne Geschlechtsverkehr der Eltern, doch ist angesichts der augustinischen Koppelung von Erbsünde und Konkupiszenz und einer entsprechenden Abwertung der Sexualität der Weg dahin nicht mehr weit. Am nächsten Tag bringt Joachim ein großes Opfer im Tempel dar, das ihm auf schwer durchschaubare Weise seine Sündlosigkeit (von welcher Sünde? Etwa derjenigen, Maria vielleicht doch selbst gezeugt zu haben?) bestätigt (5,1). Dabei dient das Stirnband des Priesters (vgl. Ex 28,36-38) als Orakel, vermutlich nach Art eines Metallspiegels, der sich je nach Lage aufhellt oder trübt. - Geburt und frühe Kindheit Wunderbarerweise kommt im siebten Monat eine Tochter zur Welt, die den Namen Maria erhält (5,2) und nach sechs Monaten bereits ihre ersten sieben Schritte tut, woraufhin Anna ihr Schlafgemach in ein Heiligtum verwandelt und "unbefleckte Töchter der Hebräer" als ihre Gefahrtinnen auswählt (6, 1).
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Am ersten Geburtstag des Kindes lädt Joachim das ganze Volk mit allen Würdenträgern zu einem großen Festmahl ein (vgl. Gen 21,8), und bei der Gelegenheit rufen die Priester und Hohenpriester Gottes Segen auf das Kind herab (6,2), was seiner Mutter Grund dazu gibt, in der Zurückgezogenheit des Schlafgemachs ihr eigenes "Magnificat" anzustimmen: "Ein heiliges Lied will ich singen für den Herrn, meinen Gott, weil er auf mich geschaut und von mir genommen hat die Schmähung meiner Feinde." (6,3). Als Maria zwei Jahre alt wird, schlägt Joachim vor, das Kind zur Einlösung von Annas Versprechen dem Tempel zu übergeben, doch erreicht Anna mit der anrührenden Begründung "sonst sucht es nach Vater und Mutter" einen Aufschub um ein weiteres Jahr (7,1; vgl. 1 Sam 1,21-24). Im Alter von drei Jahren wird Maria von den hebräischen Jungfrauen, die brennende Fackeln tragen (vgl. Mt 25,1-12?), zum Tempel geleitet, wo sie der Priester mit Worten aus Lk 1,48 begrüßt und wo Maria auf den Stufen des Altars tanzt, zu allgemeinem Wohlgefallen. - Das Staborakel Über die nächsten Jahre erfahren wir nur, dass Maria sie "wie eine Taube" als Tempeljungfrau verbringt (ein Anachronismus, der das spätere christliche Jungfräulichkeitsideal durchscheinen lässt) und dass sie ihre Nahrung aus der Hand eines Engels erhält (8, 1). Erst als sie zwölf wird, stellt sich für die Priester das Problem, dass sie den Tempel des Herrn beflecken könnte (wegen der beginnenden Menstruation, was aber im Text nicht gesagt wird). Auf ihr Drängen hin betritt der Hohepriester, der Zacharias heißt und den der Autor des Protev mit dem Vater Johannes des Täufers aus Lk 1,5-25 identifiziert (vgl. sein zeitweiliges Verstummen in Protev 10,2), Rat suchend das Allerheiligste. Ein Engel beauftragt ihn, die Witwer des Volkes zusammenzurufen. Jeder von ihnen soll einen Stab mitbringen, und Gott wird mittels der Stäbe, die der Priester später zum Gebet mit ins Tempelinnere nimmt und dann wieder aushändigt, ein Zeichen geben (vgl. das "Staborakel" in Num 17,16-28). Auch Josef legt sein Werkzeug, eine Axt, aus der Hand und folgt dem Aufruf (9,1). Nur aus seinem Stab, dem letzten in der Reihe, kommt eine Taube hervor, die sich auf seinem Haupt niederlässt (vgl. Mk 1, 10). Ihn hat somit das Los getroffen, die "Jungfrau des Herrn" als Frau bei sich aufzunehmen, aber gleichzeitig als Jungfrau für Gott zu bewahren. Josef leistet zunächst Widerstand, unter Hinweis auf sein hohes Alter und auf die Tatsache, dass er schon Söhne hat; er möchte nicht zum Ge-
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spött des Volkes werden. Schließlich gibt er sich, als der Hohepriester ihm mit einem Strafgericht Gottes droht, geschlagen, bringt Maria in seinem Haus unter, das der Verfasser sich offenbar in Jerusalem gelegen denkt, und begibt sich auf die Reise, um seiner Tätigkeit als Bauhandwerker nachzugehen. - Die Empfängnis Jesu Kap. 10 hat hauptsächlich die Funktion, die bleibende Jungfernschaft Marias über die nächsten Jahre hin - zum Zeitpunkt der Empfängnis ist sie sechzehn Jahre alt, vgl. 12,3 - festzuschreiben. Weil sie die geforderten Qualifikationen mehr als erfüllt, wird Maria den sieben Jungfrauen aus dem Stamme Davids (!) beigesellt, die den kostbaren Tempelvorhang herstellen sollen (vgl. Ex 35,25). In "Heimarbeit" kommt sie ihrem Teil dieser Aufgabe nach. Beim Wasserholen und beim Spinnen ereignet sich in Kap. 11 -in enger Anlehnung an die Vorlage Lk 1,26-28 - die Ankündigung der wunderbaren Empfängnis Jesu, die durch Gottes Wort ("Logos" in 11,2) geschieht. Als freie Wiedergabe von Lk 1,39-56 schließt sich in Kap. 12 der Besuch an, den Maria ihrer Verwandten Elisabet abstattet. -Die Krise Die Krise tritt ein, als Josef im sechsten Monat der Schwangerschaft Marias nach Hause zurückkehrt und das inzwischen Unübersehbare auf den ersten Blick feststellt. Er bricht in bittere Klagen aus (13, 1): "Wer hat mir die Jungfrau geraubt und sie befleckt? Wiederholt sich an mir etwa die Geschichte Adams? Denn wie Adam zur Stunde des Lobgebers (nicht zu Hause) war und die Schlange kam, Eva allein vorfand, sie räuschre und sie befleckte, so isr es auch mir zugestoßen" (vgl. Gen 3,13 und die jüdische Auslegungstradition bis hin zu 2 Kor 11,3; Maria wird hier implizit als neue Eva gezeichnet).
Seinen Vorwürfen kann Maria, die von der geheimnisvollen Mitteilung des Engels prinzipiell nicht spricht (nach 12,2 hat sie sie sogar "vergessen"), nur ihre Unschuldsbeteuerung entgegensetzen. Immerhin gerät Josef ins Nachdenken. Er überlegt, ob Marias Leibesfrucht nicht "von Engeln stammen könnte" (14,1; hier wird die Erzählung vom Engelfall in Gen 6,1-4 rezipiert und ins Positive gewendet), und er möchte Maria nicht dem Gericht ausliefern, das ein Todesurteil fällen müsste. Der Autor des Protev hat damit den Anknüpfungspunkt geschaffen, der es ihm ermöglicht, Mt
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1,18-25 einzubringen: Ein Engel klärt Josef im Traum über den wahren Sachverhalt auf (14,2). - Die Prüfung
Am nächsten Tag entdeckt der Schriftgelehrte Annas bei einem Besuch die Schwangerschaft Marias, meldet sie dem Hohenpriester und äußert gleich den nahe liegenden Verdacht, den dieser sich zu Eigen macht: Josefhat sich heimlich an der Jungfrau vergangen und mit ihr das Kind gezeugt (aus der Wendung: Josef "hat ihr Beilager gestohlen und es den Söhnen Israels nicht kundgetan" in 15,2 und 15,4 scheint fast hervorzugehen, dass ihm das Eingehen einer echten Ehe bei einer formgerechten öffentlichen Ankündigung freigestanden hätte). Einzeln mit diesem Vorwurf konfrontiert, können Maria und Josef nur ihre Unschuld beschwören. Die Lösung bringt das "Wasser der Überführung", dessen Anwendung bei Verdacht auf Ehebruch seitens der Frau Num 5,11-31 schildert. In einem abgeänderten Ritus trinken beide nacheinander das Prüfungswasser, gehen in die Wüste und kehren wohlbehalten zurück. Die in Num 5,21f. angedrohten körperlichen Symptome sind bei ihnen nicht aufgetreten; das genügt als Nachweis ihrer Schuldlosigkeit. - Der Weg nach Betlehem Mit seinen Söhnen aus erster Ehe und Maria begibt sich Josef in 17,1 f. zu der von Augustus befohlenen Eintragung nach Betlehem. Unterwegs weint und lacht Maria, weil sie ein weinendes und ein lachendes Volk sieht (d. h. die Ungläubigen und die Gläubigen, vgl. Lk 2,34; Gen 25,23). Aufhalber Strecke, von Jerusalem oder vom Ort der Vision aus gerechnet, jedenfalls vor Betlehem, in der Nähe des Rahelgrabes, kündigt sich die Geburt an. Josef findet eine Höhle als Unterkunft und sucht nach einer Hebamme. Danach gehen die Textversionen merklich auseinander. Eine längere Textversion, die in 18,2 einsetzt, lässt Josef, von dem bisher immer in der dritten Person gesprochen wurde, plötzlich in der Ich-Form von einem erwartungsvollen Stillstand allen Lebens berichten (wir fühlen uns unwillkürlich an "Dornröschen" erinnert). Die ganze Natur hält den Atem an in der Erwartung des großen Ereignisses, das bevorsteht. Die längere Version und die kürzere Fassung aus PBodmer V, die diesen Perspektivenwechsel nicht kennt, kommen wieder darin überein, dass Josef eine Hebamme trifft, die
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gerade vom Gebirge herabkommt (19,1). Streng genommen werden deren Dienste aber gar nicht benötigt. Sie steht nur dabei und erlebt mit, wie eine Wolke, die über der Höhle liegt, abgelöst wird von einem großen Licht, das in der Höhle aufstrahlt und seinerseits verschwindet, als das Kind "erscheint" (19,2). - Die Hebamme(n) Beim Verlassen der Höhle trifft die Hebamme auf eine andere Frau namens Salome, die vielleicht ursprünglich als Tochter Josefs und nicht als zweite Hebamme gedacht war, und berichtet ihr von dem "nie da gewesenen Schauspiel: Eine Jungfrau hat geboren" (und ist selbst dabei noch, wie aus dem Folgenden hervorgeht, Jungfrau geblieben). Salome reagiert mit den Worten des "ungläubigen" Thomas aus Joh 20,25: "Wenn ich nicht meinen Finger hinlege und ihren Zustand untersuche, glaube ich nicht" (19,3). Die geforderte Untersuchung kommt in Kap. 20 tatsächlich zustande. Sie bestätigt die intakte Jungfräulichkeit Marias auch nach der Geburt, wofür es nun mit der Hebamme und mit Salome zwei kompetente Zeuginnen gibt. Doch hat die Überprüfung schlimme Folgen für Salome selbst: Ihre Hand, die sie dazu gebraucht hat, wird von Feuer ergriffen, und sie erkennt, dass sie Gott versucht hat. Ein Engel empfiehlt ihr, das Kind zu berühren. Als sie das tut, wird sie geheilt. Die Erfindung dieser Episode verdankt sich wohl dogmatischen Erwägungen hinsichtlich der Jungfräulichkeit Marias auch in der Geburt (virginitas in partu) und nach der Geburt (post partum). - Die Gefährdung der Kinder Kap. 21 geht in Form einer Nacherzählung von Mt 2 auf die Magier und König Herodes ein. Der Kindermord aus Mt 2,16 führt anders als bei Matthäus nicht zur Flucht nach Ägypten, Maria reagiert vielmehr folgendermaßen: "Sie nahm das Kind, wickelte es in Windeln und legte es in eine Ochsenkrippe" (22,2). Die Krippe aus Lk 2,7 dient hier als Versteck, und ihre Charakterisierung als Futterkrippe für Ochsen bietet einen ersten Ansatzpunkt dafür, Ochs und Esel neben der Weihnachtskrippe zu platzieren. Dass die Flucht nach Ägypten regelrecht unterschlagen wird, erklärt sich aus apologetischer Absicht: Kritiker wie Celsus hatten behauptet, Jesus habe in jungen Jahren in Ägypten das Magierhandwerk erlernt und könne nur deswegen als Wundertäter auftreten.
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Wirklich in Gefahr geraten durch die Akti~n des Herodes andere Personen: Der König sucht auch nach Johannes dem Täufer, dessen zwischenzei tlieh erfolgte Geburt stillschweigend vorausgesetzt wird, weil er befürchtet, dieser könne als Sohn eines Hohenpriesters der angekündigte Messiaskönig sein (23,2). Elisabet flieht mit ihrem Kind ins Gebirge, wo sich ein Berg spaltet und sie aufnimmt (22,3). _ Zacharias als Blutzeuge Zweimal schickt Herodes daraufhin seine Schergen zum Hohenpriester Zacharias, dem Vater des Kindes, in den Tempel; zweimal verweigert dieser die Auskunft über den Verbleib seines Sohnes, beim zweiten Mal mit den Worten (23,3): "Ein (Blut)zeuge Gottes bin ich. Nimm mein Blut! Meinen Geist aber wird der Herr in Empfang nehmen, denn du vergießest unschuldiges Blut im Vorraum des Tempels des Herrn" (vgl. 2 Chron 24,20-22 und Mt 23,35, wo auch ein "Zacharias" im Tempelareal ein gewaltsames Ende findet).
Zacharias wird an Ort und Stelle umgebracht. Die anderen Priester warten zur festgesetzten Stunde vergeblich darauf, dass er zum gemeinsamen Gebet herauskommt. Einer wagt sich ins Heiligtum, sieht das Blut beim Altar (den der Autor fälschlich ins Tempelinnere verlegt) und hört eine Stimme sagen: "Zacharias wurde ermordet, und sein Blut wird nicht abgewaschen, bis der Rächer kommt" (24,2; mit "Rächer" ist entweder der wiederkommende Christus bzw. Gott als Richter gemeint oder Titus, der als römischer Feldherr den Tempel zerstören wird). Die übrigen Priester stellen fest, dass das Blut inzwischen zu Stein geronnen ist. Den Leichnam des Zacharias finden sie nicht (wahrscheinlich weil ihn die Mörder entfernt haben; vgl. aber auch das unbekannte Grab des Mose in Dtn 34,6 und die vergebliche Suche nach Elija in 2 Kön 2,16f.). Das ganze Volk hält eine dreitägige Totenklage ab. Durch Losentscheid wird anschließend Sirneon (aus Lk 2,25f.) zum Nachfolger des Zacharias im Amt des Hohenpriesters bestimmt. -Abschluss Im Schlusskapitel meldet sich der'Erzähler in der Ich-Form zu Wort, ehe er mit einer Doxologie und einem Gnadenwunsch sein Werk beendet: "Ich aber, Jakobus, der ich diese Geschichte aufgeschrieben habe, begab mich während der Unruhen, die beim Tod des Herodes in Jerusalem ausbrachen,
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in die Wüste ... " (25, 1), wo er, so ist wohl zu ergänzen, genug Zeit und Ruhe zur Abfassung seines Werkes hatte. Wir sollen ihn wohl unter den zuvor in 17,1f. erwähnten Söhnen Josefs suchen, was ihn zu einem Augenzeugen für einen Teil der Ereignisse machen würde, der, wenn wir den Hinweis auf den Tod Herodes des Großen aufnehmen, zu einer Zeit schreibt, als Jesus selbst noch ein Kleinkind war.
(3) Rückblick Mehr an Authentizität, als hier geboten, kann man eigentlich nicht verlangen, doch fällt dieser Versuch unter das Verdikt: Wer zu viel beweisen will, beweist nichts. Was bleibt, ist die erzählte Welt des Textes, die sich den biblischen Vorlagen und einer beträchtlichen Imaginationskraft verdankt, aber auch theologische Rückfragen von einiger Tragweite provoziert: Verträgt sich die Form von Mariologie, der wir hier begegnen, noch mit dem Zeugnis der Schrift? Die Frage stellen bedeutet schon, sie mit "Nein" zu beantworten (auch wenn die Dogmatik das teils bis heute anders sieht). Eine andere Frage wäre die nach der Christologie des Protev. Dass das Jesuskind in 19,2 "erscheint", könnte ebenso wie das drastisch demonstrierte Unverletztsein des Hymens seiner Mutter den Verdacht auf Doketismus nahelegen: Dieser Christus hat nur einen Scheinleib besessen und konnte deshalb durch die Mutter hindurchgehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber die Motive sind dafür wohl doch nicht deutlich genug ausgeführt. Dass wir in diesem Punkte nicht klarer sehen, liegt nicht zuletzt daran, dass Aussagen über den erwachsenen Jesus und sein Leiden fehlen. Der Einfluss des Protev auf die Folgezeit, insbesondere auf die Mariologie, auf die Ikonografie und auf die Liturgie (man denke an das Fest der "Darstellung Marias im Tempel" oder das Fest von "Joachim und Anna", in Grenzen auch an das Fest der "Unbefleckten Empfängnis Marias"), kann kaum überschätzt werden. Er wurde trotz der eingangs erwähnten Skepsis auch im Westen wirksam, weil wesentliche Inhalte des Protev in andere, verbreitete Kindheitserzählungen wie die des Pseudo-Matthäus eingingen (s.u. Punkt c).
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b) Oie Kindheitserzählung des Thomas (KThom) Literatur: 0. CuLLMANN, in: NTApo 6 I, 349-360. - G. ScHNEIDER, Kindheitsevangelien 147-171.- R. F. HocK, Infancy Gospels 84-146.- A. DE SANTOS ÜTERO, Das ]rirchenslavische Evangelium des lhomas (PTS 6), Berlin 1967.- W BAARS I J. HELDERMJ.NN, Neue Materialien zum Text und zur Interpretation des Kindheitsevangeliums des Pseudo-lhomas, in: OrChr 77 (1993) 191-226; 78 (1994) 1-32.- T. CHARTRANDÄBuRKE, lhe Greek Manuscript Tradition of the Infoncy Gospel of1homas, in: Apocrypha 14 (2003) 129-151.- L. PAULISSEN, Jc~sus a l'ecole. Lenseignement dans l'Evangile de /'Enfonce selon Thomas, in: Apocrypha 14 (2003) 153-175. - P. VIELHAUER, Geschichte
672-677.
(1) Zur Einordnung Die Kindheitserzählung des lhomas trägt in den Handschriften verschiedene Titel, als deren fester Kern sich die Bezeichnung "Paidika", das heißt "Dinge (Ereignisse, Taten) aus der Kindheit (des Herrn)" herausschält. Die Zuschreibung an Thomas aus dem Zwölferkreis als Verfasser, die das Proömium in Ka,p. 1 wiederholt, ist mit dem insgesamt sekundär interpolierten Proömium erst später hinzugetreten. Andere Handschriften nennen andere Verfasser, z. B. erneut Jakobus, aber die älteste Fassung dürfte mit Kap. 2 begonnen haben und anonym gewesen sein. Es zeigt sich darin schon ein Problem im Umgang mit diesem Werk, dass nämlich sein Textzustand fließend genannt werden muss. Wir unterscheiden für unsere Zwecke (1) eine längere griechische Fassung A mit Kap. 1- 19 (bei Tischendorf abgedruckt), der wir im Wesentlichen folgen, (2) eine kürzere griechische Ausgabe B mit manchen Sonderlesarten und (3) als C ein griechisches Manuskript, das zu Beginn mit der lateinischen Übersetzung zusammengeht und eine Lücke, die in A zwischen 6,2 und 6,3 besteht, ähnlich wie die slawische Version auffüllt. Hinzu treten zahlreiche weitere Übersetzungen, z. B. ins Syrische, Äthiopische und Georgische, die teils älter sind als die griechischen Handschriften aus dem 15. Jahrhundert, die unserer Rezension A zugrunde liegen. Der wechselnde Umfang hängt mit einer anderen Eigenart zusammen. KThom bietet Momentaufnahmen aus dem Leben des fünfjährigen bis zwölfjährigen Jesus (für den dreizehn- bis dreißigjährigen hat sich offenbar niemand interessiert). Sie zeigen ihn besonders beim Vollbringen von Wundern und beim Disput mit insgesamt drei Lehrern, denen er seine Überlegenheit demonstriert. Die Einzelerzählungen sind mehrheitlich in
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sich geschlossen; sie können deswegen auch wandern, hinzugefügt oder weggenommen werden. Übergreifende Linien werden eher mühsam hergestellt durch die Altersnotizen, durch die mehrfache Betonung der Wirksamkeit von Jesu Wort und durch die Wiederholung bestimmter Motive. Anders als im Protev spielt in der KThom das Alte Testament keine Rolle. Aus dem Neuen Testament wird direkt nur die Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41-52 in KThom 19) übernommen, aus gutem Grund, denn darin ist unschwer der Nukleus für die Entstehung des Ganzen zu erkennen. Die Lücke, die sich in Lk 1 - 2 zwischen der Geburt Jesu und dem Auftreten des Zwölfjährigen auftut, wird mit neuem Material aufgefüllt. Das Neue Testament stellt dafür ansonsten noch einzelne Ausdrücke und Eigennamen, bestimmte Sprachmuster und einen Teil der Erzählmotive bereit. So werden die neutestamentlichen Heilungen und Totenerweckungen teils imitiert, und gelegentlich werden wir sogar an Wunder aus der Apostelgeschichte erinnert. Auch die festen Aufbauelemente von Wundererzählungen wie Charakterisierung der Not, wunderwirkendes Wort, Konstatierung des geschehenen Wunders, Demonstration und Chorschluss lassen sich in der KThom nachweisen. Der anschauliche Erzählstil wird im Übrigen manchmal durchbrechen von sehr spekulativ und tiefsinnig anmutenden Jesusworten, vor allem bei der Auslegung des Buchstabens A in Kap. 6. Von dieser Episode schreibt Irenäus von Lyon, sie stamme aus einem Werk, das bei den Gnostikern im Umlauf war (Adversus haereses I 20,1; vgl. EpAp 4, 15). Manche Forscher vermuten deshalb, das ganze Werk sei ursprünglich viel stärker gnostisch eingefärbt gewesen, und erst eine orthodoxe Überarbeitung habe die gnostischen Züge weitgehend eliminiert und lediglich die Erzählung, die in gnostischer Sicht nur die Oberfläche darstellt, zurückgelassen. Die Angaben über die Entstehungszeit der KThom schwanken in der Forschung zwischen dem 2. Jahrhundert und dem 5. Jahrhundert, doch kann die soeben erwähnte Parallele bei Irenäus einen Anhaltspunkt dafür geben, den Grundstock ins späte 2. Jahrhundert zu datieren.
(2) Zum Inhalt -Der fünfjährige Jesus Im Proömium stellt sich der Verfasser als "Thomas der Israelit" vor und kündigt an, den Brüdern aus der Heidenwelt die Großtaten, die Jesus
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schon als Kind vollbrachte, zu erzählen. Er beginnt mit Episoden aus dem Leben des Fünfjährigen: Jesus spielt an einem Sabbat an einem Bach, leitet das Wasser in Gruben und formt aus feuchtem Lehm zwölf Sperlinge. Sein Vater Josef stellt ihn wegen der Sabbatverletzung zur Rede. Jesus klatscht in die Hände, und die Sperlinge werden lebendig und flattern davon (2,1-5; evtl. als Vorblick auf die Aussendung der zwölf Apostel gedacht). In Kap. 3 bringt der Sohn des Schriftgelehrten Annas das angestaute Wasser zum Abfließen, so dass die Gruben wieder austrocknen. Als adäquate Strafe "verdorrt" er selbst am ganzen Leib (vgl. Mk 11,20f.), und seine betrübten Eltern können nur noch den Leichnam hinwegtragen. Ein anderer Knabe hat das Pech, beim Laufen durchs Dorf mit Jesus zusammenzustoßen; er fallt tot um (4,1). Als seine Eltern sichbei Josef beklagen, sorgt Jesus dafür, dass sie erblinden (5, 1). Illustriert werden soll so die Wirkkraft des Wortes Jesu: "Woher stammt dieser Knabe? Jedes Wort von ihm ist vollendete Tat" (4,1; wiederholt in 17,2). Josef reagiert dennoch ungehalten und zupft Jesus am Ohr. Dieser protestiert mit rätselhaft klingenden Worten, unterlässt aber immerhin eine Strafaktion gegen Josef (5,2f.). - Der erste Lehrer Nach dieser ersten Serie von Wundern nimmt sich in Kap. 6 ein Lehrer namens Zachäus des Kindes an und will ihm das Alphabet beibringen. Jesus fragt ihn, ob er denn selbst überhaupt das Geheimnis des Alpha kenne. Zachäus muss passen, und Jesus gibt vor einer größeren Zuhörerschaft fiir das A folgende allegorische (vgl. 7, 1!) Deutung (6,4): "Höre, Lehrer, die Anordnung des ersten Schriftzeichens, und achte hier darauf, wie es Geraden hat und einen Mittelstrich, der durch die zusammengehörenden Geraden, die du siehst, hindurchgeht, (wie die Linien) zusammenlaufen, sich erheben, im Reigen schlingen, drei Zeichen gleicher Art, sich unterordnend und tragend, gleichen Maßes. Da hast du die Linien des A" (eine andere griechische Textüberlieferung und die slawische Version bringen hier einen längeren, wohl gnostisch beeinflussten Text, in dem Jesus unter anderem sagt: "Ich schwöre dir, Lehrer, ich existierte schon, ehe du geboren wurdest" und ,,Als die Welt erschaffen wurde, da existierte ich schon mit dem, der mich zu euch gesandt hat").
Das bleibt in vielem unverständlich, läuft aber anscheinend darauf hinaus, dass die drei Geraden, aus denen ein A zusammengesetzt ist, trinitarisch zu deuten sind. Zachäus verzweifelt an seiner Aufgabe. Er bittet Josef, den Knaben wieder mitzunehmen, und äußert den Verdacht: "Dieses Kind ist nicht erdge-
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boren ... Vielleicht ist es sogar vor Erschaffung der Welt gezeugt worden" (7,2); es "ist etwas Großes, ein Gott, ein Engel oder ich weiß nicht, was" (7,4; wiederholt in 17,2). Lachend bestätigt Jesus in johanneischer Diktion, dass er "von oben her anwesend" ist, um die dafur Bestimmten "nach oben" zu rufen, und hebt die zuvor verhängten Strafen auf. Alle davon Betroffenen werden geheilt (8,1f.). - Rettungswunder In Verlängerung dieser Aktion sind nach den Strafwundern nun helfende Wunder angesagt: Ein Spielgefährte Jesu stürzt vom Flachdach eines Hauses herab und stirbt. Die Eltern geben, durch die früheren Geschehnisse sensibilisiert, Jesus die Schuld. Mit lauter Stimme ruft Jesus den Verunglückten aus dem Tod ins Leben zurück, damit er den wahren Sachverhalt bestätige. Die Eltern preisen Gott für dieses Wunder und fallen vor ]esus nieder (9,1-3; vgl. das Schicksal des Eutychos in Apg 20,9-12). Beim Holzhacken spaltet sich ein junger Mann mit der Axt den Fuß und verblutet. Jesus fasst den Fuß an, und die Verletzung ist geheilt. Die Menge reagiert mit dem Chorschluss: "Wahrlich, in diesem Knaben wohnt Gottes Geist" (10,2). Den sechsjährigen Jesus schickt seine Mutter zum Wasserholen. Der Krug zerbricht im Gedränge, aber Jesus bringt das Wasser in den Falten seines 0 bergewands sicher nach Hause ( 11, 1f.). Als Achtjähriger geht Jesus zur Saatzeit mit seinem Vater aufs Feld und sät ein einziges Weizenkorn (nach anderen Textzeugen "ein Maß" Korn). Das bringt bei der Ernte so viel Ertrag ("hundert Maß"), dass die Armen des Dorfes damit beschenkt werden können und der Rest noch für die eigene Familie reicht (12, 1f.). Josef erhält als Zimmermann den Auftrag, anstelle der üblichen Pflüge und Joche für einen reichen Mann ein Bett anzufertigen. Eines von zwei Brettern, die sich entsprechen müssten, erweist sich als zu kurz. Jesus packt es, zieht daran und streckt es, bis es genauso lang ist wie das andere Brett (13,1f.). - Der zweite und dritte Lehrer In Kap. 14 unternimmt Josef einen neuen Versuch mit einem Lehrer, der Jesus zuerst im Griechischen (ein verräterischer Hinweis auf den sprachlichen Horizont des Verfassers) und dann erst im Hebräischen unterrichten
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will. Als Jesus jedoch seine zuvor schon an Zachäus gerichtete Aufforderung wiederholt, ihm erst die Hintergründe des A zu erläutern, ärgert der Lehrer sich und schlägt Jesus auf den Kop( Jesus, dem der Schlag weh tut, verflucht ihn, und er sinkt daraufhin ohnmächtig um (14,lf.). Ein anderer Schulmeister, ein guter Freund Josefs, unternimmt einen letzten Versuch. In seinem Lehrhaus erläutert Jesus, vom heiligen Geist inspiriert, vor einer größeren Zuhörerschaft in fließender Diktion das Gesetz (vgl. Lk 4, 16-22). Der Schulmeister erkennt Jesu Überlegenheit an. Diesmal geht die Geschichte gut aus; selbst der Lehrer aus der vorigen Szene wacht wieder aus seiner Ohnmacht auf ( 15, 1-4). -Wundertaten Offenbar planmäßig werden die beiden Lehrerepisoden in Kap. 14 und 15 gerahmt durch die drei Wunder aus Kap. 11 - 13 und drei neue Wunder in Kap. 16-18: In 16,1( gehtJesus mit seinem Bruder Jakobus Holz sammeln. Eine Giftschlange, die sich im Reisig verborgen hielt, beißt Jakobus in die Hand. Als der sterbenskrank daniederliegt, bläst Jesus auf die Bisswunde, und sofort gesundet Jakobus (vgl. Apg 28,2-6). Danach stirbt in der Nachbarschaft ein krankes Kind. Jesus, den das laute Klagen herbeilockt, berührt seine Brust und fordert es auf zu leben. Sogleich öffnet es seine Augen und lacht (17, 1). Ein Jahr später nimmt Jesus einen verunglückten Bauarbeiter bei der Hand und "führt" ihn ins Leben zurück (18,1). Bemerkenswert ist wieder der Chorschluss der Menge: "Dieser Knabe kommt vom Himmel, denn er hat viele Leben vom Tode errettet und er vermag sein ganzes Leben hindurch zu retten" (18,2). - Der Schlusspunkt In Kap. 19 endet KThom mit der Erzählung, die den Anlass für den gesamten Erzählkranz bot: Oie Begebenheit mit dem zwölfjährigen Jesus, der sich im Tempel als Lehrer bewährt, aus Lk 2,41-52 wird mit wenigen Retuschen wiedergegeben. Am auffälligsten ist vielleicht, dass anders als bei Lukas, wo Elisabet das tut (vgl. Lk 1,42), jetzt die Schriftgelehrten Maria selig preisen (19, 4) : "Selig bist du unter den Frauen, denn Gott hat die Frucht deines Leibes gesegnet. Denn eine solche Herrlichkeit, eine solche Tüchtigkeit und Weisheit haben wir noch nie gesehen oder gehört."
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Angesichts des damit gesetzten Schlusspunkts, den eine knappe Doxologie noch bekräftigt, können die drei Kapitel, die in der slawischen Version noch folgen, kaum Anspruch darauf erheben, zum ältesten Bestand des Werkes zu gehören. Darin zerstört Jesus im Vorbeigehen durch sein bloßes Wort einen Götzentempel (Kap. 20), heilt als Gehilfe eines Arztes einen Halbblinden (Kap. 21) und verwandelt jüdische Kinder in Schweine (Kap. 22), was zu den übrigen Anstößigkeiten dieser Erzählung noch eine antijüdische Tendenz hinzufügt. Aus dem vorgeschalteten Textstück in der griechischen Fassung C und der lateinischen Übersetzung mit Szenen um den zwei- und dreijährigen Jesus in Ägypten sei nur ein Wunder festgehalten, das in dieser Form sonst nicht mehr erscheint: Beim Spielen mit anderen Kindern nimmt Jesus einen getrockneten Fisch, wirft ihn in ein Becken und befiehlt ihm, zu atmen und das Salz, das er in sich hat, von sich zu geben, was der Fisch prompt tut. Die Witwe, bei der die Familie wohnt, ist darüber allerdings so entsetzt, dass sie ihre Mieter eiligst aus dem Hause weist.
(3) Rückblick Die Tendenz der Einzelerzählungen und des Ganzen ist für unser Empfinden nicht sehr erbaulich zu nennen, ganz im Gegenteil. Man hat den Jesusknaben, der hier auftritt, schon als jähzornig, bösartig und arrogant, kutz als "ein höchst gefährliches Wesen, das von seiner Umgebung gefürchtet wird und seinen Eltern unheimlich ist", bezeichnet (Vielhauer) und den theologischen Gehalt der Klhom als "unerhört banal" (Schneider) eingestuft. Ohne das grundsätzlich bestreiten oder irgendetwas beschönigen zu wollen, sind doch auch die kulturellen Erwartungen und literarischen Konventionen, die zu einer solchen Charakterzeichnung führten, mitzubedenken. Biographien bedeutender Persönlichkeiten tendierten in der Antike dazu, die künftigen Taten bereits in der Kindheit und Jugend des Helden abgebildet zu sehen. Schon der Knabe Jesus wird deshalb zum großen Wundertäter und zum überlegenen Lehrer emporstilisiert, schon im Kind wird der Gott erkannt. Nicht zufällig lassen sich manche Parallelen für die Schilderung des "übermütigen Götterknaben" (Cullmann) in heidnischer Mythologie und im Märchen aufspüren. Man hat verwandte Züge aus indischen Krishna- und Buddhalegenden beigebracht. Ein passendes Beispiel ist aber auch schon der griechische Gott Hermes, der spätere Patron der Diebe, der bereits als Kleinkind dem Apollon eine Rinderherde
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stiehlt und von dem es in diesem Zusammenhang z. B. heißt: "Wie aus den Augen Funken sprühen und wirbeln, so fielen Worte und Taten augenblicklich zusammen im Denken des ruhmvollen Hermes" (Homerischer Hymnus 4,45f.; vgl. KThom 4,1; 17,2). Eine doketistische Christologie liegt in der KThom in ihrer überlieferten Fassung nicht vor (der Schlag des Lehrers auf den Kopf tut Jesus z. B. weh, S.14,2), aber es wird immerhin in die Kindheitserzählung jene Präexistenzchristologie eingetragen, die ihr in Mt 1 - 2 und Lk 1 - 2 noch fehlt. Die tiefsinnige Allegorese des Buchstaben Alpha könnte andeuten, dass eine gnostische Lektüre der KThom zumindest auch möglich war. Die anstößigen Züge würden sich dann symbolisch deuten lassen als Beispiel flir die notwendige Fremdheit des von oben kommenden Offenbarcrs in der unteren Menschenwelt.
c) Das Pseudo-Matthäusevangelium (Ps.-Mt) Literatur: 0. CuLLMANN, in: NTApo 6 I, 367-369. - C. VON TISCHENDORF, Evangelia Apocrypha 51-112. - G. ScHNEIDER, Kindheitsevangelien 213-255. - J. GIJSEL I R. ßEYERS, Libri de nativitate Maciae: Pseudo-Matthaei Evangelium I Libellus de nativitate Sanctae Maciae (CChr.SA 9-10), Brepols 1997.
(1) Zur Einordnung
Mit dem in lateinischer Sprache abgefassten Pseudo-Matthäusevangelium begeben wir uns nicht nur in einen anderen geographischen Raum, nämlich den Westen, sondern auch in eine andere Zeit, die seine Zuordnung zu den "antiken christlichen Apokryphen" nur noch mit Einschränkungen erlaubt. In der neuesten, gründlichen Bearbeitung des Werkes wird die wahrscheinliche Entstehungszeit mit 600-625 n. Chr. angegeben (Gijsel67). Als ursprünglicher Titel bietet sich eine Bezeichnung wie Liber de ortu beatae Mariae et de infontia Salvatoris ("Buch über die Geburt der seligen Maria und die Kindheit des Erlösers") an. Der heutige Titel Ps.-Mt existiert überhaupt erst seit 150 Jahren. Tischendorf hat ihn dem Text in seiner einflussreichen Edition beigelegt. Er ging dabei von einem fingierten Briefwechsel zwischen zwei Bischöfen und dem Kirchenvater Hieronymus aus, der einem Teil der Handschriften vorangestellt ist. Das folgende Werk wird
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darin als der hebräische oder aramäische Urmatthäus ausgegeben, den der Kirchenvater höchstpersönlich ins Lateinische übersetzt habe. Noch in einer anderen Hinsicht war die Bearbeitung durch Tischendorf sehr folgenreich. Er hat nämlich in den Kap. 25 - 42 als AlteraPars einen Teil mit aufgenommen, der zwar eine freie lateinische Wiedergabe der KThom mit gelegentlichen Ergänzungen bietet, in den älteren Handschriften aber fehlt. Die verbleibenden Kap. 1 - 24, die allein noch bei Gijsel ediert und übersetzt werden, bestehen wiederum aus zwei Blöcken: einer lateinischen, teils redigierten und ergänzten Version des griechischen Protev in Kap. 1 - 17 und den Erlebnissen der heiligen Familie in Ägypten in Kap. 18- 24. Auch für die Ägyptenreise hat der unbekannte Verfasser sicher auf eine Vorlage zurückgegriffen, die uns aber nicht mehr bekannt und zugänglich ist. Das Alter der darin benutzten Stoffe kann deshalb nicht einmal annäherungsweise angegeben werden.
(2) Zum Inhalt -Vergleich mit dem Protevangelium Resümieren wir zunächst einiges von dem, was in den Eingangskapiteln des Ps.-Mt im Vergleich zum Protev verändert wurde oder hinzugetreten ist. Die Zweideutigkeiten hinsichtlich der Empfangnis Marias im Protev werden im Ps.-Mt eliminiert. Ein Engel teilt Joachim ausdrücklich mit, seine Frau habe "eine Tochter aus seinem Samen empfangen" (3,2: ex semine tuo concepisse filiam). Der Aufenthalt Marias im Tempel mit geregeltem Ablauf von Gebet und Arbeit in Kap. 6 erinnert an monastische Lebensformen und weist Berührungen mit der Regel Benedikts auf. Dazu passt das ausdrückliche Gelübde der Jungfräulichkeit, das Maria in Kap. 7 unter Berufung auf zwei jungfräuliche Gestalten im Alten Testament, Abel und Elija, ablegt. In 13,3 stellt die skeptische Hebamme nach einschlägiger Untersuchung in geradezu klassischer Prägnanz die physische Jungfräulichkeit Marias auch in der Geburt und nach der Geburt fest: Virgo concepit, virgo peperit, virgo permanet, ,,Als Jungfrau empfing sie, als Jungfrau gebar sie, Jungfrau bleibt sie" (nach Codex P; vgl. den Lehrentscheid der Lateransynode von 649 n. Chr. in DS 503). Schließlich nimmt das Ps.-Mt noch eine für alle späteren Krippendarstellungen höchst folgenreiche Fortschreibung von Protev 22,2 ("Ochsen-
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krippe") vor, wenn es Ochs und Esel direkt~ der Krippe postiert und das rnit zwei Prophetenzitaten begründet (14, 1): Am dritten Tag nach der Geburt des Herrn verließ Maria die Höhle und ging in einen Stall. Sie legte den Knaben in eine Krippe; Ochs und Esel huldigten ihm. Da ging in Erfüllung, was der Prophet Jesaja gesagt hatte: "Es kennt der Ochse seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn" ües 1,3). Die Tiere nahmen ihn in ihre Mitte und huldigten ihm ohne Unterlass. So erfüllte sich der Ausspruch des Propheten Habakuk: "In der Mitte zwischen zwei Tieren wirst du bekannt werden" (Hab 3,2, nach der LXX).
- Die Reise nach Ägypten Die Schilderung der Ägyptenreise weist folgende Höhepunkte auf: In Kap. 18 zähmt Jesus viele Drachen, die aus einer Höhle hervorkommen und Kinder in seiner Begleitung erschrecken (vgl. Ps 148,7, nach der Vulgata). In Kap. 19 dienen ihm Löwen und Panther. Sie zeigen der Reisegruppe den Weg und lassen die Ochsen, Esel, Packtiere, Schafe und Widder, die Jesu wohlhabende Familie mit sich führt, in Ruhe. Hier realisiert sich der vom Propheten verheißene eschatologische Tierfrieden (vgl. Jes 11,6-7). Eine Palme neigt sich, um Maria ihre Früchte zu übergeben, und lässt zwischen ihren Wurzeln Wasserquellen hervorsprudeln (Kap. 20). Als die Reise zu anstrengend wird, verkürzt Jesus den Weg, so dass dreißig Tagereisen nur noch einen Tag lang dauern (Kap. 22). Als er in einer Stadt Ägyptens anlangt, stürzen dort alle Götterbilder (idola) zu Boden und zerbrechen (Kap. 23; mit Zitat von Jes 19, 1). Der Herrscher der Stadt zürnt darüber nicht nur nicht, sondern findet mit der ganzen Bevölkerung zum Glauben (Kap. 24). - Ergänzungen zur KThom Aus der später hinzugetretenen latinisierten Fassung der KThom heben wir nur die neue Episode in Kap. 35 - 36 heraus: In der Nähe Jerichos begibt sich Jesus in eine Löwengrube (vgl. Dan 14,31-42). Die alten Löwen huldigen ihm schwanzwedelnd, die jungen Löwen spielen vor ihm. Mit dem ganzen Rudel zieht Jesus über den Jordan, und das Wasser des Flusses teilt sich vor ihnen zur Rechten und zur Linken (vgl. 2 Kön 2,8).
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(3) Ausblick Zur Wertung des Ps.-Mt sei lediglich noch festgehalten, dass es in redigierter Form auch in die Legemia aurea des Jacobus von Voragine einging und nicht zuletzt auf diesem Weg seinen Siegeszug durch das Mittelalter antrat. Seine Inhalte gehörten fortan zum selten hinterfragten Schatz der Frömmigkeit. Ansonsten wäre Ähnliches zu sagen wie beim Protev, das im Wesentlichen durch das Ps.-Mt im Abendland weiterlebte, und bei der KThom. Fügen wir stattdessen hier einen knappen Überblick zu weiteren Texte an, die auf die eine oder andere Weise mit den Kindheitserzählungen zu tun haben. Der marianische Teil des Ps.-Mt wurde im 9. Jahrhundert ca. auch als eigenes Werk mit dem Titel Libellus de nativitate Sanctae Mariae (s. Beyers) ausgegliedert. Das Arabische Kindheitsevangelium (Schneider 4 7-5 5.173-19 5) geht auf eine syrische Vorlage zurück und stellt eine Kompilation aus dem 6. Jahrhundert dar. Es verarbeitet Protev und KThom, berührt sich mit Ps.-Mt und enthält vor allem im Mittelteil eine Folge von bunten Erzählungen ohne anderweitige Parallelen. Einige Besonderheiten: Die Magier aus Mt 2 bekommen als Gegengabe eine Windel Jesu mit nach Hause, die sich als wunderkräftig erweist und das heilige Feuer in der persischen Heimat der Magier unbeschadet übersteht (7 - 8). In Ägypten trifft Jesus bereits die beiden Räuber, die später mit ihm gekreuzigt werden sollen (23). Jesu Waschwasser reinigt ein Mädchen vom Aussatz (17), aus seinem Schweiß entsteht der Balsam (24). In die Heimat zurückgekehrt, sieht er sich bereits als Kind mit Judas Iskariot konfrontiert, und dessen spätere Tat deutet sich an (35). Ein Zwischenfall in einer Färberei, wo Jesus sämtliche Tücher in ein Fass mit Indigo wirft und sie dann in der gewünschten Farbe einzeln hervorzieht (37), hat eine Parallele in EvPhil 54. Als Lateinisches Kindheitsevangelium (Schneider 55-59.197-211) werden Texte aus zwei in England befindlichen Manuskripten (Arundel 404 und Codex Hereford) bezeichnet, die wohl ins 7.-9. Jahrhundert gehören. Bemerkenswert ist die Schilderung des Vorgangs der Geburt Jesu, die stark doketistische Züge aufweist: Aus tiefem Schweigen geht ein Licht hervor, das immer stärker wird und die Höhle, in der sich Maria aufhält, mit Helligkeit und süßem Duft erfüllt; die Strahlen wandeln sich und gleichen sich der Gestalt eines Kindes an (72- 74). Neben Jesus und Maria werden auch andere Figuren aus der Vorgeschichte in Mt 1-2 und Lk 1-2 herausgegriffen und eigener Erzählzyklen
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gewürdigt, die dann teils über die Kindheit Jesu hinausreichen. Hier ist als erstes die Geschichte von ]oseph dem Zimmermann zu erwähnen (Schneider 69-73.271-283), die nur in koptischer Sprache vorliegt und deren Kern relativ früh, nämlich im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts, angesetzt wird (vgl. S. MoRENZ, Die Geschichte von Joseph dem Zimmermann [TU 56], Berlin 1951, 110-112 u.ö.); doch werden auch erheblich spätere Datierungen vertreten. Jesus selbst erzählt diese Geschichte auf dem Ölberg seinen Jüngern. Schließlich gehört in diesen Umkreis auch das Leben]ohannes des Täufers (Schneider 73-76.285-305), das in syrischer Sprache vorliegt, vom Ersteditor aber auf ein griechisches Original zurückgeführt und zwischen 385 und 395 n. Chr. datiert wird. Durch die Anrede an die Hörer und den zusätzlichen Kunstgriff der Apostrophe, der Hinwendung zu einzelnen Erzählfiguren, gibt sich der Text als Homilie zum Kirchweihfest einer Johanneskirche zu erkennen. Unter anderem kommt darin der Ort Ain Karern oder Karim vor, der heute noch den Pilgern als Heimstätte Johannes des Täufers gezeigt wird.
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6. Evangelien über Jesu Tod und Auferstehung Nicht nur der Anfang des kanonischen Evangelienstoffes, Geburt und Kindheit Jesu, sondern auch der Schlusspunkt, die Erzählungen von seinem Tod und seiner Auferstehung, boten Gelegenheit zur Expansion. Die Tendenz dazu wird bereits erkennbar, wenn man das Markusevangelium, das in 16,1-8 mit der Auffindung des leeren Grabes endet, mit den drei späteren Evangelien vergleicht, die alle Berichte von der Erscheinung des Auferstandenen im Jüngerkreis enthalten. Auch innerhalb der Passionsgeschichte wird erweitert: Der Pilatusprozess z. B. fallt in Joh 18,28 - 19,16 erwa doppelt so lang aus wie in Mk 15,1-15. In den Bereich apokrypher Fortschreibung der Evangelientradition fällt schließlich auch schon der sekundäre Markusschluss in Mk 16,9-20, der im 2. Jahrhundert auf der Basis der Ostererzählungen in den anderen drei Evangelien entstand und vermisste Geschehnisse wie Ostererscheinungen, Aussendungsrede und Himmelfahrt nachträgt. Es ergeben sich fließende Übergänge zu den so genannten "Dialogevangelien", die auf die Passion Jesu völlig verzichten und sich mit den Gesprächen begnügen, die der Auferstandene mit seinen Jüngern führte (sie werden unten in Kap. 8 besprochen). Was das im Folgenden als erstes zu behandelnde Petrusevangelium angeht, werden wir im Neuen Testament an ganz unerwarteter Stelle fündig, nämlich im zweiten Petrushrief Der unbekannte Verfasser, der für sein Schreiben den Namen des Sirnon Petrus ausborgt, nimmt in 2 Petr 1,16 ausdrücklich für sich in Anspruch, Augenzeuge zu sein, und gibt anschließend in freier Form das Erleben der Vorzugsjünger bei der Verklärung Jesu wieder, die bei ihm noch deutlicher als in den synoptischen Evangelien den Eindruck einer vorweggenommenen Ostererzählung macht (2 Petr 1,17f.; vgl. Mk 9,2-8).
a) Das Petrusevangelium (EvPetr) Literatur: T. J. KRAus I T. NICKLAS (Hrsg.), Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse. Die griechischen Fragmente mit deutscher und englischer Übersetzung (GCS. NF 11), Berlin-New York 2004, 1-77.- C. MAuRER I W. ScHNEEMELCHER, NTApo 6 I, 180-188.- D. LüHRMANN, Fragmente 72-93.- K. BEYSCHLAG, Verborgene Überlieferung 27-64.- R. BROWN, The Death of the Messiah: From Gethsemane to the Grave (AncB Reference Library), New York u. a. 1994, 1317-1349 (mit Rückverweisen). J. D. CROSSAN, The Cross That Spoke: The Origins of the Passion Narrative, San Fran-
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cisco, Calif. 1988.- A. FucHs, Das Petrusevangelium (SNTU.B 12), Linz 1978 (Konkordanz). - M. G. MARA, Evangile de Pierre (SC 201), Paris 1973. - T. J. KRAus I T. NICKLAS (Hrsg.), Das Evangelium nach Petrus. Text, Kontexte, Intertexte (TU 158), Berlin 2007.- D. LüHRMANN, Die apokryph gewordenen Evangelien 55-104.P. PIOVANELLI, Pre- and Post-canonical Passion Stories. Insights into the Development of Christian Discourse on the Death of Jesus, in: Apocrypha 14 (2003) 99-128. L. VAGANAY, L'Evangile de Pierre (EtB), Paris 1930.
(1) Zur Einordnung Die wichtigste altkirchliche Nachricht über ein Petrusevangelium findet sich bei Eusebius {in Historia ecclesiastica VI 12,1-6). Demnach hatte Serapion, der Ende des 2. Jahrhunderts Bischof von Antiochien war, der benachbarten Gemeinde von Rhossus gestattet, ein Evangelium unter dem Namen des Petrus zu lesen, ohne es selbst zu kennen. Später erfahrt er, dass besonders Vertreter einer doketischen Christologie (die besagt, dass Jesus nur einen Scheinleib gehabt habe) dieses Evangelium benutzen und sich darauf berufen. Das irritiert ihn, und nach eigener Lektüre nimmt er seine anfängliche Erlaubnis wieder zurück, weil im EvPetr nach seinen eigenen Worten "zwar das meiste mit der wahren Lehre unseres Erlösers übereinstimmt, manches aber auch davon abweicht, was wir unten für euch anfügten". Leider hat Eusebius diese Liste der- wenigen!- problematischen Ansichten nicht mitüberliefert. Was wir heute als EvPetr kennen, stammt aus einem Pergamentkodex (PCair 10759) aus dem 5. oder 6. Jahrhundert (die meist anzutreffende Datierung ins 8./9. Jahrhundert bedarf der Korrektur). Er wurde 1886/87 in Akhmim in Oberägypten im Grab eines Mönches gefunden und enthält außerdem unter anderem noch die Petrusapokalypse. Der Text beginnt und endet mitten im Satz, bietet also nur einen Ausschnitt aus dem ursprünglichen Werk, aber mehr stand schon dem Schreiber des Kodex nicht zur Verfügung, wie die Ornamente am Anfang und Ende des Abschnitts zeigen. Dass es sich um ein Petrusevangelium handelt, erschließt man daraus, dass Petrus zweimal in der Ich-Form zu Wort kommt {in 7,26 und 14,60), was nicht zuletzt der Beglaubigung des Erzählten durch Rückführung auf den ,,Apostelfürsten" und Augenzeugen dient {die Autorität des Markusevangeliums, das der Überlieferung nach "nur" auf einen Schüler des Petrus zurückgeht, wird somit deutlich überboten). Die Identifizierung des Werkes, aus dem unser Evangelienfragment entnommen ist, mit dem bei Eusebius und anderen altkirchlichen Autoren erwähnten EvPetr stellt eine
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plausible Hypothese dar, die von der Forschung überwiegend akzeptiert wird. Dem Petrusevangelium zuzuordnen sind die Papyrusfragmente POxy 2949 und vielleicht auch POxy 4009 (vgl. Lührmann; dort auch weitere Querverweise, z. B. auf PVindob g 2325 und auf ein Ostrakon aus Ägypten, das Petrus als Evangelisten darstellt und sein Evangelium erwähnt). Inhaltlich eher unergiebig, hat besonders das erste Fragment POxy 2949 doch seine Bedeutung, weil es eine Datierung des EvPetr vor 200 n. Chr. absichert; tatsächlich dürfte die Zeit zwischen 100 und 150 n. Chr. für seine Entstehung in Frage kommen. Allerdings weicht die textliche Form von POxy 2949 deutlich von derjenigen der Parallele im Fund von Akhmim (EvPetr 2,3-5) ab. Wir müssen also damit rechnen, dass wir mit PCair 10759 nicht mehr die älteste Textform, sondern eine durch mehrfaches Abschreiben veränderte Fassung vor uns haben, was zu einer gewissen Vorsicht bei allen Folgerungen rät, die man aus dem EvPetr zieht. Was die wenigen, schlecht erhaltenen Zeilen des POxy 4009 aus dem 2. Jahrhundert angeht, so kommt auch dort Petrus in der Ich-Form zu Wort, was eine Zuordnung zum EvPetr als möglich (aber nicht als sicher) erscheinen lässt. Inhaltlich liegt ein Bruchstück aus einer Aussendungsrede vor. Der Text sei im Folgenden beispielhalber vorgestellt (nach der Übersetzung bei Lührmann 78): 5
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" ... die Ernte. Sei aber ohne Falsch wie die Tauben und klug wie die Schlangen. Ihr werdet sein wie Lämmer unter den Wölfen." Ich sprach zu ihm: "Wenn wir nun gerissen werden?" Er aber antwortet und sagt zu mir: "Wenn die Wölfe gerissen haben das Lamm, können sie ihm nichts mehr tun. Deshalb sage ich euch: Fürchtet euch nicht vor denen, die euch töten und nach dem Töten nichts mehr tun können ... "
Falls diese Jesusrede vorösterlich anzusetzen ist, würde das für das EvPetr - immer unter der Voraussetzung der Zugehörigkeit - bedeuten, dass dem in PCair 10759 allein erhaltenen Passions- und Osterbericht eine Erzählung von den Taten des irdischen Jesus vorausging. Es könnte sich aber auch um ein Stück aus einem Gespräch des Auferstandenen
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mit seinen Jüngern handeln, was diese Überlegung hinfällig machen würde. Teils werden in der Forschung für das EvPetr (oder für ältere Teile daraus) extreme Frühansätze auf 50 bis 70 n. Chr. vertreten (Crossan). Damit hängtdie Bestimmung seines Verhältnisses zu den kanonischen Evangelien eng zusammen. Auf diese Fragen kommen wir nach dem Durchgang durch den Text zurück. Anzusprechen ist hier nur noch die Art und Weise der Zählung. Von den frühen Bearbeitern wurde der Text einerseits in 14 Kapitel (Robinson), andererseits in 60 kürzere Paragraphen oder Verse (Harnack) eingeteilt. Die beiden Zählungen überlagern sich also, auch wenn sie heute meist beide angegeben werden (auf5,20 folgt also 6,21, etc.).
(2) Zum Inhalt - "Bruder" Pilatus Die Erzählung beginnt unvermittelt mit der Angabe, dass "sich von den Juden keiner die Hände wusch, weder Herodes noch einer von seinen (d. h. Jesu) Richtern" (1,1), woraufhin sich Pilatus erhebt und Herodes den Befehl gibt, Jesus abzuführen (1,2; allerdings wird der Eigenname "Jesus" im Text nie gebraucht, stattdessen wird bevorzugt "Herr" verwendet). Schon hier wird eine Tendenz deutlich, die sich durchhält: Das EvPetr verlagert die Verantwortung für Jesu Tod von Pilatus weg auf die Juden und Herodes hin, auch wenn es hinsichtlich der Juden später noch zu einer Differenzierung zwischen Volk und Führern kommt. In der nächsten Szene (2,3-5) erbittet Josef von Arimathäa, der als "Freund des Pilatus und des Herrn" vorgestellt wird, schon vor der Kreuzigung von Pilatus Jesu Leichnam. Pilatus muss sich dafür an Herodes wenden, der ihn als "Bruder Pilatus" anredet und ihm zu verstehen gibt, sie (d. h. die Juden mit ihm an der Spitze) hätten sowieso für Jesu Begräbnis gesorgt, da ein Sabbat bevorstehe und die Sonne nicht über den Hingerichteten untergehen dürfe (vgl. Dtn 21,22f.). Anschließend sind es wieder die Juden, die Jesus peinigen und verspotten, indem sie ihn unter anderem auf einen Richterstuhl setzen (3,7; vgl. Joh 19,13, wo wahrscheinlich zu übersetzen ist: "er [Pilatus] setzte sich auf den Richterstuhl"; manche Erklärer schlagen stattdessen vor: "er [Pilatus] setzte ihn Uesus] auf den Richterstuhl").
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- Die Kreuzigung Als sie - die Juden - Jesus zwischen zwei Übeltätern kreuzigen (vgl. Lk 23,40-43), heißt es von seiner Reaktion: "Er aber schwieg, als hätte er keine Schmerzen" (4,1 0). Das muss nicht unbedingt doketisch als Leidensunfähigkeit des Erlösers gedeutet werden, sondern kann z. B. auch seine heroische Haltung unterstreichen. Aber man sieht, wo eine doketische Rezeption des EvPetr ansetzen konnte. Einer der beiden Übeltäter beschimpft die Juden (4,13), worauf sie "zornig über ihn befahlen, dass ihm nicht die Schenkel zerbrochen würden, damit er qualvoll sterbe" (4,14; vgl. Job 19,32f.; das "qualvolle Sterben" hängt damit zusammen, dass ein Zerbrechen der Schenkel ein Abstützen des Körpers mit den Füßen unmöglich macht und dadurch der Tod rascher herbeigeführt wird, was im gegenteiligen Fall unterbleibt). Das "Zerbrechen" sollte sich von der Grammatik her auf den Mitgekreuzigten beziehen und wäre dann als Strafe für seine Unbotmäßigkeit gegenüber den Juden gedacht, aber die teils favorisierte Deutung auf Jesus selbst ist nicht ganz auszuschließen. - Letzte Worte Um Mittag wird es im ganzen Land so finster (5,15), dass die Leute mit Lichtern umhergehen und meinen, es sei Nacht (5,18). Das Kreuzigungskommando gerät in Panik, weil man Jesus scheinbar nicht mehr rechtzeitig vor Sonnenuntergang vom Kreuz holen kann (5,15). Sie geben ihm daraufhin Galle mit Essig zu trinken (5, 16), was hier als Vergiftung, die den raschen Tod herbeiführt, zu verstehen ist. Besondere Schwierigkeiten bereiten der Interpretation die !erzten Worte Jesu: "Meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen", zumal darauf folgt: "Und indem er dies sagte, wurde er aufgenommen" (5,19). "Kraft" (Dynamis) im AusrufJesu könnte man noch als Umschreibung des Gottesnamens im traditionellen Ps 22,2 oder als Übersetzungsvariante verstehen, zumal die rein doketische Lesart, dass sich also hier das himmlische Geistwesen Christus vom Menschen Jesus trenne, gleichfalls nicht klar aus dem Text hervorgeht. Aber "er wurde aufgenommen" scheint eine Auferstehung und Himmelfahrt vom Kreuze aus zu implizieren. Dem widerspricht wiederum, dass die eigentliche Auferstehung später noch ausführlich geschildert wird. War der Autor in diesem Punkt mit sich selbst nicht ganz einig? Empfand er den Widerspruch gar nicht als solchen (vgl. die ebenfalls schwierig
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einzuordnende Stelle Lk 23,43)? Liegt eine redaktionelle Überformung vor? Wenn man die Angaben auf der synchronen Ebene zum Ausgleich bringen will, muss man "er wurde aufgenommen" als sehr gewählte Umschreibung des Sterbens auffassen, die bereits einen Vorverweis auf das, was noch kommt, enthält. - Kreuzabnahme und Bestattung Als man den Leichnam Jesu abnimmt und niederlegt, erbebt die Erde (vgl. Mt 27,51), und die Sonne leuchtetwieder (6,21f.). DieverantwortlichenJuden schlagen sich an die Brust (vgl. Lk 23,48) und befürchten, das Endgericht habe sich genaht (7,25), während wir von Petrus erfahren: "Ich aber trauerte mit meinen Gefährten, und verstörten Sinns versteckten wir uns, denn wir wurden von ihnen als Übeltäter gesucht und als solche, die den Tempel in Brand stecken wollten" (7,26). Hier wird die tempelkritische Haltung Jesu auf die Jünger übertragen und evtl. angereichert mit einem versteckten Hinweis auf den Vorwurf, die Christen hätten Rom in Brand gesteckt. Aufgrund der Zeichen, die beim Tod Jesu geschehen, beginnt das Volk zu murren und sich reuevoll an die Brust zu schlagen (8,28). Die Wortführer bekommen es mit der Angst zu tun und verlangen von Pilatus (8,30-33): "Gib uns Soldaten, dass wir sein Grab drei Tage lang bewachen, damit nicht erwa seine Jünger kommen und ihn stehlen und das Volk annimmt, er sei von den Toten auferstanden, und sie uns Böses antun." Pilatus aber gab ihnen den Centurio Petronius samt Soldaten mit, das Grab zu bewachen. Und mit ihnen kamen Älteste und Schriftgelehrte zum Grab; und mit dem Centurio und den Soldaten zusammen wälzten alle, die dort waren, einen großen Stein herbei und taten ihn vor die Tür des Grabes, und sie brachten sieben Siegel an, schlugen dort ein Zelt auf und hielten Wache (vgl. das Sondergut in Mt
27,62-66; 28, 11-15).
Am Sabbatmorgen inspiziert auch eine Volksmenge aus Jerusalem das versiegelte Grab (9,34). - Die Auferstehung In der Nacht zum Sonntag stehen zwei Soldaten Wache. Sie hören eine laute Stimme und sehen, wie sich der Himmel öffnet und zwei Männer herabsteigen. Der Stein vor dem Grab rollt von selbst zur Seite, und die beiden "Jünglinge", wie die Himmelswesen jetzt genannt werden (vgl. Mk 16,5), treten ein (9,34-37). Die Wachen wecken den Centurio und die jüdischen Ältesten,
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und während sie (die Wachen) noch erzählten, was sie gesehen hatten, sehen sie (vermutlich alle Beteiligten) aus dem Grab drei Männer wieder herauskommen und die zwei den einen stützen und ein Kreuz ihnen folgen und das Haupt der zwei bis zum Himmel reichen, dasjenige des von ihnen Geführten aber die Himmel überragen. Und sie hörten eine Stimme aus dem Himmel rufen: "Hast du den Entschlafenen gepredigt?", und die Antwort lautete vom Kreuz her: "Ja" (10,39--42).
Bemerkenswert ist an dieser Szene nicht nur der klare Bezug auf eine voraufgegangene "Höllenfahrt" Christi, sondern mehr noch die Beobachtung, dass es hier wohl zum ersten Mal etwas gibt, was in den kanonischen Evangelien noch fehlt: direkte Zeugen für den Vorgang der Auferstehung selbst. Die beiden Engel scheinen dabei dem Auferstandenen, der sie weit überragt, mehr ein Ehrengeleit zu geben als ihn wirklich zu stützen und zu führen. Das Kreuz, das gar nicht mitbestattet wurde, ist inzwischen zu einem aktiven Symbol für den Gekreuzigten geworden, das zuletzt sogar für ihn die Antwort geben kann. Danach kommt in 11,44 noch ein weiterer Mensch vom Himmel und begibt sich in das Grab (er wird später gebraucht für die Frauen bei ihrem Grabbesuch). Die ganze Wachtruppe eilt zu Pilatus und bekennt vor ihm: "Wahrlich, er war Gottes Sohn" (11,45), was Pilatus Gelegenheit gibt, seine Unschuld zu beteuern: "Ich bin rein vom Blut des Sohnes Gottes ... " (11,46; vgl. Mt 27,24). Gemeinsam beschließen sie, kein Wort davon an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen (11,47--49). - Die Frauen und die anderen Jünger Ab 12,50 schließt sich der Grabgang der Maria Magdalena, der "Jüngerin des Herrn", an, die Freundinnen mit sich nimmt (ihre eigenen oder diejenigen Jesu?). In diesem Abschnitt sind die Unterschiede zur Markustradition nicht so groß wie sonst, wenn man davon absieht, dass anscheinend keine Salbung des Leichnams intendiert ist, sondern eher ein Niederlegen von Grabgaben "zu seinem Gedächtnis" sowie ausgiebiges "Weinen und Wehklagen" (12,54). Es werden allgemeine Züge des antiken Grab- und Totenkults spürbar. Im Grab erblicken die Frauen einen jungen Mann mit hellleuchtendem Gewand, der ihnen in direkter Rede die Auferstehungsbotschaft ausrichtet, was sie aber nur dazu veranlasst, voll Furcht zu fliehen (13,35-57; vgl. Mk 16,5-8). Das Fest der ungesäuerten Brote, das an sich eine Woche dauert, geht in 14,58 zu Ende. Erst jetzt, so scheint es, verlassen die zwölfJünger die Stadt und gehen wie die übrigen Festbesucher wieder nach Hause. Hier überrascht zum einen die Zahlenangabe: Ist denn Judas, einer der Zwölf, immer
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noch mit von der Partie? Zum andern wird nicht ganz klar, ob der Verfasser damit Ostererscheinungen in Jerusalem ausschließt oder einen Raum für sie offen hält, ohne von ihnen zu berichten. Der letzte Vers 14,60 lautet: "Ich aber, Sirnon Petrus, und Andreas, mein Bruder, nahmen unsere Netze und gingen an den See. Und es war bei uns Levi, der Sohn des Alphäus, den der Herr ... " Hier könnte sich gut eine Erscheinungserzählung, die in zeitlichem Abstand zu den Jerusalemer Ereignissen am See Gennesaret oder im Haus des Levi (so die syrische Didaskalie) spielte, angeschlossen haben (vgl. Joh 21).
(3) Zur Bewertung Neuere Versuche, aus dem Permsevangelium den ältesten Bestand der Passionsüberlieferung, der auch den neutestamentlichen Evangelien vorgelegen habe, herauszuschälen (s. Crossan), bewähren sich bei näherem Hinsehen nicht. Überhaupt ist Skepsis gegenüber einer zu frühen Ansetzung am Platz, da der Text eine Reihe von Zügen enthält, die wir sonst einem traditionsgeschichtlichen Spätstadium zuzuweisen gewohnt sind: die konsequente Bezeichnung Jesu als "Herr", die Unkenntnis jüdischer Bräuche, die Verlagerung der Verantwortung für Jesu Tod von Pilatus auf Herades und die Juden (die zugleich einen theologisch bedenklichen Zug darstellt), die Fortschreibung apologetischer Motive, die sich bis zu der Behauptung steigert, es gebe Augenzeugen für den Auferstehungsvorgang selbst, schließlich die ins Wunderbare stilisierte Schilderung der Auferstehung mit Höllenfahrt, riesigen Engelwesen und sprechendem Kreuz. Unverkennbar werden damit z.T. Entwicklungen fortgeschrieben, die sich besonders bei Matthäus, aber auch bei Lukas und Johannes bereits abzeichnen und die nicht zufällig in anderen apokryphen Werken wie dem "Unbekannten Berliner Evangelium" Parallelen haben. Auch die These, das EvPetr sei von den neutestamentlichen Evangelien völlig unabhängig und überliefere selbstständig ältere Tradition, gerät von daher ins Zwielicht. Allenfalls wird man in Einzelfällen das Vorliegen archaischer Züge zugestehen, obwohl es schwer fällt, ein konkretes Detail zu benennen. Allerdings braucht man sich das Verhältnis zu den kanonischen Evangelien nicht so vorzustellen, als greife der Verfasser des EvPetr auf die schriftlich vorliegenden Werke zurück und als setze er daraus nach Art eines Cento sein eigenes Werk mosaikartig zusammen. Die Eigenheiten des EvPetr erklären sich besser, wenn man davon ausgeht, dass der Autor die anderen
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Evangelien mehr oder weniger im Gedächtnis hatte. Das befähigt ihn zu einer freien Nachbildung, in der die Einzelelemente ungeachtet ihrer Herkunft zu einem neuen Muster angeordnet werden. Was den vielverhandelten doketischen Charakter des EvPetr angeht, ist Vorsicht am Platz. Die wenigen Stellen, die man dafür heranzieht, sind in ihrer Aussage so deutlich nicht. Sie können aber dazu geführt haben, dass Doketen schließlich dieses Werk besonders sympathisch fanden, und mehr hat auch Bischof Serapion von Alexandrien nicht behauptet (s.o.).
b) Das Nikodemusevangelium!Pilatusakten (EvNik! ActPil) Literatur: C. VON TISCHENDORF Evangelia Apocrypha 210--432. - F. ScHEIDWILER, in: NTApo 6 I, 395--418.- W MICHAELIS, Die apokryphen Schriften 132-214.- K. CEMING I J. WERLITZ, Die verbotenen Evangelien 162-201.- J. K. ELLIOTT, Apocryphal New Testament 159-204.- R. GouNELLE I Z. lZYI>ORCZVK, L'Evangile de Nicodeme ou Les Acres faits sous Ponce Pilate (Apocryphes 9), Brepols 1997. -A. DAGUET-GAGEY, Le process du Christ dans !es Acta Pilati: Etude des termes et realia institutionnels, juridiques et administratifs, in: Apocrypha 16 (2005) 9-34.- B. J. DIEBNER, "Pontius Pilatus" in der postkanonischen Literatur. Ein Beitrag zur Funktion und Rezeption der seit 2000 Jahren meisterwähnten Figur der Geschichte, in: H. LicHTENHERGER I G. S. ÜGEMA (Hrsg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext Oüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Studien 1), Gütersloh 2002, 429--448.-0. ERLEN, Leitbilder und romanhafte Züge 180-273.
(1) Zur Einordnung Den Typ eines reinen Passions-und Osterevangeliums verkörpert das Evangelium nach Nikodemus. Es setzt mit einem mehrfach gestaffelten Prolog ein, an den sich unmittelbar der Pilatusprozess anschließt. Es folgen Kreuzigung und Auferstehung Jesu. Kap. 12- 16 berichten über das weitere Schicksal des Josef von Arimathäa. Hauptinhalt der Kap. 17 - 27 ist die Schilderung des Abstiegs Christi in die Unterwelt. Zwischendurch werden verschiedene Schlusssignale gesetzt. So begegnet schon am Ende von Kap. 16 eine Doxologie und am Ende von Kap. 27 eine redaktionelle Schlussnotiz, aber hier gehen die verschiedenen Fassungen bereits auseinander. Das führt uns zu einigen eng miteinander verzahnten Problemen, vor die uns das EvNik stellt. Sie betreffen seinen Titel, seine Komposition, seine Überlieferungsgeschichte, seine Sprache und Herkunft und nicht zuletzt das Alter der einzelnen Teile.
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Erste Angaben dazu lassen sich aus einer Analyse des Prologs bzw. seiner unterschiedlichen Formen gewinnen. Zunächst seien daher zwei Versionen des Prologs in vollem Umfang wiedergegeben, und zwar diejenige aus der älteren lateinischen Rezension A (bei Gounelle I lzydorczyk) und die bekanntere aus der jüngeren griechischen Rezension A (in NTApo6 I, nach Tischendorf), was zugleich auch einen Eindruck davon vermittelt, wie weit die verschiedenen Fassungen, zu denen sich allein im Lateinischen und Griechischen mehrere weitere Rezensionen gesellen, streckenweise auseinandergehen: Lat. A: Im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, Anfang der Taren und Handlungen unse-
res Herrn und Heilands Jesus Christus, die gefunden wurden unter dem Kaiser Theodosius dem Großen zu Jerusalem im Präcorium des Pontius Pilarus, in den öffentlichen Archiven. Das alles fand statt im 18. Jahr des Kaisers Tiberius, des Herrschers der Römer, und des Herodes (Anripas), Sohn des Herades (des Großen), des Herrschers von Galiläa, im 19. Jahr seiner Herrschaft, am 8. vor den Kalenden des April, das heißt am 25. März, unter dem Konsulat von Rufin und Rubellio, im 4. Jahr der 202. Olympiade, unter der Herrschaft der jüdischen Hohenpriester Josef und Kajafas. Alle Dinge, die Nikodemus hinterlegt hat nach Leiden und Kreuzesrod des Herrn, alles also, was getan wurde von den Hohenpriestern und den anderen Juden, die hat derselbe Nikodemus auch in hebräischer Sprache niedergeschrieben.
Griech. A: Ich, Ananias, Leibgardist mit Offiziersrang, gesetzeskundig, erkannte aus der Heiligen Schrift, an die ich gläubigen Herzens herantrat, dass Jesus Christus unser Herr ist, und wurde auch der heiligen Taufe für würdig befunden. Da ich nun nach den seinerzeit aufgesetzten Prozessakten unseres Herrn Jesus Christus forschte und nach dem, was die Juden unter Pontius Pilatus schriftlich niederlegten, so fand ich diese Akren in hebräischer Sprache und überserzte sie nach Gottes Willen ins Griechische zur Kenntnisnahme für alle, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, im 17. Jahr der Regierung unseres Kaisers Flavius Theodosius und im 6. Jahr des Flavius Valentinianus, in der 9. Indiktion. Ihr alle, die ihr das lest und in ein anderes Buch übertragt, gedenkt meiner und betet für mich, damit Gort mir gnädig sei und mir meine Sünden, die ich gegen ihn begangen habe, gütig verzeihe. Friede allen, die es lesen und die es hören, und auch ihren Hausgenossen. Amen. Im 15. Regierungsjahr [die Zahlen sind teils mit Tischendorf gegen NTApo I korrigiert] des römischen Kaisers Tiberius, als Herodes König von Galiläa war, im 19. Jahr seit seinem Regierungsantrirr, am 8. Tag vor den Kalenden des April, d. h. am 25. März, unter dem Konsulat von Rufus und Rubellio, im 4. Jahr der 202. Olympiade, unter dem jüdischen Hohenpriester JosefKajafus.
Was Nikodemus nach dem Kreuzestod und dem Leiden des Herrn berichtet und den Hohenpriestern und den anderen Juden überliefert hat, das hat derselbe Nikodemus in hebräischer Sprache (schriftlich festgehalten).
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Um mit dem letzten Absatz, der in beiden Fassungen weitgehend übereinstimmt, zu beginnen: Zurückgeführt wird der Text auf einen hebräischen Bericht über die Passion Jesu, den Nikodemus verfasst habe. Nikodemus ist uns aus dem Johannesevangelium bekannt, wo er zunächst des Nachts Jesus aufsucht Qoh 3, 1f.), sich dann im Hohen Rat für ihn verwendet (Joh 7,50-52) und schließlich zusammen mit Josef von Arimathäa für eine würdige Bestattung Jesu sorgt (Joh 19,39f.). Insbesondere seine Mitwirkung beim Begräbnis Jesu, aber auch seine Zugehörigkeit zur jüdischen Führungsschicht ließen ihn als glaubwürdigen Zeugen für die Ereignisse, von denen das nach ihm benannte Evangelium berichtet, erscheinen. Mit geringen Abweichungen stimmt auch die Datierung des Todes Jesu, die sich formal am Synchronismus in Lk 3, lf. zu orientieren scheint, in lat. A und griech. A überein. Intern lassen sich die verschiedenen Angaben nicht ganz zum Ausgleich bringen. Sie führen aber insgesamt in die Jahre um 29/30 n. Chr. (29 n. Chr. wäre das 15. Regierungsjahr des Tiberius, während die 202. Olympiade ins Jahr 32/33 n. Chr. fällt). Sodann erhalten wir Hinweise zur ,,Auffindung" des EvNik und seiner Übertragung ins Griechische. Lat. A erwähnt Theodosius den Großen, der 379-395 regierte. Griech. A denkt an Theodosius II. und bringt uns mit der 9. Indiktion etwa ins Jahr 425. In griech. A wird abweichend von lat. A auch ein Ich-Erzähler eingeführt und ausführlich vorgestellt. Wichtiger aber ist, dass in beiden Versionen im Eingangsabschnitt Pontius Pilatus angesprochen wird, auch wenn nur griech. A direkt von Prozessakten aus seiner Zeit spricht (die, wenn es sie denn gegeben hätte, sicher nicht hebräisch abgefasst gewesen wären). Damit aber stoßen wir auf den zweiten Titel, der unserer Schrift in der Überlieferung beigelegt wurde und der vor allem für den ersten Teil und hier wiederum besonders für die Kap. 1 - 11, denen Kap. 12 - 16 evtl. in einem ersten Schritt angefügt wurden, gilt: Acta Pilati, "Pilatusakten". Manchmal werden im Titel auch beide Hauptteile berücksichtigt: Gesta Pilati et Descensus Christi ad Inferos, "Taten des Pilatus und Abstieg Christi in die Unterwelt", während "Nikodemusevangelium" seit dem Mittelalter als eine Art Oberbegriff firmiert. Die beiden Hauptteile lassen sich auch unterschiedlich weit zurückverfolgen. Die Handschrift mit der Version griech. A, die nur Kap. 1- 16 enthält, also ohne die Höllenfahrt auskommt, stammt erst aus dem 12. Jahrhundert. Die lateinischen Handschriften sind teils erheblich älter. Durch sie sind die Kap. 1- 16 für das 5. Jahrhundert sicher bezeugt und die Kap. 17-27 für das 9. Jahrhundert.
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Mit der Entstehungszeit kann man in beiden Fällen noch weiter zurückgehen, zumal für die Pilatusakten auch auf einem anderen Weg Daten zu gewinnen sind. Schon 150-55 n. Chr. bemerkt Justin in seiner ersten Apologie: "Dass das so geschehen ist, könnt ihr aus den unter Pontius Pilatus angefertigten Akten ersehen" (1 Apo! 35,9; 48,3). Ihm sekundiert fünfzig Jahre später Tertullian: "Das alles, was mit Christus geschah, berichtete Pilatus, selbst schon seiner inneren Überzeugung nach Christ (!), dem damaligen Kaiser Tiberius" (Apo! 21,24). Das wird man besser noch nicht als Reflex von schon vorhandenen christlichen Pilatusschriften werten, sondern eher als Anlass zur Entstehung von solchen. Einen weiteren Grund dafür nennt Eusebius (Historia ecclesiastica I 9,3f.; IX 5,1; 7,1): Zur Zeit von Kaiser Maximinus Daia sind ca. 311-12 heidnische, christenfeindliche Pilatusakten verbreitet worden, die eine Reaktion seitens der Christen erforderlich machten. Epiphanius von Salamis (Panarionl 1,5-8) setzt denn auch um 378 die Existenz christlicher Pilatusakten eindeutig voraus, und zwar schon in verschiedenen, voneinander abweichenden Fassungen. Wir können somit die Entstehung der Pilatusakten auf die ersten Jahrzehnte nach 300 festlegen und zusätzlich mit der Verarbeitung älteren Materials rechnen. Für die Kap. 17 - 27 mit dem Descensus hingegen wird man sich mit einer allgemeinen Datierung ins 5. oder 6. Jahrhundert begnügen müssen und die Vorgeschichte des Stoffes offen lassen. Wie aus diesem Überblick schon hervorgeht, befand sich der Text des EvNik im Grunde in ständiger Evolution, so dass es fast unmöglich erscheint, eine definitive Fassung herauszugreifen oder herzustellen. Die folgende Inhaltsanalyse orientiert sich - wie die meisten Übersetzungen - deshalb für die Kap. 1 - 16 an der Fassung griech. A und für Kap. 17- 27 an griech. B (Text und Zählung nach Tischendorf bzw. NTApo, im Wissen darum, dass diese aus griech. A und griech. B geschöpfte Fassung ein Kunstprodukt darstellt).
(2) Zum Inhalt -Prozess und Kreuzestod (Kap. 1- 11) Die eigentliche Erzählung setzt mit dem Pilatusprozess ein. Die jüdische Seite bringt verschiedene Anklagen gegen Jesus vor: Er nenne sich Sohn
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Gottes und König und verstoße gegen das Gesetz, indem er am Sabbat Kranke aller Art heile. Seine Wundertaten führen die Ankläger auf Magie und ein Bündnis mit Beelzebub zurück. Pilatus hingegen verhält sich Jesus gegenüber von Anfang an ehrerbietig und freundlich. So begegnet er dem Vorwurf, Jesus stehe mit dem "Fürsten der bösen Geister" im Bund, mit der Bemerkung: "Man treibt nicht mit einem unreinen Geist Dämonen aus, sondern mit dem Gott Asklepios" (1,1). Der Bote, der Jesus hereinholen soll, breitet ein Tuch vor ihm auf dem Erdboden aus (1 ,2) und begründet das auf Rückfrage hin damit, dass er Jesu feierlichen Einzug in Jerusalem miterlebt habe (1 ,3f.). Beim Eintreten Jesu verbeugen sich die Brustbilder der Kaiser auf den Militärstandarten (1,5), und sie tun es erneut, als statt der römischen Soldaten zwölf kräftige jüdische Männer die Feldzeichen tragen (1,6). Die Frau des Pilatus, die in einem Teil der Tradition den Namen "Procula" trägt, übermittelt ihren Warntraum (Mt 27,19) und wird als Sympathisantindes Judentums charakterisiert (2,1). Hauptstreitpunkt ist sodann die Herkunft Jesu. Die Mehrzahl der Ankläger erklärt, Jesus entstamme einem unehelichen Verhältnis (2,3). Außerdem habe seine Geburt zur Ermordung von Kleinkindern geführt, und seine Eltern seien mit ihm nach Ägypten geflohen, "weil sie im Volk nichts galten" (vgl. Mt 2,13-18). Zwölf gottesfürchtige Männer jedoch, die namentlich vorgestellt werden, beschwören, dass sie bei der Hochzeit von Josef und Maria dabei waren und Jesus somit nicht "aus Unzucht geboren" sei (2,4f.). Während sich Kap. 3 fast ganz an Joh 18 orientiert, bringt Kap. 4 in den Pilatusprozess die Ansage der Tempelzerstörung ein, die an sich in die Verhandlung vor dem Synhedrion gehört (vgl. Mt 26,61). Es folgen die Unschuldserklärung des Pilatus und der Ruf der Menge "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27,24f.). Doch stellt Pilatus in 4,5 auch fest, dass von den jüdischen Zuschauern viele weinen, mit dem Vorgehen ihrer Autoritäten gegen Jesus also offenkundig nicht einverstanden sind. In Kap. 5 betritt Nikodemus zum ersten Mal die Bühne und hält ein Plädoyer zugunsten von Jesus: Wenn seine Zeichen von Gott autorisiert sind, werden sie Bestand haben, wie die des Mose im Unterschied zu denen der Zauberer des Pharao (vgl. Ex 7- 11). Ihm schließen sich in Kap. 6 mehrere Geheilte an, die ihrerseits Jesus verteidigen: ein Gelähmter, der 38 Jahre lang ans Bett gefesselt war (vgl. Mk 2,1-12; Joh 5,5), ein Blindgeborener (Mk 10,46-52; Joh 9,1f.), ein Buckliger (Lk 13,10-13) und ein Aussätziger (Mk 1,40-45). Die jüdischen Ankläger reagieren mit dem Vorwurf der Sabbatverletzung.
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Das Resümee der Heilungswunder wird in Kap. 7 fortgeführt von einer Fraunamens Berenike (lat. Veronica), die zwölfJahre an Blutfluss litt (Mk 5,25-34), und in Kap. 8 referieren einige aus der Menge die Auferweckung des Lazarus Qoh 11,17--44). In Kap. 9 berät sich Pilatus zunächst mit Nikodemus und den zwölfMännern, die bereits Partei für Jesus ergriffen hatten. Vor der Menge versucht er dann, Jesus mit Hilfe der Paschaamnestie zu retten (vgl. Mt 27,15-26; Joh 18,39), was vergeblich bleibt, da sich die Menge für Barabbas entscheidet. Pilatus macht dem Volk sodann harte Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit gegenüber ihrem Wohltäter und Gott, der es aus Ägypten gerettet und durch die Wüste geführt hat (9,2). Doch gibt er schließlich klein bei, als die Ankläger auf dem Vorwurf insistieren, Jesus maße sich das Königsamt an, und das noch einmal absichern mit Hilfe der Episode um die Magier aus dem Osten und den Kindermord in Betlehem aus Mt 2,1-18 (die etwas eigenartige Logik dieses Arguments verläuft folgendermaßen: bereits Herodes der Große hatte - aus Sicht der Juden richtig - erkannt, dass dieses neugeborene Kind einst die Königswürde für sich in Anspruch nehmen würde). Als Pilatus hört, Jesus sei der, den Herodes damals suchte (9,4), wäscht er seine Hände in Unschuld, während das Volk erneut Jesu Blut auf sich herabruft (Mt 27,24f), und spricht dann in einer realitätsfremden Szene das Todesurteil (9,5): Da ließ Pilatus den Vorhang vor dem Richterstuhl, auf dem er saß, zuziehen und sprach zu Jesus: "Dein Volk hat dich der Anmaßung des Königsnamens überführt. Daher habe ich entschieden, dass du entsprechend der Satzung der frommen Kaiser zuerst gegeißelt und danach am Kreuze aufgehängt wirst, und zwar in dem Garten, wo du festgenommen wurdest. Und Dysmas und Gestas, die beiden Missetäter, sollen mit dir zusammen gekreuzigt werden."
Die beiden "Schächer", die zur Rechten und zur LinkenJesu mitgekreuzigt werden, erhalten hier zum ersten Mal die Eigennamen, unter denen sie fortan in der christlichen Frömmigkeit bekannt sein werden. Der eigentliche Kreuzigungsbericht in Kap. 9 - 11 folgt vor allem Lk 23, mit Einsprengseln aus den anderen Evangelien. Das bedeutet z. B., dass wir die Szene mit den beiden Mitgekreuzigten aus Lk 23,39--43 miterleben (10,2) und dass Jesu letzte Worte, die zunächst in entstelltem Aramäisch dargeboten werden, wie in Lk 23,46lauten: "Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist" (11,1; vgl. Ps 31,6). Pilatus und seine Frau reagieren betrübt auf die Nachricht von Jesu Tod und fasten den ganzen Tag (11,2). Den Schlusspunkt, der zugleich den Fortgang der Erzählung signalisiert, setzt die Bestattung des Leichnams Jesu durch Josef von Arimathäa (11,3).
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- Die Erlebnisse des Josef von Arimathäa (Kap. 12-16) Die Anhänger Jesu, unter ihnen namendich Nikodemus und Josef von Arimathäa, sollen sich in der Synagoge für ihr Verhalten rechtfertigen. Josef insbesondere zieht sich den Zorn der übrigen Juden zu. Sie drohen ihm an: "Du wirst keines Grabes gewürdigt werden, sondern wir werfen dein Fleisch den Vögeln des Himmels vor" (12,1). Josef vergleicht diese Drohung geschickt mit den übermütigen Worten, die Goliat im Munde führte (1 Sam 17,8-1 0), wird dafür aber in einen fensterlosen Bau eingesperrt, vor dessen versiegelter Tür Wachposten stehen. Dieser Kerker ohne Fenster, dafür mit Siegeln und Wachen, erinnert nicht zufällig an die Grabkammer, die Jesu Leichnam aufnahm. Im weiteren Verlauf werden auf Josef auch andere Aussagen übertragen, die streng genommen nur für Jesus gelten. Mit Hilfe dieser Parallelisierung will der Erzähler ihn als echten Nachfolger Jesu darstellen. Als man Josef am ersten Wochentag zur Urteilsverkündigung und Hinrichtung herbeiholen will, findet man die Siegel an der Tür zwar unverletzt vor, den Raum selbst aber leer (13,1; vgl. Apg 5,17-24). Nahezu gleichzeitig eilen einige von den Soldaten, die Jesu Grab bewachten, herbei und melden, was um Mitternacht geschah (13,1; vgl., auch zum folgenden, Mt 28,2-4.11-15): Ein schweres Erdbeben brach los, ein Engel stieg vom Himmel herab und sprach zu den Frauen, während sie, die Wachen, wie tot auf der Erde lagen. Den Zweifeln daran begegnen sie, nicht ohne Humor, mit dem Vorschlag: "Gebt ihr uns also den Josef, dann geben wir euch Jesus" und verteidigen sodann ihre Einsicht, dass Jesus lebt und nach Galiläa gegangen ist (13,2). Die Juden bestechen sie mit viel Geld, damit sie fortan sagen: ,,Als wir schliefen, kamen des Nachts seine Jünger und haben ihn gestohlen" (13,3). Aus Galiläa treffen ein Priester, ein Lehrer und ein Levit ein, die Jesus auf dem Berg "Mamilch" sitzen sahen und hörten, was er seinen Jüngern auftrug (14,1; zitiert wird aus dem sekundären Markusschluss in Mk 16,16-18). Von dort aus seiJesus in den Himmel aufgestiegen. Auch ihnen bieten die jüdischen Ältesten, Priester und Leviten (ein Pendant zur galiläischen Dreiergruppe) Geld an, damit sie schweigen (14,2). Die allgemeine Ratlosigkeit suchen Hannas und Kajafas zu beheben, indem sie die Möglichkeit des Diebstahls des Leichnams Jesu durch seine Jünger erneut ins Spiel bringen. Nikodemus ergreift das Wort und erinnert an die Himmelfahrt des Elija, die in 2 Kön 2,11-18 gleichfalls Irritationen auslöste. Wie die Pro-
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phetenjünger damals nach Elija, so sollen die jüdischen Autoritäten jetzt auf jedem Berg Israels nach Jesus suchen (15, 1). Das geschieht, gefunden aber wird nicht Jesus, sondern nur Josef in seinem Heimatort Arimathäa. Die jüdischen Autoritäten schreiben ihm einen reuevollen Brief und laden ihn in die Stadt ein (15,2). Sieben Freunde Josefs überbringen ihm das Schreiben, nach dessen Lektüre dieser einen biblisch empfundenen Lobpreis Gottes anstimmt (15,3). Am nächsten Morgen bepackt Josef seinen Esel, bricht mit seinen sieben Begleitern auf und zieht unter Anteilnahme des ganzen Volkes und unter ständigen gegenseitigen Friedensbezeugungen feierlich in Jerusalem ein (15,4; auch hier ist der Anklang an Jesu Einzug in Jerusalem nicht zu verkennen). Am Tag daraufberichtet Josef im Haus des Nikodemus dem Hohen Rat, was ihm im Gefängnis widerfahren war (15,6; vgl. Apg 16,25-34): Um Mitternacht bebte der Kerker und wurde an den vier Ecken in die Höhe gehoben. Der auferstandene Herr, den er erst für ein Gespenst und dann für Elija hielt, erschien ihm und salbte sein Haupt mit Öl. Zur Beglaubigung zeigt er Josef das leere Grab, in das dieser ihn zuvor gebettet hatte, mit den Leinentüchern und dem Schweißtuch. Josef fand sich schließlich in seinem eigenen, verschlossenen Haus in Arimathäa wieder, das er vierzig Tage lang nicht verlassen soll. Auf diesen Bericht hin fallen die Zuhörer wie tot nieder (16,1; vgl. Mt 28,4!). Am nächsten Tag, einem Sabbat, ergreift ein jüdischer Lehrernamens Levi das Wort und verweist auf Sirneon (aus Lk 2,28-35), bei dem er selbst noch das Gesetz studiert habe (16,2f.). Sirneons Funktion in der jetzigen Erzählung besteht zunächst darin: Er hat seinerzeit, bei der Darstellung Jesu im Tempel, bestätigt, dass Jesu Eltern fromme, gottesfürchtige Leute sind. Der Hohe Rat schickt nach den drei galiläischen Zeugen aus Kap. 14 und bittet sie, wieder nach Jerusalem zu kommen (16,3f.). Getrennt voneinander lässt er sie von der Himmelfahrt Jesu berichten (16,5f.). Ihr dreifaches Zeugnis (vgl. Dtn 19,15) stimmt völlig überein. Ein jüdischer Lehrernamens Abuthem zieht das Beispiel Henochs (Gen 19,15) heran, ein anderer namens Jairus erinnert an die Ungewissheit über den Verbleib des Mose nach seinem Tod (Dtn 34,5f.). Die jüdischen Autoritäten bringen dagegen den faktischen Ablauf des Leidens Jesu, den sie über das in Kap. 10- 11 Referierte noch mit weiteren Details aus den kanonischen Evangelien anreichern, und die Verfluchung eines jeden, "der am Holze hängt" (Dtn 21,23), ins Spiel und lassen es schließlich auf den Altersbeweis ankommen: "Wenn nach fünfZig Jahren noch Jesu Gedächtnis bestehen bleibt, wird er auf immer herrschen und
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sich ein neues Volk schaffen" (16,7). Das Ganze endet mit einem längeren Lobpreis Gottes durch das Volk und einer Doxologie, die der Erzähler ausspricht (16,8). - Der Abstieg in die Unterwelt (Kap. 17- 27) Angehängt ist an das EvNik noch ein Bericht über die sogenannte "Höllenfahrt Christi" oder, genauer formuliert, über seinen descensus ad inferos (der in der älteren Fassung in lat. A um einiges ausfuhrlicher ausfallt als in unserer Vorlage griech. B, der wir hier folgen). Eine Brücke zum Voranstehenden wird durch die Gestalt Sirneons (aus Lk 2,28-35, eingebracht in EvNik 16,1f.) geschaffen. Dieser hatte nämlich, wie wir aus dem Mund des Josef von Arimathäa erfahren, zwei Söhne, die vor kurzem gestorben waren. Jetzt aber stehen ihre Gräber leer, weil sie mit vielen anderen Toten auferweckt wurden (Mt 27,52f.!), und sie selbst halten sich, wie Josef aus eigenem Erleben weiß, lebendig in Arimathäa auf (17, 1). Diese bei den, die in lat. A die Namen "Carinus" und "Leucius" tragen (was in irgendeiner Weise mit Leukios Charinos, der als Verfasser oder Sammler von apokryphen Apostelakten gilt, zusammenhängt), sollen je für sich schriftlich festhalten, was sie in der Totenwelt erlebt hatten (17,2). Ihr übereinstimmender Bericht beginnt in Kap. 18. Um Mitternacht fallt ein Lichtstrahl in die Unterwelt. Abraham, die Patriarchen und die Propheten freuen sich. Jesaja sieht seine Verheißung aus ]es 9,1 ("Das Volk, das im Finstern lebt, sieht ein helles Licht") in Erfüllung gehen (18,1; in lat. A gesellt sich auch Sirneon zu seinen beiden Söhnen und ergreift das Wort). Johannes der Täufer tritt wieder als Vorläufer in Erscheinung und ruft die Insassen der Unterwelt erneut zur Buße auf (18,2). In Kap. 19 rücken Adam und sein Sohn Sethin den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Seth erzählt, wie er für Adam, der todkrank daniederlag, aus dem Paradies das heilkräftige Öl vom Baum des Erbarmens herbeiholen sollte. Aber der Engel, der das Paradies bewachte, erklärte ihm, erst 5500 Jahre später werde der menschgewordene Gottessohn sich zu den Toten unter der Erde begeben und sie mit solchem Öl salben. Kap. 20 gibt eine Diskussion zwischen Satan und dem Hades, der Personifikation des Totenreichs, wieder. Satan beruft sich auf das Jesuswort "Meine Seele ist betrübt bis zum Tod" (Mt 26,38) und folgert daraus, Jesus sei nicht Sohn Gottes, sondern nur ein Mensch, den die Juden auf sein Betreiben hin (!) kreuzigten. Die Totenwelt werde ihn folglich auf Dauer festhalten können (20, 1). Hades deutet die angebliche Todesfurcht Jesu als
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spöttisches Spiel, das dieser mit Satan trieb (20,2). Dass Jesus ihm zuvor schon den Lazarus entrissen hatte, ist ihm in schmerzlicher Erinnerung geblieben. Er gibt daher ihre gemeinsame Sache verloren (20,3). Noch während sie miteinander reden, ertönt der donnernde Befehl: "Öffnet, ihr Herrscher, eure Tore, geht auf, ewige Pforten! Einziehen wird der König der Herrlichkeit" (21,1; vgl. Ps 24,7). Die Patriarchen und Propheten (in lat. A außerdem noch David) verspotten die hilflosen Abwehrmaßnahmen, die Hades ergreift (21,2). Die ehernen Tore und eisernen Querbalken, die den Eingang sichern sollen, springen entzwei, und der König der Herrlichkeit zieht in Menschengestalt ein (21,3). Vergeblich versucht Hades ihn mit einer Serie von rhetorischen Fragen nach seiner Identität aufzuhalten (22,1). Jesus lässt den Satan von seinen Engeln mit eisernen Ketten binden und befiehlt dem Hades, ihn bis zu seiner endgültigen Parusie in sicherem Gewahrsam zu halten (22,2). Während Hades in Kap. 23 dem Satan wegen seiner falschen Einschätzung der Person Jesu heftige Vorwürfe macht und ihm zur Strafe Peinigungen androht, befreit der "König der Herrlichkeit" in Kap. 24 den "Urvater Adam" sowie die Patriarchen, Propheten, Märtyrer und Heiligen (offenkundig also nicht einfach alle Verstorbenen, jedenfalls nicht nach griech. B; universalistischer ist hier anscheinend lat. A eingestellt). Mit ihnen zieht er in Kap. 25 zum Paradies (in lat. A begleitet von Lobgesängen Davids, Habakuks und Michas). Dort kommen ihnen zwei Greise entgegen. Es sind Henoch und Elija, die als Lebende entrückt wurden, damit sie am Ende derTage "dem Antichrist entgegentreten und von ihm getötet werden" (das liegt vom Standpunkt der Erzählung aus noch in der eschatologischen Zukunft, so dass auch diese mit in den Blick kommt). Schließlich trifft noch "ein unscheinbarer Mensch" ein, "der auf seinen Schultern ein Kreuz trug" (Kap. 26). Bei ihm handelt es sich um den einen der beiden Schächer, dem Jesus versprochen hatte: "Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein" (Lk 23,43). Ihm blieb der Umweg über die Unterwelt erspart, und das Kreuz diente ihm als Ausweis gegenüber dem Engel, der das Paradies bewacht. Damit ist der Doppelbericht, der in versiegelten Rollen einerseits den Hohenpriestern, andererseits Josef und Nikodemus übergeben wird, zu Ende. Die beiden Brüder erwähnen in Kap. 27 noch, dass sie sich auf Geheiß Michaels nach ihrer eigenen Auferweckung im Jordan taufen ließen und zur Feier des "Passa der Auferstehung" nach Jerusalem kamen. Sie verabschieden sich mit dem Gruß aus 2 Kor 13,13 und sind plötzlich verschwunden.
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(3) Zur Bewertung Was den großen Einfluss angeht, den es auf die Folgezeit ausübte, reicht das EvNik fast an das Protevangelium des Jakobus heran. Wir kennen heute über 500 Handschriften mit dem EvNik in Griechisch, Latein und den alten Sprachen des Ostens (Koptisch, Syrisch, Aramäisch, Armenisch, Georgisch), ganz zu schweigen von den zahlreichen Übersetzungen in die meisten alten Volkssprachen Europas (bis hin zum Alt-Schwedischen und zum Gälischen). Ein Teil seiner Popularität rührt sicher daher, dass man glaubte, mit den ,,Akten" des Pilatus im ersten Teil ein offizielles Dokument von heidnischer Seite in der Hand zu haben, das alle Zweifel an den Ereignissen um Tod und Auferstehung Jesu zum Verstummen bringen musste. Die "Höllenfahrt" Christi wiederum bot eine willkommene Veranschaulichung dessen, was Erlösung eigentlich heißt: Das Heil erreicht auch die Verstorbenen, zumindest einen wichtigen Teil von ihnen, und kommt den großen Gestalten des Alten Bundes zugute. Auch für die Notwendigkeit von Menschwerdung und Kreuzestod des Gottessohnes wird eine Deutung geboten: Das war ein Kunstgriff, der dazu diente, den Satan zu überlisten, um ihm desto sicherer seine Beute entreißen zu können. Obwohl sich an der Stelle Berührungspunkte ergeben hätten, kommt das EvNik ohne Anleihen bei gnostischem Gedankengut aus. Kritisch zu vermerken ist erneut die einseitige Belastung der jüdischen Autoritäten mit der Schuld an Jesu Tod, die Hand in Hand geht mit einer weitreichenden Entlastung des Pilatus (dazu gleich noch mehr). Dass Apokryphen nicht unbedingt gleich Apokryphen sind, ergibt sich aus einem Vergleich des EvNik mit dem EvPetr. Beim EvNik stellt sich eine Frage, die sich beim EvPetr fast schon zu sehr in den Vordergrund drängte, gar nicht mehr, nämlich die nach dem Vorliegen von unabhängigen Sondertraditionen. Das EvNik setzt die kanonischen Evangelien voraus, will sie ergänzen und erklären und zugleich manche exegetische Schwierigkeit wie die mit den auferweckten Heiligen in Mt 27,52f. lösen. Nebenfiguren der kanonischen Evangelien wie Nikodemus, Josef von Arimathäa und Simeon, der sich plötzlich als Vater von zwei Söhnen wiederfindet, werden zu Hauptfiguren. Die Neugier, wie es mit ihnen wohl weitergegangen ist, wird gestillt. Namenlose Gestalten bekommen Namen beigelegt, die sich teils im EvNik zum ersten Mal finden: "Procula", "Veronica", "Dysmas und Gestas" und in einem Teil der Überlieferung auch "Longinus" für den Soldaten, der Jesu Seite mit einer Lanze durchbohrt (wohl von griech. Iongehe für "Lanze"). Die Wiederverwendung des Sirneon aus Lk 2 zeigt das
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auch in anderen apokryphen Evangelien anzutreffende Bestreben, mit dem neutestamentlichen Personal sparsam umzugehen und eine überschaubare erzählte Welt zu schaffen. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet seit der Reformationszeit vor allem die detaillierte Beschreibung des Abstiegs Christi in die Unterwelt und damit schließlich das ganze Werk. Im Gefolge des Trienter Konzils wurde es auch katholischerseits ab 1558 gleich mehrfach auf den Index gesetzt. Von diesem Schlag sollte sich das EvNik zumindest im Westen nicht mehr erholen.
(4) Die Fortschreibung Literatur: F. ScHEIDWILER I W ScHNEEMELCHER, in: NTApo 6 I, 418-424.- ]. K ELLIOTT, Apocryphal New Testament 159-163.205-225.- M. A. VAN DEN ÜUDENRIJN, Garnaliel: Äthiopische Texte zur Pilatusliteratur (SpicFri 4), Freiburg (Schweiz) 1959. -A. DEMANDT, Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte, Köln u. a. 1999,
213-230.
Der Text des EvNik befand sich, so sagten wir, in ständiger Evolution. In einer Fassung von lat. A~ndet es nicht mit Kap. 27, sondern es schließt sich als Kap. 28 noch eine ~neute Interaktion zwischen Pilatus und den Vertretern des jüdischen Volkes an. Pilatus lässt sich im Tempel die dort aufbewahrten Bücher zeigen. Auf sein Drängen hin geben Hannas und Kajafas unter dem Eindruck der bisherigen Ereignisse zu, dass es ein Fehler war, Jesus zu kreuzigen. Jetzt können sie das auf einmal auch aus mehreren Stellen aus der Bibel Israels belegen. Als Kap. 29 folgt dann öfter noch ein Brief des Pilatus an Claudius, in dem er dem Kaiser in Kurzform von Wirken, Tod und Auferstehung Jesu Bericht erstattet. In der originalen griechischen Fassung steht dieser Brief unter anderem auch in den ,,Akten des Petrus und des Paulus", Kap. 40- 42. Damit sind wir bei dem weit ausufernden Zyklus der Pilatusliteratur angelangt. Der krasse Anachronismus, der darin liegt, dass Pilatus an Claudius schreibt, wird ausgemerzt durch einen Briefdes Pilatus an Tiberius und einen Antwortbrief des Kaisers, beide vermudich sehr späten Ursprungs. Daneben gibt es noch einen drei Schreiben umfassenden Briefwechsel zwi-
schen Pilatus und Herodes. Auch die sogenannte Anaphora Pilati besteht aus einer mit den Briefen eng verwandten Darlegung der Geschehnisse, die Pilatus dem Tiberius gibt. Interessanter noch ist die Paradosis Pilati, die sein Lebensende zum
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Thema hat. Pilatus wird nach Rom zitiert und legt vor dem Kaiser und dem Senat ein Zeugnis für Jesus Christus ab. Die Schuld an Jesu Tod gibt er ausschließlich der jüdischen Seite. Sie trifft die verdiente Strafe, denn der Kaiser ordnet schriftlich an (6): Gruß an Licianus, den Kommandanten im Orient! In der jetzigen Zeit verübten die in Jerusalem und den benachbarten Städten wohnenden Juden eine widergesetzliche Freveltat, indem sie Pilatus zwangen, den als Gott anerkannten Jesus zu kreuzigen. Ob dieses ihres Frevels wurde die Erde verdunkelt und ins Verderben gerissen. Wolle nun auf Grund dieses Beschlusses dich schleunigst mit starkem Truppenaufgebot dorthin begeben und sie zu Kriegsgefangenen machen. Gehorche und gehe gegen sie vor und mache sie zu Sklaven, indem du sie unter alle Völker verstreust und indem du sie aus Judäa verjagst, mache das Volk winzig klein, so dass es überall nicht mehr in die Augen fällt, da es Menschen voller Bosheit sind.
Pilatus wird, nachdem er ein Gebet zum Herrn gesprochen hat, auf Befehl des Kaisers enthauptet, ein Engel des Herrn nimmt sein Haupt auf. Damit sind die Wege gebahnt, die es ermöglichen, dass Pilatus in der koptischen Kirche als Heiliger verehrt wird. Aber nicht alle Versionen seines Endes fallen so freundlich aus; im Westen wurde seine Person kritischer gesehen. In den mittelalterlichen Erzeugnissen Vindicta Salvatoris und Mors Pilati wird Tiberius durch das Schweißtuch der Veronika mit Jesu wundertätigem Bild geheilt. In der Mors Pilati begeht Pilatus schließlich Selbstmord. Seine Leiche wird zunächst im Tiber versenkt, dann, weil sie böse Geister anlockt, die viel Lärm machen, in der Rhone und schließlich tief in einem Alpsee, bei dem nach ihm benannten Berg in der Schweiz. Erst aus dem Mittelalter dürfte auch Die Erzählung des ]osef von Arimathäa stammen, die einiges von dem bisher schon erörterten Stoff aus der Ich-Perspektive wiedergibt. Von weiteren koptischen Fragmenten, die in homiletischer Form Jesu Wirken, Sterben und Auferstehung behandeln, haben einige Stücke besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die in der modernen Forschung erst als Gamalielevangelium bezeichnet wurden, weil darin der jüdische Gesetzeslehrer Gamaliel in der Ich-Form zu Wort kommt. Inhaltlich geht es neben anderem um den Vorwurf des Leichendiebstahls.
c) Das Bartho/omäusevangelium SCHEIDWILER I W. ScHNEEMELCHER, in: NTApo 6 I, 424-440.- J. K. ELApocryphal New Testamem 652-672. - J. D. l
Literatur: F. LIOTT,
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(1) Zur Einordnung Ein Bartholomäusevangelium kennen Hieronymus und das Decretum Gelasianum, und auf geheimes Wissen, das dem Apostel Bartholomäus zuteil wurde, beruft sich auch Pseudo-Dionysius Areopagita. Eine Schrift mit dem Titel "Evangelium nach Bartholomäus" ist uns aus der Alten Kirche dennoch nicht erhalten, wohl aber gibt es zwei andere Texte, die unter dem Namen des Bartholomäus umliefen. Dabei handelt es sich (1) um die "Fragen des Bartholomäus" und (2) um das koptische "Buch der Auferstehung Jesu Christi, von Barrholomäus, dem Apostel". Literarisch sind diese beiden Texte nicht voneinander abhängig, sondern greifen lediglich zu Beginn auf eine gemeinsame )iltere Tradition zurück. Ob sie mit dem bei Hieronymus und im Decr~ Gelasianum erwähnten Bartholomäusevangelium etwas zu tun haben, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Von ihrer Form her könnte man sie auch zu den "Dialogevangelien", d.h. den Gesprächen Jesu mit seinen Jüngern nach seiner Auferstehung, rechnen (s.u. Kap. 8). Doch wurde auf Grund der visionären Rahmenelemente auch schon eine Zuordnung zu den Apokalypsen vertreten (Elliott). Zur Entstehungszeit: Das koptische "Buch der AuferstehungJesu Christi" hat im 5./6. Jahrhundert im Wesentlichen seine jetzige Gestalt gefunden. Für die "Fragen des Bartholomäus" fällt die Datierung schwer; die Spannweite der Vorschläge reicht vom 2. bis zum 6. Jahrhundert. Die Version der Höllenfahrt Christi in den "Fragen des Bartholomäus" dürfte älter sein als diejenige im EvNik und folglich ins 2. Jahrhundert verweisen. Anleihen aus Protev 8,1 in "Fragen des Bartholomäus" 2,15 und aus KThom 2 in "Fragen des Bartholomäus" 2,11 hingegen lassen an das 3. Jahrhundert als Abfassungszeit denken, und die Mariologie der Schrift reflektiert eine Phase der Lehrentwicklung, die noch vor dem Konzil von Ephesus 431 n. Chr. liegt, aber kaum früher anzusetzen ist als parallele Aussagen bei Epiphanius von Salamis (4. Jahrhundert). Dass in beiden Fällen Bartholomäus als Vorzugsjünger und Offenbarungsträger erscheint, verwundert, da wir von ihm aus den synoptischen Evangelien außer seinem Namen nichts erfahren. Seine prominente Rolle erhält er nur, weil er mit Nathanael aus dem Johannesevangelium identifiziert wurde. Ihn hat Jesus als wahren Israeliten ohne Tadel bezeichnet (Joh 1,47), ihm hat Jesus in Aussicht gestellt, dass er noch Größeres schauen werde (Joh 1,50), und zu diesem Größeren gehört die Verheißung: "Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen
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sehen über dem Menschensohn" Qoh 1,51). Die apokryphen Bartholomäustraditionen schildern, wie diese Verheißung in Erfüllung ging.
(2) Die "Fragen des Bartholomäus" Die Wiedergabe des Inhalts der "Fragen des Bartholomäus" wird noch dadurch erschwert, dass die vorhandenen Handschriften, zwei griechische, zwei lateinische und fünf altslawische, nicht unbeträchtlich voneinander abweichen und wir genau genommen bei allen Episoden auch die Handschrift angeben müssten, der wir gerade folgen. - Kreuzigung und Höllenfahrt Die daraus resultierende Unsicherheit beginnt schon mit dem ersten Vers, weil das anschließende Gespräch zwischen Jesus und den Aposteln teils in die Zeit vor der Passion, teils in die Zeit nach der Auferstehung verlegt wird. Je nachdem versteht sich das Folgende entweder als visionäre Vorausschau oder als Rückblick. Bartholomäus schaut nämlich verschiedene Dinge, die sich während der Kreuzigung Jesu abspielen: Engel steigen vom Himmel herab und beten den Gekreuzigten an (1,6), Engel bringen auf ihren Armen die überlebensgroße Gestalt Adams herbei (1,21), und ein besonders großer Engel zerteilt mit einem feurigen Schwert den Vorhang des Tempels in zwei Teile (1,24-27). Dass sich die Engel so in den Vordergrund spielen, erklärt sich von Joh 1,51 her: Bartholomäus alias Nathanael wird sehen, wie die Engel auf- und absteigen über dem Menschensohn. Die erste Frage, die Bartholomäus stellt, zielt auf das, was sich in der Unterwelt eigentlich abspielte, während Jesus am Kreuze hing. Bartholomäus hat nur eine Stimme und Lärm von dort nach oben dringen hören. Jesus erzählt daraufhin selbst - das ist ein wesentlicher Unterschied zum EvNik, wo es andere tun- von seinem Abstieg in die Unterwelt, der noch vor der Auferstehung vom Kreuze aus geschah, und er schildert das Entsetzen und die Ohnmacht, die Hades und Beliar, die Herrscher der Unterwelt, ergriff. Dann verabschiedet Jesus sich rasch ins Paradies, wo er ein besonderes Opfer entgegennehmen muss: die Seelen der Gerechten, die an diesem Tag verstorben sind und die nur er ins Paradies einlassen kann (1,28-35).
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_Rückblick aufJesu Empfängnis durch Maria Im 2. Kap. stößt Maria, die Mutter des Herrn, zu den Aposteln. Da Petrus und Johannes vor der Aufgabe, ihr eine weitreichende Frage zu stellen, zurückschrecken, springt wieder Bartholomäus in die Bresche (2,4): Bartholomäus näherte sich ihr mit heiterem Antlitz und sprach zu ihr: "Du Begnadete, Zelt des Höchsten, Unbefleckte, die Apostel ille..&agen dich, haben mich aber (mit dieser Frage) zu dir gesandt: Sage uns, wie du den Unfassbaren empfingst, wie du den, der nicht getragen werden kann, getragen hast und wie du solche Größe zur Welt gebracht hast."
Maria wehrt zunächst ab, spricht sodann ein Gebet in pseudo-hebräischer Sprache (2, 13: "Elphoue zarethra charboum nemioth ... "), das der Erzähler ins Griechische übersetzt ("0 überaus großer und allweiser Gott, König der Zeiten ... "),und gibt sodann die gewünschte Auskunft (2,15-21): Als ich im Tempel Gottes lebte und meine Nahrung aus der Hand eines Engels empfing (vgl. Protev 8, 1), erschien mir eines Tages jemand in der Gestalt eines Engels, aber sein Gesicht war unbeschreibbar, und in seiner Hand trug er weder Brot noch Becher, im Unterschied zu dem Engel, der bisher zu mir kam. Sogleich zerriss der Vorhang des Tempels, und die Erde bebte heftig. Ich fiel auf mein Angesicht, denn ich konnte seinen Anblick nicht ertragen. Er aber reichte mir die Hand und richtete mich auf. Ich erhob meine Augen zum Himmel. Eine Wolke von Tau kam auf mich herab und benetzte mich von Kopfbis Fuß. Er trocknete mich ab mit seinem Gewand und sprach zu mir: "Sei gegrüßt, du Begnadete, du auserwähltes Gefäß." Dann klopfte er auf die rechte Seite seines Kleids, und hervor kam ein überaus großes Brot, das legte er auf den Altar des Tempels. Zuerst aß er selbst davon und gab dann auch mir. Wieder klopfte er, diesmal auf die linke Seite seines Kleids, und hervor kam ein überaus großer Becher, gefüllt mit Wein. Er stellte ihn auf den Altar des Tempels, trank zuerst selbst daraus und gab auch mir zu trinken. Und ich schaute und sah, wie an dem Brot nichts fehlte und der Becher voll war wie zuvor. Dann sagte er zu mir: "Noch drei Jahre, und ich werde mein Wort zu dir senden und du wirst meinen Sohn empfangen. Durch ihn wird die ganze Schöpfung gerettet werden, und du wirst der Welt das Heil bringen. Friede sei mit dir, Geliebte, mein Friede wird mit dir sein immerdar." Mit diesen Worten entschwand er aus meinen Augen, und der Tempel lag wieder da wie zuvor.
Der Gedankengang, der zugrunde liegt, ist ebenso einfach wie eindrücklich: Die Wolke mit Tau, die auf Maria herabkommt, erinnert an die Wolke über dem Zelt der Offenbarung in Ex 40,34f. und veranschaulicht das Engelwort aus Lk 1,35: "Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten". Der Tau wird außerdem in Num 11,9 u.ö. mit dem Manna assoziiert, was uns zu den eucharistischen Gaben von Brot und Wein bringt. Durch sie empfangen alle Gläubigen im Sakrament Fleisch und Blut des Herrn, was Maria in ganz besonderer Weise widerfuhr. Diese Gemeinsamkeit wird hier aufgenommen, um mittels einer Symbolhandlung die be-
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vorstehende Empfängnis des Sohnes Gottes durch das Wort anzukündigen. - Der Widersacher Im 3. Kap. bitten die Jünger darum, einen Blick in den Abgrund, d. h. in die Unterwelt, werfen zu dürfen. Die Engel rollen zu diesem Zweck die Erde auf wie ein Blatt Papier, aber die Apostel können den Anblick nicht ertragen, und der Abgrund wird wieder zugedeckt. Den abschließenden Höhepunkt setzt das mit 71 Versen überlange 4. Kap. (während das kurze 5. Kap. sich mit drei Detailfragen hinsichtlich der Kategorien von Sünde deutlich als sekundärer Nachtrag zu erkennen gibt). Petrus und Maria werden sich nicht einig darüber, wer die nächste verwegene Frage stellen muss. Wieder springt Bartholomäus in die Bresche und bittet Jesus darum, ihnen den Widersacher zu zeigen. Dieser erscheint auch und verbreitet erwartungsgemäß Furcht und Schrecken (4,12-14): Die Erde wurde erschüttert, und Beliar kam herauf. Er wurde festgehalten von 660 Engeln und war mit feurigen Ketten gebunden. Seine Körpergröße betrug 1600 Ellen und seine Breite 40 Ellen. Sein Antlitz war wie ein feuriger Blitz, seine Augen aber waren voll Dunkelheit, und aus seinen Nüstern kam ein stinkender Rauch. Sein Mund war wie die Schlucht eines Felsens, und ein einziger seiner Flügel maß 80 Ellen. Als die Apostel ihn sahen, stürzten sie sogleich auf ihr Angesicht nieder und waren wie tot.
Teils stand dabei die Beschreibung Leviathans in Ijob 41,10-13 Pate. Der Herr verleiht dem Bartholomäus Macht über Beliar, und auf des Bartholomäus' Drängen hin erklärt Beliar, wie er, der Erstgeschaffene unter den Engeln Gotte, zu dem wurde, was er jetzt ist, weil er das Abbild Gottes, den Menschen, nicht akzeptieren wollte. Außerdem gibt Beliar Informationen über Entstehung und Aufbau der Engelwelt preis, unter Einschluss zahlreicher Namen (z. B. 4,47: "Mermeoth, Onomatath, Douth, Melioth, Charouth, Graphathas, Oethra, Nephonos, Chalkatoura"), und er deutet vorsichtig an, der Sündenfall habe darin bestanden, dass sich Eva von ihm verführen ließ und sich ihm hingab. Gegen Ende hin ergreift Jesus wieder das Wort und erklärt, dass diese Geheimnisse nur an vertrauenswürdige Gläubige weitergegeben werden dürften. Den Schlusspunkt setzt - nach dem Einschub in 5,1-9 eine Doxologie, die Bartholomäus in 5,10 mit den übrigen Aposteln spricht.
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(3) Das "Buch der Auferstehung Jesu Christi" Für das "Buch der Auferstehung Jesu Christi, von Bartholomäus, dem Apostel" stehen drei unvollst~js:optische Manuskripte zur Verfügung, die durch weitere Fragmente ergänzt werden müssen (Zählung im Folgenden nach Kaestli). -Ergänzungen Ein Ergänzungsvorschlag betrifft gleich den Beginn. Wir befinden uns demnach bei einem Mahl, das Jesus mit den Zwölfen hält und bei dem auch ein Hahn serviert wird. Dessen Zubereitung hatten die Juden mit den Worten kommentiert: "Das Blut eures Meisters wird vergossen werden wie das Blut dieses Hahns" (1,2). Um den Vergleich zwischen dem Schicksal des Hahns und seinem eigenen Schicksal zu vervollständigen und weil der Hahn später noch für den Hahnenschrei bei der Verleugnung des Petrus gebraucht wird, erweckt Jesus ihn wieder zum Leben und lässt ihn davonfliegen. Die Frau des Judas lskariot hatte den sieben Monate alten Sohn des Josef von Arimathäa als Amme in Pflege genommen. Nach vollzogenem Verrat protestiert der Kleine und fleht seinen Vater an, ihn hier wieder weg zu holen (2,2). Wir wissen bereits: Der Versuch, engere Familienbeziehungen zwischen den aus dem Neuen Testament bekannten Personen herzustellen, darf als typisch für die apokryphe Fortschreibung der Erzählstoffe gelten. Im 3. Kap. bittet ein alter Mann aus Betlehem namens Ananias die Juden darum, an Jesu Stelle gekreuzigt zu werden. Vergeblich versuchen die Hohenpriester ihn zu steinigen, vergeblich werfen sie ihn für drei Tage und drei Nächte in einen Feuerofen. Schließlich töten sie ihn mit einer Lanze, und der auferstandene Herr nimmt seine Seele in den Himmel auf. - Szenen in und am Grab Die nächsten Szenen spielen in Jesu Grab, das der Tod mit seinen sechs Söhnen inspiziert, und in der Unterwelt. Unter anderem hält Jesus bei der Gelegenheit dem Judas, der sich nach seiner Selbsttötung bereits im Hades befindet, eine längere Strafpredigt (6,4-6). Nach Jesu Auferstehung bleiben in der Unterwelt nur noch drei Seelen zurück: die des Herodes (des Großen vermutlich), die des Kain und die des Judas (7,4).
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Neun heilige Frauen machen sich in 8,1 am Morgen des ersten Wochentags auf den Weg zum Grab Jesu, nämlich (1) Maria Magdalena, (2) Maria, die Mutter des Jakobus, (3) Salome aus Mk 15,40, die mit der gleichnamigen Hebamme aus Protev 20,1 zusammengebracht wird, (4) Maria aus Lk 10,38-42 und (5) ihre Schwester Martha, (6) Susanna aus Lk 8,3 (in einem anderen Manuskript wahlweise auch Johanna aus demselben Vers), (7) die blutflüssige Frau aus Mk 5,25, die jetzt Berenike heißt, (8) die Mutter des Jünglings von Nain namens Lea und (9) die namenlose Sünderin aus Lk 7,26-50. Hervorzuheben ist angesichts dieses Panoramas neutestamentlicher Frauengestalten, dass Maria Magdalena, Maria aus dem Schwesternpaar in Lk 10,38-42 und die anonyme Sünderin aus Lk 7,26-50 noch nicht miteinander gleichgesetzt bzw. verwechselt werden. Dafür scheint allerdings Maria Magdalena mit Maria, der Mutter Jesu, austauschbar zu sein, denn deren Anwesenheit wird im weiteren Verlauf vorausgesetzt. Die Frauen treffen auf den Besitzer des Gartens, der selbst als Gärtner wirkt (vgl. Joh 20, 15) und Philogenes heißt. Es enrwickelt sich ein Zwiegespräch zwischen ihm und Maria, der Mutter des Herrn, in dessen Verlauf er von den Ereignissen der Nacht berichtet: Ganze Heere von Engeln waren anwesend, und ein großer, feuriger Wagen stand bereit. Gottvater kam vom Himmel herab und erweckte seinen Sohn aus dem Tod. Erst nachdem Philogenes seinen Bericht beendet hat, erscheint der Auferstandene selbst und gibt seiner Mutter Maria eine Botschaft für die Jünger mit auf den Weg. - Bartholomäus In 10,3 meldet sich auf einmal Bartholomäus, den wir bisher vermisst haben, als Augenzeuge dieser Geschehnisse zu Wort. Es scheint fast, als habe er sich hinter dem Gärtner Philogenes verborgen, zumal er sich an späterer Stelle selbst als "Gärtner und Verkäufer von Gemüse" bezeichnet (17,3). Man kann auch nachvollziehen, wie Barrholomäus zum Gärtner wurde, sagte doch Jesus einst zu Nathanael alias Bartholomäus: "Unter dem Feigenbaum habe ich dich gesehen" Qoh 1,48). Beim Feigenbaum aber hielt sich Bartholomäus-Nathanael, so einer der vielen Rateversuche, aus beruflichen Gründen auf. Barrholomäus erhält das Privileg, bis in den siebten, höchsten Himmel schauen zu dürfen, und er wird Zeuge der himmlischen Liturgie, die aus Anlass der Rückkehr des Auferstandenen abläuft. In Kap. 12 - 16 werden ständig Hymnen gesungen, die Barrholomäus im Nachhinein für sei-
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ne Brüder, die Apostel, aufZeichnet. Sieben Hymnen tragen die Engel vor, ein Hymnus ist Adam anvertraut, der sich mit Eva wieder in Gottes Nähe aufhalten darf, und einen weiteren Hymnus singen die Gerechten. Diese hymnische Passage endet damit, dass die Gerechten und die Engel an ihre angestammten Plätze zurückkehren. Kap. 18 blendet zu einer früheren Szene zurück, an die Bartholomäus seine Mitapostel erinnert: Jesus redete auf dem Ölberg in fremder Sprache zu den Zwölfen. Auch bei der Gelegenheit öffneten sich die Himmel, und Jesus erreichte, dass der Vater jeden der Zwölf einzeln beim Namen nannte und segnete. Mit Kap. 19- 20 kommen wir wieder in der Erzählgegenwart an. Die Apostel feiern zusammen mit Maria Eucharistie, und der Duft dieses Opfers steigt bis zum Throne Gottes empor (20, 1). Der Vater lässt sich rühren und sendet den Auferstandenen zu ihnen, der ihnen in Galiläa erscheint und seine Wundmale vorzeigt. Außerdem überträgt er auf sie die Vollmacht, zu verkünden und zu heilen. -Thomas Einer war allerdings nicht mit von der Partie: Thomas. Er hatte sich in seine Heimatstadt begeben, weil er gehört hatte, dass sein Sohn Siophanes (war ursprünglich vielleicht "Theophanes" gemeint?) gestorben war. Bei der Ankunft des Thomas in der Stadt sind bereits sieben Tagen seit dem Tod seines Sohnes vergangen. Dennoch erweckt Thomas ihn im Namen Jesu Christi wieder zum Leben. Siophanes erzählt ihm daraufhin, was seine Seele erlebte, während sein toter Leib auf der Erde lag. Der Erzengel Michael nahm sie mit und wusch sie im Acheron, und im Himmel erblickte sie die zwölf prächtig ausgestatten Throne der zwölf Apostel. Siophanes wollte auf dem fur seinen Vater bestimmten Thron Platz nehmen, aber Michael hinderte ihn daran. Die Auferweckung des Siophanes sorgt für Aufsehen in der Stadt, das sich noch steigert, als dieser auch den Stadtbewohnern seine Geschichte vorträgt. Thomas kann daraufhin 12.000 Menschen taufen. Er legt den Grundstein für ein Kirchengebäude und setzt seinen Sohn Siophanes als ersten Bischof ein. Dann besteigt er eine Wolke, die ihn auf den Ölberg zu den anderen Aposteln bringt. Auf die frohe Nachricht, Jesus Christus sei von den Toten auferstanden und den Jüngern erschienen, reagiert Thomas mit seinem sprichwörtlich gewordenen Unglauben. Die andern Apostel reden ihm gut zu, und gesondert versucht Bartholomäus noch einmal, ihn zu ermahnen und ihn umzustimmen, aber da erscheint auch schon der Auf-
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erstandene selbst, und Thomas kann seine Seitenwunde berühren und sich mit dem Blut, das daraus hervorquillt, bekreuzigen. Nach Jesu Weggang zum Himmel feiern die Apostel, ehe sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, um das Evangelium zu verkünden, miteinander die Eucharistie, denn dies, so gibt die Erzählung zu verstehen, wird fortan die Art und Weise sein, wie Jesus als Auferstandener mit seinem Fleisch und seinem Blut auch für sie gegenwärtig sein und sie auf all ihren Wegen begleiten wird. Im weiten Feld der antiken christlichen Apokryphen stellt das "Buch der Auferstehung Jesu Christi" eine Form des Übergangs vom Evangelium zu einer anderen Gattung dar. Das auffällige Interesse am weiteren Schicksal einzelner Apostel, hier nicht einmal so sehr an dem des Bartholomäus, sondern mehr noch an dem des Thomas und seines Sohns, nähert diesen Text bereits an die apokryphen Apostelakten an, zu denen an prominenter Stelle die Thomasakten zählen.
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1. Evangelien aus Nag Hammadi Literatur: J. M. RoBINSON (Hrsg.), The Coptic Gnostic Library. A Complete Edition of the Nag Hammadi Codices. Bd. 1-5, Leiden 2000.- H. M. ScHENKE I H. G. BETHGE IV. U. KAisER (Hrsg.), Nag Hammadi Deutsch.- G. LÜDEMANN IM. ]ANSSEN, Bibel der Häretiker. - K. DIETZFELBINGER, Apokryphe Evangelien. - W REBELL, Neutesrarnentliche Apokryphen 21-62. - B. LAYTON, The Gnostic Scriptures, Garden City, N.Y. 1987.- W HöRMANN, Gnosis. Das Buch der verborgenen Evangelien, Augsburg 71994, 106-333.- M. FRANZMANN, Jesus in the Nag Hammadi Writings, Edinburgh 1996.-]. D. TURNER I A. McGuiRE (Hrsg.), The Nag Hammadi Library After Fifty Years (NHMS 44), Leiden 1997.- M. MEYER (Hrsg.), The Nag Hammadi Library
In der Nähe von Nag Hammadi, einem Ort in Oberägypten, entdeckte im Dezember 1945 ein ägyptischer Landarbeiter, der nach fruchtbarer Humuserde grub, einen Tonkrug, in dem er dreizehn in Leder gebundenen Kodizes mit Texten in koptischer Sprache fand (Koptisch ist, schon vom Namen her, eine Spätform des Ä-gyptisch-en). Die Auswertung dieses Fundes, der in seiner Bedeutung nur mit der Entdeckung der Schriften von Qumran vergleichbar ist, wurde zunächst durch widrige Umstände unterschiedlicher Art sehr verzögert. Erst fünfzig Jahre nach der Entdeckung gelangte eine erste Phase der Erschließung mit kritischen Editionen, Übersetzungen und vorläufigen Kommenderungen der Texte zu einem gewissen Abschluss. Die dreizehn Kodices (zitiert als NHC I-XIII = Nag-Hammadi-Codex I-XIII) enthalten, wie man inzwischen weiß, ca. fünfzig Schriften meist christlich-gnostischen Inhalts. Hergestellt wurden sie um 350 n. Chr., wie aus datierten Quittungen und Verträgen hervorgeht, die als Makulatur zur Verstärkung der Einbände benutzt wurden. Das besagt aber noch nichts über das Alter der einzelnen Schriften selbst, zumal das Koptische nicht ihre Originalsprache war, sondern wir in allen Fällen Übersetzungen aus dem Griechischen vor uns haben (nur gelegentlich wird für das Thomasevangelium z. B. Syrisch als Originalsprache vermutet). Wir wissen nicht, wer die Texte übersetzt, abgeschrieben, gesammelt, gebunden, benutzt und schließlich vergraben hat. Dass es sich um die Mönche aus nahegelegenen antiken Klosteranlagen handelte, ist eine plausible Vermutung, die sich aber nicht beweisen lässt. Durch die Texte von Nag Hammadi wurde unsere Kenntnis der Gnosis auf eine neue Quellenbasis gestellt. Bisher waren wir dafür in erster Linie auf die polemischen Referate der Kirchenväter angewiesen, die sich heftig gegen eine, wie sie es sahen, gnostische Überfremdung des christlichen
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Evangelien aus Nag Hammadi
Glaubens zur Wehr setzten. Zwar nicht in allen, aber doch in den meisten der neu entdeckten Schriften melden sich nun Gnostiker selbst zu Won und legen ihre Überzeugungen dar. Manche Angaben bei den Vätern werden dadurch bestätigt, andere korrigiert, vieles wird präzisiert. Wir sehen jetzt deutlicher, dass die Gnosis im Kern auf einer dualistisch geprägten Weltsicht und auf einem bestimmten Daseinsverständnis, das sich mit Begriffen wie Entfremdung und Vereinzelung charakterisieren lässt, aufruht. Der Einzelne fühlt sich in dieser Welt nicht mehr zu Hause, sondern strebt zurück zu einem außerweltlichen Ursprung, den er als seine eigentliche, verlorene Heimat ansieht. Rettung schenkt ihm bereits die Erkenntnis, das Wissen um seine eigentliche Lage, und genau dies besagt auch das griechische Wort "Gnosis", das nichts anderes als "Erkenntnis" bedeutet. Die spirituelle Faszination, die von manchen dieser mehr oder minder stark gnostisch beeinflussten Schriften immer noch ausgeht, legt die Vermutung nahe, dass heutige Leser ihr eigenes Weltgefühl und ihren eigenen Lebensentwurf darin wiederfinden. Erweitert wurde durch den Fund von Nag Hammadi auch der Bestand an antiken christlichen Apokryphen. An literarischen Gattungen treffen wir in diesem Textkorpus an: Evangelien (s.u.), Apokalypsen (z. B. die zweite Schrift im fünften Kodex = NHC V,2: "Die Apokalypse des Paulus"), Briefe (z. B. "Der Brief an Rheginus über die Auferstehung" NHC I,4) sowie eine Apostelgeschichte ("Die Taten des Petrus und der zwölf Apostel" NHC VI, I). Daneben finden sich auch Gebete (z. B. "Das Gebet des Apostels Paulus" NHC I, I), für den Gottesdienst bestimmte Hymnen ("Die drei Stelen des Sech" NHC VII,5), nichtgnostische Spruchsammlungen ("Die Sprüche des Sextus" NHC XII, I), Gemeindeordnungen ("Die Interpretation der Gnosis" NHC XI, I), Offenbarungsreden ("Die dreigestaltige Protennoia" NHC XIII, I), theologische Traktate ("Zostrianos" NHC VIII, I) und sogar ein schlecht übersetztes Stück aus Platons Politeia (NHC VI,5 = Pol588B-589B). Wie bei den antiken christlichenApokryphen überhaupt, wäre es auch hier falsch, die Texte aus Nag Hammadi ausschließlich am Neuen Testament zu messen und als bewussten Gegenentwurf zum Kanon anzusehen. Ihre Bezeichnung als "Bibel der Häretiker" (Lüdemann) muss daher als effekthascherisch und in der Sache verfehlt zurückgewiesen werden. Ein Problem, das wir mit Gattungsbezeichnungen generell haben, stellt sich bei den "Evangelien" aus Nag Hammadi noch einmal mit besonderer Schärfe: Selbstbezeichnung und Fremdbezeichnung stimmen nicht überein. Mit anderen Worten: Was im Schriftenkorpus von Nag Hammadi als
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Evangelium bezeichnet wird, entspricht nicht Clem, was wir uns unter einem Evangelium vorstellen. Es fehlen nämlich narrative Elemente, es fehlt das Eingehen aufErdenwirken und PassionJesu Christi. Wir sind darauf schon beim Ägypterevangelium (NHC III,2 und IV,2; s.o. Kap. 4b) gestoßen, das nur im Kolophon, d. h. in der Schlussnotiz, die evtl. erst von einem übersetzer oder Schreiber hinzugesetzt wurde, "Evangelium der Ägypter" heißt. Ähnlich verhält es sich beim Thomas- und beim PhilippusevangeUum, während es beim "Evangelium der Wahrheit" (NHC 1,3) etwas anders aussieht. Hier lautet das Incipit: "Das Evangelium der Wahrheit ist eine Freude für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben ... " (p.16,31-35; zur Erinnerung: p.16 steht für Seite 16, und 31-35 gibt die Zeilen an). Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass "Evangelium" hier, beim "Evangelium der Wahrheit", noch den ursprünglichen Sinn der mündlichen Verkündigung des Heils bewahrt hat und dass in anderen Fällen das Etikett nur in analoger Weise gebraucht wird, um eine den neutestamentlichen Evangelien ebenbürtige Form der Heilsansage zu charakterisieren. Dann aber könnte man das Attribut "Evangelium" ohne Weiteres auch einer Schrift wie "Die Exegese über die Seele" (NHC II,6) oder "Das Apokryphon des Johannes" (gleich mehrfach vertreten, NHC II, 1 u.ö.; s.u. Kap. 8d) verleihen, und erst recht kämen die anderen "Dialogevangelien" (s.u. in Kap. 8) dafür in Frage, auch wenn sie im Text nicht "Evangelium" heißen. Wir müssen hier einen Kompromiss schließen und pragmatisch vorgehen. Nachdem das Ägypterevangelium schon in Kap. 4b besprochen wurde, behandeln wir im Folgenden die verbleibenden Texte, die mit dem Begriff "Evangelium" in Verbindung stehen. Dieses Auswahlkriterium mag sehr äußerlich wirken, führt uns aber zu drei bedeutenden Texten, die in der Diskussion eine gewichtige Rolle spielen: dem Thomasevangelium, dem Philippusevangelium und dem "Evangelium der Wahrheit".
a) Das Thomasevangelium (EvThom) Literatur: H. G. BETHGE, Appendix I. Das Thomas-Evangelium, in: K. ALAND (Hrsg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stutegart 151996 (2. korrigierter Druck 1997), 517-546.- B. BLATZ, in: NTApo 6 I, 93-113.- J. ScHRÖTER I H. G. BETHGE, in: Nag Hammadi Deutsch I, 151-181.- U. K. PuscH, Verborgene Worte Jesu 93-133.- D. LüHRMANN, Fragmente 106-131 (für die griechischen Fragmente POxy 1 und POxy
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Evangelien aus Nag Harnmadi
A. D. DECONICK, Recovering ehe Original Gospel ofThomas: A History of ehe Gospel and its Growth (Library of New Testament Studies 286), London 2005; DIES., 1he Original Gospel ofThomas in Translation: With a Commentary and a NewTranslation of ehe Complete Gospel (Library of New Testament Studies 287), London 2006. - M. FIEGER, Das Thomasevangelium. Einleitung, Kommentar, Systematik (NTA NF 21), Münster 1991. - R. VALANTASIS, The Gospel of Thomas (New Testament Readings), London- New York 1997.- J. LIEBENBERG, The Language of ehe Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in ehe Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and ehe Gospel ofThomas (BZNW 102), Berlin- New York 2001.- N. PERRIN, Thomas and Tatian: The Relationship between ehe Gospel ofThomas and ehe Diatesseron (Academia Biblica 5), Leiden 2002.- R. URo, Thomas: Seeking the Historkai Context of the Gospel ofThomas, London 2003.- R. NoRDSIECK, Das Thomas-Evangelium, Neukirchen-Vluyn 2004.- Material auch im Internet unter: http://home.epix. net/ ~miser 17/Thomas.html, und: http://huizen.dds.nl/ ~skirl/ gthomas/index.html.
(1) Zur Einordnung
Von allen Nag-Hammadi-Schriften zog das EvThom im zweiten Kodex (NHC II,2) die mit Abstand größte Aufmerksamkeit auf sich. Dafür gibt es verschiedene Gründe: (a) Ein von der Kindheitserzählung des Thomas (s.o. Kap. 5b) unterschiedenes Thomasevangelium wird in der Alten Kirche verschiedendich erwähnt und verwendet. Hippolyt zitiert daraus bei seiner Widerlegung der Naassener den Satz (Ref V 7,20): "Wer mich sucht, wird mich finden in Kindern vom siebten Jahr an, denn dort, im vierzehnten Äon verborgen, offenbare ich mich", zu dem es in EvThom 4 eine gewisse Parallele gibt. Origenes scheint unser EvThom zu kennen, Clemens von Alexandrien schreibt das Wort vom Suchen und Finden aus EvThom 2 dem EvHeb zu (s.o. Kap. 3a, Nr.l). In der "Pistis Sophia", einer anderen koptisch-gnostischen Schrift aus dem 3. Jahrhundert, beauftragt der Auferstandene auch Thomas mit der Niederschrift seiner Offenbarungsworte (I ,42f.). Mani und die Manichäer benutzten ein EvThom; es war, wie sich herausgestellt hat, das Unsrige. (b) Das EvThom besteht nur aus Worten Jesu, die gelegendich mit spärlichen Situationsangaben und ebenso spärlichen dialogischen Elementen versehen sind und die sich ihrerseits verschiedenen Kategorien der Wortüberlieferung zuordnen lassen. Wir finden Weisheitswarte (z. B. 45, 47), prophetische Worte (51, 111), Ich-Worte (61, 77), Bildworte und Gleichnisse (9~98), Seligpreisungen (18f.), Weherufe (103), Sprichwörter (31, 102), Gesetzesworte (53, 104), Gemeinderegeln (12, 25). Damit ähnelt das EvThom verblüffend der Logienquelle Q, die wir zwar nicht mehr besitzen, die von der Forschung aber als zweite Quelle für Matthäus und Lukas neben Markus postuliert wird und zur Hauptsache Redestoff umfasst. (c) Als der Text des koptischen EvThom zugänglich wurde, stellte man überrascht fest, dass man das EvThom bereits kannte, ohne es zu wissen. 1897 und 1904 sind in den ersten beiden Bänden mit Papyrusfunden aus dem ägyptischen Oxyrhynchos als POxy 1, POxy
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654 und POxy 655 sogenannte "Logia Iesou" in griechischer Sprache veröffentlicht worden, fragmentarisch überlieferte Jesusworte also, die man nicht recht einordnen konnte und die man deshalb unter anderem zum EvHeb schlug. Es zeigte sich, dass sie alle eine Parallele im Evlhom haben, und zwar entspricht, soweit noch identifizierbar, POxy 654 den Logien 1-7, POxy 1 den Logien 26-33 und POxy 655 den Logien 36-39.
Die drei soeben erwähnten Papyrusfragmente hängen nicht unmittelbar miteinander zusammen, sondern stammen aus drei verschiedenen Handschriften, deren älteste mit dem Textstück POxy 1 aufgrundpaläografischer Beobachtungen auf ca. 200 zu datieren ist. Schon auf diesem Weg gelangen wir für den Archetyp, der als Vorlage diente, bis ins 2. Jahrhundert zurück. Das ist schon deshalb nicht unwichtig, weil die in Nag Hammadi vorliegende koptische Fassung wie die übrigen Nag-Hammadi-Texte erst im 4. Jahrhundert abgeschrieben wurde, und zwar nach einer Vorlage, die selbst schon eine Übersetzung aus dem Griechischen ins Koptische darstellt. Der lange Überlieferungsweg, den das EvThom offenkundig zurückgelegt hat, hat Spuren hinterlassen. Wenn wir genauer hinsehen, stellen sich beim Vergleich zwischen den griechischen Logien aus den Oxyrhynchospapyri und ihren koptischen Pendants manche Unterschiede im Detail ein. Dabei erweist sich in der Regel die griechische Fassung als die ältere, während die koptische Züge einer sekundären Überarbeitung trägt. Das mahnt zu einer gewissen Vorsicht beim Umgang mit dem koptischen EvThom, in mehrfacher Hinsicht. So wurde fur das koptische EvThom nachgewiesen, dass es sich teils so eng mit d_en koptischen Bibelübersetzungen berührt, dass es von ihnen abhängig sein muss; aber das kann ein Effekt sein, der sich erst bei der Übertragung ins Koptische und während der mehrfachen Abschrift der koptischen Fassung einstellte und nichts über die Entstehungsverhältnisse des EvThom besagt. Trotz Ägypten als Fundort kommt als Abfassungsort fur das EvThom am ehesten Syrien in Frage, weil dort der Apostel Thomas besonders verehrt wurde und auch andere mit seinem Namen verbundene Schriften wie die Thomasakten in diesen Raum verweisen. Griechisch als Originalsprache lässt sich mit einer Entstehung in Syrien ohne Weiteres vereinbaren. Die Entstehungszeit ist aufgrund von POxy 1 vor 200 anzusetzen. Selbst bei vorsichtiger Schätzung wird man mit ca. 120-140 als Zeitpunkt des Abschlusses einer frühen Fassung rechnen dürfen. Die in der Forschung gehandelten Jahreszahlen unterscheiden sich davon teils erheblich. Hier ist auch von 50 und 60 n. Chr. als Abfassungszeit die Rede. Damit hängt ein anderes, nach wie vor sehr kontrovers diskutiertes Problem zusammen, nämlich das des Verhältnisses des EvThom zu den
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synoptischen Evangelien. Ein möglichst früher Entstehungszeitpunkt passt besser zur These der völligen Unabhängigkeit des EvThom von den Synoptikern, während eine spätere Abfassung mehr Raum für die Konstatierung der Abhängigkeit lässt. Doch stellt sich diese Frage eigentlich nur für einen Teil der Logien im EvThom, denn nur ca. die Hälfte von ihnen hat direkte Parallelen im Neuen Testament. Bei der verbleibenden anderen Hälfte kann man noch einmal unterscheiden zwischen Logien synoptischen Typs (unbekannte Gleichnisse z. B.) und ganz eigenständigen Offenbarungsworten, die dann stärker gnostischen Charakter tragen. Man wird gut daran tun, zunächst jedes Logion für sich zu beurteilen, ohne vorausgesetzte Quellentheorie, und sehen, was sich als Gesamtbild ergibt. Wir kommen darauf zurück. Mit dem Stichwort "Gnosis" haben wir einen zweiten Streitpunkt berührt: Wie gnostisch oder nicht gnostisch ist das EvThom? Auch hier kommt letztlich alles auf die Interpretation der Einzelworte an. Ein geschlossener gnostischer Kunstmythos wird im EvThom nicht entwickelt; es wäre deshalb methodisch unklug, alle Logien in ein solches Raster zu zwingen. Andererseits kann man einfach nicht leugnen, dass manche Sprüche durchsichtiger werden, wenn man ihre gnostischen Affinitäten erkennt, wie weiter unten am Beispiel von Logion 28 und Logion 50 noch gezeigt wird. Die fehlende Erzähllinie macht es schwer, wenn nicht unmöglich, den Inhalt des EvThom summierend wiederzugeben. Manchmal scheinen die Logien unverbunden nebeneinanderzustehen. Doch lassen sich nicht selten auch Stichwortanschlüsse ausmachen (Logion 25 und 26 haben den Begriff "Bruder" gemeinsam, Logion 7 und 8 das Wort "Mensch", Logion 28 und 29 das Stichwort "Fleisch", Logion 36 und 37 das Thema "Kleidung", in Logion 51 und 52 kommen die "Toten" vor, Logion 18 und 19 enden refrainartig mit: er "wird den Tod nicht schmecken", etc.). Ebenso stößt man auf kleine thematische Gruppierungen, die von mehreren Logien gebildet werden (die drei Gleichnisse in Logion 63, 64 und 65 z. B. handeln vom falschen Streben nach irdischen Gütern; in Logion 68 und 69 sind drei Seligpreisungen zusammengestellt, während Logion 102 und 103 eine Seligpreisung mit einem Wehruf kontrastieren; ein Grundgedanke in Logion 83, 84 und 85 ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen). Das Auftauchen von Dubletten besonders gegen Ende hin (vgl. Logion 80 mit Logion 56; Logion 81 mit Logion 2; das auch als Agraphon [s.o. Kap. lb, Nr. 8] bekannte Logion 82: "Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe, und wer mir fern ist, ist dem Königreich fern" mit Logion 10: "Ich habe Feuer in die Welt geworfen, und siehe, ich bewahre es, bis es lodert"; das Suchen und Finden
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in Logion 92 und 94 mit Logion 2, Logion 108 mit Logion 13 [s.u.]) kann man sowohl als Ansatz zu einer rahmenden Inklusio sehen wie auch als Hinweis auf die Tätigkeit eines Sammlers, der nicht immer einem durchdachten Gesamtplan folgt. Wir versuchen im nächsten Schritt, wenigstens einige inhaltliche Höhepunkte des EvThom vorzustellen und zu besprechen, damit ein kleiner Eindruck davon entsteht, was dieses Werk zu bieten hat. Ein Schwerpunkt liegt bei den Eingangslogien, die eine Art Programm entwerfen. Wir folgen dabei der gängigen Aufteilung in 114 Logien, auch wenn sie erst von den Herausgebern im 20. Jahrhundert geschaffen wurde. Wo nötig, geben wir auch die Feingliederung der Logien in Verse bei Bethge an, dem wir uns auch hinsichtlich der Übersetzung meist anschließen.
(2) Zum Inhalt -Das Incipit Der Titel "Evangelium nach Thomas" steht zwar erst in der Subscriprio des Werks, aber auch die als Logion 1 gezählte längere Überschrift enthält den Namen des Traditionsträgers und skizziert darüber hinaus ein Grundsatzprogramm: Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagre, und Didymos Judas lhomas schrieb sie auf. Und er sagre: "Wer die Deurung (hermeneia) dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken."
In gnostischen Texten wird "der lebendige Jesus" gerne als Bezeichnung für den Auferstandenen verwendet; das würde das EvThom in die Nähe der Dialogevangelien (s.u. Kap. 8) rücken. Aber einige der folgenden Worte sind aus der Perspektive des irdischen Jesus heraus formuliert (z. B. 12, 60f), und auch sonst wird deutlich, dass "lebendig" hier eher als zeitlos oder überzeitlich zu verstehen ist. "Lebendig" zielt auf die Person Jesu insgesamt, sofern sie überall und immer neu gegenwärtig wird durch ihr richtig interpretiertes -Wort. Der Traditionsträger heißt in PO:xy 654 nur: "Judas, der auch Thomas (genannt wird)". Den Doppelnamen "Judas Thomas" legt diesem Apostel, den wir besser unterseinem einfachen Namen "Thomas" kennen, vor allem die syrische Kirche bei, wohl im Anschluss an Joh 14,22: "Judas, nicht der Iskariot" (syrische Textzeugen lesen hier teils "Judas Thomas"). Während "Judas" ein gängiger Eigenname ist, auch im Jüngerkreis, wie wir sehen,
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bedeutet der Beiname "Thomas" auf Aramäisch soviel wie "Zwilling", und genau das ist auch der Sinn des griechischen Wortes "Didymos", das im Koptischen noch als Lehnwort hinzutritt. Gleich doppelt wird uns dieser Judas somit als "Zwilling" vor Augen gestellt. Vielleicht verbirgt sich dahinter schon jene weitreichende Folgerung, die das "Buch des Thomas" (s.u. Kap. 8b) und die syrischen Thomasakten daraus ziehen: Judas Thomas ist der Zwillingsbruder Jesu (vgl. Mk 6,3), sein irdischer Doppelgänger und Steilvertreter. Während die Jesusworte von Logion 2 an stereotyp eingeleitet werden mit der präsendsehen Formulierung "Jesus spricht", steht in der zweiten Hälfte der Überschrift in POxy 654 die Vergangenheitsform: "Und er sagte". Das legt die Vermutung nahe, dass hier noch nicht Jesus Subjekt ist, sondern vorerst noch Thomas redet. Er formuliert die Aufgabe, die ansteht: "Wer die Deutung dieser Worte findet", und er nennt den Lohn, der für ihre Erfüllung ausgesetzt ist: "der wird den Tod nicht schmecken" (vgl. Joh 8,51). Das dem Tod nicht mehr verfallene Leben, das hier in Aussicht gestellt wird, transzendiert die Bedingungen des irdisch-physischen Lebens und hat als spirituelle Größe etwas Unzerstörbares, die Zeit Überdauerndes an sich. Dass Thomas überhaupt als Zwischeninstanz zwischen Jesus und den Adressaten eingeschaltet werden muss, hängt mit dem besonderen Charakter dieser Worte Jesu zusammen: Es sind verborgene Worte, "apokryphe" im Griechischen, die einer kundigen Deutung bedürfen; hier verwendet auch der koptische Text das griechische Lehnwort hermeneia. Ein "hermeneutisches" Unternehmen ist also angesagt (vgl. auch Logion 5). An der Textoberfläche zu bleiben und sich dann unter Umständen über die scheinbare Sinnlosigkeit mancher Aussagen zu wundern, genügt nicht. Wer sich damit begnügt, versäumt das Wesentliche. Es ist daher kein Zufall, dass gerade im Ev1hom so oft der so genannte "Weckruf' auftaucht, der als Aufmerksamkeitssignal fungiert: "Wer Ohren hat zu hören, soll hören" (in 8, 21, 24, 63, 65, 96; vgl. Mk 4,9 u.ö.). - Das Königreich
An die Aufforderung im Proömium, "die Deutung dieser Worte zu finden", schließt sich in Logion 2 sehr passend das Wort vom ständigen Prozess des Suchensund Findensan (den Text s.o. in Kap. 3a, Nr. 1), ein Prozess, der unverdrossen voranzutreiben ist, bis das verheißene Ziel erreicht wird. Der koptische Text umschreibt dieses Ziel mit "und er wird König sein über
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das All"; POxy 654 hat noch die Fortsetzung "und er wird Ruhe finden". Die in Logion 2 (koptisch) noch vermisste Ruhe trägt die koptische Fassung in Logion 90 nach: "Kommt zur mir, denn mein Joch ist sanft, und meine Herrschaft ist mild. Und ihr werdet Ruhe finden für euch" (vgl. Mt 11,28-30). Von der unaufhörlichen Arbeit des Deutens und Verstehens handelt auch der Makarismus in Logion 58: "Selig ist der Mensch, der sich abgeplagt hat. Er hat das Leben gefunden." Im Anschluss an "und er wird König sein" am Ende von Logion 2 führt Logion 3 mit dem "Königreich" einen weiteren Leitbcgriff ein: Jesus spricht: "Wenn die, die euch vorangehen [POxy 654 hat: verführen], zu euch sagen:,Siehe, im Himmel ist das Königreich!', dann werden euch die Vögel des Himmels zuvorkommen. (2) Wenn sie zu euch sagen:,Es ist im Meer', dann werden euch die Fische zuvorkommen. (3) Vielmehr: Das Königreich ist innerhalb von euch und außerhalb von euch. (5) Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden [POxy 654 hat den Singular: Wer sich selbst erkennt, wird dieses finden], und ihr werdet begreifen, dass ihr Kinder des lebendigen Vaters seid. (6) Wenn ihr euch aber nicht erkennt - in der Armut seid ihr, und ihr seid die Armut."
Auch in der synoptischen Apokalypse treten in Mk 13,21f. parr Verführer auf mit der Kunde: "Seht, hier ist der Christus, oder: Seht, dort ist er!" Das koptische EvThom könnte bei denen, "die euch vorangehen", sogar an kirchliche Amtsträger und Theologen denken, die lehren, die Königsherrschaft Gottes sei ein rein jenseitiges Gut. Das karikiert das EvThom zunächst durch den Hinweis auf die Vögel des Himmels und das anschließende Beispiel vom Meer und den Fischen (vgl. Dtn 30,12f.). Es folgt in V. 3 eine positive Formulierung, die mit Lk 17,20f. ("Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch") vergleichbar ist. Die Präsenz des Reichs versteht EvThom 3,3 zugleich individuell ("innerhalb von euch") und überindividuell ("außerhalb von euch"). Es ist gleichsam ins Herz jedes Glaubenden gesenkt und dort bei zielgerichteter Innenschau anzutreffen; es geht aber darin nicht völlig auf, sondern besitzt weiterhin auch eine externe Dimension, weil es eine Reihe von Einzelnen gibt (s.u.), die an diesem Wissen partizipieren. Dass es sich wesentlich um ein Wissen bzw. Erkennen handelt, das aus dem Prozess des Suchens und Findens nach der verborgenen Bedeutung der Jesusworte resultiert, unterstreicht V. 5. Wem diese Einsicht fehlt, der ist, so V. 6, "arm dran". Es liegt auf der Hand, dass Jesu Botschaft von der anbrechenden Herrschaft Gottes hier ihres zukünftigen Gehalts entkleidet und das verheißene
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Reich als spirituelle, zeitlose Größe neu konstituiert wird. Das Königreich kann allerdings auch da, wo es realisiert wird, unterschiedliche Grade an Vollkommenheit aufweisen. Über weitere Logien, die das Königreich direkt thematisieren (z. B. 20, 22, 27, 46, 49, 54 etc.), lässt sich bereits ein großer Bogen schlagen zum vorletzten Logion 113: Seine Jünger sprachen zu ihm: "Das Königreich - an welchem Tag wird es kommen?" Oesus sagr): "Nicht im Erwarten wird es kommen! Sie werden nicht sagen:,Siehe, hier!', oder,Siehe, dort!' Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und . die Menschen sehen es nicht."
- Einzig, einzeln, eins Oie Ieitmotivische Arbeit, die in den ersten Logien geleistet wird, reißt so schnell nicht ab, sondern wird in Logion 4 mit nicht nachlassender Intensität fortgesetzt: Jesus spricht: "Der Mensch, alt in seinen Tagen, wird nicht zögern, ein kleines Kind von sieben Tagen über den Ort des Lebens zu befragen, und er wird leben. (2) Denn viele Erste werden Letzte sein. (3) Und sie werden ein einziger (monachos) sein."
Wenn sich Greis und Säugling, Letzter und Erster begegnen, schließt sich ein Kreis. Es besteht dann die Chance, an den Anfang zurückzukehren (vgl. Logion 18,3: "Selig ist, der im Anfang stehen wird. Da wird er das Ende erkennen ... "),vielleicht sogar an den Anfang, der jeder irdischen Existenz vorausliegt (Logion 19,1: "Selig ist, wer war, bevor er wurde") und jene unheilvolle Zerteilung noch nicht kennt, von der Logion 11,4 spricht: ,,An dem Tage, als ihr einer wart, seid ihr zwei geworden. Wenn ihr aber zwei geworden seid, was werdet ihr tun?" Der Idealzustand lässt sich daher umschreiben mit monachos, "einzig" oder "Einzeln" (damit hängt sprachlich der "Mönch" zusammen). Das schärfen auch andere Worte immer wieder ein: "Sie werden dastehen als einzelne" (16,4); "Selig sind die Einzelnen, die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich finden" (49, 1); "Viele stehen vor der Tür, aber die Einzelnen sind es, die in den Hochzeitsaal hineingehen werden" (75). Das könnte auch der ursprüngliche Sinn von Logion 30 sein, das in seiner koptischen Fassung ("Wo drei Götter sind, sind es Götter. Wo zwei oder einer ist, bin ich mit ihm") große Probleme macht. Oie griechische Version in POxy 1 erlaubt nämlich auch die Rekonstruktion: "Wo auch immer drei sind, sind sie ohne Gott. Und wo einer allein ist, sage ich:,lch bin mit ihnen'." Damit wäre Mt 18,20 rundweg auf den Kopf gestellt. Nicht da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, ist Jesus
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anzutreffen, ganz im Gegenteil: Das ist eine "gottlose" Veranstaltung. Jesus hält sich bei den Vereinzelten auf. Damit wird nicht zuletzt auch eine Aussage gemacht über Selbstbewusstsein und Erfahrungswelt der Adressaten des EvThom. Sie sind wenige, einzelne, die am Rande leben, dies aber als Privileg betrachten, getreu dem Jesuswort: "Ich werde euch auserwählen, einen aus tausendundzwei aus zehntausend. Und sie werden dastehen als ein einziger" (23). Wahrscheinlich haben diese "einzelnen" dennoch kleine Gruppen gebildet, die unter dem Dach größerer Gemeindeverbände ihr Eigenleben führten. Wo es nur wenige gibt, ist jeder besonders kostbar, deshalb die Mahnung: "Liebe deinen Bruder wie dein Leben! Behüte ihn wie deinen Augapfel!" (25). -Das Fasten In Logion 6 kommen zum ersten Mal die Jünger zu Wort, und sie fragen Jesus nach den drei klassischen Werken der Frömmigkeit, nämlich Fasten, Beten und Almosengeben. Jesus weicht der Frage zunächst aus, wenn er sie mit den Worten beantwortet: "Lügt nicht, und tut nicht das, was ihr hasst", greift sie aber später wieder auf (vgl. 14) und interpretiert das Fasten schließlich als prinzipielle Enthaltsamkeit gegenüber der Welt, in deren Getriebe sich der Suchende nicht zu sehr verstricken soll (vgl. 27, auch 21,6). Mit Logion 42, das wir schon zum Agraphon von der Welt als Brücke (s.o. Kap. 1b, Nr. 20) herangezogen haben, kann man das auf den Nenner bringen: "Werdet Vorübergehende". -Löwe und Mensch Besonders rätselhaft mutet das Logion 7 an, das erfahrungsgemäß bei allen, die das EvThom zum ersten Mal lesen, nur Kopfschütteln hervorruft: Jesus spricht: "Selig ist der Löwe, den der Mensch essen wird, und der Löwe wird Mensch sein. Und abscheulich ist der Mensch, den der Löwe essen wird, und der Löwe wird Mensch sein."
Man kann als Erstes fragen, ob es am Schluss nicht sinngemäß heißen muss: "und der Mensch wird Löwe sein"; dann wäre zumindest sprachlich die Reziprozität gewahrt: Der Löwe wird, vom Menschen gegessen, zum Menschen, und der Mensch wird, vom Löwen gegessen, zum Löwen. Es läge dann im Koptischen ein Überlieferungsfehler vor. Man gelangt dann auch zu einer ersten, allgemeinen Sinngebung: Der Essende assimiliert das, was er isst, und verwandelt es in einen Bestandteil seiner selbst. Noch
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krasser: Selbst Löwenfleisch, einmal verzehrt, baut die Muskulatur beim Menschen auf, verleiht ihm vielleicht sogar nach volkstümlicher Ansicht besondere Kraft und Stärke. Den Schlüssel zum Verständnis von Logion 7 findet man aber erst, wenn man erkennt, dass hier Rudimente platonischer Anthropologie verarbeitet werden. An jener Stelle seiner Politeia, die in mangelhafter Übersetzung auch in Nag Hammadi vorliegt (Pol 588B-589B = NHC Vl,S p.48,1651,23), zeichnet Platon ein Abbild der Seele, die drei Gestalten in sich vereinigt: (1) ein vielköpfiges Ungeheuer, das für die mannigfaltigen Begierden steht, (2) einen Löwen, der den ungestümen Zorn verkörpert, und (3) einen Menschen, der als Inbegriff der Vernunft eigentlich die Kontrolle ausüben sollte. Das Verzehren des Löwen durch den Menschen symbolisiert somit den Sieg der besonnen Vernunft über die bloße Leidenschaft (ein neuer Interpretationsvorschlag findet sich bei A. CrusLIP, Lion and Human in Gospel oflhomas Logion 7, in: JBL 126 [2007] 595-613). - Ein Gleichnis ohne Deutung Beim aus Mk 4,3-8 parr bekannten Gleichnis vom Sämann, das Logion 9 in gestraffter Form wiedergibt, fällt auf, dass die nachträglich angefügte allegorische Deutung aus Mk 4,14-20 parr gänzlich fehlt. Daraus wird oft gefolgert, EvThom 9 biete das Gleichnis in einer älteren, vorsynoptischen Fassung. Aber dieser Schluss ist keinesfalls zwingend. Es kann ebenso gut sein, dass auf die Deutung und auf deutende Elemente im Erzählstück selbst bewusst verzichtet wurde, weil durch sie vorweggenommen und in bestimmter Richtung festgelegt würde, was dem EvThom zufolge die Hörer erst noch in einem offenen Suchprozess selbst leisten sollen: die richtige Bedeutung dieser verborgenen Worte zu finden. - Thomas und andere Jünger In Logion 12 verweist Jesus die Jünger an Jakobus den Gerechten als nachösterliche Autoritätsfigur, was noch Spuren einer Tradierung der hier verarbeiteten Stoffe in judenchristlichem Milieu sichtbar macht. Daran, dass die eigentliche Führungsrolle Thomas gehört, lässt das anschließende Logion 13 keinen Zweifel: (1) ]esus sprach zu seinen Jüngern: "Vergleicht mich und sagt mir, wem ich gleiche." (2) Simon Petrus sprach zu ihm: "Du gleichst einem gerechten Boten (oder Engel)." (3) Matthäus sprach zu ihm: "Du gleichst einem besonders klugen Philosophen."
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(4) 1homas sprach zu ihm: "Lehrer, mein Mund vermag es ganz und gar nicht zu ertragen zu sagen, wem du gleichst." (5) fesus sprach: ,.Ich bin nicht dein Lehrer. Denn du hast getrunken, du hast dich berauscht an der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen habe." (6) Und er nahm ihn, und er zog sich zurück, und er sagte ihm drei Worte. (7) Als Thomas aber zu seinen Gefahrren kam, befragten sie ihn: "Was hat dir Jesus gesagt?" (8) 1homas sprach zu ihnen: "Wenn ich euch eines von den Worten sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine aufheben und auf mich werfen, und Feuer wird aus den Steinen herauskommen und euch verbrennen."
In ihrer Gesamtanlage erinnert diese Perikope zunächst an die Messiasfrage bei Caesarea Philippi in Mk 8,27-30. Dort fragt Jesus seine Jünger, für wen ihn die Leute halten, und Petrus referiert einige Antworten ("für Elija", "für einen von den Propheten"), ehe er selbst richtig feststellt: "Du bist der Messias". Dieser Vergleich fördert auch aufBillige Verschiebungen zutage. Die Leute spielen keine Rolle mehr. Referiert wird jetzt die Meinung anderer jünger, und nicht Petrus, sondern Thomas gibt die richtige, nämlich ausweichende Antwort. Bei Markus verhält es sich sodann des Öfteren so, dass Jesus nach einer Belehrung der Menge seine jünger beiseite nimmt und ihnen eine gesonderte Auslegung gibt (z. B. in Mk 10,10-12). In EvThom 13 wird für diese geheime Offenbarung Thomas aus der Zahl der anderen jünger ausgesondert. Man kann das so deuten, dass der ganze Ablauf sich jetzt in den innerchristlichen, innerkirchlichen Raum verlagert hat. Die Menge der Außenstehenden spielt keine Rolle mehr, die Jünger repräsentieren die Kirchenchristen und Thomas repräsentiert eine kleine, elitäre Gruppe, die sich tieferer Einsichten rühmt und die wir mangels besserer Bezeichnungen "Gnostiker" nennen können. Die Antworten, die Sirnon Petrus und Matthäus geben, sind denn auch nicht völlig falsch, wenn sie auf eine alte Boten- oder Engelchristologie rekurrieren und Jesus als erfolgreichen philosophischen Lehrer charakterisieren, aber sie genügen andererseits auch nicht. Thomas trifft das Richtige, wenn er erklärt, die Sprache sei grundsätzlich unzulänglich, um hinreichende Aussagen über Jesus zu machen. Daraufhin kann Jesus im Fall des Thomas die Anrede als "Lehrer" zurückweisen, nicht, weil auch sie hinter seiner tatsächlichen Würde zurückbleibt, sondern weil Thomas seiner als eines Lehrers nicht mehr bedarf Thornas hat bereits teil an der verborgenen Weisheit, was V. 5 mittels der Metaphorik vom Trinken (vgl. Joh 7,37f) und von der sprudelnden Quelle (vgl. Joh 4,14), die Jesus selbst angelegt hat, anschaulich macht. Dass dieses Trinken .Angleichung an Christus und Offenbarungsempfang zur Folge hat, präzisiert über 13,5 hinaus gegen Ende des EvThom hin das Logion 108:
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Jesus spricht: "Wer von meinem Mund trinken wird, wird werden wie ich. Ich selbst werde zu ihm werden, und was verborgen ist, wird sich ihm offenbaren."
Deshalb ist, so wieder 13,6, nur Thomas jener Sonderbelehrung würdig, die in drei Worten besteht, die so unerhört sind, dass sie nicht einmal den anderen Jüngern weitergesagt werden dürfen. Darin reflektiert sich, wenn wir auch das zu übersetzen versuchen, die Erfahrung, die Anhänger der hier vertretenen esoterischen Form christlichen Glaubens und Lebens gemacht haben: Ihre zentralen Einsichten konnten sie nicht in die Gemeinden hinein vermitteln. Dafür waren sie zu skandalös, ja sie klangen für fromme Ohren geradezu blasphemisch. Die naheliegende Reaktion der Kirchenchristen, nämlich der Versuch der Steinigung der Abweichler als Strafe für Gotteslästerung, würde aber auf die Urheber zurückfallen. Übrig bleibt nur das Schweigen als die für alle Beteiligten günstigste Strategie. - Ein Pauluszitat Nach 1 Kor 2,9 verkündet Paulus, "wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben". Nach diesem Schriftzitat hat die Forschung bisher vergeblich gesucht; in unserem Alten Testament steht dieser Vers so nicht. In EvThom 17 aber hören wir, dass jesus gesagt habe: Ich werde euch das geben, was kein Auge gesehen und was kein Ohr gehört hat und was keine Hand berührt hat und was nicht in den menschlichen Sinn gekommen ist.
Liegt bei Paulus also ein Agraphon vor (s.o. Kap. 1)? Zitiert er tatsächlich ein verdecktes Jesuswort? Eher müssen wir mit der anderen in Kap. 1 erörterten Möglichkeit rechnen, dass Stellen aus der neutestamentlichen Briefliteratur, vor allem so schwierige Stellen wie diese, nachträglich in Jesusworte umgewandelt wurden. - Aus zwei mach eins Wie ein Kind muss man das Reich Gottes annehmen, um hineinzugelangen, hatte Jesus in Mk 10,15 in einem Bildwort ausgeführt. Damit berührt sich das Jesuswort, das mit einer Rahmenangabe in EvThom 22,1f. noch erhalten ist. Die Szene wird in 22,3 durch eine Jüngerfrage fortgesetzt, die eine in sich komplexe, wohl in zwei oder drei Schüben entstandene Ant-
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wort]esu in 22,5f. provoziert, ehe in 22,7 die ganze Komposition wieder in das Hauptthema vom Eingang in das Königreich einmündet: (1) Jesus sah kleine Kinder, die gestillt wurden. (2) Er sprach zu seinen Jüngern: "Diese Kleinen, die gestillt werden, gleichen denen, die
in das Königreich eingehen." (3) Sie sprachen zu ihm: "Werden wir denn als Kleine in das Königreich eingehen!'' (4) Jesus sprach zu ihnen: "Wenn ihr die zwei zu einem macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Obere wie das Untere (5) -und zwar damit ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, auf dass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich sein wird-, (6) wenn ihr Augen macht anstelle eines Auges und eine Hand anstelle einer Hand und einen Fuß anstelle eines Fußes, eine Gestalt anstelle einer Gestalt, (7) dann werdet ihr eingehen in das Königreich."
Die Antwort Jesu bringt in V 4 ein inzwischen bekanntes Motiv zum Erklingen: Aus zwei soll wieder eins werden. Es gilt, eine unheilvolle Trennung, die auch durch die Gegensatzpaare Innen/Außen und Oben/Unten illustriert wird, zu überwinden. Die Parenthese in V 5 gibt diesem Gedanken eine wichtige neue Wendung, und zwar mithilfe eines Satzes, der als außerkanonisches Herrenwort auch im EvÄg (griech.) und in 2 Clem 12,2 belegt ist (s.o. Kap. 4a): Auch die Zweigeschlechtlichkeit, das Vorkommen des real existierenden Menschen als Mann oder Frau, grundgelegt im ersten Schöpfungsbericht in Gen 1,27, dokumentiert bereits diese Trennung. Erlösung bedeutet, Männliches und Weibliches zu transzendieren auf eine neue Einheitsgröße hin. Im Blick auf Logion 114 (s.u.) ist noch festzuhalten, dass hier egalitär gedacht und formuliert wird; es scheint kein Gefälle in der Wertung zwischen Männlich und Weiblich zu bestehen. Das Auswechseln von Auge, Hand, Fuß und Gestalt in V 6 schließlich könnte mit den schockierenden Sprüchen in Mk 9,43. 45.47 zusammenhängen ("Wenn dir dein Fuß zum Ärgernis wird, hau ihn ab", etc.). Gesagt werden soll, dass das Königreich in jeder Hinsicht einen neuen Menschen verlangt, der mit seinem alten Dasein gründlich abgeschlossen hat. -Eine "gnostische" Situationsbeschreibung Im Streit darüber, wie gnostisch oder nicht gnostisch das EvThom sei, spielt Logion 28 eine nicht zu unterschätzende Rolle: Jesus spricht: "Ich stand in der Mitte der Welt, und ich offenbarte mich ihnen im Fleisch. (2) Ich fand sie alle trunken. Niemanden unter ihnen fand ich durstig. (3) Und meine Seele empfand Schmerz über die Kinder der Menschen, weil sie blind sind in ihrem Her-
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zen, und sie sehen nicht; denn leer kamen sie in die Welt und suchen auch wieder leer aus der Welt herauszukommen. (4) Doch jetzt sind sie trunken. Wenn sie jedoch ihren Weinrausch abschütteln, dann werden sie umdenken."
Selbst ein Interpret, der von einer gnostischen Gesamtdeutung wegkommen möchte, räumt ein: "Von allen Worten des lhomasevangeliums ist dies dasjenige, das am klarsten den traditionellen gnostischen Erlösermythos zum Ausdruck bringt" (Valantasis 103). In klassischen gnostischen Texten tritt immer wieder die Gestalt eines Erlösers unerkannt in der Welt auf und findet die Menschheit trunken, berauscht, blind und schlafend vor. Die Funktion des Erlösers besteht vor allem darin, Träger des Rufes zu sein, der an die Menschen ergeht und der einige von ihnen aufrüttelt und zur Selbsterkenntnis führt. Zum festen Repertoire gnostischer Themen gehört auch der Aufstieg der Seele durch verschiedene himmlische Bereiche bis zum höchsten Himmel, sei es in einer visionären Schau, sei es als Heimkehr zum Ursprung nach dem Tod. Dieser Weg ist gefährdet, weil die unteren Himmel von widerständigen Mächten besetzt sind. Ihnen gegenüber muss sich die Seele ausweisen durch Kennworte und Zeichen. Genau diese Konstellation liegt in Logion 50 vor: Jesus spricht: "Wenn sie zu euch sagen:,Woher stammt ihr?', dann sagt ihnen:,Wir sind aus dem Licht gekommen, dem Ort, wo das Licht entstanden ist aus sich selbst, sich hingestellt hat und in ihrem Bild erschienen ist'. (2) Wenn sie zu euch sagen:,Seid ihr es?', dann sagt:,Wir sind seine Kinder, und wir sind die Erwählten des lebendigen Vaters.' (3) Wenn sie euch fragen:,Was ist das Zeichen eures Vaters unter euch?', dann sagt ihnen:,Bewegung ist es und Ruhe.'"
Ein Charakteristikum der Gnosis ist eine dualistische Kosmologie, in deren Rahmen Materie und Leiblichkeit als rein negative Größe angesehen werden. Das Evlhom legt kein völlig negatives, wohl aber ein gebrochenes Welrverhältnis an den Tag, wenn es Jesus z. B. sagen lässt: "Wer die Welt erkannt hat, hat eine Leiche gefunden. Und wer diese Leiche gefunden hat, dessen ist die Welt nicht würdig" (56; vgl. 80). Wenn wir die im Urchristentum bekannte Gewandmetaphorik zugrunde legen, die den menschlichen Leib als eine Art Kleid versteht (vgl. 2 Kor 5,1-4), macht Logion 37 (vgl. auch 29) eine Aussage darüber, dass die Leiblichkeit letztlich überwunden werden muss (und dass sich die "Schamlosigkeit" aus Gen 2,25 wieder einstellen soll): Seine Jünger sprachen: "Wann wirst du uns erscheinen, und wann werden wir dich sehen?" (2) Jesus sprach: "Wenn ihr euch entkleidet, ohne dass ihr euch geschämt habt und nehmt eure Kleider und legt sie unter eure Füße wie kleine Kinder und trampelt darauf. (3) Dann werden ihr den Sohn des Lebendigen sehen, und ihr werdet euch nicht fürchten."
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Das alles bedeutet nicht, "dass alle Sprüche des Thomasevangeliums gnostisch seien", wohl aber, "dass einige Sprüche Aspekte gnostischer Theologie und Mythologie aktualisieren" (Valantasis 103) und vor diesem Hintergrund besser verständlich werden. _ Synoptische und johanneische Stoffe Warum das Verhältnis des EvThom zu den synoptischen Evangelien strittig ist, kann man sich z. B. anhand des kurzen Logions 31 klarmachen: Jesus spricht: "Kein Prophet ist willkommen in seinem Dorf. Ein Arzt heilt nicht die, die ihn kennen."
Das Wort vom Propheten, der in seiner Heimat nichts gilt, spricht Jesus in Mk 6,4 anlässtich seines Besuchs in Nazaret, und in 6,5 werden im Erzählreferat einige wenige Heilungen erwähnt, die er dort trotz allem vollbrachte. Lukas hat Jesu Heimatbesuch zu der großen Szene mit Jesu Antrittspredigt in der Synagoge von Nazaret ausgebaut (Lk 4, 16-30). Er zitiert den Ausspruch über den Propheten in 4,24, schickt aber in 4,23 das Sprichwort voraus ,,Arzt, heile dich selbst", das die Bewohner Nazarets Jesus entgegenhalten werden. Das eine der beiden konkurrierenden Erklärungsmodelle nimmt an, EvThom 31 enthalte die älteste Form dieser Überlieferung. Markus habe das Sprichwort vom Atzt in Handlung umgesetzt, Lukas habe es hingegen in abgewandelter Form zitiert, auch wenn er die Reihenfolge veränderte. Normalerweise gehen wir aber bei der Synoptikerexegese anders vor. Wir nehmen an, dass Lukas seine Nazaretperikope auf der Basis von Mk 6,1-6 im Wesentlichen selbst geschaffen hat und bei der Gelegenheit das bekannte Sprichwort vom Atzt erst einbrachte, ohne es inhaltlich schon an das Wort vom Propheten anzugleichen. Wenn man das weiterdenkt, gelangt man zu dem zweiten Modell, das meines Erachtens nach wie vor das plausiblere ist: Das EvThom schreibt die Enrwicklungslinie von Markus zu Lukas weiter fort, isoliert die beiden Sprüche aus ihrem von Lukas erst geschaffenen Erzählkontext, gleicht sie aneinander an und stellt sie um. In Mk 12,1-9 erzählt Jesus das Gleichnis von den bösen Weinbergspächtern, die den Sohn des Eigentümers töten. Es folgt in Mk 12,10f. ein interpretierendes Zitat aus Ps 118,22f., das vielleicht erst Markus, vielleicht aber auch schon die vormarkinische Tradition hinzugefügt hat: "Habt ihr nicht das Schriftwort gelesen:,Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden; das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder'?" Im Gleichnis und in seiner Rahmung, wo
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seine Gegner erbost reagieren, wird Jesus verworfen, im deutenden Zitat wird er wieder rehabilitiert. Das Gleichnis von den Weinbergpächtern wird in EvThom 65 in etwas strafferer Form wiedergegeben, in EvThom 66 folgt unverbunden: Jesus spricht: "Zeigt mir den Stein, diesen, den die Bauleute verworfen haben. Er ist der Eckstein."
Wenn man bedenkt, dass das EvThom das Alte Testament sonst nie wörtlich zitiert, wirkt dieses - als solches nicht kenntlich gemachte - Psalmzitat besonders unmotiviert. Die These, dass es nur zufällig hier stehe und eine innere Verbindung zwischen den beiden Einheiten erst sekundär in der Markusfassung hergestellt werde, strapaziert meines Erachtens die Einbildungskraft allzu stark. Viel einfacher erscheint die Vermutung, dass das EvThom die künstlich entstandene Verbindung von Gleichnis und Psalmvers vor Augen hatte, den gedanklichen Zusammenhang aber wieder rückgängig machen wollte, z. B., weil ein Gleichnis keiner Deutung bedarf. Der Weckruf, der in EvThom 65,8 neu zum Gleichnis hinzutritt, genügt. Eine fast pantheistisch wirkende All-Präsenz Jesu deutet Logion 77 an (allerdings sind V. 2 und 3 in POxy 1 mit Logion 30 verbunden, nicht mit Logion 77): Jesus spricht: "Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen, und zu mir ist das All gelangt." (2) "Spaltet ein Stück Holz- ich bin da. (3) Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden."
Hier fühlt man sich in V. 1 nicht nur durch die Lichtmetaphorik in die Welt des Johannesevangeliums versetzt (vgl. Joh 8,12: "Ich bin das Licht der Welt"), sondern auch durch die Mitwirkung Jesu bei der Entstehung des Alls, heißt es doch im Johannesprolog unter anderem: ,,Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn wurde nichts" Qoh 1,3; vgl. 1,9f.). Die gängige Auskunft, unmittelbare Berührungen zwischen dem EvThom und dem Johannesevangelium bestünden nicht, wird man noch einmal zu überdenken haben. - Zwei unbekannte Gleichnisse Neben den Jesusgleichnissen, die Parallelen bei den Synoptikern haben, finden sich im EvThom auch einige unbekannte Stücke. Eines davon ist Logion 97, und ein weiteres schließt sich in Logion 98 unmittelbar an (sodass sich mit dem Gleichnis vom Sauerteig in Logion 96 zusammen eine Gleichnistrilogie ergibt):
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(97) Jesus spricht: "Das Königreich des Vaters gleicht einer Frau, die einen Krug trägt, angefüllt mit Mehl. Während sie auf dem Weg ging und weit entfernt von zu Hause war, brach der Henkel des Kruges, und das Mehl rieselte hinter ihr auf den Weg. Sie jedoch wusste es nicht; sie hatte kein Missgeschick wahrgenommen. Als sie in ihr Haus gelangt war, stellte sie den Krug auf den Boden und fand ihn leer." (98)Jesus spricht: "Das Königreich des Vaters gleicht einem Menschen, der einen mächtigen Menschen töten wollte. Er zückte das Schwert in seinem Haus und stach es in die Wand, damit er erfahre, ob seine Hand stark genug sei. Dann tötete er den Mächtigen."
Man mag sich fragen, wieso das Mehl aus dem Krug rieselt, wenn nur der Henkel bricht, aber auch vertraute Jesusgleichnisse strapazieren die erfahrbare Wirklichkeit oft über Gebühr. Der Krug dient als Symbol für den Menschen, der sich plötzlich "leer" vorfindet, ausgebrannt, ohne Innenleben und ohne eine "gehaltvolle" Existenz. Das "Gleichnis vom Attentäter" schärft Entschlossenheit und Selbstprüfung angesichts einer großen Aufgabe ein. Von der Bilderwelt her berührt es sich mit der Überwindung des Starken in Mk 3,27 (vgl. EvThom 35) und dem zum Krieg entschlossenen König in Lk 14,31f., bleibt aber dennoch anstößig genug, wie andere Jesusgleichnisse auch (vgl. Lk 16, 1-8). Es kann sein, dass diese unbekannten Gleichnisse nur wegen ihrer Unbekanntheit so seltsam und fremd wirken. Dass sie von Jesus stammen oder zumindest ein traditionsgeschichtlich hohes Alter aufweisen, steht zwar nicht so fest, wie manchmal getan wird, lässt sich aber als Möglichkeit auch nicht völlig von der Hand weisen. - Durchblicke auf die Situation Wir hatten verschiedentlich schon nach der Situation der Tradenten und Leser des EvThom gefragt, auch wenn der Text solche Durchblicke nur selten freigibt. Man kann aber weitere Vermutungen anstellen. Wenn z. B. Logion 34 das Bildwort anführt: "Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen beide hinab in eine Grube" (vgl. Lk 6,39), könnte das im Kontext Kritik am Führungsanspruch einer kirchlichen Hierarchie beinhalten. Auch Logion 39 (mit der Sachparallele in Logion 102) gibt diesen Sinn her, wenn man die Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Schlüssel der Erkenntnis verstecken und Suchenden den Zutritt verweigern, auf Amtsträger deutet. Beim Wort von der unvergebbaren Sünde wider den Heiligen Geist in Logion 44 wäre es möglich, es gegen Kritiker gerichtet zu sehen, die am Autoritätsanspruch des EvThom und seiner Botschaft zweifeln. Die Nag-Hammadi-Schriften sind, sagten wir eingangs, in der Nähe alter koptischer Mönchsklöster wiederentdeckt worden. Man kann sich gut vorstellen, dass für Mönche ein Wort wie EvThom 36: "Tragt nicht Sorge
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vom Morgen bis zum Abend und von der Abendzeit bis zum Morgen, was ihr anziehen werdet" (in POxy 655 noch fortgesetzt) besondere Aktualität besaß, und es macht durchaus Sinn, einmal alle asketischen und weltverneinenden Logien des EvThom aus dieser Perspektive zu lesen. - "Maria männlich machen" Das zuletzt Gesagte ließe sich selbst bis in das Schlusslogion 114 hinein durchziehen: Frauen haben in Männerklöstern nichts zu suchen. Ansonsten schlägt EvThom 114 noch einmal einen Grundakkord des Ganzen an, der jetzt aber in einer etwas dissonanteren Tonart erklingt: Sirnon Petrus sprach zu ihnen (den anderen Jüngern): "Matia soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht wert." Jesus sprach: "Siehe, ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist werde." Denn (es gilt): Jede Frau, die sich männlich macht, wird eingehen in das Reich der Himmel.
Angesprochen ist Maria Magdalena, die uns unten im EvPhil und im EvMar erneut beschäftigen wird. Wenn Petrus sie aus der Mitte der Jünger verbannen will, bringt er großkirchliche Vorbehalte gegen die Mitwirkung von Frauen in den Gemeinden zur Geltung. Jesus ergreift, das ist als Positivum festzuhalten, die Partei der Maria und stellt sie auf eine Stufe mit den Jüngern. Das hat allerdings einen Preis. Wie im Ägypterevangelium (s.o. Kap. 4a) wird- im Anschluss an den zweiten Schöpfungsbericht in Gen 2vom männlichen Prinzip her gedacht, das als überlegen gilt. "Pneumatische" Emanzipation von Frauen lässt sich dann nur in das Sprachgewand der Überwindung des Weiblichen und der Angleichung an das Männliche kleiden. Man kann das dann wieder von der mehr egalitären Sprache in Logion 22 her aufa:rbeiten, auch wenn die Konzeptionen textintern nicht ganz zum Ausgleich gebracht wurden- wie im Übrigen in der gesamten antiken Umwelt nicht. Interessant ist auch die Überlegung, wie sich das männlich Werden konkret darstellen mochte. Wenn man das EvThom auf dem Hintergrund des urchristlichen Wauderradikalismus liest, kann man sich vorstellen, dass Frauen, wenn sie an dieser unsteten, heimatlosen Lebensform partizipieren wollten, sich Männerkleider anlegten, um unbelästigt zu bleiben. Sie sind dann um des Himmelreichswillen äußerlich zu "Männern" geworden (vgl. S. PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 169-178; zum Ganzen auch J. BRANKAER, I.:ironie des Jesus dans le Iogion 114 de l'Evangile de Thomas, in: Apocrypha 16 (2005) 149-162).
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(3) Zur Bewertung Literatur: J. M. AsGEIRSSON I A. D. DE Co NICK I R. URO (Hrsg.), Thomasine Traditions in Antiquiry: The Social and Culrural World of the Gospel ofThomas (NHMS 59), Leiden 2006.- A. D. DE Co NICK, Seek to see Hirn. Ascent and Vision Mysticism in the Gospel of Thomas (SVigChr 33), Leiden 1996.- J. FREY I E. E. PoPICES I J. ScHRÖTER (Hrsg.), Das Thomasevangelium: Entstehung- Rezeption- Theologie (BZNW 157), Berlin 2008. E. PAGELS, Beyond Belief: The Secret Gospel ofThomas, New York 2003.- J. ScHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997.- R. URO (Hrsg.), Thomas at the Crossroads: Essays on the Gospel ofThomas (Studies of the New Testament and Ist World), Edinburgh 1998.- T. ZöCKLER, Jesu Lehren im Thomasevangelium (NHS 47), Leiden 1999 (vgl. die kritische Rez. vonJ. FREY, in: ThLZ 125 [2000]1130-1132).
Fassen wir die Ergebnisse zusammen, die sich mit Bezug auf zwei zentrale Streitpunkte der Diskussion um das Ev1hom beim Durchgang durch den Text abzuzeichnen begannen. (a) Was zum Ersten das Verhältnis des Ev1hom zu den kanonischen Evangelien angeht, empfiehlt sich eine differenzierte Sicht, die je nach Logion zu unterschiedlichen Resultaten gelangt: Bei den synoptikerähnlichen Logien ohne synoptische Parallelen können in Einzelfällen Stoffe hohen Alters vorliegen, die unsere Kenntnis einer frühen Stufe der Jesusüberlieferung bereichern. Wo das Ev1hom mit den Synoptikern parallel geht, kann es gelegentlich sein, dass es noch einen eigenständigen Zugang zu den mündlichen Traditionen hatte, die auch den Synoptikern vorlagen. Es begegnen aber auch eindeutige Beispiele dafür, dass sich das EvThom an einen Wortlaut anlehnt, den wir in der Synoptikerexegese normalerweise als redaktionelle Schöpfung eines der Evangelisten (meist handelt es sich um Lukas) betrachten. In solchen Fällen muss die Fassung im Ev1hom als traditionsgeschichtlich sekundär beurteilt werden. Kenntnis der synoptischen Form bestimmter Überlieferungen besagt nicht, dass der oder die Verfasser des Ev1hom die Synoptiker in schriftlicher Form vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatten. Hier ist vielmehr erneut das Konzept der sekundären Oralität mit Entschiedenheit zur Geltung zu bringen (s. im Literaturverzeichnis die Studie von S. BYRsKOG, Story as History). Die kanonischen Evangelien sind, noch ehe sie wirklich kanonisch wurden, durch ihren Gebrauch in den Gemeinden bereits wieder zu einem Überlieferungsgut geworden, das vorwiegend mündlich weitergegeben wurde und dadurch neuen Veränderungen teils harmonisierender Art offen stand.
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Das könnte auch die Art und Weise gewesen sein, auf die auch Materialien aus dem Johannesevangelium für das EvThom zugänglich wurden. Die typisch johanneischen Züge solcher Stoffe schließen es eigentlich aus, dafür auf gemeinsame vorjohanneische Traditionen zurückzugreifen. (b) Zum Zweiten wird man bei der Frage nach dem gnostischen Charakter des EvThom zunächst konzedieren, dass es bei der Auslegung zu Übertreibungen gekommen ist, wenn etwa jedes Logion mehr oder minder stereotyp in ein vorgefertigtes mythologisches Raster gepresst wurde. Es ist auch nicht zu bezweifeln, dass das EvThom auf frühjüdische Weisheitsüberlieferungen zurückgreift; die Verwandtschaft des Logions 2 vom Suchen und Finden mit Sir 6,27f. (s. Kap. 3a, Nr.l) spricht eine deutliche Sprache. Nur hilft das uns bei der Gnosisdebatte nicht viel weiter, denn die neuere Gnosisforschung kommt mehr und mehr darin überein, bei der Entstehung der Gnosis den jüdischen Weisheitsmythos (im Verein mit einer nicht mehr zeitlich, sondern räumlich verstandenen jüdischen Apokalyptik) am Werk zu sehen. Das EvThom befindet sich, um es vorsichtig zu formulieren, mit manchen seiner tragenden Konzepte auf dem Weg zu einer voll ausgebildeten Gnosis. Als Alternative dazu die jüdische Aufstiegsmystik ins Spiel zu bringen, wie neuerdings geschehen, bedeutet meines Erachtens keinen Fortschritt. Hier wird Unbekanntes, nämlich die Gnosis, durch noch Unbekannteres ersetzt- um von der notorischen Schwammigkeit und Unschärfe des Begriffs "Mystik" zu schweigen. All diese Überlegungen sprechen erneut dagegen, die Entstehung des EvThom bereits ins 1. Jahrhundert zu verlagern. Das frühe 2. Jahrhundert ist immer noch früh genug. Man überfordert das EvThom, wenn man es zu einem den Synoptikern ebenbürtigen oder gar überlegenen Zeugen für die Jesusüberlieferung emporstilisiert. Erst von dieser Bürde, die es nicht tragen kann, befreit, gibt es den Reichtum an Inhalten und Einsichten preis, den es für uns durchaus bereithält.
b) Das Philippusevangelium (EvPhil) Literatur. H. M. SCHENKE, in: NTApo 6 I, 148-173.- DERS., in: Nag Hammadi Deutsch I, 183-213.- U. K. PLISCH, Verborgene Worte Jesu 153-164.- H. M. ScHENKE, Das Philippus-Evangelium (Nag-Hammadi-Codex Il,3) (TU 143), Berlin 1997 (Text, Übersetzung und ausführlicher Kommentar; danach die Zählung).- H. ]. KLAucK, Die dreifache Maria. Zur Rezeption von Joh 19,25 in EvPhil 32, in: DERS., Alte Welt und neuer Glaube (NTOA 29), Freiburg (Schweiz) I Göttingen 1994, 145-162.- H. SCHMID, Die
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Eucharistie ist Jesus. Anfänge einer Theorie des Sakraments im koptischen Philippusevangelium (NHC II 3) (VigChr.S 88), Leiden 2007.- M. L. TuRNER, The Gospel according to Philip: The Sources and Coherence of an Early Christian Collection (NHMS 38), Leiden 1996.
(1) Zur Einordnung Im zweiten Kodex aus Nag Hammadi folgt auf das EvThom unmittelbar, d. h. ohne Titel, eine weitere Schrift, die in der Subscriprio als "Evangelium nach Philippus" bezeichnet wird (NHC II,3 p.51,29-86,19). An einigen Stellen gibt es auch inhaltliche Berührungen mit dem EvThom (vgl. EvThom 19,1 mit EvPhil57 und EvThom 22,4 mit EvPhil69a) und weiteren Thomastraditionen, sodass das Nebeneinander der beiden Texte in NHC II nicht ganz zufällig erscheint. In der "Pistis Sophia", die wir oben schon zum EvThom herangezogen haben, wird Philippus noch vor Thomas und Matthäus und auf viel ausführlichere Weise als diese dazu bestimmt, die Worte des Herrn aufZuzeichnen (1,42-44). Ein direktes Zitat aus einem Philippusevangelium bringt Epiphanius in seinem ,,Arzneikasten" (XXVI 13,2f.): Sie (die Gnostiker) zitieren auch aus einem Evangelium, das auf den Namen des heiligen Jüngers Philippus erdichtet ist, wie folgt: "Der Herr hat mir (Philippus) gezeigt, was meine Seele sagen muss bei ihremAufstieg zum Himmel, und wie sie einer jeden der oberen Mächte antworten muss: ,Ich habe mich selbst erkannt', sagt sie" und habe mich selbst von überall her gesammelt. Und ich habe keine Kinder für den Archonren gesät, sondern habe seine Wurzeln ausgerissen und meine zerstreuten Glieder gesammelt, und ich weiß, wer du bist. Denn ich', sagt sie, gehöre zu denen von oben'." Und so, lehren sie (die Gnostiker), wird sie (die Seele) freigelassen. Wenn sich aber herausstellt, dass sie einen Sohn geboren hat, wird sie unten festgehalten, bis sie imstande ist, ihre eigenen Kinder aufZunehmen und zu sich zu kehren.
Das Thema des Seelenaufstiegs würde zwar zur Gedankenwelt unseres EvPhil passen, und auch die Worte, die der Herr der Seele in den Mund legt, finden darin ihr Echo, aber das Zitat insgesamt lässt sich im EvPhil nicht verifizieren. Wir können daher nicht sicher sagen, ob Epiphanius ein anderes Philippusevangelium vor Augen hatte, ob er eine andere Fassung des EvPhil aus Nag Hammadi kannte oder ob er einfach nur ungenau zitiert. Inhaltlich unterscheidet sich das EvPhil noch einmal deutlich vom EvThom und rückt noch weiter als dieses von dem weg, was wir unter einem Evangelium verstehen. Es werden nur noch ganz wenige Jesusworte
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in direkter Rede geboten (in§ 18, 54, 57, 69a, 72a). Anreden an dieJünger (vgl. § 18) und Wechselrede in Frage und Antwort (angedeutet in§ 55b, 97) fehlen fast ganz. An ihre Stelle treten neben meist rätselhaften kürzeren Aussprüchen theologische Abhandlungen im Kleinformat, die sich gegen Ende des Werkes hin immer mehr verselbstständigen. Hans-Martin Schenke, an den wir uns hinsichtlich der Zählung und der Übersetzung in der Regel anschließen, hat deshalb vorgeschlagen, für die jeweiligen Einheiten nicht mehr die Bezeichnung "Sprüche" oder "Logien" zu verwenden, sondern von "Paragrafen" zu sprechen. Den literarischen Charakter des EvPhil bestimmt Schenke als Sammlung von Exzerpten oder als Anthologie bzw. Florilegium, zu Deutsch als "Blütenlese". Der Autor hätte sich demnach aus einem Werk- dabei denkt Schenke neuerdings an sonst unbekannte gnostische Philippusakten, deren Missionsreden hier ausgewertet worden seien - oder aus mehreren Werken Notizen gemacht, etwa zur Vorbereitung von Ansprachen oder für den Unterricht, und diese lockere Zusammenstellung sei erhalten geblieben. Martha Lee Turner, die mit drei Vorlagen rechnet, hat diese Vermutung auf eine breitere literaturgeschichtliche Basis gestellt durch Auswertung vergleichbarer antiker "Zettelkästen" wie den ,,Attischen Nächten" des Aulus Gellius oder den "Excerpta ex lheodoto" des Clemens von Alexandrien. Aus dieser Gattungsbestimmung folgt 'nicht unbedingt, dass man, wie Schenke will, die einzelnen Paragrafen nur isoliert und nicht aus dem Kontext des Gesamtwerks heraus interpretieren darf. Immerhin sind Stichwortanschlüsse und thematische Gruppierungen auszumachen, und manche Sinnlinien ziehen sich in unterschiedlicher Intensität durch die ganze Sammlung hindurch. Dazu gehört z. B. die Behandlung der Sakramente, die den Gesamttext fast wie eine Sakramentskatechese erscheinen lässt. Seinen Namen "Evangelium nach Philippus" trägt das Werk nicht zuletzt deshalb, weil in § 91 Philippus als einziger Apostel direkt genannt wird. Vermutlich sind dabei der Apostel Philippus aus dem Zwölferkreis Goh 14,8f. u.ö.; Apg 1,13) und der Evangelist Philippus aus der Gruppe der Sieben (Apg 6,5; 8,5-13 u.ö.) als eine einzige Person aufgefasst worden. Die Originalsprache des EvPhil, das uns nur noch in einem einzigen koptischen Exemplar vorliegt, war griechisch. Entstanden sein könnte das Werk dennoch in Syrien, da an einigen Stellen ein auffälliges Interesse an Etymologien zu beobachten ist, die nur im syrischen Sinn machen (vgl. bes. § 53: "Die Eucharistie ist Jesus. Denn sie heißt auf syrisch Pharisatha, was,das Ausgebreitete' bedeutet. Denn Jesus ist gekommen, um für die
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Welt gekreuzigt zu werden" [mitzuhören ist, dass er am Kreuz die Arme ausgebreitet hat]). . In seinen theologischen Aussagen greift das EvPhil teils Systemelemente der valentinianischen Gnosis auf. Ihr Namensgeber Valentinus, der selbst noch kein echter "Valentinianer" war, wirkte ca. 138-158 als Lehrer in Rom. Für das EvPhil bedeutet dies, dass es frühestens gegen Ende des 2. Jahrhunderts entstanden sein kann, vielleicht auch erst im 3. Jahrhundert. Leider weisen die Papyrusblätter des Kodex II aus Nag Hammadi, die das EvPhil enthalten, teils starke Zerstörungen am oberen und unteren Rand auf, die zu Textergänzungen zwingen. In der folgenden Übersicht, die sich sowieso auf wenige Schwerpunkte beschränken muss, sind diese Ergänzungen, für die man die Textausgaben konsultieren kann, in der Regel nicht eigens kenndich gemacht.
(2) Zum Inhalt -Von Heiden, Hebräern und Christen
Am Eingangsabschnitt lässt sich exemplarisch aufZeigen, wie die einzelnen Paragrafen trotz lockerer Fügung und schwer verständlichem Inhalt doch thematisch zusammenhängen. Das EvPhil beginnt in§ 1 mit den Worten: Ein hebräischer Mann bringr Hebräer hervor; und solche Leute werden "Proselyten" genannt. Ein Proselyt aber bringr keine Proselyten hervor. Die einen Menschen sind so, wie sie entstehen, und bringen noch andere hervor; den anderen Menschen muss es schon genügen, dass sie überhaupt entstehen.
Angesprochen wird als Erstes eine, wenn auch noch vorläufige, Bekehrungssituation: die Konversion zum Judentum, die aus einem Heiden einen Proselyten macht. Bewirkt wird sie durch das missionarische Bemühen eines Hebräers, der, so die erste Hälfte des Schlusssatzes, bereits als Hebräer geboren wurde und deshalb andere für das Judentum gewinnen (im Text: "hervorbringen") kann. Eigenartig wirkt die Behauptung, dass dem Proselyten der missionarische Erfolg (vielleicht nur vorerst?) versagt bleiben wird. Er muss sich damit begnügen, dass er selbst diesen Schritt tun (im Text: "überhaupt entstehen") durfte. Falls man den rabbinischen Vergleich eines Proselyten mit einem neugeborenen Kind in Anschlag bringen darf, würde § 29 eine erhellende Analogie bereitstellen:
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Der Vater bringt Kinder hervor. Und das Kind kann (als Kind) keine Kinder hervorbringen. Denn das Gezeugte kann nicht zeugen. Vielmehr bekommt das Kind Geschwister und nicht Kinder.
§ 2 nimmt aus § 1 den Gedanken des Hervorbeingens oder Zeugens auf und setzt ihn in ein Gleichnis um, das vom Sklaven, vom Sohn, vom Vater und von der Erbschaft handelt und an Gal4,1-7 erinnert (vgl. auch§ 37). Beim Stichwort "Erbe" hakt § 3 ein und spricht vom Beerben der Toten und der Lebendigen. Damit aber sind wir schon bei § 4 angelangt: Ein heidnischer Mensch stirbt nicht. Denn er hat niemals gelebt, sodass er sterben könnte. Wer zum Glauben an die Wahrheit gekommen ist, der hat das Leben gefunden. Und ein solcher schwebt in der Gefahr zu sterben. Denn er lebt, seit Christus gekommen ist.
Leben und Sterben werden hier sichtlich metaphorisch verwendet: Ein Leben ohne Glauben ist kein wahres Leben, und da es den Namen Leben folglich gar nicht verdient, kennt es auch keinen Tod. Gläubiges Leben wurde durch Christus, der Tote ins Leben rief (vgl. Lk 7,22; Joh 11,25f.), ermöglicht, es sieht sich dafür aber auch der Gefahr weniger des leiblichen, sondern mehr des geistlichen Todes, des Glaubensabfalls, ausgesetzt. Dass der Weg vom Heiden über den Proselyten und Hebräer zum Christen führen muss, zeichnet sich hier schon ab und wird in § 6 ausdrücklich festgehalten (dem mehrfachen Rückblick auf die Zeit als "Hebräer" muss man im Übrigen fast entnehmen, dass die Gemeinschaft, in der diese Texte tradiert wurden, in ihrer Geschichte eine von Judentum und Judenchristentum bestimmte Phase kannte): Als wir Hebräer waren, waren wir Waisen und hatten (nur) unsere Mutter. Als wir aber Christen wurden, bekamen wir Vater und Mutter.
Vollwaisen wären in der Sicht des EvPhil vermutlich nur die Heiden. Die Hebräer hatten als Halbwaisen immerhin eine Mutter, worunter wir in Anlehnung an Gal4,21-31 evtl. das irdische Jerusalem verstehen dürfen. Die Christen hingegen haben Gott zum Vater, und bei ihrer Mutter ist entweder an die Kirche oder an den Heiligen Geist (s.u. zu§ 17) zu denken. Von hier aus wird der Blick fast von selbst auf zwei zusammenhängende spätere Paragrafen gelenkt, von denen der Erste mithilfe eines schönen Gleichnisses die unzerstörbare Wurde der Gotteskinder beschreibt (§ 48): Wenn eine Perle in den Schmutz geworfen wird, verliert sie dadurch nicht ihren Wert. Auch wird sie nicht erst wertvoll, wenn sie mit Balsamöl gesalbt wird. Sondern sie hat immer denselben Wert in den Augen ihres Besitzers. Ebenso verhält es sich mit den Kindern Gottes, wo sie auch sein mögen. Sie haben stets denselben Wert in den Augen ihres Vaters.
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Die Wirkung auf die Außenwelt schildert § 49, der mit dem "Juden" (= Hebräer) und dem "Römer" (= Heide) auch die bisher eingeführten Größen noch einmal Revue passieren lässt und sie um eine an Gal3,28 und Kol 3,11 gemahnende Liste ergänzt: Wenn du sagst: "Ich bin ein Jude", wird niemand wanken. Wenn du sagst: "Ich bin ein Römer", wird niemand sich irritieren lassen. Wenn du sagst: "Ich bin ein Grieche", "ein Barbar", "ein Sklave", "ein Freier", wird niemand in Unruhe geraten. Wenn du sagst: "Ich bin ein Christ", wird [die Welt] zittern. 0, dass ich ihn als Herrn hätte, dessen Namen zu hören [die Welt] nicht ertragen kann.
Für die Sprecherperspektive des EvPhil ist der letzte Satz bemerkenswert, wo sich der Autor (Sammler? Schreiber?) zu Wort meldet und einen eigenen Wunsch artikuliert. - Gleichnisse aus der Lebenswelt
,,An der Oberfläche macht das EvPhil manchmal fast den Eindruck eines Handbuches über zwischenmenschliche Beziehungen nebst Hinweisen für Ackerbau und Viehzucht" (Schenke 139) - dass dieser Eindruck entstehen kann, hängt mit den Bildworten und Gleichnissen zusammen, von denen viele dem Bereich der Landwirtschaft entnommen sind. Hier macht § 7, der mit dem Satz "Die im Winter säen, werden im Sommer ernten" beginnt, den Anfang. Das landwirtschaftliche Paradigma (vgl. z. B. § 40a, 115) wird dazu noch sehr kunstvoll verschlungen mit Anspielungen auf die Paradieseserzählung in Gen 2 (vgl. z. B. § 15; auch§ 84 und§ 94). Als Einzelbeispiel für ein gelungenes Gleichnis mit anschließender Auflösung haben wir oben schon das Gleichnis von der Perle aus § 48 angeführt. Dem sei hier noch das Gleichnis vom Esel in der Mühle mit seiner Anwendung an die Seite gestellt (§ 52): Ein Esel, der einen Mühlstein drehte, legte dabei hundert Meilen zu Fuß zurück. Als er losgemacht wurde, fand er, dass er noch an demselben Platz war. Es gibt Menschen, die viele Wegstrecken zurücklegen, ohne irgendeinem Ziel näher zu kommen. Als der Abend sie überraschte, sahen sie weder eine Stadt noch ein Dorf, weder etwas Geschaffenes noch etwas Naturhaftes. Da ist keine (helfende) Macht; da ist kein Engel. Vergeblich haben diese Elenden sich abgemüht.
Nicht genannt wird die Sachhälfte bei einem kunstvollen Gleichnis, das auf der antiken Technologie - an der sich in diesem speziellen Fall nicht sehr viel geändert hat - aufruht (§ 51): Glasgefaße wie Tongefaße entstehen mit Hilfe von Feuer. Aber wenn Glasgefaße zerbrechen, werden sie von Neuern gefertigt; denn sie sind durch einen Hauch entstanden.
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Wenn aber Tongefäße zerbrechen, werden sie vernichtet; denn sie sind ohne Hauch entstanden.
Tongefaße werden im Feuer gebrannt und gehärtet, und dieser Prozess kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Glas wird im Feuer geschmolzen. Dafür kann man auch Glasbruch verwenden, und der Glasbläser kann aus der flüssigen Masse mithilfe seiner Atemluft neue Gefaße herstellen. Dieser Hauch ist es, der dem Glas seine besondere Qualität, seine Lebens- und Überlebenskraft verleiht. Dazu muss man noch wissen, dass pneuma im Griechischen zugleich Windhauch, Atemluft und Geist bedeutet. Der Hauch im Bildteil wird zum Gleichnis für den Lebensodem, der den Körper aus Lehm in einen lebendigen Menschen verwandelt (Gen 2,7) und ihm die Fähigkeit verleiht, auferweckt zu werden (vgl. § 80: "Die Seele Adams ist aus einem Hauch entstanden"). Die Vorliebe für gleichnishafte Rede, die das EvPhil an den Tag legt, wird in § 67a auch theoretisch reflektiert und begründet: Die Wahrheit kam nicht nackt zur Welt, sondern sie ist gekommen in Symbolen und Bildern. Sie (die Welt) kann sie nicht anders empfangen.
An den Gleichnissen selbst liegt es nicht, dass man zum EvPhil so §Chwer einen Zugang findet, eher schon an der Art ihrer Anwendung, und die wiederum hängt mit einer allgemeinen Problematik zusammen, die es mit der Sprache, vertreten durch die "Namen", zu tun hat. - Das Problem der Namen Namen sind leider nicht so eindeutig, wie man oft meint. Dazu finden sich in§ 11-13 sehr spekulative Ausführungen, die von der Prämisse ausgehen (§ 11a): Die Namen, die den Menschen in der Welt mitgeteilt werden, verursachen eine große Irreführung. Denn sie lenken den Sinn ab von dem Richtigen und hin zu dem Unrichtigen. So erfasst, wer das Wort "Gott" hört, nicht das Richtige, sondern das Unrichtige. Ebenso verhält es sich auch mit "Vater", "Sohn", "Heiliger Geist", "Leben", "Licht", ,,Auferstehung", "Kirche" und allen anderen Namen. Man erfasst nicht das Richtige, sondern das Unrichtige ...
Selbst solche theologisch besetzten Begriffe können von den bösen Mächten missbraucht werden, um Menschen in die Irre zu führen (§ 13). Aber ohne sie zu gebrauchen, kann man andererseits gar nicht von Gott reden (§ 12). In § 19 werden deshalb Abklärungen vorgenommen zu den Namen "Jesus", "Christus", "Messias" und "Nazarener" (vgl. auch§ 47).
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-Vom Opfern Blenden wir zurück zu § 14, der gegen die Praxis polemisiert, Tiere, die man dazu tötet, als Opfer für tiergestaltige Götzen darzubringen. Das positive Gegenstück dazu lautet: "Der Mensch dagegen wurde Gott als Toter dargebracht und kam dabei zum Leben." Die Bekehrung als Weg vom Tod zum Leben wird als ein Opfer interpretiert, mit dem Menschen als Opfergabe und Gott als Empfänger des Opfers. Nur vor diesem Hintergrund wird eine andere Aussage verständlich, die an schockierender Wirkkraft dem Bildwort vom menschenfressenden Löwen in EvThom 7 um nichts nachsteht (§ 50): Gon ist ein Menschenfresser. Deswegen wird ihm der Mensch geopfert. Bevor der Mensch geopfert wurde, wurden Tiere geopfert. Denn das waren (gar) keine Götter, denen (da) geopfert wurde.
Der "menschenfressende" Gottwird die Menschen, die man ihm darbringt, gerade nicht umbringen, sondern zu neuem Leben rufen. Eine zusätzliche Verstehenshilfe dafür bietet§ 93a: Diese Welt ist ein Leichenfresser. Alle Dinge, die man in ihr isst, sterben selbst auch. Die Wahrheit ist ein Lebendfresser. Deswegen wird niemand von denen, die sich von der [Wahrheit] nähren, sterben.
Die Welt tötet, die (göttliche) Wahrheit erhält am Leben. Die skeptische Sicht der Welt, die hier zu verspüren ist, kommt unverstellt in § 99a zum Vorschein: Die Welt entstand durch ein Versehen. Denn der, der sie geschaffen hat, wollte sie unvergänglich und unsterblich schaffen. Er scheiterte und erreichte nicht, was er gehofft hatte. Denn es gab keine Unvergänglichkeit der Welt, und es gab keine Unvergänglichkeit dessen, der die Welt geschaffen hat.
Dieses Weltverständnis, das die Erschaffung der Welt einem unf:ihigen Demiurgen zuschreibt, und ein damit korrespondierendes Leibverständnis (vgl. § 22: die Seele "ist eine wertvolle Sache und geriet in einen verachteten Leib") kann man mit Fug und Recht gnostisch nennen. -Jungfräuliche Empfängnis? Im linearen Ablauf des EvPhil bleibt unser Auge als Nächstes an § 17a hängen: Einige sagten: "Maria ist schwanger geworden vom Heiligen Geist." Sie irren sich! Sie wissen nicht, was sie sagen! Wann wäre jemals eine Frau von einer Frau schwanger geworden?
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Damit bezieht das EvPhil die Gegenposition zum Glaubensartikel "empfangen durch den Heiligen Geist" (vgl. Lk 1,35), und zwar deshalb, weil das Wort "Geist" im Hebräischen ein Femininum ist und der Geist somit nicht als zeugende Macht in Frage kommt, sondern allenfalls als himmlische Mutter Jesu, parallel zu Maria als seiner irdischen Mutter. Vertreter der hier karikierten großkirchlichen Lehre werden in § 17b als "Hebräer" und ,,Apostelschüler" apostrophiert, und die Jungfräulichkeit Marias deutet § 17b gleichsam allegorisch dahin gehend, dass sie unberührt geblieben sei von den bösen Mächten: Maria ist die Jungfrau, die keine Macht besudelt hat. - Für die Hebräer, nämlich die Apostel und die Apostolischen, ist das (d. h. die vom EvPhil vertretene Lehre) höchst verdammenswürdig.- Diese Jungfrau, die keine Macht besudelt hat, offenbart sich, damit die Mächte sich (selbst) besudeln.
Maria wird dadurch zum Gegenbild Evas, die sich im Paradies mit der Schlange einließ und von ihr, nicht von Adam, den Kain empfing(§ 42). Für Jesus bedeutet das, dass er nicht nur zwei Mütter hatte wie Adam, der aus dem Geist und der jungfräulichen Erde entsprang (§ 83), sondern auch zwei Väter, wie der Eingang des Vaterunsers lehrt(§ 17c): Und der Herr hätte nicht gesagt: "Mein Vater, der du bist im Himmel", wenn er' nicht (noch) einen anderen Vater gehabt hätte; sondern er hätte einfach gesagt: "Mein Vater."
Der himmlische Vater ist Gott, der irdische Vater Josef (s.u. zu§ 91). - Maria Magdalena Zu Maria, der irdischen Mutter Jesu, gesellen sich in§ 32 wie in Job 19,25 noch Maria, die Frau des Klopas, die hier mit der Schwester Marias in Job 19,25 gleichgesetzt wird, und Maria Magdalena: Drei (Frauen) hatten ständigen Umgang mit dem Herrn: Maria, seine Mutter, ihre Schwester und Magdalena, die "seine Gefährtin" (koinönos) genannt wird. Seine Schwester, seine Mutter und seine Gellihrtin (koinönos) heißen nämlich alle "Maria".
Die Tatsache, dass alle drei Frauen "Maria" heißen, gibt Anlass zu einer allegorischen Ausdeutung: Die drei Marien, die den irdischen Jesus umgeben, sind nur Spielarten der einen Paargenossin, der Sophia, die der himmlische Erlöser braucht, um vollständig zu sein. Das Denken in "Syzygien", d. h. in mythischen Paaren, das in der valentinianischen Gnosis beheimatet ist, leuchtet im Hintergrund auf, und es bestimmt untergründig auch die Fortsetzung dieser Thematik in § 55 (Übers. nach S. PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 146):
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Die Weisheit (sophia), die genannt wird: die Unfru~htbare, sie ist die Mutter der Engel. Und die Paargenossen (koinönos) des Erlösers ist Maria Magdalena. Der Erlöser liebte sie mehr als alle Jünger, und er küsste sie ofi: auf ihren Mund. Oie übrigen Jünger [reagierten eifersüchtig und beklagten sich]. Sie sagten zu ihm: "Weswegen liebst du sie mehr als uns alle?" Der Erlöser antwortete und sprach zu ihnen: "Weswegen liebe ich euch nicht so wie sie?"
Vordergründig zielt die Pointe dieser Ausführungen noch in eine andere Richtung: Die Rolle des geliebten Jüngers aus dem Johannesevangelium, die die kirchliche Tradition für den Apostel Johannes zu reservieren pflegte, wird hier mit Maria Magdalena besetzt. - Der Apostel Philippus Bleiben wir aus gegebenem Anlass bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu, und gehen wir kurz auf den einzigen im EvPhil mit Namen genannten männlichen Apostel ein. Von ihm handelt § 91: Der Apostel Philippus sagte: "Josef der Zimmermann pflanzte einen Garten, weil er Holz
für sein Handwerk brauchte. Er ist es, der das Kreuz hergestellt hat von den Bäumen, die er gepflanzt hatte. Und so hing sein Same an dem, was er gepflanzt hatte. Sein Same war Jesus, die Pflanzung aber war das Kreuz."
Die Ironie ist mit Händen zu greifen: Der irdische Vater Jesu hat, ohne es zu ahnen, selbst das Holz herangezogen und daraus das Kreuz gezimmert, an dem sein Sohn hing. Warum die Sache dennoch gut ausging, erfahren wir aus dem Gegenbild in § 92: Aber der Baum des Lebens steht mitten im Paradies. Und zwar (ist es) der Ölbaum. Von ihm kommt die Salbung. Durch sie kommt die Auferstehung.
Das Stichwort ,,Auferstehung" erlaubt es uns, zu§ 21 in der Eingangspassage zurückzukehren, wo dieses Thema eingeführt wird. Geben wir zuvor aber noch der Überlegung Raum, ob Philippus nicht ein weiteres Wort im EvPhil gesprochen haben könnte, auch wenn er dort nicht namentlich genannt wird. In Frage käme § 26b, wo man sich statt Jesus sehr gut auch Philippus als Sprecher vorstellen könnte: Er sagte an jenem Tage in der Danksagung: "Der du den vollkommenen Erleuchter mit dem Heiligen Geist vereinigt hast, vereinige die Engel auch mit uns als den Abbildern!"
Der Apostel hätte dann beim eucharistischen Dankgebet einen freien Einschub angebracht, der das sakramentale Geschehen deutet. Die "Syzygie" (s.o.) des (männlichen) Erlösers und des (weiblichen) Geistes dient als Vorbild der Vereinigung der (himmlischen) Engel mit den zugeordneten (irdi-
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sehen) Abbildern, d. h. mit den gläubigen Menschen, und zu der ersehnten Vereinigung kann man bereits hier gelangen durch die Eucharistie, die das himmlische Hochzeitsmahl vorwegnimmt. -Tod und Auferstehung Die "normale" Abfolge von Tod und Auferstehung stellt§ 21 auf den Kopf, zunächst für die Auferstehung Jesu, aber schon mit der Tendenz zu einer generalisierenden Aussage: Diejenigen, die behaupten, dass der Herr zuerst gestorben sei und (dann) auferstand, irren sich. Denn er ist zuerst auferstanden und (dann) gestorben. Nur wenn einer vorher die Auferstehung erlange, wird er nicht sterben. So wahr Gott lebt, sonst würde jener sterben.
Durchgeführt wird die Verallgemeinerung dann gegen Ende des Werks in § 90a: Diejenigen, die behaupten, dass sie zuerst sterben und (dann erst) auferstehen werden, irren sich. Wenn sie nicht zuerst die Auferstehung erlangen, solange sie noch leben, werden sie, wenn sie sterben, nichts empfangen.
Dass diese paradoxe Umkehrung der Verhältnisse im Bereich des Denkbaren liegt, lehrt uns schon das Neue Testament. Der Verfasser der Pastoralbriefe polemisiert in 2 Tim 2,17f. gegen Hymenäus und Philetus, zwei Theologen, die behaupten würden, "die Auferstehung sei schon geschehen", und damit nicht die Auferstehung Jesu, sondern die Auferstehung der Gläubigen meinten. Die Auferstehung muss also schon zu Lebzeiten, vor dem leiblichen Tod, zu einer geistlichen Realität werden, damit sie den realen Tod überdauern kann. Als Erfahrungsgrundlage kommt dafür die Bekehrung, die vom geistlichen Tod zum neuen Leben führt, und in Verein mit ihr die Taufe, die den Weg zum Glauben besiegelt, in Frage. Ob sich damit noch eine weitere, postmortale Auferstehung vereinbaren lässt, hängt unter anderem an der Auslegung von § 23. Ausgehend von 1 Kor 15,20 ("Fleisch und Blut können das Gottesreich nicht erben"), wendet sich der Autor erwartungsgemäß zunächst gegen solche, die an einer Auferstehung des Fleisches festhalten, weil sie das "Gewand" des Leibes nicht ablegen wollen(§ 23a): Einige fürchten sich davor, nackt aufZuerstehen. Deswegen wollen sie auferstehen im Fleisch. Und sie wissen nicht, dass die, die das Fleisch tragen, gerade die Nackten sind. Diejenigen, die fähig sind, es abzulegen, sind gerade die Nichtnackten.
Zu unserer Überraschung attackiert er dann aber auch die Gegenposition, die ihm eigentlich näher liegen sollte (§ 23c):
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Ich tadele die anderen, die behaupten, dass es (das Fleisch) nicht auferstehen kann. Demnach sind beide im Unrecht.
Als Lösung postuliert er ein vom irdischen Fleisch unterschiedenes geistiges oder himmlischen Fleisch, das Jesus trägt und das in der Eucharistie (vgl. Joh 6,53f.) gegenwärtig wird (§ 23b; vgl. auch § 72c). Die entscheidende Frage ist dann, ob "im Fleisch", auf uns bezogen, den realen Tod und die Auferstehung als Bedingung für das Erlangen des geistigen Fleisches voraussetzt, oder ob wir nicht eher in diesem irdischen Fleisch schon an der pneumatischen "Fleischlichkeit" Jesu Anteil gewinnen können, z. B. durch die Eucharistie. -Taufe und Salbung Von verschiedenen Seiten aus gelangen wir immer wieder zu den Sakramenten. Unter ihnen gewinnen Taufe und (postbaptismale) Salbung, die gemeinsam als Sakrament des Anfangs die Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft markieren, die klarsten Konturen. Auf die Taufe bezieht sich das Bildwort von Gott als Färber in§ 43 (vgl. ]es 1,18): Gott ist ein Färber. Wie die guten Farben, die "die echten" genannt werden, (nur) mit den Stoffen, die durch sie gefärbt wurden, "sterben", so verhält es sich mit den (Menschen), die Gott gef':i.rbt hat: Weil seine Farben unsterblich sind, werden auch sie (die Menschen) durch seine Wunderfarben unsterblich. Gott aber taucht die, die er eintaucht, ins Wasser ein.
Echte Qualitätsfarben, will das Bild besagen, halten ewig. Sie überdauern genauso lang wie der durch sie gefärbte Stoff, während minderwertige Farben recht bald schon ausgewaschen werden. Die Farbe, die Gott anwendet, ist von überragender Qualität, besteht aber paradoxerweise nur aus reinem Wasser, wie es bei der Taufe gebraucht wird. Aus der konsequenten Fortführung dieses Gedankens resultiert die Zeichenhandlung, die in § 54 Jesus durchführt: Der Herr ging in die Färberei des Levi. Er nahm zweiundsiebzig (Stoffe von verschiedenen Farben) und warf sie in den Kessel. Er zog sie alle weiß wieder heraus. Und er sagte: "So ist auch der Menschensohn als Färber gekommen."
Ob bei der Zahl zweiundsiebzig an die siebzig oder zweiundsiebzig Völker der Welt zu denken ist, mag dahingestellt bleiben. Der Menschensohn tut eigentlich das Gegenteil dessen, was man von einem Färber erwartet, weil er die bunte Vielfalt der Farben auf die Nicht-Farbe Weiß reduziert. Ob schon ein weißes Taufkleid mit hineinspielt?
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Der Salbung wird im Vergleich zur Taufe ein noch höherer Rang eingeräumt. Der Grund dafür liegt im Bereich der Sprache, aber hören wir dazu erst§ 95: Die Salbung (chrisma) ist der Taufe überlegen. Denn aufgrund der Salbung wurden wir "Christen" (christianoi) genannt, nichtwegen der Taufe. Auch Christus (christos) istwegen der Salbung so genannt worden. Denn der Vater salbt den Sohn. Der Sohn aber salbte die Apostel. Die Apostel aber salbten uns. Wer gesalbt ist, besitzt alles. Er besitzt die Auferstehung, das Licht, das Kreuz und den Heiligen Geist.
Das griechische Wort für "salben" lautet chriö. Davon sind die auch im Koptischen verwendeten Bezeichnungen chrisma, christos und christianos abgeleitet. Durch das "Chrisma" wurde Jesus zu einem "Christus", d.h. zum Gesalbten des Herrn, und das "Chrisma" ist es auch, das uns zu Christusanhängern werden lässt und das uns Christus angleicht, sprachlich und sakramental. In übersteigerter Form, für die man aber immer noch an Gal 2,20 erinnern darf ("nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir") kommt dies am Schluss von § 67e zum Ausdruck, wo es von dem, der die Salbung empfangen hat, heißt: "Ein solcher ist nämlich nicht mehr ein Christ (christianos), sondern ein Christus (christos)". -Das Brautgemach Eine Schlüsselfunktion für die Frage nach den Sakramenten im EvPhil nimmt § 68 ein: Der Herr hat alles in einem Mysterium (mysterion) gemacht: Taufe (baptisma), Salbung (chrisma), Eucharistie (eucharistia), Erlösung und Brautgemach (nymphön).
Werden hier vielleicht der Reihe nach die fünf Sakramente aufgezählt, die im Umkreis des EvPhil rituell vollzogen wurden und von denen wir nur die ersten drei kennen? Das ist möglich, aber nicht sicher. Der Begriff "Mysterium" in der Einleitung bezeichnet noch nicht die Sakramente, sondern die ganze Wendung ist adverbial zu verstehen: Der Herr hat alles "auf verborgene Weise" gemacht. Die "Erlösung", für die als Einzige kein griechisches Lehnwort verwendet wird, bleibt sowieso im Kontext des EvPhil eigentümlich blass. Das eigentliche Problem stellt das so genannte "Brautgemach" dar, das sich im letzten Drittel des EvPhil zu einem Hauptthema entwickelt (vgl. § 73, 76, 79, 82, 87, 88, 96, 102, 122, 125, 126, 127). Die Polemiker unter den Kirchenvätern wie Epiphanius von Salamis haben das Brautgemach als tatsächlich vollzogene, sakral überhöhte geschlechtliche Vereinigung interpretiert und daraus eine Waffe gegen die Gnostiker geschmiedet,
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deren Denken und Praxis damit aber verzeichnet. Gehen wir beim Versuch einer Klärung von der Tempeltypologie in § 76a aus: Es gab drei zur Opferdarbringung vorgesehene Gebäude in Jerusalem. Das eine, das sich zum Westen hin öffnet, wird "das Heilige" genannt. Das andere, das sich zum Süden hin öffnet, wird "das Heilige des Heiligen" genannt. Das dritte, das sich zum Osten hin öffnet, wird ."das Heilige der Heiligen" genannt, wo nur der Hohepriester eintreten dar( Die Taufe ist das "heilige" Haus. Die Erlösung ist "das Heilige des Heiligen". "Das Heilige der Heiligen" ist das Brautgemach.
Basis des Vergleichs ist die Existenz von Arealen mit unterschiedlichem Grad an Heiligkeit im Jerusalemer Tempel. Hier werden herausgegriffen: der Vorhof der Israeliten, das eigentliche Tempelgebäude und das Allerheiligste im Tempelinnern. Der Weg von draußen nach drinnen, die "Initiation", wird mit der Taufe eingeleitet. An zweiter Stelle würden wir nach dem bisher Gesagten die Salbung erwarten; hier wird statt dessen von der "Erlösung" gesprochen, die vielleicht nichts anderes darstellt als eine Deutung dessen, was bei der Salbung geschieht. An dritter Stelle sollte sich die Eucharistie anschließen, deren Vollzug durch andere Stellen hinreichend bezeugt ist (vgl. § 26b, 53, 98, 100, 108). Wenn in dem Dreischritt von § 76a das Allerheiligste des Tempels auf das Brautgemach gedeutet wird (vgl. auch § 125a: "Das Schlafgemach aber ist verborgen. Es ist das Allerheiligste ... "), legt sich der Verdacht nahe, Eucharistie und Brautgemach könnten zwei Seiten einer Medaille sein. Als Brücke vom Ritus (Eucharistie) zur Interpretation (Brautgemach) käme die Vorstellung vom himmlischen Hochzeitsmahl in Frage, das in der Eucharistie im Vorgriff gefeiert wird. Für das inhaltliche Verständnis des Brautgemachs muss ein Blick auf § 82a genügen: Fürwahr, es ist nötig, ein Geheimnis (mysterion) auszusprechen! Der Vater des Alls vereinigte sich mit der Jungfrau, die herabgesunken war. Und ein Feuer leuchtete für ihn an jenem Tage und enthüllte das große Brautgemach. Deswegen gilt: An jenem Tage entstand sein Leib. Danach verließ er das Brautgemach wieder.
Das Brautgemach ordnet sich in den gnostischen Gesamtrahmen ein und hängt mit der mythischen Konstruktion von Paaren in der jenseitigen, himmlischen Welt zusammen. Im speziellen Fall geht es in § 82 um die Rettung der gefallenen, in die Materie herabgesunkenen Sophia, um die sich der Allvater höchstpersönlich kümmert. Der Leib, der aus dieser Vereinigung entsteht, wird von manchen Erklärern auf die präexistente Kirche (als Leib Christi) bezogen. Es könnte aber auch in Wiederaufnahme von § 17 die besondere Sicht der jungfräulichen Empfängnis, die das EvPhil vertritt, angesprochen sein.
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Die sakramentale Dimension des Brautgemachs besteht darin, dass die Gläubigen auf Erden das mythische Geschehen rituell nach- und mitvollziehen können und selbst schon die ersehnte Vereinigung mit dem himmlischen Gegenbild erleben. Gerrau das hatte§ 26b (s.o.) von der Eucharistie gesagt.
(3) Rückblick Manches wurde gesagt, wenigstens ebenso viel musste ungesagt bleiben. So wäre, um nur einiges nachzutragen, noch schärfer nach der Christologie des EvPhil zu fragen. Wir würden dann unter anderem auf§ 26a stoßen, der mit den Worten beginnt: "Jesus hat alle (Gestalten) heimlich angenommen" und von einer Polymorphie, d. h. einer Vielgestaltigkeit des Erlösers zu sprechen scheint. Der Umgang mitJesu letztem Wort am Kreuz in§ 72a könnte auf eine doketistische Trennungschristologie hindeuten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Der Herr sprach diese Worte am Kreuz. Denn an jener Steile rrennre er sich (von Gott? vom Leib? vom Geist? von Jesus?}.
Zwischendurch begegnet in§ 65 eine Höllenvision, die einem apostolikos, einem Apostelanhänger oder -schüler zuteilwird. Für die Sakramentenlehre ist noch aufschlussreich, dass in den Elementen Wasser und Salböl eine verborgene geistige Kraft wirkt, die im Fall des Wassers ebenfalls "Wasser" heißt, im Fall des Salböls aber "Feuer" (§ 25, 66). Wir müssen aber an der Stelle abbrechen. Im Rückblick wird verständlicher, warum sich manche der Fragen, um die beim EvThom heftig gestritten wird, beim EvPhil gar nicht erst stellen. Der Rückgriff auf neutestamentliche Schriften einschließlich des Johannesevangeliums und der Paulusbriefe ist beim EvPhil zu deutlich, als dass man die These von einer unabhängigen Überlieferung vertreten könnte, und niemand versucht, mit seiner zeitlichen Ansetzung auch nur in die Zeit um 100 herabzugehen. Als selbstständiger Zeuge fiir die Jesusüberlieferung fällt das EvPhil damit aus. Die Gedankenwelt des EvPhil wirkt auf uns besonders fremdartig, mehr noch als die des EvThom. Aber eine gewisse Geschlossenheit und Stringenz kann man ihr nicht absprechen, auch wenn es sich beim Text um Exzerpte aus einem größeren Zusammenhang handelt. Die ausgefiihrten Gleichnisse des EvPhil wie das von den Glas- und Tongefäßen oder das von Gott als Färber sind originell und besitzen beträchtliche poetische Kraft. Die
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Gleichnis- und Sprachtheorie, die dahinter s'teht, wäre eine eigene Untersuchung- mit hermeneutischen Implikationen -wert. Gleiches gilt für die Sakramentstheologie, die offensichdich zu den großen Anliegen des EvPhil gehört. Hier versucht es, einen prekären Mittelweg einzuschlagen zwischen gnostischer Ablehnung von allem Materiellen einerseits und der Fundierung der rituellen Praxis, die ohne Wasser, Öl, Wein und Brot nicht auskommt, andererseits, indem es zwischen äußerem Erscheinungsbild und innewohnender geistiger Kraft differenziert, analog zur Unterscheidung zwischen irdischem Fleisch und pneumatischem Fleisch in der Auferstehungsfrage. Hier liegen Ansätze vor, die zur systematischen Reflexion und zum Weiterdenken in aktualisierender und praktischer Absicht einladen.
c) Das Evangelium Veritatis (EvVer) Literatur: H. W. ATTRIDGE (Hrsg.), Nag Hammadi Codex I (lhe Jung Codex) (NHS 22/23), Leiden 1985, I, 55-122; II, 39-135. - H.M. ScHENKE, in: Nag Hammadi Deutsch I, 27-44.- G. LüDEMANN IM. }ANSSEN, Bibel der Häretiker 26---41.- B. LAYTON, lhe Gnostic Scriptures 250-254. - M. KRAusE, Das Evangelium der Wahrheit, in: W. FoERSTER (Hrsg.), Die Gnosis. Bd. 2: Koptische und mandäische Quellen (1971), Zürich 1995, 63-84.- J. HELDERMANN, Die Anapausis im Evangelium Veritatis (NHS 18), Leiden 1984. - DERS., Das Evangelium Veritatis in der neueren Forschung, in: ANRW 11125.5 (1988) 4054-4106. - C. MARKscHIES, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis. Mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT 65), Tübingen 1992, 339-356.- J. H. WRAY, Rest as a lheological Metaphor in the Epistle to the Hebrews and the Gospel ofTruth: Early Christian Homiletics ofRest (SBL.DS 166), Atlanta, GA 1998.
(1) Zur Einordnung
Die dritte Schrift des ersten Kodex aus Nag Hammadi (NHC 1,3) trägt keinen Titel, weder als Überschrift noch als Subscriptio, beginnt aber mit den Worten "Das Evangelium (euaggelion) der Wahrheit ... ", was dazu Anlass gab, ihr in der Forschung den Titel "Evangelium der Wahrheit" beizulegen, vorzugsweise in der latinisierten Form "Evangelium Veritatis" (im Anschluss an Irenäus, s.u.). Ob das Incipit aber gleichzeitig als Titel gedacht war, ist so sicher nicht, auch wenn in der Antike Bücher manchmal nach ihren Anfangsworten zitiert wurden (wie heute noch päpstliche Enzykliken). Zunächst will "Evangelium der Wahrheit" wohl zum Ausdruck brin-
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gen, dass die folgende Schrift von der Wahrheit handelt und die Wahrheit des einen Evangeliums offen legt. Dem Gattungsmuster der kanonischen Evangelien entspricht das EvVer in keiner Weise; es lässt sich eher als Homilie, Meditation, "preisende Ansprache" o.ä. charakterisieren. Der erste Kodex aus Nag Hammadi mit dem EvVer wird auch als "Code:x Jung" bezeichnet, weil er von einem belgischen Antiquitätenhändler aus Ägypten geschmuggelt und 1952 vom Jung Institut in Zürich als Geschenk fiir den Meister erworben wurde (der Grund fiir den Kauf war die Tatsache, dass C.G.Jung sich Zeit seines Lebens fiir die Gnosis interessiert hatte). Die einzelnen Schriften aus NHC I wurden in der Folgezeit in großformatigen Prachtbänden ediert. So kam es, dass 1956 das EvVer als erster aller Texte aus Nag Hammadi im Druck erschien, mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass zwei Blätter fehlten (p.33-36), die später nachgereicht wurden. Bei der Diskussion um den Titel des EvVer und um die Frage nach seinem Verfasser kann man nicht umhin, auf Irenäus von Lyon einzugehen, der bereits ein - in seinen Augen häretisches - "Evangelium der Wahrheit" kennt (Adversus haereses III 11,9): Die Anhänger Valentins kennen aber ihrerseits keinerlei Angst und bringen Schriften von eigener Hand heraus und prahlen damit, mehr Evangelien zu besitzen, als es gibt. Sie haben sich ja zu solcher Frechheit verstiegen, dass sie einem erst kürzlich von ihnen zusammengeschriebenen Buch den Titel "Evangelium der Wahrheit" gegeben haben, obwohl es in nichts mit den Evangelien der Apostel übereinstimmt. So bleibt nicht einmal das Evangelium von ihren Blasphemien verschont.
Die Kompilation dieses Evangeliums schreibt Irenäus den Schülern Valentins zu, nicht Valentinus selbst, und der Titel impliziert in diesem Rahmen einen besonderen Anspruch, mit dem Irenäus sich noch weiter auseinandersetzt: Das "Evangelium der Wahrheit" will das einzig "wahre Evangelium" sein, das allein die unverstellte, echte Offenbarung enthält. Eine inhaltliche Nähe unseres EvVer zur valentinianischen Lehre ist nicht zu leugnen. Seine Abweichung vom Formtyp der kanonischen Evangelien wäre durch die Bemerkung bei Irenäus, dass "es in nichts mit den Evangelien der Apostel übereinstimmt", sogar noch gedeckt. Dass man eine Identifizierung des EvVer aus NHC I und des bei Irenäus erwähnten "Evangeliums der Wahrheit" in Betracht zog, erscheint insoweit verständlich. Man ist in der Forschung aber noch einen Schritt weitergegangen und hat das EvVer als ein Werk des Valentinus selbst ausgegeben, von dessen Schrifttum ansonsten nur wenige Fragmente erhalten sind. Plötzlich ein geschlossenes Werk aus der Hand dieses großen theologischen Lehrers zu besitzen, wäre ein Ereignis ersten Ranges, aber diese
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1hese hält der Nachprüfung kaum stand. Ganz abgesehen von der Frage, ob die Gleichsetzung überhaupt stimmt, behauptet Irenäus gerade nicht, Valentinus sei der Verfasser des "Evangeliums der Wahrheit", sondern er spricht allgemeiner von der Schule Valentins, die in vielem über ihren Meister hinausging. Der Vergleich des EvVer mit den gesicherten Fragmenten ergibt neben Übereinstimmungen auch signifikante Unterschiede, die es nahe legen, das EvVer nicht als ein Frühwerk des Valentinus, sondern als eine spätere Neuinterpretation des valentinianischen Systems aus der Hand eines unbekannten Lehrers anzusehen (s. Markschies). Das hat Folgen für die zeitliche Ansetzung des EvVer, das dann frühestens in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden sein kann. Das gilt analog auch für eine zweite Fassung des EvVer, die man in NHC XII,2 entdeckte, von der aber nur wenige Seiten, die sich in einem schlechten Zustand befinden, erhalten sind (p.53,19-60,30). Die eigentümlich kreisende Denkbewegung und die poetische Kraft der Sprache sorgen einerseits dafür, dass das EvVer zu Recht als die wohl eindrückliebste Schrift unter den Funden aus Nag Hammadi angesehen wird. Andererseits erschweren sie den Zugang und lassen es fast unmöglich erscheinen, dem Bauplan des Werks auf die Spur zu kommen (die folgenden Zwischentitel orientieren sich an den Gliederungsvorschlägen von Attridge und Layton).
(2) Zum Inhalt -Der Prolog Wenn irgendwo der Anfang im Kern schon das Ganze enthält, dann ist das im Prolog des EvVer der Fall, wo die zentralen und großen Begriffe schon fallen, die anschließend entfaltet werden: (p.l6,31-17,4) Das Evangelium der Wahrheit ist ein Frohlocken für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen durch die Kraft des Wortes, das aus der Fülle hervorkam, die im Denken und Verstand des Vaters ist; das ist (das Wort), das man "Erlöser" nennt, denn das ist das Werk, das es vollbringen wird, um die zu erlösen, die den Vater nicht kannten, während der Name "Evangelium" sich auf die Offenbarung der Hoffnung bezieht. Es bedeutet ein Finden für die, die nach ihm suchen.
Das Vorzeichen, das die Tonart des ganzen Stücks bestimmt, lautet: Jubel und Freude über das Geschenk der Erkenntnis des Vaters. Vermittelt wur-
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de sie durch das Wort, das als Person auftritt und sein Werk vollbringt. Dadurch, dass Unkenntnis sich in Erkennen wandelt, vollzieht sich die Erlösung, und davon handelt das Evangelium. Wenn am Schluss das Suchen angesprochen wird und das Finden, fragen wir uns sofort, wo die Ruhe bleibt. Auf ihre erste Erwähnung müssen wir noch ein wenig warten (s.u. zu p.22,12), aber von da an zieht sich die Ruhethematik durch das ganze Werk. Auch anhand der Stellen, die von der Ruhe sprechen, könnten wir uns einen Weg durch das EvVer bahnen (s. Heldermann). -Vom Ursprung des Irrtums Unwissenheit erzeugt Angst und Schrecken, die Angst verdichtet sich zu einem Nebel, dieser verhilft dem Irrtum zur Macht, der jetzt Material vorfindet, aus dem er die Schöpfung gestalten und sie mit einer Macht und Schönheit ausstatten kann, die verführerisch wirkt, aber doch nur kümmerlicher Ersatz für die Wahrheit ist. Das griechische Lehnwort, das im Koptischen für den personifizierten Irrtum verwendet wird, lautet Plane und ist ein Femininum. Plani ersetzt hier die untere Sophia, die gefallene Weisheit, aus dem Schöpfungsmythos der Valentinianer. -Vom Kommen des Erlösers Weil Jesus den unwissenden Menschen die frohe Botschaft bringt, weil er sie erleuchtet und ihnen den Weg zeigt, greift der Irrtum zu Gegenmaßnahmen: (p.l8,21-31) Deswegen wurde der Irrtum (besser wäre: die Plane) zornig gegen ihn und verfolgte ihn ... Er wurde an ein Holz genagelt, und er wurde zu einer Frucht der Erkenntnis des Vaters, die kein Verderben brachte, wenn man sie aß, sondern denen, die sie aßen, wurde sie zum Anlass freudigen Findens. Und er fand sie in sich selbst, und sie fanden ihn in sich selbst.
Den realen Tod Jesu am Kreuz stellt das EvVer nicht in Frage, es interpretiert ihn hier nur und überblendet ihn mit der Erzählung vom Sündenfall im Paradies. Dort brachte das Essen vom Baum der Erkenntnis den Tod über die Menschen, während jetzt der Verzehr der Frucht vom Holz des Kreuzes, im Klartext das Erkennen, den Suchprozess zum freudigen Abschluss bringt. Sodann wird in Anlehnung an die johanneische Sprache der Immanenz ("ihr in mir und ich in euch") das Finden, das zugleich Erkennen besagt, zu einer reziproken Aussage ausgestaltet: sie (die Erlösten) in ihm und er (der Erlöser) in ihnen.
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In eine schöne reziproke Formulierung mündet auch der nächste Absatz ein, der Jesu Auftreten als Lehrer schildert, wahrscheinlich in Anlehnung an Lk 2,46-49 und möglicherweise auch an Kindheitserzählungen nach Art des KThom (s.o. Kap. Sb): (p.l9,17-34) Er wurde zu einem Wegweiser, ruhig und ausdauernd. In den Schulen trat er auf und sprach das Wort als Lehrer. Es kamen Männer, die sich selbst für weise hielten, und wollten ihn einem Test unterziehen. Er aber widerlegte sie, denn sie waren leer ... Danach kamen auch die kleinen Kinder, denen es eigen ist, um den Vater zu wissen ... Sie haben erkannt, sie wurden erkannt; sie wurden verherrlicht, sie haben verherrlicht.
Mit den kleinen Kindern sind die Gnostiker gemeint, aber diese Bezeichnung geht aus von der Erfahrungstatsache, dass in den Familien kleine Kinder ihren Vater gut kennen. Vergleiche, Bildworte und Gleichnisse, teils mehr angedeutet als ausgeführt und eigentlich immer mehrdimensional angelegt, dienen im EvVer des Öfteren zur Illustration der Lehre, so gleich im Folgenden, wo das Buch als Grundmetapher zum Einsatz kommt. - Das Buch der Offenbarung In den Herzen der Kleinen wird das "lebendige Buch der Lebenden" offenbart, das seit Grundlegung der Welt bereitliegt, das aber niemand in Empfang nehmen kann, außer dem, "der geschlachtet wird" (vgl. Offb 5,1-12). Erneut unterstreicht das EvVer die soreriologische Bedeutung des Sterbens Jesu und veranschaulicht sie mit zwei Fortschreibungen der Buchmetaphorik (Testament und Edikt): (p.20, 10-28) Deswegen war der barmherzige, der treue Jesus geduldig im Enragen der Leiden, bis er das Buch nahm, da er wusste, dass sein Tod Leben für viele ist. Wie in einem Testament, ehe es geöffnet wird, das Vermögen des verstorbenen Hausherrn verborgen ist, so verhält es sich mit der Gesamtheit dessen, was verborgen lag ... Deswegen ist Jesus erschienen. Er zog das Buch an. Er wurde an ein Holz genagelt. Er veröffentlichte arn Kreuz die Verlautbarung des Vaters (vgl. Kol2, 14). 0, was für eine erhabene Lehre!
Der Prediger gerät zuletzt selbst ins Staunen über das, was er zu verkünden hat. Das rückt auch die Kommunikationssituation des EvVer in den Blick, denn solche Ausrufe sind auf eine Hörerschaft und ein Lesepublikum hin berechnet. Auch an anderen Stellen ergreift der Autor in der Ich-Form direkt das Wort (p.27,34f.: "Ich sage also nicht, dass sie nichts sind") oder flicht Anreden in der Ihr-Form ein (s.u. zum paränetischen Abschnitt in p.31,31-33,32). Von der Buchmetaphorik, die in p.22,28-23,18 wiederkehrt, wird eine programmatische Passage gerahmt, die auch die mit Spannung erwartete erste Erwähnung der Ruhe enthält:
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(p.22,2-15) Deswegen, wenn jemand Erkenntnis hat, ist er von oben. Wenn er gerufen wird, hört er. Er antwortet, und er wendet sich dem zu, der ihn ruft, und steigt aufzu ihm. Und er erkennt, in welcher Weise er gerufen wird. Da er Erkenntnis hat, tut er den Willen dessen, der ihn ruft. Er möchte ihm gefallen, er emp.fongt Ruhe ... Wer auf diese Weise Erkenntnis erwirbt, weiß, woher er kommt und wohin er geht.
Grundfragen der Gnosis sind hier angesprochen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Der Weckruf, den der Erlöser erschallen lässt, kann zum Inbegriff des Erlösungsvorgangs werden. Aufstieg und Ruhe signalisieren sein Ziel. - Die Erlösung im Gleichnis Leider, muss man fast sagen, begegnen im EvVer solche programmatischen Aussagen auf Schritt und Tritt. Wir müssten z. B. auf das "große Wunder" eingehen, das darin besteht, dass auch die Irrenden im Vater waren und aus ihm kamen, ohne es zu wissen (p.22,27-33). Wir müssten eingehen auf die eigentümliche Trinität von Vater, Mutter und "Jesus von unendlicher Süße" (p.24,7-9), wo sich hinter der Mutter der Heilige Geist verbirgt, oder auf die grundsätzliche Feststellung: "Da der Mangel entstanden war, weil der Vater nicht bekannt ist, deshalb wird, wenn der Vater bekannt ist, von dem Moment an der Mangel nicht länger existieren" (p.24,28-32), die Parallelen in den Gnosisreferaten der Kirchenväter hat. Wir machen aber im Text einen kleinen Sprung zum Gleichnis von den Tongefäßen, das Aspekte des Erlösungsvorgangs schildert: (p.25,25-26, 15) Es ist wie bei Menschen, die aus Wohnorten ausgezogen sind und Gefäße harren, die stellenweise nicht gut waren. Diese gingen zu Bruch, aber der Eigentümer des Hauses erlitt keinen Schaden. Vielmehr freut er sich, denn anstelle der schlechten Gefäße gibt es nun volle Gefäße, die aufgebraucht werden. Denn dies ist das Gericht, das von oben gekommen ist ... Es ist ein gezogenes Schwert mit zwei Schneiden, die nach beiden Seiten schneiden (vgl. Hebr 4,12). Als das Wort erschien- es ist nicht allein ein Ruf, sondern es wurde ein Körper - entstand unter den Gefäßen eine große Verwirrung, denn einige wurden entleert, andere halb gefullt, andere ganze gefüllt. Einige wurden gereinigt, andere zerbrochen.
Zunächst zum Bildteil: Mieter ziehen aus einer Wohnung aus, dabei gehen Tongefäße zu Bruch. Dem Besitzer macht das nichts aus, da die Gefäße, die zerbrochen sind, sowieso schadhaft waren und er an ihrer Stelle neue einsetzen kann. So ähnlich geht es zu beim Kommen des Erlösers, das zugleich auch Gericht bedeutet. Wertloses wird entfernt, Wertvolles gerettet, eine Scheidung durchgeführt. Zu den "Opfern" gehört auch der Irrtum, der verwirrt ist und nicht mehr weiß, was er tun soll.
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Der Erlöser erscheint als Wort und Ruf, aber nicht nur als Ereignis der Sprache, sondern mit einem Körper (söma). Wie realistisch Inkarnation hier zu denken ist, hängt auch von der Interpretation einer späteren Stelle ab, wo der Erlöser in "fleischlicher Gestalt" erscheint (p.31,5f.). Hier kommt nämlich auch der Begriff "Fleisch" (sarx) vor, der in Joh 1,14 verwendet wird, und es fallt nicht ganz leicht, auch wenn es manchmal versucht wird, diese Aussage im Kontext des EvVer rein doketistisch zu deuten. - Das unedöste Dasein: ein Albtraum Wie unerlöstes Dasein aussieht, schildert das EvVer in einer Sequenz von albtraumartiger Kraft: (p.29,8-28) ... wie wenn jemand in tiefen Schlaf fällt und sich mitten in erschreckenden Träumen wiederfindet: Entweder befinden sie sich selbst auf der Flucht an einen (sicheren) Ort, oder sie kommen kraftlos von einer (vergeblichen) Verfolgungsjagd zurück, oder sie sind in ein Handgemenge verstrickt, Hiebe austeilend und Hiebe empfangend, oder sie sind aus der Höhe herabgefallen, oder sie werden nach oben in die Luft getragen, obwohl sie keine Flügel haben. Manchmal ist es, als ob andere sie ermorden würden, obwohl niemand sie überhaupt verfolgt, dann wieder ermorden sie ihre Nachbarn und sind mit ihrem Blut beschmiert- bis sie, nachdem sie all dies durchgemacht haben, aufwachen und nichts sehen (weil nichts da ist).
Der Albtraum in der Nacht entspricht dem Zustand der Unwissenheit. Wer zur Erkenntnis gelangt, wacht auf und kommt ins Licht. Zwei Seligpreisungen, die strukturell gesehen in der Mitte des Werkes stehen, fangen das Schreckensgemälde auf: "Gut für den Menschen, der heimkehrt und aufwacht! Selig ist der (d. h. Jesus), der die Augen der Blinden geöffnet hat" (p.30,13-16). - Der gute Hirt Einen weiteren Ruhepunkt im unaufhörlichen Strom der Assoziationen, aus denen das EvVer besteht, bietet das Gleichnis von Jesus als Hirt (vgl. Joh 10,11), das Mt 18,12f. mit Mt 12,11f. kombiniert: (p.31 ,35-32,22) Er ist der Hirt, der die neunundneunzig Schafe zurückließ, die nicht in die Irre gegangen waren. Er kam und suchte nach dem einen, das in die Irre gelaufen war. Er freute sich, als er es fand, denn neunundneunzig ist eine Zahl, die in der linken Hand ist, die sie hält. Aber wenn die Eins gefunden wird, geht die ganze Zahl über in die rechte Hand ... Selbst am Sabbat arbeitete er für das Schaf. das er in die Grube gefallen fand. Er gab dem Schaf Leben, als er es aus der Grube zog ...
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Die rechte Hand ist immer glückverheißender als die linke, und hundert ist im Vergleich zu neunundneunzig eine vollkommene Zahl, der nichts mehr fehlt. Außerdem gab es bei den Römern eine Zählweise, die es ermöglichte, Zahlen mithilfe der Finger durch Gesten auszudrücken, und bei hundert sprang die Zählweise über von der linken in die rechte Hand. Das wird hier als kulturelles Wissen vorausgesetzt. - Werke der Barmherzigkeit Ein längerer paränetischer Abschnitt, der sich direkt an die Adressaten wendet, scheint zunächst traditionelle Werke der Barmherzigkeit zu empfehlen: Kranke heilen, Hungernde speisen, aber es wird rasch klar, dass diese Werke metaphorisch zu verstehen sind, als erste Hilfe in geistlichen Notlagen: (p.33,1-,-9) Macht fest den Fuß derer, die gestolpert sind, und streckt aus eure Hände nach denen, die krank sind. Speist die, die hungrig sind, und gebt Ruhe den Geplagten. Und richtet die auf, die aufstehen wollen, und weckt die, die schlafen. Denn ihr seid die Klugheit ...
Die geforderten Hilfeleistungen sind mehr solche intellektueller und spiritueller Art, und die Fortsetzung legt den Adressaten vor allem auch die Selbstsorge ans Herz. - Die Salbung Zu den Eigenarten des EvVer gehört es auch, dass manche Themen und Bilder zwischenzeitlich völlig verschwunden zu sein scheinen, an späterer Stelle aber plötzlich wieder an der Oberfläche auftauchen. So werden wir zwischendurch daran erinnert, dass wir eine Heilsbotschaft vernehmen, die das Suchen und Finden zum Inhalt hat: "Dies ist das Wort des Evangeliums vom Finden der Fülle, (bestimmt) für diejenigen, die auf die Erlösung warten, die von oben kommt" (p.34,35-35,2). Das Gleichnis von den Gefäßen wird reaktiviert, um die Salbung zu deuten, die Christus spendet. Wir verzichten bei seiner Wiedergabe zunächst bewusst darauf, deutende Elemente einzutragen (außer einigen Anführungszeichen): (p.36, 19-34) Diejenigen aber, die er gesalbt hat, sind die, die vollkommen geworden sind. Denn gefüllte Gefäße sind gewöhnlich diejenigen, die,gesalbt' sind. Aber wenn die,Salbung' eines Gefäßes aufgehoben wird, wird es geleert, und die Ursache für seinen Defekt liegt gerade darin, dass die,Salbung' dahingeht. Denn in so einem Fall wird ein Windhauch und die Kraft, die mit ihm einhergeht, es,ziehen'. Aber von dem, der keinen Mangel hat, wird kein Siegel entfernt und nichts wird entleert, sondern das, woran es ihm mangelt, füllt der vollkommene Vater wieder auf.
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Das Gleichnis wirkt nahezu unverständlich und scheint selbst mehr der Deutung zu bedürfen, als dass es die Salbung deuten hilft. Man braucht einen Schlüssel, und den gibt ausgerechnet die Anwendung mit dem Ausdruck "Siegel" an die Hand. Mit der "Salbung" ist die Versiegdung von Amphoren mit heißem Wachs gemeint. Ein intaktes Siegel deutet auf ein volles Gefaß. Zerbricht ein Siegel, läuft der flüssige Inhalt aus, oder er verdunstet infolge der Einwirkung der warmen Luft. Die Übertragung erfolgt e contrario: Wer die Salbung empfangen hat, ist vollkommen geworden, leidet keinen Mangel mehr und braucht nicht zu befürchten, dass ihm dieses Siegel wieder verloren geht und er "ausläuft" oder "austrocknet". Im EvPhil gehört die Salbung zu den drei Grundsakramenten, die auch in gnostischer Praxis Sinn machen. Im EvVer haben wir nur diese eine Anspielung auf die Salbung, und die ganze Passage kann übertragen gelesen werden, mit der Salbung als Metapher für das Erwähltsein und die Erkenntnis. Dennoch ist es nicht völlig auszuschließen, dass auch für das EvVer die Salbung mit konkreten gemeindlichen Vollzügen zu korrelieren ist. -Von den Namen Im vorletzten größeren Abschnitt entwickelt das EvVer in anspruchsvollen Gedankengängen eine Lehre über die "Namen", die aus dem jüdischen Nachsinnen über den unaussprechlichen, verborgenen Namen Gottes hervorgegangen ist und Elemente einer förmlichen Sprachtheorie enthält. Auf die knappste Formel wird sie gebracht durch die These: "Der Name des Vaters aber ist der Sohn" (p.38,6f.), der eine Erläuterung mitgegeben wird: (p.38,7-17) Er (der Vater) ist es, der dem zuerst einen Namen gab, der aus ihm hervorging, der er selbst war, und er brachte ihn hervor als Sohn. Er gab ihm seinen Namen, der ihm gehörte. Er ist derjenige, zu dem alles gehört, was in seinem Umkreis existiert, der Vater. Sein ist der Namen, sein ist der Sohn. Es ist möglich für ihn (den Sohn), gesehen zu werden. Der Name jedoch ist unsichtbar ...
Wir geraten in die Nähe von trinitätstheologischen Reflexionen, die aber nicht argumentativ dargelegt, sondern assoziativ weitergesponnen werden. Die Kurzformel "Der Name des Vaters ist der Sohn" kann man der Erläuterung zufolge ("Er [der Vater] gab ihm [dem Sohn] seinen [eigenen] Namen") auch umkehren. Es überlagern sich darin verschiedene Sinnebenen: (1) Möglicherweise wurde im Umkreis des EvVer der Name "Vater'' sogar als seltener, besonders exklusiver Hoheitstitel für Jesus Christus gebraucht.
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(2) Was ein Name für seinen Referenten, d. h. für den Gegenstand, auf den er sich bezieht, leistet, das leistet der Sohn für den Vater: Er benennt ihn, bezeichnet ihn und hält ihn sprachlich gegenwärtig. Das bedeutet schon einiges, wenn man bedenkt, dass im Judentum selbst der Name Gottes unaussprechlich war. (3) Einen Namen bekommt man nicht zu Gesicht, ein Name wird nur zu Gehör gebracht. Den Sohn aber kann man sehen, man erblickt ihn in Menschengestalt. Mit ihm ist der Name des Vaters nicht nur vernehmbar, sondern auch anschaulich geworden. Keine Frage: "Etwas Großes ist der Name" (p.38,24). -Von der Ruhe Was am Ende steht, würde man fast schon vermuten: der Ort der Fülle (pleroma) und der Ruhe. Aus ihm kommt der Erlöser, zu ihm kehrt er zurück. Der Ruheort ist aber keine rein endzeitliche Größe, sondern reicht, über die Gemeinschaft mit Vater und Sohn vermittelt, in die Gegenwart hinein, die ansonsten als Wartezeit auf die Vollendung anzusehen ist. Das kann man dem Idealporträt entnehmen, das der Verfasser von seinen Adressaten entwirft: (p.42, 11-38) Das ist die Art derer, die etwas von oben besitzen, von der unermesslichen Größe, während sie auf den einen allein warten und auf den Vollkommenen, der für sie da ist. Und sie gehen nicht hinunter zum Hades, ... sondern sie ruhen in dem, der selbst ruht ... Der Vater ist mit ihnen, und sie sind im Vater, ... wobei sie in nichts irgendeinen Mangel haben, sondern sie haben Ruhe und werden durch den Geist erfrischt.... Das ist der Ort der Seligen, das ist ihr Ort.
Hier bringt sich zuletzt auch der Autor selbst ein und verrät uns den Grund für seine manchmal monoman anmutende Predigtweise: Alle sollen wissen, "dass es für mich nicht angemessen ist, nachdem ich am Ort der Ruhe verweilt habe, über etwas anderes zu reden" (p.42,41-43,2). Und vor Augen hat er als Gruppe, zu der er spricht, "die wahren Brüder, über denen die Liebe des Vaters ausgegossen ist" (p.43,5-6), wie über ihm selbst. Er redet aus eigenem Erleben und eigener tiefer Einsicht.
(3) Rückblick Auch wenn es nicht Valentinus war, der dieses Werk geschrieben hat, so muss es sich bei seinem Verfasser doch um einen sehr begabten und gebildeten Theologen handeln, der weiß, was er tut, und seine Effekte sehr
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genau kalkuliert. Sein Text hat etwas Kreisendes und Schwebendes, um nicht zu sagen Waberndes an sich, das eine regelrechte Sogwirkung ausübt. Dennoch führt andererseits der Gedankengang zielgerichtet über mehrere Stationen vom Finden zur Ruhe. Die Gleichnisse gehen teils auf genaue Beobachtungen aus dem Alltag zurück und werden in origineller Weise eingesetzt. Die Beschreibung eines Albtraums mit Flug- und Fallträumen könnte in ein psychologisches Lehrbuch übernommen werden. Es ist schade, dass wir den Autor des EvVer nicht mehr kennen und keine weiteren Werke dieser Art besitzen, die uns mehr Vergleichsmöglichkeiten bieten und die Erschließung dieses einen Exemplars erleichtern würden. Eine leichte Lektüre bietet das EvVer trotz allem nämlich nicht, und von den allgemeinen Verstehensschwierigkeiten ist auch die Bestimmung seines Lehrgehalts betroffen. Man muss schon sehr genau hinschauen und über etliche Vorinformationen verfügen, um die gnostischen Züge in diesem Werk aufzuspüren. Sie sind vorhanden, vor allem, was die Plane, den Irrtum in Person, angeht, und auch die Gewichtung mancher Themen, insbesondere der Erkenntnisfrage, weist in eine gnostische Richtung. Aber das meiste davon klingt für ungeschulte Ohren völlig orthodox, und je nach Auslegung einiger Schlüsselpassagen gäbe es an der Christologie des EvVer aus rechtgläubiger Sicht wenig auszusetzen. Die Inkarnation ließe sich eventuell aus zwei Stellen herauslesen, und der Kreuzestod wird nicht eliminiert, es kommt vielmehr zu einer soteriologischen Deutung des Sterbens Jesu als Teil seines Erlösungswerks zugunsten der vielen. Es stellt sich die Frage, ob unsere Kategorien "orthodox" und "häretisch" nicht überhaupt angesichts eines solchen komplexen Werkes versagen. Aber auch das wäre eine Lehre, die es wert ist, festgehalten zu werden. Eine Frage, die uns sonst immer wieder beschäftigt hat, stellt sich beim EvVer nur am Rande: die nach seinem Verhältnis zu den neutestamentlichen Schriften. Das liegt unter anderem daran, dass pointierte, knappe Jesusworte, über deren traditionsgeschichtlichen Status man sich streiten könnte, völlig fehlen, und dass es auch keine Erzählungen über Jesus gibt. Berührungen stellen sich einmal bei manchen Bildern (Hirt, Schaf) ein, sodann bei Titeln und Termini (Sohn, Salbung, Fleisch). Die Valentinianer haben bereits bewusst Exegese betrieben, einen Grundbestand an neutestamentlichen Schriften also gekannt und benutzt. Aus einem solchen Schulkontext - unter Einbezug des Gottesdienstes - dürfte die biblisch gefärbte Sprache des EvVer stammen.
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8. Gespräche mit dem auferstandenen Jesus Literatur: H. KoESTER, Ancient Christian Gospels 173-200.- J. HARTENSTEIN, Die zweite Lehre. - S. PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 35-93. - P. PEaKINS, The Gnostic Dialogue: The Early Christian Church and the Crisis of Gnosticism (Theological lnquiries), New York 1980. - K. RuoOLPH, Der gnostische "Dialog" als literarisches Genus (1968), in: 0ERS., Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (NHMS 42), Leiden 1996, 103-122.
Verschiedentlich schon sind wir auf ein literarisches Phänomen zu sprechen gekommen, für das die Forschung inzwischen die Bezeichnung "Dialogevangelien" verwendet. Ein Dialogevangelium beginnt mit der Erscheinung des auferstandenen Herrn im Jüngerkreis, es folgen Gespräche und Reden, und am Schluss verabschiedet sich der Auferstandene und steigt endgültig zum Himmel auf. Wo überhaupt präzise Zeitangaben gemacht werden, können die vierzig Tage, die nach Apg 1,3 zwischen Ostern und Himmelfahrt liegen, dazu fast beliebig erweitert werden (elf Jahre sind es in der "Pistis Sophia"). Die Ansätze für die Entwicklung der Gattung sind denn auch in den neutestamentlichen Erscheinungsberichten zu suchen; namentlich die Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen aus Anlass einer Ostererscheinung auf einem Berg in Galiläa in Mt 28,11-20 bot einen Anhaltspunkt. Zusätzlich eingewirkt haben literarische Modelle aus der antiken Literatur: die platonischen Dialoge, die vielfach nachgeahmt wurden, und eine Literaturform, die "Erotapokriseis" genannt wird. Bei ihr handelt es sich um eine Abfolge von Fragen (griech. erötaö [Verbform]) und Antworten (griech. apokriseis), mit deren Hilfe Lehr- und Wissensstoff aufbereitet und vermittelt wird. Wenn man die Texte, die in der Sekundärliteratur schon zu den Dialogevangelien gezählt wurden, zusammenstellt, ergibt sich eine beeindruckende Liste mit fast 20 Titeln, die in der folgenden Übersicht erfasst sind: - Die erste Apokalypse des Jakobus (NHC V,3) - Die zweite Apokalypse des Jakobus (NHC V,4) -Die Apokalypse des Paulus (NHC V,2) -Die Apokalypse des Perrus (NHC VII,3) -Das Apokryphon des Johannes (NHC II, 1 u.ö.} -Der Brief des Perrus an Philippus (NHC VIII,2) -Das Buch des Thornas (NHC II,7) -Die beiden Bücher des Jeu (aus dem kopr. "Codex Brucianus", vgl. GCS 45) -Der Dialog des Erlösers (NHC III,5) - EpisrolaJacobi apocrypha (NHC 1,2) - Episrula Apostolorum (s.u. Punkt b)
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-Das Evangelium der Maria (BG 8502,1; s.u. Punkt c) - Freer Logion (s.o. Kap. 1b;Nr.4) -Die Hypostase der Archonten (NHC II,4) - Piscis Sophia (aus dem kopt. "Codex Askewianus", vgl. GCS 45) -Die Sophia Jesu Christi (NHC III,4; BG 8502,3) - Die Taten des Petrus und der zwölf Apostel (NH C VI, 1) -Das Thomasevangelium (NHC II,2; s.o. Kap. 7a) - Zostrianus (NHC VIII, I)
Schon eine flüchtige Durchsicht der Liste fordert bemerkenswerte Einsichten zutage. Der größte Teil dieser Schriften stammt aus dem Fund von Nag Hammadi, und auch wo das wie beim "Evangelium der Maria", bei der "Pistis Sophia" und den "Büchern des Jeu" nicht der Fall ist, haben wir es doch mit eindeutig gnostischen Schriften in koptischer Sprache zu tun. Eine echte Ausnahme stellt vor allem die nichtgnostische "Epistula Apostolorum" dar. Aber eine besondere Affinität gnostischen Denkens zu dieser literarischen Form lässt sich nicht leugnen. Der Grund dafür ist auch leicht auszumachen: Auf diese Weise konnten spezifisch gnostische Stoffe als Sonderoffenbarung des Herrn ausgewiesen und legitimiert werden. Sie enthalten, mit dem treffenden Titel des Buchs von Judith Hartenstein gesagt, "die zweite Lehre", die die Botschaft des irdischen Jesus aufnimmt, fortführt und überhöht. Weiter fallt auf, dass außer dem EvMar keiner dieser Texte die Bezeichnung "Evangelium" im Titel trägt, Eigenbezeichnung und Fremdbezeichnung also wieder auseinander klaffen. Das stellt uns vor ein echtes Problem, denn auch aus anderen Gründen ist es geradezu auszuschließen, dass alle diese Texte einer einzigen Gattung angehören. "Die Apokalypse des Paulus" z. B., die eine Himmelsreise der Seele des Apostels schildert, wird man zu den Apokalypsen zählen, und das ist, wenn man einen weiten Begriff von ,,Apokalypse" als Offenbarungsschrift zugrunde legt, auch bei anderen der oben genannten Apokalypsen möglich. "Die Taten des Petrus und der zwölf Apostel" sind im Umkreis der apokryphen Apostelakten zu verorten. "Der Brief des Petrus an Philippus" verfügt- anders als die "Epistula Apostolorum"- über eine möglicherweise sekundäre, aber doch sehr ausgeprägte briefliche Rahmung, so dass nicht einzusehen ist, warum man ihn nicht auch bei den Briefen behandeln könnte. Das EvThom gehört als reine Spruchsammlung mit verschwindend geringem Dialoganteil und ohne klare nachösterliche Situierung keinesfalls hierher. So könnten wir fortfahren und würden im Endeffekt weniger als zehn Titel übrig behalten. Wir wählen für unsere Zwecke wieder aus. Wir behandeln die "Sophia Jesu Christi" als das vermutlich älteste Beispiel eines Dialogevangeliums
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und die "Epistula Apostolorum" als gleichfalls unstrittige und zugleich nichtgnostische Vertreteein der Gattung, außerdem noch das "Evangelium der Maria", das den Vorteil hat, dass es sich selbst als Evangelium bezeichnet und zugleich zur Hauptsache aus einem Erscheinungsdialog besteht. Schließlich gehört hierher wegen seiner dialogischen Rahmung auch "Das Apokryphon des Johannes", die vielleicht wichtigste gnostische Offenbarungsschrift überhaupt, die nicht nur im Titel Affinitäten zu den Schriften hat, die wir als ,,Apokryphen" bezeichnen (dass sie in NTApo 6 zwar kurz erwähnt, aber nicht behandelt wird, erscheint schwer verständlich). Zwei weitere Werke, den "Dialog des Erlösers" und das "Buch des Thomas" (sie werden in NTApo6 beide unter den Dialogevangelien in vollem Umfang geboten), verweisen wir aus Gründen, die dort noch zu erörtern sind, in ein eigenes Kapitel.
a) Die Sophia Jesu Christi (SJC) Literatur. WC. TILL I H. M. SCHENKE, Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 21972, 52-61.194-295.- J. HARTENSTEIN, in: Nag Hammadi Deutsch I, 323-379.- D. M. PARROTT, Nag Hammadi Codices III,3-4 and V,1 with Papyrus Berolinensis 8502,2 and Oxyrhynchus Papyrus 1081 (NHS 27), Leiden 1991 (exzellente Synopse aller Texte).- D. LÜHRMANN, Fragmente 96-101 (fur POxy 1081).- G. LüDEMANN IM. jANSSEN, Bibel der Häretiker 256-268.- J. HARTENSTEIN, Die zweite Lehre 35-62.
(I) Zur Einordnung "Die Sophia Jesu Christi" (abgekürzt als SJC), die diesmal nicht nur in der Subscriptio, sondern auch in der Eingangszeile diesen Titel trägt, ist in zwei koptischen Versionen überliefert, als dritte Schrift im "Berolinensis Gnosticus" (BG 8502,3 p.77,8-127,12), und als vierte Schrift im Kodex III von Nag Hammadi (NHC III,4 p.90,14-119,18). Hinzu kommt noch als POxy 1081 ein griechisches Fragment mit knapp 50 Zeilen. Die Überlieferungslage ergibt somit ein inzwischen vertrautes Bild: Die koptischen Abschriften aus dem 4. oder 5. Jahrhundert werden ergänzt durch das griechische Papyrusfragment aus dem 3. oder frühen 4. Jahrhundert, was eine ursprüngliche Abfassung in griechischer Sprache und - im Verbund mit anderen Erwägungen - eine Entstehung der SJC im 2. Jahrhundert als sicher erscheinen lässt.
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Bei der SJC liegt der Sonderfall vor, dass wir ihre Vorlage noch kennen. Gleichfalls doppelt überliefert ist im Schriftenkorpus von Nag Hammadi der "Eugnostosbrief" (NHC III,3 und V, I), der so genannt wird, weil er mit einem typischen Briefpräskript beginnt: "Eugnostos, der Selige, an die, die zu ihm gehören, zum Gruß". Die Parallelen, die zwischen dem Eugnostosbrief, der keine explizit christlichen Aussagen macht, sondern mehr einem philosophischen, mittelplatonischen Traktat gleicht, und der SJC bestehen, erklären sich so, dass der Autor der SJC den Eugnostosbrief benutzt und in sein Werk eingearbeitet hat. Dabei hat er seine Vorlage in christlichem, gnostischem und heilsgeschichtlichem Sinn ergänzt und alles weggelassen, was nicht zu dieser Absicht passte. "Sophia" bedeutet "Weisheit", und die Genitivverbindung "Weisheit Jesu Christi" lässt sich auf doppelte Weise auflösen, was vielleicht sogar intendiert war. In Analogie zum deuterokanonischen Buch der "Weisheit Salomos" kann man darunter die Weisheitslehren verstehen, die Jesus Christus vorgetragen hat; das wäre die Auskunft, die Außenstehende, Nichteingeweihte dem Titel entnehmen sollen. Aber im Texrinnern begegnet verschiedentlich die Sophia als mythische Größe und als Paargenossin Jesu, die mit ihm eine Syzygie bildet. Für die Wissenden würde der Titel also besagen, dass der Text die personifizierte himmlische Weisheit als weibliches Pendant zum Erlöser vorstellen wird. Was die Zitierung angeht, müssen wir wieder zur Angabe von Seite und Zeile greifen, und wir folgen dabei, sofern nicht anders vermerkt, der Fassung der SJC aus NHC III,4. Den Seitenblick auf BGU 8502,3 und den Vergleich mit dem Eugnostosbrief müssen wir den Spezialausgaben überlassen.
(2) Zum Inhalt In der Eingangspassage versammeln sich nach der Auferstehung Jesu zwölf Jünger und sieben Frauen auf einem Berg in Galiläa, der den verheißungsvollen Namen "Weissagung und Freude" trägt. Dennoch stellen die Jünger und Jüngerinnen als erstes fest, dass sie ratlos sind. Der Erlöser, wie er im Erzählreferat fast durchgehend genannt wird, erscheint ihnen, (p.91,10-22) nicht in seiner früheren Gestalt, sondern als unsichtbarer Geist. Sein Aussehen war vergleichbar dem eines großen Engels des Lichts. Seine Gestalt aber werde ich nicht beschreiben können. Kein sterbliches Fleisch könnte ihn ertragen, sondern nur ein reines, vollkommenes Fleisch in seiner Art, worüber er uns belehrte, auf dem Berg, den
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man,den der Oliven' nennt, der in Galiläa ist. Er sprach: "Friede sei mit euch. Meinen Frieden gebe ich euch."
Der "Berg der Oliven" meint den Ölberg, trotzder falschen Lokalisierung in Galiläa. Auf diesem Berg haben die Jünger die VerklärungJesu miterlebt, die schon einen Vorgeschmack von der Erscheinungsweise des Auferstandenen gab. Was folgt, lässt sich verhältnismäßig einfach gliedern anhand der dreizehn Gesprächsgänge zwischen Jesus und dem Jüngerkreis. (1) Der erste Durchgang wird vom Erlöser selbst provoziert mit seiner Frage: "Worüber denkt ihr nach? Warum seid ihr verwirrt? Wonach sucht ihr?" (p.92,1-3). Darauf antwortet Philippus: "Nach dem wahren Wesen des Alls und dem Heilsplan" (p.92,4f.). Der Erlöser spricht daraufhin von der vergeblichen Suche der Menschen nach Gott und veranschaulicht sie am Beispiel der Weisesten unter ihnen, der griechischen Philosophen, die je nach Schule das Weltganze, die Vorsehung oder das Schicksal als höchste Macht ansahen (man denkt unwillkürlich an Epikureer, Stoiker und Skeptiker). Über diese leicht zu widerlegenden Positionen führt nur jene Erkenntnis hinaus, die durch Offenbarung vermittelt wird. (2) An der Stelle greift Matthäus ein und gibt durch Bekenntnis und Bitte (p.94,1-4: "Herr, niemand kann zur Wahrheit finden außer durch dich. Lehre uns doch die Wahrheit.") den Anstoß zur zweiten Jesusrede, die in Form einer negativen Theologie Aussagen über den höchsten Gott macht bzw. präzise Auskünfte über ihn verweigert: (p.94,5-95,18) ... Er ist ewig, weil er keinen Ursprung hat ... Er ist ungezeugt, weil er keinen Anfang kennt ... Niemand herrscht über ihn, er hat keinen Namen ... Man kennt ihn nicht, aber er kennt sich selbst. Er ist unermesslich. Er ist unzugänglich ... Man nennt ihn: "Vater des Alls".
(3) Die dritte Frage ist Philippus anvertraut: "Herr, wie hat er (der höchste, unfassbare Gott) sich dann den Vollkommenen offenbart?" (p.95,19f.). Die relativ kurze, aber besonders schwer verständliche Antwort läuft darauf hinaus, dass die, die der Selbsterschließung des höchsten Gottes gewürdigt werden, dazu nicht nur im Voraus bestimmt sein, sondern in seiner unermesslichen Denkkraft in vergeistigter Form, in einer Art Präexistenz also, bereits vorhanden sein müssen. (4) Aus der Antwort auf die vierte Frage, die Thomas stellt (in p.96,1517), heben wir nur den Weckruf hervor, der hier zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in dieser Schrift eingesetzt wird und der mit einer Fortsetzung versehen ist, die man schon als Agraphon (s. Kap. 1) zu klassifizieren versuchte:
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(p.97,19-24) Er rief aus, indem er sprach: "Wer Ohr~n hat, um die unendlichen Dinge zu vernehmen, der höre!", und: ,;Ich habe mich an die gewandt, die wach sind".
(5) Als Einzige aus dem Kreis der sieben Frauen kommt mit der fon.ften Frage Maria Magdalena direkt zu Wort (p.98, lOf.): "Herr, wie werden wir das denn erkennen?" In seiner Antwort holt der "vollkommene Erlöser" weit aus und schildert, wie aus dem obersten Prinzip die anderen Größen hervorgehen. Der "anfanglose Vorvater" und "Herr des Alls" betrachtete sich selbst in einem Spiegel, sein Ebenbild verselbstständigte sich, und so kam der Prozess der Emanationen in Gang. (6) Bei der sechsten Frage tritt wieder Matthäus in Aktion: "Herr, Erlöser, wie wurde der Mensch offenbart?" (p.100,17-19). Gemeint ist eine mythische Größe, der Urmensch, ein unsterbliches und androgynes Wesen unterhalb des "Vorvaters", wie die Antwort klarstellt. Damit er seine Erlösungsfunktion ausüben kann, bedarf es noch einer Mittelinstanz, die manches mit dem Parakleten der johanneischen Abschiedsreden gemeinsam hat: (p.l01,9-16) ... damit durch jenen unsterblichen (Ur-)Menschen sie (die Menschen) ihre Erlösung erlangen und damit sie aufwachen aus dem Vergessen durch (das Wirken des) Auslegers (hermineutes), der bei euch bleiben wird bis zum Ende der Armut der Räuber. Und seine Gefährtin (synqgos) ist die Weisheit (sophia), die große ...
Was ,,Armut" in dem Zusammenhang besagt, klärt sich, wenn wenig später diese Welt als "Schöpfung der Armut" bezeichnet wird, und die "Räuber" sind die weltbeherrschenden Mächte, die sich in den unteren Himmeln aufhalten und menschliche Seelen "rauben" wollen. (7) Um die Sophia als Paargenossin des Erlösers und um seine verschiedenen Namensformen, einige maskulin, andere feminin, dreht sich auch der siebte Gesprächsgang, den Bartholomäus mit der Frage eröffnet: "Wie kommt es, dass er im Evangelium ,Mensch' und ,Sohn des Menschen' genannt wird ... ?" (p.l03,23-104,4). (8) Die achte Frage formulieren die jünger insgesamt (d. h. wohl die zwölf männlichen Jünger und die sieben Frauen aus der Exposition): "Herr, der, den man ,Mensch' nennt, belehre uns über ihn, damit auch wir seine Herrlichkeit genau kennenlernen" (p.l 05 ,4-8). (9) Derselben Gruppe bleibt auch die neunte Frage vorbehalten: "Sage uns offen heraus, wieso sie, die im Unsichtbaren (ihre Heimat hatten), herabkamen aus dem unsterblichen (Bereich) in diese Welt, die stirbt" (p.106,10-14). Damit ist ein wichtiges Thema angesprochen: Wie gelangte das Geistige in die Materie? Welche Art von "Sündenfall" ging dem voraus? Entsprechend gewichtig fa1lt die Antwort aus, in der Jesus seine Rolle als gnostische Erlösergestalt definiert:
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(p.lO?,ll-25) Ich aber kam aus den oberen Orten nach dem Willen des großen Lichts; dieser Fessel (der Materie, die auch ihn bedrohte) bin ich entflohen. Ich habe das Werk der Räuber beendet. Ich habe den Tropfen (d. h. den gefallenen Lichtfunken aus der Lichtwelt), der von der Sophia losgeschickt worden war, aufgeweckt, damit er reiche Frucht bringt durch mich, damit er vollendet werde und nicht wieder unvollkommen sei, sondern durch mich, den großen Erlöser, befreit werde, damit seine Herrlichkeit offenbart werde, so dass auch Sophia wieder rehabilitiert werde hinsichdich jenes Defekts (der zur Fesselung von Seelen etc. führte) ...
(1 0) Die zehnte Frage, vorgetragen durch Thomas, lautet: "Herr, Erlöser, wie hoch ist die Zahl der Äonen derer, welche die Himmel übertreffen?" (p.108,17-19). ,,Äon" ist eigentlich ein Zeitbegriff aus der Apokalyptik, kann dann auch Räume bezeichnen, wird hier aber auf personale Kräfte und Mächte angewandt. (11) Dieses Stichwort greift auch die elfte Frage auf, die wieder von der ganzen versammeltenjüngerschar gestellt wird: "Wie viele sind die Äonen der Unsterblichen, gezählt von den Unendlichen an?" (nur in BG p.107, 14-16; NHC III hat an dieser Stelle eine Lücke von zwei Seiten). In der Antwort listet der Erlöser die einzelnen ,,Äonen" auf, zwölf an der Zahl. Unter ihnen begegnet erstmals auch als Bezeichnung für die Versammlung der Vielen der Begriff ekklesia, "Kirche", gedacht als überweltliche, präexistente Größe. (12) Dass man bei den Jüngern als Fragestellern an die männlichen Jünger und die Frauen aus der Exposition denken darf, bestätigt sich bei der zwölften Frage, wo "die heiligen Apostel' als Sprecher fungieren und somit eine Einschränkung auf die zwölf männlichen Jünger der Rahmenhandlung vorgenommen wird. Der Wortlaut ihrer Frage, der vorletzten: "Herr, Erlöser, berichte uns über die, welche in den Äonen sind, denn es ist notwendig für uns, nach ihnen zu fragen" (NHC III p.112,19-24). (13) Mit der dreizehnten und letzten Frage rückt noch einmal Maria Magdalena ins Rampenlicht: "Heiliger Herr, woher sind deine Jünger gekommen und wohin gehen sie und was haben sie hier zu tun?" (p.114,912). Hier werden klassische Grundfragen der Gnosis formuliert, wie wir sie auch aus einer Definition der "Gnosis, die frei macht", durch den gnostischen Lehrer Theodotos kennen (bei Clemens von Alexandrien, Excerpta ex Theodoto 78,2): Wer waren wir? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohinein sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt, was Wiedergeburt?
Maria wird denn auch einer besonders ausführlichen Antwort gewürdigt, die eine anthropologische Synthese enthält. Die Sophia, die Mutter des Alls, wollte die Menschen ohne ihren Paargenossen schaffen, das war ihr
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Fehler. So geschah es, dass ein Funken, ein Partikel oder, wie es hier heißt, ein "Tropfen" aus dem ReiCh des Lichtes und des Geistes in die unteren Gefilde des Chaos geraten ist, wo der Demiurg und die "räuberischen" Mächte ihn festhalten wollen. Der Erlöser musste kommen, um ihn zu befreien, und Mittel und Ziel auf diesem Weg ist die Erkenntnis: (p.ll?,B-21) Wer immer in reiner Erkenntnis den Vater erkennt, der wird zu ihm hingehen und wird ruhen im ungezeugten Vater. Wer immer ihn aber nur mangelhaft erkennt, wird zum Mangelhaften hingehen und in der Achtheit (ein hoher, aber nicht der höchste Himmel oder Äon) ,ruhen'. Also: Wer immer nun den unsterblichen Geist, der im Licht ist, im Schweigen erkennt, durch Überlegung und Zustimmung, wahrlich, er soll mir Zeichen des Unsichtbaren bringen, und er wird zu einem Licht im Geist des Schweigens werden.
Die Ruhe und das Schweigen als letztes Ziel, der Geist und das Licht, die Erkennungszeichen, die auch Schutzfunktion haben - all das sind gnostische Themen, die uns schon mehrfach und in immer größerer Dichte begegnet sind, z. B. im EvÄg (NHC; S. Kap. 4c), aber auch im EvThom (s. Kap. 7a). Wahrscheinlich stellt die SJC auch die aus dem EvThom bekannte Aufhebung der Geschlechterdifferenz als Idealbild wahren Menschseins vor Augen, denn innerhalb der an Maria adressierten letzten Antwort heißt es an einer Stelle, der Erlöser sei gekommen, "damit sie aus zweien zu einem würden, wie es am Anfang war" (nach BG p.l22,6-ll; in NHC III setzt der Text nach einer weiteren Lücke von zwei Seiten hier erst wieder ein). Der narrative Abschluss fällt sehr knapp aus, was zeigt, dass das eigentliche Interesse dieses Dialogevangeliums nicht bei der erzählenden Rahmung liegt, sondern bei den Redeteilen: (NHC III p.ll9,8-17) Dies sind die Dinge, die der selige Erlöser sagte, und er entschwand von ihnen. Darauf gerieten die Jünger alle in große, unsägliche Freude im Geist. Von diesem Tag an begannen seine Jünger, das Evangelium Gottes zu verkünden, des ewigen, unvergänglichen Geistes. Amen.
(3) Rückblick Der verhältnismäßig durchsichtige Aufbau lässt das SJC als Musterbeispiel eines Dialogevangeliums erscheinen; vielleicht war es sogar der Verfasser der SJC, der diese Gattung erstmalig entwickelt und eingesetzt hat. Leider geht der klare Aufbau nicht Hand in Hand mit einem ebenso klaren, verständlichen Inhalt. Wir geraten rasch in hochmythische Gedankengänge,
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und eine besondere Schwierigkeit resultiert noch daraus, dass das mythische Grundschema nur vorausgesetzt, nicht aber dargelegt oder erläutert wird. Das trifft besonders für den neunten Durchgang zu, der auf den verhängnisvollen Fehltritt der Sophia und seine Bedeutung für den Erlösungsvorgang anspielt. Von unseren bisher besprochenen Texten kommt mehr noch als das EvPhil das EvÄg NHC (s.o. Kap. 4b) nahe an unseren Text heran, auch wenn es sich beim EvÄg nicht um ein Dialogevangelium handelt. Das EvThom geht im Vergleich zur SJC gänzlich eigene Wege. Maria Magdalena kommt in der SJC zwar nicht im gleichen Maße wie im "Evangelium der Maria" (s.u.) zur Geltung, hat aber eine doch eine gewichtige Position im Jüngerkreis inne. Zweimal wird sie namentlich als Fragestellerirr genannt, und ihr wird die letzte Frage zugewiesen, die den Anstoß gibt zu einer Antwort Jesu von besonderer Länge und besonderem Gewicht. DerAuferstandene erscheint in der SJC als Engel in strahlendem Licht. Der Begriff "Fleisch" wird dennoch beibehalten, auch wenn er sogleich mit Kautelen versehen wird, wenn er Anwendung auf den Leib der Auferstehung findet: Gemeint ist ein reines, unsterbliches, vergeistigtes Fleisch, das sich der Beschreibung fast entzieht. Das ist nicht unerheblich im Blick auf unsere nächste Schrift, deren Hauptziel in einer geradezu verbissenen Verteidigung der ,,Auferstehung des Fleisches" in vordergründigem Sinn besteht.
b) Epistula Apostolorum (EpAp) Literatur. C. D. G. MüLLER, in: NTApo 6 I, 205-233. - C. ScHMIDT I I. WAJNBERG, Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung. Ein katholisch-apostolisches Sendschreiben des 2. Jahrhunderts (TU 43), Leipzig 1919, Repr. 1967.- H. DuENSING, EpisrulaApostolorum (KIT 152), Bonn 1925.- J. N. Pllris, I.:Epitre des Apotres (Apocrypha 5), Paris 1994.- J. HARTENSTEIN, Die zweite Lehre 97-126.- M. HoRNSCHUH, Studien zur Epistula Apostolorum (PTS 5), Berlin 1965.- J. V. HILLS, Tradition and Composition in the EpistulaApostolorum (HDR 24), Minneapolis, Minn. 1990.
(1) Zur Einordnung Der mit 51 Kapiteln recht lange "Brief der Apostel" hat in der Kirche Äthiopiens besondere Bedeutung erlangt. Er liegt vollständig nur in jungen äthiopischen Handschriften (16. bis 19. Jahrhundert) vor. Erschwerend
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kommt für die Forschung hinzu, dass die Übersetzung ins Äthiopische den Umweg über das Koptische und das Arabische nahm. Aber etwa die Hälfte der EpAp wird auch durch einen älteren koptischen Textzeugen aus dem 4. oder 5. Jahrhundert abgedeckt, der direkt auf das Griechische, die Sprache des Originals, zurückgeht. Von der griechischen Fassung fehlt jede Spur, aber ein weiteres Blatt mit einem Textfragment in Latein (5./6. Jahrhundert) hat man in einer Wiener Palimpsesthandschrift (d. h. einer "abgeriebenen" und neu beschriebenen Handschrift aus Pergament) entdeckt. Ediert und übersetzt wurde die EpAp erstmalig zu Beginn des 20. Jahrhunderts; vorher kannte man sie im Westen überhaupt nicht. Bei der Gelegenheit wurde ihr auch die Bezeichnung ,,Apostelbrief' beigelegt, im Anschluss an die Notiz "epistula" auf dem oberen Rand des lateinischen Fragments. Einen schwachen Anhalt hat diese Bezeichnung an der Eingangsszene, wo das Apostelkollegium an die Kirchen der vier Weltgegenden ein Sendschreiben adressiert, aber diese Brieffiktion wird nicht konsequent betrieben und vor allem nicht lange durchgehalten. Mit Kap. 10 beginnt ein Erscheinungsdialog, der bis zum Schlusskapitel die Form des Ganzen bestimmt. Trotz der wenig günstigen Überlieferungslage wird die Entstehung der EpAp durchweg ins 2. Jahrhundert verlegt. Manchmal beruft man sich dafür auf die Datierung der Parusie in Kap. 17: Sie wird sich 120 Jahre (so die koptische Version) oder 150 Jahre (so die äthiopische Version) nach dem Erscheinungsgespräch ereignen. Das bringt uns, wenn wir von ca. 30 als fiktivem Erzählerstandort ausgehen, ins Jahr 150 oder 170. Auch davon abgesehen hat der anfängliche Vorschlag von Carl Schmidt, die Entstehung auf 160 bis 170 anzusetzen, immer noch viel für sich, auch wenn neuerdings der Beginn des 2. Jahrhunderts ins Spiel gebracht wird. Als Entstehungsort werden Ägypten, Kleinasien und Syrien genannt. Die SJC konnten wir anhand der dreizehn Gesprächsgänge gliedern. In der EpAp kommen wir auf fast 60 Fragen der Jünger und Antworten Jesu. Angesichts des Umfangs und der Fülle an Stoff, der teils nur locker in den Zusammenhang eingebunden ist, sind bei der Besprechung des Inhalts nur einige Momentaufnahmen möglich. Bei der Textwiedergabe folgen wir, soweit möglich, der koptischen Version, für die dort fehlenden Stücke der äthiopischen (nach den Übersetzungen von Wajnberg, Duensing und Müller).
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(2) Zum Inhalt - Der Eingang: Offenbarungsrede und Brief In den neueren deutschen Übersetzungen lautet der Anfang von Kap. I: "Was Jesus Christus seinen Jüngern als einen Brief offenbart hat und wie Jesus Christus offenbart hat den Brief des Kollegiums der Apostel". Man fragt sich unwillkürlich, warum ein Brief, dessen Beginn im nächsten Kapitel erst folgt, offenbart wird, müsste das aber akzeptieren, wenn es die philologisch einzig gebotene Wiedergabe wäre. Das aber ist nicht der Fall. Es gibt gute Gründe dafür, mit "Buch" statt mit "Brief' zu übersetzen (so Wajnberg). Dann ergibt sich für die Eingangszeilen ein viel besserer Sinn: Das Buch der Offenbarung Jesu Christi für seine Jünger. Das Buch mit den Dingen, die Jesus Christus durch das Kollegium der Apostel, den Jüngern Jesu Christi, offenbart hat für alle Menschen. Verfasst wurde es wegen der falschen Apostel Sirnon und Kerinth, damit sich ihnen niemand anschließe ...
Sirnon Magus aus Apg 8 und Kerinth gelten im 2. Jahrhundert als prototypische gnostische Schulhäupter, was die Frontstellung der EpAp schlagartig erhellt. Der Anklang an Offb I, I dürfte nicht zufällig sein. Das ganze Werk ist damit als Offenbarungsrede charakterisiert, deren Medium der Apostelbrief (vgl. Offb I ,4!) darstellt. Er setzt in Kap. 2 ein: Wir, Johannes und Thomas und Petrus und Andreas und Jakobus und Philippus und Bartholomäus und Matthäus und Nathanael und Judas Zelotes und Kephas, wir schreiben an die Kirchen des Ostens und des Westens, gen Norden und Süden, indem wir euch erzählen und verkünden das von unserem Herrn Jesus Christus, wie wir geschrieben haben; und wir haben ihn gehört und betastet, nachdem er auferstanden war von den Toten; und wie er uns offenbart hat Großes und Staunensecregendes und Wirkliches.
Die Apostelliste, die korrekt nur elf Namen zählt, hat, wenn wir sie z. B. mit Apg I,I3 vergleichen, manche Eigenheiten (ganz abgesehen von der ungewöhnlichen Reihenfolge). Jakobus, der Sohn des Alphäus, fehlt; dafür ist Nathanael hinzugekommen, der anders als im Bartholomäusevangelium (s.o. Kap. 6c) nicht mit Bartholomäus in eins gesetzt ist. Simon, der Zelot, und Judas, der Sohn des Jakobus, sind zu "Simon Zelotes" zusammengezogen worden. Den frei gewordenen Platz übernimmt "Kephas" - aus dem Beinamen des Sirnon Petrus ist eine eigene Person geworden. Dass alle Apostel schreiben, nicht nur ein Vorzugsapostel, sei es Thomas, Philippus oder Jakobus, korrespondiert mit der Adressierung des Schreibens an die weltweite Kirche. Hier soll keine gnostische Sonderoffenbarung als Geheimlehre für wenige enthüllt werden, sondern es ergeht eine Botschaft
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von "katholischem" Ausmaß ("katholisch" hier und weiterhin als "allumfassend", "universal" verstanden, nicht im Sinne einer konfessionalistischen Verengung). Die kursiv gesetzten Aussagen greifen im Wortlaut auf 1 Joh 1,1-3 zurück: "Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir ... auch euch" und sind wohl auch von einer ähnlichen Absicht getragen. Man spürt das Bestreben, einer doketischen Verflüchtigung der wahren Menschennatur Jesu und der Realität seiner leiblichen Auferstehung entgegenzutreten. Ob das dem Autor immer gelingt und ob er in seinem Abwehrkampf gegen die Gnosis nicht auch manche gnostischen Elemente übernimmt, steht auf einem anderen Blatt. -Allegorische Wunderauslegung und Glaubensbekenntnis Ein langes Bekenntnis zu Gottes Schöpferkraft in Kap. 3 endet mit der wunderbaren Empfängnis Jesu und seiner Geburt als wirklicher Mensch: "Er wurde in Betlehem in Windeln gewickelt und offenbart, er wurde großgezogen und wuchs heran, und wir haben es gesehen." Überleitend illustriert Kap. 4 die Wunderkraft des Heranwachsenden mit der Lehrerepisode um das Alpha und das Beta, bekannt aus KThom 6 und 14 (s.o. Kap. Sb), ehe Kap. 5 ein großes Panorama des Wunderwirkens Jesu entwirft. Je nach Zählung werden zwölf bis vierzehn aus den Evangelien bekannte Wunder summarisch oder detaillierter erwähnt. Maßstab für die Auswahl der breiter ausgeführten Erzählungen war ihre "Brauchbarkeit" im Blick auf andere Themen. Die Episode um die Heilung der blutflüssigen Frau aus Mk 5,25-34 z. B. nimmt deshalb so viel Raum ein, weil ihre Pointe darin besteht, dass die Frau Jesus berührt, und genau das werden später die Apostel mit dem Auferstandenen tun (Kap. 12, s.u.). Zum Schluss wird das Speisungswunder aus Mk 6,35-44 parr noch mit einer allegorischen Deutung versehen. Auf Bitten der Jünger legt Jesus die fünf Brote aus; er erklärt sie als "Grundnahrungsmittel" des Glaubens: Sie sind ein Bild unseres Glaubens betreffs der großen Christenheit, d. h. des Glaubens an den Vater, den Herrscher der ganzen Welt, und an Jesus Christus, unseren Retter, und an den Heiligen Geist, den Parakleten, und an die heilige Kirche und an die Vergebung der Sünden.
Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die "katholische" Kirche und die Vergebung der Sünden, das sind die fünf Grundbestandteile eines alten Glaubensbekenntnisses, das hier von Jesus noch zu Lebzeiten gelehrt wird. Seine
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Kreuzigung folgt nämlich erst in Kap. 9, wo auch der Erscheinungsbericht eingeleitet wird. - Der Erscheinungsbericht: kein körperloser Dämon In Kap. 9 gehen drei Frauen zu Jesu Grab, um seinen Leichnam zu salben. Der Auferstandene zeigt sich ihnen und beauftragt sie, den anderen Jüngern die Kunde von seiner Auferstehung zu überbringen. Diese aber reagieren ablehnend und zweifelnd, selbst dann noch, als Jesus in Person vor sie tritt. Er muss sie fragen (Kap. 11f.): "Warum zweifelt ihr noch und seid ungläubig? Ich bin es, der zu euch gesprochen hat über mein Fleisch und mein Sterben und mein Auferstehen. Damit ihr erkennt, dass ich es bin: Petrus, lege deine Finger in die Male der Nägel an meinen Händen. Und auch du, lhomas, lege deine Finger in die Lanzenstiche an meiner Seite. Du aber, Andreas, betrachte meine Füße und sieh, ob sie nicht anhaften an der Erde (äthiop. hat noch: und eine Fußspur hinterlassen). Denn es ist geschrieben im Propheten: ,Der Fuß eines Gespensts oder eines Dämons haftet nicht auf der Erde'." -Wir berührten ihn also, sodass wir wahrhaft erkannten, dass er auferstanden war im Fleisch ...
Hier wird nicht nur Joh 20,25-27 variiert, sondern ebenso Lk 24,39: "Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht." Die Spur, die die Füße des Herrn im Sand hinterlassen, soll ein unwiderleglicher Beweis sein für die Realität und die Leibhaftigkeit seiner Auferstehung. Innertextlich vorbereitet war dieser Höhepunkt durch die Rezeption von 1 Joh 1,1 in Kap. 2 und von Mk 5,25-34 in Kap. 5. Was am Schluss von Kap. 11 als Prophetenzitat ausgegeben wird, findet sich weder im Alten Testament noch in der außerbiblischen jüdischen Literatur. Die Vorstellung selbst, dass Geister und Dämonen keine Spuren auf der Erde hinterlassen, lässt sich verhältnismäßig breit belegen (vgl. die Karikatur in Dan 14,14-22). Sie könnte hier im Verbund mit Lk 24,39 ad hoc in eine passende Sentenz umgesetzt worden sein. -Von der Menschwerdung zur Parusie Ziel der folgenden Dialoge ist es, zu offenbaren, "was oberhalb der Himmel ist, was in den Himmeln ist und den Ort eurer Ruhe im Himmelreich" (Kap. 12). Dazu berichtet Jesus als erstes von seinem Abstieg zur Erde in Gestalt eines Engels und von seiner Menschwerdung, die zwar terminologisch als "Inkarnation", als "Fleischwerdung" interpretiert wird, aber auf
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eigenartige Weise geschieht. Jesus selbst war der Engel Gabriel, der Maria erschien und bei derGelegenheit in sie einging (Kap. 14): In der Gestalt des Engels Gabriel erschien ich Maria und sprach zu ihr. Ihr Herz nahm mich auf, sie glaubte (äthiop.: und lachte; vgl. Gen 18, 12-15). Ich ging (äthiop.: als Wort) in ihren Leib hinein und wurde Fleisch ...
Die Menschwerdung ist hingeordnet auf das rettende Sterben am Kreuz. Kap. 15 springt deswegen unvermittelt über zum Gedächtnis des Todes Jesu, das die Apostel in jeder Paschanacht begehen sollen, mit einer Feier, die aus Eucharistie und Agape (Liebesmahl) besteht. Mit Kap. 16 sind wir schon bei der Erwartung der Wiederkunft des Herrn angelangt. Sie wird in Kap. 17 als Parusie des vaters bezeichnet, was Jesus auf einen Einwand der Jünger hin mit Hilfe einer Formel, die sich an die Sprache der Immanenz im Johannesevangelium anlehnt, erklärt: "Ich bin ganz in meinem Vater und mein Vater ist in mir" (vgl. Joh 17,21). Man fragt sich aber doch, ob hier nicht des Guten zuviel getan wird und ob die Unterscheidung der Personen in der Trinität noch gewahrt bleibt. Oie furchteinflößenden Ereignisse bei der Parusie und beim Endgericht werden erst ab Kap. 34 breiter ausgemalt. -Auferstehung des Fleisches Mit besonderem Nachdruck muss anscheinend die Auferstehung des Fleisches eingeschärft werden. Das zeigt nicht nur die Länge der diesbezüglichen Ausführungen, die in Kap. 20f. eingeleitet werden (vgl. das Jesuswort in Kap. 21: "Wie mich der Vater von den Toten auferweckt hat, so werdet auch ihr im Fleisch auferstehen") und im Grunde bis Kap. 30 ausstrahlen. Es kommt gerade in diesem Rahmen auch zu einer textinternen Reflexion auf die literarische Vermittlungsform; die Gesprächssituation selbst wird zum Thema des Dialogs. Oie Apostel fragen in Kap. 22: "Ist es wirklich wahr, dass das Fleisch zusammen mit der Seele und dem Geist gerichtet wird?" (zu dem dreiteiligen anthropologischen Modell vgl. 1 Thess 5,23). Das trägt ihnen als Erstes einen Tadel Jesu ein: "Wie lange wollt ihr denn noch fragen und forschen?" Aber die Apostellassen nicht locker. Sie müssen schließlich diesen Glaubensartikel verkündigen und lehren, und um gute Prediger zu sein, brauchen sie selbst Sicherheit in dieser Frage (Kap. 23). Als Jesus zwischendurch sogar zornig wird und sie anfährt: "0 ihr Kleingläubigen, wie lange wollt ihr noch fragen?" (Kap. 24), zeigen sie sich zerknirscht und werden daraufhin zum Weiterfragen ermutigt (Kap. 25):
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Wiederum sprachen wir zu ihm: "0 Herr, wir schämen uns schon, dass wir dich ständig fragen und (mit unseren Fragen) belästigen." Da antwortete er und sprach zu uns: "Ich weiß doch, dass ihr mich aus gläubiger Haltung und tiefstem Herzen heraus befragt. Amen, ich sage euch: Ich bin erfreut und mein Vater, der in mir ist, (ist erfreut darüber), dass ihr mich befragt. Eure Aufdringlichkeit gereicht mir zur Freude und schenkt euch selbst Leben."
Inhaltlich wird in Kap. 26 die Auferstehung des Fleisches zum Gericht wieder aufgegriffen, und das ist auch die gedankliche Brücke zur Schilderung des Abstiegs Jesu in die Unterwelt zu den Vätern und den Propheten in Kap. 27. - Paulus und die Urapostel Wo das Apostelkollegium wie hier in der EpAp geschlossen agiert, kann auf Dauer die Frage nicht ausbleiben, wie es um Paulus steht, nach eigenem Bekunden ,,Apostel" und großer Heidenmissionar. Um seine Gestalt zu integrieren, bedient sich der Verfasser der EpAp eines Kunstgriffs: "Christus selbst stellt in Form einer Weissagung den Paulus den Drapostein als ihren zukünftigen Kollegen vor und malt ihnen seine Persönlichkeit und seine Schicksale mit Benutzung der Berichte der Apostelgeschichte vor Augen, damit sie schon jetzt orientiert sind" (Schmidt 186). Wenn man die Erzählung von der Bekehrung des Paulus in Apg 9 im Ohr hat, wird ihre verkürzte Wiedergabe in Kap. 31 leichter verständlich: Und siehe, ihr werdet einem Mann begegnen, dessen Name Saulus ist, was übersetzt Paulus bedeutet. Er ist Jude, beschnitten gemäß dem Gesetz. Mit Schrecken, Furcht und Zittern wird er vom Himmel her meine Stimme vernehmen. Seine Augen werden erblinden, aber durch eure Hand mit Speichel (vgl. Joh 9,6) bekreuzt werden ... Seine Augen werden sich öffnen, und er wird meinen Vater im Himmel preisen ... Als Letzter der Letzten (vgl. 1 Kor 15,9) wird er zum Prediger für die Völker werden ... er wird den Völkern zum Heil sein.
Nicht mehr Hananias (vgl. Apg 9, 17) sorgt für die Aufhebung der Erblindung des Paulus, sondern die Urapostel. Das verstärkt die Zuordnung des Paulus zu ihnen, die in der EpAp trotz aller Freundlichkeit Paulus gegenüber zugleich eine Unterordnung bleibt: Paulus wird "zum gelehrigen Schüler der Urapostel herabgedrückt" (Schmidt 191). Die Urapostel werden laut Kap. 33 auch die Gemeinde in Damaskus gründen, die Paulus verfolgen will. Dass sein Vorhaben vereitelt wird, interpretiert Kap. 33 als Erfüllung einer prophetischen Verheißung: ... damit erfüllt werde das Wort des Propheten, der da spricht: "Siehe, aus dem Land Syrien will ich zu berufen beginnen ein neues Jerusalem, und Zion will ich mir unterwerfen,
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und es wird gefangen werden, und die Unfruchtbare, die kinderlos war, wird kinderreich sein und wird Tochter meines Vaters und meine Braut genannt werden."
Wieder werden wir nach dem Prophetenzitat vergeblich suchen. Es ist auf seine Art "apokryph", auch wenn die Verwendung von Jes 54,1 in Gal 4,27 einen Anknüpfungspunkt an die Hand gibt. -Die klugen und die törichten Jungfrauen Der unbekannte Prophet meldet sich erneut in Kap. 43 zu Wort, wo es von den fünfklugen und fünftörichten Jungfrauen aus Mt 25,1-13 heißt, der Prophet habe von ihnen gesagt: "Töchter Gottes sind sie". Die zum Wechselgespräch umgestaltete, freie Nacherzählung der Parabel beginnt in Kap. 43 damit, dass Jesus die Apostel auffordert: "Seid wie die klugen Jungfrauen, die gewacht haben und nicht eingeschlafen sind". Im Unterschied zu Matthäus, wo alle Jungfrauen schlafen, zeichnen sich hier die klugen Jungfrauen dadurch aus, dass sie wach bleiben, während die törichten entschlummern. Dennoch bleiben auch letztere "Töchter Gottes"; die Apostel weinen über die, die eingeschlafen sind, und erwarten von den klugen Jungfrauen, dass sie für ihre törichten "Schwestern" (!) Fürbitte einlegen. Das bedeutet, dass die Auseinandersetzung, die hier anhand der beiden Gruppen nachgezeichnet wird, sich innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden abspielt, dass also eine rein innerchristliche Frontstellung vorliegt. Eine neue Verstehensebene wird eingeführt, wenn Jesus die beiden Gruppen von Jungfrauen allegorisch interpretiert: DiefonfKJ.ugen nämlich sind: (1) der Glaube und (2) die Liebe und (3) die Gnade, (4) der Friede und (5) die Hoffnung. Die aber unter den Glaubenden, welche diese (Tugenden) besitzen, werden denen, die an mich und an den, der mich gesandt hat, geglaubt haben, Wegweiser sein. Ich nämlich bin der Herr und ich bin der Bräutigam, den sie empfangen haben, und sie sind hineingegangen in das Haus des Bräutigams, sie haben sich niedergelegt mit mir in meinem Brautgemach.
Allegorisch sind die fünf Klugen also als personifizierte Tugenden zu deuten, wie sie vor allem Führerpersönlichkeiten unter den Glaubenden (Apostel z. B.) besitzen müssen. Anders als in Mt 25 werden, wieder auf der Bildebene, die fünfKlugen kollektiv zur Braut des Herrn erklärt. Mit dem Brautgemach, das wir aus dem EvPhil kennen (s.o. Kap. 7b), greift der Autor der EpAp wahrscheinlich eine Konzeption seiner gnostischen Gegner auf und gibt ihr eine Wendung ins Rechtgläubige. Die Deutung der fünf Törichten steht noch aus, und sie wird erst auf eine erneute Intervention der Apostel hin geboten:
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Wir aber sprachen zu ihm: "Herr, ... wer nun sind diese Törichten?" Er sprach zu uns: "Höret ihre Namen: (I) Die Erkenntnis (gnösis) ist es und (2) die Weisheit, (3) der Gehorsam, (4) die Langmut und (5) die Barmherzigkeit. Diese nämlich sind es, die geschlafen haben unter denen, die geglaubt tind mich bekannt haben."
Hier stoßen wir auf ein echtes Interpretationsproblem, denn dass diese fünf Größen vom Heil ausschließen sollen, wie Kap. 44 energisch unterstreicht, ist schwer zu verstehen. Eine negative Wertung der "Gnosis", die an der Spitze steht, und allenfalls noch der Weisheit, verstanden als die gefallene Sophia des gnostischen Mythos, könnte man noch plausibel machen, aber wie steht es mit Gehorsam, Langmut und Barmherzigkeit? Ein Lösungsversuch (bei Hills) bezieht "Diese nämlich sind es" nicht auf die törichten Jungfrauen, sondern auf die Tugenden, und versteht den Schlusssatz dahingehend, dass diese Tugenden in den Glaubenden geschlafen hätten und deshalb deren Bekenntnis nicht echt ist und nichts nützt. Rein sprachlich und vom Kontext her liegt es aber näher, die ganze Fünferreihe als negative Qualifizierung aufZufassen. Das ließe sich für den Gehorsam dann begründen, wenn "in der Gemeinde Ämter oder Autoritätsstellungen" eher mit Vertretern der gnostischen Gegenposition "besetzt waren" CHartenstein 105), auf die die echten Gläubigen gerade nicht hören sollten, und "Warnungen vor Langmut und Mitleid wollen da vielleicht die Schärfe der Auseinandersetzung betonen" (ebd.). Es würde dann gar nicht so sehr gegen die Wortführer der anderen Seite polemisiert, sondern Ziel des Angriffs wäre vielmehr die Lauheit, Bequemlichkeit und Unentschlossenheit von Gemeindemitgliedern, die sich für ihr "laissez faire" auf die Gebote der Toleranz und der Nachsicht berufen. - Der Abschied Drei Tage nach der in Kap. 9 angesprochenen Kreuzigung (was für den Auferstehungsdialog nur wenig Zeit lässt, eigentlich nur den Auferstehungstag selbst) erfolgt der endgültige Abschied Jesu, der in Kap. 51 mit konventionellen Motiven aus Berichten über Erscheinung und Himmelfahrt ausgestaltet ist: Und nachdem er dies gesagt und das Gespräch mit uns beendigt hatte, sprach er wiederum zu uns: "Siehe, nach drei Tagen und drei Stunden wird der, welcher mich gesandt hat, kommen, damit ich mit ihm gehe." Und wie er sprach, trat Donner und Blitz und Erdbeben ein, und die Himmel spalteten sich, und eine lichte Wolke kam und nahm ihn fort. Und die Stimme vieler Engel (wurde vernehmbar), wie sie sich freuten und priesen und sprachen: "Versammle uns, Priester, im Licht der Herrlichkeit!" Und als er sich dem Firmament des Himmels genähert hatte, hörten wir ihn sagen: "Gehet hin in Frieden!"
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(3) Rückblick Die EpAp ist eine wenig bekannte Schrift von eigenartigem Reiz, der nicht nur daher rührt, dass sie als einziges neutestamentliches Apokryphon in der äthiopischen Kirche bis heute als Erbauungsbuch abgeschrieben und gelesen wird. Unter den Dialogevangelien nimmt sie eine Sonderstellung ein. Die Gattung des Erscheinungsgesprächs hat ihr Autor seinen gnostischen Gegnern abgeschaut und zu einer brauchbaren Abwehrwaffe umgestaltet. Die durchaus vorhandene Polemik wird dabei nicht blindwütig betrieben und wird auch nicht zum Selbstzweck. Man weiß um die Zugehörigkeit beider Parteien zu der einen Christenheit. Die Apostel bringen eine Sorge um das geistliche Wohl der Vertreter der Gegenseite zum Ausdruck, die echt anmutet. Ziel ist auch nicht primär die Widerlegung anderer Meinungen, sondern die Festigung des Glaubens im eigenen Lager. Trotz mancher Positionen, die auf uns unorthodox wirken, kann man den theologischen Standort der EpAp mit Carl Schmidt als "altkatholisch" bezeichnen, sowohl hinsichtlich der Weite und Öffentlichkeit des Adressatenkreises als auch bezüglich der wichtigsten Inhalte. Nimmt man die fünf Bausteine des Credo, die das "Brot", das Grundnahrungsmittel der gläubigen Seele bilden, aus Kap. 5 mit dem Bekenntnis zum Schöpfergott in Kap. 3, der Inkarnationsaussage in Kap. 14, der Kreuzigung in Kap. 9, dem Ausblick auf die Parusie in Kap. 17 und der durchgehend thematisierten Auferstehung des Fleisches zusammen, hat man im Umriss das apostolische Glaubensbekenntnis vor sich. Es wird zwar in der EpAp oft von den himmlischen Bereichen gesprochen, was apokalyptische Züge in die formale Gestaltung hineinträgt, aber faktisch wird der feste Boden unter den Füßen von den Adressaten der Jesusworte nie verlassen. Die Vermittlung von Offenbarungswissen tritt zurück, katechetische und paränetische Anliegen schieben sich in den Vordergrund. Dies passt dann wieder besser zu der Briefform, die der EpAp andeutungsweise in Kap. 2 mit auf den Weg gegeben wurde und ihr den Namen eingetragen hat, unter dem wir diese Schrift glücklicherweise heute wieder kennen.
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c) Das Evangelium der Maria (EvMar) Literatur: W.C. TILL I H. M. ScHENKE, Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 21972, 24-32.62-79. - H. C. PUECH 1 B. BLATZ, in: NTApo 6 I, 313-315.- ]. HARTENSTEIN, in: Nag Hammadi Deutsch II, 833-844. - D. LüHRMANN, Fragmente 72-93 (griech. Text aus POxy 3525 und PRyl 463).- U. K. PuscH, Verborgene Worte Jesu 137-142.- S.PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 55-61.133-188.- ]. HARTENSTEIN, Die zweite Lehre 127160.- E. DE BoER, Mary Magdalene: Beyond the Myth, London 1997, 74-117. _ J. ScHABERG, Resurrection of Mary Magdalene: Legends, Apocrypha, and ehe Christian Testament, London 2002.- F. STANLEY JoNES (Hrsg.), Wbich Mary? The Marys ofEarly Christian Tradition (SBL.Symposium Series 19), Atlanta, GA 2002.
(1) Zur Einordnung
Das EvMar steht in einem koptischen Kodex, der im Antiquitätenhandel in Kairo erworben wurde und 1896 in die Ägyptischen Museen nach Berlin gelangte. Zur Erstveröffentlichung kam es allerdings erst 1955, nach den Funden von Nag Hammadi. Der Kodex enthält vier Schriften: an erster Stelle das EvMar, sodann das ,,Apokryphon des Johannes", die "Sophia Jesu Christi" und ein Ausschnitt aus den nichtgnostischen Petrusakten. Da die drei erstgenannten Stücke christlich-gnostisch ausgerichtet sind, wird der Kodex als "Berolinensis Gnosticus" bezeichnet und als BG 8502 gezählt. Die exakten Angaben für das EvMar lauten demnach BG 8502,1 p.7,1-19,5. Vom ,,Apokryphon des Johannes" fanden sich unter den Schriften von Nag Hammadi gleich drei weitere Fassungen (NHC II,1; III,1; IV,1), die "Sophia Jesu Christi" ist dort noch ein weiteres Mal vertreten (NHC III,4; s.o.). Das hat dazu geführt, dass man BG 8502 heute meist im Kontext des Nag-Hammadi-Schrifttums bespricht, unter Einschluss des EvMar, das als einzige dieser drei Schriften in Nag Hammadi keine Parallele hat. Der koptische Text des EvMar befindet sich in einem fragmentarischen Zustand. Die Seiten 1-6 des Kodex fehlen, und eine weitere Lücke betrifft Seite 11-14. Was verbleibt, macht nicht ganz die Hälfte des ursprünglichen Bestands aus. Das ändert sich leider auch nicht durch zwei Papyrusfunde mit Abschnitten aus dem EvMar in griechischer Sprache, da die beiden Papyri, die aus zwei verschiedenen Kodices stammen, nur Passagen enthalten, die wir aus dem Koptischen schon kannten: POxy 3525 überschneidet sich mit BG 8502,1 p.9,21-10,14 und PRyl463 mit BG 8502,1 p.17,4-19,5. Manche Differenzen in den sprachlichen Details sind dennoch aufschluss-
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reich (s.u.), und besondere Bedeutung haben d.ie beiden Papyri auch für die Datierungsfrage. Der koptische Kodex entstand nämlich erst im 5. Jahrhundert, die beiden Papyri stammen aus dem 3. Jahrhundert. Speziell PRyl 463 könnte bereits kurz nach 200 geschrieben sein. Für die Entstehung des EvMar gelangen wir damit ins 2. Jahrhundert zurück, und hier kommt aus inhaltlichen Gründen eher die Zeit zwischen 150 und 200 in Frage. Die teils vorgeschlagenen Frühdatierungen zwischen 100 und 150 vermögen nicht recht zu überzeugen. Ob das EvMar ursprünglich einen Titel trug, können wir aufgrund der fehlenden Eingangsseiten nicht mehr sagen. In der Subscriptio wird es als "Evangelium nach Maria" bezeichnet. Im Koptischen lautet der Eigenname im Textkorpus Mariham, bzw. in der Subscriptio Marihamm, und das Griechische hat dafür Mariamme. Diese Namensformen werden in der Regel nur für Maria von Magdala verwendet, nicht für Maria, die Mutter des Herrn. Wir haben also ein Evangelium der Maria Magdalena vor uns, was auch vom Inhalt her seine Bestätigung findet. Eine Paragraphen- oder Verszählung wurde für das EvMar bislang nicht durchgeführt; wir müssen also der- an sich ohnehin exakteren- Ziderweise nach Seite und Zeile folgen. Da das EvMar einerseits im Standardwerk NTApo6 nur in Auszügen dargeboten wird, der Text andererseits nicht sehr lang ist, geben wir ihn abweichend von unserer sonstigen Vorgehensweise diesmal komplett wieder.
(2) Zum Inhalt Zwar ist die Eingangspassage des EvMar verlorengegangen, aber Rückschlüsse auf die Szenerie, die dort als erstes entworfen worden sein muss, sind möglich. Wir befinden uns offenbar in einer nachösterlichen Situation. Der Auferstandene, der im Text nie als "Jesus", sondern immer als "Erlöser" oder "Herr", einmal auch als "der Selige" bezeichnet wird, erscheint seinen Jüngern und Jüngerinnen. Sie fragen, der Auferstandene antwortet. Es entspinnt sich ein Dialog, in dem es um grundlegende Fragen des Weltverständnisses und des Menschenbildes geht. - Materie und Sünde
An dieser Stelle setzt der Text ein mit dem Rest einer Jüngerfrage und der Reaktion des Erlösers:
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(p.7,1-9) [.]wird die [Materie] nun [zerfallen] oder nicht?" Der Erlöser sprach: "Jegliche Natur, alle Gebilde und Geschöpfe existieren ineinander (und) miteinander und werden wieder zu ihrer eigenen Wurzel aufgelöst werden, weil die Natur der Materie sich zu den Wurzeln ihrer eigenen Natur auflöst.·Wer Ohren hat zu hören, soll hören!"
Mit "Materie" (hyle) und "Natur" (physis) werden naturphilosophische Kategorien aufgegriffen. "Wurzel" bedeutet hier soviel wie "Ursprung", und die Trias "jegliche Natur, alle Gebilde und Geschöpfe" will die Totalität des Vorhandenen und Geschaffenen in seiner gegenseitigen Verflochtenheit beschreiben. Die Botschaft lautet, dassalldies wieder vergehen wird und vergehen muss, damit, so können wir ergänzen, der reine Geist übrig bleibt. Dass dem schwierigen Text dies als geheime Belehrung zu entnehmen ist, unterstreicht der Weckruf "Wer Ohren hat zu hören, soll hören!", der auch schon auf die Fortsetzung blickt. Die Kosmologie wird nämlich nicht um ihrer selbst willen beschworen, sondern erhält durch die anschließende Frage des Petrus eine Wendung ins Ethische: (p.7, 10-20) Petrus sprach zu ihm: "Da du uns schon über jegliche Sache unterrichtet hast, sage uns auch dies: Was ist die Sünde der Welt?" Der Erlöser sprach: "Es gibt eigendich keine Sünde, sondern ihr seid es, die die Sünde produzieren, wenn ihr das tut, was der Natur des Ehebruchs, der ja ,die Sünde' heißt, gleicht. Deshalb kam das Gute in eurer Mitte zu den Wesen jeder Natur, um sie (die Natur) in ihre Wurzel einzusetzen."
Dass die Petrusfrage überhaupt an die Erwägungen über Materie, Natur und Ursprung anknüpft, erkennt man am Schlusssatz der Antwort Jesu, wo diese Begrifllichkeit aufgenommen wird. Die Sünde der Welt, nach der Petrus fragt, wird in der Antwort sehr umfassend als "Natur des Ehebruchs" oder, mit einer anderen Formulierung, als "(eigentliches) Wesen der Unzucht" definiert, was sicher metaphorisch gemeint ist, und sie wird mit dem Tun der Menschen verbunden. Angespielt wird innerhalb eines mythischen Rasters auf das Entstehen der Materie aus einer Art Sündenfall der himmlischen Sophia, den sich die Menschen durch ihre Hinwendung zu Welt und Materie zu eigen machen. Als "das Gute" kam der Erlöser in die Welt, um die Angelegenheit wieder zu richten. Der nächste Absatz führt diese Thematik weiter und versieht sie mit einem doppelten Aufmerksamkeitssignal (im Text kursiv): (p.7,20-22) Weiter fuhr er fort und sprach: "Deshalb leidet ihr und sterbt, weil [ihr das liebt], (p.8, 1-11) was [euch betrügen] wird. ~r versteht, soll verstehen! [Die] Materie [erzeugte] eine Leidenschaft, die ihresgleichen nicht hat, insofern als sie aus Widernatürlichem hervorkam. Dann entsteht eine Verwirrung im ganzen Leib. Deshalb habe ich euch gesagt: ,Fasst Mut', und wenn ihr mutlos seid, seid doch mutig angesichts der verschiedenen Gestalten der Natur. ~r Ohren hat zu hören, soll hören!'
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Das Leid, der Tod und die Laster entstehen ~us der Bindung an die trügerische Materie. Aber (gnostische) Gläubige stehen dem nicht völlig wehrlos gegenüber, wie der Erlöser schon zuvor durch Aufrufe wie "Habt Mut" Qoh 16,33), "Seid getrost", "Fürchtet euch nicht" Qoh 6,20) eingeschärft hat. Sie haben die Kraft, sich der Welt und ihrem Unwesen zu widersetzen. - Abschiedsworte Bei seinem Abschied verhieß Jesus in Joh 14,27 den Jüngern als Gabe den Frieden, und der Auferstandene sagte als erstes zu ihnen: "Friede sei mit euch" Qoh 20,19). Das Überblenden dervorösterlichen und der nachösterlichen Situation, das sich im Johannesevangelium abzeichnet, besonders in den Abschiedsreden, wird im EvMar konsequent fortgeschrieben. Die Abschiedsstunde wird ganz in die Zeit nach der Auferstehung verlagert, und das Weggehen des Erlösers meint nicht mehr sein Weggehen in den Tod, sondern seinen endgültigen Aufstieg zum Himmel: (p.8,12-22) Als der Selige dies gesagt hatte, umarmte er sie alle, wobei er sagte: "Friede sei mit euch. Meinen Frieden erwerbt euch. Hütet euch, dass niemand euch irreführe, indem er sagt: ,Seht hier' oder ,Seht dort'. Denn der Menschensohn ist in eurem Innern. Folgt ihm nach! Die nach ihm suchen, werden ihn finden. Geht also und verkündigt das Evangelium vom Reich. Erlasst (p.9,1-5) keine Bestimmung außer dem, was ich für euch bestimmt habe, und gebt auch kein Gesetz wie der Gesetzgeber, damit ihr nicht in ihm ergriffen (d. h. selbst vom Gesetz überführt und von seiner Strafe getroffen) werdet." Als er dies gesagt hatte, ging er weg.
Wie EvThom 3 greift das EvMar hier vor allem auch aufLk 17,20-23 zurück. Von dort stammt die Mahnung vor Irreführung durch falsche Signale (vgl. auch Mk 13,5.21), und die Auskunft "Das Reich Gottes ist mitten unter euch" aus Lk 17,21 wird hier transformiert zu der Aussage "der Menschensohn ist in eurem Innern". Im eigenen Innern muss man nach ihm suchen, dort wird man ihn finden (s.o. zu EvThom 2). Nur so wird Nachfolge möglich, und das ist der Inhalt des Evangeliums, das weiter verkündet werden soll. Dazu wurde der Titel "Menschensohn" seines apokalyptischen Inhalts (s. Dan 7,13; Mt 24,30) entkleidet, so dass er jetzt als Inbegriff wahren Menschseins und als Chiffre für die individuelle Vollendung dienen kann. Dazu passt die anschließende Warnung vor einem legalistischen Missverständnis christlichen Glaubens, die vielleicht noch die zurückliegende Debatte um die Geltung des jüdischen Gesetzes bei Paulus reflektiert, aber inzwischen nach Innen gewendet ist und andere innerchristliche Positionen kritisiert.
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- Maria als Trösterin Die Jünger wissen, dass sie mit dieser Botschaft keinen großen Erfolg erzielen werden, sondern dass es ihnen ergehen wird wie dem Erlöser selbst: (p.9,5-11) Sie aber waren betrübt, weinten sehr und sagten: "Wie sollen wir zu den Völkern gehen und das Evangelium vom Reich des Menschensohnes verkündigen? Wenn sie nicht einmal ihn verschont haben, wie werden sie dann uns verschonen?"
Jetzt schlägt die Stunde der Maria Magdalena, die genauso handelt wie zuvor der Erlöser, wenn sie die Jünger umarmt und ihnen Mut zuspricht. Dadurch wird sie nicht nur zur Doppelgängeein des Herrn, sondern sie übernimmt auch die Funktion des "anderen Parakleten" Qoh 14,16), den Jesus bei seinem Weggehen den Seinen als Beistand verheißen hat: (p.9, 11-22) Da stand Maria auf, umarmte (POxy 3525 liest: umarmte und küsste) sie alle und sprach zu ihren Brüdern: "Weint nicht, seid nicht betrübt und zweifelt nicht, denn seine Gnade wird mit euch allen sein und wird euch beschützen. Lasst uns vielmehr seine Größe preisen, denn er hat uns bereitet (POxy 3525 liest: verbunden) und zu Menschen gemacht." Dadurch, dass sie dies sagte, wandte Maria ihr (d. h. der Jünger) Herz zum Guten, und sie begannen, über die Worte des Erlösers zu diskutieren.
Die eher unscheinbare Aussage der Maria, dass er "uns zu Menschen gemacht" hat, wird man mit dem "Menschensohn in eurem Innern" aus p.18,12-22 zusammennehmen müssen: Durch das Wirken des Erlösers haben wir zum wahren Menschsein gefunden und in uns selbst den Menschensohn als unser besseres Ich entdeckt. - Verborgene Überlieferung Petrus gesteht der Maria daraufhin eine besondere Rolle schon in der vorösterlichen Zeit zu und bittet sie um eine "geheime Offenbarung": (p.1 0, 1-8) Petrus sprach zu Maria: "Schwester, wir wissen, dass der Erlöser dich mehr liebte als die übrigen Frauen. Sage uns die Worte des Erlösers, an die du dich erinnerst, die du kennst, wir aber nicht, und die wir auch noch nicht gehört haben." Maria anrwortete und sprach: "Was euch verborgen ist, ich werde es euch verkünden."
Dass der Erlöser Maria Magdalena mehr geliebt habe "als die übrigen Frauen", wirkt zwar wie ein außerordentliches Kompliment, reicht aber längst nicht an EvPhil 55 heran, wo er sie mehr liebt "als alle anderen jünger" (s.o.). Petrus geht dennoch davon aus, dass Maria noch andere "Herrenworte" kennt - eher nachösterliche als vorösterliche, - die sie den anderen Jüngern bisher vorenthalten hatte. Nun erklärt sie sich bereit, auch diese Sonderbelehrung darzulegen (pragmatisch gesehen erfahren diese
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Stoffe durch Rückführung auf die Autorität des Herrn ihre Legitimation). - Die Vision der Maria Ihr privilegiertes Wissen verdankt Maria, es könnte kaum anders sein, einer Vision, deren Status allerdings unklar bleibt, weil wir es mit mehrfach verschachtelten Speechebenen zu tun bekommen: (p.l0,9-16) Und sie begann, ihnen diese Worte zu sagen: "Ich", sprach sie, "ich sah den Herrn in einer Vision. Und ich sagte zu ihm: ,Herr, ich sah dich heure in einer Vision'. Er antwortete und sprach zu mir: ,Selig bist du, dass du nicht wankst, wenn du mich siehst. Denn an dem Ort, wo der Verstand ist, da ist der Schatz.'
Fraglich ist zunächst, wann und wo diese Vision stattgefunden hat. Das könnte sich z. B. auch vor Ostern abgespielt haben, in einer Art Verklärungsszene. Sodann wird nicht recht deutlich, warum Maria dieses Faktum noch einmal in direkter Rede konstatiert. Der Vergangenheitsform "ich sah dich heute in einer Vision" müsste man eigentlich entnehmen, dass sich das anschließende Gespräch außerhalb dieser Vision abspielt, die dann aber ganz ohne Inhalt bliebe. Man kommt einer Lösung wahrscheinlich nur näher, wenn man erkennt, dass hier Joh 20 verarbeitet ist. Dort sagt Maria in 20,18 zu den Jüngern: "Ich habe den Herrn gesehen"; das erscheint hier als ein Wort, das sie an den Herrn richtet. Die Vision insgesamt baut somit auf der Begegnung Marias mit dem Auferstandenen in Joh 20,14--17 auf. Dass Jesus ihr bei der Gelegenheit zu verstehen gibt: "Ich bin noch nicht aufgestiegen zu meinem Vater im Himmel" und sie beauftragt, eben dies den andem Jüngern auszurichten: " ... und sage ihnen: Ich gehe hinaufzu meinem Vater und zu eurem Vater" Qoh 20, 17), bot den Anlass dafür, den Seelenaufstieg zum Thema der Vision in ihrem weiteren Ablauf zu machen. Der Herr beantwortet Marias furchtlose Reaktion auf sein Erscheinen mit einer Seligpreisung, die sie als wahre Gnostikerirr ausweist, denn "festzustehen" und "nicht zu wanken" sind in gnostischen Texten stehende Wendungen für deren Qualifizierung. Er greift ferner sein eigenes Wort vom Schatz und vom Herz aus Mt 6,21 par Lk 12,34 auf, ersetzt darin aber "Herz" durch "Verstand" und leitet damit zur folgenden anthropologischen Debatte über: (p.l 0, 16--22) Ich sprach zu ihm: ,Herr, der, der die Vision sieht, sieht er sie durch die Seele oder durch den Geist?' Der Erlöser antwortete und sprach: ,Weder sieht er durch die Seele noch durch den Geist, sondern der Verstand, der in der Mitte zwischen beiden ist, er ist es, der die Vision sieht, und er ist es, [der.
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Das Innere und damit das Eigentliche des Menschen erscheint hier dreigeteilt in Seele (psyche), Verstand (nous) und Geist (pneuma), mit dem Verstand als mitderer Größe und als Organ für das visionäre Erleben. - Der Aufstieg der Seele In der Lücke, die Seite 11-14 umfasst, berichtet Maria anscheinend weiter von ihrer Sondervision, und sie geht dabei zu einer Schilderung des Aufstiegs der Seele durch die verschiedenen Himmel bis an ihr ewiges Ziel über. Dass dieser Bericht in der Vergangenheitsform gehalten ist, provoziert die Frage, ob Maria eine visionäre Vorwegnahme ihres eigenen Seelenaufstiegs erlebt hat oder ob sie die Seele des Erlösers bei deren Aufstieg von fern begleitete. Das entscheidet sich im Wesentlichen an der Interpretation der Schlussnotiz in p.17,7-9 (s.u.). Der Seele lauern in den unteren Himmel böse Mächte auf, die ihr den Weg versperren wollen. Im EvMar sind vier solcher Widerstände zu überwinden, deren erste wir wegen der Textlücke nicht mehr kennen. Die zweite Barriere wird von der Begierde errichtet: ... (p.lS,l-9) ihn. Und die Begierde sprach: ,Ich habe dich (die Seele} nicht herabsteigen sehen. Jetzt aber sehe ich dich hinaufsteigen. Wieso aber lügst du, obwohl du zu mir gehörst?' Die Seele antwortete und sprach: ,Ich habe dich gesehen. Du hast mich nicht gesehen und hast mich auch nicht erkannt. Ich diente dir als Kleid, und du hast nicht erkannt.' Nachdem sie dies gesagt hatte, ging sie jubelnd davon.
Über Sieg und Niederlage entscheidet in diesem Wortgefecht, ob das richtige Erkennen gelungen oder misslungen ist. Das bestätigt sich auch im nächsten Durchgang, wo die Vertreteein der Gegenmacht den sprechenden Namen "Unwissenheit" trägt: (p.l5, 10-22) Wiederum gelangte sie zur dritten Gewalt, die man die Unwissenheit nennt. [Sie] verhörte die Seele und sagte: ,Wo gehst du hin? In Schlechtigkeit bist du ertappt worden. Ja, du bist ertappt worden. Richte nicht!' Die Seele sprach: ,Warum richtest du mich, obwohl ich nicht gerichtet habe? Ich bin ergriffen worden, obwohl ich nicht ergriffen habe. Ich bin nicht erkannt worden. Ich meinerseits habe aber erkannt, dass das All aufgelöst wird, sowohl die irdischen Dinge, (p.l6, 1) als auch die himmlischen.'
Die vierte und mächtigste Gewalt, der Zorn, ist wiederum untergliedert in sieben einzelne Gestalten (wohl ein Anzeichen für die Überlagerung von zwei Modellen, deren eines vier untere Himmel und deren anderes sieben untere Himmel kannte): (p.l6,1-13) Nachdem die Seele die dritte Gewalt überwunden hatte, stieg sie weiter auf und sah die vierte Gewalt, die war von siebenfacher Gestalt. Die erste Gestalt ist die Fins-
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ternis, die zweite die Begierde, die dritte die Unwis;enheit, die vierte ist die Erregung des Todes, die fi.infte ist das Reich des Fleisches, die sechste ist die törichte fleischliche Klugheit, die siebte ist die zornmütige Weisheit. Dies sind die sieben [Gestalten] des Zorns.
In der folgenden Frage, die die sieben Gestalten des Zorns der Seele stellen, kommen zwei komplizierte Termini vor: "Menschenmörderin" und "Orteüberwinderin", die der Erklärung bedürfen. "Gemordet" hat die Seele den irdischen Menschen, den sie zurücklassen musste, um selbst frei zu werden, und der Ort, den sie "überwindet" oder "vernichtet", ist die materielle Welt, an die sie zuvor gefesselt war: (p.l6,13-21) Sie fragen die Seele: ,Woher kommst du, Menschenmörderin?', oder: ,Wohin gehst du, Orteüberwinderin?' Die Seele antwortete und sprach: ,Was mich zurückhielt, wurde getötet, und was mich umgab, wurde überwunden. Und meine Begierde ist erloschen, und die Unwissenheit ist gestorben. In einer [Welt] wurde ich erlöst (p.l7,1-7) durch eine andere Welt [und] in einem Abbild durch ein oberes Abbild und aus der vergänglichen Fessel des Vergessens. Von nun an werde ich die Ruhe von der Zeit, dem Augenblick, dem Äon erlangen in Schweigen'."
Die endgültige Ruhe (anapausis) als großes Ziel des spirituellen Weges in der Gnosis, aber nicht nur dort, ist durch die Aufhebung der Zeitlichkeit bestimmt, und das "Schweigen" ist nicht nur ein weiteres Charakteristikum des Ruheorts, sondern auch eine andere Bezeichnung für ihn. Wenn Maria schweigt, will das nicht nur sagen, dass der Visionsbericht jetzt endet, sondern Maria hat selbst schon dieses Schweigen erreicht und internalisiert: (p.17,7-9) Als Maria dies gesagt hatte, schwieg sie, so dass also der Erlöser bis hierher mit ihr geredet hatte (PRyl463 liest: als ob der Erlöser bis hierher gesprochen hätte}.
Am Schluss gehen der koptische und der griechische Text in signifikanter Weise auseinander. Die koptische Fa5sung sagt lediglich, dass der Erlöser bis hierher in der Vision mit Maria sprach. Der griechische Wortlaut hingegen kann auch so verstanden werden, dass im Grunde gar nicht Maria sprach, sondern der Erlöser selbst durch sie, und das dürfte auch der ursprüngliche Sinn sein, der bei der Übersetzung verloren ging. Dann aber handelt es sich bei der Vision um eine Beschreibung des Aufstiegs seiner eigenen Seele zum höchsten Himmel. - Andreas, Petrus und Maria Der Visionsbericht ist abgeschlossen; Andreas ergreift als erster das Wort und äußert grundsätzliche Zweifel an dem, was Maria sagte, und zwar aus
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doktrinären Gründen, weil es nicht mit den akzeptierten, üblichen Lehrinhalten übereinstimmt: (p.l7,10-15) Andreas aber entgegnete und sprach zu den Brüdern: "Sagt, was meint ihr über die Dinge, die sie gesagt hat? Ich jedenfalls glaube nicht, dass der Erlöser dies gesagt hat. Denn wahrhaftig, diese Lehren sind andere (d.h. abweichende) Gedanken."
Sein Bruder Petrus assistiert ihm, verlagert aber die Frage auf eine andere Ebene. Obwohl er selbst zuvor Maria darum gebeten hatte, ihr verborgenes Wissen offen zu legen, ist er sich jetzt nicht mehr sicher, ob eine solche Geheimüberlieferung ausgerechnet einer Frau anvertraut wurde, die damit in eine privilegierte Position im Vergleich zu den männlichen Jüngern und zu Autoritätsträgern wie Petrus geriete: (p.l7,15-22) Petrus antwortete und sprach über die so gelagerten Dinge und befragte sie (die Brüder) über den Erlöser: "Hat er etwa mit einer Frau ohne unser Wissen und nicht öffentlich geredet? Sollen etwa wir selbst umkehren und alle auf sie hören? Hat er sie uns gegenüber bevorzugt?"
Mariareagiert direkt nur auf Petrus, den sie weiterhin mit "mein Bruder" anredet, indirekt aber auch auf Andreas, wenn sie den Fiktions- und Manipulationsverdacht weit von sich weist: (p.lB,l-5) Da weinte Maria und sprach zu Pecrus: "Mein Bruder Petrus, was denkst du da? Denkst du, dass ich dies mir selbst in meinem Herzen ausgedacht habe oder dass ich über den Erlöser lüge?"
Jemand muss etwas unternehmen, aber das tun weder Andreas noch Petrus, sondern das tut Levi, der für Maria Partei ergreift (und der auch am Schluss des EvPetr nach Maria Magdalena und neben Petrus und Andreas in Erscheinung tritt, s.o. Kap. 6a). - Levi und Maria Zunächst ist man sicher versucht, diesen Levi mit dem Apostel Matthäus zu identifizieren, aber andere Erwägungen sprechen eher dagegen. Es macht mehr Sinn, wenn neben zwei Apostel aus dem Zwölferkreis ein Jesusjünger tritt, der diesem Gremium gerade nicht angehört. Miteinander kontrastiert werden also Andreas und Petrus einerseits und Levi und Maria andererseits, und wo die Sympathien des EvMar liegen, steht außer Frage: (p.l8,6-21) Levi entgegnete und sprach zu Petrus: "Petrus, du warst von jeher jähzornig. Nun sehe ich, dass du dich gegen die Frau ereiferst wie die Widersacher (PRyl 463 hat: wie ihr Widersacher). Wenn aber der Erlöser sie würdig gemacht hat, wer bist denn du, sie zu verwerfen? Gewiss kennt der Erlöser sie ganz genau. Deshalb hat er sie mehr als uns geliebt. Vielmehr sollten wir uns schämen, den vollkommenen Menschen anziehen und
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ihn uns erwerben (PRyl 463 hat: und lasst uns das uns Aufgetragene tun), wie er es uns befohlen hat, und das Evangelium verkündigen, ohne dass wir eine andere Bestimmung oder ein anderes Gesetz erlassen außer dem, was der Erlöser sagte." Als (p.19, lf.) Levi aber dies gesagt hatte, schickten sie sich an loszugehen, um zu lehren und zu verkündigen {nach PRyl463 geht nur Levi los und verkündet).
Wieder lässt uns der griechische Text aufhorchen. PRyl 463 liest nicht im Plural "die Widersacher", sondern im Singular "der Widersacher". Petrus wird in PRyl 463 nicht mit beliebigen Feinden verglichen, d. h. im Kontext mit Kritikern der aktiven Betätigung von Frauen in den christlichen Gemeinden, sondern als Vergleichsgröße dient der Widersacher schlechthin, der Satan (vgl. Mk 8,33). Und zum guten Schluss ist in PRyl 463 Levi der einzige, der sich wirklich zur Verkündigung aufmacht, was die anderen (männlichen) Jünger erneut in keinem guten Licht erscheinen lässt. Aber auch im koptischen Text sagt Levi ausdrücklich, dass der Herr Maria Magdalena "mehr als uns geliebt hat", korrigiert also stillschweigend die Einschränkung, die Petrus zuvor angebracht hatte (s.o.), und trifft sich mit dem EvPhil in der impliziten Charakterisierung Marias als Lieblingsjünger(in). Außerdem fällt auf, dass Levi sich die Anweisungen des Herrn zu eigen macht. Er fordert dazu auf, den vollkommenen Menschen im eigenen lnnern zu entdecken, dies als Evangelium zu verkünden unG das Evangelium nicht mit einer Fülle neuer Gesetze zu verstellen.
(3) Zur Bewertung Literatur: J. HARTENSTEIN I S. PETERSEN, Das Evangelium nach Maria. Maria Magdalena als Lieblingsjüngerin und Stellvertreterio Jesu, in: L. Schottroff I M. T. WACKER (Hrsg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 757-767.- A. G. BROCK, Mary Magdalene, ehe First Aposcle: lhe Struggle for Authority (Harvard lheological Studies 51), Cambridge, Ma. 2003.- E. A. DE BoER, lhe Gospel ofMary: Beyond a Gnostic and a Biblical Mary Magdalene OSNT.SS 260), London 2004.
Der Titel "Evangelium der Maria (Magdalena)" weckt hohe Erwartungen, aber es steht zu befürchten, dass sie oft in eine falsche Richtung gehen. Man erhofft sich Einblicke in das geheime Leben des Jesus von Nazaret, das von den Kirchen verschwiegen wird, und wartet gespannt auf in time Aufschlüsse über seine tatsächliche Beziehung zu Maria Magdalena. Nicht eine Spur davon findet sich in dem einzigen Text mit diesem Titel, den wir noch vor uns haben. Statt dessen werden wir mit Spekulationen kosmologischer und
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ethischer Art konfrontiert und erleben den in mythischer Sprache geschilderten Seelenaufstieg mit. Damit fällt das EvMar nicht nur für die historische Rückfrage nach Jesus aus; auch hinsichtlich der historischen Gestalt der Maria aus Magdala sind ihm keinerlei Informationen zu entnehmen. Was uns das EvMar andererseits bietet, sind Einblicke in unterschiedliche nachösterliche Gemeindestrukturen und in Konflikte um die Mitwirkung von Frauen in verantwortlichen Rollen. In diesen Fragen bezieht das EvMar eindeutig Position, wenn es Mariaals Lieblingsjüngerin des vorösterlichen Jesus und als irdische Platzhalterirr des auferstandenen Herrn erscheinen lässt und ihr mit Levi einen männlichen Jünger an die Seite gibt, der als einziger ihre besondere Rolle akzeptiert und selbst dem Willen des Herrn entspricht. Für die historische Situierung des Textes kommt diesen Beobachtungen erhebliches Gewicht zu: "Ebenso wie wir die johanneischen Schriften als Zeugnisse eines spezifisch johanneischen Christentums lesen, ist das EvMar ein wiedergefundenes Zeugnis für eine frühchristliche Gemeinschaft, die sich auf Maria Magdalena berufen hat" (Hartenstein I Petersen 766).
d) Das Apokryphon des Johannes (AJ) Literatur. M. WALDSTEIN I F. WISSE, The Apocryphon of John: Synopsis of Nag Hammadi Codices II,1; III,1; and IY,1 with BG 8502,2 (NHMS 33), Leiden 1995 (unentbehrlich!). - W.C. TILL I H. M. ScHENKE, Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 2 1972, 33-51.78-195.- M. WALDSTEIN, in: Nag Hammadi Deutsch I, 95-150.- J. HARTENSTEIN, Die zweite Lehre 63-95.- K. L. KING, The Secret Revelation ofJohn, Cambridge, Ma. 2005.- T. ÜNUKI, Gnosis und Stoa. EineUntersuchung zum Apokryphon des Johannes (NTOA 9), Freiburg (Schweiz) I Göttingen 1989. -A H. B. LoGAN, GnosticTruth and Christian Heresy: A Study in the History of Gnosticism, Edinburgh 1999.- Z. PLESE, Poetics of the Gnostic Universe: Narrative and Cosmology in the Apocryphon of]ohn (NHMS 52), Leiden 2006.- M. A WILLIAMS, Rethinking "Gnosticism". An Argument for Dismanding a Dubious Category, Princeton, N.J. 1996, 8-18.235-262.
(1) Zur Einordnung
Eine Schrift mit dem Untertitel "Das Apokryphon des Johannes" (abgekürzt AJ; zu verstehen als "Die Geheimschrift des Johannes") ist in unseren Quellen gleich viermal vertreten, jeweils als erste Schrift in den Nag
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Hammadi Codices II, III und IV und als zweite Schrift- auf das EvMar folgend- im "Berolinensis Gnosticus". Die vier Textzeugen verteilen sich auf zwei Stränge: eine Kurzfassung in NHC III, 1 und BG und eine Langfassung in NHC II,1 und IV, I. Die beiden Versionen mit der Kurzfassung repräsentieren voneinander unabhängige Übersetzungen aus dem Griechischen. Die beiden Exemplare der Langfassung müssen eine gemeinsame koptische Vorlage gehabt haben, die ihrerseits eine Übersetzung aus dem Griechischen darstellt. Hinsichtlich des Urteils über das Verhältnis von Langfassung und Kurzfassung zueinander hat sich nach anfangliehen Kontroversen inzwischen ein Konsens eingestellt: Die Kurzfassung bietet den älteren Text, die Langfassung entstand durch ihre nachträgliche Auffüllung mit'weiterem Material, womit nicht ausgeschlossen ist, dass sie hier und da älteres Material enthält, z. B. beim Untertitel (s.u.). Damit ist die lirerarkritische Arbeit am AJ aber noch nicht an ihr Ende gelangt. Der dialogische Rahmen, der den Apostel Johannes im Gespräch mit einer - vorsichtig formuliert - überirdischen Gestalt zeigt, lässt sich nämlich relativ leicht abheben, ebenso eine dialogische Partie im Textinneren. Übrig bleibt ein ausführlicher Schöpfungsmythos, der sich in seiner ersten Hälfte in mittelplatonischen Bahnen bewegt und in seiner zweiten Hälfte mit der Urgeschichte im Alten Testament auseinandersetzt, ohne ausgesprochen christliche Züge zu tragen (evtl. abgesehen vom Christustitel). Wahrscheinlich wurde eine Grundschrift nachträglich dialogisch gerahmt und dabei zugleich stärker christianisiert. Das Verhältnis zwischen AJ und der Grundschrift wäre dann ähnlich zu bestimmen wie das zwischen SJC und dem Eugnostosbrief. Irenäus skizziert in Adversus haereses I 29,1-4 das mythische Modell einer Gruppe sogenannter "Barbelo-Gnostiker". Dieses Exzerpt weist so verblüffende Ähnlichkeiten mit dem ersten Teil des Schöpfungsmythos im A] auf, dass direkte Beziehungen bestehen müssen. Wahrscheinlich hatte Irenäus noch Zugang zu der Grundschrift, die im AJ dialogisiert wurde, andernfalls kannte er eine frühe Kurzfassung des AJ. Das ist nicht unwichtig für die Datierungsfrage, denn den Text, den Irenäus um 180 benutzte, müssen wir auf ca. 150/160 ansetzen. Da das AJ für die Umgestaltung der Grundschrift durch eine dialogische Rahmung möglicherweise die Entwicklung dieser Technik durch die SJC voraussetzt, käme diese Datierung selbst für die Kurzfassung, aus der sich im 3. Jahrhundert die Langfassung entwickelt hat, etwas zu früh. Für die Entstehung der Kurzfassung wird man eher an die Zeit um 200 denken.
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Während der Untertitel des Werks in beiden Versionen der Kurzfassung einfach "Das Apokryphon des Johannes" lautet, liest die Langfassung: "Nach Johannes, apokryphes". Die Namensform "Johannes" erscheint zudem noch in der griechischen Akkusativform, die das Koptische sonst nicht verwendet. Das unterstreicht noch die Ähnlichkeit zu den Überschriften der kanonischen Evangelien(" ... nach Markus" etc.). Es könnte sein, dass das AJ sich in einer ursprünglichen griechischen Form als "Das geheime (Evangelium) nach Johannes" verstand (s. Hartenstein). Die Bedeutung des AJ wird nicht nur durch die Anzahl der vorhandenen Textzeugen unterstrichen, sondern auch durch die Platzierung gleich zu Beginn in drei Kodizes (erwogen wird, dass auch in Kodex XIII, von dem nur wenige Blätter übrig sind, AJ am Anfang stand). Nehmen wir einmal (mit Williams) versuchsweise an, jeder Kodex hätte in der Gruppe, für die er geschrieben wurde und die ihn benutzte, die Funktion einer "Heiligen Schrift", einer Bibel, gehabt. AJ würde dann in Kodex II z. B. das Alte Testament vertreten, dem das Evangelium folgt. An zweiter Stelle steht dort nämlich das Thomasevangelium. Der folgende Überblick, der einen Schwerpunkt bei der Rahmenerzählung hat (Übersetzung nach Hartenstein), orientiert sich an der Kurzfassung in BG 8502,2 p.l9,6-77,8.
(2) Zum Inhalt - Streitgespräch und himmlische Erscheinung Johannes, Bruder des Jakobus und Sohn des Zebedäus, begibt sich "an einem dieser Tage" (nach Jesu Tod) zum Tempel. Dort trifft er auf einen Pharisäer namens Arimanius, und es kommt zwischen ihnen zum Streit. Der Pharisäer fragt: "Wo ist er, dein Lehrer, dem du nachgefolgt bist?", und auf die Antwort des Johannes hin: ,,An den Ort, von dem er gekommen ist, ging er wieder" setzt er nach: "Dieser Nazarener hat euch betrogen und eure Ohren mit Lügen gefüllt ... , er hat euch abgewendet von den Überlieferungen eurer Väter" (p.19,13-20,3). Johannes wird traurig und geht vom Heiligtum weg zu einem wüsten Berg, der sich anstelle des Tempels als Ort der Offenbarung erweisen soll. Aber zunächst stellt sich Johannes selbst eine Reihe von Fragen: (p.20,8-19) Wie nun wurde der Erlöser erwählt? Und weshalb wurde er in die Welt gesandt durch seinen Vater, der ihn gesandt hat? Und wer ist sein Vater? Und welcher An
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ist jener Äon, zu dem wir gehen werden? Er sagte. uns, dass dieser Äon als Abbild von jenem unvergänglichen Äon wurde. Aber er hat uns nicht aufgeklärt über jenen, welcher Art er ist.
Die johanneischen Anklänge, hier in der Sendungsformel und zuvor schon in der Antwort des Johannes, setzen Kenntnis des Johannesevangeliums voraus, und damit wiederum hängt die Wahl des Johannes- anstelle von Thomas oder Philippus z. B. -als Offenbarungsempfanger zusammen. Die Autorität, die in manchen Kreisen das johanneische Schrifttum besaß, soll auf das vorliegende Werk abfarben. Die späteren kosmologischen Ausführungen werden vorbereitet durch die Frage nach Ort und Art des unvergänglichen Äon. Aber noch während dieser Überlegungen geschieht etwas: (p.20,19-21,6) Sofort, als ich dies dachte, öffneten sich die Himmel, und die ganze Schöpfung leuchtete im Licht ... und die [ganze] Welt [wankte]. Ich fürchtete mich und [fiel nieder]. Und siehe, ein Kind [erschien] mir. [Es wandelte] seine Erscheinung aber zu einem Greis, der das Licht in sich [hatte].
Die Verwandlungen, die zum Motivfeld der "Polymorphie", der Vielgestaltigkeit des Erlösers gehören, gehen weiter: Viele Gestalten erscheinen in dem Licht, und es ist doch nur eine Erscheinung mit drei Gesichtern, die im typischen Stil des Erscheinungsgesprächs dem Johannes Mut zuspricht, ihm versichert: "Ich bin es, der alle Zeit mit euch ist" (vgl. Mt 28,20) und sich vorstellt als Vater, Mutter und Sohn zugleich (p.21,14-21). Später wird Johannes den Erscheinenden als "Christus" anreden (in BG; in anderen Fassungen als "Erlöser"). Das Ziel seines Kommens besteht darin, Johannes über das aufzuklären, "was ist und was wurde und was werden soll" (p.22,3-5; vgl. Offb 1,19). Für Johannes folgt daraus eine Aufgabe, die er gegenüber Gläubigen gleich ihm zu erfüllen hat: (p.22,10-16) Jetzt also erhebe dein [Gesicht], höre und [empfange, was ich] dir heute sagen werde, [damit] auch du [es deinen] Gleichgeistern verkündest, die [aus] dem Geschlecht sind, das nicht [wankt], (aus dem Geschlecht) des vollkommenen Menschen.
Das Geschlecht der Vollkommenen, die fest stehen und nicht wanken (während kurz zuvor die ganze Welt beim Eintritt der Vision zu wanken begann), dient auch in anderen Schriften als gnostische Selbstbezeichnung. Der Aufbau der Szene ist damit abgeschlossen, die langen Offenbarungsreden im Korpus des AJ können beginnen. - Das Reich des Lichts Sie führen uns zunächst auf eine längere Strecke hin ausschließlich in die himmlische Welt, in das Reich des reinen Lichtes und des reinen Geistes,
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und sie beginnen beim obersten Gott, über den sich nur negative Feststellungen treffen lassen: (p.23, 19-24,6) Er ist der Unermessliche, weil kein anderer, der vor ihm existiert hätte, ihn ermessen hat. Er ist der Unsichtbare, weil ihn niemand sah ... Er ist der Unbeschreibliche, weil ihn niemand erfasst hat und ihn beschreiben könnte. Er ist es, dessen Namen man nicht sagen kann, weil es niemanden gibt, der vor ihm war, um ihn zu benennen.
Dennoch bleibt er nicht allein. Seine Vollkommenheit spiegelt sich im eigenen Licht, und ein zweites Wesen mit weiblichen Zügen tritt in Erscheinung, "Barbelo" genannt (ein bis heute nicht wirklich geklärtes Kunstwort; aber sie vertritt den einen, höheren Teil der Figur der Weisheit, während der zweite, untere Teil abgespalten wird und erst später die Bühne betritt, s.u.). Barbelo bittet um Erlaubnis, als nächste Größe eine "Erste Erkenntnis" freizusetzen, und so bevölkert sich das Lichtreich nach und nach, immer in völliger Harmonie und schönster Ordnung. Auch "Christus" und ,,Adam" finden hier schon ihren transzendenten Ort. - Der Gott der Welt Das ändert sich in einer der unteren Hierarchien mit dem Auftreten der Sophia und der unerwünschten Eigeninitiative, die sie an den Tag legt (ab p.36,16). Ohne Erlaubnis von höchster Stelle und ohne Zustimmung ihres Paargenossen bringt sie ein Wesen hervor, das aufgrund der irregulären Begleitumstände seines Entstehens nur eine Missgeburt sein kann, mit feurigen Augen und dem Aussehen von Schlangen und Löwen. Sophia versteckt ihr Erzeugnis in einer Lichtwolke mit einem Thron und gibt ihm den Namen "Jaldabaoth", der sich erklären lässt als Verballhornung biblischer Gottesprädikate Qahwe, El und Zebaoth). Dieser Jaldabaoth hat bei seiner Verstoßung "viel Kraft aus der Mutter", d. h. Licht aus dem Lichtreich, Geistespartikel aus dem Reich des Geistes, mitgenommen. Das befähigt ihn dazu, zum Schöpfer seiner eigenen Welt zu werden, die er nach Abteilungen (,,Äonen" und Himmeln) ausdifferenziert und mit Wesen unterschiedlicher Art ausstattet, mit Engeln, Mächten, Kräften, Gewalten, die seltsam aussehen und seltsame (aber alttestamentlich klingende) Namen tragen: "Jaoth, das Löwengesicht", "Eloaios, das Eselsgesicht", ,,Adonaios, das Drachengesicht", ,,Adoni, das Affengesicht" ... (p.41,18-42,7). Von seiner pneumatischen Kraft gibt Jaldabaoth aber nichts an seine Kreaturen ab, die behält er für sich, und am Schluss lehnt er sich zufrieden zurück und sagt: "Ich bin ein eifersüchtiger Gott; außer mir gibt es keinen" (p.44,14f.; vgl. Ex 20,5; Jes 45,5f.). Wir kommen bei der
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Auswertung auf diese Sicht der Weltschöpfung und auf diesen Umgang mit dem Alten Testament zurück. - Die Gegenmaßnahme Die Sophia erkennt, was sie angerichtet hat (ab p.44,15). Sie bereut und sie schämt sich, deswegen wagt sie nicht, "nach oben" zurückzukehren, sondern geht in der Finsternis hin und her. Ihre "Brüder" bitten für sie, ihr Paargenosse kommt ihr zur Hilfe, der vollkommene Geist "nickt gewährend zu". Aber die Sophia bekommt vorerst nur Bewährung. Sie darf nicht in den höchsten, zehnten Himmel zurück, sondern muss im neunten bleiben. Erst müssen die Folgen ihres Fehltritts überwunden werden. Dazu bedarf es einer List, die auf komplizierte Weise umgesetzt wird. Der oberste Gott spiegelt sich im Wasser tief unten in Gestalt eines Menschen. Die Kreaturen Jaldabaoths sind von dem Anblick entzückt und beschließen: "Lasst uns einen Menschen schaffen nach dem Bilde und dem Aussehen Gottes" (p.48,16-18; vgl. Gen 1,27). In gemeinsamer Arbeit (vgl. den Plural in Gen 1,26) stellen sie die Seele eines Menschen her, die sie ,,Adam" nennen und zu deren Zusammensetzung sie alle ein Stück beisteuern. Aber diese Seele hat keine Lebenskraft, sie bleibt unbeweglich auf der Erde liegen. Unerkannt kommen Abgesandte der Lichtwelt zu Jaldabaoth und geben ihm den Rat: (p.51, 15-20) "Blase in sein Gesicht etwas von dem Geist, der in dir ist, und das Ding wird sich erheben." Und so blies er ihm von seinem Geist- das ist die Kraft von der Mutter- in den Leib, und er bewegte sich (vgl. Gen 2,7).
Jetzt enthüllt sich der Sinn der ganzen Kriegslist: Jaldabaoth hat etwas von seinem eifersüchtig gehüteten Schatz, den die Lichtwelt zurück haben möchte, hergegeben, und es besteht die Hoffnung, dass es auf dem Umweg über den Menschen gelingt, das verlorene Gut wieder an den angestammten Platz zurückzubringen. Aber noch sind wir nicht so weit. Als pneumatische Seele erweist sich Adam den Mächten, die ihn geschaffen haben, weit überlegen. Diese mischen deshalb aus den vier Elementen etwas zusammen, mit dem sie Adam umgeben: "Das ist die Fessel, das ist das Grab des Gebildes des Leibes, der dem Menschen angezogen wurde als aus Materie (bestehende) Fessel" (p.55,9-13). Der Körperdes Menschen dient, gut platonisch, als Fessel und Grab der Seele, und der ganze Mensch besteht, weniger gut platonisch, aus drei Teilen: Leib, Seele und Geist.
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- Relecture der Urgeschichte Mit p.58, 1 (bzw. vorher schon in p.45,6) setzen wieder Dialoge ein, in denen bestimmte Aussagen der biblischen Urgeschichte zurechtgerückt werden. Johannes fragt: "Christus, war es denn nicht die Schlange, die sie (Eva) belehrte?", und Christus antwortet: "Die Schlange lehrte sie die sexuelle Begierde, die Befleckung und Verderben (mit sich bringt)." Die Abwertung der Geschlechtlichkeit setzt sich auch in den folgenden Exegesen zu Gen 2 - 7 fort. So schändet Jaldabaoth an späterer Stelle Eva, die er erst noch schaffen wird (s.u.), und zeugt mit ihr Kain und Abel, und die Episode vom Engelfall aus Gen 6,1--4 wird breit wiedergegeben. Einer Gestalt aus dem Lichtreich, die "Einsicht" (epinoia) heißt, gelingt es aber auch, das erste Menschenpaar aus seiner Unwissenheit zu befreien und- durch das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis - zu erlösendem Wissen zu verhelfen. Dazu kommt es mit Hilfe der Epinoia auch noch auf einem anderen, verwandten Weg. Eifrig bemüht, seine Kraftpartikel wiederzugewinnen, bringt Jaldabaoth aus Adams Seite Eva hervor, weil er über sie sein Ziel leichter zu erreichen hofft, aber der erste Effekt ist ein gegenteiliger. Beim Blick auf Eva wird Adam schlagartig nüchtern, er wacht auf, er beginnt zu erkennen (hier wird mit der mehrfachen Bedeutung des biblischen "Erkennens" gespielt). Das Kind, das Adam und Eva miteinander haben, ist Seth, der Kain und Abel in keiner Weise gleicht, sondern das echte Bild und den Geist der Lichtgottheit in sich trägt (man denke an die Rolle Seths im Ägypterevangelium aus Nag Hammadi, s.o. Kap. 4b). Als alles nichts hilft, reut es Jaldabaoth schließlich, den Menschen überhaupt geschaffen zu haben (ab p.72,12; vgl. Gen 6,6), und er will ihn mit einer großen Flut, die aus der Finsternis kommt, vernichten. Aber mit Noach wird ein Vertreter "aus dem Geschlecht, das nicht wankt" (p.73,9f.) gerettet. In einem dialogischen Einschub in diesen "Midrasch" zu Gen 1 - 7 fragt Johannes mehrfach nach dem Schicksal der Seelen: ob sie gerettet werden, ob sie untergehen, warum sie untergehen und was dabei mit ihnen geschieht (ab p.76, 13). Hier artikulieren sich pastorale Sorge und paränetische Zielsetzung in einem: In angefochtener Lage (vgl. auch den Streit zwischen Johannes und dem Pharisäer in der Exposition) will das Werk die Heilszuversicht der Adressaten bestärken und erneuern.
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- Der Auftrag Damit sind wir bereits beim Schlussrahmen angelangt. Er greift mit den "Gleichgeistern" (was mehr besagt als nur "Gleichgesinnte", es geht um Teilhabe an dem einen Pneuma) und dem "Geschlecht, das nicht wankt" Termini aus der Eingangsrahmung wörtlich auf und bietet ansonsten einen Schreibbefehl und eine bedingte Verfluchung (p.76,7-15): "Ich aber sage dir dieses, damit du es aufschreibst und deinen Gleichgeistern im Verborgenen gibst. Denn dieses Geheimnis gehört dem Geschlecht, das nicht wankt ... Ich habe dir dies gegeben, um es aufz.uschreiben und sicher zu hinterlegen." Dann sprach er zu mir: "Verflucht sind alle, die dies für ein Geschenk hergeben werden oder für Essen oder für Trinken oder für Kleidung oder für etwas anderes, was diesen gleicht."
Die geheime Botschaft ist zwar für ausgewählte andere Glaubende bestimmt, aber es wäre ein Frevel, sie um des materiellen Gewinns willen weiterzugeben. Dass die Warnung überhaupt nötig ist, verdeutlicht, dass die Versuchung dazu bestand, und angesichts des geringen Lohns (Nahrung und Kleidung), der schon zu einer solchen Tat verlockt, können die materiellen Bedingungen, unter denen die Adressaten lebten, nicht sonderlich gut gewesen sein.
(3) Zur Auswertung Überblickt man das Korpus des AJ insgesamt, so fällt auf, dass der Gedankengang auf halbem Weg stehen bleibt. Die andere Hälfte der Strecke, die bis zur endgültigen Rückkehr in die himmlische Heimat noch zurückzulegen wäre, bleibt ausgespart. Das könnte die eingangs geäußerte Vermutung stützen, dass wir mit AJ nur den ersten Teil einer Bibel vor uns haben, der ein eigentliches Evangelium (EvThom z. B.) noch folgen muss. Für BG würde das allerdings nicht zutreffen, da hier mit EvMar das Evangelium schon vorausgeht. Aber mit der SJC folgt an dritter Stelle ein Text, den wir zwar zu den Dialogevangelien rechnen, der aber auch Paränese enthält und die Briefliteratur vertreten könnte (zumal der Eugnostosbrief darin verarbeitet wurde), und das abschließende Stück aus den Petrusakten vertritt die Apostelgeschichte. Was fehlt noch? Nur noch eine "Geheime Offenbarung" aus der Feder eines Johannes. Die Grundschrift des AJ (oder seine Kurzfassung) hat Irenäus von Lyon als einen Hauptreferenztext für den gnostischen Mythos benutzt, und genau diese Funktion erfüllt das AJ auch für uns, seit der Wiederentdeckung
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seiner vier Textzeugen im 20. Jahrhundert. Was in anderen Schriften, die wir behandelt haben, nur angedeutet wurde und was wir mehr vermuten als wirklich belegen konnten, tritt hier in wünschenswerter Deutlichkeit zutage. Welcher gnostischen Schule das AJ zuzuordnen ist - man denkt meist an "Sethianer"- ist demgegenüber nur schwer zu sagen und hat letztlich auch kein so großes Gewicht. Der exegetische Umgang mit der Urgeschichte und die Rezeption des Weisheitsmythos deuten mehr noch auf ein hellenistisch-jüdisches Milieu als auf ein christliches und gnostisches. Den erstaunlichen Verfremdungen, die dabei vorgenommen werden, liegt eine weitreichende Strategie zugrunde, die letztlich aus einer Überlagerung von biblischem Denken und Platonismus resultiert. Das biblische Gottesbild wird im AJ in zwei Hälften aufgespaltet (vgl. M. WALDSTEIN, RGO I [1998] 605): Auf der einen Seite treffen wir den Schöpfergott an, der die Rolle des platonischen Demiurgen übernimmt und zugleich degradiert wird zu einer Kraft außerhalb des Lichtreichs (sicher auch aufgrund negativer Erfahrungen, die man mit dieser Welt gemacht hat). Der transzendente Gott hingegen wird aller anthropomorphen Sprachreste entkleidet und immer weiter abgerückt von dieser Welt in das Reich der reinen Idee, er ähnelt dem platonischen Urgrund, ohne aber seine Vergangenheit als Gott Israels ganz abzulegen. Diese Konstellation könnte prinzipielle Auskünfte darüber enthalten, wie es überhaupt zur Entstehung dessen gekommen ist, was wir "Gnosis" nennen. Insofern reicht die Bedeutung des AJ weit über seine Rolle unter den "antiken christlichen Apokryphen" hinaus. Aber dass es auch unter ihnen seinen angestammten Platz hat, wird man angesichts von Titel und Form (Dialogevangelium) schwerlich bestreiten können.
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Zwei weitere Schriften aus Nag Hammadi, der "Dialog des Erlösers" (abgekürzt als Dial) und das "Buch des Thomas" (abgekürzt als LibThom, für "Liber Thomae"), werden häufig zu den Dialogevangelien gezählt. Beide Schriften bestehen tatsächlich weithin aus Wechselreden, wenn auch im Lib Thom aus solchen ganz eigener Art. Dial hätte auch noch den Vorteil, als einzige Schrift aus der Gruppe der Dialogevangelien wenigstens den Terminus "Dialog" im Titel zu tragen. Man muss aber andererseits einräumen, dass wichtige Elemente der Gattung Dialogevangelium in LibThom und Dial nur schwach ausgeprägt sind oder ganz fehlen. Vor allem betrifft das die für die Gattung konstitutiven Rahmenpartien, d. h. die Erscheinung des Auferstandenen und seinen Abschied. Ob überhaupt tendiert ist, Gespräche mit dem Auferstandenen zu berichten, steht keinesfalls fest. Im LibThom deutet allenfalls die Erwähnung der Himmelfahrt in diese Richtung, während im Dial mehr als einmal eine Situierung der Gespräche im Leben des irdischen Jesus mehr Sinn macht. Im Dial könnte aber letztlich eine Überzeitlichkeit angestrebt sein, wie sie für das EvThom charakteristisch ist. Der Streit um die richtige Gattungsbezeichnung sollte aber nicht dazu führen, beiden Werken die Aufmerksamkeit vorzuenthalten, die sie verdienen. Das LibThom gestattet uns, einen weiteren Blick in die reiche syrische Thomastradition zu tun, zu der neben dem EvThom auch noch die apokryphen Thomasakten gehören, und der Dial sollte schon allein wegen seines Titels im weiteren Umkreis der Dialogevangelien nicht fehlen. Als Ausweg bietet sich an, für diese (und weitere) Werke die eigene Kategorie der "ortlosen Dialoge" einzuführen.
a) Das Buch des Thomas (LibThom) Literatur: H. M. ScHENKE, in: NTApo 6 1, 192-204. - H. M. ScHENKE, in: Nag Hammadi Deutsch I, 279-291. - U. K. PuscH, Verborgene Worte Jesu 123-133. - H. M. ScHENKE, Das Thomas-Buch (Nag-Hamrnadi-Codex II,7) (TU 138), Berlin 1989. - ]. D. TuRNER, The Book of Thornas the Contender frorn Nag Hammadi (CG II, 7) (SBL.DS 23), Missoula, Mont. 1975. - C. ScHOLTEN, Martyrium und Sophiamythos im Gnostizismus nach den Texten von Nag Hammadi OAC.E 14), Münster 1987, 133-149.
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(1) Zur Einordnung Das "Buch des Thomas", wie der korrekte Titel des im Folgenden vorzustellenden Werks heißt,· begegnet in der Sekundärliteratur auch unter der Bezeichnung "Buch des Athleten Thomas". Im Original fehlt ein Obertitel, aber in der Subscriprio werden gleich zwei Untertitel angeboten: "Buch des Thomas. Der Athlet schreibt an die Vollkommenen". Es liegen zwei syntaktisch selbstständige Satzeinheiten vor, die man nicht zu einem einzigen Titel zusammenziehen sollte, auch wenn in der Bearbeitung letzter Hand Thomas und der Athlet vermutlich gleichgesetzt worden sind. Damit sind wir schon bei der Entstehungsgeschichte dieser Schrift angelangt. In ihrer jetzigen Form gibt sie sich als Dialog zwischen Jesus und Thomas aus. Dass der Auferstandene mit Thomas spricht und wir folglich einen Erscheinungsdialog vor uns haben, wird meist angenommen, und dafür könnte eine Bitte sprechen, die Thomas an Jesus richtet: "Deswegen also bitte ich dich, dass du mir noch vor deiner Himmelfahrt sagst, wonach ich dich frage" (p.l38,22f.). Aber eine eindeutige Erscheinungsnotiz fehlt, und am Schluss wird auch nicht von einem Abschied Jesu berichtet. Überhaupt wirkt der Dialog eigenartig. Im Schlussdrittel versandet er völlig und geht formal in einen längeren Monolog Jesu über, der vom Inhalt her gesehen einer Spruchsammlung gleicht. Zum Gesprächsteil wurde mit Recht festgestellt, dass Thomas und Jesus meist aneinander vorbei reden. Dem Thomas werden an einer Stelle Worte in den Mund gelegt, die er eigentlich so nicht zu Jesus gesagt haben kann, und ähnliches gilt für eine Aussage im MundeJesu. Eine plausible Hypothese zur Entstehung des Werks, die von den beiden Titeln ausgeht und verschiedene Beobachtungen zu Anstößen im Text zu integrieren sucht, hat Hans-Martin Schenke vorgelegt. Demnach gab es ein älteres Werk, zu dem der zweite Untertitel "Der Athlet schreibt an die Vollkommenen" gehörte. Der Formulierung nach handelt es sich dabei um ein typisches Brieffiräskript. Dieser ,,Athletenbrief', wie wir ihn nennen können, hatte demnach nicht Dialogform, sondern Briefform gehabt. Nachträglich wurde er mehr schlecht als recht zu einem Dialog zwischen Jesus und Thomas umgearbeitet, in nicht konsequent durchgeführter Anlehnung an die anderen Dialogevangelien. Dafür hat man einen neuen Titel geschaffen, nämlich "Buch des Thomas". Als analogen Fall können wir die S]C heranziehen, die den älteren Eugnostosbrief in einen Dialog umwandelte (s.o.), nur dass wir bei der SJC die Vorlage noch besitzen, während wir den ,,Athletenbrief' nur noch hypothetisch erschließen können (der
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Versuch einer Rekonstruktion findet sich bei Schenke [TU 138] 198-202; ein von Turner entwickeltes alternatives Entstehungsmodell rechnet mit der redaktionellen Aneinanderreihung eines Dialogs im ersten, längeren und einer homiletischen Spruchsammlung im zweiten, kürzeren Hauptteil des LibThom). Was es mit dem Athleten auf sich hat, bleibt dabei immer noch offen. Hier hilft der Charakter der Vorlage weiter, den man als jüdisch-weisheitlieh bestimmen kann, mit starker Neigung zu sexueller Askese. Der Athlet ist der Asket, ,,Askese" hier nicht nur als Verzicht verstanden, sondern auch als ständiges Ringen, ständiges sich Mühen und ständige Arbeit an der eigenen Vervollkommnung. Als vorbildlicher ,,Athlet" in diesem Sinne gilt in der jüdischen Überlieferung der Stammvater Jakob, vor allem aufgrund seines in Gen 32,23-32 berichteten nächtlichen Ringens. Das hat Konsequenzen für die Bestimmung der Herkunft des Werks. Die Vorliebe für den ApostelThomas verweist wie bei den anderen Beispielen aus der Thomasliteratur in den ostsyrischen Raum. Die weisheitliehe Vorlage mit Jakob als möglichem Modell könnte wegen ihrer platonisierenden, hellenistisch-jüdischen Ausrichtung eher in Alexandrien beheimatet gewesen sein (Schenke zitiert in seinem Kommentar andauernd erhellende Parallelen aus den Werken des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien). Ehe wir uns zur Entstehungszeit äußern, müssen wir die bisher ausgesparte äußere Überlieferungslage nachtragen. LibThom findet sich als siebtes und letztes Werk im zweiten Kodex aus Nag Hammadi (NHC II p.138,1-145,19), in dem auch das EvThom steht. Dieses einzige Exemplar des LibThom, das wir überhaupt besitzen, entstand im 4. Jahrhundert, aber das betrifft nur den Zeitpunkt der letzten Abschrift. Papyrusfragmente, die uns weiterhelfen würden, fehlen diesmal. Das LibThom setzt überdies das EvThom voraus und nimmt zu Beginn darauf Bezug (s.u.), so dass es nach dem EvThom entstanden sein muss, doch ist die Datierung des EvThom selbst derart umstritten, dass uns das nicht wesentlich weiter hilft. Ein vorsichtiger Rateversuch wird die griechische Vorlage des koptischen LibThom ins frühe 3. Jahrhundert setzen (Turner). Für den ,,Athletenbrief' müssen wir dementsprechend etwa bis ins 2. Jahrhundert herabgehen. Über jüdische, christliche und gnostische Züge auf beiden Stufen wird von Fall zu Fall zu urteilen sein.
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(2) Zum Inhalt - Eine neue Erzählinstanz Neben dem soeben besprochenen, zweiteiligen Untertitel hat das Werk auch eine Überschrift. Sie hängt mit dem ersten Teil des Untertitels, "Buch des Thomas", zusammen: (p.l38,1--4) Die geheimen Worte, die der Erlöser zu Judas Thomas sprach, und die ich, Matthaias, niedergeschrieben habe; ich war vorbeigekommen und hatte sie miteinander reden hören.
Diese Zeilen greifen auf die fiktive Situationsangabe zu Beginn des EvThom zurück, wo der "lebendige Jesus" dem Thomas "verborgene Worte" offenbart. Aber dort schreibt der Adressat selbst diese Worte auf, während hier ein weiterer Autor hinzukommt, im Text "Matthaias" genannt, was uns entweder zu Matthäus oder zu Matthias, jedenfalls zu einem weiteren Mitglied des Zwölferkreises führt. Diese neue Erzählinstanz steht in direkter Verbindung mit der Dialogisierung einer monologischen Vorlage: Matthäus (um bei diesem Namen zu bleiben) hört nicht nur, was "der Erlöser zu Judas Thomas sprach", sondern er hört sie auch "miteinander reden"; ganz zufällig wird er zum Ohrenzeugen ihres Gesprächs. - Der Zwillingsbruder In unmittelbarem Anschluss daran ergreift "der Erlöser" das Wort und redet Thomas als "Bruder" an, ja mehr noch, als "Zwillingsbruder": (p.l38,7-10) Weil aber gesagt wurde, dass du mein Zwilling und mein einzig wahrer Freund bist, deshalb ergründe dich selbst und erkenne, wer du bist, wie du bist und wie du sein wirst.
Über den "Zwilling" als Wiedergabe der Bedeutung von "Thomas" im Aramäischen und von "Didymus" im Griechischen haben wir schon aus Anlass von EvThom 1 gehandelt. Die Betonung der einzigartigen Freundschaft, die Jesus mit Thomas verbindet, könnte die Absicht verfolgen, Thomas als den geliebten Jünger aus dem Johannesevangelium herauszustellen. Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis muss nicht sofort gnostisch verstanden werden. Wenn wir im weiteren Verlauf aus dem Munde Jesu über Thomas erfahren: "Und du sollst (später) einmal, der Mensch ,der sich selbst erkennt' genannt werden" (p.138,15f.), denken wir sofort an die berühmte Maxime "Erkenne dich selbst", die am Tempel des Orakelgottes Apollon in Delphi angebracht war und von der sokratisch-platonischen Tradition
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aufgenommen wurde. Von dort aus ging sie 'nicht nur in das allgerneine Bildungswissen der Antike dn, sondern auch in die jüdisch-hellenistische Weisheit, der sich der Autor des LibThorn verpflichtet zeigt. - Das eigentliche Thema Die zwei ersten Fragen des Thornas zielen auf die verborgene Wahrheit ab. Der Erlöser tadelt zunächst seine Hörer (im Plural, wie es dem Stil einer Mahnrede entspricht) wegen ihrer mangelnden Fassungskraft und rückt dann mit einem Teil der Wahrheit heraus (die eckigen Klammern im Text zeigen beispielhaft an, dass die Manuskriptseiten im unteren Drittel stark beschädigt sind, was viel öfter, als wir es hier ausweisen können, umfangreiche Rekonstruktionen erforderlich macht): (p.138,39f.) Qe]der Leib [ist auf dieselbe Weise entstanden, in] der die Tiere gezeugt werden(- nämlich) o[hne Vernun]ft ... (p.l39,6-9) Denn dieser Leib ist tierisch. Wenn nun bei den Tieren der Leib zugrunde geht, so werden auch diese Gebilde (der Leib des Menschen) zugrunde gehen. Stammt er etwa nicht aus dem Beischlaf wie der Leib der Tiere?
Damit hat der Dialog sein Thema gefunden: die Sexualität und die Fortpflanzung, die als markantes Symptom der Unvollkommenheit, Hinfilligkeit und Sterblichkeit des Daseins aufgefasst werden. Was am Menschen wertvoll ist, nämlich die Seele, muss sich davon freimachen, um in die eigentliche Heimat zu gelangen, die "oben" liegt (im Mittelplatonismus ganz konkret zwischen Erde und Mond und zwischen Mond und Sonne). - Das Licht der Sonne Was dann folgt, reicht weit über das normale Maß an Begriffsstutzigkeit und Unverständnis, das wir von den Jüngern aus dem Markusevangeliurn z. B. gewohnt sind, hinaus: (p.139,12-16) Thomas aber antwortete: "Deswegen sage ich dir, o Herr: Wer über Dinge redet, die nicht zu sehen und schwer zu erklären sind, der gleicht solchen Bogenschützen, die in der Nacht mit ihren Pfeilen eine Zielscheibe zu treffen suchen ... "
"Die ,Antwort' des Thornas ist hier ganz unerwartet schön und klug. Sie hat nur einen einzigen Nachteil: Sie ist im Munde des Thornas unmöglich!" (Schenke [TU 138] 87). Thornas will den Herrn nämlich mit Hilfe eines Gleichnisses (Schenke ebd.: "Gleichnisse zu formulieren ist aber in der einschlägigen Literatur das alleinige Recht Jesu") förmlich belehren, wenn nicht gar tadeln, und dieser Eindruck wird nur mühsam aufgefangen durch das Bekenntnis zum Herrn als Licht der Welt, das er am Schluss
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seiner Intervention im Namen der Gruppe, für die er spricht, ablegt: "Du aber, unser Lichtglanz, bist es, der leuchtet, o Herr" (p.l39,20). Immerhin wird durch die Lichtmetaphorik eine Anwendung des Gleichnisses von den Bogenschützen in der Nacht ermöglicht: Man braucht Licht, wenn man nicht nur sinnlos Pfeile verschießen, sondern auch ein Ziel treffen will, und auch das Stichwort für die weiteren Ausführungen, die von der Sonne handeln, ist damit vorgegeben: (p.l39,24-31) Der Erlöser sprach: "0 seliger Thomas! Ja, allein um euretwillen scheint dies sichtbare Licht, aber nicht damit ihr an diesem Ort bleibt, sondern damit ihr euch aus ihm zurückzieht. Wenn aber alle Auserwählten das tierische Wesen abgelegt haben, dann wird auch dieses Licht nach oben, in seine Heimat, zurückkehren. Und die Heimat wird es wieder aufnehmen, weil es ein guter Diener war."
Das "sichtbare Licht" meint die irdische Sonne, die als "guter Diener" des obersten Gottes ihren Auftrag erfüllt und dazu "an diesem Ort" tätig wird, d. h. auf der Erde scheint. Selbst aber hat sie ihre Heimat in noch weiter oben liegenden Himmeln. Zum Aufbruch nach dort will sie auch die auserwählten Menschen bewegen, genauer die Seelen dieser Menschen, die sich von diesem Ort weg- und aus dem tierischen Leib hinausbegeben sollen, nach dem Beispiel der Sonnenstrahlen, die am Morgen von der Sonne ausgehen und am Abend zu ihr zurückkehren. Dazu muss man wissen, dass im Mittelplatonismus, bei Plutarch von Chaironeia z. B., die Sonne die endgültige Heimat des höchsten Seelenteils, das mit ihr verschmilzt, sein wird. - Das Feuer der Leidenschaften Die Metaphorik wechselt sodann vom Licht zum Feuer über, das für die "feurige" Gewalt der Leidenschaften steht. Der Erlöser fährt fort: (p.139,33-42) Ach, du bitteres Feuer! Du entfachst in den Leibern und dem Mark der Menschen einen Brand, der bei Nacht und auch am Tage in ihnen brennt. Du verzehrst die Glieder der Menschen, lässt ihre Herzen trunken werden und ihre Seelen in Verwirrung geraten. Du übst Macht an ihnen aus, in den Männern und in den Frauen, am Tage und in der Nacht. Du erregst sie mit einer Erregung, die verborgen und offenkundig erregt. Denn wenn die Männer in Erregung geraten, zieht es sie zu den Frauen hin und die Frauen zu den Männern.
Der Text selbst bedarf kaum der Erklärung, erklärungsbedürftig ist vielmehr die Obsession des Verfassers durch den Eros, die er hier überdeutlich dokumentiert. Wie man dem Eros entkommt, versucht er sodann mit Hilfe eines neuen Gleichnisses zu zeigen: Man muss seine "Zuflucht" bei
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der echten, nicht bei der falschen Frau Weishe.it nehmen (vgl. Spr 9,1-18). Diese Aktion verleiht Flügel (wie man sie nicht erst seit Platons "Phaidros" und nicht nur dort der Seele zubilligt, vgl. Joseph von Eichendorff: "Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus ... ").Mit Hilfe dieser Flügel kann man der Begierde entfliehen, vor ihr davon fliegen, und diese Fluchtbewegung führt auf den Weg zur Vollkommenheit. Anders wird man dem Feuer der Begierde verfallen, das durch geschickte Täuschung auf dem Umweg über den Leib auch die Seele vernichtet: (p.l40,21-31) Das Feuer wird ihnen ein Trugbild der Wahrheit vorspiegeln und ihnen in vergänglicher Schönheit leuchten. Und es wird sie durch finsteres Vergnügen einfangen, sie durch stinkende Lust wegführen. Und es wird sie durch die unstillbare Begierde blind machen. Und es wird ihre Seelen verbrennen und für sie wie ein Pfahl sein, der ihnen im Herzen steckt, ohne dass sie ihn herausziehen könnten, und wie eine Trense im Pferdemaul, die sie lenkt entsprechend dem ihm eigenen Trachten. Ja, es hat sie gefesselt mit eisernen Ketten.
Beim "Pfahl" im Herzen könnte man auch an die "Pfeile" des Eros denken (der als mythische Gestalt seinerseits Flügel besitzt), und bei den Zügeln, mit denen man ein Pferd lenkt, an den Wagenlenker im platonischen Seelenmodell, nur dass hier nicht die Vernunft die beiden anderen Seelenkräfte steuert, sondern die entfesselte Begierde das Kommando übernommen hat. -Vom Suchen und Finden Zwischendurch bedürfen die aufgeschreckten Hörer der Aufmunterung und des Trostes, und diese Aufgabe übernimmt ein Makarismus, der als Antwort des Herrn zwischen zwei kurze Fragen des Thomas eingestreut wird: (p.l40,41-142,2) [Selig] der weise Mann, der [nach der Wahrheit] s[uch]te. [Denn a]ls er sie gefunden hatte, ließ er sich auf ihr für immer zur Ruhe nieder und fürchtete sich nicht mehr vor denen, die ihn verwirren wollten.
Mit dem Suchen, dem Finden und der Ruhe als Lohn, auch mit der Sicherheit vor allen verwirrenden Einflüssen und Kräften kehren wir in vertraute, zunächst weisheitliehe und dann gnostische Gefilde zurück, die wir im LibThom aber erst mit der Schlussverheißung erreichen werden (s.u.). Zunächst setzen massive Gerichtsdrohungen ein.
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- Das Feuer der Strafe und Pein Das Feuer erweist sich als Allzweckwaffe. Es wird transformiert in ein Instrument für die Bestrafung der Menschen, deren Seele sich zu eng an das Fleisch gebunden hat. Für ehemalige Gläubige, die von ihrer "ersten Liebe" abgefallen sind, scheint sogar eine Seelenwanderung vorgesehen zu sein (p.141, 1Of.: "Wegen der Liebe zum Glauben, die sie vor jener Zeit gehabt haben, werden sie wieder eingebracht werden in die Erscheinungswelt"). Aber am Ende wird die Erscheinungswelt - ganz nach Art des Weltenbrands in der Stoa - in diesem Feuer untergehen. Was dann mit den unerlösten Seelen geschieht, die keinen Leib mehr haben, wird grausig sein: (p.l41,15-18) Dann werden missgestaltete Gespenster (eidölon und morphe) entstehen und für immer drinnen in den Gräbern auf den Leichen verweilen - unter Peinigung und Vernichtung der Seele.
Auch in Platons "Phaidon" sieht man an den Gräbern "dunkle Erscheinungen (phantasmata) von Seelen" umherschleichen, "Schattenbilder" (eidöla), die sich nicht ganz vom Materiellen abgelöst haben (81D). Die Gespenster in unserem Text sind die gequälten Seelen selbst, die in Grabnähe unstet umherirren. -Von Menschen und Tieren Thomas fragt, was sie, die Lehrer und Prediger, den blinden Menschen denn sagen sollen. Der Erlöser spricht dieser Menschengruppe ihr Menschsein rundweg ab und bezeichnet sie als Tiere. Wenn Menschen aber zu Tieren werden, hat das soziale Folgen (vgl. Gal 5,15): (p.l41 ,25-31) Der Erlöser sprach: "Wahrlich, was jene anbelangt, so halte sie nicht für Menschen, sondern betrachte sie als Tiere! Denn wie die Tiere einander fressen, so ist es auch bei solchen Menschen, dass sie einander fressen. Aber sie sind der Königsherrschaft verlustig gegangen. Denn sie lieben das Vergnügen des Feuers und sind daher Sklaven des Todes ... "
Mit der Wortverbindung "das Vergnügen des Feuers" kehren wir wieder zum Feuer als Metapher für die Begierde zurück. Die Erwähnung der "Königsherrschaft" führt die Seligpreisung des weisen Mannes, der nach Wahrheit sucht und Ruhe findet, fort und beleuchtet sie von der anderen Seite her. Dass nur der Weise ein wahrer König sei und als König herrsche, ist ein Gemeinplatz hellenistischer Popularphilosophie. "Der Mensch, der, statt als Weiser ein König zu sein und die Tiere zu beherrschen, selbst zum Tier wird, hat natürlich sein Königtum verwirkt" (Schenke [TU 138] 139).
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- Die Bestrafung der Spötter 1homas bringt in einem weiteren Zwischenvotum tiefe Sorge um alle zum Ausdruck, denen es so ergehen wird, gesteht aber nach einer weiteren Stellungnahme des Herrn, die sich auf der Basis von "Was jemand sät, das wird er auch ernten" {vgl. Gal6,7f.) und "Ein schlechter Baum bringt schlechte Früchten hervor" {vgl. Mt 7,17-20) bewegt, die Notwendigkeit des Strafgerichts zu. Er hat nur noch zu einer einzigen letzten Frage Gelegenheit. In richtiger Einschätzung der Situation verleiht er darin der Befürchtung Ausdruck, dass die Forderung nach radikaler Enthaltsamkeit, die jetzt zu verkünden geboten wäre, bei den Menschen auf Spott und Hohn stoßen wird: (p.l42, 19-26a) Thomas antwortete aber: "Du hast uns wahrlich überzeugt, o Herr. Wir haben im Herzen eingesehen, und es ist klar, dass es so ist und dass dein Wort ohne Einschränkung gilt. Aber jene Worte, die du zu uns sagst, sind für die Welt etwas zum Lachen und etwas, worüber man die Nase rümpft. Sie werden ja gar nicht verstanden. Wie können wir denn hingehen, um sie zu verkündigen, da wir ja in der Welt nichts gelten?"
Mit p.l42,26b setzt der Schlussmonolog des Herrn ein, der nur noch durch kurze Regieanweisungen wie "Dann fuhr der Erlöser fort zu sprechen" oder "Und Jesus fuhr fort und sprach zu ihnen" unterbrochen wird. Als erstes sagt er, dass alle, die das tun, was 1homas befürchtet, nämlich das Gesicht abwenden oder die Nase rümpfen, dem Gericht übergeben und in den Tartaros geworfen werden, über den ein Unterweltsengel namens "Tartarouchos" gesetzt ist. Als Strafmittel kommt wieder das Feuer zum Einsatz: (p.l42,40-143,5) [Wer] euch verfolgt [hat], [wird] übergeb[en werdenjenem En]gel, dem Tartarouchos, [bei dem flammendes F]euer ist, das sie verfolgt, [während] Feuergeißeln Funken über Funken sprühen lassen, immer ins Gesicht hinein bei dem, der verfolgt wird. Wenn er nach Westen flieht, wird er das Feuer fiin]den. Wenn er sich nach Süden wendet, wird es auch dort finden. Wenn er sich nach Norden wendet, kommt ihm wieder der Schrecken lodernden Feuers entgegen.
Im Osten stünde anscheinend ein rettender Ausweg offen, eine schmale Brücke über den Feuerstrom oder ein Spalt in der feurigen Wand, aber dorthin kann der Betreffende nicht mehr gelangen. - ZwölfWeherufe
Es folgt eine Serie von zwölflängeren und kürzeren Weherufen {eine weisheitliehe Gattung, wie die abschließenden Seligpreisungen). Das zweite Wehe z. B. gilt jenen, die ihre "Hoffnung auf das Fleisch setzen und auf das
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Gefängnis, das zerfallen wird" (p.l43,11), womit ein gut platonisches Thema angesprochen wird: der Leib (soma) als Gefangnis oder als Grab (sema) der Seele. Das dritte, vierte und fünfte Wehe arbeitet mit den Bildern vom Feuer und vom kreisenden Rad: (p.l43,15-19) Wehe euchangesichtsdes Feuers, das in euch brennt! Denn es ist unersättlich. Wehe euch aufgrunddes Rades, das sich im Kreise dreht- in euren Gedanken! Wehe euch aufgrund des Brandes, der in euch ist!
Im griechischen Mythos wird Ixion zur Strafe für seinen Verwandtenmord auf ein feuriges (!) Rad geflochten, das sich ewig dreht, und das ständige Kreisen des Rades ist ein Sinnbild für die ermüdende Wiederkehr des Gleichen im Ablauf von Welt und Zeit (vgl. Jak 3,6). Zu eigenen kleinen Abhandlungen, auf die wir hier nicht mehr näher eingehen können, wachsen sich das sechste und das elfte Wehe aus. Beim sechsten Wehe dürfte eingangs das platonische Höhlengleichnis Pate gestanden haben (p.l43,21-23: "Wehe euch, ihr Gefangenen! Denn ihr seid festgebunden in den Höhlen"). Weshalb ständig Feuer, Rauch und Finsternis als Strafmittel aufgeboten werden, sagt im Klartext der achte Weheruf "Wehe euch, die ihr den Verkehr mit der Weiblichkeit und das unzüchtige Zusammensein mit ihr liebt!" (p.l44,8-10). Der kürzeste Weheruf ist der zehnte: "Wehe euch ob der Wirkungen der bösen Dämonen" (p.l44,12f.). - Drei Seligpreisungen und Abschluss Dem letzten Weheruf werden drei Seligpreisungen gegenübergestellt (p.l45,1-7). Sie gelten den Adressaten der Rede, weil sie (1) die ihnen gestellten Fallen erkennen und ihnen entkommen, weil sie (2) geschmäht und nicht geachtet werden und weil sie (3) weinen und bedrängt sind. Sie münden in den Appell: "Wachet und betet, dass ihr nicht im Fleisch bleibt, sondern dass ihr der bitteren Fessel des Lebens entkommt" (p.l45,8-10). Als himmlisches Ziel werden am Horizont wieder der Ruheort sichtbar und die Beteiligung an der Herrschaft, wie in EvThom 2 (s.o. Kap. 7a) und dem Agraphon aus dem EvHeb (s.o. Kap. 3a, Nr.l).
(3) Rückblick Das LibThom ist ein gutes Beispiel dafür, wie vorsichtig man im Umgang mit dem Etikett "gnostisch" sein muss, das man anfangs auch diesem Werk allzu freizügig verlieh. Zwar findet gnostisches Denken im Lib Thom An-
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knüpfungspunkte in genügender Zahl. Die. Forderung nach strikter sexueller Enthaltsamkeit etwa war auch in manchen gnostischen Zirkeln zu Hause, besonders in Ostsyrien. Aber Systembausteine, die nur der Gnosis eignen und für sie spezifisch sind (wie der Mythos vom Fall der Sophia), sind im Lib1hom nicht zu finden. Auch die Christlichkeit des Lib1hom wirkt eher aufgesetzt. Sie beschränkt sich formal auf die Nennung von einem bzw., wenn man den Schreiber Matthäus hinzunimmt, zwei Apostelnamen und auf Jesus als Erlösergestalt. Die Erwähnung seiner Himmelfahrt wirkt jetzt noch isolierter als zuvor schon. Es gibt innere Gründe dafür, warum im Lib1hom die Aneignung der Dialogform - zum Zweck der Bearbeitung des älteren ,,Athletenbriefs"- nur oberflächlich versucht worden ist. Dass das Lib1hom auch in christlichen Kreisen mit enkratitischen Neigungen (Näheres dazu s.o. in Kap. 4a) dankbare Leser finden konnte, bleibt davon unberührt. Erstaunlich häufig begegnen im Lib1hom platonische Allgemeinplätze. Sie resultieren aber kaum aus einer direkten und intensiven Beschäftigung mit dem Platonismus, sondern haben den Weg über die jüdische Weisheitsüberlieferung genommen. Allerdings handelt es sich dabei nicht mehr um die bodenständige, praktische Weisheit des Buchs der Sprüche, sondern um deren platonisierende hellenistische Variante. Die leicht weltflüchtigen Neigungen, auf die wir z. B. bei Philo von Alexandrien des öfteren stoßen, sind im LibThom noch einmal radikalisiert und nahezu exklusiv auf die Geschlechtlichkeit konzentriert worden. Insofern kann man sich wieder gut vorstellen, dass diese mit massiven Drohungen untermauerte Mahnrede von syrischen und ägyptischen Mönchen als geistliche Nahrung geschätzt wurde, was vielleicht sogar der Grund dafür ist, dass sie überhaupt erhalten blieb.
b) Der Dialog des Erlösers (Dia/) Literatur: B. BLATZ, in: NTApo 6 I, 245-253- S.PETERSEN I H.G. BETHGE, in: Nag Hammadi Deutsch I, 381-397. - U. K. PuscH, Verborgene Worte Jesu 143-152. S. EMMEL (Hrsg.), Nag Hammadi Codex III,5: The Dialogue of the Savior (NHS 26), Leiden 1984.- H. KoESTER, Ancient Christian Gospels 173-187.- S. PETERSEN, "Zerstört die Werke der Weiblichkeit!" 79-90.111-117.- A. MARJANEN, The Woman Jesus Loved. Mary Magdalenein the Nag Hammadi Library and Related Documents (NHMS 40), Leiden 1996, 75-93.
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(1) Zur Einordnung
Der "Dialog des Erlösers"- der Titel kommt zweimal vor, als echte Überschrift und als Subscriprio - steht als fünfte Schrift im dritten Kodex aus Nag Hammadi (NHC III,5 p.l20,1-147,23). Leider sind gerade bei diesem Kodex die Papyrusblätter gegen Ende hin besonders stark zerstört. Manchmal fehlt fast die Hälfte einer Seite, was die inhaltliche Arbeit mit Dial sehr erschwert. Einige Grundzüge lassen sich aber ausmachen. Es herrschen zwar dialogische Partien vor, die auch zur Titelgebung geführt haben, doch werden diese immer wieder unterbrochen durch anders ausgerichtete Texteinheiten, so durch einen Schöpfungsmythos, durch einen Visionsbericht und durch eine "naturkundliche", d. h. weisheitlieh orientierte Liste der vier Elemente. Man hat das (im Verein mit dem Wechsel von "Erlöser" und "Herr" als Bezeichnungen für Jesus) als Indiz für die redaktionelle Zusammensetzung des Werks aus vier oder fünf Quellen gewertet, und daran dürfte auf jeden Fall richtig sein, dass die Schrift einen komplizierten Werdegang hinter sich hat. Wir nehmen diese Beobachtungen im Folgenden nur insofern auf, als wir sie dazu benützen, den- auch aufgrunddes schlechten Erhaltungszustands - schwer durchschaubaren Stoff notdürftig zu gliedern. Während die koptische Abschrift des Dial ins 4. Jahrhundert zu setzen ist, werden wir für die Entstehung der griechischen Vorlage nicht über die allgemeine Angabe "zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts" hinauskommen. Die These, in seiner jetzigen Gestalt stamme der Text aus dem ftühen 2. Jahrhundert und die Grundschrift gehöre noch dem ersten Jahrhundert an und sei keinesfalls später als das Johannesevangelium zu datieren (Koester), lässt sich in dieser Form nicht halten, ebenso nicht die damit verbundene weitere Annahme, Dial zeige keinerlei Kenntnis der neutestamentlichen Literatur. Mindestens an einer Stelle ist eine Abhängigkeit vom Matthäusevangelium auszumachen (s.u. zu§ 53), selbst wenn man über die Beurteilung anderer Anklänge streiten kann. Dial berührt sich darüber hinaus mehrfach eng mit dem EvThom (die Parallelen sind synoptisch aufgelistet bei Koester). Das kann Ergebnis der Verarbeitung ähnlicher Traditionsstoffe sein, kann aber auch darauf hinauslaufen, dass Dial das EvThom gekannt und benutzt hat. Das häufige Kreisen um die Themen Suchen, Finden und Ruhe wirkt geradezu wie eine exegetische Meditation zu EvThom 2 (und Parallelen). In der maßgeblichen kritischen Edition (durch Emmel) wurde eine Unterteilung des Texts in Paragraphen eingeführt, und da diese Zählung
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auch in NTApo 6 Eingang fand, werden wir sie im Folgenden übernehmen.
(2) Zum Inhalt - Einleitung Die Verwandtschaft mit dem EvThom erkennt man auf den ersten Blick, wenn man nur wenige Zeilen aus § 1 liest: Der Erlöser sagte zu seinen Jüngern: "Die Zeit ist für uns gekommen, Brüder, unsere Mühe zu verlassen und in der Ruhe zu stehen. Denn wer in der Ruhe steht, wird ruhen auf immer ... Aber als ich kam, öffnete ich den Weg und belehrte sie über den Durchgang, durch den sie durchgehen werden, die Auserwählten und die Einzelnen."
Als Reaktion der Adressaten wäre Dank angesagt, und § 2 liefert nach Art einer liturgischen Rubrik ("Wenn ihr den Lobpreis darbringt, dann tut es so ... ") dafür einen passenden Gebetstext. Mit § 3 geraten wir in eine Textlücke, was besonders schade ist, da anscheinend der Aufstieg der Seele vorbei an tyrannischen Mächten und schrecklichen Orten geschildert wird, der den Jüngern noch bevorsteht. - Dialog (Anfang) Als erster Fragesteller tritt in§ 4 "Matthäus" in Erscheinung, der insgesamt zehnmal sprechen wird, und zu ihm gesellt sich in§ 6 "Judas" (wahrscheinlich Judas Thomas), der sechzehn Fragen übernimmt. Die dritte im Bunde wird "Maria" (der Namensform nach Maria Magdalena) mit dreizehn Fragen sein. Einige Male melden sich auch "die Jünger" insgesamt zu Wort; nur in § 81 sind es die "zwölf Jünger". Die Vorzugsstellung im Jüngerkreis kommt wie in EvThom Judas Thomas und wie in EvMar Maria Magdalena zu, daneben auch Matthäus, dem "Schreiber" aus LibThom und Fragesteller aus SJC. Leider wird wegen der Textlücken in § 7 nicht klar, wer dort als GeHilme oder Gefährtin (synzygos) wessen bezeichnet wird. Die Drohung am Ende von § 14: "In diesem Ort wird Weinen und Zähneknirschen sein über das Endeall dieser Dinge" bezieht sich auf die Auflösung der Materie, die von den Mächten der Dunkelheit betrauert wird.
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- Schöpfungsmythos (erster Teil) Mit seiner Frage "Sage [uns, Herr], was war [... ], ehe [der Himmel und die] Erde existierten?" löst Judas Thomas in § 15 einen kleinen Exkurs des Herrn in die Schöpfungsgeschichte aus, der bei Gen 1,2 einsetzt (§ 16): "Da waren Dunkelheit und Wasser und der Geist auf dem [Wasser]". Im Weiteren sind nur Fragmente auszumachen wie "ihr sucht", "die Macht", "Geist", "Bosheit", "Verstand", "Feuer des Geistes" und schließlich(§ 18) "Wenn jemand [seine Seele] hoch auf[ richtet], [dann ... ] wird er erhöht". Man sieht, wie schwierig es ist, daraus einen sinnvollen Erzählablauf zu rekonstruieren. -Dialog (erste Fortsetzung) In einem kleinen Dialogstück, das die Verzahnung von Dialog und Mythos vorantreibt, erhält Matthäus in § 20 die wichtige Antwort: "Und [lasst] ihn, der[ ... ], suchen undfinden und sich freu[en]". - Schöpfungsmythos (zweiter Teil) Judas Thomas gibt in§ 21 den Anstoß zur Fortsetzung der Schöpfungserzählung. Wir hören in § 22, dass ein Wall von Feuer die Erde vom Wasser trennt (vgl. Gen 2, 5). Nach Überwindung dieser Trennung kehren paradiesische Zustände (vgl. Gen 2,10) ein: [Dann] brachte es (das schöpferische Wort?) aus sich selbst hervor [Brunnen] aus Milch und [Brunnen von] Honig und Öl und [Wein] und [gute] Früchte und süßen Geschmack und gute Wurzeln, [auf dass] sie (die Erde?) keinen Mangel habe von Generation [zu] Generation und Zeitalter [zu Zeitalter].
In§ 23 scheinen unidentifizierbare Gestalten von dem Feuer zu nehmen und es in alle Richtungen zu zerstreuen, und davon wiederum hängen "Werke" ab. Hier könnte die Erschaffung der unteren, materiellen Welt angesprochen sein, aber ganz verständlich wird der fragmentarische Text nicht. - Dialog (zweite Fortsetzung) Ab§ 25 treten der Reihe nach Maria, die ihre "Brüder" begrüßt und vom Herrn als "Schwester" angesprochen wird, Matthäus und Judas Thomas in Aktion. Matthäus erfahrt, dass er den ersehnten Ort des Lebens solange nicht erblicken kann, wie er noch sein Fleisch herumträgt (§ 28), und als
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er nachhakt, wird er über die Norwendigkeit ·rechter Selbsterkenntnis belehrt (§ 30): "Jeder, der sichselbst erkennt, hat gesehen [ ... ] alles, was ihm gegeben ist, es zu tun ... " -"Naturkundliche" Liste Man kann darüber streiten, ob man die Belehrung, die von naturkundlichen Überlegungen ausgeht, erst in § 35 beginnen lässt, wie es meist geschieht, oder nicht besser schon in § 31, denn hier fragt Judas Thomas danach, welche Kräfte es sind, die ein Erdbeben verursachen können. Der Herr anrwortet mittels einer Gleichnishandlung (§ 32-34). Er nimmt einen Stein in die Hand und spricht sodann über die tragenden Kräfte von Himmel und Erde, mit anthropologischer Zuspitzung: Die Adressaten sind es, die festen Stand haben, weil sie von oben sind und an diesen Ort zurückkehren. Die Liste in§ 35 arbeitet mit der Lehre von den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde, ersetzt aber die Erde durch den menschlichen Leib. Man muss, so die Argumentationslinie, das innere Prinzip dieser Elemente verstehen, um von ihnen Nutzen zu haben und nicht mit ihnen unterzugehen. Nur dann macht es z. B. Sinn, sich mit Wasser taufen zu lassen. Am Schluss der Liste wird die Verstehensproblematik gebündelt: Wer immer nicht versteht, wie er (in diese Welt) gekommen ist, wird nicht verstehen, wie er (wieder aus ihr) gehen wird, und er ist kein [Fremder] in dieser Welt[ ... ], die erniedrigt werden wird.
Ein Fremder in dieser Welt zu sein ist also geradezu gefordert, wenn die Rückkehr zum himmlischen Ursprung gelingen soll. Die kosmologischen Reflexionen in § 31-34 haben also eine einheitliche Ausrichtung, insofern sie dem Dilemma nachgehen, das aus dem Zwiespalt von Erkennen einerseits und Weiterleben unter den Bedingungen dieser Welt andererseits resultiert. -Apokalyptische Vision Der Herr nimmt in § 36 Judas Thomas, Matthäus und Maria mit an den "Rand des Himmels und der Erde". Judas Thomas - ursprünglich evtl. der alleinige Empfänger der Vision - blickt hinauf in unendliche Höhen und hinab in einen tiefen Abgrund, in dem ein gewaltiges Feuer brennt, der aber nichts anderes darstellt als die Welt selbst. Daraus tritt "ein Wort" hervor, an das Judas Thomas die Frage richtet: "Warum bis du herunter ge-
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kommen?" Die Antwort übernimmt in§ 37 der "Sohn des Menschen", der hier von Jesus zu unterscheiden ist und als Deuteengel (angelus interpres) fungiert. In knappen Zügen legt er eine Grundfigur gnostischer Weitsicht, die das Entstehen der Schöpfung auf einen kosmischen Unfall zurückführt, offen: Ein Samen von der Kraft war mangelhaft und ging hinunter zum Abgrund der Erde. Und die Größe (der oberste Gott) erinnerte sich [seiner] und sandte das [Wort zu] ihm. Es brachte ihn hinauf in [seine Gegenwart], so dass das Erste Wort nicht fehltreten möge.
Alle Jünger wundern sich über diese Botschaft, glauben daran und stimmen ein Dankgebet an. -Dialog (dritte Fortsetzung und Schluss) Der lange dialogische Schlussteil, der ca. ein Drittel des Textes ausmacht, knüpft mit der Unterscheidung einer "großen, ewigen Vision" und einer "vergänglichen Vision" in§ 42-44 an den voranstehenden Visionsteil an. Den Jüngern und Maria soll damit gesagt werden, dass sie noch auf der Suche sind und vorerst selbst eine visionäre Schau für sie etwas Vergängliches und nichts Ewiges bedeutet. Judas Thomas macht sich in § 49 Sorge wegen der "Wächter" in den unteren Himmeln, die über die Menschen aufErden herrschen. Jesus stellt jene Herrschaft in Aussicht, die in der Variante zu EvThom 2 im EvHeb auf das Suchen und Finden folgt(§ 50): Der Herr sagte: "Ihr seid es, die über sie herrschen werden. Aber erst, wenn ihr euch entledigt der Eifersucht, dann werde ich euch bekleiden mit Licht und daJ Brautgemach betreten."
Mit dem Brautgemach wird eine Konzeption valentinianischer Gnosis (s.o. zu EvPhil) mehr beiläufig eingeführt. Die nächsten Paragraphen entwickeln die Kleidermetaphorik weiter und machen eine wichtige Aussage über Maria (§ 52f.): Der Herr sagte: " ... Aber die Kleider des Lebens werden gegeben dem Menschen, weil er den Weg kennt, auf dem er gehen wird. Und es ist selbst für mich schwierig, ihn zu erreichen." Maria sagte: "So bezüglich auf die ,Mühsal eines jeden Tages (genügt)' und ,der Arbeiter verdient sein Essen' und ,der Jünger gleicht seinem Lehrer'." Sie sagte diese Worte als eine Frau, die vollständig verstanden hatte.
Jesus selbst fällt es schwer fällt, den Weg ins Leben zu finden (eine Aussage, die er in § 96 wiederholt); er scheint selbst den Vollendungszustand noch nicht erreicht zu haben -vielleicht ein Indiz dafür, dass seine Passion noch bevorsteht? Oder sollte auch sein Seelenaufstieg nach der Auferstehung
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derart schwer fallen? Maria referiert der Reihe nach die Jesusworte aus Mt 6,34, 10,10 und 10,24f. (vgl. Joh 13,16), und zwar so knapp, dass ihre Inhalte und Kontexte als bei den Adressaten bekannt vorausgesetzt werden müssen. Das Wort vom Unterhaltsrecht der Missionare ("der Arbeiter verdient sein Essen") wird außerdem in einer Form geboten, die in der Matthäusexegese als redaktionelle Umgestaltung durch den Evangelisten angesehen wird. Daraus folgt, dass Dial das Matthäusevangelium benutzt hat; dazu passt, dass Matthäus als einer der drei Vorzugsjünger auftritt. Dial versucht so, an der Autorität zu partizipieren, die gerade Matthäus und sein Evangelium in der Großkirche genossen (Petersen). Der Grund, warum im Erzählerkommentar Maria wegen vollkommenen Verstehens so herausgehoben wird, dürfte darin zu suchen sein, dass sie die zitierten Worte aus dem Matthäusevangelium in ihrer ganzen Tiefe auszuloten versteht, und das wiederum heißt, dass Maria sie auf den Meister und die Jünger anwendet. In§ 61 lobt der Herr sie deswegen selbst: "Du machst deutlich den Überfluss des Offenbarers" (bzw. des "Deuters", des "Erklärers"; Jesus ist gemeint). Ein Leitthema des ganzen Dial wird in§ 65 von Matthäus problematisiert: "[Warum] ruhen wir nicht [sofort]", woraufJesus zurückgibt (§ 66): "Erst wenn ihr abgelegt habt diese Lasten (könnt ihr ruhen)". Zu "diesen Lasten" gehört z. B. der Leib. Noch sind die Jünger nicht am Ruheort angelangt, noch haben sie die Herrschaft nicht angetreten, noch müssen sie suchen und werden allenfalls im Vorgriff das ein oder andere finden. Neben den Lasten werden auch die Kleider, die man ablegt, als Metapher für den menschlichen Körper eingesetzt. Das lehren§ 84 und§ 85, die eine Parallele in EvThom 37 haben: Judas sagte zu Matthäus (!):"Wir wollen verstehen die Art der Kleider, in die wir gekleidet werden sollen, [wenn] wir verlassen das Verwesen des Fleisches." Der Herr sagte: "Die Wachcer und die Verwalter besitzen Kleider, die ihnen für eine Zeit zugebilligt sind, die nicht dauerhaft sind. Aber ihr, als Kinder der Wahrheit, ihr sollt euch nicht mit diesen vergänglichen Kleidern bekleiden. Vielmehr sage ich euch, dass ihr [selig] werdet, wenn ihr [euch] ausziehe."
Als letztes wollen wir aus dem Schlussteil, der bis § 104 reicht, noch einige zusammenhängende Paragraphen näher anschauen, die eine unverkennbare, aber für uns nicht ganz neue Spannung in das Frauenbild des Dial hineintragen: (§ 89) Der Herr sagte: ,,Als der Vater die Welt für sich herstellte, ließ er viel übrig durch die Mutter des Alls. Deshalb sät und handelt er." (§ 90) Judas sagte: "Du hast uns dies erzählt aus der Gesinnung der Wahrheit. Wenn wir beten, wie sollen wir beten?" (§ 91) Der Herr
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sagte: "Betet an dem Ort, wo keine Frau ist." (§ 92) Matthäus sagte: ",Betet an dem Ort, wo keine Frau ist', sagt er und meint: ,Zerstört die Werke der Weiblichkeit', nicht weil es eine andere Art der [Geburt] gibt, sondern weil sie aufhören werden zu [gebären]."(§ 93): Maria sagte: "Sie werden nie zerstört werden." (§ 94) Der Herr sagte: "[Der], der weiß, dass sie nicht zerstört werden und ... "
An der Stelle wird der Text wieder lückenhaft und man ahnt nur, dass Dial weiter mit dem "Zerstören" ringt. Der Gegensatz ist krass: Im Beisein von Maria, die bisher völlig in den Jüngerkreis integriert schien, empfiehlt der Herr, nur dort zu beten, wo keine Frauen sind, was Frauen vom gemeinsamen Gottesdienst ausschließen würde. Matthäus nimmt sich der Schwierigkeit an und interpretiert das Herrenwort. Jesus wollte damit eigentlich sagen "Zerstört die Werke der Weiblichkeit", und das wiederum heißt, die Frauen sollten keine Kinder mehr gebären. Damit sind wir für die Interpretation auf die richtige Spur gesetzt, und wir können eigentlich nur wiederholen, was wir bereits zum EvÄg (griech.) ausgeführt haben, wo uns dieses Herrenwort fast wörtlich schon begegnete: "Ich kam, die Werke des Weiblichen zu vernichten" (s.o. Kap. 4a). Und noch eine weitere Parallele hilft weiter. Im EvÄg (griech.) fragte Salome: "Wie lange wird der Tod Macht haben?", und der Herr gab zur Antwort: "Solange ihr Frauen gebärt." Ganz ähnlich sagt der Herr in Dial § 59: "Was aus einer Frau geboren ist, stirbt." Der Kreislauf des Werdens und Vergehens, ein Signum der todverfallenen Welt, kann nur zum Stillstand gebracht werden, wenn es gelingt, die menschliche Reproduktion zu stoppen. Sexuelle Enthaltsamkeit ist dazu der sicherste Weg, wenn auch nicht der einzige. Nur so wird auch die Geschlechterdifferenz als erstes Ergebnis einer unheilvollen Trennung überwunden. Von einer Frau, die dabei mitwirkt, gilt EvThom 114: Sie macht sich männlich und wird "ein lebendiger Geist". Wie wir schon zu EvThom 114 ausführten, wird die Aufhebung der Geschlechterdifferenz nicht wertfrei beschrieben, sondern von einer kulturell geprägten Sichtweise aus, die Sexualität und Geburt dem als schwächer geltenden weiblichen Geschlecht zuordnete. Ein stiller Protest der Maria Magdalena dagegen könnte in ihrer realistischen Feststellung stecken, dass dieses hybride Vorhaben kaum ganz gelingen wird: Nie werden die Werke der Weiblichkeit völlig zerstört werden. Aber persönlich hat sie anscheinend den Preis bezahlt, der ihre konfliktfreie Einordnung in den- hier ansonsten männlichen- Jüngerkreis ermöglicht: "Maria Magdalena ist gerade deshalb eine so hervorragende Jüngerin, weil sie ihre minderwertige Weiblichkeit transzendiert hat" (Petersen 298).
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(3) Rückblick Anders als beim nichtgnostischen LibThom kann beim Dia! eine gewisse Nähe zur Gnosis nicht gut bezweifelt werden. Es ist zwar nicht das Ziel der Schrift, den gnostischen Mythos erzählend oder interpretierend darzulegen, aber genügend Einzelbestandteile daraus sind vorhanden und tauchen an verschiedenen Stellen an der Oberfläche auf. Erinnert sei nur an die Schöpfung als Ergebnis eines Fehltritts, an die Befreiung und den Aufstieg der Seele und an die Sicht der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Form der Trennung, die überwunden werden muss. Von solchen Knotenpunkten aus werden auch andere, unverfanglichere Größen in den Bannkreis der Gnosis gezogen: das Suchen und das Finden, die Ruhe und die Herrschaft, die Vereinzelung und die Fremdheit, die Selbst- und Fremderkenntnis, das Brautgemach. Ein besonderes Interesse zeigt Dia! an der Frage, wie unter diesen Denkvoraussetzungen Gläubige in der unvollkommenen, als belastend empfundenen Gegenwart ein sinnvolles Leben führen können. Die Antwort lautet: Jetzt ist die Zeit des Suchens, nicht der Ruhe. Eine vorübergehende visionäre Erfahrung kann sich einstellen, aber noch nicht die vollendete Schau. Noch verhindert der Leib als Last das Anlegen des himmlischen Lichtkleids. Dennoch sollen keine Zweifel daran aufkommen, dass sich Erlösung schon ereignet hat und Heil sich auch im Diesseits realisiert. Der Text als Ganzes gewinnt somit eine tröstende und mahnende Funktion. Um das ein letztes Mal an einem der vielen kleinen Dialoge aufzuzeigen: Auf die Frage der Maria, ob es einen Ort gebe, dem es an Wahrheit mangle, antwortet der Herr: "Der Ort, an dem ich nicht bin"(§ 63). Umgekehrt kann man sagen: Wahre Gläubige, die Erkenntnis besitzen, werden überall und immer bei ihrem Herrn sein, ob sie leben oder sterben (11hess 5,10).
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10. Legenden um Marias Tod Literatur: J. K. ELLIOTT, The Apocryphal New Testament 689-723. - S. C. MIMOUNI, in: Ecrits apocryphes chn!tiennes 163-188.- C. VoN TISCHENDORF, Apocalypses Apocryphae, Leipzig 1866, Repr. Hildesheim 1966, 95-136.- M. liAIBACH-REINISCH, Ein neuer"Transitus Mariae" des Pseudo-Melito ... (BABVM 5), Rom 1962.- F. MANNs, Le recit de Ia dormition de Marie (Vatican grec 1982): Contribution al'etude des origines de l'exegese chretienne (SBF.CM 33), Jerusalem 1989.- S. C. MIMOUNI, Dormition et Assomption de Marie. Histoire des traditions anciennes (ThH 98), Paris 1995.- M. VAN
EsBROECK, Aux origines de Ia Dormition de Ia Vierge (Collected Studies Serieses
472), AloERshot 1995. - M. CLAYTON, The Transitus Mariae: The Tradition and lts Origin, in: Apocrypha 10 (1999) 74-98.- S.J. SHOEMAKER, Ancient Traditions of the Virgin Mary's Dormition and Assumption (Oxford Early Christian Studies), Oxford
2002.
a) Typologie und Topologie Die Apokryphenbildung setzt, wie wir bei der Jesusüberlieferung sahen, am Anfang und am Ende an. Sie will mehr über die Vorgeschichte wissen und mehr über die Nachgeschichte, deshalb zählen Kindheitsevangelien und Osterevangelien zu den bevorzugten Gattungen. Dass in diese Bewegung auch Maria, die Mutter des Herrn, einbezogen wurde, haben wir für die Vorgeschichte schon gesehen. Das Protevangelium stellt im Grunde eine ausführliche Kindheitsgeschichte Marias dar und sucht erst im letzten Drittel den Anschluss an den Erzählzyklus um Empfängnis und Geburt Jesu. Es läge in der Logik der Entwicklung, wenn auch das Lebensende Marias entsprechend ausgemalt würde. Das aber fällt nicht so leicht. Anders als beim Anfang, den man, ausgehend von Mt 1 - 2 und Lk 1 - 2, problemlos nach rückwärts verlängern konnte, fehlten für das Ende Ansatzpunkte im Neuen Testament. Noch im 4. Jahrhundert diskutiert Epiphanius von Salamis verschiedene Möglichkeiten: Maria kann gestorben und begraben worden sein, oder sie ist einer Gewalttat zum Opfer gefallen (vgl. Lk 2,35) und weilt unter den Märtyrern, "oder sie mag am Leben geblieben sein(!), denn Gott ist nicht unfähig zu tun, was immer er will", um dann la.pidar zu bemerken: "Niemand kennt ihr Lebensende" (Panarion LXXVIII 23,8). Andererseits verwirft das Decretum Gelasianum, das wir in der Einführung zitiert haben, im 6. Jahrhundert ein "Buch, das Heimgang der heiligen Maria genannt wird".
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Tatsächlich liegt eine Fülle von Erzählungen über Marias Lebensende vor. Sirnone Claude Mimouni, dem wir die grundlegende und maßgebliche Untersuchung des ganzen Komplexes verdanken, zählt zweiundsechzig Texte auf, die in acht verschiedenen Sprachen verfasst sind: Griechisch, Lateinisch, Syrisch, Koptisch, Arabisch, Georgisch, Armenisch, Äthiopisch. Er ordnet sie sodann nach typologischen und topologischen Gesichtspunkten. Den Ausgangspunkt bildet die Terminologie, die, wenn wir nur bei den lateinischen Bezeichnungen bleiben, eigentümlich schwankt zwischen dormitio (Entschlafen), transitus (Übergang) und assumptio (Aufnahme). Trotz der Konfusion, die diesbezüglich schon in den Quellen herrscht, sind damit unterschiedliche Modelle verbunden, die sich in eine zeitliche und sachliche Abfolge bringen lassen: 1. Am Allfang steht die Dormitio im engeren Sinn. Maria "entschläft"; ihre Seele wird von Christus in Empfang genommen und zum Himmel gebracht. Ihren Leib, der vor der Verwesung bewahrt bleibt, setzt man zunächst im Grab bei, von wo er nach drei Tagen ins Paradies (das vom Himmel unterschieden wird) oder an einen unbekannten Ort gebracht wird. Pie Vereinigung von Seele und Leib wird auch für Maria erst bei der endzeitliehen Auferstehung aller Toten stattfinden. 2. In koptischen und äthiopischen Texten wird die Zeit der Trennung von Seele und Leib Marias nach ihrem Tod auf 206 Tage ausgedehnt. Danach kommt es zu ihrer Wiedervereinigung, was man als ,,Auferstehung" ansehen kann. 3. Die reine Form der Assumptio liegt da vor, wo Maria nicht stirbt, sondern mit Leib und Seele in den Himmel versetzt wird. Hier wird auf sie das Modell der Entrückung (wie bei Henoch und Elija) angewandt. Der Tod bleibt folgerichtig ausgeblendet. 4. In diese neue Konzeption sucht man wieder Elemente der älteren Dormitio einzubringen, indem man am physischen Sterben Marias festhält. Drei Tage lang bleiben Seele und Leib getrennt. Dann finden sie wieder zusammen, und der ganze Mensch Maria wird in den Himmel versetzt.
Alle vier Modelle haben ihren Sitz im Leben in der Liturgie. Sie waren für Marienfeste und für die Kirchen, in denen diese begangen wurden, bestimmt. Das macht auch die topographische Frage interessant. Das Haus, wo Maria starb, "wandert" nämlich mit den Festen mit. Es wird zunächst in Betlehem lokalisiert, genauer auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Betlehem a11 einem- im Anschluss an Protev 17,1f.- "Kathisma" (Raststätte) genannten Ort. Dann suchte man es in Jerusalem, aber außerhalb der Mauern, nämlich in Getsemani, schließlich innerhalb der alten Stadtmauern auf dem Berg Zion. Für Getsemani blieb das Grab, in dem Maria bestattet wurde. Ephesus besitzt demgegenüber als Sterbe- und Begräbnisstätte Marias keine alte Tradition. Dass man überhaupt aufEphesus verfiel, hängt (abgesehen von den Visionen der Anna Katharina Emmerick) an
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zwei Faktoren: Dort war der Apostel Johannes, dem Maria anvertraut war Qoh 19,27), zu Hause, und wahrscheinlich gab es dort ein Grab der Maria Magdalena, mit der man, wie so oft, Maria, die Mutter Jesu, verwechselte. Was die zeitliche Ansetzung dieser Modelle angeht, gelangen wir aufgeund der Texte für das erste Modell, das älteste, nur bis ins späte 5. Jahrhundert zurück. Ob dem Traditionen vorausliegen, die bis ins 4. Jahrhundert reichen, muss offen bleiben. Frühansätze ins 3. oder gar 2. Jahrhundert, wie sie manchmal postuliert werden, sind problematisch. Dormitio und Assumptio dürften einen Stand dermariologischen und christologischen Systembildung voraussetzen, der erst mit den Konzilien von Ephesus (431) und Chalkedon (451) erreicht war. Zum Dogma von der Aufnahme Marias mit Leib und Seele in den Himmel von 1950, auf das wir hier aus naheliegenden Gründen nicht weiter eingehen können, nur soviel: Es lässt bewusst offen, ob Maria durch den physischen Tod hindurchging (dem entspräche am ehesten unser viertes Modell) oder ob sie als Lebende in den Himmel aufgenommen wurde (drittes Modell). Die älteren Modelle eins und zwei bleiben hinter diesem Stand der Entwicklung zurück. Das taten sie bereits, als die neueren Konzeptionen aufkamen, und das erklärt auch, warum im Decretum Gelasianum ein "Buch, das Heimgang der heiligen Maria genannt wird" als apokryph verworfen wird. Angesichts der zweiundsechzigTexte bei Mimouni (und der siebenundsechzig Texte bei van Esbroeck) muss der Versuch, auch nur einen groben Überblick zu geben, als aussichtslos erscheinen. Wir schlagen daher einen anderen Weg ein und stellen einen einzelnen, wichtigen, aber gerade im Deutschen fast unbekannten Zeugen vor.
b) Ein Textbeispiel Die älteste Erzählung von Marias Lebensende in griechischer Sprache (so Mimouni; andere Beurteilung bei Clayton), die hinsichtlich ihres Alters nur noch von einigen syrischen Texten übertroffen wird, ist überschrieben mit "Des heiligen Johannes des Theologen Rede über das Entschlafen der heiligen Gottesgebärerin". Der Verfasser, den wir Pseudo-Johannes nennen wollen, gibt sich als der Apostel und Evangelist Johannes aus und damit als besonders vertrauenswürdiger Zeuge. Entstanden ist die Schrift gegen Ende des 5. Jahrhunderts in Jerusalem, und sie wurde dort in der Liturgie am 15.
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August als Lesung verwendet. Der griechische Text ist bei Tischendorf abgedruckt, wo auch die Aufteilung in fünfzig Paragraphen vorgenommen wurde (allerdings hat Tischendorf versehentlich die Zahl15 zweimal vergeben, so erklärt sich im Folgenden das Nebeneinander von§ 15 und§ 15a). Offenbar ist dieser Text bisher noch nie ins Deutsche übersetzt worden. Wir kommen also nicht umhin, dieses Versäumnis wettzumachen und ausnahmsweise, anders als sonst, den kompletten Text (vermutlich erstmals) ins Deutsche zu übertragen und darzubieten, ehe wir einige Erläuterungen anfügen. - Der Grabbesuch 1 Die allheUige, glorreiche und allzeit jungfräuliche Gottesmutter Maria ging wie gewohnt ins heilige Grabmal unseres Herrn, um Weihrauch zu entzünden. Sie beugte ihre heiligen Knie und bat Christus, unseren Gott, aus ihr geboren, sich ihr zuzuwenden. 2 Als die Juden sahen, dass sie sich am göttlichen Grab aufhielt, gingen sie zu den Hohenpriestern und sagten: "Maria geht jeden Tag zum Grabmal." Die Hohenpriester riefen die Wachen herbei, die von ihnen beauftragt worden waren, niemandem zu gestatten, im heiligen Grabmal zu beten, und fragten sie, ob es sich wirklich so verhalte. Die Wachen antworteten, sie hätten nichts dergleichen gesehen. Gott närnlich hatte ihnen nicht gestattet, Marias Anwesenheit wahrzunehmen. 3 An einem dieser Tage, es war ein Freitag, kam die heilige Maria wie gewohnt zum Grabmal, und während sie betete, geschah es, dass sich die Himmel öffneten und der Erzengel Gabriel zu ihr herabstieg. Er sprach: "Sei gegrüßt, die du Christus, unseren Gott, geboren hast. Dein Gebet, das durch die Himmel hindurchgelangt ist zu dem, der aus dir geboren wurde, fand Erhörung. In Kürze wirst du gemäß deiner Bitte die Welt verlassen und zu himmlischen Orten weggehen, zu deinem Sohn, ins wahre Leben, dem kein anderes mehr folgt."
- Das Gebet um die Ankunft der Apostel 4 Als Maria das vom heiligen Erzengel vernommen hatte, kehrte sie zurück ins heilige Betlehem. Bei sich hatte sie drei Jungfrauen, die ihr dienten. Nachdem sie kurze Zeit geruht hatte, setzte sie sich wieder auf und sprach zu den Jungfrauen: "Bringt mir ein Räuchergefäß, damit ich beten kann." Die brachten es herbei, wie es ihnen aufgetragen war. 5 Sie betete mit den Worten: "Mein Herr Jesus Christus, der du es in deiner großen Güte für angemessen gehalten hast, aus mir geboren zu werden, höre auf meine Stimme und sende mir deinen Apostel Johannes, damit mir sein Anblick die Erstlingsfrucht der Freude schenke. Und sende mir auch deine übrigen Apostel, sowohl die, die schon bei dir wohnen (d. h. gestorben sind), als auch die, die noch in der Welt sind, in welchem Land auch immer sie sich aufhalten mögen, durch dein heiliges Gebot, damit ich, wenn ich sie erblicke, deinen vielgepriesenen Namen rühmen kann. Ich habe Zuversicht, weil du deine Dienerirr in allem erhörst."
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- Die Ankunft des Johannes 6 Während sie noch betete, traf ich, Johannes, ein. Der Heilige Geist hatte mich auf einer Wolke aus Ephesus entrückt und dort niedergesetzt, wo die Mutter meines Herrn sich aufhielt. Ich trat bei ihr ein, pries den, der aus ihr geboren worden war, und sprach: "Sei gegrüßt, Mutter meines Herrn, die Christus, unseren Gott, geboren hat. Freue dich, dass du in großer Herrlichkeit dieses Leben verlässt." 7 Die heilige Gottesmutter pries Gott, weil ich, Johannes, zu ihr gekommen war, weil sie sich erinnerte an die Stimme des Herrn, die sagte: "Siehe, deine Mutter", und: ,,Siehe, dein Sohn" (vgl. Joh 19,26f.). Die drei Jungfrauen kamen und verehrten sie. 8 Die heilige Gottesmutter sagte zu mir: "Bete und streue Weihrauch!" Ich betete folgendermaßen: "Herr Jesus Christus, der du Wunderbares vollbracht hast, tue auch jetzt Wunderbares vor ihr, die dich geboren hat. Deine Mutter möge aus diesem Leben scheiden, und Schrecken komme über die, die dich gekreuzigt und nicht an dich geglaubt haben." 9 Als ich dieses Gebet beendet hatte, sprach die heilige Maria zu mir: "Bringe mir das Räuchergefäß." Sie streute Weihrauch und sprach: "Ehre sei dir, mein Gott und mein Herr, denn erfiillt ist an mir alles, was du verheißen hast vor deinem Aufstieg zum Himmel, nämlich da.Ss, wenn ich aus dieser Welt scheiden werde, du zu mir kommen wirst mit der Schar deiner Engel in Herrlichkeit." 10 Ich, Johannes, sagte zu ihr: "Es kommt Jesus Christus, unser Herr und Gott, und du wirst ihn sehen, wie er es dir verheißen hat." Es antwortete mir die heilige Gottesmutter und sprach: "Die Juden haben geschworen, sie würden, wenn mein Ende kommt, meinen Leib verbrennen." Ich gab ihr zur Antwort: "Dein heiliger und kostbarer Leib wird die Verderbnis nicht schauen" (Ps 16,10). Sie gab mir zur Antwort: "Bringe ein Räuchergefäß herbei, streue Weihrauch und bete." Und eine Stimme kam aus den Himmeln, die sagte: ,,Amen". l l Ich, Johannes, lauschte dieser Stimme, und der Heilige Geist sprach zu mir: "Hast du die Stimme gehört, die im Himmel laut wurde nach der Beendigung des Gebets?" Ich gab zur Antwort: "Ja, ich habe sie gehört." Und der heilige Geist sprach zu mir: "Diese Stimme, die du gehört hast, zeigt die bevorstehende Ankunft deiner Brüder, der Apostel, und der heiligen Macht an; sie kommen heute noch hierher."
- Die Ankunft der übrigen Apostel 12 Ich, Johannes, betete fiir sie. Und der Heilige Geist sprach zu den Aposteln: "Ihr alle zugleich, auf Wolken gekommen von den Enden der Erde, versammelt euch im heiligen Betlehem wegen der Mutter unseres Herrn Jesus Christus in der Stunde ihrer Erschütterung: Petrus aus Rom, Paulus vom Tiber, Thomas aus dem inneren Indien, Jakobus aus Jerusalem." l3 Andreas, der Bruder des Petrus, und Philippus, Lukas und Sirnon der Kananäer und Thaddäus, die schon entschlafen waren, wurden vom Heiligen Geist auferweckt aus ihren Gräbern. Zu ihnen sagte der Heilige Geist: "Meint nicht, dass die Stunde der Auferstehung jetzt gekommen sei. Ihr seid nur deswegen aus euren Gräbern aufgestanden, damit ihr hingeht zur Begrüßung der Mutter eures Herrn und Retters Jesus Christus, der dies als Ehrung und wunderbares Zeichen zusteht. Denn gekommen ist der Tag ihres Auszugs, ihres Weggangs zum Himmel."
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14 Auch Markus, der noch am Leben war, kam aus Alexandrien herbei wie die übrigen aus ihren - soeben aufgezählten - verschiedenen Regionen. 15 Petrus verharrte, als er von einer Wolke entrückt wurde, zwischen Himmel und Erde, gehalten vom Heiligen Geist, zusammen mit den übrigen Aposteln, die ebenfalls aufWolken entrückt wurden, damit sie sich bei Petrus befänden. So kamen durch das Wirken des Heiligen Geistes, wie gesagt, alle gleichzeitig an. 15a Als wir eintraten bei der Mutter unseres Herrn und Gones, verehrten wir sie und sprachen: "Fürchte dich nicht, sei nicht betrübt. Der Herrgott, der aus dir geboren wurde, wird dich mit Herrlichkeit aus dieser Welt herausnehmen." Sie jubelte über Gott, ihren Retter (vgl. Lk 1,47), richtete sich auf ihrem Lager auf und sagte zu den Aposteln: "Jetzt glaube ich, dass unser Meister und Gott vom Himmel kommt und ich ihn schauen werde, und dass ich so (sicher) aus diesem Leben scheide, wie ich euch habe zu mir gelangen sehen. Jetzt aber möchte ich, dass ihr mir sagt, woher ihr wusstet, dass ich scheiden werde, und warum ihr gekommen seid, und aus welchen Gegenden und über welche Entfernungen hinweg ihr hierher gelangt seid, habt ihr euch doch dermaßen beeilt, mich zu besuchen. Doch hat es vor mir nicht verborgen der, der aus mir geboren wurde, unser Herr Jesus Christus, der Gott aller Dinge. Denn ich habe immer geglaubt und glaube auch jetzt, dass dieser der Sohn des höchsten Gottes ist."
- Die Berichte der Apostel 16 Petrus antwortete und sprach zu den Aposteln: "Ein jeder soll der Mutter unseres Herrn umfassend darlegen, was der Heilige Geist uns verkündet und aufgetragen hat." 17 Ich, Johannes, gab zur Antwort: ,,Als ich zum heiligen Opferaltar in Ephesus ging, um Liturgie zu feiern, sagte der Heilige Geist zu mir: ,Gekommen ist die Zeit des Abschieds der Mutter deines Herrn. Begib dich nach Betlehem, um sie zu begrüßen.' Eine Wolke aus Licht ergriff mich und setzte mich vor der Tür des Hauses nieder, wo du weilst." 18 Petrus antwortete: "Ich befand mich in Rom, zur Zeit der Morgendämmerung, da höne ich die Stimme des Heiligen Geistes, die zu mir sagte: ,Die Mutter deines Herrn muss Abschied nehmen, denn ihre Zeit hat sich genaht. Begib dich nach Betlehem, um sie zu begrüßen.' Und siehe, eine Wolke aus Licht entrückte mich, und ich sah die übrigen Apostel auf Wolken zu mir kommen, und eine Stimme sagte zu mir: ,Begebt euch alle nach Betlehem'." 19 Paulus gab zur Antwort: ,,Auch ich hielt mich in einer Stadt auf, die nicht weit entfernt von Rom liegt, Tiber wird die Gegend genannt. Ich hörte, wie der Heilige Geist zu mir sagte: ,Die Mutter deines Herrn verlässt diese Welt in Richtung Himmel, mit dem Weggang vollendet sie ihren Lauf. Geh auch du nach Betlehem, um sie zu begrüßen'." 20 Thomas gab zur Antwort: "Ich zog durch Indien, und durch Christi Gnade gewann meine Verkündigung an Wirkkraft. Der Sohn der Schwester des Königs mit Namen Labclanes wollte sich gerade durch mich im Palast besiegeln lassen (mit der Taufe). Plötzlich sagte der Heilige Geist zu mir: ,Auch du, Thomas, begib dich nach Betlehem, um die Mutter deines Herrn zu begrüßen, denn ihr Übergang zum Himmel steht bevor.' Eine Wolke aus Licht entrückte mich und setzte mich bei euch ab." 21 Markus gab zur Antwort: "Ich beendete in der Stadt Alexandrien gerade das Offizium der dritten Stunde. Noch während ich betete, entrückte mich der Heilige Geist und führte mich zu euch."
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22 Jakobus gab zur Antwort: ,,Als ich in Jerusalem war, trug mir der Heilige Geist auf: ,Begib dich nach Bedehem, denn die Mutter deines Herrn nimmt Abschied.' Und siehe, eine Wolke aus Licht entrückte mich und setzte mich bei euch ab.'' 23 Matthäus gab zur Antwort: "Ich verherrlichte und ich verherrliche Gott, denn ich befand mich auf einem Schiff und war einem Sturm ausgesetzt, und die Wellen der See gingen schwer. Plötzlich überschattete eine Wolke aus Licht die stürmischen Wogen und ließ Meeresstille eintreten. Dann entrückte sie mich und setzte mich bei euch nieder." 24 Diejenigen, die schon vorausgegangen waren (in den Tod), erzählten ebenfalls, wie sie hierher gelangt waren. Bartholomäus sagte: "Ich verkündete das Wort Gottes in der Gegend von Theben, und siehe, der Heilige Geist sagte zu mir: ,Die Mutter deines Herrn nimmt heute Abschied. Gehe hin nach Betlehem, um sie zu begrüßen.' Und siehe, eine Wolke aus Licht entrückte mich und führte mich zu euch." 25 Das alles erzählten die Apostel der heiligen Gottesmutter, wie und auf welche Weise sie hergekommen waren. Darauf streckte sie ihre Arme zum Himmel und betete mit den Worten: "Ich verehre und lobe und verherrliche deinen vielgepriesenen Namen, Herr, denn du, der Mächtige, hast auf die Niedrigkeit deiner Magd geschaut, und du hast Großes an mir getan, und siehe, selig werden mich preisen alle Geschlechter" (vgl. Lk 1,48f.).
-Vorzeichen und Wunder 26 Nach dem Gebet sprach sie zu den Aposteln: "Streut Weihrauch und betet." Während sie beteten, wurde vom Himmel her Donner laut, und es entstand ein gewaltiger Lärm wie von Streitwagen, und siehe, (da war) ein ganzes Heer von Engeln und Kräften, und eine Stimme wie von einem Menschensohn (Dan 7,13) wurde vernommen, und die Seraphim umringten das Haus, in dem die heilige, unbefleckte Gottesmutter und Jungfrau lag, so dass alle Bewohner Bedehems alle diese Wunderdinge schauten. Sie gingen nach Jerusalem und verkündeten all das Wunderbare, das geschehen war. 27 Nach diesen akustischen Phänomenen gingen plötzlich Sonne und Mond über dem Haus auf, und eine Versammlung der ersten Generation von Heiligen kam zu dem Haus, wo die Mutter des Herrn lag, um sie zu ehren und zu verherrlichen. Ich sah auch viele Wunderzeichen geschehen: Blinde, die wieder sahen, Taube, die hörten, Lahme, die umhergingen, Aussätzige, die rein wurden, und von unreinen Geistern Besessene, die geheilt wurden (vgl. Lk 7,2lf.). Jeder, der von einer Krankheit oder einer Schwäche gequält wurde, berührte von außen die Mauer des Hauses, wo sie lag, und rief: "Heilige Maria, die du Christus, unseren Gott, geboren hast, erbarme dich unser." Und sogleich wurden sie geheilt. 28 In Jerusalem war eine große Menge von Menschen, die aus allen Gegenden dorthin gezogen waren zum Gebet. Als sie hörten, was für Wunderzeichen in Bedehem durch die Mutter des Herrn geschahen, begaben sie sich zu dem Ort und erbaten sich Heilung von den unterschiedlichsten Erkrankungen, und die wurde ihnen zuteil. Unbeschreibliche Freude entstand an jenem Tag bei den Geheilten und den Zuschauern, und sie gaben Christus, unserem Gott, die Ehre und seiner Mutter. Aus Bedehem zurückgekehrt, beging ganz Jerusalem einen Festtag mit Psalmengesängen und geistlichen Liedern.
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-Jüdischer Widerstand, Teil I 29 Die Priester der Juden und mit ihnen ihr Volk gerieten außer sich über diese Geschehnisse. Heftiger Neid packte sie, und wiederum {vgl. Mk 15,1) fassten sie mit törichtem Sinn einen Beschluss: Sie wollten Männer entsenden gegen die heilige Gottesmutter und gegen die heiligen Apostel, die dort in Betlehem waren. Als sich diese jüdische Truppe auf dem Weg nach Betlehem befand und noch etwa eine Meile entfernt war, geschah es, dass die Männer eine schreckliche Vision sahen und dass ihre Füße gebunden wurden. Sie mussten zu ihren Volksgenossen zurückkehren, und sie erläuterten den Hohenpriestern das schreckliche Gesicht. 30 Da ergrimmten jene noch mehr in ihrem Zorn. Sie begaben sich zum Statthalter, schrien und sagten: "Die jüdische Nation geht wegen dieser Frau zugrunde. Verjage sie aus Betlehem und aus der Provinz Jerusalem!" Der Statthalter aber, zutiefst beeindruckt durch die Wunder, sagte zu ihnen: "Ich werde sie weder von Betlehem verjagen noch von einem anderen Ort." Die Juden aber hörten nicht auf zu schreien, sondern beschworen ihn beim Heil des Kaisers Tiberius, die Apostel aus Betlehem zu entfernen: "Wenn du dies nicht tust, werden wir das dem Kaiser melden" {vgl. Joh 20,12). Jetzt sah sich der Statthalter gezwungen, einen Tribun {den Befehlshaber von tausend Mann) gegen die Apostel zu Betlehem zu entsenden. 31 Der Heilige Geist aber sagte zu den Aposteln und der Mutter des Herrn: "Siehe, der Statthalter entsendet einen Tribun gegen euch, weil die Juden rebellieren. Geht von Betlehem weg, aber habt keine Angst. Denn siehe, ich werde euch auf einer Wolke nach Jerusalem transportieren. Denn die Macht des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ist mit euch." 32 Die Apostel standen sofort auf und verließen das Haus. Sie trugen die Liege mit ihrer Gebieterin, der Gottesmutter, und sie schlugen die Richtung nach Jerusalem ein. Sogleich aber wurden sie, wie es der Heilige Geist gesagt hatte, von einer Wolke davon getragen, und sie fanden sich im Hause der Gebietetin in Jerusalem wieder. Dort standen wir fünf Tage lang und sangen unaufhörlich Hymnen. 33 Als der Tribun in Betlehem ankam und dort weder die Mutter des Herrn noch die Apostel vorfand, verhaftete er die Bewohner Betlehems und sagte zu ihnen: "Seid nicht ihr gekommen und habt dem Statthalter und den Priestern von all den Zeichen und Wundern erzählt und von den Aposteln, wie sie aus allen Regionen hierher gelangten? Wo sind sie nun? Auf, kommt zum Statthalter nach Jerusalem." Der Tribun wusste nämlich nichts vom Weggang der Apostel und der Mutter des Herrn nach Jerusalem. Deswegen ergriff der Tribun die Bewohner Jerusalems, ging zum Statthalter und berichtete, dass er niemanden gefunden habe.
-Jüdischer Widerstand, Teil II 34 Nach fünfTagen wurde dem Statthalter und den Priestern bekannt, dass die Mutter des Herrn mit den Aposteln in ihrem eigenen Haus in Jerusalem sei, und zwar aufgrund der Zeichen und Wunder, die dort geschahen. Eine Menge von dort versammelten Männern, Frauen und Jungfrauen rief: "Heilige Jungfrau, die Christus, unseren Gott, geboren hat, vergiss nicht das Geschlecht der Menschen!" 35 Diese Ereignisse steigerten beim jüdischen Volk und seinen Priestern die Wut nur noch mehr. Sie nahmen Holz und Feuer mit und rückten vor in der Absicht, das Haus zu ver-
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brennen, wo die Mutter des Herrn sich mit den Aposteln aufhielt. Der Statthalter stand da und sah dem Schauspiel von Ferne zu. Als das jüdische Volk bis zur Tür des Hauses gelangt war, siehe, da schlugen plötzlich, von einem Engel bewirkt, aus seinem Innern mächtige Flammen hervor und steckten eine große Zahl von Juden in Brand. Da kam große Furcht über die ganze Stadt, und die Leute verherrlichten den Gott, der aus Maria geboren worden war. 36 Als der Statthalter sah, was geschah, rief er mit lauter Stimme dem ganzen Volk zu: "Wahrlich, es ist Gottes Sohn, der geboren wurde aus der Jungfrau, die ihr verjagen wolltet. Denn dies sind Wunderzeichen eines wahren Gottes." Unter den Juden kam es zu einer Spaltung Qoh 10,19), und viele glaubten an den Namen unseres Herrn Jesus Christus wegen der Wunder, die geschehen waren.
- Die Ankunft des Herrn 37 Nachdem all dies Wunderbare geschehen war durch Vermittlung der Gottesmutter, der allzeit jungfräulichen Maria, der Mutter des Herrn, während wir, die Apostel, noch bei ihr in Jerusalem waren, sagte der Heilige Geist zu uns: "Ihr wisst, dass an einem Sonntag der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria die frohe Botschaft brachte, und an einem Sonntag wurde der Retter in Betlehem geboren, und an einem Sonntag rogen die Kinder Jerusalems mit Palmzweigen aus zu seiner Einholung, wobei sie sagten:,Hosanna in den Höhen! Gepriesen sei der da kommt im Namen des Herrn' (vgl. Mt 21,9). An einem Sonntag stand er von den Toten auf, und an einem Sonntag wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten, und an einem Sonntag wird er kommen vom Himmel her, um zu verherrlichen und zu ehren den Abschied der heiligen, hochberühmten Jungfrau, die ihn geboren hat." 38 An eben diesem Sonntag sagte die Mutter des Herrn zu den Aposteln: "Streut Weihrauch, denn Christus kommt mit einem Heer von Engeln. Und siehe, Christus kommt auf einem Thron von Cherubim." Während wir noch beteten, erschien eine unzählige Schar von Engeln, und (es erschien) der Herr, auf Cherubim thronend in großer Macht. Und siehe, der Vorschein des Lichtes überstrahlte die heilige Jungfrau aufgrund der Ankunft ihres einziggeborenen Sohnes, und alle Mächte des Himmels fielen vor ihr nieder und verehrten sie. 39 Laut rufend sprach der Herr zu seiner Mutter: "Maria." Und sie antwortete: "Siehe, hier bin ich, Herr" (vgl. Lk 1,38; Joh 20,16). Und der Herr sprach zu ihr: "Sei nicht betrübt, sondern dein Hetz soll sich freuen und jubeln. Denn du hast die Gnade gefunden, die Herrlichkeit zu schauen, die mir von meinem Vater bereitet wurde." Die heilige Mutter Gottes blickte auf und sah eine Herrlichkeit an ihm, die zu beschreiben oder zu erfassen der Mund eines Menschen nicht fähig ist. Der Herr blieb bei ihr und sagte: "Siehe, jetzt wird dein kostbarer Leib ins Paradies versetzt, deine Seele aber wird im Himmel sein, in den Schatzkammern meines Vaters, in einem alles überstrahlenden Licht, wo Friede ist und Freude der Engel und ähnliches mehr."
- Marias Fürbitte 40 Da gab ihm die Mutter des Herrn zur Antwort: "Lege mir deine rechte Hand auf, Herr, und segne mich." Der Herr streckte seine unbefleckte Rechte aus und segnete sie. Sie aber
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ergriff seine unbefleckte Rechte und küsste sie. Sie s~gte: "Ich verehre diese Rechte, die den Himmel und die Erde gemacht hat. Und ich rufe deinen vielgepriesenen Namen an, Christus, Gott, König der Zeiten, Einziggeborener des Vaters. Du, der du es für angemessen hieltest, aus mir, der Niedrigen, geboren zu werden, höre auf deine Dienerin: Rette das Geschlecht der Menschen in deinem unaussprechlichen Ratschluss. Jedem Menschen, der den Namen deiner Dienerio anruft, in ihrem Namen bittet oder ihn nennt, gewähre deine Hilfe." 41 Während sie so redete, näherten sich die Apostel ihren Füssen, warfen sich nieder und sagten: "Mutter des Herrn, hinterlasse der Welt einen Segen, da du sie jetzt ja verlässt. Denn du hast sie gesegnet und aus ihrem Untergang aufgerichtet, als du das Licht der Welt Qoh 8, 12) geboren hast." Daraufhin sprach die Mutter des Herrn in ihrem Gebet: "0 Gott, in deiner großen Güte hast du deinen einziggeborenen Sohn vom Himmel gesandt, Wohnung zu nehmen in der Niedrigkeit meines Leibes. Du, der du es für angemessen hieltest, aus mir, der Niedrigen, geboren zu werden: Erbarme dich der Welt und jeder Seele, die deinen Namen anruft." 42 Erneut betete sie mit den Worten: "Herr, König des Himmels, Sohn des lebendigen Gottes, erhöre jeden Menschen, der deinen Namen anruft, damit deine Geburt verherrlicht werde." Und wiederum betete sie: "Herr Jesus Christus, der du alles vermagst im Himmel und auf Erden, mit dieser Bitte belästige ich deinen heiligen Namen: Zu jeder Zeit und an jedem Ort, wo man das Gedächtnis meines Namens begeht - heilige jenen Ort und verherrliche die, die dich verherrlichen um meines Namens willen; nimm von ihnen an jedes Opfer, jeden Hilferuf und jedes Gebet." 43 Nachdem sie so gebetet hatte, sprach der Herr zu seiner eigenen Mutter: "Es freue sich und juble dein Herz, denn jede Gnade und jede Gabe wurde dir gegeben vom Vater im Himmel und mir und dem Heiligen Geist. Jede Seele, die deinen Namen anruft, soll nicht zuschanden werden, sondern soll Erbarmen finden, Trost, Beistand und Zuversicht, in dieser Zeit und in der kommenden, bei meinem Vater im Himmel."
- Der Abschied 44 Der Herr wandte sich um und sprach zu Petrus: "Gekommen ist der Zeitpunkt, mit Hymnengesang zu beginnen." Als Petrus ein Lied anstimmte, antworteten alle Ktäfte des Himmels mit ,,Alleluja". Da erstrahlte das Anditz der Mutter des Herrn heller als das Licht, und sich erhebend segnete sie mit ihrer eigenen Hand jeden der Apostel, und sie alle gaben Gott die Ehre. Der Herr streckte seine unbefleckten Hände aus und nahm ihre heilige und fleckenlose Seele in Empfang. 45 Sogleich mit dem Auszug ihrer fleckenlosen Seele (aus dem Leib) wurde der Ort mit Wohlgeruch und einem unsagbaren Licht erfüllt, und siehe, eine Stimme aus dem Himmel wurde vernommen, die sprach: "Selig bist du unter den Frauen" (Lk 1,42; 11,27). Petrus und ich, Johannes, und Paulus und Thomas eilten herbei. Wir umfingen ihre kostbaren Füße, um selbst geheiligt zu werden. Die zwölf Apostellegten ihren kostbaren und heiligen Leib auf eine Bahre und trugen ihn hinaus.
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-Jüdischer Widerstand, Teil III 46 Und siehe, während sie ihn trugen, stürzte ein Hebräer mit Namen Jephonias herbei und wollte Hand an die Bahre legen, während die Apostel sie trugen. Und siehe, ein Engel des Herrn von unsichtbarer Kraft schnitt ihm mit einem Schwert aus Feuer beide Hände von den Schultern ab und ließ sie in der Luft neben der Bahre hängen. 47 Als dieses Wunderbare geschah, schrie das ganze Volk Israel, das zuschaute, auf: "Wahrlich, ein wahrhaftiger Gott ist er, der von dir geboren wurde, Gottesmutter, allzeit jungfräuliche Maria." Jephonias selbst, dem Petrus befohlen hatte, die Wundertaten Gottes vorzuzeigen, erhob sich hinter der Bahre und rief: "Heilige Maria, die du Christus, den Gott, geboren hast, erbarme dich meiner." Petrus wandte sich um und sagte zu ihm: "Im Namen dessen, der von ihr geboren wurde, sollen die Hände, die dir weggenommen wurden, wieder angeheftet werden." Zugleich mit dem Wort des Petrus setzten sich die Hände, die neben der Bahre der Gebieterin hingen, in Bewegung und wurden dem Jephonias wieder angeheftet. Auch er gelangte zum Glauben und verherrlichte Christus, den Gott, der aus ihr geboren wurde.
-Abschluss 48 Nachdem dieses Wunder geschehen war, trugen die Apostel die Bahre weiter und legten ihren verehrungswürdigen und heiligen Leib in Getsemani in ein neues Grab. Und siehe, ein Duft nach Salböl ging hervor aus dem Grab unserer Gebieterin, der Gottesmutter, und drei Tage lang vernahm man die Stimmen unsichtbarer Engel, die Christus verherrlichten, unseren aus ihr geborenen Gott. Als die drei Tage vorüber waren, hörte man die Stimmen nicht mehr. Von da an wussten alle (Apostel), dass ihr unbefleckter und verehrenswürdiger Leib ins Paradies gebracht worden war. 49 Nach der Übertragung des Leibes erblickten wir Elisabet, die Mutter des heiligen Johannes des Täufers, und Anna, die Mutter der Gebieterin, sowie Abraham, Isaak, Jakob und David, der das Alleluja sang; (sie) und alle Chöre der Heiligen verehrten den kostbaren Rest der Mutter des Herrn. Wir sahen einen leuchtenden Ort - nichts kann strahlender sein als jenes Licht-, und voll von Wohlgeruch war jener Ort. Dorthin wurde ihr kostbarer und heiliger Leib gebracht, ins Paradies. Es war voll von den Liedern derer, die den besangen, der aus ihr geboren wurde. Den Jungfrauen und ihnen allein ist es gegeben, den süßen Gesang zu vernehmen, dessen man nie satt werden kann. 50 Wir nun, die Apostel, die wir die plötzliche, kostbare Übertragung ihres heiligen Leibes gesehen hatten, verherrlichten Gott, der uns seine wunderbaren Taten gezeigt hat aus Anlass des Heimgangs der Mutter unseres Herrn Jesus Christus. Mögen durch ihre Gebete und Fürsprache wir alle gewürdigt werden, unter ihren Schutz, ihren Beistand und ihre Hilfe zu gelangen, in der jetzigen Zeit und in der kommenden. Wir verherrlichen zu jeder Zeit und an jeglichem Ort ihren einziggeborenen Sohn zugleich mit dem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Nur wenn man diese Erzählung nicht dogmatisch und erst recht nicht historisch überfrachtet, verspürt man die ihr eigene Schönheit. Die autoptische Erzählperspektive Qohannes berichtet als Augenzeuge in der Ich-
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Form) wird nicht ungeschickt gehandhabt, au~h wenn sie nicht konsequent durchgehalten ist. Ein hoher Anteil an wörtlicher Rede sorgt für Lebendigkeit. Gelegentlich werden Erzählerkommentare eingestreut (in§ 33 z. B.). Dass der Text von der Liturgie förmlich gesättigt ist, erkennt man an vielen Details: an dem Weihrauch, der ständig gestreut und entzündet wird, arn Licht und am Öl, an den vielen Gebeten, die sich fast zu Litaneien auswachsen, an der Erwähnung des Altars (§ 17) und der Tagzeiten des Offiziums (§ 21), schließlich arn hymnischen Stil mit überbordenden Attributen, die stereotyp gesetzt werden (im Eifer des Gefechts lässt PseudoJohannes in§ 12 auch den Heiligen Geist von "der Mutter unseres Herrn Jesus Christus" sprechen). In rhetorischer Sicht handelt es sich um eine epideiktische Rede (Prunkrede) mit gewisser Nähe zum "Epitaphios Logos" (Grabrede). Da wir gerade bei den Gattungen sind: Teils fühlt man sich an die biblische Gattung der Abschiedsrede erinnert (vgl. Joh 13 - 17), aber aus dem Neuen Testament werden vor allem die Kindheitsgeschichte bei Lukas und die Passionsgeschichte aufgenommen. Das überrascht weiter nicht, was die Parallelen zu Lk 1 - 2 angeht (vgl. etwa Gabriels Erscheinen und seine Worte in§ 2 und die mehrfachen Anspielungen auf das Magnificat). Elemente aus der Leidensgeschichte Jesu würde man aber nicht unbedingt erwarten. Sie kommen dadurch herein, dass auch bei der sterbenden Gottesmutter nach Spuren einer "Passion" gesucht wurde. Hier sind in erster Linie die Passagen zu nennen, wo jüdische Autoritäten, die jüdische Menge oder ein einzelner Vertreter des Judentums Qephonias in § 46f.) zum Angriff übergehen (s. neben den drei Abschnitten, die im Text mit "Jüdischer Widerstand" überschrieben sind, auch schon§ 2, § 8 und§ 10). Der nichtjüdische Statthalter, der keinen Namen trägt, aber fast wie Pilatus wirkt, kommt besser weg; er legt in § 36 sogar ein Glaubensbekenntnis ab. Auch hier müssen wir also die Tendenz konstatieren, die Verantwortung für das Leiden zunächst des Herrn und dann seiner Anhänger auf die jüdische Seite zu verschieben. Dass Jephonias und das ganze Volk Israel zuletzt zum Glauben kommt(§ 47), ist nur ein schwacher Trost. Die Apostellisten wirken eigenartig. Sie sind unvollständig, und es tauchen in ihnen nicht nur Paulus, sondern auch die Evangelisten Lukas (§ 13) und Markus (§ 14) auf- als Verbeugung vor den Vorbildern der eigenen Darstellung? Die Charakterisierung der einzelnen Apostel durch die Zuschreibung von Tätigkeitsfeldern und durch Selbstberichte setzt ausgeführte Apostellegenden voraus. Wir nähern uns hier der Gattung der apokryphen Apostelakten.
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Unter den Aposteln ragen Petrus und Johannes hervor, Petrus als Sprecher und Johannes als Autor, der seine Vorzugsrolle seiner besonderen Nähe zu Maria verdankt. An Joh 19,26f. wird in§ 7 eigens erinnert. Hinsichtlich der Mariologie ist festzuhalten, dass Pseudo-Johannes das älteste der oben vorgestellten Modelle vertritt, in reiner Form: Maria stirbt, ihr Sohn nimmt sofort ihre Seele in Empfang (§ 44) und bringt sie ins himmlische "Schatzhaus" (§ 39), der unverwesliche Leib (vgl. das Zitat aus Ps 16,10 in § 10) gelangt nach einem Zwischenaufenthalt im Grab drei Tage später ins Paradies (§ 48), wo er von den Paradiesesbewohnern als "Reliquie" verehrt wird (§ 49). In der Ortsfrage steuert der Autor, der in Jerusalem zu Hause war, einen Kompromiss an: Maria hatte sowohl in Betlehem (§ 4) als auch in Jerusalem (§ 32) ein Haus. Diese Stätten entwickeln sich bereits zu marianischen Wallfahrtsorten, zu denen die Kranken heilsuchend herbeiströmen; das Berühren der Außenwand genügt schon (§ 27f.). Marias größte Aufgabe aber ist nicht das Heilen, sondern die Fürbitte. Sie wächst in ihre Rolle als mediatrix, als Vermittlerirr hinein (vgl. bes. § 40-42). Soll man einen solchen Text (und alle damit verwandten Texte) überhaupt noch zu den "neutestamentlichen Apokryphen" oder den "antiken christlichen Apokryphen" rechnen? Die Berührungen mit Hagiographie (Heiligenlegenden), Homilie (Predigt) und Liturgie sind jedenfalls sehr stark, aber damit sind Grenzbereiche markiert, mit denen es immer wieder zu Überschneidungen kommt. Erzählungen von Marias Heimgang aus dem Korpus der Apokryphen völlig auszusparen, wie es NTApo6 tut, ist jedenfalls auch keine Lösung. Das führt z. B. dazu, dass ein Text wie der des Pseudo-Johannes im Deutschen bislang völlig unzugänglich blieb.
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11. Verlorene Evangelien Literatur: H. C. Puech I B. BLATZ, in: NTApo 6 1, 285-330.- D. LüHRMANN, Fragmente 140E (zum Evangelium des Matthias). - J. K. ELLIOTT, Apocryphal New Testament 19-25.- A. DE SANTOS ÜTERO, Evangelios Ap6crifos 58-75.- E. VON DoBSCHÜTZ, Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis (TU 38,4), Leipzig 1912.- H. J. KLAucK, Judas- ein Jünger des Herrn (QD 111), Freiburg i. Br. 1987, 19-21 (zum Evangelium des Judas).
-Das Decretum Gelasianum In der Einführung haben wir als Beispiel für ein altkirchliches Verzeichnis kanonischer und nichtkanonischer Schriften das Decretum Gelasianum angeführt. Es lohnt sich, darauf zurückzublicken und zu überprüfen, welche von den dort als "apokryph" verworfenen Schriften wir im Verlauf unserer Überlegungen behandelt haben und welche nicht. Wir gehen dabei der Einfachheit halber davon aus, dass sich gleichlautende Titel auch jeweils auf inhaltlich identische Schriften beziehen, was nicht in allen Fällen gesichert ist. Besprochen hätten wir demnach: Evangelium unter dem Namen des Apostels Petrus ~ EvPetr (Kap. 6a) Evangelium unter dem Namen des Thomas, welches die Manichäer benutzen~ EvThom (Kap. 7a) Evangelien unter dem Namen des Bartholomäus ~ s.o. Kap. 6c Buch über die Kindheit des Erlösers~ KThom (Kap. 5b) Buch über die Geburt des Erlösers und über Maria oder die Hebamme ~ Protev (Kap. 5a) Buch, das Heimgang der heiligen Maria genannt wird~ s.o. Kap. 10 Zahlenmäßig gleichstark ist, wenn wir uns auf die Evangelien konzentrieren, die Gruppe jener Schriften, die in unserer Übersicht fehlen: Evangelium unter dem Namen des Matthias Evangelium unter dem Namen des Barnabas Evangelium unter dem Namen des Jacobus des Jüngeren Evangelien unter dem Namen des Andreas Evangelien, welche Lucian gefälscht hat Evangelien, welche Hesych gefälscht hat Hinter diesen Titeln verbirgt sich sehr disparates Material (vgl. von Dobschütz). Die von Lucian und Hesych "gefälschten Evangelien" sind nichts
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anderes als Ausgaben der kanonischen Evangelien, deren Textgestaltung schon das Missfallen des Hieronymus erregt hatte. Das sonst nirgends bezeugte Andreasevangelium könnte einem Missverständnis entsprungen sein: Ursprünglich waren Andreasakten gemeint. Beim "Evangelium unter dem Namen des Jacobus des Jüngeren" kann es sich kaum um etwas anderes handeln als um das soeben schon erwähnte Protevangelium des Jakobus, das somit in dieser Liste unter zwei verschiedenen Namen enthalten ist. Beim Barnabasevangelium vermutet von Dobschütz eine Verwechslung mit dem wohlbekannten Barnabasbriif, der zur Gruppe der ,,Apostolischen Väter" gezählt wird; auf ein jüngeres Produkt dieses Namens kommen wir zurück. - Das Evangelium des Matthias Es bleibt von diesem Restbestand eigentlich nur das "Evangelium unter dem Namen des Matthias" für eine nähere Betrachtung übrig, zumal es auch sonst Erwähnung findet (bei Origenes und Eusebius z. B.), ohne dass daraus wörtlich zitiert wird, evtl. mit einer Ausnahme. Clemens von Alexandrien bringt nämlich mehrere wörtliche Zitate aus den "Überlieferungen des Matthias". Von Interesse ist für uns besonders das erste Fragment, weil es nicht nur im Kontext des Logions vom Suchen, Staunen und Finden aus dem EvHeb bzw. aus EvThom 2 begegnet, sondern auch thematisch daran anschließt (Stromateis II 45,4): Der Anfang davon (d. h. von der Erkenntnis der Wahrheit) ist das Staunen über die Dinge, wie Plato im Theätetus sagt und Matthias in den Überlieferungen, indem er mahnt: "Bewundere das Gegenwärtige", und dies als erste Stufe zur jenseitigen Erkenntnis hinstellt.
Die meist selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung von Matthias-
evangelium und Matthiasüberlieferungen wird aber auch angezweifelt (Lührmann 140: die Matthiasüberlieferungen "sind schwerlich dem Bereich der Evangelienüberlieferung zuzuordnen"). Eine Variante der Perikope vom Oberzöllner Zachäus aus Lk 19,1-10 bei Clemens (in Stromareis IV 35,2) wird versuchsweise auch dem Matthiasevangelium zugeschrieben, aber hier genügt eigentlich das Lukasevangelium als Ausgangsbasis. Dass unsere Darstellung im Vergleich zum Decretum Gelasianum auch erhebliche Überschüsse aufweist, die sich vor allem aus dem Schrifttum von Nag Hammadi speisen, aber auch die judenchristliehen Evangelien einschließen, sei im Vorbeigehen lediglich notiert.
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- Ein erweiterter Katalog Selbstverständlich bildet das Decretum Gelasianum nicht die einzige Quelle für unsere Kenntnis altkirchlicher Apokryphen. Sammelt man alle einschlägigen Angaben, kommen beachtliche Listen zustande. Unser deutschsprachiges Standardwerk zählt unter anderem noch auf: -
Das Evangelium der vier Himmelsgegenden (NTApo6 I, 286f.) Das Evangelium der Vollendung (NTApo6 I, 287f.} Das Evangelium der Eva (NTApo6 I, 288-290) Das Evangelium der Zwölf (NTApo6 I, 300E) Oie Memoria Apostolorum (NTApo6 I, 301E) Das Evangelium der Siebzig (NTApo 6 I, 304f.} Das Evangelium des Judas (NTApo6 I, 309f.) Das Evangelium des Kerinth (NTApo6 I, 317) Das Evangelium des Basilides (NTApo6 I, 317f.) Das Evangelium des Mareion (NTApo6 I, 318f.} Das Evangelium des Appelles (NTApo6 I, 319) Das Evangelium des Bardesanes (NTApo6 I, 319) Das Evangelium des Mani (NTApo6 I, 320-327)
Dieser Katalog weckt hohe Erwartungen, die aber bei näherem Hinsehen enttäuscht werden, und das rührt nicht nur von der schlechten Überlieferungslage her. Von einem "Evangelium des Marcion" z. B. sollte man besser gar nicht sprechen, denn dabei handelt es sich um die purgierte Fassung des Lukasevangeliums, die Mareion benutzte. Auch bei den anderen Evangelien, die "Ketzerhäuptern" zugeschrieben werden, fragt es sich, ob es sie je gegeben hat. In anderen Fällen wissen wir nicht einmal, was sich hinter dem bloßen Namen verbirgt. -Das Evangelium der Eva Greifen wir nur noch zwei Titel heraus, die Verwunderung wecken. Was soll man sich unter einem Evangelium der Stammmutter Eva vorstellen, die ja schwerlich als Zeugin für das Leben Jesu aufgeboten werden kann? Nur Epiphanius zitiert daraus einmal oder zweimal in seinem ,,Arzneikasten" (XXVI 3,1; die Zuordnung des zweiten Zitats in XXVI 5,1 ist strittig). Demnach war das Evangelium ein Visionsbericht, wo jemand, vielleicht Eva, auf einem hohen Berg einen Offenbarer erblickt, der in zwei Gestalten kommt und sagt:
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Ich bin du, und du bist ich. Und wo du auch bist, da bin ich, und ich bin in allem gesät. Und woher du auch willst, sammelst du mich. Wenn du mich aber sammelst, sammelst du dich selbst.
Das klingt unverkennbar gnostisch, und Epiphanius schreibt die Abfassung des Evangeliums der Eva in XXVI 2,6, wo er den Titel nennt, auch Gnostikern zu. Ohne dafür weitere Textevidenz zu besitzen, können wir für den Inhalt vermuten: Die "frohe Botschaft", die Eva zu verkünden hat, hängt mit der gnostischen Rezeption der Paradiesesgeschichte zusammen. Eva hat dort mithilfe der Schlange durch das Essen vom Baum der Erkenntnis die wahre Gnosis gefunden. Das ,,Apokryphon des Johannes" (s.o. Kap. 8d) würde sich zum Vergleich anbieten. - Das Evangelium des Judas Irenäus berichtet von einer Gruppe, die bei der Wahl ihrer Heroen einen unverkennbaren Hang zum Subversiven an den Tag legt. Sie verehrt nämlich Figuren, die im Alten Testament negativ besetzt sind: Kain, Esau, Korach und die Sodomiter. Sie ist es auch, die von Judas sagt, "er habe allein die Wahrheit gekannt und das Geheimnis des Verrats vollendet; er habe alles Irdische und Himmlische getrennt" (Adversus haereses I 31,1). Judas übernimmt hier eine eminent positive Rolle im Drama der Erlösung. Sein Verrat war notwendig, denn nur so konnte gegen den massiven Widerstand der Weltmächte, die alles daransetzten, dies zu verhindern, der Erlösungsvorgang in Gang kommen. Judas war imstande, diese Rolle zu übernehmen, weil er- als Urtyp des Gnostikers - allein über das notwendige Wissen verfügte. Wie das im Einzelnen vor sich ging, war offenbar niedergelegt in dem auch bei Ephiphanius (in Parrarion XXXVII 1,5) genannten Judasevangelium. Vielleicht wurde darin eine entsprechende Lektüre des Passionsberichts "gegen den Strich" durchgeführt. Wir wissen es nicht mehr, da wörtliche Zitate leider fehlen. Die Judasthematik wird uns aber weiter begleiten zu unserem nächsten Text und ins letzte Kapitel hinein. - Das Barnabasevangelium Literatur. S.M. LINGES, Das Barnabas-Evangelium. Wahres Evangelium Jesu, genannt Christus, eines neuen Propheten, von Gott der Welt gesandt gemäß dem Bericht des Barnabas, seines Apostels, Bonndorf 1994. -]. E. FLETCHER, The Spanish Gospel of Barnabas, in: NT 18 (1977) 314-320.- B. KoLLMANN, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte (SBS 175), Stuttgart 1998, 69-71.
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Wir haben uns in diesem Buch aus gutem Grund auf apokryphe Schriften aus der Zeit der Alten Kirche beschränkt, müssen aber, auch wegen der Verwechslungsgefahr, beim Barnabasevangelium eine Ausnahme machen. Mit dem im Decretum Gelasianum aufgeführten Barnabasevangelium hat dieser Text nichts zu tun. Seine Entstehungszeit liegt im 14. bis 16. Jahrhundert und verfasst wurde es in italienischer oder spanischer Sprache (die italienische Handschrift liegt in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, eine der beiden spanischen Handschriften, um die man weiß, ist verschollen, die zweite- unvollständig- in Sydney wieder aufgetaucht). Was über den Verfasser berichtet oder besser vermutet wird, klingt selbst nach einem Roman. Nach dem Prolog der spanischen Fassung hat ein Franziskanermönch namens Fra Marino das Barnabasevangelium in der Bibliothek von Papst Sixtus V. (1585-1590) entdeckt und es entwendet. Gleich nach der Lektüre sei er zum Islam übergetreten und nach Istanbul geflohen. Der wahre Verfasser könnte sich hinter dieser Herausgeberfiktion verbergen. Man denkt an einen spanischen Juden, der zum Übertritt zum Christentum gezwungen wurde, sich später dem Islam zuwandte und sich mit diesem Werk am Christentum rächen wollte. Wirkliche Belege gibt es dafür aber, soweit ich sehe, nicht. Dass der unbekannte Verfasser wirklich Zugang zu anderweitig verlorenen alten Überlieferungen hatte, ist eine vage Möglichkeit, mehr nicht. Das Barnabasevangelium fällt mit 222 Kapiteln recht umfangreich aus (die deutsche Übersetzung umfasst 319 Seiten). Es bezeichnet sich in der Überschrift als "vero euangelio", als einzig wahres Evangelium des Propheten Jesus, aufgezeichnet von seinem Apostel Barnabas. Die Aufnahme des Barnabas in den Apostelkreis nehmen über seine Gleichsetzung mit Matthias, der für Judas Iskariot nachrückte, auch die Pseudo-Klementinen vor. Im Prolog der italienischen Fassung des Barnabasevangeliums geht "Barnabas" sofort scharf mit Paulus ins Gericht, auf dessen Konto folgende Irrtümer vieler Christen gehen: dass sie Jesus als Sohn Gottes bezeichnen (obwohl er selbst sich nur als Prophet verstand), dass sie die Beschneidung nicht mehr praktizieren und dass sie unterschiedslos alle unreinen Speisen verzehren. In den Kategorien der ersten Jahrhunderte wäre diese Positionsbestimmung als judenchristlich zu bezeichnen. Ansonsten bietet das Werk eine ausführliche, paraphrasierende Wiedergabe der evangeliaren Jesuserzählung; oft erinnert es an eine Evangelienharmonie. Als vergleichsweise harmloses Beispiel, auch für den Stil des Ganzen, sei das Kap. 71 zitiert, das Mk 2,1-12 mit Lk 7,16 kombiniert und zugleich etwas von der besonderen Christologie dieser Schrift verspüren lässt:
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Als Jesus in seiner Heimat angekommen war, verbreitete sich in ganz Galiläa die Kunde davon, dass der Prophet Jesus nach Nazaret gekommen war. Da suchten sie eifrig die Kranken und brachten sie zu ihm und baten ihn inständig, sie mit den Händen zu berühren. Und so groß war die Menge, dass ein gewisser reicher Mann, der gelähmt war und nicht durch die Tür getragen werden konnte, sich zu dem Dach des Hauses tragen ließ, in dem Jesus war, und nachdem er das Dach hatte öffnen lassen, ließ man ihn in Tüchern hinunter vor Jesus. Jesus zögerte einen Augenblick lang, und dann sagte er: "Fürchte dich nicht, Bruder, denn deine Sünden sind dir vergeben." Alle waren bestürzt, als sie dies hörten, und sie sagten: "Und wer ist dieser, der Sünden vergibt?" Da sagte Jesus: "So wahr Gott lebt, ich bin nicht fähig, Sünden zu vergeben, noch sonst ein Mensch, sondern Gott allein vergibt. Aber als Diener Gottes kann ich ihn inständig für die Sünden anderer bitten; und so habe ich ihn für diesen kranken Mann gebeten, und ich bin sicher, dass Gott mein Gebet gehört hat. Deshalb, damit ihr die Wahrheit wisst, sage ich zu diesem Kranken: Im Namen des Gottes unserer Väter, des Gottes Abrahams und seiner Söhne, erhebe dich und sei geheilt!" Und als Jesus dies gesagt hatte, erhob sich der Kranke, und er war geheilt und lobte Gott. Da bat das einfache Volk inständig, er möge Gott bitten für die Kranken, die draußen standen. Da ging Jesus zu ihnen hinaus, erhob seine Hände und sagte: "Herr, Gott der Heerscharen, lebendiger Gott, wahrer Gott, heiliger Gott, der du niemals sterben wirst, hab Erbarmen mit ihnen!" Und ein jeder antwortete: ,,Amen". Und als dies gesagt war, legte Jesus seine Hände auf die Kranken, und sie wurden alle gesund. Da priesen sie Gott und sagten: "Gott hat uns durch seinen Propheten besucht, und einen großen Propheten hat Gott zu uns geschickt."
Inhaltlich sind noch zwei Punkte von besonderer Bedeutung: (1) An Jesu Stelle stirbt Judas, der von Gott in die Gestalt Jesu verwandelt wurde, am Kreuz (ein altes gnostisches Motiv, das sich eventuell auch aus einer dunklen Koranstelle herauslesen lässt). (2) Jesus verheißt mehrfach Muhammads Kommen und bezeichnet ihn als letzten Propheten und als Rettergestalt. In Kap. 44 sagt Jesus: "Muhammad, Gott sei mit dir, und möge er mich würdig machen, deine Schuhriemen zu lösen, denn wenn er mir dies gewährt, werde ich ein großer Prophet und ein Heiliger Gottes sein." Soll man dieses Werk als Fälschung bezeichnen? Eine Fälschung ist immer auch eine Frage der Intention und des Gebrauchs. Gestehen wir einmal zu, der ursprüngliche Verfasser habe im Wissen um seinen eigenen zeitlichen Standort lediglich eine Synthese angestrebt, die den Islam als Vollendung von Judentum und Christentum erscheinen lässt, und diesem Vorhaben eine sprachliche Form gegeben, von der er annahm, sie würde ohne Weiteres als Fiktion durchschaut werden. Die deutsche Übersetzung erweckt aber den Eindruck, es liege ein Originaldokument aus dem 1. Jahrhundert vor, mit dessen Hilfe man die Entstellung des wahren Evangeliums durch Paulus und andere frühchristliche Autoren endlich entlarven und zurechtrücken könne. Diese Einschätzung des Barnabasevangeliums dürf-
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te repräsentativ sein für seine Rezeption in der islamischen Welt. Zumindest die Art und Weise seines Gebrauchs als Waffe gegen das Christentum macht aus dem Werk eine Fälschung. Dass Paulus dabei regelmäßig als der Übeltäter erscheint, der das Christentum westlicher Prägung mit Betonung von Kreuzestod und Opfertheologie erst geschaffen habe, könnte sich zwar auf Friedrich Nietzsche als weiteren Kronzeugen berufen (was erstaunlicherweise in der Literatur zum Barnabasevangelium, soweit ich sehe, selten geschieht). Überzeugender wird diese Position dadurch aber nicht. 'Weitere Literatur zur aktuellen Diskussion um das Barnabasevangelium: L. CIRILLO I M. FREMAUX, Evangile de Barnabe. Recherche sur Ia composition et l'origine I Texte et Traduction, Paris 1977 (598 S.; Faksimile und französische Übersetzung, sehr "barnabasfreundlich").- D. Sox, The Gospel of Barnabas, London 1984.- M. A. YusSEFF, The Dead Sea Scrolls, the Gospel of Barnabas and the New Testament, Indianapolis, lnd. 1985 (aus islamischer Sicht; aber was soll man von einem Werk halten, in dem das- angeblich essenische- Barnabasevangelium in einem "Decretium Gelansium" [101; sie] aufgespürt wird?).- E. GmsTOLISI I G. RizZARDI, II vangelo di Barnaba: Un vangelo per i musulmani?, Mailand 1991 (805 S., aber zur Hauptsache reine Textausgabe).C. SCHIRRMACHER, Mit den Waffen des Gegners. Christlich-muslimische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert ... (IKU 162), Berlin 1992, 241-425 (materialreich, mit christlich-apologetischer Tendenz). - L. F. BERNABE PoNs, EI texto morisco del Evangelio de San Bernabe (Biblioteca Chronica nova de estudios hist6ricos 57), Granada 1998 (Rekonstruktion der spanischen Fassung). - http://www.islaminstitut.de/artikellbarnabas3.htm (christliche Perspektive).- http:/ /barnabas.net/ (islamische Perspektive).- Die Erstausgabe mit englischer übersetzung durch LAuRA und LoNSDALE RAGG, Oxford 1907, wird zwar allerorten zitiert, ist nach meiner Erfahrung aber über die Bibliotheken nicht mehr zugänglich.
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12. Ein Anti-Evangelium: die Toledot Jeschu Literatur: S. KRAuss, Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Berlin 1902, Repr. Bildesheim 1977 I 21994.- G. ScHLICHTING, Ein jüdisches Leben Jesu. Die verschollene Toledot-Jeschu-FassungTam ü-mü'äd (WUNT 24), Tübingen 1982.- R. DI SEGNI, I! Vangelo del Ghetto. Le "storie di Gesu": !eggende e documemi della tradizione medievale ebraica (Magia e religioni 8), Rom 1985.- H.]. Kr.AucK, Judas- ein Jünger des Herrn (QD 111), Freiburg i.Br. 1987, 21-23.- E. BAMMEL, Judaica et Paulina. Kleine Schriften II (WUNT 91), Tübingen 1997, 3-63.
Zu den "antiken christlichen Apokryphen" gehört das Werk, das hier als letztes vorgestellt sei, sicher nicht. Es ist nicht christlichen, sondern jüdischen Ursprungs, es übt Kritik am Christentum, und man kann darüber streiten, ob seine Anfänge überhaupt noch in die Zeit der Antike hinabreichen. Anders sieht es aber aus, wenn man von der Größe "apokryphe Evangelien" ausgeht, denn mit der Evangelienform hat dieser Text mehr zu tun als manch andere Schrift, die wir unter diesem Oberbegriff zu behandeln hatten, auch wenn er das christliche Evangelium antithetisch konterkariert. Das wirkt für christliche Leser anstößig, ohne Zweifel. Die richtige Perspektive für den Uq1gang mit diesem Werk gewinnt man, wenn man es versteht als eine Form des Protestes der Unterdrückten und Verfolgten. Es handelt sich um ein, wie es Riccardo Di Segni formuliert hat, "Evangelium aus dem Ghetto".
(1) Zur Einordnung
"Toledot Jeschu" bedeutet, wörtlich genommen, soviel wie "Ursprünge" oder ,,Anfänge" Jesu (im Alten Testament meint "Toledot" Stammbäume und Geschlechtsregister). In dem jüdischen Werk, das diesen Titel trägt, wird die Geschichte Jesu nacherzählt, von der Geburt bis zum Tod, und sie wird über beide Eckpunkte hinaus noch verlängert. Die Toledot Jeschu berichten auch darüber, wie es zu Jesu Empfängnis kam und wie es nach seinem Tod mit seinen Jüngern weiterging. Das Korpus des Evangeliums wird, wenn man so will, erweitert um ein Protevangelium und eine Apostelgeschichte. Inhaltlich geschieht das nach Art einer Karikatur oder Satire. Was die christlichen Evangelien, kanonische wie apokryphe, dazu sagen, wird auf den Kopf gestellt. Jesus erscheint als der Bösewicht, Judas als der Held. Eine feste, gleichsam kanonische oder autorisierte Fassung der Toledot Jeschu, auf die wir uns beziehen könnten, hat es nie gegeben; der Überlie-
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ferungszustand des Werks befand sich ständig im Fluss. Wir verfügen nicht einmal über verlässliche alte Handschriften, sondern müssen mit Manuskripten und Drucken aus der Neuzeit arbeiten. Das hängt mit dem Charakter des Werks als Untergrundliteratur zusammen, dessen Existenz man Christen gegenüber aus naheliegenden Gründen verschwieg und das man nur unter der Hand weitergab. Die Anfange der Toledot Jeschu sind daher notorisch schwer zu datieren; die Vorschläge, die unterbreitet wurden, divergieren weiter denn je, vom 1. Jahrhundert (Voltaire) bis zum 11. Jahrhundert. Sicher ist, dass die Angabe "1. Jahrhundert" viel zu früh liegt; sie ist mehr der Freude des Aufklärers darüber entsprungen, dass es so früh schon Kritik am Christentum gegeben haben soll, als nüchterner historischer Beobachtung. Wenn wir bis ins 10. Jahrhundert hinaufgehen, gehören die Toledot Jeschu nicht mehr zur antiken Überlieferung und würden damit aus dem Rahmen dieses Buches herausfallen. Eine Überlegung vermag ein kleines Stück weiterzuhelfen. Der Christengegner Celsus trägt im 2. Jahrhundert eine teils scharfsinnige Polemik gegen die Jesusdarstellung der Evangelien vor, für die er sich auf einen wahrscheinlich fiktiven- Juden als Gewährsmann beruft. Das Protevangelium setzt sich im Stillen mit diesen Verdächtigungen schon auseinander (s.o. Kap. 5a). Die einzelnen Punkte aus diesem Katalog- illegitime Herkunft Jesu, Erlernen des Zauberhandwerks in Ägypten etc. -begegnen nun auch in den Toledot Jeschu, die hier ihre Wurzeln haben könnten. Ihre Anfange liegen dann auf jeden Fall noch in der Zeit der Alten Kirche, vielleicht im 4. Jahrhundert. Günter Schlichring hat in seinem Buch "Ein jüdisches Leben Jesu" eine Druckausgabe der "Toledot Jeschu" wiedergegeben und übersetzt, die den Titel "Tarn ü-mü'äd" trägt. Das ist eine aus dem rabbinischen Zivilrecht stammende Formel mit der Bedeutung "ganz bezeugt". Es handelt sich dabei nach Schlichring um die "wohl profiherteste Toledot-Jeschu-Bearbeitung", in der sich der spöttische und satirische "Ton mit einem kunstvollen Sprachgewand und ernster theologischer Reflexion" hat "verbinden können" (6). Zahlreiche Verdoppelungen im Erzählablauf-zweimal hat Jeschu zumindest vor, nach Ägypten zu gehen, zweimal oder dreimal wird er gefangengesetzt, etc. - sind als lirerarkritische Nahtstellen zu werten (Schlichting kommt auf dreiundzwanzig solcher Wiederholungen). Sie weisen auf eine längere Überlieferungsgeschichte dieser Fassung hin und lassen sie als den Versuch erscheinen, möglichst viele Details zu integrieren. Um angesichts des fließenden Textzustands überhaupt eine feste Referenz-
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Ein Anti-Evangelium: die Toledot-Jeschu
größe zu besitzen, orientieren wir uns im Folgenden an dem bei Schlichring gebotenen Text (danach auch die Übersetzung und die Paragraphenzählung).
(2) Zum Inhalt - Die Vorgeschichte Historische Genauigkeit darf man von einem Volksbuch nicht unbedingt erwarten. § 1 führt uns ins Jahr 3708 nach der Weltschöpfung, das wäre 52 v. Chr. (andere Versionen derToledotJeschu haben andere, teils stimmigere Daten). In Jerusalem regiert Königin Helene aus dem Haus der Hasmonäer (ihr haben Salome, die Witwe des Alexander Jannai und Helena, die Mutter Kaiser Konstantins und Hauptperson der Überlieferung von der Kreuzauffindung, die Züge geliehen). Um diese Zeit also verliebt sich ein junger Mann namens Josef Panderi (vgl. den Panthera bei Celsus) in die Jungfrau Mirjam, die aber von ihm nichts wissen will, zumal sie schon mit dem frommen Jochanan verlobt ist. Josef wird vor Eifersucht todkrank und greift auf den Rat seiner Familie hin zu rabiaten Mitteln, die nach manchen Umwegen zum schändlichen Ziel führen. Er schleicht sich in das Vertrauen Jochanans ein, was Mirjam mit tiefer Missbilligung sieht, macht diesen eines Nachts betrunken und findet, weil zudem ein Unwetter losbricht, Unterschlupf in Mirjams Haus. Mirjam hält ihn für ihren Bräutigam. Obwohl sie abwehrend auf ihre Menstruation hinweist, die sie nach dem Gesetz unrein macht, kommt es zum Verkehr, und Mirjam wird schwanger. Als Mirjam am nächsten Tag Jochanan wegen des Vorfalls zur Rede stellt, erkennt sie im Gespräch Stück um Stück die Wahrheit, hält aber nach außen hin die Behauptung aufrecht, Jochanan habe ihr beigewohnt. Jochanan eilt zu seinem Lehrer Rabbi Sirneon ben Schetach, der ihm nur den Rat geben kann, Mirjams Haus bewachen zu lassen, um des Übeltäters habhaft zu werden, aber Josef hält sich in der Folgezeit klug zurück. Als Mirjams Schwangerschaft sichtbar wird, flieht Jochanan nach Babel, um dort weiter das Gesetz zu studieren. Mirjam gibt sich daraufhin nicht nur Josef preis, sondern wird zur Dirne.
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- Geburt und Namensgebung Nach neun Monaten bringt Mirjam in Betlehem ihren Sohn zur Welt und "ließ ein Gerücht ausgehen, als hätte sie einen Sohn ohne männliche Beiwohnung geboren. Aber nur wer einfaltig ist, wird ihr glauben"(§ 56). Dem Namen des Kindes wird eine unfreundliche Deutung mit auf den Weg gegeben: "Der Name Jeschu aber bedeutet:,Sein Name werde weggewischt und auch sein Andenken!'" (§ 58). Dazu muss man- nach Art eines Akrostichons - die drei Buchstaben, aus denen der Name Jeschu im Hebräischen besteht, Jod, schin und waw, als Anfangsbuchstaben von drei Wörtern auffassen, die zusammengenommen diesen Satz ergeben. -Taten in der Kindheit Den Knaben bringt Mirjam ins Lehrhaus zu Rabbi Jehoschua (auf griech. Jesus) ben Perachja. Nach wenigen Tagen schon ragt Jeschu durch Fleiß und Gelehrsamkeit aus der Schar der Schüler hervor. Aber er wagt es auch, in Abwesenheit des Meisters selbst als Lehrer aufZutreten und das Gesetz auszulegen. Er fallt deswegen zeitweilig in Ungnade, versteht es aber immer wieder, durch fleißiges Studium die Gunst des Lehrers wiederzugewinnen. Er bleibt jedoch ein Problemkind: Am Sabbat wirft er den Ball mehr als vier Ellen weit, was verboten ist, und er weigert sich, ältere Gelehrte ehrerbietig zu grüßen. Am schwersten wiegt, dass er, während sein Lehrer betet, dazwischenruft: "Möge es wohlgefallig sein, dass sie mich zum Gott machen!" (§ 74). Bisher hatte Mirjam die Fiktion aufrechterhalten, Jeschu sei der Sohn des Jochanan, auch ihm selbst gegenüber. Aber der Sanhedrin, der oberste Gerichtshof, dem auch Rabbi Jehoschua und die Gelehrten, die Jeschu nicht gegrüßt hat, angehören, tragen das belastende Material gegen ihn zusammen und folgern aus seinem Verhalten, er müsse "ein Bastard und Sohn der Menstruierenden" (§ 82) sein. Mirjam wird zum Geständnis gezwungen, und die ganze Wahrheit kommt ans Licht, zunächst vor dem Sanhedrin, und zu Hause holt sie auch Jeschu gewaltsam aus ihr heraus. Daraufhin flieht Jeschu nach Alexandrien in Ägypten, wo er "mittels Zauberei Ziegelstein auf Ziegelstein schichtet"(§ 101). Diese Episode "hat bisher keine hinreichende Erklärung gefunden" (so Schlichting 197). Eine Möglichkeit sei ins Spiel gebracht: Auf diese Weise wollte man ätiologisch das Entstehen der ägyptischen Pyramiden erklären.
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-Der geheime Name Gottes Nach heimlicher Rückkehr aus Ägypten gelangt Jeschu in das Innere des Jerusalemer Tempels, wo ein geheimnisvoller Stein, "Schetijah" genannt, liegt (§ 104): In diesen Stein war der Gottesname eingemeißelt. Wer den lernte und sein Geheimnis kannte, ihn danach in richtiger Reihenfolge auf ein taugliches Pergament zu schreiben verstand und den Namen an seiner Brust trug, der hatte es in der Hand, die Ordnungen zu zerstören, Tote aufZuerwecken und alles zu tun, was sein Herz begehrte.
Die Gelehrten Israels hatten zwar Schutzmaßnahmen ersonnen, die eine missbräuchliche Aneignung des geheimen Gottesnamens verhindern sollten, aber Jeschu gelingt es, sie zu umgehen und den Namen in seinen Besitz zu bringen. Jetzt kann er Zeichen und Wunder tun, viele in Israel verführen und sie um sich scharen. Vor allem rückt er jetzt mit einem Anspruch heraus, der in spiegelbildlichem Kontrast zu seiner sozialen Herkunft steht (§ 108): Wie ist die Weisheit der Gelehrten verdorben, die zu mir gesagt haben, ich sei ein Bastard und ein Sohn der Menstruierenden, es gäbe keine Erlösung für meine Seele, und der Name meines Vaters sei Josef Panderi ... Gott sprach zu mir: "Du bist mein Sohn" (Ps 2,7). Meine Mutter hat mich ohne männliche Beiwohnung geboren, und von mir hat der Prophet geweissagt: "Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und gebiert einen Sohn" Qes 7,14). Und so hat König David von mir geweissagt: "Der Herr sprach zu mir: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt" (Ps 2,7).
Die christologische Rezeption dieser alttestamentlichen Zitate wird einfach dadurch bekämpft, dass man sie einer unzuverlässigen Erzählfigur in den Mund legt. Aber nach zwei weiteren Wundern, der Heilung eines Lahmen und der Heilung eines Aussätzigen, zeigt die Selbstaussage Wirkung (§ 112): Da hoben alle Gesetzesverächter, die sich um ihn gesammelt hatten, einstimmig an und riefen ihm zu: "Du bist Gottes Sohn!" Und sie fielen auf ihr Angesicht, knieten nieder und beteten ihn an.
Der Streit darum, wer die Schrift besitzt und wer sie richtig auslegt, wird vor Königin Helene fortgesetzt. Die Gelehrten klagen Jeschu der Zauberei an und fordern seinen Tod. Jeschu bleibtuneinsichtig (§ 117): Aber der Tor wiederholte seine Narrheit. Er wurde frech und sprach: "Von mir hat Jesaja geweissagt:,Ein Zweig geht aus dem Stamm Isais auf, und ein Spross wächst aus seinen Wurzeln' Qes 11,1). König David aber hat von mir gesagr:,Heil dem Manne, der nicht im Rat der Sünder wandelt' (Ps 1,1)."
Die Gelehrten kontern mit dem Zitat aus Dtn 18,20, das dem ganzen Buch als Leitwort vorangestellt ist und am Schluss wiederholt wird: "Doch
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ein Prophet, der sich anmaßt, in meinem N~en ein Wort zu verkünden, das ich ihm nicht aufgetragen habe, oder der im Namen anderer Götter spricht, ein solcher Prophet soll sterben" (§ 119). Doch als Jeschu Tote auferweckt, ergreift die Königin für ihn Partei und erteilt den Gelehrten einen Verweis. -Weitere Wundertaten In Israel droht ein förmlicher Bürgerkrieg, die Parteien stehen sich schon mit gezogenen Schwertern gegenüber, da unterbreitet Jeschu einen Vorschlag zur Güte: Durch eine Serie von Wundern will er untermauern, "dass ich es bin, den mein Vater im Himmel gesandt hat"(§ 136). Er formt Vögel aus Lehm und lässt sie davonfliegen (vgl. KThom 2). Auf einem schweren Mühlstein schwimmt er über den See, als handle es sich um ein Floß aus leichtem Holz (vgl. Mk 6,48-51). Den Eindruck, den diese Taten auf die Königin machen, wollen die Gelehrten diesmal mit Hilfe von Dtn 13,2-6 abfangen: Auch der falsche Prophet und gerade er vermag es, Zeichen und Wunder zu vollbringen. Gegen ihre beiden Hauptargumente, die Stellen aus Dtn 18,20 und Dtn 13,2-6, setzt sich Jeschu zur Wehr, indem er in Gegenwart der Königin einen benachbarten Vers auf sich bezieht, nämlich Dtn 18,15: "Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören", außerdem auch nochJer 1,5: "Ehe ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt ... " - Der Gegenspieler Die Gelehrten sehen ein, dass auch sie Waffen von anderem Kaliber brauchen. Sie wählen einen rechtschaffenen Mann aus ihrer Mitte, Rabbi Jehuda 'isch Bartötä, hinter dem sich Judas Iskariot verbirgt, und gestatten ihm, gleichfalls den geheimen Gottesnamen zu erlernen. Jeschu, inzwischen verbittert über die Halsstarrigkeit der Gelehrten, kündigt an: "Ja, ich werde vor euren Augen zu meinem Vater in den Himmel steigen"(§ 157), und startet zu einem erfolgreichen Flugversuch. Jehuda steigt ihm nach; es kommt zu einem Luftkampf, der aber unentschieden bleibt, bis Jehuda seinen Samen aufJeschu fallen lässt. Die Verunreinigung, die dadurch auf der Stelle eintritt, beraubt Jeschu seiner Wunderkraft, und er fallt auf die Erde herab. Seine Wunderkraft ist dahin. Die Gelehrten verspotten ihn in Gegenwart der Königin Helene (§ 164, gestaltet nach
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Mk 14,65, wie überhaupt ab jetzt Anklänge an die Passionsgeschichte einsetzen), und diese liefert ihnen Jeschu zur Hinrichtung aus.
- Retardierende Momente Aber durch mehrere retardierende Elemente wird das Ende immer wieder hinausgezögert. Zweimal kommt Jeschu, der in der Haft zunächst völlig zusammenbricht, wieder frei. Nach der ersten Befreiung ordnet er an, seine Gefolgsleute sollten sich in ein einheitliches Kapuzengewand kleiden, das vom Scheitel bis zur Sohle reicht und sie unkenntlich macht. In dieser Verkleidung begibt sich die ganze Schar zur Schlachtung der Passahlämmer in den Tempel, und die Behörden sind ratlos, weil sie nicht herausfinden, wer von diesen Kapuzenmännern Jeschu ist. Gaissa, einer seiner Anhänger, der an ihm zu zweifeln begonnen hat, verrät ihn an die Wächter und identifiziert ihn durch eine Verneigung. Bei der anschließenden Gerichtsverhandlung wirft sich Jeschu wieder in Pose(§ 195): Dann begann er und rief mit erhobener Stimme, dass es alle Abtrünnigen hören sollten, und sprach: "Jubelnd will ich mich freuen und frohlocken, weil ich ein Grab finden werde. Dann wird meine Krafr noch größer werden als jetzt, denn meine Gottheit und mein Königtum werden auf der ganzen Welt offenbar werden. Und dies soll euch das Zeichen dafür sein: Drei Tage nach meinem Begräbnis werdet ihr allesamt zu meinem Grabe kommen, aber ihr werdet mich nicht finden, denn ich werde zum Himmel aufsteigen und mich zur Rechten meines Vaters setzen."
Erneut befreien ihn seine Anhänger und fliehen mit ihm aus der Stadt. Durch ein Tauchbad im Jordan tilgt Jeschu seine Verunreinigung und gewinnt seine Zauberkraft zurück. Er bewirkt, dass ein Mühlstein, der drei Personen fassen würde, seine ganze, viele hundert Menschen zählende Schar über das Wasser trägt. Er flüstert einen Zauberspruch, und die Fische versammeln sich, springen aus dem Wasser und dienen ihnen zur Nahrung (vgl. Joh 21,1-14). Auch andere Speisen und Getränke und feine Kleidung produziert Jeschu für seine Anhänger in beliebigen Mengen (das Motiv vom Schlaraffenland). - Gefangennahme und Hinrichtung In höchster Not muss wieder Rabbi Jehuda eingreifen. Er macht sich ein Leinengewand, wie es die Anhänger Jeschus tragen, und hält sich mehrere Tage unerkannt unter ihnen auf, bis er an Jeschus Rock ein kleines Erken-
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nungszeichen entdeckt. Die Gelehrten schreiben zwei freundliche Briefe an Jeschu, erklären sich darin für geschlagen und laden ihn ein, nach Jerusalem zu kommen. Er leistet der Einladung Folge, und dabei ereignet sich, was die christliche Tradition als "Judasverrat" kennt(§ 229f.): Als nun die böse Schar vollzählig mit Jeschu an den Fuß des Berges kam, da fiel Jehuda ihm um den Hals und rief mit lauter Stimme: "Dies ist der Messias. Ihn wollen wir anbeten, und vor ihm wollen wir uns fürchten! Er ist unser Vater und unser König." Da umarmte und küsste er ihn. Alle Gelehrten Israels sahen es und hörten Jehudas Ruf, dass er es sei. Da erhoben sich die, die jenseits des Berges im Hinterhalt lagen, überfielen ihn und gaben ihm in ihrer mächtigen Wut einen heftigen Schlag voller Grausamkeit gegen einen Gott wie ihn.
Vor der Königin, die sich lerztendlich auch von ihm abwendet, wird Jeschu der Prozess gemacht, und die Gelehrten lassen vierzig Tage lang einen Herold täglich ausrufen: "Jeschu der Nazarener wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei getrieben und Israel verlockt und abtrünnig gemacht hat. Wer etwas zu seiner Rechtfertigung weiß, komme und bringe es vor" (§ 245). Aber kein Entlastungszeuge meldet sich. Jeschu wird zu Tode gesteinigt. Sein Leichnam soll anschließend am Holz eines Baumes aufgehängt werden, getreu der Weisung in Dtn 21,2123. Aber als ob er so etwas geahnt hätte, hatJeschu zu Lebzeiten alle Bäume beim Gottesnamen beschworen, "dass sie ihn zum Aufhängen nicht annehmen sollten" (§ 250). Rabbi Jehuda bringt einen riesigen Kohlstrunk herbei, dick und stark wie ein Baum, aber von Jeschu seinerzeit übersehen. Das Aufhängen gelingt, und bei Sonnenuntergang erfolgt das Begräbnis (vgl. Dtn 21,23: "Die Leiche soll nicht über NachtamPfahl hängen bleiben"). - Das leere Grab Rabbi Jehuda erinnert sich an die Vorhersage Jeschus, er werde nach drei Tagen wieder aus seinem Grab herauskommen und zum Himmel auffahren, und begeht vorbeugenden Leichendiebstahl (vgl. Mt 28,13-15). Es gelingt ihm, sich unbemerkt des Leichnams zu bemächtigen und ihn in seinem eigenen Garten in einer Grube unter dem Wasserkanal zu verstecken. Er sagt niemand etwas davon, nicht einmal seiner Frau und seinen Kindern, und begibt sich auf eine Reise in umliegende Ortschaften. In der Stadt wird das leere Grab entdeckt. Die Anhänger Jeschus frohlocken und sehen seine Vorhersage erfüllt. Die Königin fordert von den Gelehrten, binnen sieben Tagen Jeschus Leiche zu präsentieren, sonst müssten sie alle sterben. Mit leichter Verspätung kommt das Rabbi Jehuda zu Oh-
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ren, der frohlockend (§ 269: "Dies ist ja ein Tag froher Botschaft") seine vorbeugende Maßnahme erläutert. Die Gelehrten holen den Leichnam aus seinem Versteck, binden ihn mit den Haaren an den Schwanz eines Pferdes und lassen ihn durch die Stadt schleifen, bis zum Haus der Königin. Das hat Folgen nicht nur für die Leiche, sondern auch für das spätere Erscheinungsbild von Anhängern Jeschus, für das hier eine bissige Ätiologie geboten wird (§ 276): lnfolge des Schleifens durch das Pferd war das ganze Haar seines Kopfes kahl geworden, so dass auf seinem Kopfe nur eine Glatze übrig blieb. Daher gehen die Priester Jeschus bis zum heutigen Tage mit geschorenem Haar und einer Glatze auf ihrem Kop(
Die Königin gibt endgültig den Gelehrten Recht und ordnet die Hinrichtung der Anhänger Jeschus an, was sie mit dem Schriftwort begründet: "Schafft den Bösen aus eurer Mitte weg" (Dtn 13,6, zitiert in§ 282). -Ausblick in die Kirchengeschichte Endlich genug des grausamen Spiels, sollte man meinen, aber die Toledot Jeschu schildern auch noch, was die zwölfJünger Jeschus, die übrig geblieben sind und sich ab jetzt ,,Apostel" nennen (§ 287), in der Folgezeit tun, eine ,,Apostelgeschichte" schließt sich an. Die Christen erstarken mehr und mehr und tragen Zwietracht ins Volk Israel hinein. Das Auge der Gelehrten fällt auf den römischen Rabbi Jochanan (in anderen Toledot-Fassungen Elijahu). Vor allem aufgrund des Tauchbades, das er in § 296 nimmt, trägt er Züge Johannes des Täufers, der hier aus einem "Vorläufer" zu einem "Nachläufer" wird, daneben auch Züge des Apostels und Evangelisten Johannes. Jochanan soll sich den Christen anschließen mit dem Auftrag, "sie ganz aus dem Brauch des israelitischen Glaubens herauszuführen" (§ 292). Er bringt die Christen dazu, die Tora völlig zu verwerfen, nicht mehr den Sabbat zu feiern, sondern den ersten Tag der Woche, und die jüdischen Bet- und Lehrhäuser zu meiden. Weitere Auftritte haben Paulus, Nestorius und Sirnon Kefas. Paulus und Petrus wirken ganz im Sinne Jochanans als Geheimagenten der jüdischen Seite unter den Christen, die das nicht merken, sondern Petrus sogar zu ihrem Oberhaupt bestimmen und ihm einen Turm bauen (den konstantinischen Petersdom), wo Petrus ungestört das Gesetz studieren und koscher leben kann. Paulus und Petrus zementieren den aus jüdischer Sicht wünschenswerten und notwendigen Trennungsprozess. Überraschen muss, dass in dieser Reihe auch Nestorius (5. Jahrhundert) vorkommt. Die Toledot Jeschu sehen ihn aus der Perspektive seiner groß-
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kirchlichen Gegner: Er habe wieder jüdisch~ Riten einführen wollen, und er habe die Gottheit Christi geleugnet. § 336 legt ihm die Worte in den Mund: Und wie könnt ihr gar glauben, dass Jeschu Gort sei? Wie könnte der Versrand den Satz ertragen, dass Gott ein Weibgeborener sei und sterben müsse wie Menschen und Lebewesen, während er selbst gesagt hat, dass er nur ein Prophet sei!?
Aber Nestorius wird in den Toledot Jeschu deswegen nicht etwa positiv beurteilt, im Gegenteil. Sein Eingreifen droht die mühsam erreichte Trennung wieder rückgängig zu machen. Folgrichtig fehlt er im Schlussparagraphen (§ 366), wo Jehuda, Jochanan, Paulus und Petrus als Retter Israels gepriesen werden, deren Andenken zum Segen gereicht. Der Rekurs auf Nestorius könnte aber einen Fingerzeig auf die Entstehungsgeschichte der Toledot Jeschu geben, für die wir damit, neben den Berührungen mit der Polemik bei Celsus, einen weiteren Haftpunkt in der Zeit der Alten Kirche finden (I
(3) Zur Bewertung Es mag als Vorteil erscheinen, dass wir bei der Beschreibung der Toledot Jeschu anstelle von "Jesus" im Einklang mit dem Original den Namen "Jeschu" verwenden können. Dadurch wird ein Verfremdungseffekt erzielt, der für den christlichen Leser den Skandal, den diese Jesusdarstellung für ihn bedeutet, zwar nicht erträglicher macht, aber es ihm vielleicht erleichtert, die Lektüre fortzusetzen. Aber diese Verfremdung beruht letztlich auf einer Täuschung. Der Name "Jesus", den wir so selbstverständlich gebrauchen, ist eine gräzisierte Namensform, wie sie im (griechischen) Neuen Testament verwendet wird. Jesus selbst wurde von seinen Zeitgenossen sicher nicht mit "Jesus" angeredet, sondern mit "Joschua" (o.ä.). Unerbittlich erinnern uns die Toledot Jeschu also daran, dass Jesus ein Jude war, und ein kontroverser Jude noch dazu, und dass er dies für sein Volk geblieben ist. Über die Form, wie hier von jüdischer Seite über die Person Jesu die Auseinandersetzung mit dem Christentum geführt wird, kann man sicher geteilter Meinung sein (und das gilt noch mehr für andere Fassungen der Toledot Jeschu, die noch viel stärker vergröbern). Die Freude, dem Gegner auf gekonnte Art eins auszuwischen und seine eigenen Waffen gegen ihn zu kehren, bricht sich immer wieder Bahn. Die Christen werden als so dumm hingestellt, dass sie die jüdischen Geheimagenten in den eigenen Reihen nicht erkennen. Manchmal verselbständigen sich folkloristische Motive,
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die der puren Erzähllust Auftrieb geben. Aber wir sollten bei all dem nicht vergessen, dass sich, wie eingangs angedeutet, hier die Stimme der Verfolgten zu Wort meldet. Der soziale, religiöse und politische Druck, den eine christliche Majorität ausübte, hat bei der unterdrückten Minorität solche Reaktionen provoziert. Man verspottet, was dem Gegner heilig ist. Dabei sei nicht übersehen, dass im Hintergrund ernsthafte theologische und hermeneutische Fragen aufscheinen. Um nur auf zwei Problemfelder hinzuweisen: Dass es im 1. I 2. Jahrhundert schrittweise zu der Trennung zwischen Judentum und Christentum kam (erinnern wir uns an das Judenchristentum, dem wir in Kap. 3 begegnet sind), ist ein gar nicht so leicht zu erklärender Vorgang. Lange wurde das Problem auf christlicher Seite überhaupt nicht empfunden. Aber der Holocaust im 20. Jahrhundert hat bei den christlichen Kirchen eine Rückbesinnung auf ihre jüdischen Wurzeln ausgelöst. In den Toledot Jeschu erfahren wir auf einmal, dass die Trennung auf jüdischer Seite als Wunschergebnis empfunden wird und man Bewegungen zurück zu den Wurzeln skeptisch betrachtet. Sollte es so kommen, dass wir uns auf einmal in der Rolle der unerwünschten Gäste vorfinden? Die Bibel Israels ist auch die Bibel der Christenheit. Aber mit dieser Feststellung enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Wie man die eine Bibel zu verstehen habe, darüber wird gestritten, und zwar schon in den Toledot Jeschu. Auf der Erzählebene wird Schriftwort gegen Schriftwort gesetzt: Dtn 18,15 gegen Dtn 18,20. Untergründig bieten die Toledot Jeschu einen Kommentar aus jüdischer Sicht zu der Art und Weise, wie von christlicher Seite die Schrift auf Christus gedeutet wird. Auch ehristliehe Exegeten haben inzwischen gelernt, die Schrift des ersten Bundes in ihrem Eigenwert und als Grundlage jüdischen Glaubens und Lebens bis heute zu respektieren. Dass damit schon alle methodischen Probleme aus der Welt geschafft seien, kann man nicht behaupten. Sich auf die Toledot Jeschu einzulassen, mag zunächst etwas abseitig scheinen, aber alles Apokryphe hat etwas leicht Abseitiges an sich, und manchmal lernt man mehr, wenn man nicht mittendrin steht, sondern von der Seitenlinie aus auf das Geschehen blickt.
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Abschluss Literatur. W BAUER, Leben Jesu. - W BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, 21964.- S. BYRSKOG, Story as History.- D. DORMEYER, Evangelium als literarische und theologische Gattung {EdF 263), Darmstadt 1989. - H. FRANKEMÖLLE, Evangelium: Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht (SBB 15), Stuttgart 21994.- T. K. HECKEL, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999. - M. HENGEL, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ: An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, London 2000. - M. McNAMARA, The Apocrypha in the Irish Church, Dublin 1975.
Was sind "apokryphe" Evangelien? Von dieser Frage sind wir in der Einführung ausgegangen. Um sie zu beantworten, müssten wir zunächst wissen, was ein "Evangelium" überhaupt ist, und das stellt- der Selbstverständlichkeit, mit der wir mit dem Begriff umgehen, zum Trotz- ein kaum weniger dorniges Problem dar. Auf prägnante Weise hat Martin Luther den frühchristlichen Sprachgebrauch in Erinnerung gerufen, wenn er feststellt, es sei nicht recht, "dass man vier Evangelisten und vier Evangelien zählet", weil es nur ein einziges Evangelium gebe, und den Inhalt dieses einen Evangeliums hat er folgendermaßen definiert (Weimarer Ausgabe. Bd. 12 [1891] 259, in der Vorrede zu seiner Auslegung des ersten Petrusbriefs): Evangelium aber heißet nichts anderes, denn eine Predigt und ein Geschrei von der Gnad und der Barmherzigkeit Gottes, durch den Herren Christum mit seinem Tod verdienet und erworben. Und ist eigentlich nicht das, das in Büchern steht und in Buchstaben verfasst wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und ein lebendiges Wort, und eine Stimm, die da in die ganze Welt erschallet und öffentlich wird, ausgeschrien, dass man's überall höret.
Von der mündlichen Predigt, die das Evangelium zum Inhalt hat, zu einer schriftlichen Gattung, die den Namen "Evangelium" schon im Titel trägt - das sind die Eckpunkte einer Entwicklung, die nicht bruchlos verlief und die vor allem nicht so aufgefasst werden darf, als würde der kerygmatische Evangeliumsbegriff (d. h. Evangelium als mündliche Verkündigung) durch die Evangelientexte einfach verdrängt. Beide Größen bleiben dynamisch aufeinander bezogen. Eine wichtige Etappe innerhalb dieses Prozesses markiert der Eingangsvers des Markusevangeliums: ,,Anfang des Evangeliums Jesu Christi" (Mk 1,1). Die Botschaft vom Gottesreich, die Jesus selbst verkündet hat, und die frohe Nachricht von Gottes Handeln in und an Jesus von Nazaret werden bei Markus in eine Erzählung umgesetzt, die mit dem Auftreten Johannes des Täufers beginnt, von Jesu Worten und Taten, sei-
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nem Leiden und Sterben berichtet und mit der Ansage seiner Auferstehung endet. Damit war der Grundtyp dessen geschaffen, was wir bis heute unter einem Evangelium verstehen. Wenn wir von einem Grundtyp sprechen, der sich durchsetzen sollte, bedeutet das nicht, dass es nicht auch andere Möglichkeiten gab, dem einen Evangelium schriftlichen Ausdruck zu verleihen. Schon die Teilstücke, die in das Markusevangelium eingingen, waren auf ihre Weise "Evangelium": die Passionsgeschichte, kleine Sammlungen von Herrenworten und Gleichnissen, Zyklen von Wundergeschichten und Apophthegmata. Der kerygmatische Evangelienbegriff konnte auch weiterhin seine Selbstständigkeit verteidigen und Verbindungen mit anderen literarischen Formen eingehen. Denken wir nur an das "Evangelium der Wahrheit", eine theologische Meditation, zurück (s.o. Kap. 7c). Nur zu sagen, "Evangelium" werde hier in uneigentlichem, analogen Sinn verwendet, ist zwar nicht völlig falsch, reicht aber zur Klärung noch nicht ganz aus. Auch die Dialektik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist dem Evangelium von seinem Ursprung her eingeschrieben. Insofern kann es nur als konsequent angesehen werden, wenn die schriftliche Fixierung eines bestimmten Stadiums und bestimmter Formen die mündliche Weitergabe der Überlieferung nicht stoppen konnte und wollte, ganz im Gegenteil. Auch die schriftlichen Texte waren primär zur Verlesung im Gottesdienst und in der Versammlung bestimmt. Auf diesem Wege gingen sie in das kollektive Gedächtnis der Zuhörer ein und wurden zur weiteren Verwendung freigegeben. Hinzu kommt in der Antike ein prinzipielles Misstrauen gegen die Schriftlichkeit, der schon Platon beredten Ausdruck verliehen hatte. Die Schriftlichkeit galt als Notbehelf; man brauchte sie als Gedächtnisstütze, aber sie sollte die viva vox, die "lebendige Stimme", die, mit Martin Luther zu reden, "in die ganze Welt erschallet", nicht ersetzen oder verdrängen. Noch für lrenäus von Lyon, einen entschiedenen Verteidiger der Vierevangeliensammlung, haben Ende des 2. Jahrhunderts Worte des Herrn, die nach wie vor auch aus (primärer oder sekundärer) mündlicher Tradition stammen können, eine höhere Autorität als die schriftlichen Evangelien (was es unter anderem auch als sinnvoll erscheinen lässt, die "versprengten Herrenworte" in diesem Zusammenhang nicht außer Acht zu lassen). Spätestens bei lrenäus zeichnet sich schon deutlich ab, dass das eine Evangelium in vierfacher Fassung in den Kanon der frühen Kirche eingeht. Damit soll nicht behauptet werden, der Kanon des Neuen Testaments sei um 200 schon abschließend definiert gewesen; er befand sich zu der Zeit
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noch im Prozess des Werdens. Aber davon müssen die Geschichte der Vierevangeliensammlung und die Autorität, die man ihr beimaß, noch einmal unterschieden werden. Neuere Forschungen tendieren wieder zu der Annahme, dass die Sammlung der vier kanonisch gewordenen Evangelien spätestens um die Mitte des 2. Jahrhunderts als feste Bezugsgröße vorlag. Die Entstehung dieser Sammlung ist wie die Entstehung des ganzen Kanons auch ein historisches Faktum, das historisch ernst genommen und gewürdigt werden will. Das Plädoyer, um der freien historischen Forschung willen die Kanongrenzen prinzipiell zu ignorieren, läuft selbst Gefahr, unhistorisch zu argumentieren. Dass es nicht leicht fallt, apokryphe Evangelien in diesen vielschichtigen Vorgang einzuzeichnen, liegt auf der Hand. Um wenigstens einen beträchtlichen Teil der einschlägigen Texte zu erfassen, muss man zu sehr weiten Umschreibungen greifen: Es handelt sich bei ihnen um theologische Gebrauchstexte der frühen Christen (nicht: der einen Kirche), die formale, inhaltliche oder terminologische Affinitäten zu jenen Schriften aufweisen, die als Evangelien kanonisch geworden sind. Diese Formulierung lässt für frühe Apokryphen die Möglichkeit offen, dass sie unabhängig von oder in bewusster Konkurrenz zu den kanonisch gewordenen Texten entstanden sind. Aber es ist auch nicht zu verkennen, dass sehr rasch die Bezugnahme auf die vier Evangelien, die kanonisch werden sollten, einsetzt und dass man sie zu harmonisieren, zu ergänzen und fortzuschreiben sucht. Auffallig ist ja bei den nicht nur fragmentarisch überlieferten, sondern vollständig erhaltenen Apokryphen das Bestreben, an den Rändern anzusetzen: bei der Kindheit und bei der Passion und Auferstehung Jesu, und entsprechend auch die Biografie weiterer Personen aus seinem Umfeld aufzufüllen. Was die treibenden Kräfte für diese Form der Schaffung von "ergänzenden" Apokryphen angeht, gilt immer noch, was Walter Bauer seinerzeit schrieb: "Frommer Wissensdrang, naive Neugier, Freude an bunten Bildern und Märchen sind die harmloseren Motive dieser Art, die Macht gewinnen über das LebenJesu" (Leben Jesu 521). Hinzuzufügen wäre nur: Sie gewinnen auch Macht über das Leben Marias, der Mutter und Josefs, des Vaters, über Johannes den Täufer und Josef von Arimatäa, über Nikodemus, Bartholomäus-Nathanael und Pilatus und andere mehr. Diese Neugier, dieser Drang, mehr wissen zu wollen, hörte mit dem Ende der Zeit der Alten Kirche nicht schlagartig auf. Neue Apokryphen entstehen, teils durch Wiederverwendung und Expansion vorhandenen Materials, das ganze Mittelalter hindurch und dienen als Erbauungsliteratur für die Gläubigen. Die irische Kirche mit ihrem reichen, teils noch un-
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gehobenen Schatz an mittelalterlichen Apokryphen gibt dafür ein besonders schönes Beispiel ab, kennt man dort doch z. B. auch die anderweitig nicht mehr bezeugten Klagelieder von vier Müttern nach der Tötung ihrer unschuldigen Kinder oder die Passion des Soldaten Longinus (s. McNamara). Für diese Spätphase stellt sich mit Schärfe ein Abgrenzungsproblem ganz anderer Art: Was unterscheidet solche apokryphen Schriften noch von Heiligenlegenden? Gehören die Apokryphen letztlich ins weite Feld der Hagiografie? Gerade in der Spätphase wird man nicht mehr allen apokryphen Produkten Bauers "naive Neugier" zugutehalten können. Es zeichnet sich auch die Möglichkeit der bewussten Fälschung ab, wie wir an Einzelbeispielen (geheimes Markusevangelium, Barnabasevangelium) gesehen haben. Das ist der dunkle Schatten, der das Entstehen neuer Apokryphen fortan begleitet. Längst nicht mehr ganz harmlos sehen, vom Standpunkt eines lrenäus oder eines Origenes betrachtet, auch die Motive für die Entstehung einer anderen Gruppe von apokryphen Evangelien aus. Dass sich Gläubige mit gnostischen Neigungen ihre eigenen Bezugstexte schufen, wussten wir schon aus den Kirchenvätern; namentlich Epiphanius von Salamis wartet hier mit immer neuen Details auf. Inzwischen ist dieser Bestand durch die Funde von Nag Hammadi wesentlich expandiert. Die augenfälligste Schnittstelle bildet das Thomasevangelium, weil wir griechische Fragmente dieser Spruchsammlung aus Papyrusfunden schon kannten. Von der Form her charakteristischer sind die Dialogevangelien, daneben Offenbarungsschritten und theologische Traktate allgemeiner Art und nicht zuletzt Auslegungen der biblischen Urgeschichte. Der Anschluss an die Evangelienschreibung, die kanonisch werden sollte, scheint teils bewusst gesucht worden zu sein, entweder über die Verwendung des Terminus "Evangelium" oder durch die Rückbindung an eine Autoritätsfigur wie Thomas, Philippus und Johannes oder auch - und hier ist die Gnosis für eine Überraschung gut - Maria Magdalena. Die Erforschung der Apokryphen kommt in Zukunft weniger denn je ohne die Gnosisforschung aus, und die Gnosisforschung wird auf die Apokryphen mehr denn je angewiesen sein. Vielleicht ist es ein willkommener Nebeneffekt der vorliegenden Einführung, dass sie nicht umhin konnte, auch Basisinformationen über das Schrifttum von Nag Hammadi und über die frühchristliche Gnosis mitzuliefern. Eine Lücke wird im Rückblick besonders schmerzlich bewusst: das weitgehende Fehlen von authentischen judenchristliehen Evangelien. Die wenigen Fragmente, die wir über die teils konfus wirkenden Fremdreferate
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noch besitzen, sind eher geeignet, das Bedauern über diesen Verlust noch zu steigern, zumal er ein Indiz für die keineswegs friedlich verlaufene Trennung von Judentum und Christentum ist. Bewusst haben wir deshalb auch ein Anti-Evangelium als jüdische Antwort zur Kenntnis genommen. Das bringt uns wieder zu Walter Bauer, der nicht nur ein für seine Zeit bewundernswürdiges und immer noch höchst lehrreiches Werk über "Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen" geschrieben hat. Ein anderes seiner Bücher trägt den Titel "Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum". Darin vertritt er die These, dass die Ketzerei der Rechtgläubigkeit zeitlich vorausging, und er belegt das auch mit apokryphen Schriften, für Ägypten z. B. mit dem Ägypterevangelium (griech.) als Basistext der Heidenchristen und dem Hebräerevangelium als Basistext der Judenchristen. Bauers Vorstoß erweist sich bis heute als ebenso anregend wie kontrovers. Seine beiden Kronzeugen für Ägypten haben wir oben (in Kap. 3 und 4) ein wenig anders eingestuft, und vermutlich wird man seine Grenzziehung wieder etwas aufWeichen müssen. Die beiden Größen "Rechtgläubigkeit" und "Ketzerei" haben sich nicht in zeitlichem Nacheinander säuberlich abgelöst, sondern bestanden längere Zeit nebeneinander her, mit mannigfachen Übergängen, die für manche Texte, apokryph gewordene und kanonisch gewordene (denken wir nur an die Kontroversen um den vermeintlich gnostischen Charakter des Johannesevangeliums), eine exakte Zuordnung erschweren. Man wird in manchen Fällen sogar so weit gehen müssen, die Brauchbarkeit dieser Kategorien überhaupt zu bezweifeln. Schließen wir daher mit einem apokryphen Text, der sich als Integrationspunkt anbietet. Er hat Wurzeln in der jüdischen Weisheitsüberlieferung, klingt in der synoptischen Jesustradition an, ist in unseren oben behandelten Schriften für das Hebräerevangelium und das Thomasevangelium bezeugt, zieht sich bezüglich seiner Basismotive vom Suchen, vom Finden und von der Ruhe durch zahlr:eiche weitere Texte hindurch (s. das Sachregister) und lässt sich nicht zuletzt auf die geheime Mitte vieler apokrypher Evangelien beziehen, auf die Suche nach Deutung und Bedeutung von Wort, Werk und Person des Jesus von Nazaret (s. EvThom lf.): Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Wenn er fand, wird er betroffen sein. Wenn er betroffen ist, wird er zu staunen beginnen. Wenn er zu staunen begann, wird er herrschen. Wenn er zu herrschen begann, wird er Ruhe finden.
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Stellenregister ALTES TESTAMENT Gen 1,27f.:81, 153,219 2,16f.: 80 2,25: 81, 154 3,16: 79f. 19,17: 28 49,11: 44
Sir 6,27f.: 57, 160 24,7:60
Lk Weish 7,27:60
NEUES TESTAMENT
Lev
Mt
19,18: 65
2,1-12:71, 123 3,14f.: 66, 74 4,8:58 5,22: 68 6,33:29 7,7:57 12,9-14: 67 12,40: 68 18,20: 148 18,21f.: 68 19,16-24: 63-65 21,1-3: 70 27 ,24f.: 122f. 27,52f.: 126, 128 27,65: 68f.
Num 5,21f.: 95 15,32-36: 21
Dtn 18,20: 266f., 272 21,21-23: 113f., 269 Ps 2,7:74,266 22,2: 114 24,7: 127 118,22f.: 155 Jer 8,4: 33 Jes 1,3: 107 11,2: 59f. 57,19: 25
Ez 33,20:26
Hab 3,2LXX: 107
16,9-20: 21, 110, 124 16,14 W: 22
Mk 1,40-44: 38, 122 4,14-20: 151 5,25-34: 123, 197f. 6,4: 155 6,35-44: 197 8,27-30: 151 9,49: 27 10,17f.: 51,65 10,34f.: 50 12,1-11: 38, 155 12,13-17: 38 13,21f.: 147 14,38: 28 14,51: 50f.
1,35: 133, 168 2,41-52: 100, 103, 179 6,5 D: 20f. 12,49: 27 17,20-23: 147,207 18,1: 27 22,15: 73 23,34:70 23,43: 115, 127 23,46: 123 24,39: 198 Joh 1,47-51: 131f., 136 8,1-11:33,59 10,30-32: 36 14,9: 30 14,22: 145 18,16: 70 19,13: 113 19,25: 160, 168 19,26f.: 246, 254 19,34f.: 46 20, 17f.: 46, 209 Apg
14,22: 28 20,33-35: 19 1 Kor 2,9: 152 10,23: 21 14,34f.: 19 2Kor 12,9: 19
280
Stellenregister
Gal
EvNik
3,27f.: 81
l,l2f.: 28
Pro!.: 119f. 1,1-6: 122 2,1-5: 122 9,1-5: 123 11,1-3: 123 13,1-3: 124 15,1-6: 125 16,1-8: 125f. 17, lf.: 126 20,1-3: 126f. 21,1-3: 127
2 Petr
EvPetr
1,16-18: 110
l,lf.: 113 2,3-5: 113 3,7: 113 4,10: 114 4,13f.: 114 5,15-19: 114 7,26: 115 8,30-33: 115 10,39-42: 115f. 11,44-49: 116 12,50-54: 116 14,60: 117
llhess
4,15-17: 19f. 5,21: 29f. 2Tim
2,17f.: 170 Jak
lJoh
1,1-3: 197
JÜDISCHES SCHRIFTTUM syrBar
29,5:24
CHRISTLICHE APOKRYPHEN ActPetr
10:30 EpAp
1: 196 2: 196f. 5: 197 llf.:l98 14: 199 17: 199 21-25: 199f. 31: 200 33: 200f. 43:20lf.
8,1: 136 10,3: 136 20,1: 137 Protev
4,lf.: 9lf. 4,4:92 6,1-3: 92f. 13,1: 94 14,lf.: 94f. 17, lf.: 95, 243 18,2: 95 19,1-3: 96 19,2: 98 22,2:96 23,3:97 24,2:97 25,1: 89, 97f. Ps.-Clemens
Horn II 51,1: 29 Ps.-Mt
3,2: 106 13,3: 106 14,1: 107
K'Ihom
QuaestBarth
2,1-5: 101 4,1: 101 6,4: 101 9,1-3: 102 10,2: 102 ll,lf.: 102 12,lf.: 102 13,lf.: 102 14,lf.: 103 15,1-4: 103 16,lf.: 103 18,lf.: 103 19,4: 103
2,4: 133 2,15-21: 133 4,12-14: 134
LibBarth
1,2: 135 2,2: 135
Christliche Papyri
PBerlin 11710: 35 PBerol 22220: 42-48 PCairo 10735: 36 PEg 2:36-40 PKöln 255: 36f. PMerton 51: 35 POxy:
1: 148, 156 210:35 654:56,146-147 655: 158
Stellenregister
840:40f. 1081: 188 1224:25,35 2949: 112 3525:204,208 4009:112 PRyl463: 204,211,212 PVindob g 2325: 35f., 112
APOSTOLISCHE VÄTER Bacn 7,11: 23
281 Epiphanius von Sal~ ·Panarion (Adversus haereses) XXVI 3,1: 257f. XXVI 13,2f.: 161 XXX 13,2f.: 72, 74 XXX 13,4f.: 72f. XXX 13,7f.: 73f. XXX 22,4f.: 73 LXXVIII 23,8: 242 Eusebius Hist Eccl IV22,8: 62 V 10,3: 55 VI 12,1-6: 111
Tertullian Apol21,24: 121 De baptismo 20,2: 28
NAG-HAMMADISCHRIFTTUM AJ (BG) p.19,13-21,6: 216 p.22,10-16: 217 p.23,19-24,6: 218 p.51,15-20: 219 p.55,9-13: 219 p.76,7-15: 221
2Clem 4,5:69 12,2: 81
Hieronimus Adv Pelag 3,2: 53f., 66, 68 In Jes 11,2: 59 In Mt 6,11: 67 In Mt 12,13: 67f. Vir Ill 2: 61
KIRCHENVÄTER
Hippolit RefV 7,20: 142
Dial 1: 235 15f.: 236 21-23:236 35f.: 237f. 37:238 49-53: 238 59:240 84f.: 239 89-94: 239f.
lrenäus von Lyon Adv. Haer I 20,1: 100 I 29,1-4: 215 I1,1:258 III 11,9: 176 V 33,3f.: 24
EvÄg p.41,7-12: 84 p.51,5-14: 84 p.58,23-59,4: 85 p.63,10: 85 p.64,1-18: 85 p.69,9-22: 86
1 Clem 13,2: 22f.
Aphrahat Dem 4,16: 27 Clemensvon Alexandrien Ex Theod 2,2:28 78,2: 192 Strom I 158,2: 29 II 45,4: 256 II 45,5: 56 III 45,3: 78f. III 63,1: 79 III 66,1f.: 80 III 92,2-93,1: 81 V 96,3:56
Justin 1 Apol35,9: 121 Dial 35,3: 25 47,5:26 Origenes In Jer 3,3: 27 In Mt 15,14 (lat.): 63-66 InJoh2,12: 58
EvMac p.7,1-9: 206 p.7,10-20: 206 p.7,20-22: 206 p.8,12-9,5: 207 p.9,5-10,8: 208 p.10,9-16: 209 p.10,16-22: 209 p.15,1-22: 210
282
p.l6,1-17,9: 210f. p.l7,10-18,5: 212 p.l8,6-21: 212f. EvPhil 1: 163 4: 164 6: 164 11: 166 14: 167 17: 167 21: 170 23: 170f. 26: 169 29: 163f. 32: 168 43: 17lf. 48: 164 49: 165 50: 167 51: 165f. 52: 165 53: 162f. 54: 171 65: 174 67: 162, 176 68: 172 72: 174 76: 173 82: 173 90: 170 91: 162, 169 92: 169 93: 167 95: 172 99: 167 Evlhom 1: 145f.
Stellenregister
2: 56, 146f. 3: 147 4: 148 6: 149 7: 149f. 9: 150 11: 148 13: 151 17: 152 22: 152 23: 149 28: 153 30: 148 31: 155 37: 154 39: 157 42: 149 50: 154 58: 147 65f.: 156 77: 156 90: 147 97f.: 156f. 108: 151 113: 148 114: 158 EvVer p.l6,31-17,4: 177 p.l6,31-35: 141 p.l8,21-31: 178 p.l9,17-34: 179 p.20, 10-28: 179 p.22,2-15: 180 p.25,25-26,25: 181 p.29,8-28: 181 p.30,13-16: 181 p.31 ,35-32,22: 181 p.33,1-9: 182
p.36,19-34: 182 p.38,7-17: 183 p.42,11-38: 184 Liblhom p.l38,1-10: 226 p.l38,39-139,16: 227 p.l39,24-42: 228 p.l40,21-31: 229 p.l41,10-31: 230 p.l41,41-142,2: 229 p.l42,19-143,5: 231 p.l43,11-19: 23lf. SJC(NHC) p.91,10-22: 189 p.94,5-95,18: 190 p.97,19-24:191 p.l01,9-16: 191 p.l07,11-25: 192 p.117,8-21: 193 p.119,8-17: 193
GRIECHISCHRÖMISCHE AUTOREN Diogenes Laertios Vit Phil6,37: 32
HomHymn 4,45f.: 105 Platon Pol588B-589B: 140,150 Thukydides II 97,4: 19
283
Sach- und Namenregister
Abschiedsreden 44, 191, 207,253 Adam(as) 79ff., 83f., 94, 126f., 132, 137, 166, 168, 218ff. Agrapha 16-34, 46, 150, 154,194,283 Amplifikation 52, 88 Andreas 211f., 246, 256 Apokalypsen 8, 156, 203 Apokryph(en) 7-12, 16-18, 42, 87-90, 110, 128, 135, 138, 140, 146, 188, 201, 222, 242, 254-457, 262, 273-277 Apophthegma 20, 274 Apostel 42, 43-46, 54, 75, 138, 192, 196f., 247f., 253f., 270 Apostelakten 8, 30, 33, 138,187,221,253 Apostolische Väter 7, 22, 256 Barnabas(evangelium) 256,258,261 Bartholomäus 55, 130138, 191, 196, 248 Barbelo 215, 222 Brautgemach 172-174, 201,238,241 BriefS, 48f., 81,129, 187, 189, 194-197, 203,221,224f. Chorschluss 100, 102 Decretum Gelasiuamum 8-12,90,131,242244,255f.
Dialog 44, 46, 78, 110, 112f., 131, 186-188, 193f., 199, 215, 223-225,234 Doketismus 74, 98, 105, 108, 111, 114, 118, 174, 181, 197 Enkratismus 77-81, 87, 231,233,240 Eucharistie 44, 46, 61, 169-171,172-174, 199 Eva 79, 94, 134, 137, 220,257f. Evangelium 8, 83, 88, 110, 138, 140f., 158f., 175f., 186f., 193f., 216,262,273f.
Jakobus 60f., 89, 97f., 103,248 Johannes, Apostel und Evangelist 46, 70f., 216f.,220,246,270 Johannes der Täufer 66, 72-74,89f.,97, 109, 126f.,270f. Josef, Vater Jesu 70f., 8991,93-96,101-103, 108f., 168,264 Josef von Arimathäa 70, 113, 118, 124-126, 128, 130, 135 Judas Iskariot 24, 108, 116, 135, 258, 267-271 Judenchristentum 53, 61, 65, 67, 69, 72-76, 164,272,276f.
Freer-Logion 21f. Getsemani 28, 42, 43-46, 47 Gleichniss(e) 150, 155157, 164-166, 174f., 179-183, 185,20lf., 228f.,237 Gnosis, gnostisch 21, 84, 87, 105, 139-141, 144, 154, 160, 167, 174f., 179f., 185, 187, 192,201,217f.,22lf., 241,258,276 Goldene Regel 22 Himmelsreise, Himmelfahrt 45, 47, 186f., 202, 223f. Höllenfahrt 116, 118, 126f., 13lf.,200
Kanon(isch) 8f., 16, 274f. Koran 30f., 33 Kreuzigung 46, 85, 114116, 122-124, 178f., 185, 198 Levi 117, 125,216f. Lieblingsjünger 51, 70f., 169,226 Maria Magdalena 46, 70, 116, 136, 158, 168, 191, 192f.,205,208214,236-240,244 Maria, Mutter Jesu 70, 88, 90-98, 103, 106-108, 133-136, 168f., 198f., 205,242-254,264 Markus 59f., 247, 253
284
Matthäus 54, 74f., 150f., 190f.,212,226,233237,239f.,248 Mündlichkeit 9, 39, 81, 159,274 Nag Hammadi 7f., 10, 77, 82, 139f., 157, 187f., Nathanael35, 13lf., 136 Nikodemus 50, 118-123, 128 Papias 24, 54, 58f. Paulus 18f., 24, 152f., 200f., 247, 270f., Petrus 35f., 66, 110-112, 115, 117, 150f., 158, 196,206,208,211213,246f.,25lf.,270 Philippus 16lf., 169f., 190 Pilatus 113, 115-117, 120-123, 128-130 Prophet(ie) 20, 26, 59f.,
Sach- und Namenregister
151, 155,200 Ruhe, Ruheort 57, 147, 178, 182, 184, 198, 211,229f.,234f.,239, 241 Sabbat 21, 53, 67, 101, 113,125,182,265 Salbung 116, 171-173, 182f. Salome 78f., 90, 96, 136, 240,264 Seelenaufstieg 154, 161, 207,209-211,214, 227,235,238 Seligpreisung (Makarismus) 21, 44, 147f., 181,209,229,232 Seth 83-87, 126, 220 Sirneon 97, 125f., 128, 264 Sophia 168f., 173, 178, 189, 19lf., Suchen und Finden 56f.,
146--148, 160, 178, 207,229f.,234,236, 238,241,256,277 Taufe Oesu) 41, 51, 54, 59f.,66, 73,170-173, 237 Thomas 96, 99, 137, 143, 145f., 150f., 190, 192, 223-233,235-238, 246f. To Ioudaikon 66, 68f. Verklärung 45, 47, 58, 110, 190, 209 Weckruf 147, 156, 190, 206 Weheruf 41, 23lf. Wunder 31, 39, 67, 70, 96, 100-104, 107, 121-123, 197f., 248, 266f.
285
Autorenregister Aland, K. 141 Asin y Palacios, M. 16f., 31f. Attridge, H. W 175, 177 Baars, W 99 Bammel, E. 262 Bauer, W 14, 273, 275-277 Bell, H.l. 36 Berger, K. 13, 16, 18f. Bernabe Pons, L. F. 261 Bertrand, D. A. 41, 72 Bethge, H. D. 139 Beyers, R. 105, 108 Beyschlag, K. 14, 11 0 Blatz, B. 141, 204, 233, 255 Böhlig, A. 82 Boer, E. de 204 Bovon, F. 14, 40f., 88 Brown, R. 110 Byrskog, S. 7, 9, 15, 159, 273 Cameron, R. 14 Carleton Paget,]. 53 Ceming, K. 13, 118 Charlesworth, J. H. 14 Cherix, P. 130 Cirillo, L. 261 Clayton, M. 242, 244 Gijsel, J. 105f. Conick, A. D. de 159 Crossan, J. D. 9, 14, 110, 113, 117 Cullmann, 0. 89, 99, 104 Demandt, A. 129 Dietzfelbinger, K. 13, 139 Di Segni, R. 262 Dobschütz, E. von 10, 255f.
Döpp, S.15 Dormeyer, D. 273 Duensing, H. 194f.
Hornschuh, M. 194 Howard, G. 72 lzydorczyk, Z. 118f.
Elliott,]. K. 14, 118, 129, 131,242,255 Emmel, 4lf.. , 233f. Erbetta, M. 14 Esbroeck, M. van 242, 244 Fieger, M. 142 Fletcher, J. E. 258 Foerster, W 175 Frankemölle, H. 273 Franzmann, M. 139 Fremaux, M. 261 Frey,]. 42, 62, 159 Fuchs, A. 111 Geerard, M. 14 Geoltrain, P. 7, 14 Klostermann, E. 13 Gounelle, R. 118f. Gronewald, M. 36-38 Guistolisi, E. 261 Haibach-Reinisch, M. 242 Hartenstein, J. 15, 186f. 194,202,204,213f., 216 Heckel, T. K. 273 Hedrick, C. W 42, 47 Heldermann, J. 99, 175, 178 Hengel, M. 273 Hennecke, E. 7 Hills, J. V. 194, 202 Hock, R. F. 88f., 99 Hörmann, W 139 Hofius, 0. 16f.
Janssen, M. 13, 82, 139, 175, 188 Jenkins, P. 15 Jeremias, J. 15, 16f., 35f., 40 Käser, W 21 Kaestli, J. D. 15, 130, 135 Karawidopulos, J. 32 Klauck, H. J. 10, 82, 160, 255,262 Klijn, A. J. F. 15, 53, 55, 6lf., 69-72 Koester, H. 7, 9, 15, 36f., 186,233f. Kollmann, B. 258 Krause, M. 175 Krauss, S. 262, 271 Layton, B. 139, 177, 242, 244 Liebenberg, J. 142 Linges, S. M. 258 Lüdemann, G. 13, 82, 139f., 175, 188 Lührmann, D. 7f., 13, 15, 35-37,40,48,53, 55, 59, 72, 77,110-112, 141,188,204,255 Manns, F. 242 Mara,M.G.111 Marguerat, D. 15 Marjanen, A. 233 Markschies, C. 7, 175 Maurer, C. 110 Mayeda, G. 36 McGuire, A. 139
Autorenregister
286
McNarnara, M. 273, 286 Merke!, H. 48 Meyer, A. 58 Meyer, M. W 14, 48, 51, 139 Michaelis, W 13, 118 Miller, R. ]. 7, 9, 14 Mimouni, S. C. 7, 15, 53, 55,62, 72,242-244 Mirecki, P. A. 42, 47 Moraldi, L. 14 Morenz, S. 109 Morris, W G. 14, 16 Müller, C. D. G. 194f. Neirynck, F. 15 Nord, C. 13, 16, 18f. Onuki, T. 214 Oudenrijn, M. A. van den 129 Parrott, D. M. 188 Peres, J. N. 194 Perkins, P. 186 Petersen, S. 15, 77f., 80, 158, 168, 186, 204, 213f., 233, 239f. Piiiero, A. 15 Plisch, U. K. 14, 42f., 82, 141, 160, 204, 223, 233 Preuschen, E. 13 Puech, H. C. 204, 255
Ragg, L. u. L. 261 Rebell, W 7f., 15, 139 Reinink, G. J. 53 Resch, A. 15f., 18f., 26f., 75 Rizzardi, G. 261 Robinson, J. M. 113, 139 Rudolph, K. 186 Santos Otero, A. de 14, 35,99,255 Scheidwiler, F. 118, 129, 130 Schenke, H. M. 13, 42, 139, 160, 162, 165, 175, 188,204, 214, 223-225,207,230 Schindler, A. 13 Schirrmacher, C. 261 Schlichting, G. 262-265 Schmidt, C. 194, 200, 203 Schmidr, K. L. 15 Schmidt, P. L. 53f. Schneemelcher, W 7, 13, 35f., 40f., 77, 110, 129, 130 Schneider, G. 88f., 99, 104f., 108f. Scholten, C. 223 Schottroff, L. 213 Schröter, J. 7, 141, 159 Schwertner, S. 13 Skeat, T. C. 36 Smid, H. R. 89
Sox, D. 261 Smith, M. 48f. Strecker, G. 53, 55, 62, 72 Stroker, W D. 16, 18 Strycker, E. de 89 Till, W C. 188, 204, 214 Tischendorf, C. von 13, 99, 105, 118f. 121, 242,245 Turner, J. D. 139, 223, 225 Turner, M. L. 161, 162 Uro, R. 142, 159 Vaganay, L. 111 Valanrasis, R. 142, 154f. Vielhauer, P. 15, 53, 55, 62, 72, 77,99,104 Wacker, M. T. 213 Wairz, H. 61 Wajnberg, I. 194-196 Waldstein, M. 212, 222 Weidinger, E. 13 Werlitz, J. 13, 118 Williarns, M. A. 214, 216 Wisse, F. 82, 214 Yuseff, M. A. 261 Zöckler, T. 159