Zu ihrem
Gedächtnis... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge
Elisabeth Schüssler Fi...
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Zu ihrem
Gedächtnis... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge
Elisabeth Schüssler Fiorenza ehr. Kaiser
Gütersloher Verlagshaus
Das Christentum ist eine geschichtliche Religion. Für seine gesamte Geschichte wurde weitgehend verbindlich, was in der leit seines Ursprungs geschah. Das Verhältnis des Christentums zu den Frauen entwikkelte sich dabei - so würden die meisten Frauen sagen - von den Anfängen an spannungsreich und wurde zusehends problematischer. "lu ihrem Gedächtnis ..." versucht durch eine bewußt kritisch-feministische Hermeneutik und konsequent historische Forschung die wahre Natur dieses Verhältnisses neu zu entdecken, und zwar von der leit unmittelbar vor Jesus bis hinein ins 3. Jahrhundert. Die Autorin: Elisabeth Schüssler Fiorenza ist Professorin für Neues Testament an der Harvard Universität und bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Feministischen Theologie und Exegese.
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2. Auflage
Elisabeth Schüssler Fiorenza Zu ihrem Gedächtnis ...
Elisabeth Schüssler Fiorenza
Zu ihrem Gedächtnis ... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christine Schaumberger
ehr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus
Titel der Originalausgabe: In Memory of Her A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins ... © 1983 by Elisabeth Schüssler Fiorenza The Crossroad Publishing Company
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Zu ihrem Gedächtnis ... : eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge / Elisabeth Schüssler Fiorenza. Aus dem amerikan. Engl. übers. von Christine Schaumberger. - 2. Aufl. - Gütersloh : Kaiser; Gütersloh : Gütersloher Verl.-Haus, 1993 Einheitssacht.: In memory of her
ISBN 3-579-02073-0
ISBN 3-579-02073-0 2. Auflage 1993 © Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1988 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ingeborg Geith, München Gesamtherstellung: Druckerei Sommer GmbH, Feuchtwangen
Wo immer auf der ganzen Welt das Evangelium verkündet wird, da wird zu ihrem Gedächtnis erzählt werden, was sie getan hat. (Mk 14,9)
Für Christina Marlene Schüssler Fiorenza
Wir sind zusammen, mein Kind und ich. Mutter und Kind, ja, doch in Wirklichkeit Schwestern gegen alles, das uns verweigert, was wir sind. Alice Walker
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Inhalt Einleitung Auf der Suche nach dem Frauenerbe .
II
TEIL I SEHEN - BENENNEN - WIEDERHERSTELLEN.
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1. Kapitel Auf dem Weg zu einer kritisch-feministischen Hermeneutik.
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Modelle der Bibelinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . Die Frauenbibel (The Woman's Bible) . . . . . . . . . . . Das neo-orthodoxe Modell feministischer Interpretation . Das wissenssoziologische feministische Modell . . Kritisch-feministische Hermeneutik der Befreiung. 2. Kapitel Auf dem Weg zu einer kritisch-feministischen Methode. Androzentrische Übersetzungen und Interpretationen. Androzentrische Selektion historischer Traditionen. Patriarchale Kanonisierung und ihre Funktion. . . . Androzentrische Projektion. . . . . . . . . . . . . . Historische Imagination und androzentrische Texte. 3. Kapitel Auf dem Weg zu einem feministischen Modell historischer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Frühchristliche Anfänge: Die Enterbten und die Marginalisierten. Konsolidierung und Institutionalisierung: Liebespatriarchalismus. Kritische Einschätzung . . . . . . . . Zum Problem der Frauengeschichte . . . . . . . . . . . . . . ..
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33 42 52
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Inhalt
TEIL 11 ZU IHREM GEDÄCHTNIS FRÜHCHRISTLICHE FRAUEN GESCHICHTE ALS GESCHICHTE DER NACHFOLGEGEMEINSCHAFT VON GLEICHGESTELLTEN. . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Kapitel Die Jesusbewegung als innerjüdische Erneuerungsbewegung .
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Frauen im Judentum vor 70 n. u. Z.: Perspektiven. . . . . . .. Das herrschende Ethos: Israel als Reich und heiliges Volk. . .. Jesu Vision vom Reich Gottes als Praxis umfassenden Heil-Seins. Jesu Sophiagott und die Nachfolgebewegung von Frauen. . . .. Befreiung aus patriarchalen Strukturen und die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .,
189 202
5. Kapitel Die frühchristliche Missionsbewegung Gleichheit in der Macht »des« Geistes.
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»Die Kirche in ihrem Haus« . MissionarInnen . . . . . . . Die Hauskirche . . . . . . . Das theologische Selbstverständnis der Missionsbewegung . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 2I 5 225 236 253
6. Kapitel Nicht männlich und weiblich GaI3,28: Eine alternative Vision und ihre paulinische Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . Analyse und Interpretation von Gal 3,28 . Paulinische Modifikation von Gal 3,28 .. Ehe und Zölibat (IKor 7) . . . . . . . . Frauen im Gottesdienst der Gemeinde (IKor II-I4) . Patriarchale Bilder und Metaphern . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 151 162 177
Inhalt
TEIL III DIE KONFLIKTE AUFSPÜREN PATRIARCHAT UND AMT ... 7. Kapitel Christliche Mission und patriarch ale Haushaltsordnung . Der Brief an die Gemeinde zu Kolossä und die Haustafel. . Der 1. Petrusbrief und die Haustafel . . . . . . . . . . . . Der Brief an die Gemeinde von Ephesus und die Haustafel . Die gnostisch-patristische Entwicklungslinie . . . . . . . . 8. Kapitel Der patriarch ale Haushalt Gottes und die Frauen-Ekklesia.
305 305
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Die Patriarchalisierung von Kirche und Amt. . . . . . Die Lehrautorität des Bischofs . . . . . . . . . . . . . Die geschlechtliche Festlegung des kirchlichen Amtes. Frauen als Paradigmen wahrer Nachfolge. Das Markusevangelium. . Das Johannesevangelium . Zusammenfassung. . . . . .
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Epilog Auf dem Weg zu einer biblisch-feministischen Spiritualität Die Ekklesia der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Bibelstellenregister ... Anerkennung und Dank.
347 356
376 384 385 393
Einleitung Auf der Suche nach dem Frauenerbe In der Passionsgeschichte des Markus-Evangeliums treten drei Personen aus dem Kreis der JüngerInnen Jesu besonders hervor: auf der einen Seite zwei von den Zwölfen - Judas, der Jesus verrät, und Petrus, der ihn verleugnet -, auf der anderen Seite die namenlose Frau, die J esus salbt. Doch im Gegensatz zu den Geschichten von Judas und Petrus, die sich dem christlichen Gedächtnis eingeprägt haben, ist die Geschichte dieser Frau fast ganz vergessen. Obwohl im Markus-Evangelium J esus ausdrücklich erklärt: »Und wahrlich, ich sage euch: Wo immer auf der ganzen Welt das Evangelium verkündet wird, da wird zu ihrem Gedächtnis erzählt werden, was sie getan hat« (Mk 14,9), ist die prophetische Zeichenhandlung der Frau keineswegs in das den ChristInnen vertraute Wissen über die Evangelien eingegangen. Selbst ihr Name ist uns verloren. Wo immer das Evangelium verkündet und die Eucharistie gefeiert wird, wird eine andere Geschichte erzählt: nämlich die Geschichte des Apostels, der Jesus verraten hat. Der Name des Verräters ist in Erinnerung, der Name der treuen Jüngerin ist vergessen - weil sie eine Frau war. Zwar wird die Salbungsgeschichte in allen vier Evangelien erzählt I , doch versucht die redaktionelle Bearbeitung der Geschichte offensichtlich, die Geschichte einem patriarchalen griechisch-römischen Auditorium schmackhafter zu machen. Das vierte Evangelium identifiziert die Frau als Maria von Betanien, die als J esu treue Freundin ihre Liebe durch die Salbung zum Ausdruck bringt. Lukas dagegen verlagert den Blickpunkt von der Frau als Jüngerin zur Frau als Sünderin. Ob Lukas auf den Markus-Text zurückgreift oder eine andere Tradition überliefert, ist umstritten. Aber diese exegetische Kontroverse spielt keine allzu große Rolle, da wir ohnehin gewohnt sind, die markinische Geschichte im Licht des Lukas zu lesen. So wird die Frau zur großen Sünderin, der J esus Vergebung gewährt. Trotz ihrer Unterschiede spiegeln alle vier Evangelien dieselbe Kerngeschichte wider: Eine Frau salbt Jesus. Dieser Zwischenfall provoziert Einwände, die J esus zurückweist, indem er die Tat der Frau ausdrücklich gutheißt. Wäre die ursprüngliche Geschichte nichts weiter gewesen als die Geschichte einer Fußsalbung an einem Gast, dann wäre eine derart I Zur umfassenden Auseinandersetzung mit der exegetischen Literatur vgl. Robert Holst, The Anointing of Jesus. Another Application of the Form-Critical Method, in: Journal ofBiblical Literature 95 (1976) 435-446.
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Einleitung
alltägliche Geste wohl kaum in Erinnerung geblieben und als Verkündigung des Evangeliums weitererzählt worden. Daher ist es viel wahrscheinlicher, daß in der ursprünglichen Geschichte die Frau den Kopf J esu salbte. Da in der Hebräischen Bibel der Prophet den Kopf des jüdischen Königs salbte, muß die Kopfsalbung an Jesus unmittelbar verstanden worden sein als prophetische Bestätigung Jesu als der Gesalbte, der Messias, der Christus. Nach der Tradition ist es eine Frau gewesen, die J esus durch ihre prophetische Zeichenhandlung seinen Namen gab. Dies war eine politisch gefährliche Geschichte.' Im Markus-Evangelium ist diese Geschichte eingeschoben zwischen die Aussage, daß es die Führer seines eigenen Volkes sind, die J esus verhaften wollen, und die Ankündigung, daß Judas Jesus gegen Geld verraten werde. So entpolitisiert Markus die Passionsgeschichte: Erstens verlagert er die Schuld am Tod Jesu von den Röm.ern auf die führenden Kreise der Juden, und zweitens definiert er die Messianität Jesu theologisch als Messianität des Leidens und Todes. Während nach Markus die führenden Männer unter den Jüngerinnen dieses messianische Leiden J esu nicht verstehen, es ablehnen und ihn schließlich im Stich lassen, erweisen sich in der Passionsgeschichte auf einmal die Frauen, die J esus von Galiläa nach J erusalem nachgefolgt sind, als die wahren JüngerInnen. Sie sind Jesu wahre Nachfolgerinnen (akolouthein), weil sie verstanden haben, daß sein Amt nicht in Herrschaft und Königsruhm, sondern in diakonia, »Dienst« (Mk 15,41) besteht. So treten die Frauen als die wahren christlichen Amtsträgerinnen und Zeuginnen hervor. Die namenlose Frau, die im Markus-Evangelium J esus mit einer prophetischen Zeichenhandlung seinen Namen gibt, ist das Paradigma der/des wahren JüngerIn. Im Gegensatz zu Petrus, der bekannt hat: »Du bist der Gesalbte«, ohne wirklich zu verstehen, was das heißt, erkennt die Frau, die Jesus salbt, klar und deutlich, daß Jesu Messianität Leiden und Sterben bedeutet. Sowohl die christlich-feministische Theologie als auch die Bibelinterpretation sind dabei wiederzuentdecken, daß die christliche Botschaft nicht verkündet werden kann, wenn die Jüngerinnen und ihre Taten nicht ins Gedächtnis gerufen werden. Christlich-feministische Theologie und Bibelinterpretation haben begonnen, das Abendmahl in Betanien als christliches Frauenerbe zurückzufordern. Sie tun dies, um die Symbole und die Ritualisierung eines Letzten Abendmahles, zu dem ausschließlich Männer versammelt gewesen sein sollen, zu korrigieren, da solch eine Vorstellung ein Verrat wahrer christlicher Nachfolge und wahren Vgl.]. K. Elliott, The Anointing of Jesus, in: The Expository Times 85 (1974) 1051°7·
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Auf der Suche nach dem Frauenerbe
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christlichen Amtes ist. 3 Die Künstlerin Judy Chicago drückt das so aus: »Alle Institutionen unserer Kultur teilen uns in Wort, Tat und, was noch schlimmer ist, Schweigen mit, daß wir unbedeutend sind. Doch unser Erbe ist unsere Macht«.4 Meine Untersuchungen in diesem Buch haben ein zweifaches Ziel: Sie versuchen, die frühchristliche Geschichte als Frauengeschichte zu rekonstruieren, nicht nur um in die frühchristliche Geschichte die Geschichte(n) der Frauen zu integrieren, sondern auch, um diese frühchristliche Geschichte als Geschichte von Frauen und Männern zurückzugewinnen. Dabei verstehe ich mich nicht nur als feministische Historikerin, sondern auch als feministische Theologin. Die Bibel ist mehr als eine Sammlung historischer Schriften. Sie ist Heilige Schrift - Evangelium - und richtet sich an ChristInnen heute. So inspiriert sie nicht nur die Theologie, sondern auch das Engagement vieler Frauen heute. Solange jedoch die Geschichten und die Geschichte von Frauen in den Anfängen des frühen Christentums nicht theologisch als integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums begriffen werden, bleiben die von Männern formulierten und kodifizierten biblischen Texte und Traditionen frauenunterdrückend. Eine solche Rekonstruktion der frühchristlichen Geschichte als Frauengeschichte und der historisch-biblischen Theologie als feministische Theologie setzt eine kritische historische und theologische Analyse und die Entfaltung einer historisch-biblischen feministischen Hermeneutik voraus. Als neutestamentliche Exegetin werde ich meine Untersuchungen auf die Anfänge des Christentums beschränken und nicht die gesamte biblische Geschichte einschließen. Aus methodischen Gründen wird es jedoch notwendig sein, die Grenzen des neutestamentlichen Kanons zu überschreiten, da er ein Produkt der »patristischen« Kirche, d. h. ein theologisches Dokument der »historischen Sieger« ist. Ein Verzicht auf eine solche Rekonstruktion mit der Begründung, die historisch-kritische Forschung und Hermeneutik sei »männlich« und nicht feministisch, leistet Frauen einen schlechten intellektuellen Dienst. Da eine solche Einstellung die männlich/weiblichen Rollenstereotypen verstärkt, ist sie nicht in der Lage, die unterdrückenden Voraussetzungen und androzentrisehen Elemente dieser Forschung zu benennen. Die Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte in feministischer Perspektive wirft schwierige hermeneutische, textkritische und historische Fragen auf. Da feministische Forschung verschiedene theoretische Per3 Vgl. auch Elizabeth E. Platt, The Ministry of Mary of Bethany, in: Theology Today 34 (1977) 29-39· 4 Judy Chicago, The Dinnerparty. A Symbol of Our Heritage, New York 1979, 246249·
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Einleitung
spektiven und Modelle entwickelt hat, muß eine solche Rekonstruktion ihr eigenes heuristisches feministisches Raster oder Modell formulieren, das sowohl die Unterdrückung als auch die geschichtliche Wirksamkeit von Frauen im frühen Christentum erfassen kann. I. Eine grundlegende methodische Erkenntnis der historisch-kritischen Bibelwissenschaft ist die Einsicht, daß für das Verständnis eines Textes sein »Sitz im Leben« genauso wichtig ist wie sein eigentlicher Wortlaut. Biblische Texte sind weder verbal inspirierte Offenbarung noch dogmatische Prinzipien, sondern geschichtliche Aussagen im Kontext frühchristlicher Gemeinde. Obwohl diese Erkenntnis heute sowohl vom literaturwissenschaftlichen Formalismus als auch vom streng am Wortlaut festhaltenden Biblizismus bestritten wird, bleibt sie trotzdem die Grundlage jeder historischen Rekonstruktion. Die Forschung zur Sozialgeschichte Israels und des frühen Christentums hat begonnen, heuristische Modelle zu entwickeln, die ein umfassenderes Verständnis des sozialgeschichtlichen Kontexts der biblischen Texte ermöglichen. In gleicher Weise betont feministische Theorie nachdrücklich, daß alle Texte Produkte einer androzentrischen patriarchalen Kultur und Geschichte sind. Die gegenwärtige feministische Bewegung hat daher eine Lawine von Studien auf allen Gebieten wissenschaftlicher Forschung hervorgerufen. 5 Historikerinnen, Philosophinnen und Anthropologinnen haben hervorgehoben, daß die herkömmliche wissenschaftliche Theorie und Forschung unzulänglich ist, weil sie die Lebenswirklichkeiten von Frauen und ihre Leistungen ignoriert und die Menschheit und die menschliche Geschichte als männliche konstruiert. Deshalb versucht feministische Wissenschaft in allen Bereichen, heuristische Modelle und Konzepte zu entwerfen, die es uns ermöglichen, die menschliche Realität, die in androzentrischen Texten und Forschungen nicht umfassend genug zum Ausdruck kommt, zu begreifen. Die Untersuchungen dieses Buches versuchen sich von der alles beherrschenden Apologetik freizumachen, die charakteristisch ist für die meisten wissenschaftlichen Abhandlungen über »die Frau« in der Bibel, um zu einer Annäherung an eine historisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte und der Beiträge von Frauen in den frühchristlichen Anfängen zu gelangen. Darüber hinaus gehe ich davon aus, daß die neuen Fragen, die durch feministische Wissenschaft aufgeworfen werden, unser Verständnis der ganzen frühchristlichen Geschichte bereichern. Der 5 Die 1975 gegründete Zeitschrift Signs. Journal 0/ Women in Culture and Society bringt regelmäßig Überblicke über Entwicklung und Stand feministischer Forschung auf verschiedenen Gebieten. Von gleicher Bedeutung sind Women's Studies International Quarterly und Feminist Studies. Vgl. auch Dale Spender (Hg.), Men's Studies Modified. The Impact ofFeminism on the Academic Disciplines, Oxford 1981.
Auf der Suche nach dem Frauenerbe
Versuch, »Frauen in die frühchristliche Geschichte zurückzuschreiben«, soll nicht nur den Frauen die frühchristliche Geschichte zurückgeben, sondern auch zu einer vertieften und genaueren Wahrnehmung der Anfänge des frühen Christentums führen. Da die wissenschaftliche Forschung ohnehin philosophische, soziologische und psychologische Analysemethoden zum Entwurf neuer Interpretationsmodelle für die Entwicklung des frühen Christentums benutzen muß, sollte uns nichts davon abhalten, auch feministische heuristische Konzepte zu verwenden, um eine frühchristliche Geschichte zu rekonstruieren, in der Frauen· nicht verborgen und unsichtbar sind. Androzentrische Modelle können jenen Texten, die die Leitungsfunktion von Frauen im frühen Christentum positiv erwähnen, nicht gerecht werden. Ein feministisches Modell dagegen kann diese positiv integrieren. Im großen und ganzen begreift die Bibelwissenschaft diese Frage jedoch nicht als ein wichtiges historisches Problem, das für die Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte und Theologie von hoher Bedeutung ist. Als »Frauenfrage« gilt sie als trivial oder als Randproblem des akademischen Wissenschaftsbetriebs. Wenn sie aber als »Frauenproblem« gesehen wird, gehört die Angelegenheit in Bücher und Symposien über »die Frau«, keinesfalls jedoch auf die Programme exegetischer Konferenzen oder in exegetische Festschriften. Im allgemeinen ist jede Exegetin, die mit der »feministischen Sache« identifiziert wird, ideologisch suspekt und beruflich diskreditiert. Wie einer meiner Kollegen über eine Professorin bemerkte, die einen moderaten Artikel über Frauen im Alten Testament geschrieben hatte: »Jammerschade, sie dürfte ihre wissenschaftliche Karriere ruiniert haben!« Solchen Vorbehalten, ob sie ausdrücklich ausgesprochen werden oder nicht, liegt die stillschweigende Annahme zugrunde, WissenschaftlerInnen, die ihre politischen Interessen weder reflektieren noch artikulieren, seien »objektiv«, vorurteilsfrei, unparteilich und daher »wissenschaftlich«. Doch schon eine minimale Vertrautheit mit den Fragen, die durch die Wissenssoziologie und die kritische Theorie aufgeworfen wurden, macht es schwierig, solche wissenschaftliche Objektivität auf wissenschaftlicher Basis zu beanspruchen. In einer brillanten Analyse der Sklaverei in der Antike hat der bekannte Forscher Moses Finley untersucht, wie die herrschenden ideologischen und gesellschaftlichen Interessen die Geschichtsschreibung der antiken Sklaverei zutiefst beeinflußt haben. Er faßt seine Untersuchungen mit folgenden Worten zusammen: Dennoch wirken gewisse moderne ideologische Aspekte auch in diesen scheinbar entlegenen Bereich der Geschichtsforschung hinein, insofern, als sie Darstellungen zugrunde liegen, ja völlig bestimmen, die
Einleitung
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anscheinend rein faktisch und objektiv sind ... Ich glaube, daß es eine notwendige Voraussetzung für die gründliche Analyse der antiken Sklaverei ist, umfassend und offen zu beschreiben, wie sich das moderne Interesse daran äußert, und deshalb habe ich mit diesem Thema begonnen. 6 Da das historische Wissen auf Schlußfolgerungen beruht (Collingwood), müssen HistorikerInnen einen Bezugsrahmen für die Untersuchung des vorhandenen Quellenmaterials entwerfen. Dabei wird ein solcher Bezugsrahmen immer auch von ihren eigenen philosophischen Perspektiven und Werten bestimmt. Wenn Historikerlnnen vorgeben, sie würden nichts als die reinen Tatsachen dokumentieren, und sich dabei weigern, ihre eigenen Voraussetzungen und theoretischen Positionen zu hinterfragen, erreichen sie damit nur das eine: Sie verbergen die Ideologien, auf denen ihre Geschichtsschreibung beruht, vor sich selbst. Jede Geschichtsschreibung ist eine selektive Sicht der Vergangenheit. Historische Interpretation ist immer schon bestimmt von gegenwärtigen Fragestellungen und gegenwärtiger Weltsicht und ist bedingt durch gegenwärtige politische Interessen und Herrschaftsstrukturen. Nur wenn die eigenen theoretischen Voraussetzungen und politischen Loyalitäten kritisch reflektiert und benannt werden, ist eine Annäherung an historische »Objektivität« möglich. Das Interesse an Legitimation wie auch an Eröffnung künftiger Möglichkeiten ist Hauptmotiv der Bibelinterpretation. James Robinson stellt fest: Neutestamentliche Forschung als geistige Betätigung ist eine moderne Wissenschaft, die das moderne Wirklichkeitsverständnis sowohl widerspiegelt als auch formen hilft. Dieses dialektische Verhältnis zum Realitätsbewußtsein teilt sie ganz allgemein mit den Geisteswissenschaften, aber auch mit den Sozial- und Naturwissenschaften. Jeder Wissenschaftler und Forscher, der sich mit einem Gegenstand aus der Vergangenheit beschäftigt, bringt dabei seine gegenwärtige Auffassung von Realität ins Spiel, und die Ergebnisse seiner Untersuchungen vermehren umgekehrt den vorhandenen Bestand an Erkenntnis, von dessen Entwicklung her unser Wirklichkeitsverständnis eine ständige Veränderung erfährt.! 6 Moses I. Finley, Die Sklaverei in der Antike. Geschichte und Probleme, München I9 8I ,IO.
7 fames M. Robinson/Helmut Köster, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen I97I, I.
Auf der Suche nach dem Frauenerbe
Wenn dies stimmt, wie ich glaube, dann stellt sich die Frage, ob der Widerstand in der Wissenschaft gegen die Diskussion dieses Themas möglicherweise Nahrung findet durch eine mehr oder weniger bewußte Weigerung, unseren androzentrischen Zugriff auf Wirklichkeit und Religion zu verändern, und gar nicht so sehr durch die legitime Sorge um die Integrität bibelhistorischer Forschung. Simone de Beauvoirs Diktum zur Wissenschaft über »die Frau« im allgemeinen trifft auch auf die Forschung über »die Frau in der Bibel« zu: »Wenn die >Frauenfrage< so müßig geworden ist, so liegt es daran, daß die männliche Anmaßung einen Streit daraus gemacht hat; wenn man sich streitet, argumentiert man nicht gut.«8 2. Ist es schon schwierig, die intellektuellen Vorbehalte meiner Kollegen zu zerstreuen, so finde ich es sogar noch schwieriger, mein Interesse an der Bibel angesichts feministischer Einwände aufrechtzuerhalten. Fragen und Vorbehalte, die Frauen als Reaktion auf meine Vorlesungen und Veröffentlichungen zum Ausdruck gebracht haben, haben mich gelehrt, die Probleme schärfer zu formulieren und die strukturellen Hindernisse für feministische Geschichtsschreibung und feministische Theologie im Blick zu behalten. Solche Diskussionen, die wechselseitige Herausforderung und Inspiration bedeuten, haben mich darüber hinaus gezwungen, gründlicher zu untersuchen, wie eine »feministische Hermeneutik« formuliert werden kann. Obwohl der erste Teil dieses Buches vielen Frauen auf den ersten Blick fremd und zu akademisch scheinen mag, verdankt er daher seine Konzeption eher feministischen als rein akademisch-theoretischen Fragestellungen. Mein Versuch, die Geschichte jener Frauen zu untersuchen, die in den Anfängen der Kirche Christinnen wurden, darf aber nicht als Versuch mißverstanden werden, die Bibel vor ihren feministischen Kritikerinnen zu retten. Ich möchte einfach der Frage nachgehen: Wie können die frühchristlichen Ursprünge so rekonstruiert werden, daß sie als »Frauengeschichte« verstanden werden? Anders ausgedrückt: Ist die frühchristliche Geschichte »unsere eigene« Geschichte, »unser eigenes« Erbe? Waren Frauen wie Männer InitiatorInnen der christlichen Bewegung? Während akademische Theologie die öffentliche Diskussion ihrer politischen Loyalitäten, ihrer Vorurteile und ihrer vorab festgelegten Funktionen verweigert, sind viele nachchristliche Feministinnen bereit, ihre geschichtlichen Wurzeln und ihre Solidarität mit den Frauen im Christentum preiszugeben. Aus ihrer Erkenntnis, daß die androzentrische Sprache und patriarchale Religion des Abendlandes Frauen aus der Ge8 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968 ,19.
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Einleitung
. schichte »ausgelöscht« und sie zu »Nicht-Seienden« gemacht hat, schließen diese Feministinnen, daß die christliche Religion (und Theologie) durch und durch sexistisch sei. Sie könne für Frauen nicht wieder geheilt werden, da sie die Erfahrungen von Frauen ignoriere, die Gottheit in männlichen Bildern und Begriffen darstelle, die untergeordnete und machtlose Stellung der Frauen legitimiere und männliche Herrschaft und Gewalt gegen Frauen begünstige. Deshalb müßten Feministinnen die Grenzen der christlichen Religion hinter sich lassen und die patriarchale Autorität biblischer Offenbarung zurückweisen. Re-Visionen der Bibel seien bestenfalls Zeitverschwendung und schlimmstenfalls eine Legitimierung des in der christlichen Religion» herr«schenden Sexismus - eine reine Vereinnahmung von Frauen und Feminismus. Feministische Praxis wurzele in den religiösen Erfahrungen von Frauen, die heute leben, und erhalte ihre Inspiration nicht aus der christlichen Vergangenheit. Diese nachchristliche feministische Position ist in Gefahr, ungeschichtlich und unpolitisch zu werden. Zu schnell macht sie das Zugeständnis, daß Frauen in der christlichen Religion keine authentische Geschichte hätten, und gibt deshalb das feministische biblische Frauenerbe zu schnell preis. Diese Position kann auch den positiven Erfahrungen, die Frauen heute im Christentum machen, nicht gerecht werden. Entweder muß sie den Einfluß der christlichen Religion auf Frauen heute ignorieren oder aber das Festhalten von Frauen an der christlichen Religion zu falschem Bewußtsein erklären. Insoweit das Christentum heute noch Einfluß ausübt, muß eine kulturelle und soziale feministische Umwandlung der westlichen Gesellschaft die biblische Geschichte und die geschichtliche Wirkkraft der biblischen Tradition berücksichtigen. Wir westlichen Frauen können unsere persönliche, kulturelle und religiöse christliche Geschichte nicht völlig abtun und vergessen. Entweder werden wir sie in eine neue befreiende Zukunft verwandeln, oder wir werden weiterhin ihrer Tyrannei unterworfen bleiben, egal ob wir ihre Macht anerkennen oder nicht. Als Feministinnen können wir uns eine solch ungeschichtliche oder geschichtsfeindliche Position nicht leisten, weil es ja gerade die Macht der Unterdrückung ist, die Menschen ihrer Geschichte beraubt. In Schwarzer und lateinamerikanischer Befreiungstheologie ist dies begriffen worden. In seinem Buch Wurzeln spürt Alex Haley der Geschichte seines Volkes von den Tagen der Sklaverei an nach. Dies tut er in der Hoffnung, »daß dieser Bericht über Menschen wie uns mithelfen mag, das Vermächtnis der Tatsache zu erleichtern, daß Geschichte sonst vorwiegend geschrieben wird von den Siegern.«9 Ähnlich stellt Gutierrez fest: 9 Alex Haley, Wurzeln, Frankfurt 1977, 744·
Auf der Suche nach dem Frauenerbe
Die Geschichte der Menschheit wurde bisher mit weißer Hand, mit Männerhand, aus der Sicht der herrschenden Klasse geschrieben. Die Besiegten der Geschichte haben einen anderen Blickwinkel als die Sieger. Den Besiegten hat man selbst ihr Gedächtnis, die Erinnerung an ihre Kämpfe nehmen wollen. So beraubt man sie einer Quelle der Energie, des Willens zur Gestaltung der Geschichte und der Rebellion. ' ° Unter den Feministinnen hat die Künstlerin Judy Chicago die Bedeutung des Frauenerbes als Quelle der Frauenrnacht hervorgehoben. Sie schuf die Dinner Party als symbolische Frauengeschichte, »zusammengestückelt« aus den spärlichen Informationen, die aus den kulturellen und religiösen Kanälen zusammengetragen worden sind. Sie macht die Beobachtung: Es ist traurig: Fast alle 1°38 Frauen, die an der Dinner Party teilnehmen, sind den meisten von uns fremd, ihr Leben und ihre Werke sind den meisten von uns unbekannt. Damit Menschen sich wertlos fühlen, beraubt die Gesellschaft sie ihres Stolzes - dies widerfuhr den Frauen. Alle Institutionen unserer Kultur teilen uns in Wort, Tat und, was noch schlimmer ist, Schweigen mit, daß wir unbedeutend sind. Doch unser Erbe ist unsere Macht. " Die frühchristliche Geschichte als unsere eigene Frauengeschichte zurückzufordern und daraufzubestehen, daß die Frauengeschichte ein integraler Teil der Geschichtsschreibung der frühchristlichen Bewegung ist, heißt daher, uns in Solidarität mit unseren Vor-Schwestern auf die Suche nach unseren Wurzeln zu machen und ihrer Leiden, ihrer Kämpfe, ihrer Macht als Frauen zu gedenken. Wenn Geschichte im allgemeinen und frühchristliche Geschichte im besonderen eine Form der Fremdbestimmung von Frauen durch androzentrische Kultur und Religion ist, dann muß sie zu einem vordringlichen Gegenstand feministischer Analyse werden. Eine solche Analyse der Geschichte und der Bibel muß die patriarchale Geschichte in ihrem Ausmaß und ihrer ganzen Bedeutung kritisch aufdecken. Zugleich muß sie die Frauengeschichte des frühen Christentums als Herausforderung Gustavo Gutierrez, Where Hunger 1s, God 1s Not, in: The Witness, April 1976,6. (Dieses Zitat findet sich auch in: ders., Die historische Macht der Armen, MünchenMainz 1984, 26 - mit dem Unterschied, daß hier zwar die »weiße Hand«, nicht jedoch die "Männerhand« erwähnt wird. A. d. Ü.) I I Judy Chicago, The Dinnerparty. A Symbol of Our Heritage, New York 1979, 241249· 10
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Einleitung
an das historisch-religiöse Patriarchat rekonstruieren. Deshalb hat eine feministische Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Ziel: Kultur- und Religionskritik einerseits und andererseits die Rekonstruktion von Frauengeschichte als Geschichte(n) von Frauen im Christentum. Sie arbeitet einerseits darauf hin, die Legitimation patriarchaler religiöser Strukturen zu untergraben, andererseits aber auch darauf, Frauen im Kampf gegen solche Unterdrückungs strukturen zu bevollmächtigen. Anders ausgedrückt: Einer feministischen Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge geht es um die Wiederentdeckung des christlichen Frauenerbes, denn wie Judy Chicago sagt - »unser Erbe ist unsere Macht«. Doch eine solche Wiederentdeckung der Frauengeschichte im frühen Christentum muß nicht nur der Geschichte die Frauen zurückgeben, sondern auch den Frauen die Geschichte der christlichen Anfänge. Sie macht geltend, daß die christliche Geschichte auch die Geschichte von Frauen und eben keine reine Männergeschichte ist, an der Frauen höchstens am Rande oder überhaupt nicht aktiv beteiligt gewesen wären. Die neutestamentlichen Quellen liefern genügend Hinweise für eine solche Geschichte frühchristlicher Ursprünge: Sie erwähnen, daß Frauen sowohl Nachfolgerinnen J esu als auch führende Mitglieder frühchristlicher Gemeinden waren. Zudem verteidigte sich noch im 2. und 3. Jahrhundert das Christentum gegen die Beschuldigung, es sei eine Religion von Frauen und Ungebildeten. Die Aufgabe heißt daher gar nicht primär, neue Quellen zu entdecken, als vielmehr die vorliegenden Quellen mit einem anderen Blick neu zu entschlüsseln. Ziel ist ein Zuwachs an historischer Imagination. 3. Die Auseinandersetzung zwischen sogenannter »engagierter« feministischer und »neutraler« androzentrischer akademischer Wissenschaft deutet auf einen Paradigmenwechsel hin. I2 Die herkömmliche akademische Wissenschaft definiert Menschsein als identisch mit Mannsein und erklärt Frauen zur lediglich peripheren Kategorie einer »menschlichen« Interpretation der Wirklichkeit. Das »neue Gebiet Frauenforschung« dagegen versucht nicht nur, »das Subjekt Frau« zu einer Schlüsselkategorie zu machen, sondern ihr geht es auch darum, androzentrische Wissenschaft und den androzentrischen Wissensschatz so umzuwandeln, daß sie wirklich menschlich, d. h. inklusiv werden und alle Menschen einbeziehen können, Männer und Frauen, alle Klassen, Eliten und »kleine Leute«, verschiedene Kulturen und Rassen, Mächtige und Schwache. Thomas Kuhns Begriff der »wissenschaftlichen Paradigmata« und 12 Zur Diskussion dieses Paradigmenwechsels vgl. Elizabeth Janeway, Who 1s Sylvia? On the Loss of Sexual Paradigms, in: Signs 5 (1980) 573-589.
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»heuristischen Modelle«'} kann uns helfen, diesen Wechsel des Blickfeldes zu verstehen und zu einem Entwurf eines neuen feministischen Paradigmas, dessen wissenschaftliches Ziel eine inklusive »menschliche« Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte ist, zu gelangen. Nach Kuhn stellt ein Paradigma eine von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geschaffene und aufrechterhaltene kohärente Forschungstradition dar. So bestimmt ein wissenschaftliches Paradigma alle Aspekte wissenschaftlicher Forschung: Beobachtungen. Theorien und Erklärungsmodelle, Forschungstraditionen und Musterbeispiele und auch philosophischtheoretische Annahmen über das Wesen der Welt und die gesamte Weltsicht. Alle Daten und alle aufgezeichneten Beobachtungen sind theoriegeladen; nackte, uninterpretierte Daten und Quellen existieren nicht. Ebensowenig gibt es Kriterien und Forschungsmodelle, die unabhängig wären von dem wissenschaftlichen Paradigma, in dem sie entwickelt worden sind. Der Wechsel von einer androzentrischen zu einer feministischen Interpretation der Welt impliziert einen revolutionären Wechsel des wissenschaftlichen Paradigmas - einen Wechsel mit weitreichenden Auswirkungen nicht nur für die Interpretation der Welt, sondern auch für ihre Veränderung. Da Paradigmata bestimmen, wie Wissenschaftler Innen die Welt sehen und theoretische Probleme begreifen, impliziert der Wechsel von einem androzentrischen zu einem feministischen Paradigma eine Umwandlung der wissenschaftlichen Imagination. Er setzt eine intellektuelle Konversion voraus, die nicht logisch hergeleitet werden kann, sondern in einer Veränderung der patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnisse wurzelt. Eine derartige intellektuelle Konversion bewirkt einen Wechsel der Interessen und Verpflichtungen, der es der Gemeinschaft der Forschenden ermöglicht, alte Daten in völlig neuer Perspektive zu sehen. Die Auseinandersetzung zwischen androzentrisch~r und feministischer Wissenschaft ist nicht einfach nur ein Indiz für die intellektuelle Begrenztheit der an dem Streit beteiligten WissenschaftlerInnen. Sie ist vielmehr ein Zeichen für den Kampf rivalisierender Paradigmata, die in der Übergangsphase nebeneinander existieren können, sich letziich jedoch ausschließen. Nach Kuhn kann ein solcher Paradigmenwechsel erst stattfinden, wenn das neue Paradigma seine eigenen institutionellen Strukturen und Stützsysteme hervorgebracht hat. Während das androzentrische wissenschaftliche Paradigma in den patriarchalen akademischen Institutionen verwurzelt ist, hat das feministische Paradigma seine eigene institutio13 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (2. rev. u. um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl.), Frankfurt 1976; fan G. Barbour, Myths, Modells, and Paradigms, NewYork 1974.
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Einleitung
nelle Basis in alternativen Einrichtungen wie Frauenzentren, Frauenbildungs- und Frauenforschungsprograrnmen nur spärlich geschaffen. Die Abhängigkeit von der patriarchalen Gesellschaft und die hierarchische Struktur akademischer Institutionen sichern den strukturellen Fortbestand des androzentrischen wissenschaftlichen Paradigmas. Worauf es ankommt, ist nicht allein eine feministische Rekonstruktion der Geschichte und eine Neubenennung der Welt, sondern die grundlegende Veränderung von Wissenschaft und akademischen Institutionen. Feministische Forschung ist daher primär gegenüber der Frauenbewegung für eine kirchlich-gesellschaftliche Veränderung verantwortlich, weniger dagegen gegenüber der akademischen Wissenschaft. Um mit Michelle RusseIl zu sprechen: Die Frage ist: Wie sagt ihr Nein dazu, daß die akademische Wissenschaft die Toten von den Lebenden trennt? Weiter: Wie erklärt ihr euch parteilich für das Leben? Wieweit stellt ihr als Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen, Studentinnen euer Wissen anderen als Werkzeug ihrer Befreiung zur Verfügung? Dies ist kein Aufruf zu unbesonnenem Aktivismus, vielmehr zu parteilicher Forschung. '4 Während eine kritisch-feministische Rekonstruktion frühchristlicher Frauengeschichte im Interesse aller Frauen ist, die vom Einfluß biblischer Religion in westlichen Gesellschaften betroffen sind, ist sie besonders den christlichen Frauen der Vergangenheit und Gegenwart verpflichtet. Meiner Meinung nach teilen feministische Bibelwissenschaft und historische Bibelwissenschaft als gemeinsame hermeneutische Perspektive die kritische Verbundenheit mit der christlichen Gemeinde und ihren Traditionen. Obwohl die historisch-kritische Bibelanalyse sich in Absetzung zu einem dogmatischen Schriftverständnis entwickelt und die klerikale Herrschaft über die Theologie abgelehnt hat, hat sie als hermeneutische Voraussetzung trotzdem insofern eine theologische Loyalität, als ihre theoretische Arbeit sich innerhalb der Grenzen des Kanons bewegt und innerhalb der christlich-theologischen Hochschulen ihren institutionellen Ort hat. Die Bibel ist nicht nur ein Dokument vergangener Geschichte. Als Heilige Schrift hat sie die Funktion, in kirchlichen Gemeinden heute wirksam zu sein. Deshalb ist exegetisch-biblische Forschungebenso wie Frauenforschung - bereits per definitionem »engagierte« Forschung. Insofern biblische Wissenschaft als Wissenschaft über die Schrift kanonische Wissenschaft ist, ist sie bedingt durch und bezogen auf ihren Sitz im Leben in der kirchlichen Vergangenheit und Gegenwart. 14 Michelle RusselI, An Open Letter to the Academy, in: Quest 3 (1977) 77f.
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Wie die Frauenforschung kann auch die historisch-kritische Bibelinterpretation nicht von den Vorbedingungen, Bindungen, Glaubensüberzeugungen und kulturellen und institutionellen Strukturen abstrahieren, die ihre Fragestellungen und die Wahl ihrer Erklärungsmodelle beeinflussen. Historisch-biblische Forschung ist - wie historische Forschung überhaupt - selektive Sicht der Vergangenheit. Ihre Reichweite und Bedeutung sind nicht nur durch die vorhandenen Quellen und Materialien begrenzt, sondern auch durch die Interessen und Perspektiven der Gegenwart bedingt. Ähnlich hat sich feministische Theologie, die sich als feministische Befreiungstheologie '5 versteht, als Überwindung und Kritik des symbolischen Androzentrismus und der patriarchalen Herrschaft in der biblischen Religion entwickelt, aber gleichzeitig versucht, das biblische Frauenerbe zurückzugewinnen, damit es Frauen für ihren Kampf um Befreiung Macht verleihe. Gemeinsam ist allen feministisch-historischen Analysen daher der Impetus historisch-biblischer Wissenschaft und eine ausdrückliche Parteinahme für eine heute lebende Gruppe von Menschen: für Frauen, die von den biblischen Traditionen religiös oder kulturell beeinflußt werden. Historisch-kritische Analyse und das deutliche Benennen der eigenen Interessen dienen akademischer biblischer Wissenschaft und kritisch-feministischer Befreiungstheologie als gemeinsame Grundlage. Die Untersuchungen dieses Buches gehen daher von der Hoffnung aus, diese gemeinsame Grundlage werde eine hermeneutische Perspektive und Methode für die Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte hervorbringen, die die Kluft zwischen der historisch-kritischen Forschung und der gegenwärtigen Frauenkirche überbrücken kann. Damit die Theorie von der vorherrschenden biblischen Apologetik wegkommt, die die Forschung über »die Frau in der Bibel« bestimmt, ist es notwendig, die Wurzeln und Auswirkungen dieser Apologetik aufzudecken. Im ersten Teil wird daher untersucht, welchen Impetus und welche Implikationen für die Forschung über Frauen in der Bibel die von der »Frauenbibel« hervorgerufene Diskussion hatte. Dieser Teil formuliert auch das Theorieproblem, wie es möglich ist, von androzentrischen biblischen Texten zu ihren sozialgeschichtlichen Kontexten zu gelangen, und versucht, den Weg von einer androzentrisch-historischen zu einer 15 Vgl. meine Aufsätze: Feminist Theology as a Critical Theology of Liberation, in: Theological Studies 36 (1979) 605-626; Für eine befreite und befreiende Theologie. Frauen in der Theologie und feministische Theologie in den USA, in: Concilium 14 (1978) 287-294; To Comfort or to Challenge. Theological Reflections, in: M. Dwyer (Hg.), New Woman, New Church, New Priestly Ministry, Rochester, N. y. 1980,4360.
Einleitung
feministisch-historischen Rekonstruktion zu skizzieren. Hier werden deshalb die theoretischen Modelle diskutiert, die zur Rekonstruktion des frühen Christentums entworfen worden sind, und deren Implikationen für die Rolle der Frauen in den frühchristlichen Ursprüngen analysiert, um ein theoretisch-feministisches Modell für eine solche Rekonstruktion zu entwickeln. Erst nach einer derart ausführlichen Untersuchung hermeneutischer Fragen im ersten Teil des Buches wird es in einem zweiten Schritt möglich sein, der Geschichte der frühchristlichen Ursprünge als »Befreiungsgerangel« von Frauen in der patriarchalen Gesellschaft der griechisch-römischen Welt nachzuspüren. Während der rekonstruktive Teil des Buches stark die traditionellen historisch-kritischen Methoden der Analyse benutzt - mit einem durch eine »Hermeneutik des Verdachts« geschärften Blick -, war es sehr viel schwieriger, einen adäquaten Zugang zu den hermeneutischen und methodologischen Untersuchungen des ersten Teils zu finden. Um die damit zusammenhängenden schwierigen Fragen zu erhellen, habe ich mich für das Verfahren des Dialogs, der Diskussion und der Weiterausarbeitung alternativer biblisch-theologischer und feministisch-historischer Interpretationen entschieden. Meine Untersuchungen verschiedener Ansätze und Modelle waren weniger von dem Interesse geleitet, intellektuelle Positionen und Schulen kurz oder ausführlich darzustellen. Vielmehr versuchte ich, Bausteine und Wegweiser für die Konstruktion eines feministischen heuristischen Modells zu finden. Eine solche kritisch-theoretische Untersuchung war notwendig, um der Gefahr zu entgehen, entweder die Vergangenheit - dadurch daß sie in eine zeitlose feministische Schablone gepreßt wird - zu einem Produkt der eigenen Erfindung zu machen oder aber den Sammlungen sogenannter Daten und Fakten über »die Frau in der Bibel« eine weitere hinzuzufügen. Was Paula Blanchard in ihrem Nachwort zur Biographie Margaret Fullers schreibt, ließe sich ebenso über die Untersuchungen dieses ersten Teils des Buches sagen: Ihre Leistung kann gar nicht angemessen gewürdigt werden, wenn nicht die Hindernisse berücksichtigt werden, gegen die sie ihr Werk zustandegebracht hat ... Aber sie hat eine Nische für sich in die gewaltige Wand des Widerstands, der sich vor ihr aufgetürmt hat, geschlagen und so für andere einen Halt hinterlassen. 16 Bekannte, die das Manuskript gelesen haben, haben mich darauf hingewiesen, daß die theoretisch-hermeneutischen Untersuchungen im ersten 16
Paula Blanchard, Margaret Fuller. From Transcendentalism to Revolution, New
York 1979, 34 2 •
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Teil des Buches diejenigen LeserInnen entmutigen könnten, die auf solche Diskussionen nicht eingestellt sind. Sie haben mir daher geraten, den ersten Teil an das Ende des Buches zu stellen und mit den historisch-exegetischen Untersuchungen zu beginnen. Obwohl eine solche redaktionelle Umstellung auf den ersten Blick geraten scheint, würde sie die LeserInnen auffordern zu schwimmen, bevor sie gelernt hätten, die Strömungen, Strudel und Klippen des androzentrischen Stroms zu erkunden. LeserInnen, die sich in der kritisch-theoretischen Komplexität einer feministischen Hermeneutik verirrt haben, schlage ich deshalb vor, die konstruktiv-historischen Untersuchungen des zweiten und dritten Teils zu lesen und später in aller Ruhe zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem ersten Teil zurückzukehren. So können sie prüfen, ob sie den Text unbewußt in ihre eigenen vorgefaßten theologischen oder androzentrischen Wahrnehmungsschablonen gepreßt haben. Feministische Analyse und Bewußtseinsbildung befähigt uns, Welt und menschliches Leben, aber auch Bibel und Tradition in einem anderen Licht, mit einer anderen »Brille« zu sehen. Zum Ziel hat sie ein neues feministisches Engagement und eine neue feministische Lebensweise - ein Prozeß, der traditionell Bekehrung genannt wird. Die Erörterungen im ersten Teil des Buches wollen neue Brillengläser zur Verfügung stellen, die uns befähigen, die biblischen Quellen in feministischem Licht zu lesen, damit wir uns am Kampf für Frauenbefreiung beteiligen können inspiriert durch die christlich-feministische Vision der Nachfolge als Gleichgestellte.
TEIL I SEHEN - BENENNEN - WIEDERHERSTELLEN
I.
Kapitel
Auf dem Weg zu einer kritisch-feministischen Hermeneutik Das Verhältnis von historischer Bibelinterpretation und feministischer Rekonstruktion von Frauengeschichte zur Zeit der Bibel untersuchen heißt ein intellektuelles und emotionales Minenfeld betreten. Die Widersprüche und Spannungen zwischen historischer Exegese und systematisch-theologischen Dogmen, die Reaktionen und Emotionen, die die »historisch-kritische« Exegese mit ihrem Blick auf die Bibel auslöst, und die Beziehungen zwischen akademischer Arbeit und politischen und sozialen Zwängen und Bedingungen, zwischen sogenannter »wertneutraler« wissenschaftlicher Forschung und »engagierter« Wissenschaft - all diese Widersprüche müssen aufgespürt und offengelegt werden. Ein solcher Versuch, diese theoretisch und zugleich unbewußt emotional komplexe Situation zu entwirren, muß zwangsläufig in Kauf nehmen, daß eine Reihe komplexer und sehr schwieriger theoretischer Probleme vereinfacht und verallgemeinert wird. Diesen Komplex historischer, theoretischer und theologischer Fragen aus feministisch-theologischer Perspektive' zur Diskussion stellen heißt sich einer doppelten intellektuellen Gefahr aussetzen. Obwohl alle Frauen als Gruppe gemeinsame Erfahrungen teilen und alle Feministinnen dem Kampf für Frauenbefreiung verpflichtet sind, unterscheiden sich die individuellen Wahrnehmungen und Interpretationen der Erfahrungen von Frauenunterdrückung und ebenso die konkreten Formulierungen der Werte und Ziele der Frauenbefreiung doch erheblich. Ein Paradigma legt als disziplinäre Matrix die akzeptablen theoretischen Modelle, die zulässigen Analogien und die heuristischen Modelle fest, die den allgemein geteilten Meinungen Gewicht und Priorität verleihen und gleichzeitig verschiedenartige Informationen, »Fakten« und »Daten« in I Zu den unterschiedlichen Ansätzen und Perspektiven feministischer Theologie vgl. Anne Barstow Driver, Review Essay: Religion, in: Signs 2 (I976) 434-442; Carol P. Christ, The New Feminist Theology. A Review of the Literature, in: Religious Studies Review 3 (I977) 203-2I2; dies., Women's Studies in Religion, in: Bulletin of the Council on the Study of Religion IO (I 979) 3- 5; und besonders die Einleitung zu Carol P. ChristlJudith Plaskow (Hg.), Womanspirit Rising. A Feminist Reader in Religion, San Francisco I979, v. a. I-I7. Vgl. auch Catharina Halkes, Gott hat nicht nur starke Söhne. Grundzüge einer feministischen Theologie, Gütersloh I980 und - als Bericht aus größerer Distanz - Elisabeth Gössmann, Die streitbaren Schwestern. Was will die feministische Theologie?, Freiburg I98r.
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Kapitel
einen kohärenten Interpretationsrahmen zusammenfügen. Insofern ist es offensichtlich wichtig, die von feministischer Wissenschaft entworfenen theoretischen Modelle und heuristischen Konzepte zu untersuchen. Solche Modelle sind keine Tatsachenbeschreibungen oder genauen Abziehbilder der Wirklichkeit. Sie sind vielmehr imaginationskräftige theoretische Konstrukte, die uns Welt und Wirklichkeit verstehen helfen. Ihre Hauptfunktion ist es, einer Reihe von Beobachtungen ihre symbolische Auswahl und Gewichtung zuzuordnen. Solche Interpretationsmodelle sind heuristische Hilfen zum Verständnis menschlicher und christlicher historischer Wirklichkeit. Sie bieten einen Rahmen, um vielfältige Ansätze zu integrieren. Als solch heuristische Konzepte wurden im feministischen Paradigma z. B. »Frau«, »Weiblichkeit«, »Androzentrismus« und »Patriarchat« entwickelt. Diese analytischen Kategorien können nicht deutlich voneinander abgegrenzt werden, zudem werden sie oft austauschbar angewendet. Ihre heuristisch-interpretative Brauchbarkeit für die Rekonstruktion der Frauengeschichte des frühen Christentums muß jedoch jeweils überprüft werden. Wenn aber eine solche Rekonstruktion zum Ziel hat, der Geschichte die Frauen und den Frauen die Geschichte zurückzugeben und gleichzeitig die frühchristliche Geschichte umzuwandeln und neu zu begreifen, dann ist es ebenfalls notwendig, die Wechselwirkung zwischen diesen Kategorien und biblischhistorischen theoretischen Ansätzen zu untersuchen, bevor ein integratives heuristisches Modell formuliert werden kann.
Modelle der Bibelinterpretation Die Formulierung einer feministisch-historischen Hermeneutik 2 muß nicht nur den umfassenden kulturellen Wechsel vom androzentrischen zum feministischen Paradigma der Wirklichkeits konstruktion und -veränderung aufweisen, sondern auch die theoretischen Modelle biblischer Hermeneutik und deren Implikationen für das feministische Paradigma untersuchen. Da die Bibel als Heilige Schrift nicht nur ein historisches Buch ist, sondern auch Bedeutung und Autorität für ChristInnen heute beansprucht, hat die theologische Wissenschaft verschiedene theoretische Ansätze und Modelle entworfen, die der Spannung zwischen dem theologischen und historischen Anspruch der Bibel gerecht werden sol2 Als gründlichere Erörterung vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Toward a Feminist Biblical Hermeneutics. Biblical Interpretation and Liberation Theology, in: Brian Mahan/L. Dale Richesin (Hg.), The Challenge of Liberation Theology. A First World Response, Maryknoll, N. Y. I98I, 9I-II2.
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len. In derselben Spannung steht auch eine feministisch-historische Rekonstruktion, insofern sie nicht ausschließlich rückwärtsgewandt, sondern den heute lebenden Frauen und ihrem Befreiungskampf verpflichtet ist. Deshalb ist eine Überprüfung der verschiedenen theoretischen Modelle, die von der biblisch-historischen Wissenschaft entwickelt worden sind, notwendig. 3 Das erste Modell, das ich den dogmatischen Ansatz nenne, versteht die Bibel als göttliche Offenbarung und kanonische Autorität. Sein Verständnis biblischer Offenbarung und Autorität ist jedoch ungeschichtlich und dogmatisch. In seinen konsequentesten Ausprägungen insistiert es auf der Verbalinspiration und buchstäblich gemeinten geschichtlichen Irrtumsfreiheit der Bibel. Der biblische Text sei nicht einfach ein geschichtlicher Ausdruck der Offenbarung, sondern die Offenbarung selbst. Er teile nicht nur Gottes Wort mit: er ist das Wort Gottes. So verstanden wirkt er als norma normans non normata oder »höchstes Prinzip«. Die Vorgehensweise dieses Modells besteht darin, durch Belegstellen die höchste theologische Autorität und Rationalisierung für eine bereits eingenommene Position zu liefern. Die übliche Formel lautet: »Die Schrift sagt, daher. .. Die Bibel lehrt, deshalb ... «. Als Heilige Schrift erhält die Bibel die Funktion eines absoluten Orakels, das zeitlose W ahrheiten und eindeutige Antworten auf die Fragen und Probleme aller Zeiten offenbart. Das zweite Modell, die historisch-positivistische Exegese, wurde in Konfrontation mit der dogmatischen Vereinnahmung der Schrift und mit der Lehrautorität der Kirche entworfen. Dieser Angriff auf die Offenbarungsautorität der Schrift ist verbunden mit einem Verständnis der Exegese und Geschichtsschreibung als positivistisch, tatsachenorientiert, objektiv und wertfrei. In Anlehnung an das rationalistische Verständnis der Naturwissenschaften strebt die historisch-positivistische Exegese eine durch und durch objektive Lektüre der Texte und eine wissenschaftliche Darstellung der historischen »Fakten« an. Nach James Barr verknüpft die fundamentalistische Exegese dieses Modell mit dem ersten Modell, wenn sie theologische Wahrheit und Offenbarung mit historischer Faktizität gleichsetzt. 4 Obwohl die historisch-kritische Forschung von einem solch objektivistischen, an »Fakten« orientierten Verständnis biblischer Texte abgerückt ist, hält sie noch immer am Dogma der wertneutralen, voraussetzungslosen Interpretation fest. Oft vermeidet sie es, Implikationen und 3 Als umfassendere Diskussion und Dokumentation vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, For the Sake of Our Salvation ... Biblical Interpretation as Theological Task, in: Daniel Durken (Hg.), Sin, Salvation, and the Spirit, Collegeville, Minn. 1979,21- 39. 4 Vgl.James Barr, Fundamentalismus, München 1981, 102ff.
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Bedeutung von Forschungen genau zu benennen, weil sie sich nicht vorwerfen lassen will, sie presse die biblischen Texte und »Daten« in eine vorgefertigte Schablone. Eine solche wissenschaftliche Objektivität ist historisch gesehen zwar verständlich, aber theoretisch nicht möglich. Dies ist eine Einsicht, die vom dritten Modell entwickelt wurde, der dialogisch-hermeneutischen Interpretation.! Dieses Modell nimmt die vom zweiten Modell entwickelten historischen Methoden ernst, reflektiert jedoch gleichzeitig die Interaktion zwischen Text und Gemeinde, zwischen Text und Interpretierenden. Die methodologischen Untersuchungen der Form- und Redaktionsgeschichte haben gezeigt, in welchem Ausmaß die biblischen Schriften theologische Antworten auf praktischpastorale Situationen sind. Die hermeneutische Diskussion hat ihrerseits genauer herausgearbeitet, wie Wissenschaftlerlnnen durch ihre jeweiligen Voraussetzungen bei der Textinterpretation beeinflußt werden. Der Form- und Redaktionsgeschichte jedoch ist wiederum vorgehalten worden, sie entwerfe die Situation frühchristlicher Gemeinden zu sehr im Sinne konfessioneller Auseinandersetzungen. Deshalb betont die sozialgeschichtliche Bibelforschung nachdrücklich, daß es nicht genügt, den Sitz im kirchlichen Leben zu rekonstruieren. Christliche Gemeinde und christliches Leben sind immer mit kulturellen, politischen und sozialen Kontexten verflochten. In der hermeneutischen Diskussion geht es um das Verstehen des Sinns biblischer Texte. 6 Obwohl Interpretierende immer mit ihren begrenzten, zeittypischen Erfahrungen und Fragen an einen historischen Text herangehen, sollten Wissenschaftlerlnnen versuchen, sich weitestmöglich von jedem vorgefaßten Verständnis des Textes freizumachen - wenn es auch unmöglich ist, sich vollständig von jedem Vorverständnis zu lösen. Der Inhalt des Textes und der Text als solcher und eben nicht vorgefaßte Ideen und von vornherein vorausgesetzte Situationen sollten die Interpretation biblischer Texte bestimmen. An diesem Punkt wird ersichtlich, daß der bestimmende Faktor in diesem dritten Modell die dialogische Interpretation ist. Während Formund Redaktionsgeschichte genauer ausarbeiten, wie sehr die frühchristlichen Gemeinden und Autoren in fortwährendem Dialog und dauernder 5 Vgl. besondersJames Barr, The Bible as Document of Believing Communities, in: Hans Dieter Betz (Hg.), The Bible as a Document of the University, Chico, Calif. 1981 ,25-47. 6 Vgl. als exzellenten Überblick und hervorragende Besprechung Anthony C. Thistelton, The Two Horizons. New Testament Hermeneutics and Philosophical Description with Special Reference to Heidegger, Bultmann, Gadamer and Wittgenstein, Grand Rapids 1980; Paulj. Achtemeier, The Inspiration of Scripture. Problems and Proposals, Philadelphia 1980; dazu die Rezension von Francis Schüssler Fiorenza in: The Catholic Biblical Quarterly 43 (19 81 ) 635-637.
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Auseinandersetzung mit ihrer »lebendigen Tradition« und den Problemen ihrer Gemeinden standen, dehnt der hermeneutische Zirkel das dialogische Verhältnis auf den heutigen Akt der Interpretation aus. Deshalb kann dieses hermeneutische Modell mit dem neo-orthodoxen theologischen Ansatz verbunden werden. Schillebeeckx gibt den Hinweis: »Man scheint von der Annahme auszugehen, daß die Tradition, vor allem die christliche Tradition, immer Sinn weitergebe, den man nur hermeneutisch zu entziffern und zu aktualisieren brauche.«? Das vierte und letzte Modell der Bibelinterpretation ist das befreiungstheologische Modell. In ihren verschiedenen Ausprägungen stellt die Befreiungstheologie die sogenannte Objektivität und Wertneutralität akademischer Theologie infrage. Grundlegende Einsicht jeder Befreiungstheologie, einschließlich der feministischen Theologie, ist die Erkenntnis, daß jede Theologie per definitionem - ob gewollt oder ungewollt immer parteilich ist für oder gegen die Unterdrückten. 8 In einer Weh der Ausbeutung und Unterdrückung ist intellektuelle Neutralität nicht möglich. Dann aber kann Theologie nicht über menschliche Existenz im allgemeinen und biblische Theologie im besonderen reden, ohne diejenigen kritisch zu identifizieren, deren menschliche Existenz gemeint ist und von deren Gott die biblischen Symbole und Texte sprechen. An diesem Punkt wird es notwendig, nach dem Interesse akademischer historischer und theologischer Wissenschaft zu fragen. Nachdem sie sich von den dogmatischen Fesseln kirchlicher Autorität befreit hat, steht sie nun in Gefahr, den Interessen akademischer Institutionen zum Opfer zu fallen, die den status quo der herrschenden politischen Machtstrukturen legitimieren. Sie tendiert dazu, den Interessen der herrschenden Klassen in Gesellschaft und Kirche zu dienen, statt dem Volk Gottes, vor allem den armen und ausgebeuteten Frauen und Männern aller Nationen und Rassen treu zu bleiben. Statt sich um eigene theologische Integrität zu bemühen, dient die biblisch-theologische Wissenschaft - oft unbewußt den politischen Interessen des akademischen Betriebes, der nicht nur Männer zu den normativen Subjekten der Wissenschaft macht, sondern 7 Edward Schillebeeckx, Glaubensinterpretation. Beiträge zu einer hermeneutischen und kritischen Theologie, Mainz 1971, 145. 8 Vgl. v. a. Frederick Herzog, Liberation Hermeneutics as Ideology Critique, in: Interpretation 27 (1974) 387-403 ;JuanLuis Segundo, The Liberation ofTheology, MaryknolI, N. Y. 1976; Jose Miguez Bonino, Theologie im Kontext der Befreiung, Göttingen 1977; Lee Cormie, The Hermeneutical Privilege of the Oppressed. Liberation Theologies, Biblical Faith, and Marxist Sociology of Knowledge, in: Proceedings of the Catholic Theological Society of America 32 (1978) 155-181.
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sich auch zur theoretischen Legitimation gesellschaftlicher Unterdrükkungsstrukturen gebrauchen läßt.
Die Frauenbibel (The Woman's Bible) Selbst bei nur flüchtiger Kenntnis der Geschichte feministischer Bibelinterpretation wird deutlich, daß die wissenschaftliche Diskussion über »die Frau in der Bibel« nicht abstrahiert von ihrer apologetisch-politischen Engführung und ihrer Legitimationsfunktion betrachtet werden darf. Ob die Bibel 1637 im Prozeß gegen Anne Hutchinson oder 1977 in der Vatikanischen Erklärung gegen die Ordination von Frauen9 benutzt wird: ihre Funktion bleibt dieselbe, nämlich die Legitimation des gesellschaftlichen und kirchlichen Patriarchats und des von Gott darin den Frauen zugewiesenen Platzes. Seit dem Beginn der Frauenbewegung und auch heute noch spielt die Bibel eine Schlüsselrolle in der Debatte gegen die Frauenemanzipation. Als der Kongregationalistische Klerus von Massachusetts behauptete, das Neue Testament lege Pflichten und Wirkungsbereich von Frauen fest, konterte Sarah Moore Grimke, daß die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften zu den »antichristlichen >Männertraditionen< «gehöre. 'o 1854 beharrte auf dem Frauenrechtskongreß in Philadelphia Reverend H. Grew darauf, »daß es eindeutig Gottes Wille ist, daß der Mann Frauen an Macht und Autorität überlegen ist«. Hannah Tracy Cutler aus Illinois wendete in ihrer Entgegnung »jeden Text, den er zitiert hatte, geschickt direkt gegen den geistlichen Herrn - zum großen Vergnügen der Anwesenden«. I I Doch die Auseinandersetzung kam im letzten Jahrhundert zu keiner Lösung. An der Debatte um die 1895 und 1898 erschienene Frauenbibellassen sich die politischen Voraussetzungen und hermeneutischen Implikationen feministischer Bibelinterpretation und der radikale kritische Einfluß feministischer Theologie auf die Interpretationsarbeit erhellen. In ihrer Einleitung zur Frauenbibel skizzierte die Initiatorin des Projekts, Eliza9 Vgl. besonders Leonard SwidlerlArlene Swidler (Hg.), Wornen Priests. A Catholic Cornrnentary on the Vatican Declaration, New York 1977; Carroll Stuhlmueller (Hg.), Wornen and Priesthood. Future Directions, Collegeville, Minn. 1978; Maureen Dwyer (Hg.), New Wornan, New Church, New Priestly Ministry, Rochester, N. Y. 1980. Zur ökumenischen Diskussion vgl. Constance F. Parvey (Hg.),Ordination of Wornen in Ecurnenical Perspective (Faith and Order Paper 105), Genf 1980. 10 Aileen S. Kraditor (Hg.), Up frorn the Pedestal. Landmark Writings in the Arnerican Wornen's Struggle for Equality, Chicago 1968, 51.55. 1 lA.a.O., 108f.
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beth Cady Stanton, zwei kritische Einsichten für eine feministisch-theologische Hermeneutik: 1. Die Bibel ist kein »neutrales« Buch, sondern eine politische Waffe gegen den Befreiungskampf von Frauen. 2. Der Grund dafür ist, daß die Bibel den Stempel von Männern trägt, die Gott nie gesehen und nie mit Gott gesprochen haben. 1. Elizabeth Cady Stanton verstand Bibelinterpretation als politischen Akt. Wie die folgende Episode illustriert, war sie persönlich davon überzeugt, daß sich die christliche Religion negativ auf die Situation von Frauen auswirkt. Sie weigerte sich, an einem Gottesdienst von Suffragetten teilzunehmen, der mit dem Hymnus »Führe uns, großer Jehova« von Isabella Beecher Hooker eröffnet wurde, denn, so lautete ihre Begründung, Jehova »hat nie auf irgend eine Weise aktiv an der Frauenrechtsbewegung teilgenommen«.I2 Ihre Erfahrung, daß Jahwe nicht auf der Seite der Unterdrückten stand, machte ihr den großen politischen Einfluß der Bibel bewußt. Deshalb schlug sie vor, eine Revision der Bibel vorzubereiten, die alle Aussagen, die sich auf Frauen in der Bibel beziehen, (mithilfe »höherer Kritik«) sammeln und interpretieren sollte. Sie räumte jedoch ein, daß ihr Versuch, Wissenschaftlerinnen für die Unterstützung des Projekts zu gewinnen, nicht sehr erfolgreich war, denn diese befürchteten, sie könnten ihr hohes Ansehen und ihre wissenschaftliche Karriere gefährden, wenn sie sich an einem Unternehmen beteiligten, das sich eine Zeitlang als sehr unpopulär erweisen könnte. Daher gelingt es uns vielleicht nicht, aus dieser Klasse Hilfe zu erhalten. I) Und tatsächlich stellte sich das Projekt der »Frauenbibel« wegen seiner politischen Implikationen als sehr unpopulär heraus. Nicht nur meinten einige Frauenrechtlerinnen, ein solches Projekt sei unnötig oder politisch unklug, sondern die National American Woman's Suffrage Association wies es offiziell als politischen Fehler zurück. Im zweiten Band, der 1898 erschien, schreibt Cady Stanton zusammenfassend über die Opposition gegen das Projekt: »FreundIn und FeindIn lehnt den Titel ab.« Mit beißendem Spott entgegnet sie auf die Anschuldigung eines Geistlichen, die »Frauenbibel « sei »T eufels- und Frauenwerk «: Das ist ein schwerer Irrtum. Seine Majestät, der Satan, durfte dem Revisionsausschuß nicht beitreten, da dieser ausschließlich auch Frauen be12 Barbara WeIter, Something Remains to Dare. Introduction to the Women's Bible, in: Elizabeth Cady Stanton (Hg.), The Original Feminist Attack on the Bible. The Women's Bible (Faksimile), New York 1974, xxii. 13 Cady Stanton, The Woman's Bible, Bd. 1,9. Vgl. Elaine C. Huber, They Weren't Prepared to Hear. A Closer Look at the Woman's Bible, in: Andover Newton Quarterly 16 (1976) 271-276.
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stand. Außerdem war der Satan in den letzten Jahren so sehr damit beschäftigt, an Synoden, Generalversammlungen und Konferenzen teilzunehmen, um die Zulassung weiblicher Delegierter zu verhindern, daß er keine Zeit zum Studium der Sprachen und der »höheren Kritik« fand. '4 Noch immer ist die Auseinandersetzung über die Frauen in der Bibel weitgehend von fundamentalistischen Attacken, feministischer Polemik und apologetischem Umgang mit der Bibel gekennzeichnet. Daß der Streit um dieses Thema so polemisch ausgetragen wird, disqualifiziert jedoch nicht das Thema, sondern zeigt an, wie sehr die Bibel noch immer auf den Befreiungskampf von Frauen einwirkt. Während nachbiblische Feministinnen beispielsweise behaupten, die paulinischen Haustafeln seien Zeichen dafür, daß christliche Theologie und christlicher Glaube bereits in einem sehr frühen Stadium sexistisch gewesen und daher eine feministische Revision zum Scheitern verdammt sei, antwortet christliche Apologetik damit, daß sie Paulus als »Befreier« verteidigt: Die Schriften des Paulus, richtig verstanden, unterstützten die Gleichheit und Würde der Frauen; nicht die paulinische Botschaft, sondern ihre patriarchale oder feministische Verdrehung predige die Unterwerfung der Frauen. Titel, wie »Der Apostel Paulus - Chauvinist oder Befreier ?« illustrieren diese Kontroverse. Andere argumentieren, der Aufruf zur Unterordnung der Frauen müsse als Gebot zu »revolutionärer Unterordnung« verstanden werden. Solche Unterordnung sei eine spezifisch christliche Lebensform, die alle menschlichen Beziehungen bestimme. ChristInnen müßten daher angesichts der modernen Häresie des Egalitarismus die geoffenbarte Wahrheit solcher Unterordnung am Leben erhalten, damit Frauen im 2 I. Jahrhundert ihre geoffenbarte Unterordnung leben können. '5 Wenn es darum geht, biblische Texte vor ihrer feministischen Kritik zu retten, scheuen Wissenschaftler auch nicht davor zurück, Frauen zu brüskieren: Anhängerinnen der Frauenbewegung haben ganz sicher nicht selbst, ausgerüstet mit den Werkzeugen der Wissenschaft, die zur Bewertung 14 Cady Stanton, The Woman's Bible, Bd. 2,7f. Zum kulturell-religiösen Kontext vgl. James Smylie, The Woman's Bible and theSpiritual Crisis, in: Soundings 59 (1976) 305328, und die Beiträge von Anne McGrew Bennet, Linda K. Pritchard, Mary K. Wakeman, Barbara Yoshioka, Clare Denton, EbbaJohnson und Gayle Kimbal zum Symposium über "The Women's Bible. Reviews and Perspectives«, in: Warnen and Religion, 1973 Proceedings, Tallahassee 1973, 39-78. 15 V gl. John H oward Yoders Zurückweisung von Krister Stendahl, The Bible and the Role ofWomen. A Case Study in Hermeneutics, Philadelphia 1966: Die Politik Jesuder Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981, 157 Anm. 21.
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der Worte des Apostels notwendig sind, das N eue Testament befragt. Vielmehr haben sie das Bild, das die populäre etablierte Kirche von Paulus gezeichnet hat, in ihrem liberalen, wie auch konservativen Gewand übernommen. 16 Die Diskussion dreht sich häufig um die Gebote zur Unterordnung in den paulinischen Schriften. Zur Verteidigung des Paulus machen Exegeten geltend, der Apostel habe diese Unterordnungs gebote formulieren müssen, um Frauen vor den Konsequenzen ihres eigenen Tuns zu schützen und ihr Fehlverhalten zu korrigieren: Warum sollte der Heilige Paulus sich soviel Gedanken machen über die unverschleierten Frauen, die in Gemeindeversammlungen sprachen? Offensichtlich, weil sie einige der anderen Gemeindemitglieder verwirrten und schockierten ... Es ist demnach sehr wohl möglich, daß er, indem er darauf bestand, daß sich Frauen verschleiern und daß sie schweigen (falls 14,34f tatsächlich paulinisch ist), nicht nur die (patriarchale) Ehe sondern auch die vom Geist erfüllten Frauen schützte, deren Art, ihre Freiheit zu zelebrieren, sie teuer hätte zu stehen kommen können. 17 Andere Exegeten wollen Paulus verteidigen, indem sie »dem Opfer die Schuld geben«, wenn sie betonen, daß die pneumatischen Ausschreitungen von Frauen und SklavInnen die Unterwerfungsgebote provoziert hätten. Diese hätten nicht die patriarchale Ordnung der Gesellschaft auch in der Kirche errichtet, sondern die Schöpfungsordnung wiederhergestellt. Die Herausforderung der modernen Exegese durch dieses Material besteht zum Teil darin, daß sie überprüfen muß, ob die Aufrechterhaltung der Unterscheidung der Geschlechter tatsächlich der Wertschätzung der Gleichheit so entgegengesetzt ist, wie wir unter dem Druck gegenwärtiger Befreiungsbewegungen zu denken pflegen. 18 Früher hatten Theologen die Behauptung der minderwertigen Rolle der Frauen unter Berufung auf ihre minderwertige Natur begründet. Anr6 Robin Scroggs, Paul and the Eschatological Woman, in: Journal of the American Academy of Religion 40 (r972) 283- 3°3.283. r7 Robert Kress, Whither Womankind? The Humanity ofWomen, St. Meinrad, lnd. r975,92ff. r8 Robert Jewett, The Sexual Liberation ofthe Apostle Paul, in: Journal ofthe American Academy of Religion Supplements 47 (r!r979) 55-87.68.
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gesichts der feministischen Kritik versuchen Wissenschaftler heute, die paulinischen Aussagen mithilfe des »Gleichwertig, aber andersartig«-Arguments zu retten, das ihrem Verständnis zufolge die »orthodoxe« Anthropologie zum Ausdruck bringt. Paulus, so lautet die Argumentation, habe die begeisterte »Illusion« der Prophetinnen in Korinth korrigiert, die möglicherweise Anhängerinnen der »gnostischen Androgynie« gewesen selen. Eine weitere Art der wissenschaftlichen Verteidigung des Paulus wertet die »feministische« Frage subtil als »ungeschichtlich« ab. Es ist wirklich nicht meine Absicht, Paulus vor eine Geschworenenkommission aus NeutestamentlerInnen zu bringen, um zu verhandeln, ob er zu 30 %,75 % oder 100 % Feminist ist. Schließlich sind dies Kriterien, die aus unserer gegenwärtigen Situation abgeleitet sind. Der Versuch, Paulus einfach nach solchen Maßstäben zu beurteilen, scheint mir anachronistisch und Zeitverschwendung. I9 Um Paulus zu rechtfertigen, vermeidet diese Verteidigung des Paulus die historische Frage, ob sich die Argumentation des Paulus nicht gegen christliche Frauen richtet, die die patriarchale Ordnung und Theologie ihrer Zeit nicht akzeptierten. Ferner setzt das Zitat voraus, daß der Feminismus als Kampf für die Befreiung der Frauen vom Patriarchat eine hypermoderne Erfindung ist, und übersieht die Entdeckungen der Altertumsforschung, daß Frauen in der hellenistisch-römischen Welt verhältnismäßig emanzipiert waren. Selbst Frank und Evelyn Stagg halten es für nötig, für Paulus dadurch Partei zu ergreifen, daß sie die feministische Bewegung implizit wegen ihrer Kritik der patriarchalen Ehe kritisieren: Wahrscheinlich liegt heute die Hauptgefahr unserer erwachenden Sorge um Freiheit und Rechte der Frau genau dort, wo Paulus ihr entgegengetreten ist - in der Bedrohung von Moral und Strukturen. Es ist leichter, Freiheit zu fordern und zu proklamieren, als Freiheit verantwortlich zu gebrauchen ... Mit einer teilweisen Rückgewinnung dieser Frauenperspektive ist die offensichtliche Bedrohung von Strukturen, besonders der Familie, verbunden. 20 Diese Auswahl von Beispielen für die »Verteidigung des Paulus« in moderner Exegese markiert nicht nur den androzentrischen Charakter 19 Elaine Pagels, Paul und Wornen. AResponse to Recent Discussion, in Journal of the Arnerican Acaderny of Religion 42 (1974) 53 8- 549.547. 20 EvelynStagglFrankStagg, Wornanin the World ofJesus, Philadelphia 1978, 256f.
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wissenschaftlicher Schriftinterpretation, sondern auch ihre Funktion für das Patriarchat. Um die Autorität der paulinischen Texte, die die Unterordnung von Frauen legitimieren, aufrechtzuerhalten, sind ExegetInnen zur Rechtfertigung des Paulus um jeden Preis bereit. Solche wissenschaftliche Apologetik übersieht jedoch, daß historische Forschung nicht die theologische Rechtfertigung des Paulus, sondern die Wiederentdeckung von Leben und Praxis der frühchristlichen Gemeinden zur Aufgabe hat. Bei der Rekonstruktion der christlichen Vergangenheit können Wissenschaftlerlnnen nicht länger die politischen Implikationen ihrer theoretischen Modelle und Erklärungen unbeachtet lassen. Die Einführung von »Geschlechterdifferenzierung« als Kategorie der Interpretation setzt die Kenntnis der feministischen Kritik dieser Kategorie voraus. 21 Andernfalls wird die biblische Theologie Feministinnen nicht davon überzeugen können, daß ihr Interesse an der christlichen Vergangenheit ein historisch-kritisches ist und nicht einfach theologischer Apologetik dient. Feministinnen neigen ihrerseits dazu, sich dieser Auseinandersetzung zu entziehen, sei es weil es ihnen an wissenschaftlichem Interesse fehlt, sei es weil sie der christlichen Religion tief entfremdet sind. Sie hegen Verdacht gegen den feministischen Anspruch einer revision ären Interpretation der Bibel und erkennen deren politische Implikationen nicht. Doch die politischen Gründe, die Cady Stanton für eine feministische Korrektur der Bibel anführte, gelten - wie der große Einfluß der Moral Majority zeigt - heute noch. 22 Cady Stanton skizzierte drei Argumente für die politische Notwendigkeit einer wissenschaftlich-feministischen Bibelinterpretation : i) Immer in der Geschichte und besonders heute wird die Bibel benutzt, um Frauen zu unterwerfen, in Abhängigkeit zu halten und an ihrer Emanzipation zu hindern. ii) Gerade Frauen glauben besonders ergeben an die Bibel als Wort Gottes. Gerade für Frauen hat die Bibel numinose Autorität. iii) In keinem Bereich der Gesellschaft ist eine Reform möglich, wenn sie nicht auch in allen anderen Bereichen vorangetrieben wird. Das Recht und andere kulturelle Institutionen können nicht reformiert werden, 21 Vgl. besonders Michelle Zimbalist Rosaldo, The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross Cultural Understandings, in: Signs 5 (1980) 389417; MarilynJ. Boxer, For and about Women. The Theory and Practice of Women's Studies in the United States, in: Signs 7 (1982) 696-700; Michele Barrett, Das unterstellte Geschlecht. Umrisse eines materialistischen Feminismus, Berlin 1982, 45- 136; Judith Shapiro, Anthropology and the Study of Gender, in: Soundings 64 (1981) 4464 6 5. 22 Vgl. v. a. Charlene Spretnak, The Christian Right's »Holy War« against Feminism, in: dies., The Politics ofWomen's Spirituality, New York 1982,470-496.
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wenn nicht auch die biblische Religion, die die Bibel als Heilige Schrift geltend macht, reformiert wird. Da »alle Reformen in lnterdependenz stehen«, ist eine kritisch-feministische Bibelinterpretation ein - wenn auch vielleicht inopportunes - notwendiges politisches Unternehmen. Wenn Feministinnen meinen, sie bräuchten sich nicht um die Revision . der Bibel zu kümmern, weil es brennendere politische Probleme gebe, dann ignorieren sie die politische Wirkung der Schrift auf Kirchen und Gesellschaft - und nicht zuletzt auch auf das Leben von Frauen. 2. Cady Stanton stieß mit ihrer Herausgabe der Frauenbibel nicht nur deshalb auf Widerstand, weil diese politisch inopportun war, sondern auch wegen deren radikaler hermeneutischer Perspektive, die das zentrale apologetische Argument anderer Suffragetten, die wahre Botschaft der Bibel sei durch Übersetzungen und Interpretationen verschüttet worden, ausweitete und zugleich ersetzte. Sarah Moore Grimke hatte »protest erhoben gegen die falschen Übersetzungen einiger Textpassagen durch die MÄNNER, die sie erarbeitet hatten, und gegen die pervertierten Interpretationen durch die MÄNNER, die die Aufgabe übernommen hatten, Bibelkommentare darüber zu schreiben. Ich neige zur Ansicht, daß wir, wenn uns die Ehre des Griechisch- und Hebräischstudiums zugestanden wird, verschiedene Lesarten der Bibel vorlegen werden, die sich von denen, die uns jetzt vorliegen, um einiges unterscheiden werden.«23 Und Hannah Tracy Cutler hatte angekündigt: »Die Zeit ist gekommen, daß Frauen die Schrift selbst lesen und interpretieren«, während Lucretia Mott argumentiert hatte: »So lange haben wir unseren Glauben voller Vertrauen auf die Bibelinterpretationen anderer gebaut, daß wir nun endlich anfangen sollten, Tag für Tag diese Dinge selbst zu untersuchen, um zu sehen, ob sie wirklich so sind. Und indem wir Text mit Text vergleichen, werden wir wahrscheinlich entdecken, daß ihnen eine ganz andere Richtung gegeben werden kann.«24 Diese Argumentationslinie führt Francis Willard weiter, wenn sie gegen die radikale Hermeneutik der Frauenbibel einwendet, es sei nicht die biblische Botschaft, sondern nur ihre heutige androzentrische Interpretation, die die Unterwerfung der Frauen predige: Ich bin der Meinung, daß Männer ihre eigenen eigennützigen Theorien in das Buch hineingelesen haben und Theologen die progressive Qualität der biblischen Offenbarung nicht genügend erkannt und zwischen historischen Berichten und den ethischen und religiösen Prinzipien der Bibel nicht angemessen unterschieden haben. 25 23 Kraditor, Up frorn the Pedestal, 54. 24 A.a.O., 109. 25
Cady Stanton, The Wornan's Bible, Bd. 2,200.
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Cady Stanton stimmte damit überein, daß die wissenschaftlichen Bibelinterpretationen vom Geist des Mannes eingegeben sind und einer »Entpatriarchalisierung« bedürfen. Doch ihre kritische Einsicht war gerade die, daß die Bibel nicht nur mißverstanden und schlecht interpretiert wird, sondern daß sie deshalb im politischen Kampf gegen das Frauenstimmrecht angewendet werden kann, weil sie patriarchal und androzentrisch ist. In kritischer Absetzung zur dogmatischen Vorstellung von der Verbalinspiration der Bibel als unmittelbarem Wort Gottes betont sie, daß die Bibel von Männern geschrieben sei und die Männerinteressen ihrer Autoren reflektiere. »Der einzige Punkt, an dem ich mich von jeder kirchlichen Lehre unterscheide, ist, daß ich nicht glaube, daß jemals irgendein Mann Gott gesehen oder mit Gott gesprochen hat. «.6 Gegen die Behauptung der Kirchen, die frauenverachtenden Vorstellungen und die patriarchalen Unterwerfungsgebote stammten von Gott, vertritt sie die Auffassung, daß alle diese abwertenden Texte Männerköpfen entsprungen sind. Indem ihre Kommission die Bibel als Menschen- bzw. Männerwerk und nicht als Fetisch behandelt und den negativen biblischen Aussagen über Frauen die göttliche Inspiration abgesprochen habe, habe sie - so versichert Cady Stanton - Gott mehr Ehrerbietung erwiesen als der Klerus und die Kirche. Wissenschaftler arbeiteten die Implikationen historisch-wissenschaftlicher Interpretation für das Verständnis der biblischen Lehren über Frauen nicht heraus, weil sie an der Aufrechterhaltung patriarchaler Interpretationen des christlichen Glaubens ein theologisches Interesse hätten. Die Frauenbibel kommt zur üblichen Leserin wie ein wirklicher Segen. Sie sagt ihr, daß nicht der liebe Gott das Buch der Bücher geschrieben hat, daß die Szene im Garten Eden eine Legende ist, daß sie als Frau keineswegs verantwortlich ist für das Gesetz der Weh. Die christlichen Gelehrten und Wissenschaftler sagen ihr dies nicht, weil sie ja ein Interesse daran haben und dafür sorgen, daß die Frau der Schlüssel zur Situation ist. Sobald wir die Schlange, den Baum und die Frau aus dem Gemälde herausnehmen, haben wir keinen Sündenfall, keinen stirnrunzelnden Richter, keine Hölle, keine ewige Strafe - folglich kein Bedürfnis nach einem Erlöser. So bricht die Basis der gesamten christlichen Theologie zusammen. Hier liegt der Grund dafür, daß in Bibelforschungen und höherer Kritik der Bibel die Wissenschaftler nie an die Frage der Stellung der Frauen rühren.'7
26 Cady Stanton, The Wornan's Bible, Bd. 27 Kraditor, Up frorn the Pedestal, 119·
1,12.
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Doch trotz ihrer radikalen Kritik hält Cady Stanton daran fest, daß einige der religiösen und ethischen Grundaussagen der Bibel- z. B. das Liebesgebot und die Goldene Regel - heute noch Geltung haben. Sie zieht daraus den Schluß, daß die Bibel in ihrer Gesamtheit weder für wahr gehalten noch verworfen werden könne, da ihre Lehren und Glaubenssätze untereinander sehr verschieden sind. Weder eine totale Zurückweisung noch ein totales Fürwahrhalten der Bibel sei erforderlich. Statt dessen müsse jeder Abschnitt in der Bibel über Frauen sorgfältig analysiert und auf seine androzentrischen Implikationen hin bewertet werden. Zusammenfassung: Angesichts der »biblischen Gegner« der Frauenbewegung im letzten Jahrhundert befürwortete Elizabeth Cady Stanton eine Untersuchung aller biblischen Textstellen über »die Frau« vom Standpunkt der »höheren« exegetischen Kritik aus. Ihre Ergebnisse und Methoden entsprechen daher dem Stand der historisch-biblischen Forschung ihrer Zeit. In ihrer Autobiographie erklärt Cady Stanton, sie habe das Projekt ins Leben gerufen, weil sie so viele »widerstreitende Meinungen über die Bibel gehört habe: Einige sagen, sie lehre die Frauenemanzipation, und andere, sie lehre die Unterwerfung der Frauen.« Da sie habe wissen wollen, was die Bibel tatsächlich lehre, habe die Frauenbibel die Gestalt eines wissenschaftlichen Kommentars zu den biblischen Passagen über die Frau angenommen. Dieser topologische oder motivgeschichtliche exegetische Ansatz beherrschte bisher und beherrscht noch immer die wissenschaftliche Forschung und die populäre Auseinandersetzung über »die Frau in der Bibek 28 Die Diskussion hielt also deutlich an den Parametern fest, die die ersten beiden Interpretationsmodelle, das dogmatische und das faktenorientierte historische Modell vorgegeben hatten, Impetus und Wirkung der Diskussion reflektieren jedoch die politischen Dimensionen des Befreiungsmodells. Das wichtigste Ergebnis der Diskussion ist Cady Stantons Einsicht, daß der biblische Text androzentrisch ist und daß Männer der biblischen Offenbarung ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Bibel werde nicht nur aus Männerperspektive interpretiert, wie einige Feministinnen behaupteten. Sie sei vielmehr Männerwerk, weil sie von Männern geschrieben wurde und Ausdruck einer patriarchalen Kultur ist. Cady Stanton und ihre Mitautorinnen bekräftigen auf diese Weise das allgemein anerkannte Ergebnis historisch-kritischer Forschung, daß die göttliche Offenbarung sich in historisch begrenzter und kulturell bedingter menschli28 Zu solch thematischem Ansatz vgl. Leonard Swidler, Biblical Affirmations of Woman, Philadelphia 1979; Karl Hermann Schelkle, Der Geist und die Braut. Frauen in der Bibel, Düsseldorf 1977; Erhard S. GerstenbergerlWolfang Schrage, Frau und Mann, Stuttgart 1980.
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cher Sprache artikuliert. Aber feministische Interpretation partikularisiert und relativiert die Bibel noch ein Stück weiter, wenn sie detailliert darlegt, daß die biblische Sprache Männersprache ist und die kulturellen Bedingungen und Perspektiven der Bibel diejenigen des Patriarchats sind. Damit greift sie das dritte Modell der Bibelinterpretation auf, das die Interaktion zwischen Text und Kontext hervorhebt. Dieses hermeneutisch-kontextuelle Modell hat nicht nur den Kanon der Schrift als pluriformes Basismodell christlicher Gemeinden nachgewiesen, sondern auch gezeigt, daß die Bibel oft widersprüchliche Antworten enthält und daher nicht alle biblischen Aussagen gleichermaßen Anspruch auf Wahrheit und Autorität haben. Um den biblischen Wahrheits anspruch herauszukristallisieren, muß dieses Interpretationsmodell auf das dogmatische Modell zurückgreifen und sich auf die Lehrautorität der Kirche oder auf den »Kanon im Kanon« berufen.
Das neo-orthodoxe Modell feministischer Interpretation Das historisch-kritische Verständnis des Kanons als Sammlung sehr unterschiedlicher, oft widersprüchlicher Schriften und kultureller Ausdrucksformen unterstrich nicht nur den Kontext und die Bedingungen von Offenbarung, sondern weckte auch das Bedürfnis nach Kriterien für die theologische Bewertung und Aneignung biblischer Lehren und Traditionen. 29 Da christlicher Glaube und christliche Tradition immer mit den jeweiligen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten und Sprachen verflochten sind, genügt es nicht, lediglich den biblischen Text zu interpretieren und zu verstehen. Es muß zusätzlich theologisch ausgemacht werden, was das wahre Wort Gottes und die Mitte der christlichen Botschaft ist. Bei der theologischen Diskussion um den »Kanon im Kanon« wurde versucht, das Kriterium für die Aneignung der Bibel mit Hilfe der philosophisch-dogmatischen (vgl. die von Willard erwähnten »religiösen Prinzipien«) oder historisch-textkritischen Forschung zu formulieren. Manche TheologInnen unterscheiden zwischen dem Kern der Offenbarung und ihrer historischen Form, zwischen zeitloser Wahrheit und kulturell bedingter Sprache, zwischen unwandelbarer Tradition und sich wandelnden Traditionen. Wenn solch ein Kanon im Kanon dem textkritisch-hermeneutischen Ansatz gemäß festgeschrieben wird, dann wird Jesus gegen Paulus, paulinische Theologie gegen Frühkatholizismus, der 29 Vgl. den Überblick über diese Diskussion bei John Charlot, New Testament Disunity. Its Significancefor Christianity T oday, N ew York 1970.
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historische Jesus gegen den kerygmatischen Jesus, der Jesus der Geschichte gegen die ältesten J esusüberlieferungen, hebräisches gegen griechisches Denken, die christliche Botschaft gegen ihre jüdische, griechische und römische Beeinflussung ausgespielt. Da für weite Kreise evangelischer Theologie - in der die neo-orthodoxe Diskussion um den Kanon im Kanon entwickelt wurde - die Mitte der christlichen Botschaft das paulinische Evangelium ist, bezieht sich die Diskussion der neutestamentlichen Lehre über Frauen oft auf die Interpretation paulinischer Texte, vor allem der besonders problematischen Textstellen über die Unterordnung der Frauen. Vielfach konzentriert sich die wissenschaftliche Diskussion auf diese Textstellen, um die theologische Relevanz des Paulus für die heutige Zeit zu verteidigen. Allgemein anerkannte historisch-kritische Methoden zur Lösung des Problems sind Texterklärungen auf der Basis von Traditionsgeschichte, Quellenkritik und Textkritik. Auf diese Weise können die Unterordnungspassagen in den Briefen an die KolosserInnen und die EpheserInnen, im I. Brief des Petrus und in den Pastoralbriefen als deuteropaulinische Bemerkungen eingeordnet und IKor II,2-16 und 14,33-36 als nachpaulinische Einschübe gesehen werden. Als sekundäre Hinzufügungen zum Text sind sie Ausdruck der Theologie des Frühkatholizismus, spiegeln jedoch nicht die genuine Theologie des Paulus wider. Da die Befreiungstheologie die Bibel parteilich für die Unterdrückten in Anspruch nehmen will, steht sie in Gefahr, zu schnell die Methoden und Interessen des neo-orthodoxen dogmatischen Modells zu übernehmen, und versäumt dadurch, die Funktion der Bibel bei der Unterdrükkung der Armen bzw. der Frauen gründlich genug zu erforschen. Diese' neo-orthodoxe Hermeneutik läßt sich mit Peter L. Berger als Versuch beschreiben, »das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu behalten, das heißt, sich dem Relativismus voll auszusetzen, aber am >Archimedischen Punkt< in einer Sphäre, die immun gegen ihn ist.«3 0 Letty Russells Buch über Befreiungstheologie in feministischer Perspektive ist ein Beispiel dafür, wie eine feministisch-theologische Hermeneutik in Anlehnung an neo-orthodoxe Theologie entwickelt wird. Russell behauptet, der Konflikt zwischen Feminismus und biblischer Religion rühre von einem falschen Verständnis biblischer Religion her. Ausgehend von Gottes Heilshandeln in der Welt als Grundvoraussetzung unterscheidet sie »die Tradition«, »Tradition« und »Traditionen«. Tradition ist kein Block von Inhalten, der von dazu bevollmächtigten Hierarchien sorgsam bewacht werden soll, sondern ein dynamisches 30 Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt 1973, 174.
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Handeln der Liebe Gottes, das an andere jeden Geschlechts und jeder Rasse weitergegeben werden soll.1' »Tradition« bezieht sich auf den gesamten Traditionsprozeß, während »die Tradition« sich auf Christus als Inhalt des Traditionsprozesses be-
zieht. »Traditionen« schließlich sind die Fakten und Grundmuster der Kirchengeschichte. Insofern sich die biblische Botschaft an eine patriarchale Gesellschaft richtete, ist ihre Form situationsspezifisch variabel und durch patriarchale Kultur bedingt. Patriarchale Metaphorik und androzentrische Sprache ist Form, aber nicht Inhalt der biblischen Botschaft. Da Christus der Inhalt der Tradition ist, muß feministische Theologie deutlich machen, »daß Christi Lebenswerk nicht primär darin bestand, ein Mann zu sein, sondern darin, der neue Mensch zu sein.«}' Die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt, historisch veränderlicher Gestalt und Essenz der Theologie, Sprache und göttlichem Handeln ermöglicht so den Entwurf einer feministisch-biblischen Hermeneutik, die dem patriarchalen Sprachcharakter der Bibel Rechnung tragen kann, ohne den patriarchalen Charakter ihres Inhalts anzuerkennen. Das kann sie jedoch nur, wenn sie eine theologische Aussage (Gottes erlösendes und befreiendes Handeln in Jesus Christus) zur Essenz biblischer Offenbarung erklärt und die konkreten biblischen Texte als historisch bedingte Formen einordnet. Zum Beispiel sind nach Russell die paulinischen Aussagen über die Unterordnung situationsspezifisch und daher »Schrift«, aber nicht »Heilige Schrift«, denn Paulus habe »dennoch anerkannt, daß die Tradition in die Hände von Männern und Frauen gleichermaßen übergeben wurde.«}} Das methodologische Problem bleibt freilich bestehen: Wie kann zwischen Schrift und Heiliger Schrift unterschieden werden, wenn die Form der kulturell bedingte historische Text, der postulierte »archimedische Punkt« dagegen ein abstraktes theologisches Prinzip und ein geschichtsübergreifendes Symbol ist, das in historisch bedingter und daher veränderlicher Sprache zum Ausdruck kommt? Mit anderen Worten: Ist es möglich, Inhalt und Sprache, Gehalt und Form so zu scheiden, daß die von der historischen Situation abhängige Form zum bloßen Behältnis ihres geschichtsübergreifenden theologischen Inhalts oder Gehalts wird? Noch weitreichender für eine feministische Befreiungsgeschichte ist die Unterscheidung zwischen »brauchbarer« und »unbrauchbarer« Vergangenheit. Russell stellt fest, daß die Unterdrückten entweder keine 31 Letty RusselI, Human Liberation in a Feminist Perspective - A Theology, Philadelphia 1974, 79. 32 A.a.O., 138. 33 A.a.O.,87f.
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Vergangenheit haben oder in den Berichten der historischen Sieger unsichtbar sind. Doch bezeichnenderweise unterscheidet sie nicht zwischen einer Opfer- und Gewaltgeschichte einerseits und Befreiungserfahrungen andererseits. Diese Unterscheidung braucht sie nicht zu machen, weil sie nur die »Knechtschaft« von Menschen »gegenüber sich selbst und ihrer geschichtlichen Situation« in Betracht zieht, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die christliche Tradition selbst diese Knechtschaft legitimiert und zementiert haben könnte. Deshalb kann sie, wenn sie die »Bedrohung der Tradition« durch feministische Theologie diskutiert, feststellen: Befreiungstheologie ist eine Bedrohung dieser Traditionen. Denn sie müssen infragegestellt werden, wenn sie eine Vergangenheit zementieren, die für eine bestimmte Gruppe von ChristInnen unbrauchbar ist. 34 Obwohl Russell ihre Analyse als auf Befreiung zielende Analyse entwirft, bleiben darin unbegreiflich erweise die politischen Strukturen der Vergangenheit und Gegenwart, die Gewalt gegen Frauen zementieren, unberücksichtigt. Deshalb kann sie die Funktion der Bibel für die geschichtliche Unterdrückung westlicher Frauen nicht herausarbeiten. Darüberhinaus sind in Russells Darstellung der Vergangenheit nicht Frauen die Subjekte der Geschichte, sondern Gott im Akt der Hingabe Christi an alle Menschen. Ein absolut gesetztes theologisches Prinzip wird zum hermeneutischen Schlüssel für Bibelinterpretation. Ähnlich hat sich Rosemary Radford Ruether in einer kürzlich erst geführten Auseinandersetzung mit der Frauenspiritualitäts-Bewegung Letty Russells Suche nach einer »brauchbaren« Vergangenheit angeschlossen. Wenn ich sie recht verstehe, scheint sie von ihrem früher bestimmenden Interpretationsmodell des kulturell-kirchlichen Geschlechterdualismus abzurücken und sich einer kritischen Hermeneutik der Kultur zuzuwenden. Obwohl Ruether diese biblische Hermeneutik nicht voll entfaltet, ist es möglich, die wesentlichen Elemente ihres Interpretationsentwurfs zu markieren. Leider entwickelt sie diesen Entwurf in Absetzung von den separatistischen Interpretationen der Wicca. Diese Auseinandersetzung verdunkelt die entscheidenden Probleme einer feministischen Hermeneutik. Sie unterstützt das Mißverständnis, daß Ruethers kulturelle Hermeneutik nur eine weitere verfeinerte - »sophisticated« - Apologie der christlichen Tradition sei. Ruethers Vorschlag einer Methodologie feministischer Kulturkritik 34 A.a.O., 78.
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verweist auf zwei Voraussetzungen: Einerseits erkennt sie an, daß die gesamte ererbte Kultur auf Männervorurteilen und Sexismus beruht. Andererseits behauptet sie, daß jedes wichtige Kulturgut nicht nur den Sexismus legitimiert hat, sondern auch noch etwas anderes getan hat: »Es hat Antwort gegeben auf die Angst vor Tod, Entfremdung und Unterdrükkung und auf die Hoffnung auf Leben, Versöhnung und Befreiung der Menschheit.«35 Obwohl diese Antwort vom Männerstandpunkt aus artikuliert sei, könnten Frauen dieses kritische Element in der Männerkultur entdecken und so umwandeln, daß es »nie zuvor gesagte Dinge« sagt. Ausgehend von diesem recht allgemein formulierten kulturkritischen Grundsatz identifiziert Ruether die prophetisch-messianischen Traditionen der Bibel als kritisch-befreiende Traditionen. Sie vertritt die These, die Bibel sei aus der Perspektive der kleinen Leute und nicht zur Legitimierung weltlicher Macht geschrieben. Gott unterstütze in der Bibel die Unterdrückten, und die biblische Rede von Gott ziele auf die »Destabilisierung« der bestehenden sozialen Ordnung. Obwohl in der Apokalyptik diese prophetische Sozialkritik mit ihrer Erlösungsvision »allmählich die soziale Hoffnung völlig als ihre Basis verliert und aufs Jenseits gerichtet wird«3 6 , findet sich diese kritische prophetische Tradition auch im Neuen Testament. Ruether ist jedoch gezwungen zuzugeben, daß diese kritisch-prophetische Tradition weder in der Geschichte Israels noch im Christentum die Sache der Frauen zu ihrer eigenen Sache gemacht hat. Trotzdem können Frauen ihrer Meinung nach diese Tradition heute für die feministische Spurensuche nutzen. »Kurz gesagt: Nicht einige besondere Aussagen über Frauenbefreiung, vielmehr das kritische Grundrnuster prophetischen Denkens ist die für den Feminismus brauchbare biblische Tradition. «37 An diesem Punkt werden die Implikationen von Ruethers hermeneutischem Ansatz offenkundig. Sie zeichnet nicht nur ein ziemlich idealisier35 Rosemary Radford Ruether, A Religion for Women. Sources and Strategies, in: Christianity and Crisis 39 (r979) 307-3r1.309. Vgl. auch dies., Goddesses and Witches, Liberation and Countercultural Feminism, in: Christian Century 97 (r980) 842- 847. 36 Ruether, A Religion for Women, 309. 37 A.a.O., 3ro. Vgl. auch ihre Feststellung: »Befreiungskämpferinnen würden die prophetische Tradition als Norm benutzen, um damit den Sexismus der religiösen Tradition zu kritisieren. Biblischer Sexismus wird nicht geleugnet, verliert aber seine Autorität. Er muß verurteilt werden, weil er die Fülle der Vision menschlicher Befreiung in den prophetischen Botschaften und den Evangelien verfehlt.« (The Feminist Critique in Religious Studies, in: Soundings 64 (r98r) 388-402.400, Hervorhebung d. d. V.). Zu einer detaillierteren Darlegung dieses Prinzips vgl. dies., Feminism and Patriarchal Religion. Principles of Ideological Critique of the Bible, in: Journal for the Study of the Old Testament 22 (r982) 54-66.
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tes Bild der biblisch-prophetischen Traditionen, sondern übersieht dabei auch die unterdrückenden androzentrischen Elemente dieser Traditionen. Weil sie die klassische prophetische Tradition nicht als historisches Phänomen analysiert, sondern sie im Gegenteil als abstraktes kritisches Interpretationsmuster gebraucht, läßt sie deren patriarchale Polemik und die Unterdrückung und Verdrängung des Göttinnenkultes in Israel unberücksichtigt. Statt dessen setzt sie kurzerhand als selbstverständlich voraus, daß die prophetischen Traditionen als sozialkritische Traditionen auch in feministischem Interesse gebraucht werden können. Zweifellos ist dies richtig, aber es bleibt unbestimmt, wie und auf welche Weise feministische Theologie diese sozialkritische androzentrische Tradition der Bibel in eine feministische Befreiungstradition umwandeln und für ihre eigenen Ziele nutzbar machen kann. Was macht eine sozialkritische Tradition feministisch? Können wir einfach als sicher annehmen, daß sozialkritische Traditionen feministische Traditionen sind? Feministische Kritikerinnen der prophetischen Tradition Israels haben unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß diese Tradition die Göttinnenverehrung abgewertet und unterdrückt (vgl. Jer 44,15-19) und zugleich das patriarchale Ehemodell auf das Bundesverhältnis zwischen Jahwe und Israel übertragen hat, in dem Israel als abhängige Jungfrau und Ehefrau, aber auch als treulose Hure gesehen wird. 38 Mit den nachbiblischen feministischen Einwänden gegen die prophetische Tradition - sie merze das göttliche weibliche Symbol aus und zementiere die patriarchale Unterordnung von Frauen - müssen sich feministische Theologinnen aus historischer Perspektive kritisch befassen, bevor sie die prophetischen Traditionen als »frauenbefreiend« einklagen können. Eine feministisch-biblische Hermeneutik muß die historischen patriarchalen Elemente der prophetischen Traditionen ernst nehmen, will sie ihre befreienden sozialkritischen Impulse für den Kampf um Frauenbefreiung freisetzen. Sie muß sie in und durch eine kritisch-feministische Analyse neu beleben und darf sie nicht zu einem abstrakten Prinzip oder Kriterium der Interpretation erheben. Feministische Theologie kann indessen nicht unhinterfragt voraussetzen, daß der biblische Offenbarungs»überschuß« an sozialkritischer prophetischer Tradition ein feministisch-befreiender ist. Um die emanzipatorischen Impulse dieser Tradition freizulegen, ist es unabdingbar notwendig, ihre unterdrükkenden Komponenten zu erforschen. 38 Vgl. Merlin Stone, When God Was a Wornan, New York 1976, 173-I79;]. B. Segal, The Jewish Attitude Towards Wornen, in: Journal for Jewish Studies 30 (1979) 121137, bes. 127-1J!; Schüssler Fiorenza, Interpretation patriarchalischer Traditionen, in: Letty Russell (Hg.), Als Mann und Frau ruft er uns. Vom nicht-sexistischen Gebrauch der Bibel, München 1979, 3I-sr.37f.
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Ferner sollte eine biblisch-feministische Hermeneutik nicht in Absetzung von der nachchristlichen feministischen Kritik der Bibel entwickelt werden, sondern von ihr lernen, damit sie zu einem volleren Verständnis der befreienden Impulse gelangt, die die Bibel dem Frauenkampf gegen den patriarchalen biblischen Sexismus gibt. In ihrem brillanten Aufsatz »Warum Frauen die Göttin brauchen« beschreibt Carol Christ die Göttin als Symbol für Frauenmacht, Frauenfreiheit und Frauenautonomie: Die einfachste und grundlegendste Bedeutung des Symbols der Göttin ist, daß die Legitimität von weiblicher Macht als einer wohltuenden und unabhängigen Macht anerkannt wird. Eine Frau, bei der Ntosake Shanges Behauptung: »Ich fand Gott in mir selbst, und ich liebte sie heftig« nachhallt, sagt: »Weibliche Macht ist stark und schöpferisch«. Sie sagt damit, daß das göttliche Prinzip, die rettende und erhaltende Macht, in ihr selbst vorhanden ist und daß sie nicht mehr länger Männer oder männliche Figuren als Retter ansieht.39 Während ich Ruether darin zustimme, daß das Ringen um Macht, Autonomie und Freiheit für Frauen sich nicht einzig und allein und nicht einmal primär im Sinne individualistisch-persönlicher und biologistischweiblicher Macht ausdrücken darf, sondern soziopolitisch konzipiert werden muß, bin ich mit Carol Christ darin einig, daß das Ringen um feministische Spiritualität im Grunde das Ringen um Frauenmacht, Frauenfreiheit und Frauenautonomie ist. Ist es möglich, die Bibel so zu lesen, daß sie zur historischen Quelle und zum theologischen Symbol von Frauenmacht, Frauenfreiheit und Frauenautonomie wird? Bei der Beantwortung dieser Frage können wir meiner Meinung nach nicht zu einem »archimedischen Punkt« als hermeneutischem Schlüssel für die Vielzahl von mehr oder weniger unterdrückenden Traditionen und Texten der Bibel unsere Zuflucht nehmen - sei es »die Tradition«, seien es »prophetisch-messianische Traditionen«. In letzter Konsequenz zeigt die Reduktion der Bibel auf die prophetisch-messianische Tradition einerseits und die damit verbundene Reduktion dieser Tradition auf ein abstraktes, der Geschichtlichkeit beraubtes Schlüsselprinzip andererseits, an daß Ruethers hermeneutischer Entwurf in größerem Maße neo-orthodox ist, als sie selbst wahrhaben will. Ihr Entwurf kann eher dazu gebraucht werden, die biblische Religion vor ihren feministischen Kritikerinnen zu retten, als zur Entwicklung einer feministisch-historischen Hermeneutik, die 39 Caro[ Christ, Warum Frauen die Göttin brauchen, in: Schlangenbrut Nr. 8, 619. 10.
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das feministisch-spirituelle Ringen um die Macht der Göttin in jeder Frau aufnehmen könnte. 40 Obwohl sich Phyllis Trible auf den biblischen Text selbst konzentriert und jeden Versuch, Text von Tradition, Form von Inhalt zu trennen, aus methodischen Gründen zurückweist, teilt sie dennoch mit Russell und Ruether ein in der neo-orthodoxen Theologie wurzelndes Verständnis des hermeneutischen Prozesses. Während sich Russell und Ruether auf die Tradition konzentrieren, legt Trible sehr großes Gewicht auf die Struktur des biblischen Textes. Während Russell und Ruether die Metapher »brauchbare Vergangenheit« benutzen und folglich die biblische Tradition versachlichen, personifiziert Trible den Text. Ihre Schlüsselmetapher taucht zu Beginn ihres Buches auf und wird in der Zusammenfassung am Schluß des Buches wiederholt: »Die Bibel ist eine Pilgerin auf der Wanderschaft durch die Geschichte mit dem Ziel, Vergangenheit mit Gegenwart zu verschmelzen.«4 1 Aber im Gegensatz zu Russell tritt sie für eine explizit feministische Hermeneutik ein: »Auf ihrer Wanderschaft durch Kulturen und Zeiten inspirierte die Bibel eine feministische Perspektive, und in Einklang damit warf diese feministische Perspektive ein aufklärendes Licht auf die Bibel.«4 2 Während nach Russells hermeneutischem Entwurf zu allen Zeiten Gott durch Christus handelt und dieses Heilshandeln in kulturell bedingten, unterschiedlichen Formen der Tradition zum Ausdruck kommt, ist für Trible die Stimme Gottes letztlich mit dem biblischen Text identisch. Um Gottes Absicht herauszufinden, muß die Exegetin so aufmerksam wie möglich auf den Text »hören« und ihn so gen au wie möglich interpretieren. Deshalb wählt sie als Methode ihrer Interpretation eine »rhetorische Kritik«, die sich mehr auf die Dynamik des Textes selbst als auf äußere historische Faktoren konzentriert. Auf diese Weise wird die Exegetin zur Partnerin bei der Pilgerreise des Textes durch die Jahrhunderte. Ein solches Verständnis von Interpretation als »Teilnahme an der Dynamik des Textes«43 soll ihr ermöglichen, sich die theologische Bedeutung des Textes anzueignen, denn »korrekte Analyse der Form bringt korrekte Artikulation der Bedeutung hervor. «44 Obwohl in ihrem Aufsatz »Gegen das patriarchalische Prinzip in Bibelinterpretationen« ihr hermeneutisches Prinzip sich explizit auf die 40 Zu einem ähnlichen methodischen Prinzip vgl. Carter Heyward, Rosemary Ruether und Mary Daly. Theologians Speaking and Sparking, Building and Burning, in: Christianity and Crisis 39 (1979) 66-72.71. 41 Phyllis Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, Philadelphia 1978, 1. 42 A.a.O.,202. 43 A.a.O·,4· 44 A.a.O.,8.
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neo-orthodoxe Unterscheidung zwischen biblischem Glauben und biblischer Religion beruft, ist ihr Buch selbst sehr viel vorsichtiger. Ihr Aufsatz schließt: »In verschiedener Weise zeigen sie (die diskutierten Texte und Themen, d. Ü.), daß es ein nicht-patriarchalisches Prinzip in der hebräischen Bibel gibt. Wenn der Exeget (!) nicht-patriarchalische Züge in der Bibel findet, so ist das keine Operation, die er an dem Text vornimmt, sondern es ist ein hermeneutischer Vorgang, der sich aus der Schrift selbst ergibt. Wir legen aus, wir lesen nicht etwas hinein.«45 Am Ende ihres Buches formuliert sie eneut diese hermeneutische Position. Wenn sie jedoch die Aufmerksamkeit darauf lenkt, daß die Bibel selbst verkünde, »daß der Glaube weibliche Bilder und Motive verloren hat«, und ihre Ergebnisse rekapituliert, ist sie gezwungen einzuräumen: Ferner wurden bisher ignorierte Traditionen aufgedeckt und dadurch in einem patriarchalen Dokument Gegenstimmen offenbar gemacht. Jedoch wurde der männlich bestimmte Charakter der Schrift nicht eliminiert. Eine solche Aufgabe wäre nicht nur undurchführbar, sondern auch unehrlich. 46 Trible schreibt dem Feminismus die Rolle des »roten Fadens« zwischen Text und Welt, zwischen Text und historischem Kontext zu. Sie definiert Feminismus ausdrücklich nicht als ausschließliche Konzentration auf Frauen, sondern als Kritik an der Frauenfeindlichkeit der KulturY Trotzdem engagiert sie sich nicht dafür, den frauenfeindlichen Stempel und Charakter der Bibel als eines Dokuments patriarchaler Kultur einer solchen feministischen Kritik zu unterziehen. Sie unterläßt dies, weil ihre Methode es ihr gestattet, den Text von seinem kulturell-historischen Kontext zu abstrahieren. Wenn sie »den historischen Kontext, die archäologischen Daten, die Entstehungsgeschichte des Textes, die Absicht der Autoren, die soziologischen Bedingungen und die theologische Motivation« als unwesentlich für die Interpretation und lediglich als »Zusatz« zum Textverständnis der Bibelinterpretation ansieht, dann kann ihre Arbeit wirklich nicht von feministischer Analyse als Kulturkritik inspiriert sein. Dann ist es für sie nicht notwendig, sich patriarchaler Kultur und Religion kritisch zuzuwenden, weil sie unwesentlich sind für die Bedeutung des biblischen Textes für die heutige Zeit. Daher stellt 45 Phyllis Trible, Gegen das patriarchalische Prinzip in Bibelinterpretationen (orig.: Depatriarchalization in Biblical Interpretation, d. Ü.), in: Elisabeth Moltmann-Wendel (Hg.), Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, München - Mainz 319 82, 93- II 7· II6f. 46 Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, 203, Hervorhebung d. d. V. 47 Vgl. a.a.O., 7.
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Trible auch nie die Frage, ob die weibliche Bildersprache und die Traditionen, die von Frauen handeln, wirklich feministische »Gegenstimmen« sind und nicht nur Überreste, die die patriarchale Unterdrückung und Verdrängung der Göttin und religiöser Frauenrnacht überlebt haben. Wegen ihrer ausschließlichen Konzentration auf den Text und seine Interpretation stellt sie auch die politischen Implikationen der Bibelinterpretation nicht zur Diskussion. Für eine Bibelinterpretation, die nach der formalistischen Methode der »Neuen Literaturkritik« verfährt, stellt androzentrische Sprache jedoch ein Kernproblem und eine fundamentale Schwierigkeit dar. 48 Trotzdem weicht Trible diesem Problem aus und spricht es lediglich in einer Fußnote an. Obwohl ihre Methode sich auf die These stützt, daß »Form und Inhalt nicht getrennt werden können« und der Text »eine organische Einheit« darstellt, behauptet sie trotzdem, daß durch das grammatische Geschlecht der maskulinen Pronomina für Gott noch keine Festlegung getroffen ist »weder in Hinblick auf Sexualität noch auf Theologie«; gleichzeitig muß sie jedoch zugeben: »maskuline Pronomina verfestigen ein männliches Gottesbild, ein Bild, das weibliche Bilder der Gottheit in den Hintergrund treten läßt oder sogar zerstört.« An diesem Punkt scheitert ihr Versuch, feministische Hermeneutik als »Kulturkritik in Hinblick auf Frauenfeindlichkeit« mit einer neo-orthodoxen Hermeneutik, die »Erklären, Verstehen, Übertragen aus der Vergangenheit in die Gegenwart« umfaßt, zu vereinbaren. Bis jetzt weiß ich jedoch keine Lösung für das Dilemma, das durch das grammatische Geschlecht der Gottheit in der Schrift selbst entstanden ist, muß doch die Übersetzung gleichzeitig grammatisch fehlerfrei und von der Aussage her gültig sein. 49 Dieses Eingeständnis weist darauf hin, daß eine feministische Hermeneutik der Schrift nicht nur Kulturkritik, sondern auch Theologiekritik beinhalten muß; ferner, daß eine Methode, die Sprache und Text der Bibel vom soziokulturellen patriarchalen Kontext isoliert, kein Modell für die Rekonstruktion der Geschichte von Frauen als gleichrangigen und uneingeschränkten Teilhaberinnen biblischer Religion anbieten kann. Überdies steht eine biblische Theologie, die »dem patriarchalen Stempel« der Bibel und der religiös-politischen Legitimation patriarchaler Frauenunterdrückung durch die Bibel nicht ehrlich ins Auge sieht, in Gefahr, eine feministische Perspektive zur Rehabilitierung der Autorität der Bi48 Vgl. auch Polly Ashton Smith, Contrasts in Language Theory and Feminist Interpretation, in: Union Seminary Quarterly Review 35 (1979/80) 89-98, bes. 91-94. 49 Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, 23 Anm. 5.
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bel zu verwenden, statt die biblische Frauengeschichte und das theologische Frauenerbe zu rehabilitieren.
Das wissenssoziologische feministische Modell Das neo-orthodoxe feministische Modell versucht, die befreiende Tradition von den androzentrisch-patriarchalen Texten der Bibel zu isolieren, den feministisch-kerygmatischen Wesenskern von seinen kulturell bedingten androzentrischen Ausdrucksformen zu reinigen und sozialkritische prophetische Traditionen von den patriarchalen, unterdrückerischen Traditionen der Bibel zu scheiden. Demgegenüber hat das »androzentrische« feministische Modell5 0 das Ziel, mit Hilfe der Wissenssoziologie P vom Lesen androzentrischer Texte zur Konstruktion eines neuen Lebenszentrums voranzuschreiten, das neue kulturelle Texte, neue Traditionen, neue Mythologien hervorbringt. Dem androzentrischen theoretischen Modell zufolge sind Männer dieses Lebenszentrum der biblischen Texte und Traditionen. Wenn aber alle kulturellen Texte und Wirklichkeitsentwürfe ohne Ausnahme androzentrisch sind, ist es nicht möglich, aus ihnen eine feministische T ext- und Kulturtradition zu isolieren. Statt dessen wird es notwendig, ein neues feministisches Lebenszentrum zu schaffen, das neue Konstruktionen der Wirklichkeit und neue Visionen des Lebens hervorbringen kann. Obwohl Mary Daly weder Bibelwissenschaftlerin noch Historikerin ist, untersuche ich hier ihr Werk, weil es die konsequenteste Verbindung einer feministischen Kritik des androzentrischen Modells (das sie als phallozentrisch bezeichnet) mit wissenssoziologischer Analyse darstellt. Obwohl Daly als analytischen Schlüsselbegriff häufig »Patriarchat« gebraucht, deutet ihr Interesse an »authentischem Sein« bzw. »Sei-en« darauf hin, daß sie innerhalb der Grenzen des von Simone de Beauvoir formulierten existentialistischen Modells F bleibt. Während sie jeden Ver50 Obwohl Mary Daly behauptet, dieses Modell sei gynozentrisch, darf nicht übersehen werden, daß es mit dem androzentrisch-patriarchalen Modell nicht zu brechen vermag, das Frauen an den Rändern und Grenzen ansiedelt und ihnen keinen Anspruch auf das Zentrum patriarchaler Kultur und Religion gestattet. 51 Vgl. Peter L. Berger/Thamas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1969; Julia A. Sherman/ Evelyn Tartan Beck, The Prism of Sex. Essays in the Sociology of Knowledge, Madison 1977. 52 Zur feministischen Diskussion des Werks von Simone de Beauvoir vgl. Mary Lawenthai Feistinger, Seeing the Second Sex Through the Second Wave; Micheie LeDaeuff Simone de Beauvoir and Existentialism; Sandra Dijkstra, Simone de Beauvoir and Betty Friedan. The Politics of Omission;ja-Ann P. Fuchs, Female Eroticism in The Second Sex- alle in: Feminist Studies 6(1980) 247-313.
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such zurückweist, Methoden und Kategorien feministischer Analyse zu gebrauchen, ohne gleichzeitig ihre feministische Perspektive und Option zu teilen, kommt sie in ihrem Verständnis von Sprache Phyllis Trible nahe, wenngleich sie darauf besteht, daß die patriarchale Matrix jeder Sprache bedacht werden muß. In letzter Konsequenz muß aber ihre Auffassung, daß androzentrische Sprache als Medium patriarchaler Interpretation mit der Botschaft identisch ist, sie dazu führen, nicht nur alle biblischen, sondern auch alle kulturellen androzentrischen Texte zu verwerfen. Eine systemische Analyse der patriarchalen Dokumente biblischer Religion kann nur ans Licht bringen, daß die Rekonstruktion biblischer Projektion der Realität androzentrisch und patriarchal ist. In ihrer nachchristlichen feministischen Einführung zur Neuauflage ihres Buches The Church and the Second Sex (Die Kirche und das andere Geschlecht; die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel Kirche, Frau und Sexus erschienen, d. Ü.) erklärt sie kategorisch: Das Medium ist die Botschaft. In diesem Buch hatte Daly Simone de Beauvoirs Modell des Androzentrismus zur Konstruktion einer revisionären feministischen katholischen Theologie übernommen. In ihrer nachchristlichen feministischen Einführung zur Neuauflage verbindet sie nun das theoretische Modell des Androzentrismus mit einer wissenssoziologischen Analyse. Es ist der existentielle feministische »Sprung in die Freiheit«, der ihr neues theoretisches Lebenszentrum konstituiert. Daher kann Mary Daly die Geschichte der revisionären Mary Daly nicht mehr als zu ihrer Identität gehörig anerkennen, sondern verbannt sie in die Vorgeschichte. In Kirche, Frau und Sexus ließ Daly sich von einem hermeneutischen Ansatz leiten, der der neo-orthodoxen feministischen Hermeneutik ähnlich ist. Nach dem Versuch, die paulinischen Gebote zur Frauenunterordnung auf verschiedene Weise apologetisch zu erklären und zu rechtfertigen, kommt sie zu folgendem Ergebnis: Es kann nicht verwundern, wenn Paulus die volle Bedeutung dieser Überschreitung nicht erkannte. Es besteht eine ungelöste Spannung zwischen der personalistischen christlichen Botschaft und den Restriktionen und Kompromissen, welche auf die jeweilige geschichtliche Situation zurückgehen ... Diejenigen, denen die Erkenntnisse eines späteren Zeitalters zugute kommen, haben die Aufgabe, die Elemente, welche sich aus soziologischen Ursachen erklären, von jenen zu unterscheiden, die den Lebensspielraum der Person erweitern und wesenhaft zur christlichen Botschaft gehören. 53 53 Mary Daly, Kirche, Frau und Sexus, Olten-Freiburg 1970, 54. Vgl. auch ihre Bemerkung: "Die gleiche Würde und die gleichen Rechte für alle Menschen als Personen, das ist die wesentliche Forderung der christlichen Botschaft.« (53).
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In ihrer nachchristlichen feministischen Einführung verwirft Daly diesen Ansatz der Interpretation, der zwischen der Essenz der biblischen Botschaft und den nebensächlichen soziokulturellen Ausdrucksformen, zwischen dem Kern der christlichen Wahrheit und »den sozial bedingten Ideen« unterscheidet. In einem imaginären Gespräch macht die postchristliche Daly der revisionären christlichen Daly Vorwürfe: »Professorin Daly«, würde ich sagen, »verstehen Sie denn nicht, daß in bezug auf Mythen das Medium die Botschaft ist? Sehen Sie denn nicht, daß die Bemühungen von Bibelwissenschaftlerinnen, Texte neu zu interpretieren - selbst wenn sie innerhalb einer gewissen begrenzten Perspektive korrekt sein mögen -, nichts am überwältigend patriarchalen Charakter der biblischen Tradition ändern können? Überdies verbündet sich diese >moderne< historische Akribie in Detailfragen oft mit einem apologetischen Eifer, der die Funktion patriarchaler Religion zur Legitimation des Patriarchats einfach übersieht.«H Diese Aussage weist darauf hin, daß sich Dalys Theorie insofern einem wissenssoziologischen Ansatz. verdankt, als sie die Funktion von Religion als Legitimation patriarchaler Ordnung versteht, d. h. als »Welterhaltung«. Solche Erhaltung des status quo durch religiöse Legitimation stellt »die Gesellschaftsordnung als allumfassende, heilige Weltordnung dar« und »verknüpft ... umgekehrt die Unordnung- die Antithese zu jedem gesellschaftlich konstruierten Nomos - mit dem gähnenden Abgrund des Chaos, dem ältesten Antagonisten des Heiligen.«H In diesem methodischen Ansatz ist Sprache, wie auch Interpretation und Legitimation, Schlüsselbegriff der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Ebenso wie die Erhaltung der bestehenden patriarchalen Ordnung durch Religion geschieht die feministische Neukonstruktion der Welt in und durch Sprache und Interpretation. Dieser methodische Ansatz macht es Daly möglich, Elizabeth Cady Stantons Erkenntnis, daß die Bibel Männerwerk und Produkt einer patriarchalen Gesellschaft ist, neu und umfassender zu formulieren. Das androzentrische oder phallozentrische Sprachsystem der christlichen Tradition ist kein Zufall, sondern es dient dem Zweck, die »sakrale« patriarchale Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine feministische Systemanalyse - wie die von Neusner 56 - bestätigt diese These. Frauen ist »die 54 Mary Daly, The Church and the Second Sex. With a New Feminist Postchristian Introduction by the Author, New York 1975, 2If.(Von der nachchristlichen Einführung ist bisher noch keine deutsche Übersetzungh erschienen, d. Ü.). 55 Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 39· 56 S. u. 93-98.
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Macht zu benennen« gestohlen worden. »Der Mut, logisch zu sein - der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen - verlangt, daß wir gegenüber uns selbst zugeben, daß Männer und nur Männer diejenigen sind, die das Patriarchat geschaffen, geplant haben und weiter planen, die es kontrollieren und legitimieren.«57 Wenn dies stimmt, kann feministische Interpretation christlicher Texte und Traditionen keine Methode der »Korrelation« benutzen, sondern verlangt nach einer »Methode der Befreiung«. Diese Methode der Befreiung hat nach Daly nicht nur eine »Kastration« patriarchaler Sprache und patriarchaler Symbole, sondern auch ein »Ausbrechen in neue semantische Felder« zur Folge. 58 Ihr Buch Gyn/ Ökologie befaßt sich weniger mit einer kritischen Analyse patriarchaler theologischer Symbole als mit dem Nachweis, daß und wie androzentrische Sprache und Wissenschaft Frauen aus dem Bewußtsein »ausgelöscht« hat. Durch semantische, etymologische und strukturale Analyse versucht sie, eine neue Sprache für Frauen in »feministischen Zeiten/ Räumen« zu »erfinden« und zugleich Göttinnenmord und Frauenmord als systematisches Ausmerzen von Frauen aufzudecken. Sie diskutiert so unterschiedliche Greueltaten, wie Sati in Indien, Genitalverstümmelung in Afrika, Hexenverfolgung in Europa, Gynäkologie in Amerika, NaziMedizin in Deutschland und Füßeeinbinden in China als sadorituelle Neuinszenierungen des Göttinnenmordes : Die Tatsache, daß die patriarchale Gelehrsamkeit eine Ausweitung und Fortsetzung des Sado-Rituals ist, manifestiert sich - oft unwissentlich und platt - in ihrer Sprache. Diese Sprache verrät, oder besser beweist gehorsam und treu die Tatsache, daß die »Autoritäten« Apologeten für Greueltaten sind)9 Eine sorgfältige Lektüre ihres Buches läßt indessen auf ein gegenteiliges Ergebnis schließen. Dalys Geschichte der Frauenunterdrückung im Patriarchat ist androzentrischer Sprache und Wissenschaft gemäß konzipiert. Denn in der Geschichte wurden Frauen verachtet, ausgeschlossen, ausgebeutet, gepeinigt und getötet. Aber sie wurden nicht »ausradiert«. Androzentrische Sprache und das androzentrische wissenssoziologische Modell vielmehr sind es, die die Geschichte patriarchaler Grausamkeiten als Geschichte von Frauen ausradieren, in der Frauen litten, zusammenarbeiteten und für ihre Befreiung kämpften. 57 Mary Daly, Gyn/Ökologie. Eine Meta-Ethik des radikalen Feminismus, München 1981 ,51.
58 Mary Daly, Jenseits von Gottvater Sohn & Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 1980, 2lff. 59 Daly, Gyn/Ökologie, l33f.
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Als Fremde, unterdrückt in einer patriarchalen Welt, sind Feministinnen berufen, »unsere eigene Welt zu benennen, d. h. sie zu erschaffen«. Da Sprache und Benennen für Dalys feministischen Ansatz so zentral sind, geschieht solches Neu-schaffen zuallererst in Bewußtsein und Sprache einzelner Frauen, in der Selbst: Die Macht/Kraft des Heilens liegt in der Selbst, in den schwesterlichen Selbst, wie sie von der Selbst gesehen werden und die Selbst sehen. Das Heilmittel heißt nicht umkehren, sondern in einer heilenden Umwelt, der Selbst, zu werden und selbst die heilende Umwelt zu werden. 6o Für Daly ist feministisches Bewußtsein mit einem derart »qualitativen Sprung« verbunden, daß die Daly der nachchristlichen feministischen Einleitung zu The Church and the Second Sex die revisionäre Autorin dieses Buches charakterisieren kann als eine, »die nicht Astronautin war, bevor es möglich war, Astronautin zu werden.« In den sieben Jahren zwischen den beiden Auflagen des Buches wurde jedoch ein solch qualitativer Sprung in der soziopolitischen Umwandlung patriarchaler Gesellschaft und Religion nicht verwirklicht. Nur im Bewußtsein einzelner Frauen fand solch ein qualitativer Sprung statt. So macht ihr hermeneutisch-methodologischer Ansatz es Daly zwar möglich, die feministische Konstruktion der Welt in der Sprache und dem Bewußtsein einzelner Frauen zu erkunden, doch er läßt keine Konzentration auf die konkreten soziopolitischen Unterdrückungsstrukturen zu. Ihre »Strukturanalyse« des Sado-Rituals und seiner Gewalt hebt universale Strukturen patriarchaler Unterdrückung hervor, enthistorisiert aber die Unterdrückung selbst, da sie die konkrete historische Unterdrückung von Frauen in unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und Religionen nicht erfassen kann. Eine derartige hermeneutische Methode hat darüber hinaus keinen Raum für das oft uneinheitliche, verworrene, unartikulierte und nur partiell feministische historische Bewußtsein und Handeln von Frauen, die noch im Bannkreis patriarchaler Kultur und Religion leben. Der androzentrische wissenssoziologische Ansatz läßt theoretisch keine emanzipatorische Solidarität mit den Frauen zu, deren Selbst durch das Patriarchat beschädigt und deren »Reise in die Freiheit« bisher und noch immer eine Reise innerhalb der Grenzen und Unterdrückungsmechanismen patriarchaler Kultur und Religion ist. An diesem Punkt wird klar, daß Androzentrismus als heuristisches Modell uns nicht erlaubt, Frauen die Geschichte zurückzugeben und Ge60 A.a.O.,355'
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schichte als Geschichte aller Menschen neu zu begreifen. Während Androzentrismus daran festhält, daß Frauen »das Andere« sind, führt uns Mary Daly mit ihrem »Spinnen« und Reisen in die »Andere Welt«, auf die »Andere Seite«, die wir nicht kennen können, »ehe wir nicht dort angekommen sind.«61 Daher brandmarkt sie patriarchale Wissenschaft als »das schattenhafte Gegenbild kreativer Hagiographie, die lediglich die >Geschichte der Frauen< erforscht und er-kundet.« Aber sie versichert: In den Außenbezirken der männlich-zentrierten Universitäten jedoch blüht frauen-zentriertes Denken. Gynozentrische Methoden verlangen nicht nur Mord an den misogynistischen Methoden (= intellektueller und affektiver Exorzismus), sondern auch Ekstase, die ich ludisches (spielerisches) Denken genannt habe. 62 Somit übernimmt Daly den androzentrischen theoretischen Weltentwurf, stellt ihn jedoch auf den Kopf, wenn sie die Peripherie zum Lebenszentrum einer feministischen Konstruktion der Welt macht. Eine solche Umkehrung läßt sich in Sprache, Ritual und Theorie durchführen, ist aber sozial »in den Außenbezirken der männlich-zentrierten Universitäten« und aller anderen sozialen, politischen, kulturellen Institutionen angesiedelt. Während Daly in Jenseits von Gottvater Sohn & Co einer sozialen Gruppe, nämlich der »Schwesterschaft als Antikirche«, die Funktion zuschreibt, als Lebenszentrum die feministische Konstruktion der Welt hervorzubringen, veranlassen die historischen Erfahrungen mit »Alibinismus« und intellektueller und psychischer Kolonisation von Frauen sie zu einer Neuformulierung ihres Konzepts der »Schwesterlichkeit« in Gyn/Ökologie. Schwesterlichkeit wird nun zum »heiligen Raum«, zum Bündnis der »Selbst«, die »sich davongemacht« haben, zur Freundschaft von dem Patriarchat widerstrebenden, »sich auf die Mitte der Selbst zubewegenden« Frauen. Der kosmische Bund ist da, wo das Sein in der Konfrontation mit dem Nicht-Sein entdeckt wird ... Diejenigen, die den Bund entdecken, finden sich selbst in dem neuen Raum. Das alte Territorium wird also nicht beeinträchtigt; wir wollen ja gar nicht in das Nicht-Sein eindringen. 63 61 A.a.O.,21. 62 A.a.O., 45. Sarah Bentley hat daher richtig darauf hingewiesen, daß Mary Daly »gerade dafür eintritt, daß Frauen auf jede mögliche Weise - und besonders in unserem Bewußtsein - von patriarchaler Kultur getrennt leben.« (Seminarpapier, Union Theological Seminary, NewYork 1975, Hervorhebungd. d. V.) . 63 Daly, Jenseits von Gottvater Sohn & Co, 190.
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Dies sagt Daly in Hinblick auf den patriarchalen Raum. Aber diese Aussage bedeutet auch, daß dabei Frauen, die dem »Territorium des Nicht-Seins« angehören und den »qualitativen Sprung« nicht vollzogen haben, von der als »heiliger Raum« definierten Schwesterlichkeit ausgeschlossen werden. Auf diese Weise bewirkt Dalys Annahme eines »heiligen feministischen Raumes« im Gegensatz zu einem als» Territorium des Nicht-Seins« definierten »säkularen Raum« eine Spaltung von Frauen in diejenigen, die sich in solch heiligem Raum finden, und die anderen. Dieses Konzept von Schwesterlichkeit - nicht als Solidarität von Unterdrückten, sondern als Sich-zusammen-finden von ideologisch »Reinen«, als Netzwerk von »Spinsters« und Amazonen, von »Auserwählten«und »Heiligen« - hat nicht nur für Dalys Geschichtsverständnis, sondern auch für den feministischen Umbruch in Politik, Kirche und Gesellschaft weitreichende Konsequenzen. Insofern Frauen in patriarchaler Kultur Nicht-Seiende und aus Bewußtsein und Sprache ausgelöscht sind, beteiligen sich nach Daly nur jene Frauen an Geschichte und Gestaltung von Geschichte, die in die neuen feministischen Zeiten/Räume gesprungen sind. Diese Frauen »stellen einen ontologischen Ort in der Geschichte dar. Allein schon durch ihre Entwicklung zu tatsächlichen Personen, durch ihre Auseinandersetzung mit dem Nicht-Sein unserer Situation, sind die Frauen Geschichtsträgerinnen.«64 Nur jene, die den »Mut zum Sein« und zum existentiellen Sprung haben, sind Subjekte der Geschichte. Während diese Theorie eine feministische Lebenswelt an den Rändern patriarchaler Kultur konstruieren kann, ist sie nicht in der Lage, uns Frauen unsere Geschichte zurückzugeben, denn sie versteht patriarchale Geschichte als »Territorium des Nicht-Seins«, nicht jedoch als Arena des Überlebensund Befreiungskampfes von Frauen. Daher muß Daly aus methodischen Gründen die Frauengeschichte des frühen Christentums ausblenden und eine Rekonstruktion der frühchristlichen Anfänge aus feministischer Perspektive verwerfen.
Kritisch-feministische Hermeneutik der Befreiung Ich habe bisher versucht, den wichtigsten Entwicklungen feministischbiblischer Hermeneutik nachzugehen, die mit der Frauenbibel ihren Anfang genommen haben. Meine Absicht war nicht, die bisherigen Leistungen feministischer Hermeneutik herabzusetzen, sondern zu prüfen, inwieweit sie uns erlauben, Bibel und frühchristliche Geschichte als Aus64 A.a.O., 50.
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gangspunkt und Vollmacht von Frauen zurückzufordern. 65 Während die historisch-feministische Hermeneutik der Frauenbibel den androzentrischen Charakter biblischer Texte und ihrer Interpretation aufgewiesen hat, hat sie weder die Geschichte von Frauen als an biblisch-patriarchaler Geschichte, Gesellschaft und Religion Beteiligten in den Blick genommen, noch die befreienden Impulse biblischer Traditionen freigesetzt. Die durch die Frauenbibel aufgeworfenen Streitfragen in Hinblick auf die Bibelinterpretation bestimmen noch immer die Parameter feministisch-biblischer Hermeneutik und die exegetisch-historischen Forschungen über »die Frau in der Bibek Seit die Debatte um die Frauenbibel durch Polemik und Angriffe gegen die Frauenbewegung im letzten Jahrhundert entfacht wurde, dreht sich die Auseinandersetzung hauptsächlich darum, welche Offenbarungsautorität der Bibel für die heutige Zeit zukommt. Die GegnerInnen der Gleichberechtigung von Frauen argumentieren, die Bibel verlange die Unterordnung von Frauen. Dagegen behaupten die ApologetInnen der Bibel, ein solches Verständnis der Bibel sei ein Mißverständnis. Cady Stanton wies auf den androzentrischen Charakter der Bibel hin, um zu zeigen, daß ihre frauenfeindlichen Texte nicht Gottes Wort, sondern Männerwort sind. Nachbiblische Feministinnen radikalisieren diese Position Cady Stantons und lehnen nicht nur die Bibel ab, sondern damit auch die Frauen, die weiterhin Mitglieder patriarchaler biblischer Religion bleiben. RusselI, Ruether und Trible wiederum behaupten in Einklang mit Cady Stanton, daß die Bibel nicht ganz und gar androzentrisch sei, sondern absolut gültige ethische Prinzipien und befreiende feministische Traditionen enthalte. Für diese Argumentation bedienen sie sich eines neo-orthodoxen feministischen Modells, das die Gefahr in sich birgt, die Mehrdeutigkeit des historischen Überlebensund Befreiungskampfes auf theologische Kernaussagen und abstrakte, zeitlose Prinzipien zu reduzieren. Obwohl Cady Stanton den politischen Charakter und die Notwendigkeit einer feministischen Bibelinterpretation betont hatte, konzentrierte sich die anschließende Auseinandersetzung nicht auf Frauen als Gestalterinnen und Beteiligte in biblischer Geschichte, sondern auf die Autorität biblischer Offenbarung. Leitendes Interesse der darauf folgenden Stu65 Marjory Procter-Smith hat darauf hingewiesen, daß einige Feministinnen meine Art kritischer Diskussion als »männlich« ansehen könnten. Es sollte bereits klar geworden sein, daß es meiner Überzeugung nach »männliche« und »weibliche« Arten zu forschen bzw. »maskuline« und »feminine« Methoden nicht gibt. Um jedoch ein solches Mißverständnis zu vermeiden, möchte ich noch einmal nachdrücklich betonen, daß mein Interesse nicht Abwertung, sondern Weiterentwicklung feministischer Hermeneutik ist. Feministische Theologie bedarf der kritischen Klärung und Diskussion, um voll zu ihrem Recht kommen zu können.
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dien über "die Frau in der Bibel« war primär, einerseits die patriarchalen Lehren der Bibel über Weiblichkeit und über den Wirkungs- und Einflußbereich »der Frau« zu erforschen und anderseits die Offenbarungsautorität der Bibel entweder gegen den Feminismus zu verteidigen oder für den Feminismus in Anspruch zu nehmen. Eine Bestandsaufnahme der Diskussion über die Frauenordination bestätigt diese Beobachtung zur Genüge. Allem Anschein nach spitzt sich die von der Frauenbibel angestoßene feministische Debatte auf die Frage der theologischen Ablehnung bzw. Legitimation der Bibel zu, aber nicht auf das Problem feministisch-historischer Rekonstruktion. Aus methodischen Gründen erscheint es mir daher notwendig, solange die Frage theologischer Legitimation auszuklammern, bis Frauen zugleich als Subjekte und Opfer der Geschichte in den Blick kommen können und die biblische Geschichte als Frauengeschichte rekonstruiert wird. Deshalb ist es notwendig, zu überprüfen, ob Cady Stantons Erkenntnis, daß nicht nur Bibelinterpretationen, sondern die biblischen Texte selbst androzentrisch sind, für die Zurückgewinnung eines feministisch-biblischen Erbes von Nutzen sein kann. Die Frauenbibel hat nicht nur die feministische Apologetik der biblischen Autorität provoziert, sondern auch aufgezeigt, daß in der westlichen Gesellschaft Bibelinterpretation eine historisch-politische Aufgabe ist, die wir Feministinnen nicht vernachlässigen dürfen. Hier ist Ruethers Argument wichtig, es sei feministischer Romantizismus, auf die Wiederaneignung und Umwandlung patriarchaler Kultur und androzentrischer Texte zu verzichten. Doch bleibt die Frage ungeklärt: Wie und aus welchen Gründen ist eine solche Wiederaneignung möglich, und was macht sie feministisch? Da der Feminismus als Philosophie und Bewegung der Befreiung unterschiedliche Ziele, Strategien und Ansätze hat, darf die Antwort meiner Meinung nach nicht definitorisch-exklusiv, sondern muß konstruktiv-inklusiv sein. Nachchristliche Feministinnen wie Mary Daly legen großes Gewicht auf die hermeneutische Konsequenz des androzentrischen Interpretationsmodells, wenn sie darauf bestehen, daß der androzentrische biblische Text nicht nur Hülse der Botschaft, sondern die Botschaft selbst sei. Deshalb lassen sie die neo-orthodoxe Unterscheidung zwischen androzentrischem Text und feministischer Offenbarung, zwischen patriarchalen Traditionen und der einen befreienden Tradition nicht zu. Doch bleiben sie im Bannkreis des androzentrischen hermeneutischen Modells und müsse~ ebenfalls im Meer der historischen Relativität aller Interpretationen und Visionen einen archimedischen Punkt finden, um ein feministisches Absolutes einklagen zu können. Während inJenseits von Gottvater Sohn & Co Schwesterschaft als Antikirche dieser archimedische
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Punkt und hermeneutische Schlüssel war, ist er in Gyn/Ökologie nicht mehr »ein Zusammenschluß derer, die im wahrsten Sinn des Wortes unterdrückt sind, ... ein Zusammenschluß, der eine Revolte ankündigt und selbst schon der Beginn der Befreiung ist«, sondern das Sich-zusammen-finden der feministischen »Selbst«, die sich aus dem Patriarchat »davongemacht« haben. Doch Dalys Bund der »Auserwählten und Heiligen« ist eine recht blutleere und ungeschichtliche Vision, die an die neuplatonische katholische Hoffnung auf die Gemeinschaft der Heiligen als Gemeinschaft körperloser Seelen erinnert. Diese Vision muß nicht nur biblische Texte und Religion zurückweisen, sondern auch alle anderen Ausdrucksformen patriarchaler Kultur und Geschichte als androzentrisch und durch und durch frauenunterdrückend fallenlassen. Jedoch würde ein Verzicht auf unser biblisches Erbe lediglich die androzentrische Wirklichkeitskonstruktion abendländischer Kultur bestätigen, nach der männliche Existenz und Geschichte das Paradigma menschlicher Existenz und menschlicher Geschichte ist. Westliche androzentrisch-linguistische und wissenschaftliche Strukturen definieren Frauen als zweitrangig gegenüber Männern und somit als bedeutungslos für die Gestaltung menschlicher Kultur, Religion und Geschichte. In androzentrischer Weltsicht sind Frauen geschichtlich und kulturell marginal oder nicht vorhanden. Als unterdrücktes Volk haben sie keine geschriebene Geschichte; sie bleiben in der Wirklichkeitskonstruktion der Herrschenden unsichtbar. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß die Marginalität und Unsichtbarkeit von Frauen in der biblischen Geschichte von androzentrischen Texten und linguistischen Geschichtsrekonstruktionen erzeugt wird, da androzentrische Texte darauf abzielen, Frauen als an Geschichte aktiv Beteiligte auszuradieren. Wenn auch androzentrische Texte Frauen aus der Geschichtsschreibung ausradieren, so sind sie doch kein Beweis für ein tatsächliches Fehlen von Frauen im Zentrum patriarchaler Geschichte und biblischer Offenbarung. Deshalb können Feministinnen es sich nicht leisten, androzentrische biblische Texte und patriarchale Geschichte als unsere eigenen Offenbarungstexte und unsere eigene Geschichte abzutun. Wir können es uns nicht leisten,
alle Ansprüche auf das Produkt und das Zeugnis so vieler Jahrhunderte kollektiven Lebens über Bord zu werfen. Soweit Männer gesprochen haben, geschah dies aufgrund ihres privilegierten Zugangs zu Geschichte und Herrschaft, nicht jedoch aufgrund wesentlicher persönlicher Verdienste oder wesentlicher Verdienste ihres Geschlechts. Ihre soziale Repräsentation und ihre sozialen Institutionen gehören daher
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zu unserer kollektiven Vergangenheit. Die Herren der Schöpfung existieren nicht unabhängig von denen, die sie beherrschen. 66 Androzentrische Texte und linguistische Konstruktionen der Wirklichkeit dürften nicht als zuverlässiger Befund menschlicher Geschichte, Kultur und Religion mißverstanden werden. Der Text kann die Botschaft sein, aber die Botschaft ist nicht identisch mit menschlicher Wirklichkeit und Geschichte. Eine kritisch-feministische Hermeneutik muß daher den Schritt von androzentrischen Texten zu ihren sozialgeschichtlichen Kontexten tun. Sie muß nicht nur die heutige Gemeinde von Frauen, die für ihre Befreiung kämpfen, als Ort der Offenbarung in Anspruch nehmen, sondern sie muß auch ihre Vorschwestern als an patriarchaler Kultur beteiligte Opfer und Subjekte zurückfordern. Darum darf sie sich nicht mit gynozentrischen Lebenszentren an den Rändern androzentrischer Kultur und Geschichte begnügen, sondern muß die androzentrische menschliche und biblische Geschichte als unsere eigene Frauenge schichte zurückfordern. Weniger feministische Philosophinnen und Theologinnen als vor allem feministische Dichterinnen haben Bilder einer solchen feministisch-hermeneutischen »Wiederherstellung«67 der historischen Welt des frühen Christentums entworfen. Eine feministische Wiederherstellung der Welt erfordert eine feministische Hermeneutik, die einerseits die kritischen Methoden und Im pulse mit der historischen Wissenschaft und andererseits die theologischen Ziele mit den Befreiungstheologien teilt. Sie stellt dabei nicht nur androzentrische Konstruktionen der Wirklichkeit im Bereich der Sprache in Frage, sondern versucht auch, von androzentrischen Texten zu ihren patriarchal-historischen Kontexten zu gelangen. Während Androzentrismus eine Weltanschauung ist, ist Patriarchat ein sozio-kulturelles System, in dem einige wenige Männer Macht haben über andere Männer, Frauen, Kinder, SklavInnen und kolonisierte Völker. Feministischer Theologie, die sich als kritische Theologie der Befreiung versteht, geht es daher um die Entfaltung nicht nur einer textkritisch-biblischen Hermeneutik, sondern auch einer historisch-biblischen Hermeneutik der Befreiung. Sie stellt eine Bibelforschung, die den Anspruch erhebt, »objektive« Textinterpretation und »wertneutrale« historische Rekontruktion zu sein, grundsätzlich in Frage. 68 66 Elizabeth Fox-Genovese, For Feminist Interpretation, in: Union Seminary Quarterly Review 35 (1979/80) 5-14.9. 67 Judith McDaniel, Reconstituting the World. The Poetry and Vision of Adrienne Rich, Argyle, N. Y. 1978 ;Joanne Feit Diehl, "Cartographies of Silence«. Rich's Common Language and the Woman Poet, in: Feminist Studies 6 (1980) 530-546. 68 Vgl. Mary E. Payer, Is Traditional Scholarship Value Free? Toward a Critical
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Die historisch-theologische Einsicht, daß das Neue Testament nicht nur eine Quelle von Offenbarungswahrheit, sondern auch eine Quelle patriarchaler Unterordnung und Herrschaft ist, erfordert ein neues Paradigma biblischer Hermeneutik und Theologie. Dieses Paradigma muß nicht nur die objektivistische Maske angeblicher Unvoreingenommenheit ablegen, sondern auch das dogmatische neo-orthodoxe Interpretationsmodell zurückweisen, das auf der Unterscheidung zwischen Wesenskern und unwesentlichen, zeitbedingten Ausdrucksformen basiert. Alle frühchristlichen Texte sind in androzentrischer Sprache und unter den Bedingungen patriarchalen Milieus und patriarchaler Geschichte formuliert. Biblische Offenbarung und Wahrheit kann nur jenen Texten und Interpretationsmodellen zukommen, die ihren patriarchalen Rahmen kritisch sprengen und eine Vision christlicher Frauen als handelnder historischer und theologischer Subjekte ermöglichen. Eine solche Vision christlicher Ursprünge jedoch kann nicht formuliert werden, indem der Wesenskern der Offenbarung von seiner »unwesentlichen« patriarchalen Gestalt und kulturellen Ausdrucksform abstrahiert wird, da ein derart abstrakter universaler Wesenskern kein kritisches Verständnis der partikuiaren Wurzeln und Mechanismen der Unterdrückung und des Befreiungskampfes von Frauen in patriarchaler Kultur und Religion zuläßt. Eine derartige Vision läßt sich auch nicht erlangen, wenn lediglich die biblischen Textstellen über Frauen untersucht werden, weil solch eine themenbezogene Analyse die androzentrische Dynamik und Wirklichkeitskonstruktion patriarchaler Texte für bare Münze nimmt. Eine feministische Revision christlicher Ursprünge und biblischer Geschichte kann nur durch eine kritische Analyse patriarchalandrozentrischer Texte und Quellen erreicht werden, die auf dem methodischen Grundsatz beruht, daß Menschsein und Christlnsein im wesentlichen ein sozialer, geschichtlicher und kultureller Prozeß ist. Christinsein erwächst daher gleichermaßen aus dem Boden konkreter sozialer Strukturen und historischer Prozesse von Frauenunterdrückung, wie auch des Frauenkampfes für Befreiung und Transzendenz. Eine kritische Rekonstruktion der historischen Frauenunterdrückung in patriarchaler biblischer Religion und Gemeinde und eine Analyse ihrer theologisch-begrifflichen Rechtfertigung stützt sich daher notwendig auf eine alternative feministisch-biblische Vision der historisch-kulturell-religiösen Interaktion zwischen Frauen und Männern in der christlichen Gemeinde und der Geschichte des Christentums. Eine solche historische Theory, in: The Scholar and the Feminist. A Conference Sponsored by The Bamard College Women's Center, New York 1977, 25-48; Hans Schöpfer, Die Methodendifferenzierung durch »hermeneutische Mediation« im gesellschaftstheologischen Engagement, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 26 (1979) 54 -9 5.
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Rekonstruktion und theologische Re-Vision 69 orientiert sich nicht nur an wissenschaftlich-theoretischen Zielen, sondern ist auch von praktischen Interessen an der Befreiung der Frauen aus internalisierten biblisch-patriarchalen Strukturen und Lehren inspiriert. Sie befaßt sich nicht allein mit der Analyse der historischen Frauenunterdrückung in biblischer Religion, sondern ist auch an der Veränderung der sozialen Wirklichkeit der christlichen Kirchen interessiert, in denen die religiös legitimierte Unterdrückung und Ausschaltung von Frauen ihre spezifisch historischen patriarchalen Formen erhält. Letztlich zielt ein solches Vorhaben nicht allein auf Frauenbefreiung, sondern auf die Befreiung der ganzen christlichen Kirche von ihren patriarchalen Strukturen und androzentrischen Weltanschauungen, damit das Evangelium für Frauen wie Männer wieder zu einer heilbringenden Macht werden kann. Eine solche Revision christlicher Gemeinde und christlicher Glaubenslehren ist nicht nur eine religiöse, sondern auch eine wichtige politisch-kulturelle Aufgabe, da biblisch-patriarchale Religion immer noch an der Unterdrückung und Ausbeutung aller Frauen in unserer Gesellschaft mitwirkt. Daher wäre es feministischer Romantizismus, biblische Religion und ihre Einflußkraft in die Sphäre des »Nichtseins« zu verweisen. Wenn feministische Identität nicht auf der Erfahrung biologischer oder wesentlicher sozialer Geschlechtsunterschiede basiert, sondern auf der gemeinsamen historischen Erfahrung, daß wir Frauen in patriarchaler Kultur und Geschichte nicht nur unbewußt kollaboriert haben, sondern auch an ihr aktiv kämpfend beteiligt waren 70 , dann ist die Rekonstruktion frühchristlicher Anfänge in feministischer Perspektive nicht nur eine historische, sondern auch eine feministisch-theologische Aufgabe. Theologischer Sinn läßt sich weder aus dem Offenbarungsüberschuß androzentrischer Texte, noch aus »reinem« feministischen Bewußtsein gewinnen, sondern kann nur in und durch androzentrische Texte und patriarchale Geschichte gefunden werden. Deshalb ist es notwendig, alle historischen Dimensionen androzentrischer Bibeltexte und frühchristlicher Geschichte und Theologie zu untersuchen. Statt das Gedächtnis der Leiden und Hoffnungen unserer Vorschwestern in unserer gemeinsamen patriarchalen christlichen Vergangenheit preiszugeben, fordern christliche Feministinnen deren Leiden und 69 VgLJanet Wolf, The Social Production of Art, New York 1981, bes. Kap. 5: »Interpretation as Re-creation«. 70 Zu einem ähnlichen Ansatz vgL Beverly Wildung Harrison, Die Macht des Zorns im Werk der Liebe, in: Bernadette Brooten/Norbert Greinacher (Hg.), Frauen in der Männerkirche, München - Mainz 1982, 191 -21 1. VgL auch Padma Ramachandran, Report of the International Workshop an Ferninist Ideology and Structures in the First Half of the Decade for Wornen, 24-30 June 1979, Bangkok, 16ff.
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Kämpfe in der und durch die subversive Macht der »erinnerten Vergangenheit« zurück. Die Versklavung und Kolonisierung von Menschen wird durch die Zerstörung ihrer Geschichte total, denn sie werden dadurch der Möglichkeit zur Solidarität mit dem Glauben und Leiden der Toten beraubt. Daher muß feministische biblische Hermeneutik »gefährliche Erinnerung« werden, die die religiösen Leiden und Kämpfe der Toten zurückgewinnt. Solch »gefährliche Erinnerung« hält nicht nur die Leiden und Hoffnungen christlicher Frauen der Vergangenheit lebendig, sondern eröffnet die Möglichkeit zu einer universalen Solidarität der Schwesterlichkeit mit allen Frauen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich von der gleichen Vision leiten lassen. Der bleibenden Herausforderung durch die Opfer des religiösen Patriarchats darf nicht so begegnet werden, daß Selbstverständnis und religiöse Visionen der Opfer als Irrtum und Selbsttäuschung abgetan werden. Ihrer Herausforderung werden wir nur gerecht in und durch engagierte Solidarität und Erinnerung an ihre Hoffnung und Verzweiflung. Um mitJ. B. Metz zu sprechen: Christlicher Glaube artikuliert sich als memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi. In der Mitte dieses Glaubens steht ... eine bestimmte memoria passionis, auf die sich die Verheißung künftiger Freiheit für alle gründet ... Nicht der totale Sprung in die eschatologische Existenz des >neuen Menschen<, sondern die Reflexion des konkreten menschlichen Leidens ist der Einstiegspunkt für die Verkündigung der in der Auferstehung Jesu sich ankündigenden neuen Form eines lebenswerten Lebens ... Die christliche memoria insistiert darauf, daß die Leidensgeschichte der Menschheit nicht einfach zur Vorgeschichte der Freiheit gehört, sondern daß sie inneres Moment der Geschichte der Freiheit ist und bleibtJ' Erinnerung des Leidens von Frauen und ihrer Geschichte patriarchaler Unterdrückung muß als inneres Moment feministisch-christlicher Geschichte und feministisch-christlicher biblischer Theologie lebendig gehalten werden. Doch muß sich eine feministische memoria des Leidens Jesu Christi und der unschuldigen Opfer des Patriarchats davor hüten, dies Leiden und diese Kolonisierung von Frauen dem ausdrücklichen Willen Gottes, als des himmlischen Patriarchen, zuzuschreiben und göttliche Offenbarung und die Kraft des Heiligen Geistes für die theologische Legitimierung solchen Leidens in Anspruch zu nehmen. Insofern 7I Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz I977, 97f.
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androzentrische biblische Texte sich dazu mißbrauchen lassen, patriarchale Unterdrückung und das Vergessen, Verschweigen und Zerstören des Gedächtnisses der Leiden von Frauen zu zementieren und zu legitimieren, müssen sie als androzentrische Kodifizierungen patriarchaler Macht und Ideologie entmythologisiert werden, denen kein Anspruch zusteht, Gottes Offenbarungswort zu sein. Daher schlage ich vor, für die theologische Bewertung biblisch-androzentrischer Traditionen und ihrer späteren Interpretationen den Offenbarungskanon nicht von der Bibel selbst abzuleiten, sondern ihn ausschließlich im und durch den Frauenkampf für Befreiung von jeder patriarchalen Unterdrückung zu formulieren. Dieser Kanon kann nicht universal, sondern muß spezifisch sein, da er von einer partikularen Unterdrückungs- und Befreiungserfahrung extrapoliert wird. Gerade bei der kritisch-feministischen Bewertung biblischer Texte und Traditionen sowie ihres Autoritätsanspruchs muß die "Parteilichkeit für die Unterdrückten« aufrechterhalten werden. Persönlich und politisch reflektierte Befreiungs- und Unterdrückungserfahrung muß zum Kriterium werden für die Angemessenheit von Bibelinterpretation und Bewertung biblischer Autoritätsansprüche. Feministisch-hermeneutisches Verstehen, das nicht einfach auf eine aktualisierende Weiterführung der biblischen Tradition oder einer speziellen biblischen Tradition, sondern auf deren kritische Bewertung hin orientiert ist, muß in allen biblischen Traditionen und Texten diejenigen Elemente aufdecken und zurückweisen, die im Namen Gottes Gewalt, Entfremdung und patriarchale Unterordnung stabilisieren und Frauen aus dem historisch-theologischen Bewußtsein völlig auslöschen. Gleichzeitig muß kritisch-feministische Hermeneutik alle Elemente in biblischen Texten und Traditionen wiedergewinnen, die die befreienden Erfahrungen und Visionen des ganzen Gottesvolkes artikulieren. Feministisch-theologische Hermeneutik, die die Befreiung von Frauen aus unterdrückerischen patriarchalen Texten, Strukturen, Institutionen und Werten als Kanon definiert, behauptet, daß - soll die Bibel nicht weiterhin als Instrument patriarchaler Frauenunterdrückung funktionieren - nur diejenigen Traditionen und Texte theologische Offenbarungsautorität haben, die patriarchale Kultur und "Plausibilitätsstrukturen« kritisch durchbrechen. Ihre "Parteilichkeit« verbietet es Befreiungstheologien, unterdrückerischen und zerstörerischen biblischen Texten und Traditionen auch nur die geringste Offenbarungsautorität zuzugestehen. Diesen Anspruch durften solche Texte zu keinem Zeitpunkt der Geschichte erheben. Solch kritischer Maßstab muß an alle biblischen Texte, ihre historischen Kontexte und theologischen Interpretationen angelegt werden - und eben nicht nur an die Texte, die von Frauen handeln.
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Dieser kritische Maßstab sollte auch auf die anschließende Interpretationsgeschichte angelegt werden, um feststellen zu können, in welchem Ausmaß und warum diese Traditionen und Interpretationen zur patriarchalen Deformierung christlichen Glaubens und christlicher Gemeinde und daher zur Unterdrückung von Frauen und anderen unterjochten Menschen beigetragen haben. Auf dieselbe Weise muß kritisch-feministische Hermeneutik prüfen, ob und wie sehr biblische Traditionen emanzipatorische Elemente enthalten, die ihre kulturell-patriarchalen Kontexte kritisch transzendieren und zur Befreiung - besonders zur Frauenbefreiung - beigetragen haben, obwohl diese Texte und Traditionen in eine patriarchale Kultur eingebettet waren und von einer patriarchalen Kirche verkündigt wurden. Diese Texte des Neuen Testaments sollten jedoch nicht als abstrakte, zeitlose theologische Ideen und Normen mißverstanden, sondern als konkrete Antworten des Glaubens auf konkrete historische Situationen verstanden werden. Feministische Theologie fordert daher die biblisch-theologische Wissenschaft heraus, ein Paradigma für das Verstehen biblischer Offenbarung zu entwickeln, das das Neue Testament nicht als Archetyp, sondern als Prototyp begreift. Archetyp und Prototyp stellen Modelle zur Interpretation des Anfangs dar. Jedoch ist ein Archetyp eine Idealform, die ein unveränderliches zeitloses Muster festsetzt, wohingegen ein Prototyp kein bindendes zeitloses Muster oder Prinzip ist. Ein Prototyp ist daher auf seine eigene Veränderung hin kritisch offen. »Denken im Sinne von Prototyp vergeschichtlicht den Mythos.«72 Eine Hermeneutik, die die Heilige Schrift als Prototyp versteht, läßt der Veränderung ihrer eigenen Modelle christlichen Glaubens und christlicher Gemeinde nicht nur Raum, sondern verlangt sie geradezu. Sie erfordert deshalb nicht nur eine kritische Untersuchung der sozialen, historischen und theologischen Dynamik, die bei der Formulierung und Kanonisierung des Neuen Testaments als Heilige Schrift am Werk war, sondern auch die Integration von biblischer Geschichte und Theologie. Dieses Verständnis der Heiligen Schrift nicht als mythischer Archetyp, sondern historischer Prototyp verleiht der christlichen Gemeinde Gespür für ihre kontinuierliche Geschichte und zugleich für ihre theologische Identität. Insofern dieses Verständnis die Bibel nicht als festgelegtes mythisches Muster definiert, ist es imstande, den dynamischen Prozeß biblischer Adaptation, Infragestellung und Erneuerung sozial-kirchlicher und begrifflich-theologischer Strukturen unter den sich wandelnden Bedingungen der sozialgeschichtlichen Situationen der Kirche positiv zu 72 Rachel Blau Du Plessis, The Critique of Consciousness and Myth in Levenov, Rich, and Rukeyser, in: Feminist Studies 3 (1975) 199-221.219.
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bewerten. Nur in und durch »strukturelle Transformation« Gean Piaget) können Bibel und biblische Gemeinde auf neue soziale Bedürfnisse und theologische Erkenntnisse antworten und damit neue soziale und kirchliche Strukturen freisetzen und entwickeln. Bibel und biblische Gemeinde können die biblische Vision der Befreiung nur dann am Leben erhalten, wenn sie neue Strukturen hervorbringen, die dieser Vision entsprechen. Als Grundmodell christlicher Gemeinde und christlichen Glaubens wirkt die Bibel als aktive Gestaltungskraft in den christlichen Kirchen und als Residuum in westlicher Kultur/ 3 Frauen, die im kulturellen und kirchlichen Einflußbereich der Bibel leben, steht es nicht frei, die Welt der biblischen Vision und ihre strukturellen Gestaltungsformen geringzuschätzen. Freiheit ist jedoch »dadurch ... gegeben, daß man die Richtung der Flugbahn kennt, auf der man sich bewegt, daß man alternative Bewegungsrichtungen abschätzt und angemessene Schritte unternimmt, um die Bahn zu einem besseren Ziel hin zu lenken.«74 Ein solches theologisches Verständnis der Bibel als Prototyp setzt biblische Offenbarung nicht mit dem androzentrischen Text gleich, sondern hält daran fest, daß Offenbarung sich sowohl in Leben und Dienst Jesu als auch in der von ihm ins Leben gerufenen Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ereignet. Biblische Texte und ihre Interpretationen sind in Interaktion mit ihren jeweiligen patriarchalen Kulturen und sozialen kirchlichen Strukturen formuliert. Deshalb bringen sie Offen barungserfahrung in androzentrischer Sprache und patriarchaler Kodifizierung zum Ausdruck. Insofern das hier vorgeschlagene Interpretationsmodell Offenbarung nicht in Texten, sondern in christlicher Erfahrung und christlicher Gemeinde ortet, kann es sich auf die tatsächliche Praxis der Kirchen berufen, die explizit oder implizit die biblische Autorität und kanonische Offenbarung im Blick auf ihre eigenen - eingestandenen oder uneingestandenen - Zentren kirchlicher Macht definieren. Während die römisch-katholische Kirche explizit nach einem solchen hermeneutischen Vorgehen verfährt, schließen sich in der Praxis andere christliche Kirchen stillschweigend diesem Vorgehen an. Analog bestehen Befreiungstheologien darauf, daß Offenbarung und biblische Autorität im Leben der Armen und Unterdrückten ihren Ort haben, deren Sache Gott als ihre Fürsprecherln und Befreierln zu ihrer eigenen macht. Kritisch-feministische Hermeneutik der Befreiung teilt mit allen Befreiungstheologien die »Option für die Unterdrückten«, aber sie benennt nicht nur Frauenunterdrückung, sondern auch Frauenmacht 73 Vgl. Raymond Williams, Marxism and Literature, Oxford 1977, 109-I27Und 1992°5· 74 fames M. Robinson/Helmut KösteT, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 14.
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als Ort der Offenbarung. Als Grundmodell christlichen Lebens und christlicher Gemeinde spiegelt die Bibel die Kraft von Frauen ebenso wie ihre Knechtung wider. Deshalb ist die Bibel Quelle ebenso für die religiöse Macht wie für die religiöse Unterdrückung von Frauen durch die Geschichte des Christentums hindurch bis zur Gegenwart. Eine christliche feministische Theologie der Befreiung muß endlich aufhören, die Bibel gegen ihre feministischen Kritikerinnen verteidigen zu wollen; sie muß vielmehr geltend machen, daß die Quelle unserer Macht zugleich die Quelle unserer Unterdrückung ist. Eine kritisch-feministische Hermeneutik der Befreiung muß ferner sorgfältig die theologische und strukturelle Patriarchalisierung der neutestamentlichen und »patristischen« Kirchen untersuchen, ohne zu schnell zu biblischer Apologetik oder ahistorischer »Unvoreingenommenheit« Zuflucht zu nehmen. Sie muß sich der Wechselbeziehungen zwischen kirchlich-kulturellem Patriarchat und theologischen Texten und Traditionen bewußt werden. Dann kann sie erhellen, wie die patriarchale Kirche stets eine frauenfeindliche Theologie hervorbringt, um Frauen zu marginalisieren und als theologische und kirchliche Subjekte auszuschalten. Eine solche Hermeneutik versucht deshalb, eine kritische Analysemethode zu entwickeln, die es Frauen erlaubt, den androzentrisehen biblischen Text auf seine sozialgeschichtlichen Kontexte hin zu überschreiten. Gleichzeitig muß diese Hermeneutik nach theoretischen Modellen historischer Rekonstruktion suchen, die Frauen nicht einfach nur an der Peripherie, sondern gerade im Zentrum christlichen Lebens und christlicher Theologie ansiedeln. Insofern androzentrische biblische Texte nicht nur ihr patriarchales kulturelles Milieu wiedergeben, sondern weiterhin einen Blick auf die frühchristliche Nachfolgebewegung von Gleichgestellten erhaschen lassen, hat das reale Engagement und Leitungsamt von Frauen in dieser Bewegung Vorrang vor den androzentrisehen Verfügungen zu Rolle und Verhalten von Frauen. Frauen, die in der Antike einer unterdrückten Gruppe angehörten, konnten Leitungsfunktion erhalten und Führerinneneigenschaften entwickeln in der aufkommenden christlichen Bewegung, die - als Nachfolgebewegung von Gleichgestellten - mit dem patriarchalen Ethos der griechisch-römischen Welt in Spannung und Konflikt stand. Eine kritisch-feministische Hermeneutik der Bibel muß weiter theoretische Interpretationsmodelle entwickeln, die die sogenannten gegenkulturellen, häretischen und egalitären Traditionen und Texte in ihre Gesamtrekonstruktion von Theologie und Geschichte der Schrift integrieren kann. Obwohl im Kanon nur noch Reste des nicht-patriarchalen frühchristlichen Ethos erhalten sind, lassen uns diese Reste noch erkennen, daß der Patriarchalisierungsprozeß nicht in christlicher Offenba-
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rung und christlicher Gemeinschaft angelegt war, sondern sich nur langsam und mit Schwierigkeiten durchsetzte. Deshalb kann eine feministische biblische Hermeneutik frühchristliche Theologie und Geschichte als uns Frauen gehörende Theologie und Geschichte zurückfordern. Frauen hatten die Vollmacht und Autorität des Evangeliums. Frauen waren zentrale und führende Personen in der frühchristlichen Bewegung. Frauen als Kirche haben eine kontinuierliche Geschichte und Tradition, die sich berufen kann auf J esus und die Praxis der ersten Gemeinden als ihr biblisches Grundmodell oder ihren biblischen Prototyp, der offen ist für feministische Transformation. Einer christlichen feministischen Theologie stellt sich meiner Meinung nach als vorrangige Aufgabe, die memoria passionis christlicher Frauen am Leben zu erhalten und ebenso unser religiös-theologisches Frauenerbe zurückzufordern. Jedoch wird ein falsches Bild dieses theologischen Erbes vermittelt, wenn es nur als Unterdrückungsgeschichte verstanden wird. Dieses Erbe muß auch als Geschichte von Befreiung und religiöser Macht wiederhergestellt werden. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Geschichte und Theologie der durch patriarchale biblische Texte stabilisierten und von einem klerikalen Patriarchat fortgesetzten Frauenunterdrückung die Geschichte und Theologie des Kämpfens, Lebens und der Autorität christlicher Frauen aufhebt, die in der Kraft »des« Geistes gesprochen und gehandelt haben.?5
75 Der Ansatz dieses Kapitels ist weiterentwickelt und -ausgearbeitet in: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Freiburg (Schweiz) 1988.
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Auf dem Weg zu einer kritisch-feministischen Methode Wenn Offenbarung sich nicht im androzentrischen Text, sondern in Leben und Dienst Jesu und der Bewegung der von ihm in die Nachfolge gerufenen Frauen und Männer ereignet, müssen wir historisch-kritische Methoden für eine feministische Lektüre der biblischen Texte entwikkeln. Wenn das Schweigen über historische und theologische Frauenerfahrungen und Frauenbeiträge in der frühchristlichen Bewegung durch historische Quellentexte und ihre theologische Redaktion verursacht wird, müssen wir Wege finden, dieses Schweigen des Textes zu brechen und aus androzentrischer Geschichtsschreibung und Theologie Sinn zu gewinnen. Statt den Text als adäquate Widerspiegelung der Wirklichkeit, von der er spricht, zu sehen, müssen wir nach Anhaltspunkten und Andeutungen suchen, die auf die Wirklichkeit hinweisen, über die der Text schweigt. Statt androzentrische Texte für Mitteilungen von "Daten« oder für exakte »Berichte« zu halten, müssen wir ihr »Schweigen«! als Zeugnis und Anzeichen jener Wirklichkeit lesen, von der sie nicht explizit sprechen. Statt das Argurnenturn e silentio als unzulässiges historisches Argument abzutun, müssen wir das Schweigen androzentrischer Texte so lesen lernen, daß sie uns Anhaltspunkte für die egalitäre Wirklichkeit der frühchristlichen Bewegung zur Verfügung stellen. Androzentrische Texte sind Teile eines umfassenden Puzzles oder Musters, das durch kreative kritische Interpretation der Texte mosaikartig zusammengesetzt werden muß. Daher kommt es darauf an, daß wir uns mit den Entwürfen androzentrischer Modelle konfrontieren und an ihrer Stelle ein feministisches Muster für das historische Mosaik entwerfen: ein Muster, das uns erlaubt, Frauen genauso wie Männern ihren Platz im Zentrum frühchristlicher Geschichte zu geben. Eine kritisch-feministische Methode ließe sich mit der Arbeit einer Detektivin vergleichen, insofern sie sich nicht ausschließlich auf historische »Fakten« verläßt oder gar die Indizien dafür erfindet, sondern an einer imaginationskräftigen Rekonstruktion historischer Wirklichkeit arbeitet. Mit einem Bild der Dichterin Adrienne Rich beschrieben : Um aus androzentrischen I Vgl. Tillie Osen, Silences, New York I979 und ihre Widmung: "Für unser zum Schweigen gebrachtes Volk, das Jahrhundert für Jahrhundert die eigene Existenz in der harten, alltäglichen, lebensnotwendigen Arbeit der Erhaltung menschlichen Lebens aufreibt. Die Kunst, die wir dennoch schufen - wie auch unsere anderen Kulturbeiträge: anonym, nicht geschätzt, nicht anerkannt; verloren.«
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Texten und androzentrischer Geschichte Sinn zu gewinnen, müssen wir »die Erdablagerungen unserer Geschichte« ausgraben, »um die wesentliche Ader freizulegen«, zutage zu fördern die »Flasche ... /bernsteinfarben/makellos/ ... eine Stärkunglfür das Leben auf dieser Erde/in den Wintern dieses Klimas.«2 Eine feministisch-hermeneutische Methode und Vorgehensweise, um biblisch-feministische Geschichte und Offenbarung freizulegen und zu einem alten Text einen neuen Zugang aus neuer kritischer Sichtweise zu finden, ist mehr als ein neues Kapitel Kulturgeschichte: es ist ein Akt feministischer Transformation. Diese Transformation setzt jedoch voraus, daß wir uns die Vergangenheit kritisch wiederaneignen. Wenn Frauen Texte lesen, die in der abendländischen Tradition höchsten Einfluß haben, sind sie konfrontiert mit Frauenhaß, Idealisierung, Verobjektivierung, Schweigen. Die Abwesenheit von Frauenbewußtsein in dieser Tradition verlangt von feministischer Interpretation, zwischen den Zeilen und über die Texte hina~s zu lesen. Diese Abwesenheit ist nur die eine Seite der Medaille. Das Schweigen - um so schwieriger zu restaurieren, als es eine Interpretation über Umwege erfordert - bietet Anhaltspunkte dafür, daß Frauen mit Absicht verschwiegen wurden. Aber Schweigen in Sinn zu übersetzen, verlangt sowohl kritische Distanz zur Tradition als auch ein Eintauchen in die Tradition. 3 Eine kritisch-feministische Analyse biblischer Texte über »die Frau« genügt nicht. Der bisher bei der Untersuchung biblischer Texte vorherrschende topologische oder motivgeschichtliche Ansatz, der nur die Stellen in der Bibel, die explizit von Frauen handeln, analysiert, übernimmt einen theoretischen Ansatz und eine analytische Perspektive, die Frauen marginalisieren, indem Frauen - Männer dagegen nicht- als Problem historisch-kritischer Forschung ausgesondert und zum Objekt theologischer Auseinandersetzung werden. Über die bloße feministische Analyse biblischer Texte hinaus ist daher eine Metakritik der androzentrischen Sehraster, die von der Bibelwissenschaft ohne jede kritische Reflexion ihrer systemischen Voraussetzungen und Implikationen übernommen werden, unerläßlich. Der systemische Androzentrismus westlicher Kultur wird daran offenkundig, daß keine/r daran zweifelt, daß die Männer Subjekte der GeAdrienne Rieb, Macht, in: dies., Der Traum einer gemeinsamen Sprache. Gedichte 1974-1977, München 1982, 1 I, und dies., Bodenschätze, a.a.O., 72-79.76. 3 Elizabetb Fox-Genovese, For Feminist Interpretation, in: Union Seminary Quarterly Review 35 (1979/80) 10, Hervorh. d. d. V. 2
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schichte und Offenbarungsvermittler in der Kirche sind. Die historische Rolle von Frauen - und nicht die von Männern - wird problematisiert, weil Mannsein die Norm, Frausein dagegen eine Abweichung von dieser Norm darstellt. Die Rede vom Menschen als Subjekt von Wissenschaft und Geschichte meint stets männliche Menschen. Für das abendländische Verstehen und Artikulieren von Wirklichkeit durch Sprache ist männliche Existenz die Norm menschlicher Existenz. "Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich j sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen .... Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.«4 Deshalb definieren unsere Gesellschafts- und Wissenschaftsstrukturen Frauen als von Männern abgeleitet und ihnen gegenüber zweitrangig. Diese androzentrische Definition des Menschseins bestimmt nicht nur die wissenschaftliche Wahrnehmung von Männern, sondern auch von Frauen. In solch androzentrischer WeItsicht müssen Frauen zwangsläufig historisch marginal bleiben. Das androzentrische Wissenschaftsparadigma kann zwar die Rolle von Frauen als gesellschaftliches, historisches, philosophisches und theologisches Problem thematisieren, seinen eigenen Denk-Horizont 5, der die »Frauenfrage« als ein triviales Problem, das keine ernsthafte Beachtung verdient, an die Peripherie der wissenschaftlichen Interessen verweist, vermag es jedoch nicht zu hinterfragen. Die historischtheologische Marginalität von Frauen wird daher nicht nur von den primären biblischen Quellen, sondern darüber hinaus auch durch die androzentrischen Interpretationen und patriarchalen Rekonstruktionen biblischer Wissenschaft erzeugt. Aus diesem Grund muß eine feministische Analyse über den Androzentrismus historischer Texte hinaus den Androzentrismus, der heutige wissenschaftliche Rekonstruktionen dieser Texte und ihrer sozialen Kontexte bestimmt, beachten.
4 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968, 10f; vgl. Elizabeth Janeway, Man's World Woman's Place, New York 1971, die diese androzentrische Geisteshaltung als »soziale Mythologie« untersucht. Zum Vergleich mit heutigem feministischem Denken vgl. auch Margaret A. SimonslJessica Benjamin, Simone de Beauvoir. An Interview, in: Feminist Studies 5 (1979) 330-345. 5 Vgl. v. a. Dorothy Smith, A Peculiar Eclipsing. Women's Exclusion from Man's Culture, in: Women's Studies International Quarterly 1 (1978) 281-296; Valerie Saiving, Androcentrism in Religious Studies, in: Journal of Religion 56 (1976) II7-197; Elisabeth Schüssler Fiorenza, Für eine befreite und befreiende Theologie. Frauen in der Theologie und feministische Theologie in den USA, in: Concilium 14 (1978) 287-294; Dorothy C. Bass, Women's Studies and Biblical Studies. An Historical Perspective, in: Journalfor the Study of the Old Testament 22 (1982) 6-12.
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Androzentrische Übersetzungen und Interpretationen Das Problem androzentrischer Sprache eduhr in den letzten Jahren große Beachtung. 6 Die herrschende Praxis, wie biblische Texte von einzelnen gelesen und in der Liturgie verkündigt werden, zementiert die Vorurteile zugunsten der Männer und des »Männlichen« und die männliche Exklusivität unserer Sprache.? Zweifellos ist die biblische Sprache androzentrisch. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob sie Frauen bewußt und absichtlich ausschließt. Erst in der heutigen Zeit, in der androzentrische Sprachmuster und androzentrischer Sprachgebrauch bewußt und vieldiskutiert sind, wird solch vorbewußt androzentrische Sprache zur exklusiven, voreingenommenen Männersprache. 8 Bei Übersetzungen biblischer Texte stellt sich daher die Frage, wie historisch angemessen und philologisch korrekt übersetzt werden muß. Die Arbeitsgruppe für inklusive Bibelübersetzung (Task Force on Inclusive Biblical Translation) des Nationalen Kirchenrats - Abteilung Erziehung und Amt (National Council of Churches Division of Education and Ministry) gab den Anstoß, daß der Ausschuß für die Übersetzung der Revised Standard Version (RSV) sich mit dem Problem tendenziöser Männersprache auseinandersetzte und den Beschluß faßte, das Wort »man« (engl. für Mensch/Mann) überall dort zu streichen, wo es im ursprünglichen Text fehlt und von späteren Übersetzern eingefügt wurde. Zum Beispiel haben Übersetzer der King-J ames-Bibel in Lk 17,34 im Widerspruch zu den griechischen Textfassungen das Wort »men« (Menschen/Männer) hinzugefügt, so daß der Vers wie folgt lautet: »Ich sage euch: in jener Nacht werden zwei Menschen/Männer sein in einem Bett.« Ein weiteres Beispiel: Der Ausschuß empfahl, Röm 2,6 »Er wird jedem 6 Vgl. Robin LakofJ, Language and Woman's Place, New York 1975; Mary Ritchie Key, MaleIFemale Language. With a Comprehensive Bibliography, Metuchen, N. J. 1975; Nancy Henley/Barrie Thorne, She SaidiHe Said, Pittsburgh 1975; Wendy Martyna, Beyond the »He/Man« Approach. The Case for Non-Sexist Language, in: Signs 5 (1980) 482-493. 7 Vgl. z. B.J. Martin Bailey, The Book That Draws People Together, in: A. D. Magazin, November 1977; Mary Collins, Women and the Language of Public Prayer, Dokument 13 der ICEL Vorbereitungspapiere; Thomas J. Reese, Liturgical Change. What Next?, in: America 21 (1979); Joan Chittister, Brotherly Love in Today's Church, in: America 19 (1977) 233-236; Dane Packard, Worship. Inclusive Language Resources, St. Louis 1977. 8 Vgl. zu dieser Unterscheidung Casey Miller/Kate Swift, Words and Women. New Language in New Times, New York 1977, 64-74; Katharina Doob Sakenfield, üld Testament Perspectives. Methodological Issues, in: Journal for the Study of the üld Testament 22 (1982) 13-20, bes. 17ff; Letty M. Russell, Sprachveränderung und Kirchenreform, in: dies. (Hg.), Als Mann und Frau ruft er uns. Vom nicht-sexistischen Gebrauch der Bibel, München 1979, 70-84.
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Menschen/Mann nach seinen Werken vergelten« in »Er wird jede/n nach ihren/seinen Werken belohnen« umzuändern. Außerdem will der Ausschuß in allen Textstellen, in denen das Hebräische oder Griechische die generische Bezeichnung für »Menschen« (human being) gebraucht, diese mit generischen Ausdrücken übersetzen. Solche Ausdrücke sind im Deutschen z. B. alle, alle Leute, Person, menschliches Geschöpf ... Viel schwieriger jedoch ist die Frage generischer Pronomina. Zum Beispiel ist der Ausschuß bereit, in Psalm 8 »Mensch« und »Menschensohn« durch »menschliches Geschöpf« oder »sterbliches Geschöpf« zu ersetzen, doch er ersetzt nicht das sich darauf beziehende Pronomen mask. sing., das sechsmal vorkommt. Dadurch werden Frauen - trotz dieser zwei wichtigen Modifikationen - jetzt sogar noch stärker ausgeschlossen als bisher, weil nun »menschliches Geschöpf« und »sterbliches Geschöpf« durch die maskulinen Pronomina als männlich definiert werden. Noch schädlicher für Frauen ist die Weigerung, in den Paulusbriefen »Brüder« in »Brüder und Schwestern« umzuändern und auf maskuline Pronomina für Gott zu verzichten. Solch androzentrische Übersetzungen können nicht einfach durch den Hinweis auf Erfordernisse »wörtlicher« Übersetzung entschuldigt werden, weil jede Übersetzung stets zugleich Interpretation ist. Bruce Metzgers Kritik an der allzu wörtlichen »hölzernen« Übersetzung der Suffragette Julia E. Smith läßt sich auch auf die Weigerung des Ausschusses für die Übersetzung der RSV übertragen, seine tendenziöse Männersprache für die Rede von Gott zu ändern: Miss Smith wirft auf dramatische Weise Licht auf ein Faktum, das manche nicht richtig einschätzen, nämlich: Die meisten Wörter haben mehr als eine einzige Bedeutung, und bei der Übersetzung muß die Bedeutung eines Wortes, die in einem speziellen Kontext am treffendsten ist, von diesem Kontext her herausgefunden werden. 9
In einem sozio-kulturellen Kontext, in dem voreingenommene Männersprache für die Rede von Gott nicht mehr als generische, sondern als sexistisch-exklusive Sprache verstanden wird, muß die/der Übersetzerln prüfen, ob der biblische Text darauf beharrt, Gott sei natürlichen männlichen Geschlechts, oder ob eine solche Zuweisung von Genus und Sexus für Gott nicht den Intentionen des biblischen Textes und seiner theologischen Kontexte widerspricht. Neben der sachgerechten Übersetzung maskuliner Metaphern und androzentrischer Sprache, die ein schwieriges Problem bleibt, gibt es einen 9 Bruce M. Metzger, The Revised Standard Version, in: Duke Divinity School Review 44 (1979) 70 - 87-72.
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weiteren Aspekt androzentrischer biblischer Sprache, der nicht nur für heutige Übersetzung und heutiges Sprechen von Gott wichtig ist, sondern bisher noch nicht erkannte Auswirkungen auf unser Verständnis biblischer Texte als historische Quellen hat. Eine historisch adäquate Übersetzung muß in Betracht ziehen, welche Implikationen androzentrische Sprache, die in patriarchaler Kultur als inklusive Sprache funktioniert, für ihre Interpretation hat. Charakteristisch für androzentrische inklusive Sprache ist, daß sie Frauen nur dann erwähnt, wenn unsere Präsenz irgendwie problematisch geworden ist oder wenn wir »eine Ausnahme« bzw. »etwas Besonderes« darstellen, Frauen in sogenannten normalen Situationen jedoch nicht erwähnt. Beispielsweise kann es heute noch im Protokoll einer exegetischen Tagung durchgängig von» Professor so und so« heißen: »er sagte«, auch wenn Wissenschaftlerinnen an der Tagung teilgenommen haben. Nur wenn eine Frau außergewöhnlich ist bzw. besonders herausragt oder wenn sie einen Vortrag hält, hat sie vielleicht eine Chance, daß das Protokoll sie als Frau ausweist. Bevor das Problem androzentrischer Sprache bewußt wurde, benannten sich Wissenschaftlerinnen und Autorinnen sogar selbst mit männlichen Pronomina. Mit anderen Worten: Androzentrische Sprache bezieht Frauen in der Regel mit ein, ist also inklusiv, erwähnt sie aber nicht explizit. Inklusive androzentrische Sprache funktioniert in biblischen Texten genauso wie im heutigen Sprachgebrauch: Sie erwähnt Frauen nur dann, wenn das Verhalten von Frauen als problematisch erscheint oder wenn von ganz außerordentlichen Ausnahmefrauen die Rede ist. JO In der Bibelwissenschaft wird inklusive androzentrische Sprache in zweifachem Sinn verstanden und interpretiert: generisch und geschlechtsspezifisch. Obwohl viele Exegeten es ablehnen würden, die paulinische Anrede »Brüder« mit »Brüder und Schwestern« zu übersetzen, gehen sie doch davon aus, daß die christlichen Gemeinden, an die Paulus schreibt, aus »Brüdern und Schwestern« bestanden haben. Da sie gewöhnlich nicht behaupten, die frühe Kirche sei - wie der Mithraskulteine auf Männer be.schränkte Kultgemeinschaft gewesen, verstehen sie grammatisch maskuline Bezeichnungen, wie Auserwählter, Heiliger, Bruder, Sohn, als Männer und Frauen bezeichnende generische Sprache. Diese Begriffe beziehen sich nicht auf ausschließlich Christen im Gegensatz zu Christinnen, vielmehr gelten solch grammatisch maskuline Bezeichnungen für alle Glieder der christlichen Gemeinde. Grammatisch maskuline Sprache wird in Bezug auf Gemeindezugehörigkeit nicht geschlechtsspezifisch, sondern generisch-inklusiv verstanden. Wenn Ex10 V gl. Barbara A. Bate, Generic Man, Invisible Woman. Language Thought and 50cial Change, in: University of Michigan Papers in Women's 5tudies 2 (1975) 2-13.
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egeten sich jedoch mit Amtstiteln befassen, wie z. B. Apostel, Prophet, Lehrer, setzen sie von vornherein voraus, daß sich diese Bezeichnungen nur auf Männer beziehen können - trotz eindeutiger Beispiele im Neuen Testament dafür, daß grammatisch maskuline Titel sich auch auf Frauen beziehen können. So charakterisiertz. B. Röm 16,1 Phoebe mit der grammatisch maskulinen Form des griechischen Wortes diakonos, und Tit 2,3 gebraucht den grammatisch maskulinen Titel kalodidaskalos für Frauen. Wenn die Exegese das Problem androzentrischer Sprache als generischer Sprache ernst nähme, müßte sie darauf bestehen, daß jede Interpretation und jede Übersetzung, die den Anspruch erhebt, dem Sprachcharakter ihrer Quellen historisch gerecht zu werden, die androzentrische Sprache des N euen Testaments - bis zum Erweis des Gegenteils - insgesamt als inklusive Sprache, die Frauen einbezieht, verstehen und wiedergeben muß. Wenn neutestamentliche Textstellen Frauen direkt erwähnen, dann nur, weil diese Frauen ganz außergewöhnlich waren oder weil ihr Verhalten zum Problem wurde. Wir dürfen diese Texte nicht für die einzigen uns zur Verfügung stehenden Informationen über Frauen im frühen Christentum halten. Daher können wir nicht mehr einfach annehmen, daß nur I Kor I 1,2 - I 6 von Prophetinnen rede, während die Kapitel I 1-14 im übrigen nur von männlichen Charismatikerlnnen und männlichen ProphetInnen handelten. Das Gegenteil ist der Fall. In 1Kor I 1-14 spricht Paulus vom Gottesdienst aller ChristInnen, und er konzentriert sich in 1Kor II,2-16 nur deshalb auf Frauen, weil ihr Benehmen ein besonderes Problem darstellte. Eine historisch adäquate Übersetzung und Interpretation muß folglich nicht nur die inklusive Funktion androzentrischer Sprache berücksichtigen, sondern auch die Grenzen dieser Sprache zugeben und deshalb den Ansatz, der für die Rekonstruktion frühchristlicher Frauengeschichte nur die Texte des Neuen Testaments, die ausdrücklich von Frauen sprechen, aufgreift, als methodisch unzulänglich verwerfen. Darüber hinaus muß anerkannt und deutlich gemacht werden, daß eine gute Übersetzung nicht eine wörtliche Übertragung, sondern einfühlend-verstehende Interpretation ist, die Sinn von einem Sprachkontext in einen anderen überträgt. 11 Wie sehr jede Übersetzung auch von dem jeweiligen zeitabhängigen Blick der/des ÜbersetzerIn geprägte Interpretation ist, zeigt ein Ver-
11 Vgl. z. B. E. A. Nida, Language, Structure and Translation, Stanford 1975; C. R. Tabor, Translation as Interpretation, in: Interpretation 32 (1978) 130-143; L. Williamson, Jr., Translation and Interpretation. New Testament, in: Interpretation 32 (1978) I5 8- 17°.
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gleich unterschiedlicher heutiger Bibelübersetzungen. '2 Zum Beispiel heißt IKor 11,3 wortwörtlich übersetzt: Ich will aber, daß ihr wißt, daß das Haupt jeden Mannes der Christus ist, ein Haupt einer Frau aber der Mann, Haupt des Christus aber der Gott. Die RSV-Übersetzung heißt: Ich will, daß ihr versteht, daß das Haupt jeden Mannes Christus ist, das Haupt der Frau ihr Mann und das Haupt von Christus Gott. Die N ew English-Bible gibt den Vers so wieder: Ich will aber, daß ihr versteht, daß während ein jeder Mann Christus als Haupt hat, das Haupt der Frau der Mann ist, so wie das Haupt Christi Gott ist. Die »Living Letters« lauten: Eines aber gibt es, woran ich euch erinnern will: Eine Ehefrau ist ihrem Gatten verantwortlich, ihr Ehemann ist Christus verantwortlich, und Christus ist Gott verantwortlich. Und die »Good News for Modern Man« bringt schließlich wirklich die Gute Nachricht für moderne Männer heraus: Ich will aber, daß ihr versteht, daß Christus über jeden Mann herrscht, der Ehemann über seine Frau und Gott über Christus. Einige Beispiele deutscher Übersetzungen sollen hier angeführt werden: Jerusalemer Bibel (Übersetzung aus Herders Bibelkommentar): Ich will euch aber wissen lassen, daß Christus das Haupt eines jeden Mannes ist, der Mann aber das Haupt der Frau, Gott aber das Haupt Christi. Vgl. Daniel J. Harrington, Interpreting the New Testament, Wilmington, DeI. 1979,25-41; B. MickelsenlA. Mickelsen, Does Male Dominance Tarnish OurTranslations?, in: Christianity Today 23 (1979) 1312-1318; Ruth Hoppin, Games Bible Translators Play, Fotokopie, 1972. 12
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Luther(r955): Ich lasse euch aber wissen, daß Christus das Haupt eines jeden Mannes ist; der Mann aber ist das Haupt der Frau; Gott aber ist das Haupt Christi. Wilckens: Doch das sollt ihr wissen: Das Haupt jedes Mannes ist Christus; das Haupt der Frau ist ihr Mann; das Haupt Christi aber ist Gott. Einheitsübersetzung : Ihr sollt aber wissen, daß Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi. Das Neue Testament, übertragen von Jörg Zink: Eins muß ich noch hinzufügen: Jeder Mann in der Gemeinde ist Christus unterstellt, jede Frau ihrem Mann, wie Christus selbst Gott untergeordnet ist. Gute Nachricht für Sie: Ich muß euch aber auch noch das sagen: Der Mann steht über seiner Frau, Christus steht über dem Mann, und Gott steht über Christus. Indem sie den bestimmten Artikel vor Christus und Gott unterschlugen, haben die Übersetzer den Text theologisch ausgebügelt und ihn dabei gleichzeitig im Sinne patriarchaler Hierarchie interpretiert. Da heutige ÜbersetzerInnen des N euen Testaments an der patriarchalandrozentrischen Geisteshaltung westlicher Kultur teilhaben, können sie Texten, die positiv von christlichen Frauen sprechen, nicht gerecht werden und sie nicht in ihr Konstruktionsmodell frühchristlicher Anfänge einbeziehen. Da sie gewöhnlich von vornherein annehmen, daß Männer - und nicht Frauen - im frühen Christentum missionarische Initiativen entwickelt und zentrale Führungsfunktionen ausgeübt haben, interpretieren sie Texte, die nicht in dieses androzentrische Modell passen, rasch einer androzentrischen Perspektive gemäß um. Zum Beispiel nimmt die Exegese meist an, Röm r6,7 spreche von zwei Männern, die schon vor Paulus Christen geworden sind und große Autorität als Apostel hatten.
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Jedoch gibt es keinen Grund dafür, Junia für eine abgekürzte Form des Männernamens Junianus zu halten, da Junia ein gebräuchlicher Frauenname war. Auch die patristische Exegese verstand ihn als Frauenname. Andronikus und Junia haben als Missionar und Missionarin zusammengearbeitet, hatten großen Einfluß und waren anerkannt als ApostelInnen. ' ) Ein weiteres Beispiel androzentrischer Interpretation findet sich häufig in Zusammenhang mit Röm 16, 1- 3. Diese Stelle nennt Phoebe diakonos und prostatis der Kirche von Kenchreä, der Hafenstadt von Korinth. Die Exegese versucht, die Bedeutung beider Titel hier herunterzuspielen, weil sie für eine Frau gebraucht werden. Wenn Paulus sich selbst, Apollos, Timotheus oder Tychikus als diakonos bezeichnet, übersetzen sie immer »Diakon«, weil sich aber dieser Ausdruck hier auf eine Frau bezieht, übersetzen sie ihn mit »Dienerin«, »Helferin« oder »Diakonisse«. Während z. B. Kürzinger den Titel in Phil 1,1 mit »Diakon« übersetzt, erläutert er im Fall Phoebes: »sie steht im Dienst der Gemeinde«. In einer Fußnote charakterisiert er Phoebe als »eine der ersten Gemeindehelferinnen«. '4 Ähnlich versteht Hans Lietzmann Phoebes Amt in Analogie zur späteren Einrichtung der Diakonissen, die im Vergleich zu der der Diakone nur eine sehr eingeschränkte Funktion in der Kirche hatten: »Paulus nennt eine offenbar wohlhabende und wohltätige Dame namens Phoebe >Diakonos< der Gemeinde zu Kenchreä - der korinthischen Hafenstadt -, und noch lange hat es in der christlichen Kirche weibliche Diakonen gegeben, welche mit ihrer Hilfe vorwiegend dann eintraten, wenn ihr Geschlecht sie dazu besonders geeignet machte, bei Armen- und Krankenpflege und der Taufe von Frauen.«'j Schon Origenes hatte Phoebe als Assistentin und Dienerin des Paulus etikettiert. Er folgerte daraus, daß Frauen, die gute Werke tun, als Diakonissen eingesetzt werden können. 16 13 Vgl. meinen Aufsatz: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Die Rolle der Frau in der urchristlichen Bewegung, in: Concilium 12 (1976) 3-9.6, wo ich auf M. J. Lagranges Entscheidung für den FrauennamenJunia hinwies (Saint Paul. Epitre aux Romains, Paris 19 I 6, 366), obwohl diese Lesart des Textes von der protestantischen Exegese aufgegeben worden war. Bernadette Brooten untersuchte diesen Hinweis in Hinblick auf die Interpretationsgeschichte in ihrem Aufsatz »Junia ... hervorragend unter den Aposteln« (Röm 16,7), in: Elisabeth Moltmann-Wendel (Hg.), Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, München-Mainz 1982 (3. veränderte Auflage von »Menschenrechte für die Frau«), 148-151. 14 Das Neue Testament, übersetzt und herausgegeben von Josef Kürzinger, Aschaffenburg 1962, 215. 15 Hans Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, Berlin - New York4· j · 1975, Bd. I, 149· 16 Commentaria in Epistolam ad Romanos 10.26 (PG 14.1281B), 10.39 (PG 14· 1289A).
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Doch der Text läßt diese feminine Stereotypisierung Phoebes nicht zu. Wie wir aus I Kor 3,5 -9 sehen können, gebraucht Paulus diakonos parallel zu synergos und charakterisiert mit diesen Titeln Apollos und sich selbst als gleichrangige Missionare, die auf verschiedene Weise zum Aufbau der Gemeinde beigetragen haben. '7 Wenn Phoebe diakonos der Kirche von Kenchreä genannt wird, erhält sie diesen Titel, weil ihr Dienst und Amt Einfluß hatten in der Gemeinde. Daß Phoebe in der frühchristlichen Missionsarbeit große Autorität beanspruchen konnte, wird durch den zweiten Titel prostatislpatrona unterstrichen. Mit der Bezeichnung patrona beschreibt daher Paulus Phoebe analog zu jenen Personen, die in den hellenistisch-religiösen GenossInnenschaften Positionen als RepräsentantInnen und BeschützerInnen und LeiterInnen hatten.'8 G. Heinrici hat aufgezeigt, daß in der Antike religiöse und private GenossInnenschaften durch das Patronat hervorragender und reicher Mitglieder rechtlichen Schutz erhielten und soziopolitischen Einfluß ableiteten. '9 Da die neutestamentliche Exegese es als selbstverständlich betrachtet, daß die Leitung der frühchristlichen Gemeinden in den Händen von Männern lag, geht sie davon aus, daß die in den paulinischen Briefen erwähnten Frauen Gehilfinnen und Assistentinnen der Apostel, besonders des Petrus, waren. Ein derart androzentrisches Interpretationsmodell läßt für die alternative Annahme keinen Raum, daß Frauen Missionarinnen, Apostelinnen, Gemeindeleiterinnen waren, von Paulus unabhängig und ihm gleich. Da die Position des Paulus oft angefochten und überhaupt nicht von allen Gemeindegliedern anerkannt war, hatten möglicherweise einige Frauen sogar größeren und fundierteren Einfluß als Paulus selbst. Textstellen wie Röm 16,1-3 oder 16,7 legen nahe, daß führende Frauen in der frühchristlichen Missionsbewegung ihre Position nicht Paulus verdankten. Es ist eher wahrscheinlich, daß Paulus keine andere Wahl blieb, als mit diesen Frauen zusammenzuarbeiten und ihre Autorität in den Gemeinden anzuerkennen. Wenn die Exegese androzentrische heuristische Modelle benutzt, kann sie der Stellung und dem Einfluß von Frauen wie Phoebe, Prisca oder Junia nicht gerecht werden und diese nicht adäquat in ein Konzept frühchristlicher Gemeindeleitung 17 Vgl. Mary A. Getty, God's Fellow Worker and Aposcleship, in: L. Swidler/A. Swidler (Hg.), Woman Priests. A Catholic Commentary on the Vatican Declaration, New York 1977, 176-182; Earl E. Eliis, Paul and His Co-Workers, in: New Testament Studies 17 (1970 /71) 439· 18 Vgl. Ramsay MacM ulien, Roman Socia! Relations, N ew Haven 1974, 74ff. 124; Peter Garnsey, Socia! Status and Lega! Privilege in the Roman Empire, Oxford 1970, 2I8.273f. 19 Vgl. G. Heinrici, Die Christengemeinde Korinths und die religiösen Genossenschaften der Griechen, in: Zeitschrift für Wissenschaftliche Theologie 19 (1876) 465526.
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einbeziehen. 20 Darum dienen ihre Rekonstruktionen der Legitimierung einer patriarehaIen Praxis der gegenwärtigen Kirche.
Androzentrische Selektion historischer Traditionen Solche Kritik heutiger Modelle der Bibelforschung könnte natürlich mit der Behauptung zurückgewiesen werden, die androzentrische Interpretation des frühen Christentums werde durch unsere Quellen selbst bedingt und gerechtfertigt, da diese nur selten und hauptsächlich in polemischer Auseinandersetzung von Frauen redeten. So werde die historische Marginalität von Frauen nicht erst durch die heutige androzentrische Exegese oder durch androzentrische Bibeltexte erzeugt, sondern beruhe auf der Tatsache, daß Frauen in der Jesusbewegung tatsächlich marginal gewesen seien und die frühchrisdiche Kirche von ihren allerersten Anfängen an von Männern für Männer bestimmt gewesen sei. Jesus sei ein Mann gewesen, die Apostel seien Männer, die frühchristlichen ProphetInnen, LehrerInnen, MissionarInnen seien Männer gewesen. Alle neu testamendichen Schriften seien von Männern geschrieben worden, und die Theologie der ersten Jahrhunderte wird Patristik, » Theologie der Väter«, genannt. Frauen scheinen in der frühen Kirche völlig bedeutungslos gewesen zu sein, und es sei ihnen auch keinerlei Leitungs- oder Lehramt zugestanden worden. So habe die Marginalität von Frauen im Christentum ihre Wurzeln in den patriarchalen Anfängen der Kirche und im Androzen trismus der chrisdichen Offenbarung. Eine solche theologische Schlußfolgerung setzt jedoch die Annahme voraus, daß die neutestamendichen Schriften objektive Tatsachenberichte der frühchrisdichen Geschichte und Entwicklung sind. Daß Frauen in den Quellentexten nur selten erwähnt werden, spiegle demnach die reale Geschichte ihrer Wirksamkeit in der frühen Kirche wider. Diese Annahme läßt aber die methodischen Erkenntnisse von Formkritik, Quellenkritik und Religionskritik außer acht, die darauf aufmerksam gemacht haben, daß die frühchristlichen Schriften keineswegs objektive, tatsachengetreue Niederschriften, sondern von pastoralem Engagement geleitete Schriften sind!' Die frühchrisdichen AutorInnen haben ihr 20 Vgl. Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, Göttingen '1972. Anhang I führt unter den LeiterInnen der frühen Kirche nur Prisca auf. 21 Die zentrale Bedeutung der Gemeinde und der »pastoralen« Situation wird von Form- und Redaktionsgeschichte besonders hervorgehoben. Vgl. William G. Doty, Contemporary N ew Testament Interpretation, Englewood Cliffs, N. J. 1972; Patrick Henry, New Directions in N ew Testament Study, Philadelphia 1979 und v. a. Norman Penin, What Is Redaction Criticism?, Philadelphia 1970.
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überliefertes Quellenmaterial auf ihre theologischen Absichten und pastoralen Ziele hin ausgewählt, redigiert und neuformuliert. Von dieser Tendenz ist keine der frühchristlichen Schriften und keine frühchristliche Tradition frei. Alle frühchristlichen Schriften, selbst die Evangelien und die Apostelgeschichte, wollen zu aktuellen Problemen und in konkrete Situationen der frühen Kirche hineinsprechen und sie theologisch erhellen. Wir können daher annehmen, daß diese methodische Einsicht ebenso für die Traditionen und Quellen über Frauen im frühen Christentum gilt. Da die frühchristlichen Gemeinden und AutorInnen in einer vorherrschend patriarchalen Welt gelebt und an deren Mentalität teilgehabt haben, ist es wahrscheinlich, daß die spärlichen Informationen über Frauen auf die androzentrische Überlieferung und Redaktion der frühchristlichen AutorInnen zurückgehen. Besonders gilt dies für die Evangelien und die Apostelgeschichte, da diese gegen Ende des ersten Jahrhunderts geschrieben wurden. Viele Traditionen und Informationen über das Wirken von Frauen im frühen Christentum sind vermutlich deshalb unwiederbringlich verloren, weil der androzentrische Selektionsund Redaktionsprozeß sie als unwichtig oder als gefährlich angesehen hat. Die Widersprüchlichkeit der Quellen ist Hinweis auf einen derartigen androzentrischen Redaktionsprozeß, der Informationen, die nicht übergangen werden konnten, abschwächt. Zum Beispiel erwähnt die Apostelgeschichte Frauen, vor allem reiche Frauen, die die frühchristliche Missionsarbeit mit ihrem Haus und ihrem Reichtum getragen haben. Die historischen Ausführungen des Lukas jedoch erwecken den Eindruck, die Leitung der frühchristlichen Mission habe vollständig in Männerhänden gelegen. 22 Es finden sich kurze Verweise auf Witwen und Prophetinnen, aber Lukas erzählt uns nicht eine einzige Geschichte über ihre Tätigkeiten oder ihre Funktionen. Der Geschichtsentwurf des Lukas harmonisiert und gesteht von daher nicht ein, daß in der frühen Kirche ein »Frauenproblem« existiert hat. Das »Frauenproblem« tritt jedoch bei der Lektüre der Paulusbriefe zutage. 23 Obwohl zahlreiche Interpretationsversuche angestellt wurden, ist die Bedeutung jener paulinischen Texte, die explizit von Frauen reden, noch immer unklar. In der Frage, ob der Einfluß des Paulus sich negativ oder positiv auf die Rolle von Frauen im frühen Christentum ausgewirkt 22 Vgl. meinen unveröffentlichten Vortrag: Women's Discipleship and Leadership in the Lukan Writings (gehalten bei der Jahrestagung der Catholic Biblical Association, San Francisco, 1978) und die Zusammenfassung meiner Ausführungen in: Elisabeth M. Tetlow, Women and Ministry in the NewTestament, NewYork 1980,101-109. 23 Vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Women in the Pre-Pauline and Pauline Churches, in: Union Seminary Quarterly Review 33 (1978) 153 - 166.
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hat, sind die ExegetInnen gespalten. Paulus geht in IKor 11,2- 16 davon aus, daß Frauen im Gemeindegottesdienst als Prophetinnen das Wort ergreifen, er verlangt aber, daß sie sich dabei nach den herrschenden Sitten richten. Es ist jedoch nicht klar, was der tatsächliche Streitpunkt zwischen Paulus und den KorintherInnen eigentlich war und wie seine Argumente im einzelnen zu bewerten und zu verstehen sind. Daß das Verbot in IKor 14,33-36 von dem Interesse, eine bestimmte Praxis zu verhindern, bestimmt ist, ist sehr klar. Uneinig sind sich die ExegetInnen jedoch, ob das bekannte mulier taceat in ecclesia (die Frau schweige in der Gemeinde) - da es IKor II zu widersprechen scheint - ein späterer Einschub ist. In Gal 3,28 verkündet Paulus die Aufhebung aller Unterschiede zwischen JüdInnen und GriechInnen, Freien und SklavInnen, Männern und Frauen, aber in IKor 12,13 greift er nicht mehr auf, daß im Leib Christi Männlichkeit und Weiblichkeit keine Bedeutung mehr haben. Darum kommt unter ExegetInnen kein Konsens darüber zustande, ob sich Gal 3,28 auf die christliche Gemeinde (wie IKor 12,13), auf die eschatologische Zukunft oder die spirituelle Gleichheit aller Seelen bezieht. Diepaulinischen Grußlisten erwähnen Frauen als führende Missionarinnen und angesehene Gemeindeleiterinnen, aber ob und inwieweit sie ihre Führungspositionen der Anerkennung und Unterstützung durch Paulus verdanken, ist umstritten. Paulus schätzt zwar Frauen als Mitarbeiterinnen und spricht ihnen seinen Dank aus, aber vermutlich hatte er gar keine andere Wahl, weil Frauen wie Junia und Prisca bereits Führungspositionen innehatten und in der frühchristlichen Missionsbewegung mit ihm auf gleicher Stufe standen. Beim Vergleich der Informationen, die verschiedene neutestamentliche Schriften über Frauen liefern, wird ebenfalls offenkundig, daß die Quellen unklar und uneindeutig bezüglich der Rolle von Frauen im frühen Christentum sind. Die Paulusbriefe geben uns einerseits Anhaltspunkte dafür, daß Frauen Apostelinnen, Missionarinnen, Patroninnen, Mitarbeiterinnen, Prophetinnen und Gemeindeleiterinnen waren. Andererseits erwähnt Lukas zwar Prophetinnen und die Bekehrung reicher Frauen, erzählt uns aber kein einziges Beispiel einer Missionarin oder Gemeindeleiterin. Wie seine Hinweise auf Prisca und Lydia andeuten, scheint er von Frauen in solchen Funktionen zu wissen, aber dieses Wissen kommt in seiner Darstellung der frühchristlichen Geschichte nicht zur Geltung. Während alle Evangelien wissen, daß Maria von Magdala die erste Zeugin der Auferstehung war, erwähnt die vorpaulinische Tradition von I Kor I 5,3 - 5 keine einzige Frau als Auferstehungszeugin. Das vierte Evangelium und seine Tradition schreibt einer Frau eine führende Rolle bei der Missionierung von Samaria zu, wohingegen die Apostelge-
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schichte nur einen Philippus als ersten Missionar dieses Gebietes kennt. Während Markus um die beispielhafte Nachfolge von Frauen (akolouthein) weiß, betont Lukas, daß die Frauen, die Jesus folgten, mit ihrem Besitz ihn und seine männlichen Nachfolger unterstützten. Daß Lukas so großen Nachdruck auf Petrus als ersten und wichtigsten Osterzeugen legt, muß verstanden werden im Kontext der frühchristlichen Auseinandersetzung darüber, ob Petrus oder Maria von Magdala als erste die Auferstehung bezeugten. 24 Diese Auseinandersetzung sieht Petrus im Wettstreit mit Maria von Magdala, insofern Petrus sich fortwährend darüber beklagt, daß Christus einer Frau ein so hohes Maß an Offenbarung geschenkt hat. Das Thomasevangelium spiegelt diesen Wettstreit zwischen Petrus und Maria von Magdala wider. Die gnostische Schrift Pistis Sophia und das apokryphe Marienevangelium entwickeln dieses Motiv weiter. Im Marienevangelium wird die Frage gestellt: Wie kann Petrus gegen Maria von Magdala sein - mit der Begründung, sie sei eine Frau -, wo doch Christus sie seiner Offenbarung für würdig gehalten hat? Die Apostolische Kirchenordnung bestätigt, daß dieser Auseinandersetzung eine tatsächliche Situation in der Kirche zugrunde liegt. Während das Marienevangelium für die Autorität der Maria von Magdala eintritt mit der Begründung, Christus habe sie mehr als alle anderen JüngerInnen geliebt, verteidigt die Apostolische Kirchenordnung den Ausschluß von Frauen vom Priesteramt dadurch, daß sie Maria von Magdala selbst argumentieren läßt, die Schwachen - nämlich die Frauen - müßten von den Starken - nämlich den Männern - gerettet werden. Dieser Streit um das Auferstehungszeugnis der Maria von Magdala zeigt jedoch, daß Maria in einigen christlichen Gemeinden sogar bis ins dritte und vierte . Jahrhundert hinein apostolische Autorität wie Petrus hatte. Er verdeutlicht außerdem, daß die androzentrische Interpretation der egalitären frühchristlichen Traditionen einer patriarchalen kirchlichen Praxis dient. Schließlich zeigt eine textkritische Untersuchung der Überlieferung neutestamentlicher Texte und ihrer verschiedenen Lesarten, daß eine derartige Eliminierung von Frauen aus biblischen Texten stattgefunden hat. Zum Beispiel grüßt in Ko14, I 5 der Autor die Gemeinde von Laodicea (V. 13) und darauf eine Person, die Nymphan genannt wird. 25 Die Akkusativform des Namens kann sich auf einen Mann mit dem Namen Nymphas beziehen oder auf eine Frau mit dem Namen Nympha. Wird 24 Vgl. meinen Beitrag E. Schüssler Fiorenza, Word, Spirit and Power. Women in Early Christian Communities, in: Rosemary R. RuetheriEleanor McLaughlin (Hg.), Women of Spirit. Female Leadership and the Jewish Christian Traditions, New York I979, 29-70, v. a. 52ff. 25 Vgl. Eduard Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, Göttingen I977 (2., um einen Anhang erweiterte Auflage), 245, bes. Anm. 1.
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die Lesart des Codex Vaticanus, einiger Minuskeln und der syrischen Übersetzung - »und die Kirche in ihrem (Singular) (autes) Hause« übernommen, dann gelten die Grüße einer Frau, die Leiterin einer Hauskirche ist. Wird mit dem ägyptischen Text »ihrem (Plural) (auton) Hause« gelesen, dann gelten die Grüße entweder Nymphas oder seiner Ehefrau oder Nympha/s und ihren/seinen FreundInnen. Die westlichen und byzantinischen Textzeugen halten diese Person dagegen für einen Mann, denn sie lesen das maskuline Pronomen »seinem« (autou) Haus. Die feminine Lesart ist die schwierigere. Die maskuline Form läßt sich leicht erklären als »Korrektur« des weiblichen Namens aus dem Grunde, daß es als unwahrscheinlich oder unerwünscht angesehen wurde, daß eine Frau eine derartige Führungsposition hatte. Dieselbe frauenfeindliche Tendenz findet sich im westlichen Text der Apostelgeschichte!6 Codex D fügt in Apg 1,14 »und Kindern« hinzu, so daß die Frauen, die mit den Aposteln und den Brüdern Jesu versammelt waren, zu den »Frauen und Familien« der Apostel werden. Während Lukas die kirchliche Führungstätigkeit von Frauen herunterspielt, die Unterstützung der christlichen Mission durch prominente Frauen aber unterstreicht, eliminiert sie Codex D total. In Apg 17,4 schreibt er »und nicht wenige der vornehmen Frauen« so um, daß diese Frauen zu Ehefrauen der vornehmen Männer werden; auch in Apg 17, I 2 tilgt er die Betonung, die der ursprüngliche Text auf die vornehmen Frauen legt. In Apg 17,34, einem Vers, der sich auf eine bekehrte Frau mit dem Namen Damaris in Athen bezieht, eliminiert D ebenso den Namen der Frau völlig, während er in Apg 18,26 wahrscheinlich deshalb Aquila vor Priszilla erwähnt, um sicherzustellen, daß Aquila als der erste und wichtigste Lehrer des Apollos, des hervorragenden Missionars aus Alexandria, angesehen wird. Zusammenfassung: Die inneren Widersprüche unserer neutestamentlichen Quellen weisen darauf hin, daß der frühchristliche T raditions- und Redaktionsprozeß gewissen androzentrischen Interessen und Perspektiven folgte. Die androzentrische Selektion und Überlieferung frühchristlicher Traditionen erzeugte also die historische Marginalität von Frauen und spiegelt keineswegs die historische Realität der Teilhabe von Frauen in der frühchristlichen Bewegung und ihrer Leitung durch Frauen wider. 26 William M. Ramsay, The Church in the Roman Empire Before 170 A. D., New York 1892, 161 - 165 siedelt diese Bearbeitung des Textes in Kleinasien an. Es scheint jedoch, daß der Text, auf dem die D-Variante der Apostelgeschichte und die Variante im Kolosserbrief basiert, ursprünglich aus Antiochien stammt. Vgl. E. J. Epp, The Theological Tendency of Codex Bezae Cantabrigensis in Acts, Cambridge 1966, 1-34, und besonders M. Mees, Papyrus Bodmer XIV (P71) und die Lukaszitate bei Clemens von Alexandrien, in: Vetera Christianorum 4 (1967) 1°7- I 29.
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Wichtig ist zu beachten, daß die Redaktion der Evangelien und der Apostelgeschichte zu einer Zeit stattfand, als der Patriarchalisierungsprozeß der frühen Kirche in vollem Gange war. Da die AutorInnen des Neuen Testaments - aus welchen Gründen auch immer - kein Interesse daran hatten, die aktive Teilhabe von Frauen - wie auch von SklavInnen - an der christlichen Bewegung besonders herauszustellen, können wir aus methodischen Gründen annehmen, daß die frühchristlichen SchriftstellerInnen nur einen Bruchteil der möglicherweise reichen Traditionen über die Beiträge von Frauen zur frühchristlichen Bewegung überliefern. Viele Informationen und Traditionen über Tätigkeit und Wirksamkeit von Frauen in den Anfängen des Christentums sind deshalb unwiederbringlich verloren, weil im patriarchalen Überlieferungs- und Redaktionsprozeß solche Geschichten und Informationen entweder als bedeutungslos oder als Bedrohung der allmählich fortschreitenden Patriarchalisierung der christlichen Bewegung angesehen wurden. Die Widersprüche zwischen verschiedenen neutestamentlichen Schriften weisen überdies auf eine androzentrische Überlieferung und Redaktion frühchristlichen Materials über Frauen hin. Vermutlich ist der größte Teil des frühchristlichen Frauenerbes verlorengegangen oder muß aus den androzentrischen frühchristlichen Dokumenten ausgegraben werden. Da aber die Evangelien zu einer Zeit geschrieben wurden, in der andere neutestamentliche Autoren deutlich versuchten, die Rolle von Frauen in der christlichen Gemeinde der Frauenrolle in der patriarchalen Gesellschaft und Religion anzupassen, ist es um so bemerkenswerter, daß nicht eine einzige Geschichte oder Aussage überliefert wird, in der Jesus von Frauen Anpassung an und Unterordnung unter das kulturelle Patriarchat verlangt. 27
Patriarchale Kanonisierung und ihre Funktion Während die androzentrische Überlieferung und Redaktion frühchristlicher Traditionen zum Teil kulturell-politischer Apologetik zugeschrieben werden kann, fand die Kanonisierung frühchristlicher Schriften zu einer Zeit statt, in der verschiedene Parteien in der Kirche in einen erbitterten Kampf für oder gegen Frauen in Leitungspositionen verwickelt waren. Die Marginalisierung von Frauen durch Text und Geschichte ist zugleich ein Nebenprodukt des Prozesses »patristischer« Selektion und Kanonbildung der Schrift. Aus diesem Grunde müssen feministischtheologische Studien das patristische Interpretationsmodell in Frage stel27 S. u. Kap. 8.
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len, das Häresie mit Frauen in Leitungsämtern und Orthodoxie mit patriarchalen Kirchenstrukturen gleichsetzt. Das klassische Verständnis von Häresie geht von der zeitlichen Priorität der Orthodoxie aus. 28 Nach Origenes waren alle HäretikerInnen zunächst orthodox, irrten dann aber vom wahren Glauben ab. Häresie sei nicht nur freigewählter Abfall vom wahren Glauben, sondern auch seine beabsichtigte Verstümmelung. Das »orthodoxe« Verständnis der frühchristlichen Geschichte weiß, daß J esus die Kirche gründete und sich den ApostelInnen offenbarte, die der ganzen Welt verkündeten, was er gelehrt hatte. Durch ihr Zeugnis bewahrt die »orthodoxe« Kirche die Kontinuität der Offenbarung in J esus Christus, und durch das Konzept der apostolischen Sukzession sucht sie personale Kontinuität mit Jesus und den ersten ApostelInnen herzustellen. Da dieses Verständnis der christlichen Anfänge von allen Gruppierungen der frühen Kirche geteilt wird, versuchen alle diese Gruppierungen aufzuzeigen, daß ihre Gruppe und ihre Lehre in apostolischer Kontinuität mit Jesus und den ersten JüngerInnen steht. 29 MontanistInnen, gnostische Gruppen verschiedener Richtungen und die patristische Kirche nehmen die apostolische Offenbarung und Tradition für sich in Anspruch, um ihre eigene Authentizität zu beweisen. Beide Parteien, GegnerInnen wie VerfechterInnen von Frauen in kirchlicher Leitungsfunktion, nehmen apostolische Tradition und Sukzession für ihr Arnts- und Kirchenleitungsverständnis in Anspruch. 30 Die BefürworterInnen verweisen auf Maria von Magdala, Salome und Martha als apostolische Jüngerinnen. Sie heben die apostolische Sukzession von Prophetinnen im Alten und Neuen Testament hervor und lenken die Aufmerksamkeit auf die in Röm 16 genannten Frauen apostolischer Zeit. Ihre egalitären Gemeindestrukturen legitimieren sie, indem sie auf Ga13,28 verweisen. Andere bewahren die Paulus- und Thekla-Akten als kanonisches Buch. Andererseits beruft sich die patriarchale patristische Opposition auf das Modell Jesu, der keiner Frau den Auftrag zu predigen gegeben und Frauen nicht zum Letzten Abendmahl zugelassen habe. Sie führt Bibel28 Zum Problem von Orthodoxie und Häresie vgl. A. Hilgenfeld, Die Ketzergeschichte des Urchristentums, Darmstadt 1963; Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen 21964; John G. Gager, Kingdorn and Community. The Social World of Early Christianity, Englewood Cliffs, N. J. 1975, 76-9 2 •
29 Vgl. bes.j. Pelikan, The Emergence ofthe Catholic Tradition, Chicago 1971, I05ff. 30 Dieses Muster ist für die ganze Kirchengeschichte typisch. Siehe z. B. die Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert über das Amt des Wortes von Frauen; vgl. EarlKent Brown, Women of the World, in: Hilah F. Thomas/Rosemary Skinner Keller (Hg.), Women in New Worlds. Historical Perspectives on the Wesleyan Tradition, Nashville I98I ,69- 87·
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stellen, wie Gen 2-3, IKor 14, die deuteropaulinischen Haustafeln und vor allem ITim 2,9- 15 an. Während egalitäre Gruppierungen ihre apostolische Autorität auf Maria von Magdala zurückführen und mit Nachdruck betonen, daß Frauen ebenso wie Männer die Offenbarungen des auferstandenen Christus empfangen haben, spielen patristische Autoren die Autorität des Petrus gegen die der Maria von Magdala aus. Während Gruppen, die die Führungsvollmacht von Frauen anerkennen, in den Schriften des Alten Testaments und in christlichen Schriftstücken nach Textstellen suchen, die Frauen erwähnen, versuchen dagegen patristische Autoren, immer wenn Frauen erwähnt werden, deren Rolle wegzuerklären oder herunterzuspielenY Origenes zum Beispiel räumt ein, daß Frauen Prophetinnen gewesen seien, betont aber, sie hätten nicht öffentlich und vor allem nicht in der gottesdienstlichen Versammlung der Kirche gesprochen. Chrysostomos bestätigt, daß in apostolischen Zeiten Frauen als Missionarinnen gereist seien, aber seine Erklärung ist, sie hätten das nur deshalb gekonnt, weil in den Anfängen der Kirche ihr engelgleiches Wesen dies erlaubt hätte. Während die MontanistInnen prophetisches Wirken von Frauen mit dem Verweis auf die Schrift legitimieren, verteidigen die bestehenden Kirchenordnungen das Diakonissen-Institut, das Frauen im Vergleich zu den Prophetinnen der Hebräischen Bibel und der frühen Kirche nur sehr begrenzte und untergeordnete Funktionen in der Kirche einräumte. Während Frauen, die predigten und tauften, sich auf die Apostelin Thekla als Modell beriefen, brandmarkt Tertullian die Paulus- und TheklaAkten als Fälschung. Dieses Beispiel zeigt, daß der Prozeß der Kanonisierung frühchristlicher Dokumente von Streit und Kampf um die Kirchenleitung von Frauen bewegt war. Folglich spiegelt der Kanon einen patriarchalen Selektionsprozeß wider und hat die Funktion, Frauen von der Kirchenleitung auszuschließen. Die bissige Polemik der Kirchenväter gegen Frauen, die kirchliche Leitungsämter innehaben, die predigen und Bücher schreiben, weist darauf hin, daß die Frage »Frauen und kirchliches Amt« im zweiten und dritten Jahrhundert n. u. Z. noch immer ein Streitpunkt war. Sie beweist ferner, daß die voranschreitende Patriarchalisierung des kirchlichen Amtes nicht' 31 Für ausführliche Nachweise vgl. die Anmerkungen meines Artikels: E. Schüssler Fiorenza, Word, Spirit and Power;]. Kevin Coyle, The Fathers on Women's Ordination, in: Eglise et Theologie 9 (1978) 51-101; Carolyn Osiek, The Ministry and Ordination of Women According to the Early Church Fathers, in: Carroll Stuhlmueller (Hg.), Women and Priesthood. Future Directions, Collegeville, Minn. 1978, 59-68; R. Gryson, The Ministry of Women in the Early Church, Collegeville, Minn. 1976; Klaus Thraede, Frau, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 8, Stuttgart 1972, 197-267, bes. 238-253.
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ohne Widerstand geschah, sondern verschiedene Formen frühchristlicher Theologie und Praxis, die die Führungsansprüche von Frauen anerkannten, unterdrücken mußteY Dieser Polemik verdanken wir die wenigen verbliebenen Reste historischer, allerdings von Vorurteilen beeinflußter Information über die Leitungstätigkeiten von Frauen in verschiedenen Gruppen der frühen Kirche. Leider versteht die frühchristliche Geschichtsschreibung diese Informationen nicht als Ergebnis bissiger Polemik, sondern als historisch adäquate und theologisch angemessene Information. Die Polemik der patristischen Autoren gegen Frauen, die kirchliche Führungspositionen und Ämter ausübten, hatte letzten Endes zur Folge, daß Leitungsfunktion von Frauen in der Kirche mit Häresie gleichgesetzt wurde. Diese Gleichsetzung von Frauen und Häresie griff immer weiter um sich. Theologische Diffamierung von Christinnen war die Konsequenz. Zum Beispiel polemisiert der Verfasser des Buches der Offenbarung gegen eine frühchristliche Prophetin, die er mit dem Namen Isebel beschimpft. 33 Offenbar war diese Prophetin die Leiterin einer frühchristlichen ProphetInnenschule, die in der Gemeinde von Thyatira großen Einfluß und hohe Autorität besaß. Da der Verfasser der Offenbarung besonders betont, daß die Prophetin trotz seiner Warnungen und Verurteilungen noch immer in der Gemeinde wirksam ist, scheint ihre Autorität der des Johannes zumindest gleichrangig gewesen zu sein. Vielleicht hat sie ihrerseits in Johannes einen falschen Propheten gesehen. Ihr Einfluß muß von Dauer gewesen sein, da Thyatira in der Mitte des zweiten J ahrhunderts ein Zentrum der montanistischen Bewegung wurde, in der Prophetinnen bedeutende Führungspositionen hatten und großen Einfluß ausübten. Tertullians Angriffe sind Anhaltspunkt dafür, wie bedeutend die Leitungstätigkeit von Frauen noch gegen Ende des zweiten Jahrhunderts war. Tertullian fühlt seine Gefühle mit Füßen getreten durch die Anmaßung jener Frauen, die es wagten »zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, Heilungen zu versprechen, vielleicht auch noch zu tauF Vgl. F. Heiler, Die Frau in den Religionen der Menschheit, Berlin 1977, II4. Gleichzeitig aber argumentiert er, »daß in den häretischen Gemeinden die Frauenwirksamkeit vielfach nicht genügend diszipliniert war.« 33 Vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, The Quest for the Johannine School. The Apocalypse and the Fourth Gospel, in: New Testament Studies 24 (1977) 402427. Im allgemeinen wird angenommen, daß die AnhängerInnen der Isebel identisch sind mit den Nikolaiten, einer späteren gnostischen Gruppe. Jedoch gibt es für diese Gleichsetzung nicht ausreichend Beweise; vgl. meinen Aufsatz: E. Schüssler Fiorenza, Apocalyptic and Gnosis in the Book of Revelation and in Paul, in: Journal of Biblical Literature 92 (1973) 565-581, und mein Buch: E. Schüssler Fiorenza, Invitation to the Book ofRevelation, Garden City, N. Y. 1981, 63ff.
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fen.« Er behauptet, Frauen sei es nicht erlaubt, in der Kirche zu sprechen, zu lehren, zu taufen, Opfer darzubringen, irgend eine andere Männerfunktion zu erfüllen oder auf priesterliche Funktionen welcher Art auch immer Anspruch zu erheben. J4 Diesen Ausschluß von Frauen aus allen kirchlichen Führungsrollen begründet er mit einer Theologie, die eine tiefe Frauenverachtung und Furcht vor Frauen offenbart. Er bezichtigt die Frau, nicht nur den Mann, sondern auch die Engel verführt zu haben. Ihm zufolge ist die Frau das »Einfallstor des Teufels« und die Wurzel aller Sünde. 35 Hieronymus schließlich führt den Ursprung nicht nur der Sünde, sondern jeder Häresie auf »die Frau« zurück. Solch patristische Polemik gegen Frauen als Quelle jeder Häresie muß im Zusammenhang mit der allmählichen Entfaltung des Begriffs »Orthodoxie« im frühen Christentum gesehen werden. Diese Entfaltung wurde notwendig, weil es »niemals einen einzigen reinen, authentischen christlichen Standpunkt, wie uns die spätere >Orthodoxie< glauben lassen möchte« gegeben hat. Insofern die im neutestamentlichen Kanon gesammelten und anerkannten Schriften von der patristischen neutestamentlichen Kirche ausgewählt und kodifiziert worden sind, ist der Kanon ein Dokument der »historischen Sieger«. Die Selektion der Schriften in die, die als apostolisch anerkannt wurden, und die, die diese Anerkennung nicht erhielten, ist Ergebnis des Kampfes der patristischen Kirche gegen Markion, verschiedene gnostische Gruppen und den Montanismus. Obwohl eine Zeitlang umstritten war, ob Paulus »gnostisch« gewesen sei oder nicht, wurden die echten Paulusbriefe schließlich als apostolisch anerkannt und redigiert. Außerdem »mag ein Vertreter der sich entwickelnden klassischen Orthodoxie den I. und 2. Timotheusbrief und den Titusbrief genau deshalb im Namen des Paulus herausgegeben oder zusammengestellt haben, um die angeblich auf Paulus zurückgehenden MarkionitInnen zu bekämpfen und Paulus für die >Orthodoxie< zu retten. «3 6 In Anbetracht dieses patriarchalen Kontexts des Kanonisierungsprozesses ist eine Hermeneutik des Verdachts dringend gefordert. Die Informationen, die sich in den verbliebenen kanonischen Texten und den Schriften patristischer Orthodoxie über Frauen finden, sind nicht wert34 De praescriptione haereticorum 41.5 und De baptismo 17+ Vgl.J. Kevin Coyle, The Fathers on Women's Ordination, 67ff. 35 Vgl. Rosemary R. Ruether, Misogynism and Virginal Feminism in the Fathers of the Church, in: dies., Religion and Sexism. Images ofWomen in theJewish and Christian Tradition, New York 1974, 150-183.157. Vgl. jedoch als teilweise Rehabilitation F. Farrester Church, Sex and Salvation in Tertullian, in: Harvard Theological Review 68 (1975) 83-101. 36 Robert A. Kraft, The Development of the Concept of »Orthodoxy« in Early Christianity, in: G. F. Hawthorne (Hg.), Current Issues in Biblical and Patristic Interpretation, Grand Rapids 1975,47- 59·
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neutral. Sie dokumentieren vielmehr, daß die fortschreitende Patriarchalisierung des kirchlichen Amtes nicht ohne Widerstand geschehen ist, sondern eine frühchristliche Theologie und Tradition zu unterdrücken versuchte, die das Anrecht von Frauen auf Führungsfunktionen anerkannt hat. Diese Texte geben uns keine historisch adäquaten und theologisch angemessenen Informationen. Als Konsequenz scharfer Polemik sind sie Anzeichen für das patriarchal-theologische Klima, das herrschte, als frühchristliche Schriften ausgewählt, gesammelt und zur »Heiligen Schrift« gemacht wurden. Aus diesem Grund müssen wir die Quellenund Informationsbasis verbreitern, die wir als historische und theologische Grundlage benutzen, um die frühchristlichen Anfänge zu rekonstruieren und zu formulieren, was Kirche heißt. Frühchristliche Kirche und Theologie muß »ökumenisch« verstanden werden, d. h. alle christlichen Gruppen umfassen. Wir müssen alle frühchristlichen Gruppen und Texte daraufhin prüfen, in welchem Ausmaß sie die apostolische Inklusivität und Gleichheit, die in den frühkirchlichen Anfängen gelebt wurde, bewahren und überliefernY Durch den Kanonisierungsprozeß der frühkirchlichen Schriften sind nicht nur die neutestamentlichen Texte erhalten, die die Patriarchalisierung stützen, sondern auch jene frühesten christlichen Traditionen und Texte, die uns noch eine Spur der egalitär-inklusiven Praxis und Theologie der frühen ChristInnen finden lassen. Wie die Spitze eines Eisberges weisen diese Texte auf ein möglicherweise reiches Erbe hin, das für uns heute verloren ist. Daher müssen wir davon ablassen, die neutestamentlichen Textpassagen über Frauen isoliert von ihren kirchlichen, sozialen und historischen Kontexten zu interpretieren. Notwendig sind eine systemische Interpretation und eine historische Rekonstruktion, die die versunkene Masse des Eisbergs sichtbar machen. Darüberhinaus ist es notwendig, nicht nur die kanonischen Texte selbst, sondern auch ihre spätere Interpretationsgeschichte und ihre politisch-kirchliche Funktion zu verstehen. Während die sogenannten Patriarchalisierungstexte ständig gebraucht werden, um ein patriarchales System und die Unterordnung von Frauen in Kirche und Gesellschaft aufrechtzuerhalten, entzünden durch die Jahrhunderte hindurch die sogenannten egalitären Texte des N euen Testaments nichtpatriarchale christliche Vision und Praxis. So hat der Kanon nicht nur die Funktion, die untergeordnete Stellung von 37 Weder »orthodoxe« noch »häretische« Schriften können als für Frauen immer positiv vorausgesetzt werden. Daher wäre es ein Fehler, davon auszugehen, »gnostische Schriften« seien »für Frauen« und ihre Bilder des Weiblichen seien befreiend, wie es die Tendenz in Elaine Pagels Werk zu sein scheint. Alle Texte und Traditionen müssen kritisch erforscht und ausgewertet werden, denn sie alle sind Produkte einer patriarchalen Kultur.
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Frauen im Christentum zu verfestigen, sondern auch diesen Status von Frauen theologisch zu kritisieren.
Androzentrische Projektion Mir ist kein Ansatz bekannt, der das analytisch-heuristische Konzept »Androzentrismus« auf patristische Texte anwendet. Jacob Neusner hat jedoch den Versuch unternommen, mit diesem Konzept die »Wirklichkeitskonstruktion« der Mischna zu erhellenY Sein Werk zeigt den Vorteil einer systemischen Androzentrismusanalyse gegenüber einer topologischen Androzentrismusanalyse der »Frauenstellen«39, zugleich aber auch die Nachteile eines solchen Verfahrens für die Rekonstruktion von Frauengeschichte. Obwohl Neusner das feministisch-analytische Modell »Androzentrismus« übernimmt, lehnt er es kategorisch ab, eine feministische Perspektive zu übernehmen. Er argumentiert, daß »wir nicht fähig sind, die Weltanschauung des Talmud zu interpretieren, wenn wir unsere eigene an sie herantragen.«4 0 Er übersieht dabei jedoch, daß er, wenn er sich »beim Formulieren der Fragestellung und beim Gewinnen von Perspektiven in Hinblick auf den Talmud von der Anthropologie Hilfe holt«, sich implizit eine eindeutig moderne Geschichtsperspektive zu eigen macht. Neusner verwirft zu Recht die meisten Forschungen über »die Frau« im Judentum, weil sie den systemischen Kontext nicht ernst nehmen und daher »Fragen und Erkenntnisse durch Listen und Kataloge« zu ersetzen scheinen. Neusner selbst versucht, den Sinn der Auswahl, die die Mischna beim Thema »Frau« trifft, und »was die Mischna zu diesem Thema sagen will« zu erklären. Bei seiner Rekonstruktion der Mischna als System gebraucht N eusner als analytische Kategorie vor allem »die Frau als das andere« oder »die Frau als anormal«. Diese Kategorie wurde von Simone de Beauvoir eingeführt und in der anthropologischen Forschung von Michelle Zimbalist Rosaldo und Sherry B. Ortner verwendetY In 38 Jacob Neusner, Method and Meaning in Ancient Judaism, Missoula, Mont. 1979 (BrownJudaic Studies 10),96. 39 Vgl. Neusners bittere Polemik (a.a.O., 88f) gegen Leonard Swidler, Women inJudaism. The Status of Women in Formative Judaism, Metuchen, N. J. 1976, und J ohn T. Otwell, And Sarah Laughed. The Status ofWomen in the Old Testament, Philadelphia 1977· 40 Neusner, Method and Meaning, 28. 41 Vgl. Michelle Zimbalist Rosaldo, Woman, Culture and Society. A Theoretical Overview, in: Michelle Zimbalist Rosaldo/Louise Lamphere (Hg.), Woman, Culture and Society, Stanford 1974, 17-42; und Sherry B. Ortner, Is Female to Male as Nature
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zweifacher Hinsicht erhellt dieses heuristische Konzept den Traktat der Mischna über Frauen innerhalb des Gesamtsystems der Mischna: I. Diese Kategorie kann herangezogen werden, weil das System der Mischna das Konstrukt einiger weniger männlicher Rabbiner ist und deren Ansicht über den Platz von Frauen und »die Rolle der Frau« zum Ausdruck bringt. Die Abhandlungen über »Frauenfragen« in der Mischna beziehen sich nicht auf die soziale Gruppe »Frauen«, sondern auf den Kreis der Rabbiner, die dieses Werk erzeugt haben. Überdies sind nicht Frauen selbst für das System wichtig, sondern die Übergangspunkte, wenn Frauen aus den Händen eines Mannes in die eines anderen überwechseln. Denn den Status einer Frau bestimmt nicht, ob sie sexuelle Beziehungen haben darf, sondern »mit wem sie sie haben darf« und welche Konsequenzen für die natürliche und übernatürliche Ordnung daraus folgen. So ist nach N eusner das System der Mischna über Frauen mit dem Ziel konzipiert, sich mit dem Frauen-» Transfer« und den daraus folgenden Eigentumstransaktionen auseinanderzusetzen. Hier geht Neusner von der analytischen Kategorie »Androzentrismus« unbemerkt zur Kategorie »Patriarchat« über. Immer wenn sie nicht unter patriarchaler Kontrolle stehen, sind Frauen von der heiligen Ordnung ausgeschlossen. Oder, etwas positiver ausgedrückt: Nur in der patriarchalen Familie und durch sie haben Frauen Zugang zum Heiligen: Von der Erkenntnis des anormalen Charakters der Frauen ausgehend, bewegen wir uns auf die tiefsten und grundsätzlichsten Erklärungen der Mischna über die Werke der Heiligung hin: ihre Zentren und Mittel. Frauen werden durch die Taten von Männern geheiligt. Ebenso werden geheiligt Erde und Zeit, die Produkte der Herde und die Früchte des Feldes, Bett, Stuhl, Tisch und Erde - am allermeisten aber, dem Wesen der Dinge entsprechend, FrauenY Obwohl Neusner wiederholt betont, wie wichtig es sei, die richtigen Fragen zu stellen, unterläßt er es, das Androzentrismus-Modell kritisch zu überprüfen, da er dessen Darstellung des »Wesens der Dinge« für bare Münze zu nehmen scheint. Weil der Kategorie »die Frau als das andere« möglicherweise biologistischer Determinismus unterstellt werden kann, revidierte Rosaldo ihre frühere Analyse der Geschlechterasymmetrie und betonte: Is to Culture?, a.a.O., 67-88. Vgl. jedoch Zimbalist Rosaldos jüngste kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen früheren Position in ihrem Aufsatz: The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Understandings, in: Signs 5 (1980) 389-417. 42 Neusner, Method and Meaning, 100.
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Was traditionelle SozialwissenschaftlerInnen nicht zu erfassen vermochten, war nicht, daß Geschlechterasymmetrien existieren, sondern daß diese genauso wie die Rolle des Jägers oder des Kapitalisten durch und durch sozial bedingt sind und genauso wie Rassismus und Klassenherrschaft gerade in den sozialen Fakten zum Ausdruck kommen, die die Sozialwissenschaften zu verstehen beanspruchen. 43 Wenn es aber nicht im »Wesen der Dinge« liegt, daß Frauen in Beziehung zu und als Besitz von Männern definiert und rechtlich anerkannt werden, dann muß die Definition des Orts von Frauen im heiligen Kosmos durch die Mischna als das gesehen werden, was sie ist: eine soziotheologische Männerprojektion. Neusner macht eindeutig klar, daß die Mischna nicht über das tatsächliche Leben jüdischer Frauen im zweiten Jahrhundert spricht, sondern »ein Männerdokument ist und eine Männerwelt im Kopf hat. Frauen haben von Männern und vom Himmel gleichermaßen geschützte Rechte ... Der Mann ist das Zentrum. «44 Deshalb besteht Neusner immer wieder darauf, daß das System der Mischna völlig mißverstanden würde, wenn es als historische Information über jüdische Frauen gedeutet würde. Die Mischna beschreibt nicht wirkliches jüdisches Leben, sondern will ideales jüdisches Leben und seine Verhaltensregeln entwerfen. Sie ist Sprachrohr des rabbinischen Kreises, der sie hervorgebracht hat, um zu zeigen, »wie die Welt sein soll«. Erst in späteren Zeiten wird es dazu kommen, daß die Welt Israels sich der Vision der Mischna vom idealen Leben annähert und ihr sogar entspricht. So bringt nach Neusner die Entwicklungslinie, die von Priesterkodex (Lev I - I 5) und Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) über die theologische Vision der Qumran-Gemeinde zur Mischna führt, ein kultisches Verständnis vom Leben zum Ausdruck, in dem sich eine androzentrische Interpretation der Welt und des göttlichen Heilsplans artikuliert. In dieser Perspektive sind Frauen vom Kult und von den Zentren der Heiligkeit ausgeschlossen. Nur durch den Eintritt in den heiligen Raum des Mannes können sie heilig werden. Frauen als Frauen an sich sind also eine Anomalie gegenüber der heiligen Ordnung und eine Bedrohung für sie. Das System der Mischna wurde eben daher entwickelt, um diese regelwidrigen und abweichenden Aspekte der Stellung von Frauen unter Kontrolle zu halten - nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel. Die allmähliche Kultifizierung von Amt und christlicher Gemeinde, die zur selben Zeit in der patristischen Kirche erfolgte, muß in diesem Kontext und im selben Lichte gesehen werden. 43 Rosaldo, UseandAbuse,4I7· 44 Neusner, Method and Meaning, 95·
Sehen - Benennen - Wiederherstellen 2. Nach der Mischna können Frauen nur dadurch in den heiligen Raum eintreten, daß sie entweder einem Vater oder einem Ehemann zugeordnet, d. h. in die patriarchale Ordnung integriert sind. Hier wird offenkundig, daß »die Mischna in einer patriarchalen Gesellschaft hervorgebracht wurde und sich keine andere als eine patriarch ale Gesellschaft vorstellen kann. Ihre Gesetzgebung gegenüber Frauen - um damit zu beginnen - bringt die Werte jener Gesellschaft zum Ausdruck.«4l Kritische Momente in einem solchen patriarchalen Kontrollsystem sind jedoch die des Übergangs. Wenn wir daher dieses System verstehen wollen, müssen wir fragen: Warum fühlte sich die Handvoll Männer, die die Mischna schrieben, gezwungen, eine solche Vision der heiligen Ordnung zu entwerfen? Es ist nur zu interessant, daß Neusner diese Frage nicht in Beziehung auf die Ordnung der Mischna über Frauen stellt. Er stellt sie jedoch in Bezug auf die Ordnung über die Reinheiten. Seiner Ansicht nach hat die historische Erfahrung, daß alle Grenzen und jeder heilige Raum Israels verletzt worden waren, die Rabbinen veraniaßt, »Grenzen zu errichten, die nie wieder überschritten werden können.« Dabei haben die Rabbinen die kultische Reinheitsordnung auf das ganze Leben Israels ausgeweitet: »Was tut einer, weil er kultisch rein ist? Er ißt die gewöhnlichen Mahlzeiten so, als sei er Priester. Was kann einer nicht tun, weil er unrein ist? Mit denen Gemeinschaft haben, die wie Priester essen.«4 6 Doch eine derartige Ausweitung des sakralen Raumes auf das Alltagsleben war bedingt durch eine historische Situation, in der Israels sakrale Grenzen zerstört worden waren. Neusner zieht jedoch für die Ordnung der Mischna über Frauen nicht den gleichen Schluß, obwohl er auf einen Ehekontrakt einer wohlhabenden Frau hinweist, der in den Höhlenbriefen von Bar Kochba47 gefunden worden ist. Er schließt daraus, daß »ein Bild von der israelitischen Frau des zweiten Jahrhunderts als Eigentum und stummes Geschöpf mit den Tätigkeiten, die in den Rechtsdokumenten Babatas offenbar werden, wohl nicht in Einklang zu bringen ist.«48 Doch setzt Neusner diese Erkenntnis nicht zu seiner systemischen Analyse der Rolle der Frauen in der von den Autoren der Mischna entworfenen sozialen Welt in Beziehung. Insofern Neusner diese Frage nicht aufzugreifen vermag, ist seine Analyse in Gefahr, das Vorurteil erneut zu bestätigen, daß jüdische Kultur und Religion ihrem Wesen nach patriarchal sind. Wenn sich die systemische Analyse von Texten, die von Männern produziert worden sind,
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A.a.O., 94. A.a.O., 128. Vgl. Yigael Yadin, Bar Kochba. Fürst von Israel, Hamburg 1971. Neusner, Method and Meaning, 93.
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auf diese Texte beschränkt, muß sie notwendigerweise in der androzentrischen Perspektive dieser Texte gefangen bleiben. Um vom androzentrischen Text einen Zugang zum religiös-sozialen Leben von Frauen zu finden, muß die/der Historikerln die soziale Wirklichkeit, die diese Texte hervorgebracht hat, aufspüren. Könnte es sein, daß die »Wirklichkeitskonstruktion« und die androzentrische Projektion der Rabbinen in der Mischna als Reaktion auf eine soziopolitische Strömung im ersten und zweiten Jahrhundert geschah, die es möglich machte, daß Frauen die von alters her gewohnte Vorherrschaft der patriarchalen Gesellschaftsordnung infragestellten und unterminierten? Neusners Verweis auf Babata deutet an, daß dies der Fall gewesen sein könnte, doch untersucht er diese Möglichkeit nicht näher. Zusammenfassung: In seiner Diskussion von Aussagen griechisch-römischer Schriftsteller über Frauen wies Klaus Thraede auf einige sehr wichtige methodische Regeln für den Umgang mit Informationen aus androzentrischen Texten hin49 : 1. Diese Texte sollten nie isoliert, sondern stets in ihrem unmittelbaren textlichen Kontext gesehen werden. 2. Diese Texte sollten außerdem zur Feststellung ihrer Funktion stets in ihrem spezifischen soziopolitischen Kontext analysiert werden. 3. Vor allem , normative Texte behaupten oft, etwas sei eine historische Tatsache oder gegebene Realität, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Diese Erkenntnis wird von feministischen Historikerinnen der amerikanischen Geschichte bestätigt, die die Predigten und ethischen Unterweisungen des Klerus in den letzten zwei Jahrhunderten über das Wesen, den Platz und das Verhalten von Frauen untersucht h~ben. Sie haben aufgezeigt, daß mit dem zunehmenden Wachsen der Frauenbewegung in der Gesellschaft androzentrische Verbote detaillierter und zahlreicher werden. Daher wäre es ein methodischer Fehler, androzentrisch-patriarchale Texte für bare Münze zu nehmen. Neusners Analyse hat dies zur Genüge bewiesen. Sie hat aber gleichfalls gezeigt, daß eine systemische Analyse androzentrischer Texte nicht ausreicht. Sie muß durch eine feministische Hermeneu tik des Verdachts ergänzt werden, die androzentrische Texte als ideologische Artikulationen von Männern versteht, die patriarchale historische Lebensbedingungen sowohl widerspiegeln als auch aufrechterhalten. Androzentrische Texte und Dokumente reproduzieren nicht historische Realität, berichten nicht historische Tatsachen und erzählen uns nicht, wie es wirklich gewesen ist. Als androzentrische Texte sind unsere 49 Vgl. Klaus Thraede, Ärger mit der Freiheit. Die Bedeutung von Frauen in Theorie und Praxis der alten Kirche, in: Gerta Scharffenorth/Klaus Thraede (Hg.), Freunde in Christus werden ... Die Beziehung von Mann und Frau als Frage an Theologie und Kirche, Gelnhausen 1977, 36f, und seine Kritik an Johannes Leipoldt, Die Frau in der antiken Welt und im Urchristentum, Gütersloh 1962.
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frühchristlichen Quellen theologische Interpretationen, Argumentationen, Projektionen und Selektionen, die in einer patriarchalen Kultur ihre Wurzeln haben. Sie müssen historisch im Hinblick auf ihren zeitlichen und kulturellen Kontext bewertet und theologisch nach einer feministischen Werte skala eingeschätzt werden. Dennoch kann eine sorgfältige Untersuchung ihrer androzentrischen Tendenzen und patriarchalen Funktionen Anhaltspunkte für die historische Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten in den Anfängen des Christentums liefern. Diese Anhaltspunkte können uns helfen beim Entwurf eines historischen Interpretationsmodells, das sowohl den egalitären als auch den patriarchalisierenden Tendenzen und Entwicklungen in der frühen Kirche gerecht werden kann.
Historische Imagination und androzentrische Texte Ein letztes methodologisches Problem muß hier aufgeworfen werden, das unter Frauen in den Kirchen viel diskutiert wird. Aufgrund der Entdeckung, daß einige frühchristliche Schriften weniger androzentrisch sind und mehr Material über Frauen enthalten als andere, postulierten Bibelwissenschaftlerlnnen weibliche AutorInnenschaft für diese Schriften. Paul Achtemeier 50 deutete an, das Markusevangelium könne von einer Frau geschrieben sein; Leonard Swidler 51 schlug vor, das Sondergut des Lukasevangeliums als Werk einer Frau anzunehmen, und Stevan Davies 52 meinte, daß die apokryphen Apostellnnengeschichten von einem Witwenzirkel geschaffen worden seien. Eine der ersten und am sorgfältigsten ausgearbeiteten derartigen Thesen stammt von Adolf von Harnack 5J , der dargelegt hat, daß höchstwahrscheinlich Priszilla und Aquila Autorin und Autor des Briefs an die Hebräerlnnen sind. Die Wahrscheinlichkeit' daß seine These historisch zutrifft, ist groß und kann nicht apriori verworfen werden. Aber die These weiblicher AutorInnenschaft darf nicht zu der Annahme führen, daß der androzentrische Charakter der Schriften damit überwunden wäre. 50 V gl. P.]. Achtemeier, Mark, Philadelphia 1975 (Proclamation Commentaries), Ir. 51 Vgl. Leonard Swidler, Biblical Affirmations ofWoman, Philadelphia 1979, 261f. 52 Vgl. Stevan L. Davies, The Revolt of the Widows. The Social World of the Apocryphal Acts, Carbondale 1980,95-109. 53 Vgl. Adolf von Harnack, Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefes, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche I (1900) 16-41; und den leichrverständlich geschriebenen Bericht von Ruth Hoppin, Priscilla. Author of the Epistle to the Hebrews, New York 1969, 15rr6.
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Die These, daß frühchristliche Schriften von Frauen verfaßt worden sind, bereichert jedoch unsere theologische Vorstellungskraft, denn sie eröffnet die Möglichkeit, Schriften von Frauen apostolische Autorität zuzuschreiben und damit theologische Autorität für Frauen in Anspruch zu nehmen. Die Diskussionen in neutestamentlicher Literatur zur AutorInnenschaft konzentrieren sich auf Fragen der Autorität, haben aber für historische Rekonstruktionen nur sehr geringen analytischen Wert. Ein Blick auf Schriften, die Autorinnen in der Antike zugeschrieben werden oder aber von Frauen heute verfaßt werden, macht außerdem deutlich, daß diese Werke im Vergleich zu denen der Männer nicht unbedingt anders geschrieben sind und nicht immer für andere Werte eintreten. Frauen werden ebenso wie Männer in dieselbe androzentrische Geisteshaltung und Kultur hinein sozialisiert. Nur wenn frau/man behaupten wollte, es gebe eine klar bestimmbare, angeborene weibliche Art der Erkenntnis, ließen sich »weibliche« Schriften als wesentlich verschieden von »männlichen« Schriften bestimmen. Doch ein solcher Versuch ließe bloß die von der androzentrisch-kulturellen Geisteshaltung erzeugten Vorurteile und Geschlechterasymmetrien fortdauern. Kurz gesagt: Die These, daß frühchristliche kanonische Schriften von Frauen verfaßtworden sind, scheint hilfreich zu sein, um den androzentrischen Dogmatismus, der nur Männern apostolische AutorInnenschaft zuschreiben kann, anzufechten. Die Vermutung weiblicher AutorInnenschaft läßt jedoch noch nicht auf eine feministische Perspektive der Autorin schließen. Alle frühchristlichen Schriften, seien sie von Männern geschrieben oder von Frauen, teilen mehr oder weniger die androzentrische Perspektive ;nd müssen daraufhin kritisch untersucht und geprüft werden, in welchem Maße sie diese androzentrische Perspektive vertreten. Um den Einfluß des androzentrischen Textes auf unsere historische Imagination zu brechen, finde ich es indes hilfreich, Studentinnen zum Verfassen von Geschichten oder Briefen aus der Perspektive führender Frauen im frühen Christentum zu ermutigen. Selbstverständlich spiegelt eine solche historische Imaginationsübung unser eigenes Wissen und unsere eigenen Voraussetzungen im Blick auf frühchristliche Ursprünge wider. Doch sie hilft, den gewaltigen Einfluß androzentrischer Texte und ihrer unausgesprochenen patriarchalen Geisteshaltung zu relativieren. Der folgende von einer meiner Studentinnen 54 verfaßte »apokryphe« Brief der Apostelin Phoebe kann ein Licht werfen auf den erzieherischen und imaginativen Wert des Neuerzählens und Neuschreibens androzentrischer biblischer Texte aus kritisch-feministischer Perspektive: 54 Sr. Elizabeth Davis, Papier für ein Seminar zum Thema »Frauen im frühen Christentum« an der Universität Notre Dame, Sommer 1978.
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Phoebe, durch Gottes Willen Apostelin Jesu Christi, berufen, die Frohe Botschaft zu predigen, an alle Heiligen, meine Schwestern und Brüder in Kenchreä: Gnade sei euch und Friede von Gott unserer/unserem SchöpferIn, von Jesus, unserer Weisheit, und der/dem Geist, unserer Macht. Ich danke Gott alle Tage, immer wenn ich an euch alle denke und mich erinnere, wie wir zusammengekommen sind, um die Frohe Botschaft zu hören, und wie sehr wir uns darüber gefreut haben, daß wir eins geworden sind in Jesus Christus. Möge Gott, Mutter und Vater, FreundIn und TrösterIn, euch mit aller Liebe, aller Güte, aller Freude, aller Treue erfüllen, wenn ihr wandelt alle Tage im Schutz der/des Geistes. J unia und Andronikus sind gerade vor zwei Tagen aus meinem geliebten Kenchreä zurückgekehrt und haben eure langersehnten Grüße gebracht. Es betrübt mich, daß ich so lange fern bin von euch, aber das ist ja notwendig, damit das Werk in J esus Christus gedeihe. Meine Erfahrungen hier waren fruchtbar: Es gibt so viele Geschichten von J esus, die wir noch nicht gehört haben, und die Kirchen hier sind so eifrig bestrebt, die Lehren mit anderen zu teilen. Wie groß ist doch der Unterschied zu unseren Kirchen von Korinth! Hat der Besuch von Paulus irgendwie geholfen, die Bitterkeit zu heilen? Wir haben ihn in Milet, auf seinem Rückweg nach J erusalem getroffen - habt Dank für eure großherzigen Geschenke für unsere Brüder und Schwestern dort -, aber er ist nicht allzu freundlich gewesen. Ich fürchte, meine Aussprache mit ihm, nachdem wir seinen Brief erhalten hatten, ist von ihm nicht gut aufgenommen worden. Später mehr darüber. Wir fürchten um seine Sicherheit. Es war ein tränenreicher Abschied. Trotz unserer Meinungsverschiedenheiten haben wir uns doch umarmt und einander Gott anvertraut. Erinnert euch, jeden Tag zu beten, daß er im Dienst J esu Christi gestärkt werde. In eurem Namen habe ich Grüße an Maria von Magdala und Simon Petrus in Galiläa gesandt, mich mit ihnen über ihr Werk gefreut und sie ermahnt, miteinander Frieden zu schließen. Jeder Brief aus Jerusalem bringt weitere Nachrichten über ihren Streit - in der Tat ein Skandal für alle Heiligen. Petrus weigert sich so stur, Maria zuzuhören, obwohl er doch selbst so oft erzählt, wie sie ihm die erste Botschaft des Auferstandenen gebracht hat. Marias Geduld ist beispielhaft. Petrus kann wirklich wütend machen, doch sie antwortet immer besonnen. Das kann nur von ihrem- Selbstvertrauen kommen, das an jenem Ostersonntagmorgen in ihr geboren wurde. Welche Quelle der Ermutigung sie doch für alle Heiligen ist, und welches Privileg es für ihre Gemeinde bedeutet, solch eine Leiterin zu haben! Die Briefe und Botinnen aus Antiochien sind hier genauso willkom-
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men wie bei euch. Es gibt so viele Geschichten und Worte von J esus, und die JüngerInnen erzählen sie mit solcher Leidenschaft weiter. Manchmal frage ich mich, ob wir sie nicht aufschreiben sollten, damit sie nicht verloren gehen. Anscheinend haben Marias Leute Worte unseres Lehrers gesammelt und benutzen sie in Predigt und Gottesdienst. Wir sollten darüber nachdenken, wenn ich zurückkomme. Zwei neue Geschichten hörten wir von den JüngerInnen in Galiläa. Wie nötig ist es doch für die Heiligen, miteinander zu teilen und sich einander mitzuteilen, und wie wertvoll ist es, daß wir unsere MissionarInnen und -ProphetInnen von Kirche zu Kirche reisen lassen können. Junia erzählte mir, daß die Prophetin Miriam unsere Kirche besuchte und während ihres Besuches beim Brotbrechen die Leitung hatte. Die Lesung, die ihr für den Tag vereinbart hattet, war aus dem zweiten Buch der Könige. Und Miriam betonte, daß Huldas Wort über die Thora, das sie vonJ ahwe selbst hatte, auch ihr eigenes Wort über die Erfüllung der Thora in J esus Christus sein könnte. Um aber auf die neuen Geschichten zurückzukommen: Die erste handelt davon, daß Jesus einer heidnischen Frau begegnet. Diese bittet ihn, ihre kleine Tochter zu heilen, die besessen ist. J esus weist die Bitte zurück, indem er auf seine Berufung hinweist, er sei in erster Linie zum jüdischen Volk gesandt. Aber sie beharrt auf ihrer Bitte und kehrt sein Argument gegen ihn um. Da J esus die Weisheit ihrer Worte erkennt, heilt er das kleine Mädchen. Ich kann mich an keine andere Geschichte erinnern, in der eine Frau oder ein Mann Jesus dazu bringt, seine Meinung zu ändern. Welches Glück für uns HeidInnen, daß er nicht nur zu den JüdInnen gekommen ist! Über die zweite Geschichte würde ich gerne mit Paulus reden, der ja seit kurzem so sehr darauf bedacht ist, Frauen auf den »ihnen geziemenden Platz« zurückzuverweisen. Ich glaube, er ist so sehr davon in Anspruch genommen, einen guten Eindruck auf die Heiden zu machen, daß er wieder in sein rabbinisches Vorurteil zurückfällt. Als wäre der gebührende Platz einer Frau im Haus und ihre Rolle die, schwanger zu sein und Kinder zu gebären - »die Frau ist die Zierde des Mannes«, fürwahr! Ohne Zweifel weiß Paulus bei seiner theologischen Bildung, wie die Genesis die Frau sieht: »nach dem Bilde Gottes schuf er sie; als Mann und Frau schuf er sie.« Ein komischer Mensch, dieser Paulus! In seinem Brief an uns hat er die Gleichheit von Mann und Frau in der Ehe so nachdrücklich betont, und im selben Brief steigert er sich in Rage über Haarmoden in der Gemeinde. Um auf die Geschichte zurückzukommen: Als eine Frau Jesus pries und sagte: »Selig der Bauch, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesaugt hast«, antwortete darauf Jesus: »Selig sind vielmehr
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jene, die Gottes Wort hören und bewahren.« Wenn nur mehr von uns sehen würden, daß dies wichtig ist: den Willen Gottes zu tun, ob Mann oder Frau. Das macht doch unsere Gleichheit aus und stellt die »Ordnung« der Schöpfung wieder her. Und dennoch kann ich über Paulus nicht zu verzagt sein. Er hat immerhin davon Abstand genommen, uns zu schreiben, daß die Frauen in der Gemeinde schweigen sollten. Ja, das ist wahr! Einige Heilige haben ihm dazu Mut gemacht. Erinnert ihr euch, wie er uns aus seinem Brief an die römische Kirche vorgelesen hat, ehe er ihn absandte. Seine Worte über die Gaben - »Ausgestattet mit Gaben, die je nach der uns verliehenen Gnade verschieden sind, laßt uns diese gebrauchen« - sind für die Erkenntnis Gottes in den Kirchen so wichtig. Sicher wird dies - und nicht die sogenannte »gute Ordnung« - andere zur Wahrheit führen. Und noch deutlicher sogar sind seine Worte aus seinem Brief an unsere NachbarInnen in Galatien: »Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr JüdInnen und GriechInnen, SklavInnen und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid eins in Christus Jesus.« Ich fürchte aber, manche hören nicht diese Worte des Paulus, die so klar Einstellung und Lehre J esu, unserer Weisheit, widerspiegeln, sondern statt dessen die Rückfälle des Paulus in die vergangene Zeit, als er die Freiheit der! des Geistes noch nicht empfangen hatte. Mich schaudert bei dem Gedanken, daß irgendwann in der Zukunft einmal ein Gemeindeleiter sagen wird: »HeidInnen, SklavInnen, Frauen können am Dienst des Wortes nicht teilhaben, denn J esus hat sie nicht zum apostolischen Dienst berufen.« Als ich dies zu Paulus sagte, lachte er schallend und rief: »Phoebe, du hast eine blühende Phantasie! Wenn überhaupt einer meiner Briefe überlebt und es Leute geben sollte, die nicht den Unterschied zwischen meiner Predigt der Frohen Botschaft und meinen abschweifenden Bemerkungen zu kulturellen Problemen und Situationen sehen können, müssen sie schon wirklich verstockt sein. Menschen anderer Zeitalter werden über die kulturellen Marginalien mit Leichtigkeit hinweggehen und zum Herzen der Botschaft gelangen können.« Wäre diese Unterscheidung für uns andere nur auch so klar wie für Paulus! Meine Geliebten, wie viel hätte ich euch noch zu sagen. Aber das muß warten, bis ich zurückkomme. Von Junia und Andronikus weiß ich, daß ihr in meiner Abwesenheit auch weiterhin das Brot miteinander brecht und gemeinsam betet, euch meine Lehren ins Gedächtnis ruft und euch gegenseitig in Demut ermutigt. Hört nicht auf, zu den Kirchen in Korinth zu gehen und sie daran zu erinnern, daß sie einander lieben. Vielleicht lassen sie durch euer Beispiel ab von Cliquenbildun-
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gen und Streitigkeiten und werden, was zu werden wir alle berufen sind: ein Leib in Christus Jesus. Die Heiligen der Kirche in Rom senden euch allen Grüße. Priska und Aquilla grüßen Apollos und sagen ihm, daß es sie freut zu hören, wie treu er die Frohe Botschaft verbreitet. Junia und Andronikus grüßen euch und danken euch für die Freundlichkeit, die ihr ihnen erwiesen habt, als sie bei euch waren. Grüßt Chloe von mir und die Kirche, die sich in ihrem Haus versammelt. Grüßt Stephanus, durch den ich zum Glauben fand. Achaikus wird euch diesen Brief bringen. Nehmt ihn bei euch freundlich auf! Meine Liebe sei mit euch allen im Geiste.
3. Kapitel Auf dem Weg zu einem feministischen Modell historischer Rekonstruktion Da eine feministische Geschichtsrekonstruktion patriarchale Texte nicht mehr für bare Münze nehmen kann, sondern sie in feministischer Perspektive kritisch interpretieren muß, wird die Vorstellung, Geschichte sei das, »was tatsächlich geschehen ist«, zum Problem. Zwar wurde in den Geschichtswissenschaften diese Vorstellung völlig aufgegeben, doch in Religionsunterricht, dogmatischen Büchern und kirchlichen Stellungnahmen herrscht sie noch immer vor. Die psychologische Stärke des Fundamentalismus stammt von einem derartigen Verständnis der Bibel als historisch genauem Dokument des Willens Gottes. I Biblizistische Gewißheit basiert jedoch nicht nur auf einem überholten theologischen Verständnis biblischer Offenbarung, sondern auch auf einem historischen Mißverständnis darüber, was die Bibel eigentlich ist. Als historische Darstellung des Dienstes J esu und des Lebens der frühen Kirchen erzählen uns die biblischen Schriften nicht, wie es tatsächlich war, sondern wie seine religiöse Signifikanz verstanden wurde. Unser Verständnis der frühchristlichen Anfänge ist im allgemeinen monolithisch: einheitlich, zusammenhängend, bruchlos. Dieses Verständnis ist weitgehend durch die Apostelgeschichte bestimmt, die das Bild einer geradlinigen Entwicklung von der an Pfingsten gegründeten U rgemeinde in J erusalem hin zur Weltrnission des Paulus zeichnet - mit seiner Ankunft in Rom, dem politischen Zentrum der griechisch-römischen Welt, als Höhepunkt. Die Paulusbriefe werden weniger als historische Quellen verstanden, die eine sehr facettenreiche, spannungsvolle frühchristliche Situation reflektieren. Sie werden vielmehr als theologische Traktate angesehen, die die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben erläutern und verteidigen. Dieses biblizistische und historistische Verständnis frühchristlicher Anfänge herrscht noch immer in vielen Lehrbüchern und im Bewußtsein vieler ChristInnen und TheologInnen vor. Ihm zufolge hat J esus die Kirche gegründet, die Zwölf ordiniert und die Gestalt der Kirche als Institution festgelegt. Die Apostel hätten Mission und Werk Jesu bruchlos fortgesetzt und ihre Botschaft sei im Neuen Testament als Heilige Schrift kodifiziert. Alle späteren Entwicklungen seien auf Gottes Offenbarung in 1 Vgl. fames Barr, Das fundamentalistische Schriftverständnis, in: Concilium (1980) 583-5 87.
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der Schrift gegründet, und nie sei die wahre Kirche von der apostolischen Tradition abgewichen. 2 Wissenschaftlich aber ist eine solche ideologische Konstruktion frühchristlicher Anfänge nicht haltbar, und theologisch wirkt sie sich destruktiv auf die Selbstidentität von Christinnen aus, die in dieser Schilderung der frühchristlichen Entwicklung zwar als Kirchenmitglieder, aber ohne Führungsaufgaben vorkommen. Historisch-kritische Forschung hat nachgewiesen, daß dieses historistische Verständnis der Entwicklung des frühen Christentums eine spätere theologische Konstruktion ist. Daher suchen manche ExegetInnen es durch andere heuristische Modelle und theologische Rahmenrnodelle zu ersetzen, die besser erkennen lassen können, wie vielgestaltig das Denken und Leben des frühen Christentums waren. Aber obwohl die meisten ExegetInnen sich darüber einig sind, daß Jesus keinen Organisationsplan 3 der Kirche hinterlassen hat und daß die ChristInnen des apostolischen Zeitalters alles andere als »ein Herz und eine Seele« waren, weichen ihre Rekonstruktionen der tatsächlichen Entwicklung des Frühchristentums beträchtlich voneinander ab. Die historische Bedeutung der Zwölf, die Einsetzung des eucharistischen Mahls und der Taufe, das Verhältnis von Charisma und Amt, der Unterschied zwischen apokalyptischem und gnostischem Enthusiasmus, der Kontrast zwischen paulinischer und frühkatholischer Theologie, das Verhältnis von apostolischer Tradition und Häresie, wie auch die Frage nach der Autorität und Bedeutung der frühchristlichen Anfänge für ChristInnen heute - all diese Probleme werden viel diskutiert und haben die unterschiedlichsten Antworten erhalten. Diese wissenschaftlichen Diskussionen haben auch gezeigt, daß es keinen einzig gültigen Zugang zum Verständnis frühchristlicher Anfänge gibt. 4 Doch insoweit solche Diskussionen auf privilegierte Wissenschaftskreise beschränkt sind und nicht ins theologische Allgemeinwissen Eingang finden, werden viele Frauen noch immer Opfer einer mono2 Vgl. z. B. Manuel Miguens, Church Ministries in N ew Testament Times, Arlington, Va. 1976. 3 Zur kritischen Zurückweisung dieser Vorstellung vgl. besonders Raymond E. Brown, Biblical Reflections on Crises Facing the Church, New York 1975. 4 Vgl. besonders die Diskussion in der deutschen Forschung: D. Lührmann, Erwägungen zur Geschichte des Urchristentums, in: Evangelische Theologie 32 (1972) 452467; J. Blank, Probleme einer Geschichte des Urchristentums, in: Una Sancta 30 (1975) 261-286; H. Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der alten Kirche - ein methodischer Versuch, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 68 (1977) 200-230; N. Brox, Fragen zur Denkform der Kirchengeschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 90 (1979) 122 und H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt 1972. '
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lithischen Geschichtsschreibung und Theologie. Nur indem Frauen um keinen Preis intellektuelle Arbeit aufgeben und darauf bestehen, daß alle Streitfragen, die gewöhnlich den ExpertInnen, seien es WissenschaftlerInnen oder Priester, vorbehalten bleiben, offen und öffentlich diskutiert werden, werden wir den elitären Charakter von Kirche und akademischer Theologie überwinden können. Wie jede gute Geschichtsschreibung hängt auch die der Geschichte des Frühchristentums von der Kohärenz ihres Geschichtsbildes ab. 5 In seinem Buch History and Social Theory legt Gordon Leff wiederholt die Kriterien für die Qualität von Geschichtsschreibung dar: Historische Objektivität besteht nicht in »reinen« Fakten oder Daten, sondern in der dynamischen, gegenseitigen Beziehung zwischen den aus den Quellen zusammengetragenen Informationen und dem Geschichtsbild der/des Interpretierenden. Historikerlnnen sammeln alle verfügbaren Beweise, legen über deren korrekten Gebrauch Rechenschaft ab und ordnen sie in ein einsichtiges theoretisches System. Trotzdem argumentieren Historikerlnnen auf der Basis von Quellen - was grundverschieden ist von Reportagen über Ereignisse, die unserer Erfahrung zugänglich sind. Um Vergangenheit verständlich zu machen, muß die/der Historikerln in einem Akt ,>intellektueller Neuschöpfung« über die Ereignisse hinausgehen. Indem sie/er so verfährt, zeigt sie/er gleichzeitig, warum zum Beispiel »Caesars Überqueren des Rubikon für die Nachwelt bedeutend war und was es für Caesar und seine ZeitgenossInnen bedeutete.«6 Um so verfahren zu können, braucht die/der HistorikerIn einen theoretischen Bezugsrahmen und muß ein Modell entwerfen, wobei dieser Entwurf gleichzeitig mit Erfahrung und einem idealen Geschichtsbild arbeitet . . . . die Buchstaben auf einem Stein, das Stück Pergament, die Überreste eines mittelalterlichen Dorfes oder der Traktat eines Scholastikers liefern von sich aus lediglich die Daten, auf deren Grundlage sich der Historiker an die Arbeit macht; um diese Daten in historische Tatsachen zu übersetzen - d. h. in das, was seiner Vermutung nach geschehen ist -, muß er sämtliche Hilfsmittel der Kritik und InterpretationSelektion, Bewertung, Interpolation und Aussonderung - einsetzen, die auf Schlußfolgerung statt Beobachtung beruhen und folglich nie mehr erreichen können als einen hohen Grad an WahrscheinlichkeitJ 5 G. Heinz, Das Problem der Kirchenentstehung in der deutschen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, Mainz 1974 (Tübinger Theologische Studien 4) hebt die theologischen Voraussetzungen hervor, die die Basis bilden für die verschiedenen Rekonstruktionen frühchristlicher Anfänge. 6 Gordon Leff, History and Social Theory, New York 1971, 11 I. 7 A.a.O., 14 (Sexistisch exklusive Sprache ist durch das Original vorgegeben, d. Ü.)
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Eine solche Untersuchung theoretischer Modelle und heuristischer Raster darf jedoch die Frage nach der aktiven Teilnahme von Frauen an den frühchristlichen Anfängen nicht aus den Augen verlieren. Deshalb müssen alle Modelle daraufhin geprüft und bewertet werden, in welchem Maße sie nicht nur den Informationen, die unsere Quellen über Frauengeschichte geben, gerecht werden, sondern auch inwieweit sie diese Informationen auf solche Weise in ihren Gesamtrahmen integrieren können, daß androzentrische Geschichtsschreibung in unsere gemeinsame Geschichte verwandelt werden kann. Eine intellektuelle Neuschöpfung frühchristlicher Anfänge, die die Vergangenheit verstehbar zu machen sucht, muß von einer androzentrischen Geschichtsschreibung ablassen, die der Auskunft, die unsere Quellen geben, nicht gerecht werden kann, daß nämlich Fraue~ aktiv in den frühchristlichen Kirchen mitgewirkt haben. Schließlich müssen theoretische Rahmenmodelle, die einer feministischen Geschichtsschreibung gerecht werden wollen, nicht nur erhellen, was es für Frauen bedeutet hat, aktive Mitglieder und Leiterinnen im frühen Christentum gewesen zu sein, sondern auch herausstellen, welche historische Bedeutung es hat, daß Frauen an den frühchristlichen Anfängen aktiv beteiligt waren. Das heutige Forschungsinteresse an der Sozialgeschichte der Anfänge des Christentums ist ein solcher Versuch, Modelle historischer Rekonstruktion zu finden. Indem diese Studien nach den sozialen Bedingungen und führenden Personen der frühchristlichen Bewegung forschen, suchen sie von den biblischen Texten zu ihren sozialen Kontexten zu gelangen. So setzen sie die Forschung nach dem Sitz im Leben überlieferter Formen und Schriften fort, mit der sich die von der neutestamentlichen Wissenschaft in den letzten 75 Jahren durchgeführte traditionsgeschichtliche Forschung beschäftigt hat. Die Erforschung des sozialen Kontexts und des sozialen Mutterbodens frühchristlicher Traditionen und Lehren ist im letzten Jahrzehnt erneut aufgenommen worden, nachdem sich die Wissenschaft beinahe 60 Jahre lang vorrangig auf kerygmatisch-theologische Fragen konzentriert hatte. Zum großen Teil hat die neutestamentliche Wissenschaft im letzten halben Jahrhundert versucht, die verschiedenen Gruppen und Parteien im frühen Christentum mit verschiedenen Glaubenssystemen8 zu identifizieren und sie daraufhin in das dualistisch-dogmatische Modell von Orthodoxie und Häresie einzuordnen. Auf diese Weise wurde z. B. erkannt, daß die Schriften des Paulus und die Evangelien nur verstanden werden können, wenn ihr Sitz im Leben voll erforscht ist. Doch die Redaktions8 Zur paulinischen Literatur vgl. E. Earle Ellis, Paul and His Opponents. Trends in Research, in: J. Neusner (Hg.), Christianity,Judaism and Other Greco-Roman Cults. Studies for Morton Smith, Leiden 1975> Bd. 1,264-298.
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kritik neigte dazu, diesen Sitz im Leben im Sinn frühchristlicher Glaubenssysteme zu charakterisieren. So wurde argumentiert, Paulus habe darauf bestanden, daß die Teilhabe von Frauen in der Gemeinde der Schöpfungs ordnung entspreche, während seine »GegnerInnen« in Korinth »EnthusiastInnen und SchwärmerInnen« gewesen seien oder eine gnostische Theologie vertreten hätten, die den durch die Schöpfung begründeten Unterschied zwischen Männern und Frauen geleugnet habe. Durch Rekonstruktion des sozialen und soziologischen Kontextes der frühchristlichen Quellen und Traditionen sucht die sozialgeschichtliche Forschung zum Frühchristentum dieses dualistische Modell rivalisierender Glaubenssysteme zu ersetzen. Während die form- und redaktionsgeschichtlichen Ansätze ihre Aufmerksamkeit auf die Lehren der frühchristlichen Traditionen und AutorInnen konzentrieren und die soziokulturellen Kontexte des Judaismus und der römisch-hellenistischen Religion und Kultur als Hintergrund konstruieren, versuchen die sozialgeschichtlichen Forschungen den Schwerpunkt auf das Leben und Verhalten der frühen ChristInnen zu verlagern. Was hat es für eine jüdische oder römische Frau bedeutet, Christin zu werden? Welche Konsequenzen hatte dies für ihre sozialen Beziehungen? Hat es Brüche in ihrer Familie oder dem Kreis ihrer FreundInnen verursacht? Warum haben Frauen sich der frühchristlichen Bewegung angeschlossen?9 Durch solche Fragen bricht die herkömmliche Konzeption des frühen Christentums und seines kulturellen »Hintergrunds« zusammen. Ein neues theoretisches Rahmenmodell wird notwendig: eines, das geeignet ist, die dynamische Wechselwirkung zwischen frühchristlichen Anfängen und ihrem kulturell-soziologischen Sitz im Leben zu erfassen. Die Erforschung der Sozialgeschichte des frühen Christentums sucht daher nach neuen, integrativen heuristischen Modellen, nicht um eine herrscherliche »Meistertheorie« frühchristlicher Evolution aufzustellen, sondern um eine »Steigerung historischer Imagination«10 zu erlangen. In einer Rezension der neu esten Literatur zu diesem Thema empfahl J ohn Gager die Unterscheidung zwischen sozial als »Bezeichnung« für die Gesellschaft oder die soziale Ordnung« und als »Beschreibung der relevanten sozialen Daten« einerseits und soziologisch für »die ganze Skala der Theorien und 9 Aber diese Fragen finden sich in den verschiedenen Entwürfen einer sozialen Rekonstruktion frühchristlicher Anfänge im allgemeinen nicht. Dies kann auch am unbewußten Androzentrismus soziologischer Modelle und Raster liegen. Vgl. v. a. Dorothy Smith, A Sociology for Women. The Line of Fault, in: The Prisms of Sex, 135-187; Meredith Gould, The New Sociology, in: Signs 5 (1980) 459-467; Cynthia Fuchs Epstein, Women in Sociological Analysis. New Scholarship Versus üld Paradigms, in: Soundings 64 (19 81 ) 485-498. 10 Wayne A. Meeks, The Social World ofEarly Christianity, in: Bulletin of the Council on tlre Study of Religion 6 (1975) 5.
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Hypothesen, die sich mit der Erklärung sozialer Fakten beschäftigen« anderseits. 1I Doch bei der Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte bricht eine solche Unterscheidung zusammen, wie Gagers eigene Besprechung von Malherbe und Grant dokumentiert. Wenn die Diskussion von theoretischen Modellen, die zur »Erklärung« sozialer Tatbestände benutzt wurden, unterbleibt, führt dies nicht zu einer objektiven Beschreibung sozialer Daten, sondern ganz einfach dazu, daß die eigenen theoretischen Raster und Interessen nicht hintedragt werden. 12
Frühchristliche Anfänge: Die Enterbten und die Marginalisierten In der sozialgeschichtlichen und religionssoziologischen Rekonstruktion frühchristlicher Anfänge'3 wird weithin der soziologische Typus oder das abstrakte Modell »Sekte« zugrundegelegt, um die frühchristlichen Anfänge einsichtig zu machen. Darüber, daß die Jesusbewegung in Palästina am zutreffendsten als »sektiererische Gruppe« zu verstehen ist, scheint die religions soziologische Forschung Übereinstimmung erzielt zu haben. Im Anschluß an W. Stark wendet Robin Scroggs die soziologische Sektentypologie auf die Anfänge des frühen Christentums an, um zu zeigen, »daß die von Jesus ins Leben gerufene Gemeinschaft die wesentlichen Charakteristika einer religiösen Sekte edüllt.«'4 Alle sieben Charakteristika einer Sekte ließen sich für die J esusgruppe nachweisen. '5 Sie sei als Protest (1) entstanden und habe jene Sicht der Wirklichkeit verwoden, die das jüdische Establishment als unumstößlich voraussetzte (2). Als egalitäre und nicht hierarchisch strukturierte Gemeinschaft (3) habe sie John G. Gager, in: Religious Studies Review 5 (1979) 174-180.175. 12 Vgl. Dietrich Gewalt, Neutestamentliche Exegese und Soziologie, in: Evangelische Theologie 31 (1971) 87-99, und die hermeneutischen Aufsätze in: Fred R. Dallmayr/ Thomas A. McCarthy (Hg.), Understanding and Social Inquiry, Notre Dame 1977. 13 Vgl. besonders die Überblickartikel:J. Smith, Social Description of Early Christianity, in: Religious Studies Review 2 (1975) 19-25; D. J. H arrington, Sociological Concepts and the Early Church. A Decade of Research, in: Theological Studies 41 (1980) 181 - 190; Robin Scroggs, The Sociological Interpretation of the N ew Testament. The Present State of Research, in: New Testament Studies 26 (1980) 164-179; Cyrill S. Rodd, On Applying a Sociological Theory to Biblical Studies, in: J oumal for the Study ofthe Old Testament 19 (1981) 95-106. 14 R. Scroggs, The Earliest Christian Communities as Sectarian Movement, in: Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and Other Cults, Bd. 2, 23. 15 Vgl. Kurt Rudolph, Wesen und Struktur der Sekte. Bemerkungen zum Stand der Diskussion in Religionswissenschaft und -soziologie, in: Kairos 21 (1979) 241-254. II
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allen, die sich ihr anschlossen, besonders den Ausgestoßenen (4), Liebe und Akzeptanz gewährt. Als Vereinigung auf freiwilliger Basis (5) habe die Jesusgruppe totale Verbindlichkeit verlangt (6). Da nicht alle Sekten chiliastisch-eschatologische Gruppen sind, zeige der apokalyptische Charakter der Jesusbewegung, daß sie ihre wichtigsten Wurzeln und die meiste Unterstützung bei den Enterbten und leidenden Armen hatte (7). Zwei methodologische Voraussetzungen von Scroggs sind wichtig: Er unterscheidet erstens nicht zwischen dem historischen Jesus, den ZuhörerInnen des historischen Jesus und den ersten Gemeinden, weil beide Gruppen, soziologisch gesprochen, im Grunde identisch seien. Zweitens entfaltet Scroggs seine Argumentation in Hinblick auf eine ländliche und nicht auf eine verarmte städtische Gruppe, weil die synoptischen Traditionen zum größten Teil einen ländlichen Kontext reflektierten. Daher betont Scroggs, daß der Ausdruck Sekte nicht als Gegenbegriff zu Kirche mißverstanden werden darf, sondern als Gegenbegriff zur umfassenderen Gesellschaft der »Welt« verstanden werden muß. In diesem Sinn sei die J esusbewegung eine gegenkulturelle Bewegung gewesen. Während die Typologie von Scroggs etwas generalisierend ist, haben Sheldon R. Isenberg und J ohn Gager unabhängig von ihm den sektenhaften Charakter der Jesusgruppe genauer als Millenniumsbewegung zu bestimmen versucht. Isenberg hat darauf hingewiesen, daß die PharisäerInnen, die Essenerlnnen und andere Gruppierungen im griechisch-römischen Palästina auf verschiedene Weise Zugang zur religiösen Macht Israels gesucht haben, weil sie sich von ihren Medien - dem Tempelkult und der Thora - abgeschnitten fühlten. '6 Diese millenarischen Gruppen - darunter die Jesusbewegung - hätten sich nach folgendem Muster entwickelt: das Gefühl der Deprivation, eine konkrete Erprobung ihrer neuen Überzeugungen von religiöser Macht, das Auftreten einer/eines Millenniumsprophetln während dieser Entwicklung und schließlich Konsolidierung oder Auflösung. Nach Isenberg waren der Lehrer der Gerechtigkeit von Qumran, wie auch Jesus und Paulus solche Millenniumspropheten, die auf religiöse Macht außerhalb der normalen Kanäle von Macht im Judentum Anspruch erhoben. Ebenso behauptet Gager, daß die frühchristlichen Anfänge alle fünf Merkmale millenarischer Bewegungen aufweisen: die Verheißung des Himmels auf Erden - bald; den Umsturz oder die Umkehrung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung; eine gewaltige Entbindung emotionaler Energie in der Ekstase; eine kurze Lebensdauer der Bewegung selbst und 16 Vgl. Sheldon R. Isenberg, Millenarism in Greco-Roman Palestine, in: Religion 4 (1974) 26-46; und ders., Power through Temple and Torah in Greco-Roman Palestine, in: Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and other Cults, Bd. 2, 24- 52.
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- als besonders wichtiges Merkmal- die zentrale Rolle eines messianischen Propheten oder charismatischen Führers. Dadurch daß Gager Nachdruck auf den millenarischen Propheten legt, läßt er Raum für die zentrale Rolle Jesu und für den apokalyptischen Charakter frühchristlicher Traditionen. Er vertritt demnach die Auffassung, daß das frühe Christentum eine Bewegung der Enterbten und Unterprivilegierten war. Dieses Postulat bringt er mit der Bemerkung von Plinius, das Christentum habe auf Personen »aus allen sozialen Schichten« Anziehungskraft ausgeübt, dadurch in Einklang, daß er den Begriff der »relativen Deprivation« einführt. '7 Die Kategorie der Unterprivilegierten umfaßt demnach auch die Entfremdeten und die Unzufriedenen, zu denen Intellektuelle, Frauen, Fremde, LandbewohnerInnen oder frühere SklavInnen zählen können, die nicht ökonomisch arm zu sein brauchen. Isenberg macht den millenarischen Charakter der Jesusbewegung am Mangel an religiöser Macht und der Suche nach ihr fest, Gager dagegen am Ringen um soziale Macht. Gager unterscheidet jedoch nicht zwischen der Jesusbewegung in Palästina und den frühchristlichen missionarischen Gemeinden in den städtischen Zentren der griechisch-römischen Welt. 18 Diese Unterscheidung wird dagegen zur Basis der sozialen Rekonstruktion Gerd Theißens. Theißens soziologisches Modell ist funktional und stützt sich bei der Rekonstruktion der Jesusbewegung in erster Linie auf die Konflikttheorie. Doch während seiner »Analyse der palästinensischen J esusbewegung ... eine religions soziologische Konflikttheorie zugrunde« liegt, befürwortet er für die Rekonstruktion frühchristlicher Anfänge in einer hellenistischen städtischen Gesellschaft »eine religionssoziologische Integrationstheorie«. Im hellenistischen Bereich habe sich das Gewicht auf das Leben der Orts gemeinden verlagert, deren führende Mitglieder »zu den besser gestellten Kreisen gehörten« und deren Ort die Städte gewesen seien. Diese Gemeinden seien zu den Werten ihrer Gesellschaft nicht in Opposition gestanden. »Liebespatriarchalismus« sei die beste Charakterisierung ihrer religiös-sozialen Atmosphäre. '9 Jesus habe »nicht primär Orts gemeinden gegründet, sondern eine Bewegung vagabundierender Charismatiker ins Leben gerufen«. Die J esus17 Vgl.John G. Gager, Kingdom and Community. The Social World of Early Christianity, Englewood Cliffs, N. J. 1975, 89f. 98. 18 Vgl. auch zur Auseinandersetzung mit Gager: D. Bart/ett, John G. Gager's >Kingdom and Community<. A Summary and Response, in: Zygon 13 (1978) 109-122;]. Smith, Too Much Kingdom, Too Little Community, a.a.O., 123-130; und D. Tracy, A TheologicalResponse 10 >Kingdom and Community<, a.a.O., 131-135. 19 Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, München 1977, 106ff.
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traditionen und deren radikales Ethos seien geprägt von diesen »vagabundierenden« Charismatikern, die charakterisiert werden durch »Heimat-, Familien-, Besitz- und Schutzlosigkeit«. Wie die kynischen Wanderphilosophen schienen die frühchristlichen Charismatiker »eine vagabundierende Existenz« geführt und die Rolle von Außenseitern gewählt zu haben. Die organisatorische und ökonomische Basis dieser Bewegung wandernder Prediger sei durch Sympathisantlnnen in Orts gemeinden, die »organisatorisch im Rahmen des Judentums blieben«, bereitgestellt worden. Sie verkörperten weniger deutlich das Neue des Urchristentums, waren sie doch in die alten Verhältnisse durch mannigfaltige Verpflichtungen und Bindungen verstrickt. Träger dessen, was sich später als Christentum verselbständigte, waren vielmehr heimatlose Wandercharismatiker. 20 Hier müssen einige kritische Fragen gestellt werden: Nach Theißen waren diese Nachfolger Jesu nicht arm, enterbt, entfremdet, wie Scroggs und Gager behaupteten. Statt dessen hätten sie in freier Entscheidung auf ihren Besitz verzichtet. Den Sympathisantlnnen in den Orts gemeinden, die nicht so gehandelt haben, wird dagegen ein »sekundärer« christlicher Status zugeschrieben. Jedoch zeigt Wolfgang Stegemanns sorgfältige Analyse der Textbasis, auf die sich Theißen stützt, daß die ersten NachfolgerInnen Jesu nicht einen anderen sozialen Status - den Status von »AußenseiterInnen« - gewählt, sondern ein anderes religiöses Ethos gelebt haben." Das den Kynikern abgeschaute Bild der JüngerInnen Jesu sei späteren Datums und besonders in der Interpretation des Lukas verbreitet. Daß sie Familie und Besitz verließen, sei mit einer neuen Verwandtschaft, der Gemeinde, vergolten worden (Mk 10,30). Es dürfe nicht übersehen werden, daß dieses Verlassen der Familie für Q nicht asketische Norm, sondern bittere Lebensnotwendigkeit gewesen sei, weil das Bekenntnis zu Jesus so großen Haß hervorgerufen habe (Mt 10,35). Ursprünglich hatte Theißen die UnterstützerInnen der Wandercharismatiker als Menschen beschrieben, »die selbst am Rande der Gesellschaft standen«, während er die Tradenten der Jesusworte selbst als die »am unteren Rand der Gesellschaft« sah. 22 Doch in seiner »Soziologie der J esus20 A.a.O., 14f. 21 Vgl. Wolfgang Stegemann, Wanderradikalismus im Urchristentum? Historische
und theologische Auseinandersetzung mit einer interessanten These, in: W. SchottrofflW. Stegemann (Hg.), Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Auslegungen, Bd. 2: N eues Testament, München - Gelnhausen 1979, 94-120. 22 Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristen-
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bewegung« versteht er sie ausschließlich von »ihrem komplementären Verhältnis zu den Wandercharismatikern«23 her, um seine Unterscheidung zwischen dem ethischen Radikalismus der Jesusbewegung und dem integrativen Liebespatriarchalismus der christlichen Gemeinden in der hellenistischen Welt aufrechtzuerhalten. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß dieser Unterschied im frühchristlichen Ethos wohl erst durch die von Theißen gewählte Methode soziologischer Analyse (Konflikttheorien für Palästina, Integration für die hellenistischen Zentren) produziert wird. Jedenfalls scheinen frühchristliche Apologetik wie auch heidnische Angriffe gegen die ChristInnen das Verhältnis der frühen Kirche zur Gesellschaft, in der sie lebte, auch noch im zweiten J ahrhundert als Konflikt zu verstehen. Zusammenfassung: Die religionssoziologischen Studien zur Jesusbewegung stimmen darin überein, daß sie die frühesten christlichen Anfänge in Palästina als Sektenbewegung »aggressiven«, »revolutionären« oder »millenarischen« Typs klassifizieren. Aber nur Gager schließt bei dieser Beschreibung die ersten christlichen Missionsgemeinden in der griechisch-römischen Welt mit ein, Scroggs dagegen untersucht diese Gemeinden nicht, und Theißen behauptet, sie seien sehr verschieden von dem Wanderradikalismus, der den Jesustraditionen Gestalt gegeben habe. Seine These, die christliche Bewegung in den städtischen Zentren der griechisch-römischen Welt sei integrations- und nicht konfliktorientiert, muß durch eine religionssoziologische Untersuchung überprüft werden, die dieselbe Konflikttheorie auch auf das Material über diese Gemeinden anwendet. I. Meeks Untersuchungen zum paulinischen Christentum scheinen auf eine grundlegende Doppeldeutigkeit in den paulinischen Briefen hinzuweisen: Einerseits wird die christliche Gemeinde als eschatologische Sekte mit einem ausgeprägten Gefühl für Gruppengrenzen verstanden, doch anderseits ist sie eine »offene Sekte, darauf bedacht, Außenstehende nicht abzustoßen, sondern für ihre Botschaft zu werben«24. Daher bleibt unentschieden, ob die frühchristliche städtische Bewegung einen anderen Sektentypdarstellt, ob sie andere Aspekte desselben Sektentyps akzentuiert oder ob sie sich im Übergang vom einen zum anderen Typ befindet. Ihr Konflikt- und Protestcharakter gegenüber der griechisch-römischen Welt darf jedoch nicht per definitionem ausgeschlossen werden. turns, Tübingen 1979 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 19), 79- 105 ·97f. 23 Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 26. 24 Wayne A. Meeks, Since Then You Would Need to Go Out of the World. Group Boundaries in Early Christianity, in: T. J. Ryan (Hg.), Critical History and Biblical Faith. New Testament Perspectives, Villanova 1979,4-29.22.
Sehen - Benennen - Wiederherstellen 2. Die religions soziologische Einordnung der Jesusbewegung verdankt ihre Klassifikationen - wenn auch in modifizierter Form - Weber und Troeltsch. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß »Sekte« oder »millenarische Bewegung« eine Klassifizierung ist, die keine speziellen, sondern typische Beziehungen zwischen Gesellschaft und Religion beschreibt. Überdies hat Yinger besonders auf drei Schwachstellen des von Troeltsch entwickelten Systems hingewiesen, die bei der Rekonstruktion frühchristlicher Anfänge im Blick bleiben müssen. Yinger legt dar, daß eine dichotome Typologie die vielen Mischformen und Nuancen, die in der Wirklichkeit vorkämen, nicht berücksichtige. Folglich sollten Kirche und Sekte nicht als Gegensätze verstanden werden, sondern als Endpunkte eines Kontinuums mit mehreren dazwischenliegenden Punkten. Ferner habe Troeltsch nicht adäquat untersucht, unter welchen Bedingungen die verschiedenen Typen religiöser Organisation mit höchster Wahrscheinlichkeit vorkommen. Schließlich müßten zur Beschreibung der Daten in ihrer ganzen Reichweite drei Kriterien berücksichtigt werden: (i) der Grad der Inklusivität, mit dem die religiöse Gruppe Mitglieder der Gesellschaft einbezieht; (ii) das Ausmaß, in dem die Gruppe Werte und Strukturen der Gesellschaft anerkennt; (iii) der Kontext, in den eine Organisation mehrere Gruppen integriert und eine Bürokratie ins Leben ruft. 25 3. Alle drei Untersuchungen der Jesusbewegung scheinen den a-familialen oder anti-familialen Charakter der ersten christlichen Gruppen zu unterstreichen. Es hat den Anschein, daß dieser Aspekt einen fruchtbaren Ausgangspunkt für die Untersuchung der Rolle von Frauen in dieser Bewegung bietet. Doch obwohl sich alle besprochenen Studien auf die eine oder andere Weise mit der Frage befassen, was es im ersten Jahrhundert hieß, Christ zu werden oder zu sein, wird in keiner einzigen die Frage gestellt, was es für eine Frau in Palästina, eine jüdische Frau in Korinth oder eine heidnische Frau in Galatien bedeutete, sich der frühchristlichen Bewegung anzuschließen.
Konsolidierung und Institutionalisierung: Liebespatriarchalismus Obwohl SoziologInnen und AnthropologInnen sich in Klassifizierung und Beschreibung des Sektentypus stark unterscheiden, stimmen sie fast alle überein, daß zum Typus der Sekte und der millenarischen Bewegung 25 Vgl. 28I. 2
J.
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Milton Yinger, The Scientific Study of Religion, New York I970, 251-
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eine kurze Lebensdauer gehört. Aber es ist nicht ganz klar, warum manche millen arischen Bewegungen nach der ersten Welle der Begeisterung völlig verschwinden, während andere fortdauern und in anderen Formen weiterleben. Gager stellt daher kategorisch fest, »daß das Christentum zwar überlebte, aber nicht als millenarischer Kult«26, und er fragt: »Was ist schiefgelaufen mit dem frühen Christentum, so daß es das Nichteintreffen seiner ursprünglichen Prophezeiungen nicht nur überlebte, sondern dies in derart spektakulärer Form tat?«2? Die hermeneutischen Implikationen dieser soziologischen Beurteilung lassen sich an Gagers Erörterung von Gal 3,28 ablesen. Er liest diese Worte »als Prototyp aller millen arischen Ethik« und wundert sich weiter: Im Lichte des radikalen Standpunktes von Paulus, wie er hier und anderswo zum Ausdruck kommt, mag es ironisch wirken, daß die Hauptströmung des Christentums sich dafür entschied, die Frauen schließlich aus allen wichtigen kultischen Rollen zu entfernen, und sich dabei auf die Autorität des Paulus berief. Sagt man aber, daß die Kirchen sein Programm nicht verwirklicht haben, so ist das eigentlich eine überflüssige Feststellung. Denn Millenniumsbewegungen scheitern per definitionern, und diejenigen, die überleben, tun dies unter grundlegend neuen Verhältnissen!8 Gager räumt ein, daß christliche Gruppen, wie Montanismus und Markionitismus, »das ursprüngliche Ideal weiterführten«, doch er etikettiert sie als »Häresien«. Er scheint hier anzunehmen, daß in ihrer Praxis (wenigstens an diesem Punkt) nicht das millenarische Ethos der frühesten christlichen Bewegung weiterlebte, obwohl er in einem späteren Kapitel die traditionelle theologische Sicht von Häresie als Abweichung vom orthodoxen christlichen Ethos zurückweist. In seiner Diskussion der sozialen Zusammensetzung des frühen Christentums akzeptiert Gager jedoch den Konsens der Altertumswissenschaft zur sozialen Frage, was seiner Annahme der kurzen Lebenserwartung für eine Sekte widerspricht. Dieser Konsens lautet, daß einerseits »das Christentum mehr als zwei Jahrhunderte lang wesentlich eine Bewegung von Unterprivilegierten war« und anderseits »seine Anziehungs26 John G. Gager, Das Ende der Zeit und die Entstehung von Gemeinschaften (= Auszug aus: ders., Kingdom and Community), in: Wayne A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums. Ausgewählte Beiträge zum frühchristlichen Gemeinschaftsleben in seiner gesellschaftlichen Umwelt, München I979, 88-I30.90. 27 A.a.O., Ir3. 28 A.a.O., I09.
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kraft auf diese Gruppen ebenso von sozialen wie von ideologischen Gründen bedingt war.«29 Folglich haben sich soziale Bedingungen und Wirkung des frühen Christentums als sektenhafter Protestbewegung gegen die bestehende soziale Ordnung mehr als zweihundert Jahre lang nicht geändert. Von einer millenarischen zu einer an Max Weber orientierten Analyse übergehend, stellt Gager die Frage nach Konsolidierung und Erfolg des Christentums. Zunächst stellt er erneut fest, daß die Entwicklung des frühen Christentums mit der einer millenarischen sektiererischen Bewegung nicht völlig übereinstimmt, da seine antinomistischen charismatischen Tendenzen so lange weiterbestanden. Er bemerkt, daß die Konsolidierung von Amt und Strukturen erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts stattgefunden habe und ihr auch dann noch zahlreiche Menschen aktiv Widerstand geleistet hätten. Erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts fänden wir frühchristliche Schriftsteller, die auf ein strukturell geordnetes Amt in den Orts gern ein den Gewicht gelegt hätten (siehe Pastoralbriefe, Ignatius, 1. Clemensbrief). Aber Gager erörtert nicht, ob diese Schriften Berichte über kirchliche Ämter sind oder ob es sich um Vorschriften handelt, die für einen bestimmten Typ der Kirchenleitung gegen einen anderen eintreten. An dieser Stelle muß das ursprüngliche Führungsamt von ProphetInnen und seine Ausschaltung erforscht werden. Mit Weber vertritt Gager die These, daß das Überleben jeder religiösen Gemeinschaft vom» Übergang von keinen Regeln zu neuen Regeln« abhänge, und fordert uns auf, dies als »fundamentales Gesetz« anzuerkennen. Daher sollen wir nicht »die Veralltäglichung des ursprünglichen Enthusiasmus beklagen, die alle charismatischen oder millenarischen Bewegungen in ihrer zweiten Generation, manchmal sogar noch früher kennzeichnet.«3 0 Überdies sei Veralltäglichung von Charisma nicht gleichbedeutend mit seiner Eliminierung. Insofern als die charismatischen frühchristlichen Anfänge in der Heiligen Schrift kodifiziert seien, könnten Versuche, die institutionelle Kirche zu erneuern, sich auf das biblische Gedächtnis ihrer charismatischen Anfänge berufen und dadurch neue charismatische Bewegungen hervorbringen. So seien charismatische Autorität und das Emporkommen institutioneller Strukturen »komplementär, nicht antithetisch«. Darüber hinaus seien antijüdische Polemik, heidnische Apologetik und der Kampf gegen KetzerInnen weitere Konsolidierungsfaktoren im Ringen der Kirchen um Identität. »Jeder (dieser
29 Gager, Kingdom and Community, 96. 30 A.a.O.,67·
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Faktoren, d. Ü.) stellt eine unentbehrliche Phase bei Geburt und Wachstum einer erfolgreichen religiösen Bewegung dar.«3 I In seinem letzten Kapitel wirft Gager jedoch noch einmal die Frage des Erfolgs auf, wenn auch von einem anderen Zugang her . Nach der Diskussion möglicher Erklärungen für Wachstum und Wandlung des Christentums gibt Gager einen Überblick über die externen und internen Faktoren, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Er führt eine Reihe externer Faktoren an, die am Aufstieg des Christentums mitgewirkt hätten, und einen einzigen internen Faktor von überragender Bedeutung: »die radikale Bedeutung christlicher Gemeinde: offen für alle, auf absoluter und ausschließlicher Loyalität beharrend, um jeden Aspekt des Lebens der Gläubigen besorgt. Vom allerersten Anfang an war dieser Gemeinschaftsgeist die einzige Gabe, die für das Christentum kennzeichnend war.«3 2 Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht die These an sich, sondern daß Gager hier in Widerspruch gerät zu seiner eigenen an Max Weber orientierten Analyse. Die kennzeichnende Gabe des Christentums war die in Gal3,28 zum Ausdruck gebrachte Vision von Gemeinde - nicht als millenarisches Ideal, sondern als Gemeindewirklichkeit. Außerdem ist zu fragen, ob es legitim ist, von dem Christentum zu sprechen, oder ob wir nicht von »Christentümern« oder »christlichen Gemeinden« sprechen müssen. Sehr viel sorgfältiger muß noch untersucht werden, ob diese frühchristlichen Gruppen »Kirche«, Denomination, etablierte Sekten, sektiererische Bewegungen oder charismatische Sekten waren oder nicht - und welche Gruppen was waren. Schließlich wird es notwendig, zwischen drei Grundtypen von Sekte zu unterscheiden: dem aggressiven oder revolutionären, dem eskapistischen oder introvertierten und dem anpassungsbereiten oder gnostischen Typ - und dazu allen Nuancen ihrer Überlagerung. Während Form- und Redaktionsgeschichte ein pluralistisches Modell für das neutestamentliche Christentum entwickelt haben, scheint die sozialgeschichtliche Forschung dies bisher versäumt zu haben. Statt dessen fallen die sozialgeschichtlichen Studien zu leicht in die theologische Dichotomie von Orthodoxie und Häresie zurück, die ihrerseits mit Kirche und Sekte gleichgesetzt wird. Während Gager den »Gemeinschaftsgeist« als charakteristische Gabe des Christentums nennt, identifiziert Theißen die Integrationskraft des Christentums im Gegensatz zum konfliktträchtigen ethischen Radikalismus der ]esusbewegung als »Liebespatriarchalismus«. Dadurch führt er
3 I A.a.O.,87· 32 A.a.O., I40.
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ein von Troeltsch (Typus des christlichen Patriarchalismus)ll übernommenes analytisches Konzept ein, um die Interaktion zwischen Reichen und Mächtigen und den Leuten von niedrigerem sozialen Status in den christlichen Gemeinden der hellenistischen Welt zu erklären. Als theoretisches Modell dient das Bild des patriarchalen oikos oder der patriarchalen familia mit hierarchischen Strukturen und Rollendifferenzierung. Was das Christentum dem als religiösen Beitrag hinzufüge, sei die als Agape verstandene Liebe, die Reibungen mildere und zur »willigen Akzeptierung der gegebenen Ungleichheiten und ihrer Fruchtbarmachung für die ethischen Werte der persönlichen Aufeinanderbeziehung« führe. Mit anderen Worten: Die »Gabe« des Christentums an die griechisch-römische Welt ist die Internalisierung der für eine patriarchale Gesellschaft typischen Statusungleichheiten und hierarchischen Strukturen. Eine Analyse des I. Briefs an die Gemeinde von Korinth zeigt nach Theißen, daß Paulus nicht an einer Reform oder Revolution der sozialen Ordnung, sondern an ihrer Transformation und Sublimierung auf einer mehr grundsätzlichen Ebene interessiert ist. Troeltsch schreibt: Als Haushalter Gottes sorgen die Großen für die Kleinen und als Diener Gottes ordnen sich die Kleinen den Großen unter; und, indem so sich beide im Dienste Gottes begegnen, behauptet sich die innere religiöse Gleichheit und erweitert sich der ethische Besitz durch die zarten Tugenden der Haftung für andere und der vertrauensvollen Hingebung. Dieses Ideal schwebt unverkennbar dem Paulus vor, und nur durch dieses Ideal will er von innen heraus die gegebenen Verhältnisse geistig ändern, ohne sie äußerlich anzutasten. l4 Es ist wichtig zu erwähnen, daß Theißen sein Verständnis der Integrationskraft des Liebespatriarchalismus weder aus einer kritischen Analyse dieses heuristischen Konzepts und seiner sozialen Implikationen noch aus einer neutestamentlichen Textanalyse herleitet, sondern statt dessen dieses Modell dem Text, besonders dem 1. Brief an die KorintherInnen überstülpt. Dennoch behauptet er, wegen dieses »temperierten sozialen Konservatismus« des Liebespatriarchalismus habe sich das Christentum im zweiten und dritten Jahrhundert erfolgreich gegen Montanismus und Gnosis durchgesetzt, weil es große Massen habe anziehen können. l5 33 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, Aalen 1961 (Neudruck der 1922 erschienenen Ausgabe), 67·
34 A.a.O.,68. 35 Theißen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 231-271.269.
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Während die Antike soziale Schwierigkeiten, die durch konfliktträchtigen ethischen Radikalismus hervorgerufen wurden, durch die philosophische Vision der Gleichheit aller freien BürgerInnen zu lösen suchte, habe das Christentum ein anderes Integrationsmuster angeboten: »den . christlichen Liebespatriarchalismus, in dem die Gleichberechtigung zwar grundsätzlich auf alle ausgedehnt wurde ... , aber zugleich verinnerlicht wurde: Sie gilt >in Christus<. Im politisch-sozialen Bereich werden schichtbedingte Unterschiede grundsätzlich hingenommen, bejaht, ja sogar religiös legitimiert. «3 6 Seine Sicht der Entwicklung des frühen Christentums faßt Theißen folgendermaßen zusammen: Verfolgt man die Überlieferung der Worte Jesu im Urchristentum, so stößt man auf drei Sozialformen urchristlichen Glaubens: Wanderradikalismus, Liebespatriarchalismus und gnostischen Radikalismus. In ihnen sind jene drei Typen angelegt, deren Geschichte E. Troeltsch durch die ganze Christentumsgeschichte hindurch verfolgt hat: Sekte, Anstaltskirche und Spiritualismus. Das Ethos des Wanderradikalismus ist in sektenhaften Bewegungen immer wieder lebendig geworden: in Montanismus, syrischem Wanderasketentum, den mittelalterlichen Bettelmönchen und dem linken Flügel der Reformation. Gnostischer Radikalismus hat sich immer wieder in individualistisch und mystisch eingestellten Konventikeln in und außerhalb der Kirche artikuliert. Dem christlichen Liebespatriarchalismus aber verdanken wir die überdauernden Institutionen der Kirche. Mit Erfolg und nicht ohne Weisheit hat er den urchristlichen Radikalismus so weit temperiert, daß der christliche Glaube zu einer kollektiv praktikablen Lebensform wurde.«37 Theißen räumt zwar ein, daß dieser Liebespatriarchalismus denen, die sich nicht unterwarfen, eher mit Gewalt als Liebe aufgezwungen wurde. Dennoch erklärt er ihn zur sozialen und historischen Notwendigkeit für das Überleben des Christentums. Um es ungeschminkt zu sagen: Nicht auf ProphetInnen und ApostelInnen, die als CharismatikerInnen zur »radikalen« Tradition gehören, ist die Kirche erbaut, sondern auf dem Liebespatriarchalismus, d. h. auf dem Rücken von freigeborenen Frauen, SklavInnen und unteren Schichten. Die Geschichte ist demnach von den Siegern nicht nur geschrieben, sondern auch von ihnen gemacht. Theißens Beurteilung wird von Elaine Pagels wiederholt, die den 36 Vgl. a.a.O., 27of. 37 Theißen, Wanderradikalismus, I04f.
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Kampf zwischen GnostikerInnen und Orthodoxen soziologisch ausmacht als Kampf »zwischen den ruhelos suchenden Menschen, die einen einsamen Weg der Selbstentdeckung absteckten, und dem institutionellen Rahmen, der der großen Mehrheit religiöse Bestätigung und ethische Anleitung für das tägliche Leben gab.«3 8Obwohl sie sich in ihrem soziologischen heuristischen Modell von Theißen unterscheidet, stimmt sie mit seiner Bewertung überein : Wäre das Christentum vielgestaltig geblieben, hätte es sehr wohl zusammen mit Dutzenden von rivalisierenden religiösen Kulten der Antike aus der Geschichte verschwinden können. Ich meine, daß wir das Überdauern der christlichen Tradition der organisatorischen und theologischen Struktur verdanken, die die entstehende Kirche entwikkelt hat. Wer sich so stark zum Christentum hingezogen fühlt wie ich, wird dies für eine wichtige Errungenschaft halten. 38a Zusammenfassung: Das herrschende religionssoziologische Modell für die Rekonstruktion der frühchristlichen Anfänge erklärt den allmählichen Prozeß kirchlicher Patriarchalisierung als historisch notwendige Entwicklung vom Charisma zum Amt, vom Paulinismus zum Frühkatholizismus, von einem millenarischen radikalen Ethos zu einem privilegierten christlichen Establishment, von der radikalen innerjüdischen Jesusbewegung zu einem integrativen Liebespatriarchalismus in den hellenistischen Stadtgemeinden, von den egalitären charismatischen Strukturen des Anfangs zur hierarchischen Ordnung der konstantinischen Kirche. Im Gegensatz zum Orthodoxie-Häresie-Modell rechtfertigt dieses Interpretationsmodell den Patriarchalisierungsprozeß der frühen Kirche nicht mit theologischen Gründen, sondern verteidigt ihn mit Verweis auf soziologische und politische Faktoren.
Kritische Einschätzung Eine kritische Einschätzung der religionssoziologischen Rekonstruktionen frühchristlicher Geschichte muß auf drei methodische Probleme hinweisen: I. Bei der Rekonstruktion der Jesusbewegung scheinen sozialgeschichtliche WissenschaftlerInnen das heuristische Modell »Sekte oder 38 Elaine Pagels, Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, Frankfurt I98I, 209. 38a A.a.O.,202.
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millenarische Bewegung« gegenüber »der Welt« und der Gesamtkultur zu entwerfen, bei der Beschreibung der Konsolidierung der frühchristlichen Bewegung dagegen scheint das Modell »Sekte« im Gegensatz zu »Kirche« vorherrschend zu sein. Dieser Wechsel des theoretischen Modells mag berechtigt sein, er wird jedoch nicht kritisch reflektiert. Deshalb schlägt Leander Keck in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen von Theißens religionssoziologischen Rekonstruktionen vor, den Begriff »Ethos« in die Diskussion einzuführen. Ethos definiert er als »Gestalt-Begriff, der Praktiken und Gewohnheiten, Annahmen, Probleme, Werte und Hoffnungen innerhalb des Lebensstils einer Gemeinschaft umschließt«.39 Keck regt an, daß wir unser Verständnis von kulturellem »Hintergrund« oder kulturellen »Einflüssen«40 für das frühe Christentum neu konzipieren. So untersuchen zum Beispiel die meisten Bücher über Frauen im frühen Christentum in einem ersten Kapitel den kulturellen Hintergrund oder die Umwelt frühchristlicher Anfänge, indem sie Status und Rolle von Frauen in Griechenland, Hellenismus, Rom und Judentum darlegen. Das geschieht, um zu zeigen, daß der Status frühchristlicher Frauen, obwohl patriarchal eingeschränkt, trotzdem viel besser war als der Status von Frauen in Griechenland oder von jüdischen Frauen. Im Sinne des Ethos einer Gruppe zu denken, ließe uns nach Keck von der Frage, wie der kulturelle Hintergrund frühchristliche Gruppen beeinflußt hat, abrücken und würde uns zur Frage führen, wie tief die frühchristliche Predigt damals in das Ethos der Menschen eingegriffen hat: Gegenüber dem hellenistischen Ethos, das vorgegeben gewesen sei, sei das aufkommende christliche Ethos ein fremdes Element gewesen. An diesem Punkt scheint Keck die Unterscheidung, die er in einem früheren Aufsatz zwischen Ethos und Kultur getroffen hatte, aufzugeben. Es scheint jedoch wichtig, die Wechselwirkung zwischen dem Ethos entstehender Gruppen und dem der etablierten Kultur zu bestimmen. Anders ausgedrückt: Da ChristInnen bei ihrer Bekehrung ihre kulturelle Geisteshaltung nicht völlig abstreifen können, müssen sie diese in die neue vom Gruppenethos geformte Selbst- und Gruppenidentität integrieren. Keck versucht in einem Vergleich von J esus und Paulus zu zeigen, wie diese zwei Personen das Ethos zweier unterschiedlicher christlicher Gemeinden geformt haben. Jesus habe danach gestrebt, eine alte Gemeinschaft zu erneuern und zu reformieren, Paulus dagegen sei dabei gewesen, eine neue Gemeinde zu schaffen. Deshalb störte J esu Botschaft das 39 Leander E. Keck, Das Ethos derfrühen Christen, in: Wayne A. Meeks, Zur Soziologie des Urchristentums, 13-36.20. 40 Keck, Ethos and Ethics in the New Testament, in: James Gaffney (Hg.), Essays in Morality and Ethics, New York 1980, 29-49.33.
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Ethos seiner Hörerlnnen nicht in gleicher Weise wie das Evangelium des Paulus. »Jesus versuchte, ein Ethos zu reinigen, Paulus versuchte, ein neu es Ethos zu gestalten«, das später allmählich zum charakteristischen christlichen Ethos wurdeY Als Prophet habe Jesus das Judentum reformiert, während Paulus die christliche Kirche gegründet habe. Methodisch gesehen unterscheidet Kecks Entwurf nicht ausreichend zwischen verschiedenen christlichen Lebensstilen, sondern spricht von dem Ethos der frühen ChristInnen. Dadurch läßt Keck keinen Raum für das Ethos von vor- oder nichtpaulinischen Missinarlnnen und Gemeinden und für die unterschiedliche Situiertheit der Jesustraditionen. Einerseits scheint der 2. Brief an die Gemeinde von Korinth darauf hinzuweisen, daß die GegnerInnen des Paulus, die sogenannten SuperapostelInnen, auch in den Städten ihren Lebensstil des Umherziehens praktizierten. Anderseits aber wurden die J esustraditionen wahrscheinlich in städtischen Zentren für Stadtbewohnerinnen geschrieben. Außerdem erforscht Keck nicht, ob J esus das Judentum derart radikal reformierte, daß dadurch die Artikulation eines neuen Ethos entstand. Es ist zu fragen, ob die Existenz umherziehender Jüngerinnen J esu sich durch die ländliche Situation Palästinas erklären läßt, ob sie voraussetzte, daß das von Neusner dargestellte kultische Ethos aufgegeben wurde, oder ob sie einem Zusammenwirken von ländlicher Gesellschaft und einem von Jesus und seinen Nachfolgerinnen gestalteten nichtkultischen Ethos zuzuschreiben ist. Ferner führt diese Fragestellung zu einer Neubestimmung des sozialen Wandels, der zwischen J esus und Paulus stattgefunden hat. Es hat den Anschein, daß diese Veränderung nicht am Gegensatz von Provinz und Metropole, von ländlichen Dörfern und städtischen Zentren festgemacht werden darf, sondern als Verschiebung kultureller Horizonte gesehen werden sollte. Während das Reformethos der Jesusbewegung sich im Kontext jüdischer Gesellschaft, Kultur und Religion artikuliert, artikuliert sich das paulinische Ethos im Kontext der römisch-hellenistischen Welt und hat missionarische Ziele. Die Wechselwirkung zwischen Kultur und Subkultur, zwischen herrschendem Ethos und aufkommendem Ethos ist daher für Jesus und Paulus sehr verschieden. Dieses Aufeinandereinwirken oder Zusammenspielen brachte verschiedene Formen christlichen Lebensstils (oder Ethos) nicht nur im jüdischen Kontext, sondern auch in den griechisch-römischen Kontexten hervor. Wenn wir Kecks analytische Kategorie »Ethos« gebrauchen, müssen wir daher aufpassen, daß es nicht zu einem vereinheitlichenden theoretischen Konzept gemacht wird - wie es z. B. »Lebenszentrum« in der Wissenssoziologie ist. Der Begriff 4 I A.a.O·,3 M.
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»Lebensstil« scheint weniger anfällig für solches Mißverständnis, weil er nicht nur im Sinne einer Pluralität von integrativen Weltanschauungen, sondern auch im Sinne der tatsächlich gelebten Praxis der frühen Christlnnen verstanden werden kann. Die kulturellen Differenzen zwischen Kleinasien, Syrien und Rom zum Beispiel und ihre Interaktion mit der aufkommenden christlichen Bewegung ließen unterschiedliche gemeinschaftliche Lebensstile entstehen. 2. Die Behauptung von »historischer Notwendigkeit« und »Erfolg« sind Bewertungskategorien, die aus unserer eigenen Erfahrung übernommen sind. Eine derartige Einschätzung setzt soziologische mit theologischer Bewertung gleich. Es scheint, daß in den besprochenen Studien das soziologische Konzept» Erfolg« der archimedische Punkt für theologische Bewertungen ist. Was zu diesem Erfolg wesentlich gehört, wird von verschiedenen Positionen zwar unterschiedlich, aber stets monolithisch bestimmt. Implizit vertreten sie die Behauptung, daß die fortschreitende Patriarchalisierung der frühchristlichen Bewegung aus soziologisch-politischer Sicht unvermeidbar war. Die frühchristlichen Gruppen hätten sich an die patriarchalen institutionellen Strukturen der Gesellschaft anpassen und sie übernehmen müssen, wollten sie wachsen, sich entwickeln und historisch überleben. Dies impliziert, daß die Institutionalisierung der egalitär-charismatischen frühchristlichen Bewegung notwendig zur Patriarchalisierung kirchlicher Leitungsfunktionen führen mußte, das heißt zum Ausschluß von Frauen aus dem kirchlichen Amt oder zur Herabsetzung der Leitungspositionen von Frauen zu untergeordneten, femininen, marginalen Rollen. Je stärker die frühchristliche Bewegung institutionalisiert wurde, desto rigoroser hätten Christinnen aus Kirchenleitung und kirchlichem Amt ausgeschlossen werden müssen. Sie seien in machtlose Randgruppen abgedrängt worden oder hätten sich den weiblichen Stereotypen der patriarchalen Kultur gleichförmig machen müssen. Zum Beispiel habe das patristische Amt der Witwe und Diakonin sich auf Frauendienstleistungen beschränken müssen und sei schließlich völlig aus der Geschichte verschwunden. Darüber hinaus hätten diese Leitungsfunktionen nicht mehr von allen Frauen ausgeübt werden können, sondern nur von denen, die ihre Weiblichkeit durch ihre Entscheidung, Jungfrau zu bleiben, überwunden hätten - und das alles mit soziologischer Notwendigkeit. Diese Bewertung der frühchristlichen Entwicklung scheint genau zu beschreiben, welche Konsequenzen und welche Verluste die allmähliche Patriarchalisierung der christlichen Kirche bewirkt hat. Jedoch reflektiert sie ihre eigenen androzentrischen theologischen Voraussetzungen nicht, da sie über die Tatsache hinwegsieht, daß die Geschichte des frü-
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hen Christentums aus der Perspektive der historischen Sieger geschrieben ist. In den meisten Fällen spiegelt offizielle christliche Geschichte und Theologie nur jene Teile der Kirche wider, die sich dem Patriarchalisierungsprozeß unterzogen und ihn durch die Formulierung des Kanons theologisch legitimiert haben. Insofern als dies soziologisch-politische Bewertungsmodell es als historische Notwendigkeit darstellt, daß Frauen aus dem kirchlichen Amt eliminiert und in einer patriarchalen Kirche marginalisiert wurden, rechtfertigt es den patriarchalen Institutionalisierungsprozeß als die einzig mögliche und historisch lebensfähige soziologische Gestalt der KircheY Sowohl das androzentrische theologische Modell als auch die patriarchalen soziologischen Modelle der Rekonstruktion frühchristlichen Lebens und frühchristlicher Gemeinde setzen voraus, daß der Patriarchalisierungsprozeß der Kirche historisch unvermeidbar war. Sie behaupten, daß die frühchristliche Theologie und Praxis, die Frauen als gleichgestellte Christinnen und Jüngerinnen anerkannte, entweder »häretisch« oder »charismatisch« und daher theologisch und soziologisch nicht lebensfähig war. Keines dieser Modelle kann sich eine christliche Kirche oder eine Gesellschaft vorstellen, in der Frauen und Männer gleichgestellt sind. Daher ist es aus methodischen Gründen notwendig, diese Interpretationsmodelle zur Rekonstruktion des frühen Christentums zurückzuweisen und nach einem neuen Modell zu suchen, das sowohl egalitäre wie patriarchale »häretische« und »orthodoxe« Traditionen in die eigene Sicht integrieren kann. Da das gesuchte Interpretationsmodell die Gleichrangigkeit aller ChristInnen zur Voraussetzung und Grundlage hat, kann es feministisch genannt werden. 3. Die sozialgeschichtlichen Studien zum frühen Christentum benutzen a-familialen oder anti-familialen Lebensstil als analytischen Schlüsselbegriff für die Jesusbewegung und Patriarchalismus als analytischen Schlüsselbegriff für die frühchristlichen Gemeinden in der griechisch-römischen Welt. Doch eine kritische Analyse oder systematische Reflexion dieser Begriffe hat bisher noch nicht stattgefunden. Eine kritisch-feministische Bewertung muß daher darauf aufmerksam machen, daß die zunehmende Patriarchalisierung gewisser Teile der frühchristlichen Bewegung weiterer Erforschung bedarf. Die historisch-soziologische Darstellung der allmählichen Patriarchalisierung des frühen Christentums, die an verschiedenen Orten und in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Geschwindigkeit und unterschiedliche Formen annahm, beweist nicht, 42 V gl. auch meinen Aufsatz: E. Schüssler Fiorenza, »Y ou are notto be called Father«. Early Christian History in a Feminist Perspective, in: Cross Currents 39 (I979) 30I323, v. a. 3I2-3I5·
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daß diese Entwicklung historisch notwendig oder theologisch richtig war. Feministisch-theologische Bewertung, nicht theologische Rechtfertigung ist hier gefordert. Eine kritisch-feministische Einschätzung der patriarchalisierenden Dynamik in der frühchristlichen Geschichte wird zusätzlich erschwert durch die Einsicht, daß frühchristliche Geschichte nicht apriori mit der herrschenden patriarchalen Kultur gleichgesetzt werden kann, sondern die Geschichte einer neu entstehenden Gruppe ist, die von der herrschenden Gesellschaft und Religion nicht anerkannt wurde. Ein theoretisches Modell zur Rekonstruktion frühchristlicher Frauengeschichte muß daher der Tatsache gerecht werden, daß frühchristliche Frauen als Frauen zu einer gesellschaftlichen Gruppe gehörten, die unter die dominante Gruppe der Männer subsumiert und daher unsichtbar gemacht wurde, und als Christinnen zu einer neu auftauchenden Gruppe, die von der herrschenden patriarchalen Gesellschaft und Kultur noch nicht anerkannt wurde.
Zum Problem der Frauengeschichte In den letzten zehn Jahren haben Historikerinnen das wissenschaftstheoretische Problem formuliert, wie wir vom androzentrischen Text zum historischen Kontext gelangen und Frauen in die Geschichte zurückschreiben können. 43 Besonders Historikerinnen der neueren amerikanischen Geschichte haben aufgezeigt, daß die Aufgabe feministisch-historischer Interpretation darin besteht, das Leben aller Frauen - als Reaktion von Frauen auf soziale Veränderungen, die ihr Leben berühren - zum Zentrum historischer Rekonstruktion zu machen und ebenso zum Zentrum der Frauenpolitik, die gesellschaftliche Strukturen und Institutionen zu transformieren und zu verändern sucht.
43 Vgl. z. B. Lois W. Banner, On Writing Women's History, in: T. K. Raab/R.l. Rotberg (Hg.), The Family in History , New York 1971; Berenice A. Carroll (Hg.), Liberating Women's History. Theoretical and Critical Essays, Urbana 1976; Natalie Zemon Davis, Women's History in Transition, in: Feminist Studies 3 (1976) 83-103; Sheila Rowbotham, Hidden From History. Rediscovering Women in History from the 17th Century to the Present, N ew York 1976, v. a. die Einleitung zur amerikanischen Ausgabe, x-xxxiii; Kathryn K. Sklar, Four Levels ofWomen's History, in: D. G. McGuigan (Hg.), New Research on Women, Bd. 3, Ann Arbor 1977, 7- 10;Jane Lewis, Women Lost and Found. The Impact of Feminism on History, in: Dale Spender (Hg.), Men's Studies Modified. The Impact of Feminism on the Academic Disciplines, Oxford-NewYork 1981, 73-82.
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Feministische Historikerinnen fragen, was es zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte bedeutet hat, eine Frau zu sein, und sie erforschen die subjektiven Reaktionen von Frauen auf ihre Umwelt ... Kurz gesagt: Neue Zugänge zur Frauengeschichte versuchen, Frauen in die amerikanische Standardgeschichte zu integrieren, statt »die Frau« als Sonderkategorie zu isolieren. 44 Deshalb machen Historikerinnen darauf aufmerksam, daß die Literatur über Frauen in der Geschichte deswegen oft allzu unzulänglich ist, weil sie sich engsichtig auf »die Frau« als topologische oder heuristische Kategorie konzentriert und nicht neue Denkraster erforscht, die es erlauben würden, Frauen zum Zentrum menschlicher sozialer Beziehungen und politischer Institutionen zu machen. Feministische Historikerinnen stellen die androzentrische wissenschaftliche Kategorie »historische Signifikanz« infrage und zeigen außerdem auf, daß viele historische Quellen zu Frauen nicht deskriptiv, sondern präskriptiv sind. In der Geschichtsschreibung werden Frauen weiterhin ignoriert, obwohl die Auswirkungen ihres Lebens und Handelns eine Realität in der Geschichte sind. Ideen von Männern über Frauen spiegeln nicht die historische Realität von Frauen wider, da sich beweisen läßt, daß ideologische Polemik über Ort, Rolle und Wesen »der Frau« sich immer dann steigert, wenn die tatsächliche Frauenemanzipation und die aktive Teilhabe von Frauen an der Geschichte stärker werden. Während die durch die Debatte um die Frauenbibel hervorgerufene theologisch-historische Hermeneutik dazu tendiert, die feministische Bedeutung von Schrift und biblischer Vergangenheit entweder in dem transzendentalen »noch etwas anderem« der androzentrischen Tradition oder in der heiligen Sphäre der feministischen Selbst, die sich aus dem Patriarchat davongemacht haben, anzusiedeln, stellen einige feministische Historikerinnen das androzentrisch-patriarchale Modell der Geschichte überhaupt infrage. Sie verwerfen es als archaisches und beinahe sinnloses Bezugsmodell, weil es uns nicht erlaubt, Frauen zum Zentrum historischer Untersuchung zu machen. Allerdings stellen uns weder Mary Beard mit ihrer heuristischen Kategorie »Frauen als zivilisierende Kraft in der Geschichte«45 noch Gerda Lerner mit ihrer heuristischen Kategorie »die vergessene Mehrheit«46 ein akzeptables theoretisches Raster für die Rekonstruktion von Frauengeschichte zur Verfügung. 44 A. D . GordonlM. j. BuhleINancy Schrom Dye, The Problem of W omen' s History , in: Carroll (Hg.), Liberating Women's History, 75-92.83f. 45 Mary R. Beard, Woman as Force in History. A Study in Traditions and Realities, NewYork I962. 46 Gerda Lerner, The Majority Finds Its Past. Placing Women in History, Oxford
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Das gesuchte theoretische Modell müßte nicht nur »eine Vision der historischen Rolle von Frauen als gleichzeitig im Zentrum und am Rand sozialer Beziehungen angesiedelt enthalten«47, sondern auch das Patriarchat als Quelle von Frauenunterdrückung und Frauenmacht zugleich erforschen. Ein solches Interesse von Frauen an ihrer eigenen Sozialgeschichte ist dem Interesse kolonisierter Völker am Ausgraben ihrer Vergangenheit sehr ähnlich. Die Suche nach dem Verstehen kollektiver Lebensbedingungen und der Beziehung von Rassenzugehörigkeit zur herrschenden Gesellschaft hat es Schwarzen ermöglicht, ihre Stärke und soziale Bedeutung und die Quellen ihrer Unterdrückung ausfindig zu machen. Überdies hat dieser Prozeß ein analytisches Raster zur Verfügung gestellt, das ihnen gestattet, ihre Zusammengehörigkeit aufgrund ihrer historischen Erfahrung zu erkennen und nicht einfach nur aufgrund rassischer Differenz zur herrschenden Kaste. 48 Wie HistorikerInnen, die die Geschichte anderer unterdrückter Gruppen und Völker erforschen, suchen feministische Historikerinnen androzentrische Dokumente eifrig und gründlich auf feministischen Sinn hin ab, um dadurch die patriarchale Vergangenheit denen wieder zurückzugeben, die nicht nur die Qual ihrer Unterdrückung erleiden mußten, sondern auch an ihrer sozialen Transformation und Entwicklung beteiligt waren. Feministische Historikerinnen suchen daher ein theoretisches Denkmuster, das die dialektische Spannung in der historischen Existenz von Frauen durchhält, die zwischen ihren Rollen als in der Geschichte aktiv Handelnde und als Objekte patriarchaler geschichtlicher Unterdrückung besteht. Da die Geschlechterpolarität durch die patriarchale Unterdrükkung erzeugt wird, ist sie nicht »natürlich«, sondern sozial entstanden. 49 1979 (vgl. auch die auszugsweise deutsche Übersetzung: Die »Herausforderungen« der Frauengeschichte, in: R. Duelli-Klein/M. Nerad/S. Metz-Göckel (Hg.), Feministische Wissenschaft und Frauenstudium, Hamburg 1982, 65-80, A. d. Ü.). 47 Ann]. Lane (Hg.), Mary Ritter Beard. A Sourcebook, N ew York 1977, 65. Vgl. auch Berenice Carroll, On Mary Beard's Woman as Force in History. A Critique, in: dies. (Hg.), Liberating Women's History, 26-41. 48 Carroll (Hg.), Liberating W omen' s History , 85. 49 Vgl. v. a. Hilda Smith, Feminism and the Methodology of Women's History, in: Carroll (Hg.), Liberating Women's History, 369-384; Gayle Rubin, The Traffic in Women. Notes on the Political Economy of Sex, in: R. R. Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975, 157-210.159; Michelle Zimbalist Rosaldo, The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Unterstandings, in: Signs 5 (1980) 389-417, v. a. 400ff.
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Aus diesem Grund lehnen feministische Historikerinnen heuristische Konzepte wie zum Beispiel »biologische Kaste« oder »Frauenerfahrung als von Männererfahrung wesentlich verschieden« ab, denn diese Kategorien machen Frauen zu passiven Objekten von rein biologischen Differenzen oder von Männerherrschaft. Feministische Historikerinnen bemühen sich statt dessen um heuristische Modelle, die geeignet sind zur Untersuchung der historischen Teilhabe von Frauen an der öffentlichsozialen Geschichte und der Bemühungen von Frauen, soziale Strukturen zu begreifen und zu transformieren. Nicht »biologische« Geschlechtsunterschiede, sondern patriarchale Haushalts- und Ehebeziehungen erzeugen die sozio-politische Untergeordnetheit und Unterdrückung von Frauen. Das Patriarchat hat seine Wurzeln im patriarchalen Haushalt und seinen Eigentumsverhältnissen und nicht in angeborenen biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern. Immer wenn die »Privatsphäre« des patriarchalen Hauses von der Sphäre der öffentlichen Ordnung des Staates scharf getrennt wird, sind Frauen abhängiger und ausgebeuteter; in Gesellschaften, in denen die Grenzen zwischen häuslichem und öffentlichem Bereich nicht so scharf gezogen sind, gibt es mehr Gleichheit zwischen den Positionen und Rollen von Frauen und Männern. Während der öffentliche Bereich durch Klassenunterschiede in Schichten aufgeteilt wird, wird der patriarchale Privatbereich durch geschlechtliche Rollenunterschiede und Abhängigkeit bestimmt. Manche Wissenschaftlerinnen, die über Frauengeschichte und Frauenreligion forschen, gehen vom Matriarchat als einer dem Patriarchat gegenüber vorgegebenen oppositionellen Struktur aus. Aber solche matriarchalen Machtstrukturen müssen, falls sie überhaupt nachgewiesen werden können, der »Vor-Geschichte« zugeordnet werden, da schriftlich aufgezeichnete Geschichte patriarchale Geschichte ist. 50 Andere feministische Historikerinnen wollen daher die historische Wirksamkeit und Macht von Frauen nicht auf prähistorische Zeiten beschränken und suchen heuristische Modelle zu entwerfen, die uns helfen können, Macht und Einfluß von Frauen innerhalb patriarchaler Geschichte zu ermessen. Zu diesem Ziel arbeiten sie nicht nur darauf hin, der Geschichte die 50 Vgl. z. B.Joan Bamberger, The Myth of Matriarchy. Why Men Rule in Primitive Society, in: M. Z. Rosaldo/L. Lamphere (Hg.), Woman, Culture and Society, Stanford 1974,263-280; Leila Rupp, Women, Power, and History, in: Women 6 (197 8) 4-9; Rosemary Radford Ruether, Frauen für eine neue Gesellschaft. Frauenbewegung und menschliche Befreiung, München 1979. Zur Auffassung, daß Geschichte und Schrift wesentlich zum Patriarchat gehören, weil sie Menschen verdinglichen, vgl. z. B. Elizabeth Fisher, Woman's Creation. Sexual Evolution and the Shaping of Society, New York 1980.
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Frauen und den Frauen die Geschichte zurückzugeben 51 , sondern auch Geschichte und Kultur als Werk und Erfahrung von Frauen wie Männern neu zu konzipieren. Die Solidaritäts- und Zusammengehörigkeits erfahrung von Frauen 52 beruht nicht auf einem biologischen Unterschied zwischen Frauen und Männern, sondern auf der von allen Frauen geteilten Erfahrung, die sie als unterdrückte Gruppe im Ringen um uneingeschränkte Subjektwerdung machen. 53 Dieses theoretische Modell erlaubt es Frauen, ihre Stärke, ihre historische Wirksamkeit, ihr Leiden und ihren Kampf in ihren gemeinsamen historischen Erfahrungen als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft und Familie festzumachen. Eine Rekonstruktion von Frauengeschichte, die nicht einfach nur auf der bloßen Tatsache des biologischen Geschlechts als zeitloser heuristischer Kategorie basiert, sondern auf Genus, verstanden als sozial erzeugtes Geschlecht in Bezug auf patriarchale Ungleichheitsverhältnisse in den Bereichen des Privaten und des Öffentlichen, eignet sich auch als theoretisches Modell zur Erklärung der Unterschiede von sozialem Status, Klassenzugehörigkeit und kultureller Identität. Die Soziologin Elise Boulding unternimmt den Versuch, die Makrogeschichte von Frauen mithilfe eines Modells, das von Strukturen der »Oberseite des Lebens« und der »Unterseite des Lebens« spricht, zu rekonstruieren. Die Strukturen der »Oberseite des Lebens« umfassen die in der Regel von Männern beherrschte öffentlich-politische Domäne, die Strukturen der »Unterseite des Lebens« bestehen dagegen in der gemeinhin als Frauendomäne angesehenen häuslich-privaten Sphäre. Als Strukturen der »Oberseite des Lebens« bezeichnet sie die bestimmenden gesellschaftlichen Strukturen, in die hinein die Strukturen der »Unterseite des Lebens« manchmal »einbrechen« können. Solche Einbruchsmöglichkeiten stellen zum Beispiel Haushalte mit einer Frau als Vorstand, Netzwerke und Gruppierungen der Frauenkommunikation und philosophisch-religiöse Vereinigungen dar. Wenn Frauen den herrschenden aristokratischen Familien, den unteren ArbeiterInnenschichten oder den Armen angehören, steht es ihnen frei, sich im öffentlichen Bereich zu bewegen, während Mittelschichtfrauen mehr auf das Haus beschränkt sind. 5I Zu diesem Grundkonzept vgl.Joan Kelly-Gadol, The Social Relations of the Sexes. Methodological Implications ofWomen's History, in: Signs I (1976) 809-823.8°9. 52 Glynis M. Breakwell, Woman. Group and Identity, in: Women's Studies International Quarterly 2 (1979) 9-17, vertritt die These, Frauen seien als Gruppe sowohl durch Marginalität als auch durch Macht gekennzeichnet. 53 Zu »Kampf« als Schlüsselbegriff im Werk von Virginia Woolfvgl. Berenice A. Carroll, »To Crush Hirn in Our Own Country«. The Political Thought ofVirginia Woolf, in: Feminist Studies 4 (1978) 99- 13 LI 10.
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Boulding erwähnt zum Beispiel folgende Gruppen von Frauen im antiken Athen, die nicht auf Frauenbereiche eingegrenzt waren: ältere Frauen von hohem Status, arme Frauen und Arbeiterinnen, Sklavinnen, Ausländerinnen, vor allem Händlerinnen, und die »Intellektuellen« oder Hetären, die ebenfalls oft von Geburt Ausländerinnen waren. 54 Boulding verweist darauf, daß Religion und Kirche für soziales Lernen und Interaktion von Frauen einen öffentlichen Raum bereitstellten. Dies ist ihrer Meinung nach der Grund dafür, daß Frauen in den großen Religionen eine so bedeutende Rolle gespielt haben. »Wenn Frauen und Männer am selben der Öffentlichkeit teilhaben, dann erhalten Frauen eine umfassendere Ausbildung, verschiedenartigere soziale Unterstützung und eine breitere Skala von Rollenmodellen, als wenn die Bereiche von Frauen sozial beschränkt sind. «55 Elise Boulding argumentiert gegen die Annahme, hierarchische Herrschafts beziehungen seien universale Bedingungen. Es gebe eine andere Form der Beziehung, nämlich Egalitarismus, »die deutlichste Alternative zu Herrschafts- und Unterordnungsbeziehungen.« Doch basierten solch egalitäre Verhältnisse auf »serieller Reziprozität« oder »alternierender Herrschaft«. Das heißt, innerhalb des Spektrums möglicher Beziehungen - mit Herrschaft und Unterordnung am einen Ende und Altruismus am anderen - stellten egalitäre Verhältnisse als »unstabile« Situationen den Mittelpunkt dar. 56 Altruismus als soziale Beziehung und Organisationsstruktur setze als wesentliche Bedingung voraus, daß die einzelnen Angehörigen einer Gruppe sich so verhalten, daß sie durch ihr Verhalten der Gruppe als ganze nützen, auch wenn es ihnen selbst Nachteile bringt. In der Ehe sei patriarchale Herrschaft zwar vorherrschend, doch nie absolut gewesen, da die Ehe immer auch Möglichkeiten zu egalitären oder altruistischen Beziehungen mit sich gebracht habe. Es scheint, daß diese Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten sozialer Organisationen Wissenschaftlerlnnen befähigen könnte, Entwicklungen der Institutionalisierung sorgfältiger zu bewerten, als es mit dem Muster »Sekte - Institutionalisierung« möglich ist. Während Boulding in soziologischen Modellen bewandert ist, versuchte die Altertumsforscherin Marilyn Arthur ein Modell zu entwikkeln, das uns speziell den Nachweis der historischen Veränderung in den
54 Vgl. Elise Boulding, The Underside of History, Boulder, Colo. 1976,258. 55 A.a.O.,26. 56 Zur Kritik eines Altruismus, der in einer patriarchalen Gesellschaft auf Frauen beschränkt ist, vgl.j. Farr Torney, Exploitation, Oppression, and Self-Sacrifice, in: Philosophical Forum 5 (1975) 206-221; L. Blum/M. Homiak/j. Housman/N. Scheman, Altruism and Women's Oppression, a.a.O., 222-247.
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sozialen Beziehungen in der Antike gestatten soll.57 Arthur kritisiert an der Altertumsforschung über Frauen, daß sie sich nicht um theoretische Raster gekümmert habe, die die »Fakten« über Frauen in der Antike in eine kohärente Konstruktion bringen könnten. Sie selbst schlägt zur Darstellung des sozialen Wandels in Rolle und Status von Frauen ein Interpretationsmodell mit drei Elementen vor: den politischen, ökonomischen, sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Sie zeigt, daß sowohl in der griechischen, wie in der römischen aristokratischen Gesellschaft der Haushalt und die öffentliche Sphäre und Ordnung ein und dasselbe war und daß daher aristokratische Frauen im vordemokratischen Athen und im republikanischen Rom relativ große Freiheit und Kontrolle über ihre Rechte hatten. Jedoch habe sich diese relativ hohe Stellung von Frauen auf Frauen einer bestimmten Schicht beschränkt. Im demokratischen Athen, in dem häusliche und öffentliche Sphäre getrennt wurden, stellte der Haushalt die grundlegende Produktionsbasis dar. Die öffentlich-soziale Ordnung der polis setzte sich aus den männlichen Haushaltsvorständen zusammen, die allein Vollbürger des demokratischen Staates waren. Diese Hypothese wird von Moller Okins in ihrer philosophischen Analyse der Politik von Aristoteles bestätigt, in der sie zeigt, daß die Familie mit einem Mann als Vorstand und nicht die/der individuelle Erwachsene die Grundeinheit politischer Analyse und Theorie ist. 58 In der klassischen Demokratie seien die Ehefrauen von begüterten Bürgern der Mittelschicht auf die Ordnung des Haushalts beschränkt gewesen, auf die Produktion legitimer Söhne und die Aufsicht über Arbeit und Dienste der SklavInnen. Mittelschichtsehefrauen in Athen hätten nicht direkt zur öffentlichen Ordnung gehört und auch nicht direkt an ihr teilgehabt. Nichtbürgerliche Frauen, die Freie waren und aus dem Haushalt und seinen Eigentumszuordnungen herausfielen, hätten völlig andere Lebensbedingungen gehabt und sich in der öffentlichen Sphäre frei bewegen können. Die Rechte der unabhängigen Haushaltseinheit - nicht die der individuellen Frau - seien das Grundprinzip von Gesetzgebung und Sozialisation gewesen. In der hellenistischen Periode habe das Imperium an Bedeutung gewonnen zum Nachteil des individuellen Haushalts und der polis, in der Frauen nun etwas Unabhängigkeit und Einfluß gewannen. BürgerInnen57 Vgl. Marilyn B. Arthur, Wornen in the Ancient World, in: Conceptual Frameworks for Studying Wornen's History (A Sarah Lawrence College Wornen's Studies Publication) New York I975, I-I5. 58 Vgl. Susan Moller Okin, Wornen in Western Political Thought, Princeton I979, I 5-96; zu Plato und Aristoteles vgl. auch Marilyn B. Arthur, Review Essay. Classics, in: Signs 2 (I976) 382-4°3.
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rechte seien nun nicht mehr vom Familienstand abhängig gewesen, und die Gesetze hätten sich nicht mehr so stark auf Frauen als Gebärerinnen legitimer Nachkommen konzentriert. Frauen seien nicht mehr ausschließlich durch ihre Funktion, für rechtmäßige Erben des Haushaltseigentums zu sorgen, definiert worden, sondern hätten selbst über Eigentum verfügt. Im hellenistischen Zeitalter hätten Frauen die BürgerInnenrechte für herausragende öffentliche Dienste erlangt, manche hätten ein Amt innegehabt. Das Paradigma der hellenistischen Frau sei Hipparchia, die Ehefrau des kynischen Philosophen Crates, die sich gegen einen Kritiker, der ihre Teilnahme an öffentlichen Symposien und ihren philosophischen Lebensstil im allgemeinen tadelte, so verteidigte: »Erwecke ich bei dir den Eindruck, ich sei schlecht beraten, wenn ich meine Zeit meiner Bildung widme, statt sie am Webstuhl zu vergeuden?«59 Während für die klassische griechische Kultur Geschlechterpolarität und Dichotomie zwischen Natur und menschlichem Leben charakteristisch gewesen seien, sei in der hellenistischen Periode die Frau nicht mehr als Feindin der Zivilisation gefürchtet und die »natürliche Welt« von Ehe, Sexualleben und Privatleben zur Angelegenheit der allgemeinen Kultur geworden. Im hellenistischen Zeitalter hätten Mysterienreligionen, ekstatische Kulte und philosophische Schulen uneingeschränkt die Teilhabe von Frauen akzeptiert, denn diese Zusammenschlüsse hätten die Welt der Natur nicht mehr als Antithese zu Kultur und Vernunft angesehen. Marilyn Arthur vertritt weiterhin die These, daß das frührömische Imperium mehr strukturelle Ähnlichkeit mit der klassischen griechischen Demokratie gehabt habe als mit dem Hellenismus, weil in die traditionelle Aristokratie durch Heirat zwischen den sozialen Schichten eine unternehmerische Mittelschicht Eingang gefunden habe. Überdies habe die Gesetzgebung des Augustus die Familie zu stärken versucht, indem sie dem Staat mehr Kontrolle über die Familie eingeräumt habe. Schließlich hätten nun zum ersten Mal römische Schriftsteller, wie Tacitus oder Juvenal, Frauen als Bedrohung der Kultur gesehen und Schmähschriften gegen Frauen veröffentlicht. Arthur muß jedoch selbst einräumen, daß diese offensichtlichen Ähnlichkeiten mit der klassischen griechischen Demokratie durch den Einfluß des Hellenismus auf die römische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht gebracht werden und auch dadurch, daß römische Frauen trotz des traditionellen Konzepts von Paterfamilias und rechtlicher gesetzlicher Vormundschaft viel größere ökonomische und 59 Diogenes von Laerte, Über Leben, Ansichten und Aussprüche der berühmten Philosophen, zitiert nach Marilyn B. Arthur, Liberated Women. The Classical Era, in: Renate BridenthallClaudia Koonz (Hg.), Becoming Visible. Women in European History, Boston 1977, 60-89-76.
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rechtliche Unabhängigkeit hatten. Weit davon entfernt, patriarchale Ehe und Familie zu stärken, habe die Gesetzgebung des Augustus sogar die patriarchale Macht des Paterfamilias noch mehr untergraben und Frauen die Möglichkeit zu wirklicher Emanzipation aus pro forma rechtmäßiger Vormundschaft gegeben. Darüber hinaus hätten sich Frauen frei und uneingeschränkt an öffentlichen Veranstaltungen und Festen beteiligt. Eine Studie von Ramsey McMullen zeigt, daß Frauen - wenn auch zahlenmäßig weniger - ebenso wie Männer öffentliche Ämter innehatten und Funktionen als reiche Patroninnen ausübten - wenn sie auch keine offiziellen politischen Ämter bekleideten. 60 Anscheinend waren also Gesetzgebung des Augustus wie auch frauenfeindliche Literatur Versuche von Mittelschichtmännern, die öffentlichen, gesetzlichen und ökonomischen Freiheiten und Rechte begüterter Frauen zu beschneiden und eindeutige Grenzen zwischen der öffentlichen Sphäre, die den Männern vorbehalten sein sollte, und der privaten Sphäre von Frauen zu errichten. Doch sind diese Versuche als Vorschriften zu verstehen, sie beschreiben nicht, wie Situation und Leben im römischen Hellenismus wirklich waren. In den heuristischen Modellen von Frauengeschichte als Geschichte der sozio-institutionellen Wechselbeziehungen von Frauen mit Männern, tritt der Bereich der Religion als »Mittelzone« zwischen dem (Männer-)Bereich des Öffentlichen und dem privaten (Frauen-)Bereich des Haushalts in Erscheinung. Während für eine aristokratische Gesellschaft die sozialen Klassenbeziehungen die Grenzen zwischen diesen beiden Sphären festlegen, bestimmen in einer demokratischen Gesellschaft Geschlechterrollen und sexuelle Differenzen diese Grenzen, insofern als die Eigentumsrechte des männlichen Haushaltsvorstands die patriarchale Familie als Haupteinheit der Gesellschaft bestimmen. Obwohl Religion sich traditionell auf beide Bereiche, den öffentlichen und den privaten, erstreckt, wurde die Partizipation von Frauen auf die Religion des Haushaltsvorstands beschränkt, insofern als religiöse Feste und Ämter die Polarität der öffentlichen und privaten Bereiche widerspiegelten und die religiösen Rechte von freigeborenen Frauen, SklavInnen und Kindern durch den Paterfamilias entschieden wurden. Insofern als die Teilhabe an Mysterienkulten und philosophischen Schulen von einer persönlichen Entscheidung für eine bestimmte »religiöse Lebensweise« oder eine »persönliche« Religion abhängig war, wurde in hellenistisch-römischer Zeit Religion zu einer dritten Sphäre zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich. Hellenistische 60 Vgl. Ramsay MacMullen, Women in Public in the Roman Empire, in: Historia 29 (r98r) 208-2r8.
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Kulte und Vereinigungen waren daher für die Ordnung von patriarchalern Haushalt und Staat stets potentiell subversiv. Aus diesem Grund finden wir in der römisch-hellenistischen Literatur häufig Polemik gegen diese Kulte: Sie untergrüben die Moral der Frauen und erlaubten ihnen, nachts allein aus dem Haus zu gehen. Für rechtlich und ökonomisch unabhängige Frauen, die kulturell und religiös marginal waren, jedenfalls stellten diese religiösen Vereinigungen ein Mittel dar, ihre Statusdiskrepanz zu überwinden. Diese emanzipatorische Funktion und nicht die soziale und sexuelle Marginalität von Frauen als kinderlose Frauen oder Witwen war es meiner Meinung nach, die die orientalischen Kulte, darunter das Judentum und Christentum, für Frauen anziehend machte. 61 Das a-sexuelle und afamiliale Ethos des frühen Christentums, das oft als sexualitäts- und frauenfeindlich mißverstanden wird, war in Wirklichkeit Anzeichen einer »Rollenrevolte«, die es Frauen erlaubte, legitimerweise aus den Grenzen der patriarchalen Familie auszuziehen und ihr Leben auf spirituelle Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit zu zentrieren, die ihnen mehr Ansehen, Mobilität und Einfluß gewährten. S. Johannson zeigt, daß die frauenfeindliche Polemik von Schriftstellern, Theologen und Historikern als Ausdruck von Mittelschichtmännern zu verstehen ist, deren psychische und ökonomische Realität stark von täglicher Konkurrenz bestimmt war. Sie betonten daher den »natürlichen« Unterschied zwischen Frauen und Männern übermäßig, damit sie nicht von Frauen verdrängt werden konnten. Während in einer aristokratischen Gesellschaft von Frauen der oberen Schichten erwartet werde, daß sie in Kriegszeiten oder Todesfällen Männer ersetzten, seien Mittelschichtmänner nicht von der Loyalität und den Hilfsquellen, die die Frauen ihrer Schicht bieten, abhängig, sondern darauf angewiesen, die Hilfsquellen, die die Familie darstellt, mit größtmöglicher Effizienz auszuschöpfen. 62 Da für Mittelschichtmänner in städtischen Kulturen männliche Identität durch intensive Sozialisation und aufwendige Ausbildung erzeugt wird, »bedrohte die natürliche und berufliche Ähnlichkeit zwischen Männern und Frauen die ökonomische, psychologische und soziale Sicherheit von Mittelschichtfamilien«. Während Mittelschichtmänner symbolische und literarische Ausdrucksformen für Geschlechterpolarität und Frauenfeindlichkeit erzeugten, sei das Leben von BäuerInnen und ArbeiterInnenklasse 61 Zu dieser These vgl. Ross S. Kraemer, The Conversion ofWomen to Ascetic Forms of Christianity, in: Signs 6 (1980) 298-3°7. 62 Vgl. Sheila RyanJohansson, »Herstory« as History. A New Field or Another Fad?, in: Carroll (Hg.), Liberating Women's History, 400-430.413f.
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im allgemeinen durchwirkt von symbolischen Manifestationen männlicher Überlegenheit ... Männer, die aufgrund ökonomischer und sozialer Benachteiligungen täglich Demütigung und Frustration erfahren, finden Trost höchster Bedeutung darin, daß sie auf Frauen herabsehen und sie mißbrauchen. Dieser psychologische Puffer gegen Unterdrückung macht Klassenausbeutung erträglicher und vielleicht wie manche Feministinnen meinen - dauerhafter. 6) Es sei jedoch der Mittelschichtmann, der die androzentrischen kulturellen, historischen und religiösen Texte erzeugt, die Frauen marginalisieren oder ihr »anderes Wesen« betonen. Zusammenfassung: Feministisch-soziologische Modelle zur Rekonstruktion von Geschichte, die patriarchale Haushalts- und Familienstrukturen als heuristische Kategorien verwenden, sind hilfreich für die Untersuchung des a-familialen Charakters und des Liebespatriarchalismus der frühchristlichen Bewegung. Darüber hinaus verbinden sie dies heuristische Konzept mit einer Klassenanalyse, die die soziale Situiertheit androzentrischer Texte und Symbolisierungen deutlich macht. Schließlich zeigen sie, daß die Definitionen von sexueller Rolle und Geschlechterpolarität Folge der sozio-ökonomischen Interaktionen zwischen Männern und Frauen und weder von Natur gegeben noch durch Gott verfügt sind. Wenn die Exegese des Neuen Testaments frühchristliche Geschichte mit Hilfe der Kategorien »patriarchaler Haushalt« und "Liebespatriarchalismus« neu konzipiert, wird es wichtig, nicht einfach nur die Rolle der Frau zu analysieren, sondern erstens den bürgerlichen Hintergrund neutestamentlicher ExegetInnen zu berücksichtigen und zweitens Haushaltsstrukturen und ihre religiöse Bedeutung im römischen Hellenismus zu analysieren. Außerdem darf solch ein sozio-strukturelles Verständnis der Rolle von Frauen im frühen Christentum Leben und Situation von jüdischen, griechischen, asiatischen und römischen Frauen nicht als »Hintergrund« konstruieren, sondern muß statt dessen zeigen, wie sehr deren Bekehrung zum Christentum das patriarchal-kulturelle Ethos unterbrach und emanzipatorische Tendenzen in den römisch-hellenistischen Kontexten unterstützte. Wann auch immer die christliche Bewegung Geschlechterpolarität und patriarchale Herrschaft verwarf und die starre Trennung von öffentlichem und privatem religiösem Bereich durchbrach, unterstützte und förderte sie die polItische und kulturelle Emanzipation von Frauen. Wann auch immer die christliche Bewegung solch kulturelle Geschlechterpolarität religiös rechtfertigte und die Grenzen zwischen privatem und öf63 A.a.O., 415.
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fentlichem Bereich verhärtete, indem sie Frauen ins Haus abdrängte und die öffentliche Leitung der Kirche nur Männern übertrug, verstärkte sie die patriarchalen Tendenzen von Mittelschichtmännern im römischen Hellenismus. Die Erinnerung an das Leiden von Frauen am religiösen Patriarchat muß strukturell untersucht werden, um die emanzipatorische Kraft der christlichen Gemeinde freizusetzen, deren Wurzeln weder in der Polarität von Spiritualität und Sexualität noch in kirchlich-patriarchaler Herrschaft, sondern in egalitärer Vision und in altruistischen sozialen Beziehungen, die sich nicht durch Geschlechtszugehörigkeit definieren lassen, ihren theologischen Grund haben. 64 Weil die christliche Bewegung in Konflikt zum herrschenden patriarchalen Ethos der griechisch-römischen Welt stand, konnten Frauen, die in der Antike zu einer unterdrückten und unsichtbaren Gruppe gehörten, in der zunehmend in Erscheinung tretenden christlichen Bewegung Führungseigenschaften entwickeln. Daher können Kampf und Interaktion von Frauen in der christlich-missionarischen Bewegung nur als integraler Teil des Kampfes zwischen der aufkommenden christlichen Bewegung mit ihrer alternativen Vision einerseits und dem herrschenden patriarchalen Ethos der griechisch-römischen Welt anderseits rekonstruiert werden. In diesem Kampf wurde die Führungsrolle von Frauen erneut unterdrückt, verändert oder an die Ränder der Großkirchen gedrängt. Aber die egalitären Tendenzen des frühen Christentums sind niemals ganz eliminiert worden. Die patriarchalen Großkirchen des vierten wie des 20. Jahrhunderts können ohne diese christliche »Unterströmung« nicht verstanden werden. Das von mir hier vorgeschlagene soziologisch-theologische Modell zur Rekonstruktion der frühchristlichen Bewegung sollte demnach nicht mißverstanden werden als Modell zur Suche nach den wahrhaft unverfälschten, orthodoxen Anfängen, die dann entweder durch Frühkatholizismus oder durch »Häresie« verfälscht worden seien. Es soll auch nicht als Argument dafür angesehen werden, daß für das historische Überleben des Christentums eine institutionelle Patriarchalisierung völlig unumgänglich gewesen sei. Das Modell, das ich hier anwende, ist das Modell von sozialer Interaktion und religiöser Transformation, von christlicher »Vision« und historischer Verwirklichung, vom Kampf um Gleichheit und gegen patriarchale Herrschaft. 64 Die einzige in der ersten Person verfaßte Erzählung einer Frau, die übrig geblieben ist, bezeugt dies. Vgl. Mary R. Lef/eowitz, The Motivations for St. Perpetua's Martyrdom, in: Journal of the Arnerican Acaderny of Religion 44 (I976), nachgedruckt in: dies., Heroines and Hysterics, New York I98I, 53-58; vgl. auch Einführung und Übersetzung von The Martyrdorn of Perpetua von Rosernary Rader, in: P. WilsonKastner u. a., A Lost Tradition. Wornen Writers of the Early Church, Washington, D. C. 1981, 1-32.
TEIL 11 ZU IHREM GEDÄCHTNIS . .. FRÜHCHRISTLICHE FRAUENGESCHICHTE ALS GESCHICHTE DER NACHFOLGEGEMEINSCHAFT VON GLEICHGESTELLTEN Gleich von Anfang an sieht sich eine feministische Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge drei Problemen gegenüber: Erstens: Lassen sich zwei deutlich verschiedene Formen der frühchristlichen Bewegung entwerfen, oder sind diese zwei unterschiedlichen Richtungen lediglich Produkte unserer Literatur? Während die Evangelien Geschichten und Traditionen über Jesus überliefern, enthält die paulinische Literatur so gut wie keine Hinweise auf das Leben des J esus von N azareth, sondern stellt uns nur Informationen über die christlichen Missionsgemeinden und ihren Glauben zur Verfügung. Zweitens: Wie können wir die historischkritische Methode so anwenden, daß wir über die Evangelientexte hinaus zur historischen Wirklichkeit Jesu und seiner Bewegung gelangen? Und schließlich drittens: Wie können wir die Ursprünge der frühchristlichen Bewegung rekonstruieren, so daß wir die Geschichte christlicher Frauen zugleich als Geschichte jüdischer Frauen wiedergewinnen, da unsere Quellen eine Rückgewinnung unserer jüdisch-feministischen Wurzeln erschweren? I. Wie bereits erwähnt, versuchen manche Bibelwissenschaftlerlnnen, den Unterschied zwischen der Jesusbewegung in Palästina und der christlichen Bewegung in den griechisch-römischen Städten - ausgehend von der literarischen Quellenbasis - als Unterschied zwischen J esus und Paulus zu beschreiben. I J esus habe das Kommen des Reiches Gottes in unmittelbar bevorstehender Zukunft gepredigt, Paulus dagegen das Christentum gegründet. Andere Bibelwissenschaftlerlnnen schlagen vor, bei der Suche nach dem charakteristischen Unterschied beider BeI Vgl. Leander E. Keck, Ethos and Ethics in the New Testament, in: James Gaffney (Hg.), Essays on Morality and Ethics, New York 1980, 29-49. Keck benennt vier charakteristische Unterschiede zwischen Jesus und Paulus: I.) Paulus beschränkt seine Mission auf die Städte, J esus auf ländliche Gebiete. 2.) Paulus und Jesus unterscheiden sich hinsichtlich ihrer ökonomischen Sicherheit. 3.) Paulus war der Apostel der Heidinnenmission, Jesus beschränkte seine Mission auf das .Haus Israel«. 4.) Paulus schuf eine neue Gemeinschaft, Jesus suchte eine alte Gemeinschaft zu erneuern.
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wegungen über die Texte hinauszugehen. Sie geben daher als entscheidenden Unterschied die Differenz zwischen jüdisch-palästinischer und griechisch-römischer Umwelt, ländlicher und städtischer Umwelt oder zwischen radikaler Nachfolge heimatloser WanderpredigerInnen und integrativem Liebespatriarchalismus an. Doch keine dieser Unterscheidungen - von denen jede jeweils andere Aspekte und Facetten des Problems beleuchtet - erfaßt das Problem adäquat. Es stimmt, daß J esus die J esusbewegung in Palästina ins Leben gerufen hat, es stimmt jedoch nicht, daß Paulus Initiator der christlichen Missionsbewegung in der griechisch-römischen Welt war. Die Unterscheidung von jüdischer und hellenistischer Kultur, wie auch von ländlicher und städtischer Umwelt ist wichtig, doch zur Zeit J esu war Palästina hellenisiert und war in der Diaspora die strikte Beachtung von Thora und Tempelkult verbreitete Praxis. Ferner sind die Jesustraditionen nicht auf das ländliche Palästina beschränkt, sondern haben auch in den städtischen christlichen Gemeinden gestaltenden Einfluß ausgeübt. Beide Bewegungen wurden von JüdInnen ins Leben gerufen und verbreitet, aber schon in einem sehr frühen Stadium machten sich ProselytInnen, Gottesfürchtige und HeidInnen die palästinischen Jesustraditionen zu eigen, um sie den Menschen ihrer eigenen kulturell-religiösen Welt zu verkünden. Daher lassen sich die Differenzen zwischen beiden Bewegungen und ihren historischen Gestalten nicht durch »Kontext«, »Hintergrund« (jüdisch-palästinisch/jüdisch-hellenistisch oder ländlich/städtisch) oder »Inhalt« Gesus/Paulus), sondern nur durch ihre Funktion bestimmen. Die Jesusbewegung in Palästina war eine alternative prophetische Erneuerungs bewegung in Israel, die christliche Bewegung dagegen eine Missionsbewegung in der griechisch-römischen Welt, die eine alternative religiöse Vision predigte und einen gegenkulturellen Stil des Gemeindelebens praktizierte. Beide Bewegungen riefen Spannungen und Konflikte mit dem herrschenden kulturellen Ethos hervor. Aber während sich die J esusbewegung gegenüber bestimmten Verhaltensweisen in Israel auf Israels Tradition als ihre eigene religiöse Tradition berufen konnte, brach die christliche Bewegung als neue religiöse Gruppe in das herrschende kulturell-religiöse Ethos der griechisch-römischen Welt als fremdes Elementem. Während die Jesusbewegung sich nach Ostern in Galiläa und Jerusalern sammelte, um J esu Dienst an der Erneuerung Israels fortzuführen, und nur ganz allmählich ihre Grenzen ausdehnte und nicht jüdische NachbarInnen einbezog, entstand die christliche Bewegung im syrischen Antiochia und scheint stark von der Vertreibung der sogenannten HellenistInnen aus der Heiligen Stadt bestimmt gewesen zu sein. Während die
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J esusbewegung den Verarmten und Ausgestoßenen im eigenen Volk das Hereinbrechen des Reiches Gottes als frohe Botschaft verkündete, weitete die christliche Bewegung die inklusive Ausrichtung der Vision und Bewegung J esu über die Angehörigen Israels hinaus auch auf die HeidInnen aus. So konstituierte sich die christliche Bewegung in dem Moment, als sie HeidInnen als gleichberechtigte Mitglieder in die Gemeinde aufnahm, ohne von ihnen zu verlangen, daß sie erst Mitglieder des jüdischen Bundesvolks werden. Es war nicht in Galiläa und auch nicht in J erusalern, sondern in Antiochia, wo »den JüngerInnen zum ersten Male der Name ChristInnen gegeben wurde« (Apg II,26): religiöse AnhängerIn~ nen Christi. Dieser Vorgang der Namensgebung zeigt, daß die Jesusbewegung schon in einem sehr frühen Stadium als eigene religiöse Vereinigung und Gruppierung angesehen wurde. 2 Als religiöse Missionsbewegung brach die christliche Bewegung in das herrschende patriarchale Ethos der römisch-hellenistischen Kultur und Religion ein, während die Jesusbewegung als alternative jüdische Erneuerungsbewegung in einem gespannten Verhältnis zum herrschenden patriarchalen Ethos ihrer eigenen Kultur stand. Beide Bewegungen wurden zuerst von gläubigen JüdInnen ins Leben gerufen und entfaltet. Segmente der Jesusbewegung beschränkten sich jedoch bald nicht mehr auf jüdische Mitglieder, sondern nahmen HeidInnen als Vollmitglieder auf, ohne von ihnen die Bekehrung zum Judentum zu verlangen. Als innerjüdische Erneuerungsbewegung konnte die Jesusbewegung ein gemeinsames kulturell-religiöses Milieu voraussetzen. Im Gegensatz dazu mußte die Missionsbewegung sich an Personen sehr verschiedener kultureller Erfahrung, nationaler Herkunft, sozialer Stellung und religiöser Überzeugung wenden. Die religiösen Nährböden beider Bewegungen unterschieden sich beträchtlich, ihr umfassender kultureller Nährboden dagegen war derselbe, da der kulturelle Horizont des palästinischen Judentums die römisch-hellenistische Kultur war. Daher läßt sich die Differenz zwischen den beiden Bewegungen nicht auf J esus und Paulus zurückführen, sondern nur auf die Entwicklung zweier deutlich verschiedener Gruppen, die unter verschiedenen Bedingungen lebten und von unterschiedlichen Zielen angetrieben wurden. Folglich beriefen sie sich auf unterschiedliche religiös-politische Erfahrungen und auf unterschiedliche theologische Legitimationen. Beide Bewegungen waren inspiriert von J esus, dem Christus, aber sie sahen ihn in völlig unterschiedlichem Licht. Die christliche Missionsbewegung hatte sich schon vor Paulus entwickelt, und Paulus schloß sich ihr an. Für uns ist er ihre bedeutendste Figur, weil seine Briefe nicht in Vergessenheit ge2
Vgl. Martin Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stungart 1979, 871'.
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raten sind, sondern überdauert haben. Doch Paulus ist weder Urheber, noch einzige Führungsperson der christlichen Missionsbewegung. Paulus im Kontext dieser Bewegung zu sehen3, ist daher fruchtbarer, _ als die gesamte Geschichte der christlichen Mission vor und während der Wirksamkeit des Paulus ausschließlich als Geschichte seiner Führung und unbestrittenen Autorität zu konstruieren. Eine historische Rekonstruktion vom Standpunkt paulinischer Texte aus hat gewöhnlich andere christliche Gruppierungen und Visionen als »GegnerInnen« des Paulus verstanden, die damit als »heterodox«, d. h. als theologisch oder historisch falsch beurteilt wurden, während Paulus als Repräsentant der »orthodoxen« apostolischen Position angesehen wurde. Einer solchen Konstruktion fehlt jedoch die geschichtliche Grundlage, da die Paulusbriefe deutlich zeigen, daß Paulus und seine Missionstätigkeit sehr umstritten und alles andere als von allen Teilen der frühchristlichen Bewegung anerkannt war. Überdies ist die Tatsache, daß Paulus sich nur selten auf Leben und Dienst Jesu bezieht und statt dessen Tod und Auferstehung Christi, »des« Kyrios, betont, kein Beweis dafür, daß die Jesustraditionen in den Gemeinden, an die er geschrieben hat, nicht lebendig gewesen wären. Die Sicht des Paulus im Kontext einer vor der »Bekehrung« des Paulus ins Leben gerufenen christlichen Missionsbewegung erlaubt uns schließlich auch, diese Bewegung so zu begreifen, daß Frauen als Initiatorinnen und Leiterinnen der Bewegung in Erscheinung treten können und nicht nur als vom großen Apostel huldvoll geduldete Gehilfinnen, die er für sein eigenes missionarisches Werk gebrauchte. 2. Die soziale Welt und die Vision der Jesusbewegung als innerjüdischer Erneuerungsbewegung spiegelt sich in den Berichten der Evangelien über Jesus von Nazareth wider. Diese Berichte waren einem theologischen Redaktionsprozeß ausgesetzt und verkörpern einen überaus langen Traditionsprozeß, der zum Teil erst in den christlichen Missionsgemeinden abgeschlossen wurde. Daher dürfen die Evangelien nicht als wirklichkeitsgetreue Nacherzählung des Lebens und Wirkens des historischen Jesus oder einfach als von ihrem historischen Kontext und ihrer sozialen Welt abstrahierbare Texte verstanden werden. Den neutestamentlichen AutorInnen ging es nicht um Konservierung und antiquarische Lektüre, sondern um Verkündigung und interpretierenden Glauben. Ihre Absicht war nicht, einfach niederzuschreiben, was J esus gesagt und getan hat, sondern sie versuchten zu begreifen, was J esus seinen ersten Nachfolgerlnnen bedeutet hat und welche Bedeutung sein Leben für ihre eigene Zeit und ihre eigenen Gemeinden hatte. Was wir also vom 3 Vgl. David L. Dungan, The Sayings of Jesus in the Churches of Paul, Philadelphia 1971. Der Buchtitel vermittelt dies besser als die Zusammenfassung des Autors, die die »Nähe des Paulus zu den synoptischen Traditionen« zu beweisen sucht (vgl. 139- 150).
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Überlieferungs- und Redaktionsprozeß lernen können, ist folgendes: Wir müssen Jesus - so weit wir noch etwas von ihm wissen - erinnern, diskutieren, interpretieren, annehmen oder zurückweisen, um zu verstehen, welche Bedeutung und welche Impulse von seinem Leben ausgehen. Die Evangelien konzentrieren sich auf Leben und Praxis Jesu, über Frauen sprechen sie nur am Rande. Immer wenn sie Frauen erwähnen, teilen sie ebensoviel über die Gemeinden mit, denen diese Geschichten oder Worte überliefert worden sind, wie über die historischen Frauen im Leben Jesu. Die Evangelien sind also paradigmatische Erinnerungen, sie sind keine umfassenden Berichte über den historischen Jesus, sondern Ausdruck von Gemeinden und einzelnen Menschen, die zu formulieren versuchten, was die Bedeutung J esu für ihre jeweilige Situation war. 4 Frühchristliche Theologie ist - wie jede spätere Theologie - der Prozeß interpretierender Erinnerung an J esus, den Christus. Dieser Prozeß ist gleichzeitig kritische Aneignung der Erinnerungen und Erzählungen über Jesus, die in mündlicher oder schriftlicher Form in der christlichen Gemeinde zirkulierten. Christlich-feministische Theologie muß daher alle Erinnerungen jener Menschen, die sich im Verlauf der christlichen Geschichte auf die von Jesus ins Leben gerufene Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten eingelassen haben und sich JüngerInnen Jesu genannt haben, kritisch im Kontext ihrer jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Situation und Problematik verstehen. Wenn wir uns aber den Impuls, der von J esus und der frühchristlichen Glaubensperspektive des Neuen Testaments ausgeht, theologisch zu eigen machen wollen, dürfen wir es nicht bei dem Versuch belassen, diesen Impuls nur in seinem historischen, linguistischen und theologischen Kontext zu verstehen, sondern müssen versuchen, in eine Auseinandersetzung mit seiner Perspektive, seiner Hoffnung und Weisheit einzutreten. Sich auf die von Jesus ins Leben gerufene Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten einzulassen, bedeutet also nicht, Jesus oder die ChristInnen zur Zeit des Neuen Testaments nachzuahmen. Nachfolge J esu ist niemals eine bloße Wiederholung oder Imitation, sondern eine verbindliche Übernahme frühchristlicher Glaubensperspektiven. Nachfolgen heißt nicht nur Jesu Vision zu teilen, sondern auch sich auf seine Parteilichkeit und Praxis, wie wir sie aus den Erinnerungen seiner ersten JüngerInnen kennen, zu verpflichten. Die Evangelien sind keine Tatsa4 Ausführliche Bibliographien finden sich bei C. E. Carlston, Form Criticism, NT, in: Interpreter's Dictionary of the Bible, Supp!. Bd., Nashville I976, 345-348, und beiR. T. Fortna, Redaction Criticism, NT, in: a.a.O., 733-735. H. C. Kee,Jesus in History. An Approach to the Gospels, wird dort als eine unter vielen einführenden Untersuchungen zur Jesus-Erinnerung in den Evangelien angeführt.
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chenberichte, sondern Einladungen zur Nachfolge. Sie sind theologische »Interpretation im Prozeß«. Dies Verständnis des Neuen Testaments hat wichtige methodologische Konsequenzen. Ziel ist weder, den »historischen Jesus« aus den interpretierenden Erinnerungen seiner ersten NachfolgerInnen heraus zu destillieren, noch deren Interpretation unkritisch und unhinterfragt zu übernehmen. Wenn ich hier von J esus spreche, meine ich daher immer Leben und DienstJesu, so weit sie einer historisch-kritischen Lektüre der ältesten Interpretationen der ersten ChristInnen noch zugänglich sind. Als älteste Interpretationsschichten identifizierte die neutestamentliche Forschung die Logienquelle Q, die aus Textmaterial, das Matthäus und Lukas gemeinsam haben, rekonstruiert werden kann, Material, das Q vorausliegt, vormarkinisches Material, Material, das dem Sondergut des Lukas (SL) oder Matthäus (SM) zuzurechnen ist, und die ältesten Traditionsschichten, die sich im Vierten Evangelium finden. Obwohl diese Texte wahrscheinlich die ältesten, uns historisch überlieferten Informationen über Leben und Dienst J esu und die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten sind, sind sie doch bereits interpretierende und interpretierte Erinnerungen an Jesus. Als historische Sammlung der Erinnerungen an Jesus, die in den frühesten Gemeinden von JüngerInnen zirkulierten, bilden diese Texte den paradigmatischen Informations- und Interpretationsrahmen, in dem sich jede spätere Erinnerung, Diskussion, Aneignung und Neuformulierung von Leben und Dienst Jesu bewegt und auch bewegen muß. Die Jesustraditionen der Evangelien wurden aber nicht nur von diesen ältesten christlichen Erinnerungen an J esus und die J esus bewegung in Palästina beeinflußt, sondern auch von den ältesten Verkündigungen der Auferstehung und des Todes Jesu, die sich in vorpaulinischen, paulinischen und nachpaulinischen Schriften finden. Diese späteren Traditionen zeigen nur sehr geringes Interesse daran, wie J esus von N azareth gelebt und gesprochen hat. Sie befassen sich vordringlich und beinahe ausschließlich mit seinem verklärten Zustand als auferstandener Christus und mit der Bedeutung seines Todes am Kreuz als punktuellem Ereignis in einem kosmischen Geschehen von mythologischen Dimensionen. In diesen christlichen Gemeinden ist die Erfahrung der Geistesmacht und der Auferstehung als Anbruch der neuen Schöpfung entscheidend 5 - weniger dagegen die Erinnerung an J esus von N azareth. Das entscheidende Integrationssymbol ist für die Jesusbewegung in Palästina »Reich Gottes«, für die christliche Bewegung in den griechisch5 Vgl. David John Lull, The Spirit in Galatia. Paul's Interpretation of Pneuma as Divine Power, ehico, ealif. I980, und die dort angeführte Literatur.
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römischen Städten dagegen »die erneuerte Schöpfung,<. Beide Bewegungen stimmen jedoch darin überein, daß die durch diese beiden Symbole zum Ausdruck gebrachte Wirklichkeit hier und jetzt im Wirken Jesu Christi und in seiner Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten erfahren werden kann. 6 Im folgenden werde ich daher den beiden sehr unterschiedlichen Glaubenserfahrungen der ersten N achfolgerInnen J esu und ihren durch gegenseitige Beeinflussungen und spezielle soziohistorische Situationen bewirkten Umformungen nachspüren. Aus methodischen Gründen ist dies wichtig, denn die Erfahrung der jüdischen und hellenistischen Frauen, die sich auf diese Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten einließen, ist uns nicht anders als durch diese allgemeine frühchristliche Erfahrung und Erinnerung zugänglich.
6 Zur Überschneidung von dem alle Frauen und Männer einbeziehenden Ethos Jesu und der paulinischen Rechtfertigungslehre vgl. Nil Aistrup Dahl, The Doctrine of Justification. Its Social Functions and Implications, in: ders., Studies in Paul. Theology for the Early Christian Mission, Minneapolis 1977, 95-120.
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Die Jesusbewegung als innerjüdische Erneuerungsbewegung Über die Jesusbewegung sprechen heißt über eine jüdische Bewegung sprechen, die Teil der jüdischen Geschichte im ersten Jahrhundert n. u. Z. ist. Es ist daher irreführend, von »J esus und seinem jüdischen Hintergrund« zu reden - so als gehöre sein Judesein nicht wesentlich zu seinem Leben und Dienst - oder das Verhalten der JüngerInnen Jesu als Gegensatz zu jüdischer Praxis zu beschreiben - so als seien die ersten, die J esus nachfolgten, nicht selbst JüdInnen gewesen. Solche Aussagen spiegeln sowohl rabbinische jüdische als auch christliche historische Quellen wider, die im Grunde genommen alle in einer Zeit geschrieben wurden, als die Trennung und der Bruch zwischen Judentum und frühem Christentum bereits vollzogen war. Historische Rekonstruktionen des frühen Christentums, die das Christentum im Gegensatz zum Judentum entwerfen, geben dem christlichen Antijudaismus unaufhörlich neue Nahrung, denn sie nehmen die christlichen Anfänge im Licht der späteren historischen Entwicklung wahr, in der sich das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln und seinem jüdischen Erbe getrennt und dieses Erbe zum Teil verworfen hat. Diese antijudaistische Einstellung und historisch falsche Vorstellung ist weit verbreitet und gewöhnlich im »normalen« Bewußtsein von ChristInnen besonders tief verwurzelt. Wenn Studentinnen in meinen Seminaren die positiven Aspekte der Jesusbewegung im einzelnen herausarbeiten sollen, stützen sie sich immer auf allgemeine philosophische Prinzipien und universale theologische Argumente, nie auf jüdischen Glauben und jüdisches Leben. Wenn sie aber von den »Gegnern«Jesu und seiner Bewegung sprechen, erwähnen sie im Grunde nie die Römer. Statt dessen nennen sie immer »die Juden« - ohne sich auch nur im geringsten bewußt zu sein, daß J esus und die, die ihm nachfolgten, JüdInnen waren. Eine :6ekannte sprach in einer Erwachsenenbildungsveranstaltung in ihrer Gemeinde über den Juden Jesus. Sie stieß mit diesem Gedanken auf heftige Ablehnung. Nach einer langwierigen Diskussion brachte eine Teilnehmerin schließlich die religiöse Einstellung, die der Auseinandersetzung zugrundelag, zum Ausdruck: »Wenn Sie so hartnäckig darauf beharren, daß Jesus Jude war, mögen Sie wahrscheinlich recht haben. Sicher aber war die Mutter Gottes keine Jüdin ... « Meine Bekannte erzählte mir diese Geschichte, als ich verärgert aus einer Vorlesung kam, in der es
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mir nicht gelungen war, einen Studenten davon zu überzeugen, daß der heilige Paulus Jude war. In einem evangelisch-theologischen Seminar versuchte ein jüdischer Freund zu zeigen, daß die Wundergeschichten Jesu dieselbe literarische Form haben wie die rabbinischen Wundergeschichten. Als er zuletzt aus dieser formkritischen Übung Schlußfolgerungen für das Verstehen der Geschichten der Evangelien ziehen wollte, protestierten die StudenInnen: die jüdischen Erzählungen seien nichts weiter als Geschichten, die Erzählungen des Evangeliums jedoch hätten sich wirklich ereignet. Wohl jede/r weiß von solchen antijudaistischen Ressentiments und könnte leicht weitere Beispiele ergänzen.
Frauen im Judentum vor 70 n. u. Z.: Perspektiven Jüdisch-feministische Wissenschaftlerinnen wie Judith Plaskow haben dargelegt, daß christlich-feministische Literatur genauso wie das allgemein verbreitete »normale« Denken immer dann diese antijudaistischen Meinungen weiterzementieren, wenn sie J esus als den Feministen im Gegensatz zum patriarchalen Judentum hochloben oder mit dem Finger auf die Ausrottung der Göttinnenreligion durch die patriarchale israelische Religion zeigen,7 Plaskow argumentiert mit Recht, daß die rabbinischen Aussagen, auf die sich Rekonstruktionen der Zeit Jesu oft berufen, nur im Vergleich mit den Aussagen der sogenannten Kirchenväter gelesen werden dürfen, deren Frauenfeindlichkeit weit und breit zugegeben wird. Warnend macht sie darauf aufmerksam, daß das radikale Jesusbild christlicher Feministinnen auf eine extrem negative Darstellung seines jüdischen Hintergrunds angewiesen ist, weil die einzige Möglichkeit, J esus als Radikalen - d. h. als einen, der die Tradition umstürzt - zu schildern, darin besteht, die Tradition so negativ wie möglich darzustellen. Denn obwohl er ganz offenkundig in keiner Weise das Patriarchat gestützt hat, gibt es keinerlei Beweis dafür, daß er irgendetwas Radikales zum Umsturz des Patriarchats getan hätte. Eine derartige Argumentation steht und fällt also mit einer negativen Darstellung des Judentums. 8 7 VgI.Judith Plaskow, Christian Feminism and Anti-Judaism, in: Cross Currents 28 (1978) 306-309; Bernadette Brooten, Jüdinnen zur Zeit Jesu. Ein Plädoyer für Differenzierung, in: B. Brooten/N. Greinaeher (Hg.), Frauen in der Männerkirche, München-Mainz 1982, 141-148. 8 Judith Plaskow, Blaming Jews for Inventing Patriarchy, in: Lilith 7 (1980) 1rf; "gI. dies., Feminists and Faith. A Discussion with Judith Plaskow and Annette Daum, in: Lilith7(1980) 14-17.14.
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Diese jüdisch-feministische Warnung können christliche Feministinnen gar nicht ernst genug nehmen. Gleichzeitig bringt sie christliche Feministinnen in ein schwerwiegendes Dilemma: Dürfen wir - um zu vermeiden, daß wir als antijudaistisch abgestempelt werden - aufhören, patriarchale Strukturen und Traditionen des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinde kritisch zu untersuchen und zu brandmarken, sobald deutlich wird, daß diese an den herrschenden patriarchalen Strukturen des Judentums im 1. Jahrhundert teilhaben? Mit anderen Worten: Dürfen Feministinnen die Suche nach jenen befreienden Elementen christlicher Vision und Praxis aufgeben, die im Gegensatz zu den herrschenden patriarchalen Strukturen des Judentums formuliert sind? Würde dies nicht Preisgabe unserer feministisch-jüdischen Wurzeln und besonders unserer jüdischen Vorschwestern bedeuten, die sich auf die Bewegung und Vision des J esus von N azareth eingelassen haben? Weil das Christentum eine lange antisemitische Geschichte hat und christliche (auch christlich-feministische) Wissenschaft und »volkstümliche« Predigt zu einem großen Teil antijudaistische Einstellungen zur Voraussetzung haben, kann die historische Erkenntnis, daß Jesus zuallererst der jüdischen Geschichte gehört, gar nicht nachdrücklich genug betont werden. Ebenso waren seine ersten NachfolgerInnen in der Jesusbewegung und in der frühchristlichen Missionsbewegung nicht nur jüdische Männer, sondern auch jüdische Frauen. Eine christlich-feministische Theologie kann sich daher die allerersten christlichen Ursprünge der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten nur dann wieder zueigen machen, wenn sie versteht und deutlich macht, daß die Wurzeln des Christentums jüdisch sind und daß die Geschichte, die den christlichen Feminismus von Grund auf trägt, die Geschichte jüdischer Frauen und ihrer Vision ist. »Jesus, den Feministen« im Gegensatz zu diesen jüdischen Wurzeln der frühchristlichen Bewegung zu entdecken, kann nur zu einer weiteren Vertiefung des Antijudaismus führen. Jesus, den Feministen, im Gegensatz zum jüdischen, nicht aber zum christlichen Patriarchat zu entdekken, führt eben nur dazu, daß das abendländische religiöse Patriarchat weiter verhärtet wird. J esus, den Feministen, im Gegensatz zu jüdischem Leben und Glauben zu entdecken, hätte die Preisgabe der Geschichte unserer jüdischen Vorschwestern zur Folge, die sich auf die Vision Jesu eingelassen und sich in die J esusbewegung hineinbegeben haben. Die N achfolgegemeinschaft von Gleichgestellten, die J esus ins Leben gerufen hat, war eine jüdische Nachfolgegemeinschaft. Bei dem Versuch, jeden Antijudaismus zu vermeiden, dürfen wir jedoch nicht davon ablassen, die herrschenden patriarchalen Strukturen der griechisch-römischen Welt, in die hinein sich das Christentum ent-
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wickelt hat, zu analysieren und beim Namen zu nennen. 9 Dabei müssen wir auch die patriarchalen Strukturen des Judentums überprüfen, um herauszufinden, warum sich jüdische Frauen auf die Vision J esu und die J esusbewegung eingelassen haben. Wenn wir die kritische Einwirkung der Geschichte(n) dieser Frauen auf den patriarchalen Kontext ihrer eigenen Kultur preisgeben, geben wir damit das jüdische und christliche Frauenerbe preis. Die Rekonstruktion der Jesusbewegung als innerjüdischer Erneuerungsbewegung innerhalb ihrer eigenen patriarchalen kulturellen und religiösen Strukturen stellt daher zugleich feministische Impulse innerhalb des Judentums heraus. Nicht ob J esus das Patriarchat gestürzt hat oder nicht, ist der springende Punkt, sondern ob das Judentum Elemente kritisch-feministischer Impulse in sich barg, die in Vision und Dienst Jesu zum Zuge kamen. Die Rekonstruktion der Jesusbewegung als einer Nachfolgebewegung von Gleichgestellten ist nur unter der Bedingung historisch plausibel, daß solch kritische Elemente im Kontext jüdischen Lebens und Glaubens denkbar sind. Praxis und Vision Jesu und seiner Bewegung ist am zutreffendsten als innerjüdische Erneuerungsbewegung zu verstehen, die eine innerjüdische Alternative zu den herrschenden patriarchalen Strukturen darstellt, und nicht als eine oppositionelle Gruppe, die jüdische Werte und jüdische Praxis verwarf. Mein Vorschlag lautet daher: Wir sollten die Texte, die von Frauen im Judentum handeln, nicht als exakte historische Informationen über Status und Rolle von Frauen im tatsächlichen Leben lesen, sondern diese Texte statt dessen einer feministisch-methodischen Betrachtungsweise unterziehen. Leider existiert bis jetzt noch keine jüdische kritisch-feministische Rekonstruktion des Judentums im 1. Jahrhundert, und es stehen uns auch noch keine kritisch-feministischen Untersuchungen der jüdischen Literatur zwischen Bibel und Mischna zur Verfügung. Jüdischfeministische Theologinnen haben jedoch begonnen, ein feministisches Verständnis von Thora und Tradition zu entwickeln. Sie lehnen es ab, theologische Aussagen von jüdischen Männern einfach für bare Münze zu nehmen, und formulieren ihre Theologie als eine Theologie für gläubige jüdische Frauen. 'O Unterdessen darf eine feministische Theologie, die sich als kritische Befreiungstheologie versteht, nicht aufhören, im Hinblick auf christliche Heilige Schrift, christliche Traditionen und 9 Dies übersieht Annette Daum (Blaming J ews forthe Death ofthe Goddess, in: Lilith 7 (I980) I2-I3) bei ihrer Kritik meiner Veröffentlichungen. Solch unachtsame Kritik fördert den feministischen Dialog zu dieser Frage nicht gerade. Andererseits haben mich orthodoxe JüdInnen dafür kritisiert, daß ich ein jüdisches Gebet dem hellenistisch-römischen patriarchalen Ethos jener Zeit zugeschrieben und dadurch den genuin jüdischen Charakter dieses Gebets verkannt habe. IO Vgl. besonders das Werk Judith Plaskows.
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christliches Frauenerbe eine kritische Theologie zu entwickeln. Da jedoch die christliche Vergangenheit im vorrabbinischen Judentum wurzelt, müssen christliche Theologinnen auch die historische Erfahrung jener jüdischen Frauen rekonstruieren, die am Anfang des Christentums gestanden haben. Wie wir gesehen haben, ist uns diese historische Frauenerfahrung nur in und durch jüdische oder christliche Männertexte und geschichtliche Quellen der Männergeschichte zugänglich. Folgende methodischen Regeln einer feministischen Hermeneutik des Verdachts gelten daher auch für die Interpretation von Texten, die über Frauen im Judentum sprechen. I. Jüdische wie christliche Texte und historische Quellen sind als androzentrische Texte zu lesen. Als androzentrische Texte reflektieren sie die Erfahrung, Meinung oder Kontrollgewalt ihrer Verfasser und nicht die historische Realität und Erfahrung von Frauen. Einzelne Aussagen über »die Frau« dürfen nicht als - negative oder positive - Tradition über die Frauen im Judentum auseinanderdividiert werden. Beispielsweise ist es aus methodischen Gründen nicht gerechtfertigt, einerseits Rabbi Eliezers berühmt-berüchtigten Ausspruch: »wenn ein Mann seine Tochter die Thora lehrt, ist das, als lehrte er sie die Unzucht« als repräsentativ für eine normative negative Tradition zu erklären, und andererseits dagegen das Beispiel von Beruria, die als Musterbeispiel für das Studium der Thora gesehen wird, zur »Ausnahme, die die Regel bestätigt«, zu erklären." 2. Die GloriJizierung von Frauen ist ebenso wie ihre Verunglimpfung oder Marginalisierung als soziale Konstruktion der Wirklichkeit im Sinne des Patriarchats oder als eine Projektion von Männerwirklichkeit zu verstehen. Neusner hat einen solchen Ansatz für die rabbinische Literatur erläutert, er ließe sich jedoch z. B. auch für die Weisheitsliteratur und die patristische Literatur deutlich machen. 12 Es darf aber nicht übersehen werden, daß »Intellektuelle«, die oft zur Mittelschicht gehörten, für diese literarischen Ausdrucksformen verantwortlich sind. 3. Vorschriften kodifizierten patriarchalen Rechts sind generell restriktiver als die tatsächliche Interaktion und Beziehung zwischen Frauen und Männern und als die soziale Wirklichkeit, die durch diese Vorschriften geregelt werden soll. Obwohl im rabbinischen Judentum Frauen in einem I I V gl. z. B. Leonard Swidler, Women in J udaism. The Status of Women in Formative Judaism, Metuchen, N. J. 1976, 72-82.97ff. 12 Bernard Prusak (Woman. Seductive Siren and Source of Sin? Pseudoepigraphical Myth and Christian Origins, in: R. R. Ruether (Hg.), Religion and Sexism. Images of Women in the Jewish and Christian Tradition, New York 1974, 89- 116) hat die Funktion dieser Mythologie für »das Aufrechterhalten der kulturellen Tatsachen von Männerherrschaft und Frauenuntertänigkeit« (97) erkannt.
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Atemzug mit Kindern und SklavInnen genannt werden können, wenn sie in rechtlicher Hinsicht beschrieben werden, '3 deuten die biblischen Geschichten über Frauen doch darauf hin, daß im Alltagsleben Frauen nicht als Unmündige oder Sklavinnen gesehen wurden. Biblische Frauengestalten wie Ruth, Esther, Hanna oder die im 2. Makkabäerbuch erwähnte Mutter von 7 Söhnen werden zwar in typisch »weiblichen« Rollen und mit typisch» weiblichem« Verhalten geschildert, aber sie sind weder unmündig noch schwachsinnig. Obwohl das »Lob der tüchtigen Frau« im Buch der Sprüche 31,10-31 vom Männerstandpunkt aus erteilt wird, wird der wirtschaftliche Unternehmungsgeist und Geschäftssinn dieser Frau als selbstverständlich betrachtet. 4. Der tatsächliche soziale und religiöse Status von Frauen ist nach dem Grad ihrer ökonomischen Selbständigkeit und aufgrund ihrer sozialen Rollen zu bestimmen und nicht aufgrund ideologischer Behauptungen oder Vorschriften. '4 In der Regel nehmen verbietende Vorschriften für geziemendes »weibliches« Verhalten und Sichunterordnen immer dann zu, wenn der tatsächliche sozial-religiöse Status von Frauen steigt und die Macht von Frauen im Patriarchat anwächst. Außerdem werden Unabhängigkeit und Autonomie von Frauen im allgemeinen nicht nur durch ihre geschlechtsspezifischen Rollen eingeschränkt, sondern auch durch ihre soziale Stellung und ihre Klassenzugehörigkeit. Wir können folglich davon ausgehen, daß jüdische Frauen an den Privilegien und Beschränkungen teilhatten, die allgemein für Frauen in der herrschenden Kultur jener Zeit galten. Z . .B. haben in der jüdischen Kolonie in Elephantine Frauen volle Gleichberechtigung mit Männern genossen; Frauen wurden in den Militäreinheiten eingestellt, taten sich durch ihre Beiträge zum Tempelfundus hervor und hatten an allen Rechten teil, die das ägyptische Gesetz Frauen einräumte.'j Wie die seleukidischen und ptolemäischen
13 Vgl. z.B. Raphael Loewe, The Position ofWomen in Judaism, London 1966,24. M. Meiselmann Oewish Woman in Jewish Law, New York 1978,45-57.156-174) besteht in Erwiderung auf von jüdischen Feministinnen aufgeworfene Fragen darauf, daß »die primäre Sorge einer Frau das religiöse Wohlergehen ihrer Familie sein« müsse (169). 14 Dies wird in allen Untersuchungen übersehen, die die Aussagen über Frauen im Talmud als Tatsachenbeschreibungen der Rolle und des Status von Frauen auffassen. Vgl. z. B. ] udith Hauptmann, Images of Women in the Talmud, in: Ruether (Hg.), Religion and Sexism, 184-212. 15 V gl. Ulrike Türck, Die Stellung der Frau in Elephantine als Ergebnis persisch-babylonischen Rechtseinflusses, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 41 (1928) 166-169. Doch Reuven Yaron (Introduction to the Law of the Aramaic Papyri, Oxford 1961, 40- 55) argumentiert für ägyptischen Einfluß.
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Prinzessinnen regierte Königin Alexandra 16 neun Jahre lang im Stil hellenistischer Königinnen, und die Schwester des letzten MakkabäerInnenkönigs Antigonus verteidigte die Festung Hyrkania gegen den Ansturm Herodes des Großen. 17 Die historisch-theologische Rekonstruktion der J esusbewegung als einer neu auftauchenden innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die Anziehungskraft auf Frauen ausübte, muß sich nicht nur mit schwierigen hermeneutischen Fragen konfrontieren, sondern hat auch mit einem schwerwiegenden Mangel an Quellen - insbesondere für die Zeit vor dem Jahre 70 - zu rechnen. Daher neigen jüdische und christliche WissenschaftlerInnen dazu, das frühe Judentum und Christentum nicht nur vom Standpunkt dessen aus, was in ihren jeweiligen Traditionen als »normativ« überdauert hat, sondern auch als zwei verschiedene, ja gegensätzliche religiöse Formationen zu rekonstruieren. Da das »rabbinische« Judentum 18 und das patristische Christentum die historischen Sieger unter verschiedenen innerjüdischen Bewegungen waren, schleicht sich durch eine solche Rekonstruktion die Vorstellung ein, daß nur diese beiden Formationen das Judentum im allgemeinen vor dem Jahre 70 und die J esusbewegung im besonderen repräsentieren. Doch solche Rekonstruktionen sind fragwürdig: In der Zeit vor der Belagerung und ZerstörungJerusalems existierte noch kein »normatives« Judentum, und die Jesusbewegung war noch immer eine in ihrem jüdischen sozial-religiösen Mutterboden eingebettete Erneuerungsbewegung. Eine Frau konnte sich gleichzeitig als treue Angehörige Israels und als Jesusnachfolgerin verstehen. Überdies sind die wenigen Informationen, die in apokalyptisch-esoterischen Quellen und in den Schriften des Philo und des Josephus über das Judentum vor 70 erhalten geblieben sind, von ChristInnen gesammelt, bearbeitet und überliefert worden. Schließlich sind die meisten der jüdisch-christlichen Quellen, die nicht nur in bezug auf die Schrift, sondern auch auf ethische und liturgische jü-
16 Vgl. E. Schürer, A History of the Jewish People in the Times ofJesus, New York 1971,91-93. 17 Vgl. auch die sehr einflußreiche Freundschaft zwischen Alexandra, der Mutter der Königin Miriamme, und Kleopatra (vgl. a.a.O., 13 1ff) und die Freundschaft zwischen Berenike, der Mutter von Aggrippa 1., und Antonia, der Schwägerin des Kaisers Tiberius (vgl. S. SafrailM. Stern (Hg.), The J ewish People in the First Century, Philadelphia 1974, Bd. I, 288f). 18 Zum Problem des Gebrauchs von Quellen aus dem rabbinischen Judentum zur Rekonstruktion des Judentums vor 70 n. u. Z. vgl. v. a. das Werk Jakob Neusners, bes. seine zusammenfassende Darstellung: The Formation of Rabbinic Judaism. Yavneh Gamnia) from A. D. 70 to 100, in: H. Temporini/W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Berlin 1979, Bd. 2, 3-42, bes. 3-16.
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dische Traditionen den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Judentum und Christentum bestätigen, verlorengegangen. '9 Wenn jedoch unser Gesamtbild des Judentums vor dem Jahre 70 n. u. Z. verschwommen und unser Bild des frühen Christentums ebenso vage ist, dann bleibt zwangsläufig unser Bild der Stellung und Funktion von Frauen in den facettenreichen jüdischen Bewegungen zu Beginn unserer Zeitrechnung noch mehr im historischen Dunkel. Aber dennoch gibt uns das noch vorhandene Material einige Anhaltspunkte für ein Bild von der damaligen Situation der jüdischen Frauen. Die folgenden Bemerkungen dürfen also nicht mißverstanden werden als - auch nur ansatzweise - Rekonstruktion der Situation von Frauen im Judentum vor 70 n. u. Z. Sie weisen lediglich auf einige »Schattierungen« hin, die uns erlauben, alle Farben in einem etwas anderen Licht zu sehen.
Das herrschende Ethos: Israel als Reich und heiliges Volk Auch wenn in der Literatur des ersten Jahrhunderts n. u. Z. Ex 19,6 nur sehr selten zitiert wird 20 , waren doch alle Gruppen des Judentums im ersten Jahrhundert von dem gemeinsamen Ethos und der gemeinsamen Lebenspraxis Israels als »ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk« bestimmt. 21 Alle jüdischen Gruppierungen und Parteien im griechisch-römischen Palästina befaßten sich mit Leben und Existenz Israels als Gottes heiligem Volk, dem die Gebote des Bundes, ein ganzes System von Mizwot, die geoffenbarten Heilsgebote, anvertraut war. Tempel und Thora waren daher Schlüsselsymbole für das Judentum des ersten Jahrhunderts. In der Tat hing die Weltanschauung des (!) Juden von seinem Thoraverständnis ab. Aber ein schriftlich fixierter Text verlangt Interpreta- . tion, und in jener Welt bedeutete die Autorität zur Thorainterpretation Macht: Kontrolle über die Erlösungsmittel. .. Doch die Worte der Thora.dienten in ihrem sakralen Charakter als Symbole ... , denn die Wirklithkeit, die sie zum Ausdruck brachten, war die Wirklichkeit le19 Vgl. besonders die methodischen Überlegungen in R. A. Kraft, In Search of »Jewish Christianity« and Its Theology, in: Recherches de Science Religieuse 60 (1972) 81-92; ders., The Multiform Jewish Heritage of Early Christianity, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and Other Greco-Roman Cults, Leiden 1975, Bd. 3, 174199;]. Neusner, First-Century Judaism in Crisis, Nashville 1975,21 -44.39. 20 V gl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse, Münster 1972 (NT Abh. 7), 78- 166. 21 Vgl. Sheldon R. Isenberg, Millenarism in Greco-Roman Palestine, in: Religion 4 (1974) 26-46. .
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ben der Menschen in lebendigen Gruppen, die ihre jeweiligen Situationen im Licht der Wirklichkeit der Tradition erfuhren. 22 Vorrangiger Zeuge und Beweis für Israels dauernden Bund mit Gott war der heilige Tempel in Jerusalem. Die Tempelriten und -liturgien bezeugten Israels Treue gegenüber den Geboten und Bestimmungen dieses Bundes, der das ganze Land und die ganze Nation Israel zu einem »Reich von Priestern« machte, das zu regieren HeidInnen kein Recht hatten. Auch wenn die Römer jedes Ärgernis gegen jüdischen religiösen Glauben und geheiligte jüdische Riten zu vermeiden suchten, war die Präsenz von Römern in Palästina und die Besetzung Palästinas durch Rom bereits die schlimmste Verletzung der im Bundesschluß mit Israel verheißenen Gottesherrschaft und des Reiches Gottes. Aus diesem Grund waren die verschiedenen jüdischen Bewegungen und Gruppen in Palästina überzeugt, daß die Römer sicherlich in unmittelbarer Zukunft abziehen würden und Gott sofort im Interesse Israels in die Geschichte eingreifen werde. Die Exegese stimmt im großen und ganzen darin überein, daß Jesu zentrale Perspektive und Vision in dem spannungsreichen Symbol Reich (basileia) Gottes zum Ausdruck kommt. 23 Dieses Symbol - und die ganze Fülle der durch dieses Symbol geweckten Erwartungen - hatten J esus und seine Bewegung mit all den anderen jüdischen Gruppen in Palästina gemeinsam. Die JüdInnen erwarteten entweder die Wiederherstellung ihrer nationalen Souveränität wie zur Zeit Davids und die Zerschlagung des römischen Kolonialismus oder ein apokalyptisches universales Reich von kosmologischen Dimensionen mit der Heiligen Stadt J erusalern und dem Tempel als Zentrum. Viele Gruppen erhofften beides zugleich. Die Erwartung eines derartigen Eingreifens Gottes in nicht zu ferner Zukunft, die auf dem Glauben daran, daß sein nahes Bevorstehen offenbart sei, gründet, ruft das apokalyptische Bewußtsein ins Leben. Es ist klar, daß nicht alle, vielleicht nicht einmal die meisten JüdInnen, ApokalyptikerInnen waren ... , doch apokalyptische Naherwartung gehörte zu normalen Ansichten darüber, was geschehen könnte. Sie war wesentlicher Bestandteil des psychosozialen Repertoires. 24 22 Sheldon R. Isenberg, Power Through Temple an Torah in Greco-Roman Palestine, in: Neusner (Hg.), Christianity, Judaism, and Other Cults, Bd. 3,24- 52·32· 23 Vgl. Norman Perrin, Jesus and the Language of the Kingdom. Symbol and Metaphor in NewTestament Interpretation, Philadelphia 1976, 29-32. 24 Isenberg, Temple and Torah, 25.
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Solch apokalyptische Hoffnung auf nationale Befreiung und Souveränität, aber auch auf die Verwandlung der gesamten Schöpfung durch Gottes Eingreifen kommt in der apokalyptischen Schrift »Himmelfahrt Moses« aus dem ersten Jahrhundert zum Ausdruck: Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein ... Denn der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen .... Dann wirst du glücklich sein, Israel. .. Und Gott wird dich erhöhen, und er wird dir festen Sitz am Sternenhimmel verschaffen ... 25 Das Kaddisch, ein in jüdischen Synagogen zu Beginn unserer Zeitrechnung gebräuchliches Gebet, bezeugt, wie weitverbreitet die Hoffnung auf Gottes baldiges Eingreifen war: Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Weh, die er schuf nach seinem Willen, und er bringe sein Reich bei euren Lebzeiten und bei Lebzeiten des ganzen Hauses Jisrael, bald und in naher Zeit. 26 Ähnlich haben die J esusnachfolgerInnen gebetet: Vater, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Die verschiedenen Gruppen im Judentum beantworten die brennende Frage jeder/jedes JüdIn» Was muß ich tun, um ins Reich der Himmel einzugehen« ganz unterschiedlich, weil es damals eben nicht nur eine einzig »orthodoxe« Antwort gab. 27 Priesterkaste und Aristokratie versuchten, 25 Egon Brandenburger, Himmelfahrt Moses, in: Jüdische Schriften aus hellenistischjüdischer Zeit, Bd. 5 Lieferung 2, Gütersloh 1976, 57-84. 26 Zu »Reich« bzw. »Königreich« in jüdischen Gebeten vgl. Norman Perrin, Rediscovering the Teaching ofJesus, London-New York 1967, 57f. 27 Diese Beschreibung der verschiedenen Gruppen oder »Sekten« im Judentum basiert aufIosephus, Jüdische Altertümer, 17.-20. Buch. V gl. auch S. Sandmel, The First Christian Century in Judaism and Christianity. Certainties and Uncertainties, Oxford 1969.
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Israels nationale Existenz als Volk Gottes zu erhalten, indem sie durch Kollaboration mit der römischen Besatzungsmacht Tempel und Hauptstadt vor der Vernichtung zu bewahren suchten. Die EssenerInnen gründeten abgesonderte Gemeinschaften in Städten und Dörfern, über das ganze Land verteilt, besaßen alles gemeinsam, wendeten ein eigenes Reinigungsritual an, widmeten sich der Landarbeit und interpretierten die Thora sehr streng. Die Qumran-Gemeinde zog sich z. B. in die Wüste zurück, um ein »heiliges Volk« zu schaffen, das den Tempel mit seinen unrechtmäßigen rituellen Handlungen und Priestern so lange ersetzen sollte, bis die Heiligkeit des Tempels wiederhergestellt und Israel im endgültigen »heiligen Krieg« befreit würde. Die SikkarierInnen sammelten die Verarmten und Entrechteten, die Landbevölkerung, die von den hohen Steuern für Rom und J erusalem geplagt wurde, zur militärischen Rebellion, um J erusalem und Israel von der Besetzung und Entweihung durch die Römer zu befreien. Die PharisäerInnen sonderten sich nicht vom Volk ab, sondern suchten ihre Vision eines »heiligen Volks von Priestern« durch Übertragung kultischer Reinheit und priesterlicher Heiligkeit auf das Alltagsleben zu verwirklichen. Ihre Sorge galt vorrangig der Erhaltung der kultischen Reinheit der Tischgemeinschaft und insbesondere der Einhaltung der rituellen Diätvorschriften. Im Gegensatz zu den »kleinen Leuten« bezahlten sie peinlich genau ihren levitischen und priesterlichen Zehnten und hielten den Sabbat und die Reinheitsgebote penibel ein. Einige bildeten levitische religiöse Gemeinschaften (Havuroth), deren Mitglieder ihre Speisen in rigoroser levitischer Reinheit aßen und nur mit solchen Menschen verkehrten, die die priesterlichen Reinheitsvorschriften genau so streng beachteten. Politisch waren sie gespalten: manche beteiligten sich an der revolutionären Unruhe, andere befürworteten eine Politik der Versöhnung. Die apokalyptischen ProphetInnen, die Josephus zufolge im Judentum vor 70 n. u. Z. auftraten, wollten den Exodus wiederholen, indem sie Menschen in die Wüste führten. Johannes der Täufer kündete Gottes Zorn und Gericht an und rief das Volk auf, sich der Bußtaufe zu unterziehen. Apokalyptische Schriftgelehrte und WeisheitslehrerInnen sammelten nicht nur prophetische Worte und Aussprüche der Väter, sondern schrieben und sammelten völlig neue Offenbarungs- und Weisheitsbücher. Die SadduzäerInnen, die vor allem in der Oberschicht, bei den GrundbesitzerInnen und Großkaufleuten großen Einfluß hatten, erhoben den Anspruch, die rechtmäßigen ErbInnen des Bundes Israels zu sein. Also betonten sie nachdrücklich, nur die schriftlich fixierte Thora besäße Offenbarungsautorität und deshalb hätten auch alle sich strikt an sie zu halten. Den Nachdruck, mit dem die PharisäerInnen auf beiden Formen der Thora - der schriftlichen und der mündlichen - beharrten,
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lehnten die SadduzäerInnen als Neuerung ab. Sie verwarfen jeglichen Anspruch auf Offenbarungsautorität außer der schriftlich fixierten Thora als Irreführung. All diese verschiedenen jüdischen Erneuerungsbewegungen jener Zeit'8 hatten ein starkes Interesse an der Frage, wie die Pflichten und Hoffnungen Israels als königliches und priesterliches Volk Gottes in allen Bereichen des Lebens verwirklicht werden können. Sie suchten Gottes parteiliches Eingreifen für Israel dadurch zu beschleunigen, daß sie den Willen Gottes, wie er sich in Tempel und Thora offenbart, peinlich genau erfüllten. Dabei betonten manche die kultischen priesterlichen Traditionen und wendeten sie mit Nachdruck an, andere nahmen prophetische Autorität für sich in Anspruch, einige vollzogen den Exodus nach, und wieder andere vereinigten Weisheits Iehren mit apokalyptischer Perspektive. Trotz ihrer Verschiedenheit in Lebensstil und theologischer Ausrichtung waren alle diese Gruppen jedoch verbunden in ihrer Sorge um die politische Existenz und Heiligkeit des auserwählten Volkes Israel. Die Verkündigung des Reiches Gottes durch J esus und seine Bewegung hatte teil an dieser theologisch zentralen Sorge um die Erneuerung des Volkes Israel als Gottes heilige Auserwählte inmitten aller N ationen. Aber die Jesusbewegung lehnte es ab, die Heiligkeit von Gottes auserwähltem Volk im kultischen Sinn zu bestimmen, und bestimmte statt dessen Heiligkeit neu als das in der Schöpfung gegebene Heil-sein. Was die Rolle von Frauen in diesen verschiedenen Gruppen und Bewegungen jener Zeit betrifft, finden sich weder in unseren Quellen noch in wissenschaftlichen Auswertungen dieser Quellen genaue Auskünfte. Da die Sadduzäerlnnen und die priesterliche Aristokratie die Thora nur in ihrer schriftlichen Form - nicht aber in ihren mündlichen Traditionen und späteren Interpretationen - als Heilige Schrift anerkannten, haben sie die Rolle von Frauen vermutlich der schriftlich fixierten Thora gemäß definiert. Sicherlich war das vor allem im Hinblick auf die kultischen Reinheitsvorschriften für den Gottesdienst und in Bezug auf die Ehegesetzgebung der Fall. Unsere Informationen über die Gruppe um Johannes den Täufer sind spärlich. Mt 21,32 stellt fest, daß »die Zöllnerlnnen und die Dirnen« Johannes geglaubt haben. Die Parallelstelle Lk 7,29f dagegen erwähnt unter denen, die »sich mit der Johannestaufe taufen ließen« keine Prostituierten. 29 Der Bericht von der Enthauptung des Johannes (Mk 6,17-29) 28 Zu den Verweisen bei Josephus und zur allgemeinen Bibliographie und Beschreibung vgl. auch David M. Rhoads, Israel in Revolution 6-74 C. E. A Political History Based on the Writings of Josephus, Philadelphia 1976, 32-46. 29 j. A. Fitzmyer, (The Gospel According to Luke (I-IX), New York 198r, 67r) argu-
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hat mit Sicherheit ein historisches Geschehen zur Grundlage, wurde aber mit historisch weniger verläßlichen grausigen Details »aus geschmückt«.30 Herodes war kein König, und er war völlig von Rom abhängig. Darüber hinaus wäre eine junge Frau vom hohen Stand der Salome nicht als »Tanzgirl« auf den Parties des Herodes aufgetreten. Schließlich ist die Beschreibung von Herodias als »Frau seines Bruders Philippus« verschwommen, weil Herodes zwei Brüder mit dem Namen Philippus hatte. Die Qumrangemeinde wiederum war vom Ethos des heiligen Krieges und des wahren Tempels erfüllt und hat darum ein militärisches Männerlager aus Priestern mit strengen Reinheitsgeboten und strikter sozialer Schichtung für die Vollmitglieder errichtet. Doch ob sie kurzfristige Ehen zur Erzeugung von Nachkommen eingegangen sind, ist umstritten. Es sind Skelette von Frauen und Kindern gefunden worden, aber es ist unklar, welche Rolle sie in der Gemeinde hatten. In der Gemeinschaftsregel heißt es: »Wenn sie kommen, so sollen sie alle Ankommenden versammeln, von den Kleinkindern bis zu den Frauen, und sollen vor ihren Ohren lesen alle Satzungen des Bundes, um sie zu unterweisen in allen ihren Satzungen, damit sie nicht irre gehen in ihren Verirrungen.« (I QSa I 4f)31 Auch die Damaskusschrift erwähnt »Frauen und Kinder« mehrmalsY Nach Josephus weigerten sich die Essener, Ehefrauen und SklavInnen in die Gemeinde aufzunehmen, »da sie das letztere für Unrecht, das erstere aber für die Quelle alles Streites halten« aüdische Archäologie, XVIII, I Kap 5).33 Philos Schilderung der essenischen Einstellung gegenüber Ehe und Frauen ist von seiner eigenen Perspektive gefärbt, die Frauen geringschätzt: Sie enthalten sich der Ehe, weil sie sie klar als einzige oder hauptsächliche Gefahr für die Aufrechterhaltung des Gemeinschaftslebens erkennen und weil sie ganz besonders enthaltsam leben. Denn kein Essener mentiert, beide Texte seien so verschieden, »daß es schwer vorstellbar ist, daß wir es hier mit einer Q-Parallele zu tun haben«. 30 Zur historisch-kritischen Untersuchung dieser TextsteIle vgl. bes. W. Wink, John the Baptist in the Gospel Tradition, Cambridge 1968, 8- I3;J. Gnilka, Das Martyrium Johannes des Täufers (Mk 6, I7-29), in: P. Hoffmann u. a. (Hg.), Orientierung an Jesus, Festschrift für Josef Schmid, Freiburg I973, 78-92. Der Sitz im Leben dieser Geschichte ist der JüngerInnenkreis J ohannes des Täufers (vgl. Mk 6,29). 3I V gl. die Kontroverse über die Frage, ob in I QSa der Ehefrau »generelle Kompetenz als Zeugin und Rechtskundige« zuerkannt wird, in: J oumal of Biblical Literature 76 (1957) lO8-I22 und 266-269. J2 E. Lohse, Die Texte aus Qumran; Hebräisch und Deutsch, Darmstadt I964, 282 Anm·3· 33 Horst R. Moehring, Josephus on the Marriage Customs of the Essenes, in: A. Wikgren (Hg.), Early Christian Origins, Chicago I96I, I20-I27.
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nimmt sich eine Frau, da Ehefrauen selbstsüchtige Geschöpfe sind, maßlos eifersüchtig und geschickt darin, ihre Ehemänner durch fortgesetzten Schwindel zu verführen und korrumpieren ... Denn der Ehemann, der entweder vom Liebeszauber gefesselt ist oder unter dem Druck seiner Natur steht, macht seine Kinder zu seiner ersten Sorge und ist für die anderen nicht mehr derselbe, unbewußt ist er zu einem anderen geworden und von Freiheit zur Sklaverei übergewechselt. (Hypothetica II,Q-I7) Daß diese Darstellung des Philo jedoch weniger frauen- als vielmehr ehefeindlich ist, wird aus seiner Beschreibung der asketischen Therapeutinnen ersichtlich, die ihrer Berufung und dem Studium der Schriften genauso verpflichtet sind wie die Therapeuten. 34 Auch die Weisheits literatur und die apokalyptische Literatur haben ein negatives Frauenbild entwickelt. Frauen seien sowohl für Engel als auch für Männer, besonders für die weisen Männer, der Anlaß zur Sünde. Intellektuelle Mittelschichtmänner wurden dringend ermahnt, im Umgang mit Frauen sehr vorsichtig und mißtrauisch zu sein. Allerdings haben feministische Untersuchungen gezeigt, daß eine solche Einstellung von Mittelschichtmännern nicht typisch »jüdisch« ist, sondern zu verschiedensten Zeiten in verschiedensten Gesellschaften zu finden ist. Möglicherweise haben die negativen Aussagen von Philo und Josephus dieselben sozialen Wurzeln. 3 ! Zwar ist uns nicht bekannt, welche Einstellung die verschiedenen »revolutionären« Gruppen Frauen gegenüber hatten, doch nach Josephus verteidigten die Frauen von Jerusalem die Stadt gegen die römische Armee und betrachteten die Römer Damaskus als unsicher, weil aus dieser Stadt zu viele Frauen zum Judentum konvertiert waren. Da diese Gruppen aus dem Volk und der verarmten Landbevölkerung Rückhalt und Unterstützung gewannen, dürfte ihre Einstellung gegenüber Frauen nicht so restriktiv wie die anderer Gruppen gewesen sem. Zwar wissen wir nicht sicher, ob die Pharisäer Frauen in ihren Reihen und insbesondere zur Tischgemeinschaft der Havuroth zugelassen haben 36, doch wissen wir über diese pharisäischen GenossInnenschaften 34 Vgl. Philo, Über das betrachtende Leben, in: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 7, Berlin I9 64, 44-70. 35 Vgl. bes. die Untersuchungen von Prusak, Woman. Seductive Siren, 89-rr6, und Swidler, Women in Judaism, 29- 55. 36 Carsten Colpe (Genossenschaft: Jüdisch, in: Reallexikon für Antike und Christentum 30 (I 978) rr 7- 14 I. I 34) vertritt die These, daß die Havuroth nicht wie eine patriarchale Großfamilie strukturiert waren, weil Ehemänner ohne ihre Ehefrauen, erwachsene Kinder ohne ihre Eltern, SklavInnen ohne ihre Herrinnen - und umgekehrt - Mitglied werden konnten.
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überhaupt sehr wenig. Wie wir bereits gesehen haben, wurde nach N eusner das System der Mischna erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts abgeschlossen, während die tragenden Ideen dieses Systems wohl schon einige Zeit vor der Wende zum dritten Jahrhundert entstanden sind. Diese leitenden Ideen stimmen prinzipiell mit denen der Damaskusschrift und der Gemeinschaftsregel von Qumran überein. Nach Neusner ist das System der Mischna durch und durch androzentrisch, da "dem Wesen der Dinge entsprechend« Frauen - wie Erde, Zeit, Früchte, Bett, Stuhl, Tisch und Töpfe - »durch die Taten von Männern geheiligt« werdenY Zur selben Zeit dürfte aber auch das Buch Judith, das nicht in den rabbinischen Kanon aufgenommen worden war, die theologische Imagination verschiedener jüdischer Gruppen jener Zeit entzündet haben. Als irgendwann im ersten Jahrhundert v. u. ZY geschriebene fiktive Erzählung nimmt dieses Buch nicht nur Weisheits-, Exodus-, pharisäische und zelotische Motive auf, sondern ruft auch Gott an als »Gott der Demütigen und Helfer der Geringen, Beistand der Schwachen und Beschützer der Verstoßenen, Retter der Verzweifelten« dt 9, 11). DieTheologie des Buches Judith ist bewußt der Exoduserzählung nachgestaltet, in der Israel durch die Hand des Moses befreit wird (Ex 9 und 14).39 Der Rückblick auf Israels Geschichte dient der Erinnerung an das vorausgegangene Eingreifen Gottes in hoffnungslosen Situationen. Diese Erinnerung weckt die Hoffnung, daß Gott erneut im Interesse des Bundesvolkes handeln wird. So wie nach Weish 11,1 die Sophia (Weisheit) »ihren Unternehmungen einen glücklichen Fortgang durch die Hand eines heiligen Propheten« verlieh, wird Gott »durch die Hand« Judiths (8)33; 9,10; 12,4; 13,l4af; 16,6) erneut für Israel sorgen. Die peinlich genaue Beachtung der rituellen Speisegebote hilft ihr, den Sieg über den Feind zu erringen. Moses, der sein Volk aus Ägyptens unterdrückerischer Macht befreit hat, J aels Sieg über Sisera (Ri 4,21) und die Enthauptung Goliaths durch David (ISm 17,51) waren die Modelle, nach denen Judiths Siegestat und Judiths Glaube dargestellt worden sind. Judiths Heldinnenbiographie enthüllt uns einiges über Status und Rolle von Frauen zu der Zeit, als das Buch geschrieben und gelesen wurde. 4° Judith hatte das ansehnliche Besitztum ihres Mannes geerbt und
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37 Jacob Neusner, Method and Meaning in Ancient Judaism, Missoula, Mont. 1979 (BrownJudaic Studies 10), 100. 38 Vgl. Demetrius R. Dumm, Tobith, Judith, Esther, in: The Jerome Biblical Commentary, Englewood Cliffs, N. J. 1968,620-632, bes. 624-628. 39 Vgl. Patrick W. Skehan, The Hand of Judith, in: Catholic Biblical Quarterly 25 (1963) 94- IIO. 40 Vgl. Ernst Haag, Die besondere literarische Art des Buches Judith und seine theologische Bedeutung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 71 (1962) 228-30I.
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ließ es von einer Verwalterin beaufsichtigen (8,10). Es stand ihr frei, eine Wiederverheiratung abzulehnen und ihr Leben - wie die Therapeutinnen - dem Gebet, der Askese und der Feier des Sabbat zu weihen. Sie hatte die Autorität, die Ältesten der Stadt herbeizuzitieren und zurechtzuweisen. Sie tadelte sie wegen theologischem Fehlurteil und schlechter Führung angesichts der Feinde: »Hört mich, ihr Ältesten der BewohnerInnen von Betylia! Denn eure Rede, die ihr an diesem Tage vor dem Volke hieltet, warnicht recht« (8,1 I). Nirgends wird erwähnt, daß sie verschleiert gewesen sei, als sie ihr Haus verließ. Im Gegenteil: es wird betont, daß alle, die sie sahen, von ihrer Schönheit tief beeindruckt waren: Als jene sie erblickten - ihr Antlitz war verändert und ihre Kleidung verwandelt -, staunten sie sehr über ihre Schönheit ... (10,7) Ähnlich sprachen Holofernes und alle seine Diener: . Von einem Ende der Erde bis zum anderen gibt es keine solche Frau mehr von so schönem Antlitz und so weiser Rede. (I 1,2 I) Auf die Nachricht ihres Sieges hin kommen der Hohepriester und der Ältestenrat Israels von Jerusalem, um sie "zu sehen« und mit Segensworten zu begrüßen: Du, der Stolz Jerusalems, du, die große Freude Israels, du, der große Ruhm deines Geschlechtes! (15,9) Der Sieges marsch nach J erusalem wird beschrieben als »Siegestanz« der Frauen Israels, die sich mit Ölzweigen bekränzten und Judith folgten. Wie Miriam singt Judith ein »neues Lied«, als sie den Tanz aller Frauen anführt: Vor dem ganzen Volk schritt sie einher und führte den Tanz aller Frauen an. Alle Männer Israels folgten bewaffnet und bekränzt und mit Lobgesängen auf den Lippen. (15,13) Drei Monate feierte Judith in Jerusalem mit dem Volk, bevor sie zu ihrem Erbbesitz heimkehrte. Sie entließ ihre Sklavin in die Freiheit. "Viele begehrten sie«, aber sie blieb unverheiratet. Wie die Patriarchen lebte sie als berühmte Frau bis ins hohe Alter von 105 Jahren. Vor ihrem Tod verteilte sie ihr Vermögen an die nächsten Verwandten aus ihres Mannes und ihrem eigenen Geschlecht. Das Haus Israel betrauerte sie 7 Tage lang.
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Solche Schlußakte voll Größe und solche Züge von Bedeutung waren typische Abschlüsse von HeldInnenbiographien. Es wäre jedoch ein schwerwiegender Fehler, diese Heldinnenbiographie in moralischem Sinn zu verstehen. Zwar ist Judith eine Frau, die mit den Waffen einer Frau kämpft. Doch sie definiert sich keineswegs durch ihre »Weiblichkeit«, sondern setzt im Gegenteil diese Weiblichkeit für ihre eigenen Ziele ein. Sie akzeptiert keineswegs die Festlegung und Einschränkung von Frauen auf weibliche Schönheit und weibliches Verhalten, sondern benutzt sie im Gegenteil gegen jene feindlichen Männer, die sie auf bloße weibliche Schönheit reduzieren wollen und so ihre tatsächliche Macht gewaltig verkennen. Kluge Weisheit, wachsame Frömmigkeit, scharfsinnige Beobachtungsgabe und treue Hingabe an das Ziel der Befreiung ihres Volkes sind wahre Selbstbestimmung und persönliche Eigenschaften Judiths. Ihre listigen Bemerkungen, ihre verführerische Schönheit und ihre hinterlistigen Planungen werden in der Erzählung ironisch herausgestellt: Dann sprach Holofernes zu ihr: »Gott tat gut daran, Dich vor dem Volk herzusenden, damit der Sieg in unsere Hand komme, über die Verächter meines Herrn aber Verderben. Schön bist Du in Deiner Gestalt und weise in Deinen Worten.« (II,22f) Die gegnerischen Männer gehen Judith in die Falle, weil sie von Judiths Reizen und ihrer Weiblichkeit betört sind, aber nicht die leiseste Ahnung von ihrer religiösen und nationalen Selbstidentität und Stärke haben. Indem sie sie als »Frau« - und weiter nichts - ansehen, gehen sie in die Falle und stürzen sich selbst in die Vernichtung, die sie mit allen Mitteln verhindern wollten: Wer kann dieses Volk verachten, das solche Frauen bei sich besitzt? Deshalb ist es nicht gut, auch nur einen einzigen Mann von ihnen übrig zu lassen. Denn sie sind imstande, die ganze Welt zu überlisten, so bald sie freigelassen sind. (10, 19) Weil die gegnerischen Männer Frauen nur als Anhängsel und Besitz von Männern sehen, erkennen sie nicht, daß die eigentliche Gefahr und Feindschaft für sie gar nicht von den Männern Israels ausgeht, die als schwach und ängstlich geschildert werden. Holofernes und seine Diener nehmen zu Recht an, daß sie in dem Drama eine Hauptrolle spielen werden, aber wegen ihrer typisch männlichen Arroganz und Dummheit, erkennen sie nicht, daß ihr Part die Rolle des Schurken ist. Nur wenn wir
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die »feministische« Ironie der Geschichte wahrnehmen, können wir Judiths Größe und ihre Wirkung auf die jüdische Imagination jener Zeit erkennen: Judith ist nicht schwach. Ihr Mut, ihr Vertrauen auf Gott und ihre Weisheit - dies alles fehlt ihren männlichen Gegenspielern - erringen den Sieg für Israel. Wie sie Täuschung anwendet und besonders wie sie ihre Sexualität gebraucht, mag anstößig und chauvinistisch erscheinen. Für die Verfasserin oder den Verfasser ist es das Gegenteil: voller Weisheit wählt Judith aus dem ihr zur Verfügung stehenden Arsenal die Waffen aus, die genau zur Schwäche ihres Feindes passen. Sie spielt sein Spiel - im Wissen, daß er verlieren wird. Eine ganze Armee von Männern hält sie dadurch zum NarrenY Judiths dramatischer ,Sieg wird als Sieg des ganzen Volkes gesehen. Dieser Sieg offenbart »den« Gott der Unterdrückten und Hoffnungslosen als »Gott mit uns« (r3,rr). Wieder einmal haben Wagnis, Weisheit und Mut einer Frau das Volk Gottes gerettet. Die Frau Judith ist nicht zum Opfer geworden und läßt nicht zu, daß ihr Volk die Opferrolle übernimmt. Im N amen Gottes kämpft sie erfolgreich gegen die politische Unterdrückungsmacht. Weisheit hat über rohe Gewalt, die militärische Hilflosigkeit Israels über die militärische Überlegenheit der Unterdrükker, Hartnäckigkeit und wahrer, kluger Mut einer Frau über ängstliche Resignation und dumme Prahlerei mächtiger Männer den Sieg errungen. Alle, die diese Geschichte zu Beginn unserer Zeitrechnung gelesen haben, müssen sie sofort als Spiegelbild der Situation Israels unter der römischen Besatzung verstanden habenY In einer derart hoffnungslosen Situation konnte das Bild einer weisen und starken Frau die Imagination Israels entfachen und Hoffnung und Ausdauer für den religiös-nationalen Befreiungskampf wecken. Wahrscheinlich hatte diese Geschichte von einer Frau auf die EssenerInnen, PharisäerInnen und prophetisch-revolutionären GrQf?pen Wirkung ausgeübt. Als erster christlicher Schriftsteller erwähnte sie Klemens von Rom, der auf die »heilige Judith« verweist, um zu zeigen, daß »viele Frauen ... durch die Gnade Gottes gestärkt viele männliche Taten« vollbrachten (rKlem 55,3f). Daher ist eine vornehmW. E. Nickelsburg, Jewish Literature Between the Bible and the Mischnah, Philadelphia r98 I, 108. 42 Auf ähnliche Weise hat David Goodblatt (The Beruriah Traditions, in: Journal of Jewish Studies 26 (1975) 68-85) die Beruria-Traditionen untersucht, um etwas über »die möglichen Bildungsleistungen von Frauen in der rabbinischen Gesellschaft« zu erfahren und nicht um diese Traditionen »als verläßliches Datenmaterial über eine historische Person« zu behandeln (82). 41 George
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lich negative Darstellung jüdischer Frauen im ersten Jahrhundert im besonderen und jüdischer Theologie im allgemeinen sehr irreführend. Das Buch Judith - mag es nun von einer Frau oder einem Mann geschrieben sein - gibt uns einen Anhaltspunkt für eine ganz andere - positive - Tradition und Situation im Judentum des ersten Jahrhunderts. 43
Jesu Vision vom Reich Gottes als Praxis umfassenden Heil-Seins Das Buch Judith vermittelt uns einen Eindruck von der Atmosphäre, in der Jesus gepredigt hat und die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ins Leben gerufen hat. Jesus und mehrere seiner ersten NachfolgerInnen waren erst JüngerInnen Johannes des Täufers und haben von ihm die Bußtaufe empfangen. Aufgrund einer prophetisch-visionären Erfahrung, die ihn davon überzeugt hat, daß die Macht des Satans gebrochen und der eschatologische Krieg (Lk 10,18)44 gewonnen ist, trennt sich Jesus aber anscheinend von der Gruppe um Johannes. Wo Johannes ankündigt: »die Axt ist an die Wurzel der Bäume gelegt« (Mt 3,10), verkündet Jesus: »das Reich Gottes ist mitten unter euch« (Lk 17,21). Der Unterschied zwischen J esus und J ohannes ist kein» Bruch«, sondern eine Akzentverschiebung. Während Johannes ankündigt, daß dem Reich Gottes und der eschatologischen Wiederherstellung Israels Gottes Gericht und Zorn vorausgehen, legt Jesus den Akzent darauf, daß die eschatologische Rettung und das Heil Israels als auserwähltes Volk Gottes schon bereits in Dienst und Bewegung J esu erfahrbar ist. Wenn J esus in seiner Antwort auf die Frage des Johannes: »Bist Du es, der da kommen soll? ... « eine ganze Skala jesajanischer Bilder heraufbeschwört, betont er damit ausdrücklich, daß das Reich Gottes erfahrbar ist: 43 Vgl. auch]. B. Segal, TheJewish Attitude Towards Women, in: Journal ofJewish Studies 30 (1979): »Trotzdem läßt sich vermuten, daß es Hinweise, wenn auch ungenaue, gibt, daß in den stürmischen Jahrhundenen vor dem und während des Aufkommens des Christentums der Status von Frauen in der jüdischen Gesellschaft Gegenstand von Auseinandersetzungen war. Unter der Herrschaft der hasmonäischen und der herodianischen Könige spielten Frauen eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben ... Frauen scheinen die Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über Besitz ausgeübt zu haben ... (und) wurden ermutigt, jüdisches Gesetz zu mißachten, indem sie Scheidungsverfahren einleiteten. Vielleicht können wir in jener Zeit ein Maß an Polarisierung in den Einstellungen von JüdInnen gegenüber Frauen entdecken« (135)' 44 Vgl. v. a. U. B. Müller, Vision und Botschaft, in: ZeitschriftfürTheologie und Kirche 74 (1977) 416-448;j. Becker, Johannes der Täufer und Jesus von N azareth, Stuttgart 1972, 7Iff.
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Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird die frohe Botschaft verkündet. (Lk 7,22 [Q]) Dieser Abschnitt der Logienquelle über die Beziehung zwischen Johannes und Jesus hebt nicht nur hervor, daß Jesus Menschsein wiederherstellt, sondern betont auch, daß die verschiedenen Auffassungen von der eschatologischen Wende sehr unterschiedliche Lebensstile zur Folge haben. Johannes lebt den Lebensstil eines apokalyptischen Asketen, Jesus wird dagegen als »ein Schlemmer und Trinker, ein Freund von Zöllnerlnnen und SünderInnen« (Lk 7>34 [Q])45 angesehen. Die vormarkinische Sammlung von Streitgesprächen erwähnt ausdrücklich, daß die JüngerInnen des Johannes gefastet haben, Jesu JüngerInnen dagegen nicht (Mk 2, I 8ff). In der ältesten Schicht der Erzählung wird argumentiert, daß Hochzeitsgäste schließlich nicht fasten. Das Heil des Reiches Gottes, das in Jesu Gegenwart und Dienst erfahren wird, verträgt sich nicht mit traditioneller Askese. Erst zu einem späteren Zeitpunkt führt die christliche Gemeinde die Praxis des Fastens wieder ein und rechtfertigt das mit der Abwesenheit J esu. 4 6 Die festliche Tischgemeinschaft einer Hochzeitsfeier und nicht die Askese des »heiligen Mannes« ist für Jesus und seine Bewegung charakteristisch. Die Gleichnisse sprechen vom Reich Gottes in stets neuen Bildern eines verschwenderischen prächtigen Festessens. Genau wie die GenossInnenschaften der EssenerInnen und Pharisäerlnnen versammelte sich die Jesusbewegung um den Tisch und teilte Essen und Trinken. Doch im Gegensatz zu den PharisäerInnen, die Israels Berufung als »Nation von Priestern« dadurch zu verwirklichen suchten, daß sie die rituelle Reinheit des »heiligen Tisches« sorgfältig beachteten und ihre Speisen »wie Priester« aßen, beachteten Jesus und seine Bewegung diese kultischen Reinheitsvorschriften nicht und teilten ihre Mahlzeiten sogar mit »SünderInnen«. Die zentrale symbolische Verwirklichung der Reich-Gottes-Vision J esu ist nicht das kultische Mahl, sondern der festlich gedeckte Tisch eines Festmahls oder einer Hochzeitsfeier. Vermutlich war dieser unterscheidende Akzent einer der Hauptkonfliktpunkte zwischen der Jesusbewegung und der pharisäischen Bewegung. Von den Geschichten, die Jesus erzählte oder über Jesus erzählt wurden, zeigt keine einzige die für andere Gruppierungen im griechisch-römischen Palästina so typische 45 Perrin (Rediscovering the Teaching of J esus, I2of) argumentiert, daß dieser Vergleich von J esus mit J ohannes authentisch ist und von J esus selbst stammt. 46 V gl. A. J. H ultgren, Jesus and His Adversaries. The Form and Function ofthe Conflict Stories in the Synoptic Tradition, Minneapolis I979, 78-81.
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Besorgtheit um rituelle Reinheit und moralische Heiligkeit. Jesus teilt mit diesen anderen Gruppen die Vision, daß Israel ein »besonderes Eigentum« und »heiliges Volk« Jahwes sei (Ex 19,5f), aber er teilt nicht ihre Vorstellung, daß die Heiligkeit von Tempel und Thora Gottes Präsenz und Macht vermittle. Obwohl Jesus und seine Bewegung mit allen Gruppen im griechischrömischen Palästina den Glauben gemeinsam hatten, daß Israel Gottes auserwähltes Volk ist, und sie die Hoffnung auf Gottes Eingreifen, um Israel zu helfen, teilten, lebten sie im Wissen, daß das Reich Gottes schon mitten unter ihnen ist. Die Exegese stimmt darin überein, daß das Charakteristikum von J esu Predigt und Werk darin bestand, daß er das Reich Gottes als Zukunft und Gegenwart, als eschatologische Vision und erfahrbare Wirklichkeit verkündeteY Diese charakteristische Spannung zwischen Zukunft und Gegenwart, zwischen Heilsein und Verletztsein wird allgemein anerkannt, wenn auch unterschiedlich interpretiert und analysiert. Meiner Meinung nach kann diese Spannung nur wahrgenommen und aufrechterhalten werden, wenn als Bezugspunkt des spannungsgeladenen Symbols »Reich Gottes« das gemeinsame jüdische Ethos jener Zeit und als Brennpunkt die Geschichte und Gemeinschaft Israels gesehen wird. Die J esusbewegung in Palästina lehnt die Geltung von Tempel und Thora als Symbole für Israels Auserwähltsein nicht völlig ab, bietet aber eine alternative Deutung dieser Symbole an, indem sie das Volk selbst als Ort der Macht und Präsenz Gottes in den Mittelpunkt stellt. Die Jesusbewegung betont, daß Israels Heilsein in der Gegenwart möglich ist, und integriert somit prophetisch-apokalyptische und Weisheitstheologie, indem sie eschatologische Hoffnung mit dem Glauben verbindet, daß Israels Gott Schöpfer aller Menschen, auch der Verkrüppelten, Unreinen, SünderInnen, ist. 48 Die Heiligkeit von Menschen muß menschliches Heilsein zum Ausdruck bringen, kultische Handlungen dürfen nicht in Gegensatz zu humanisierender Praxis gestellt werden. Heilsein bedeutet Heiligsein, und Heiligsein drückt sich genau im Heilsein von Menschen aus. Das Alltagsleben darf nicht an der sakralen Heiligkeit von Tempel und Thora gemessen werden, sondern die Praxis des Tempels und der Thora muß daran gemessen und bewertet werden, ob sie zugänglich ist für jede Person in Israel und ob sie für alle Menschen Heilsein bewirkt. Alltäglichkeit kann daher zum Ort von Offenbarung 47 Vgl. N. Perrin, The Kingdom of God in the Teaching of Jesus, Philadelphia 1963, 79-89,185-201; W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 41980,3°-35. 48 Vgl. PaulHoffmann, »Eschatologie« und »Friedenshandeln« in der Jesusüberlieferung, in: G. Liedke (Hg.), Eschatologie und Frieden, Heidelberg 1978, Bd. 2, 179223. 19°.
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werden, und Präsenz und Macht des unverletzlichen Heilseins Gottes ist erfahrbar in allen Menschen. 49 Da für Jesus die Wirklichkeit des Reiches Gottes nicht vorrangig Heiligkeit, sondern Heilsein bedeutet, wird das Heil des Reiches Gottes gegenwärtig und erfahrbar, wenn Jesus Dämonen austreibt (Lk II,20), Kranke und rituell Unreine heilt und Geschichten erzählt von Verlorengegangenen, die wiedergefunden werden, von Uneingeladenen, die eingeladen werden, und Letzten, die Erste sein werden. Die Macht des Reiches Gottes wird Wirklichkeit in der Tischgemeinschaft J esu mit den Armen, den SünderInnen, den ZöllnerInnen, den Prostituierten - mit all denen, die nicht zum »heiligen Volk« gehören, die in den Augen der Gerechten irgendeinen Mangel oder Fehler haben. Sie gleicht dem Teig, der durchsäuert, aber noch nicht in Brot umgewandelt ist, dem Fötus in der Gebärmutter, der noch nicht durch die Geburt in ein Kind verwandelt ist. 50 Die Zukunft kann bereits erfahren werden in den Heilungen, in der allen Menschen zugänglichen Nachfolgegemeinschaft und den Gleichnisworten J esu. Aber J esus erhofft und erwartet zugleich noch das bevorstehende Hereinbrechen des Reiches Gottes, in dem endlich Tod, Leiden und Ungerechtigkeit überwunden und patriarchale Ehe nicht mehr sein wird (Mk 12,18-27 par.). Jesu Praxis und Vision des Reiches Gottes ist die Vermittlung von Gottes Zukunft in die Strukturen und Erfahrungen seiner Zeit und seines Volkes)' Diese Zukunft wird allen Mitgliedern Israels vermittelt und verheißen. Keine/Keiner ist ausgenommen. Jede/Jeder ist eingeladen. Frauen ebenso wie Männer, Prostituierte ebenso wie PharisäerInnen. Die Parabel vom Großen Gastmahl (Mt 22,1-14; Lk 14,16-24 [Q]; Thomas-Evangelium 64) stößt die HörerInnen auf die Erkenntnis, daß das Reich Gottes alle einbezieht. Warnend macht sie darauf aufmerksam, daß die, die »als Erste« eingeladen waren und die Einladung zurückgewiesen haben, ausgeschlossen werden. Nicht die Heiligkeit der Auserwählten, sondern das Heilsein aller ist die zentrale Vision JesuY Deshalb entnimmt er die Bilder seiner Gleichnisse auch der Welt der Frauen. Seine Heilungen und Exorzismen machen Frauen heil. Seine Ankündigung der »eschatologischen Umkehrung« - viele Erste werden Letzte und die
49 Vgl. Earl Breech, Kingdom of God and the Parables of Jesus, in: Semeia 12 (1978) 15-4°· 50 Vgl. Elizabeth Waller, The Parable of the Leaven, in: Union Seminary Quarterly Review 35 (1979- 80) 99- 1°9. 51 Vgl. R. Funk, Language, Hermeneutic, and the Word of God, New York 1966, 162- 198. 52 Vgl. Müller, Vision und Botschaft, 442-447.
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Letzten Erste sein (Mk 10,31; Mt 19,3°; 20,16; Lk 13,3°) - gilt auch für Frauen und deren Verletztsein durch patriarch ale Strukturen. Daß Heilsein und Wohlergehen aller die Gegenwart und Macht Gottes offenbart, kommt besonders in denjenigen Reich-Gottes-Worten zum Tragen, die als mit größter Wahrscheinlichkeit authentisch gelten: den Seligpreisungen und den eschatologischen Umkehrworten in Jesu Tischgemeinschaft mit ZöllnerInnen und SünderInnen, in seinem» Übertreten des Sabbatgebotes« und in seiner mit Autorität vorgetragenen N euinterpretation der Thora in den Streit reden. An dieser Stelle möchte ich noch einmal bemerken, daß es mir nicht darum geht, die »authentischste« Tradition von Jesusworten »herauszudestillieren« und so Jesus von seinem Volk Israel und seinen ersten JüngerInnen zu scheiden. Selbstverständlich ist die Jesusbewegung nicht ohne Jesus vorstellbar, aber sie ist auch undenkbar ohne die J esusnachfolgerInnen. Da ich interessiert bin am Offenlegen der Spannungspunkte zwischen Jesusbewegung und der herrschenden patriarchalen Kultur, in der die Jesusbewegung Gestalt angenommen hat, ist es wichtig zu sehen, wer diese Menschen waren, denen Anspruch auf das Reich Gottes gegeben wird. Solche Spannungspunkte sollten jedoch nicht als Antijudaismus mißverstanden werden, denn Jesus und seine NachfolgerInnen waren JüdInnen und erhoben Anspruch auf ihre Erwählung als Israel Gottes. Natürlich hat die alternative ReichGottes-Vision J esu und seiner Bewegung Spannungen verursacht, aber das taten schließlich auch Amos oder J ohannes der Täufer. Die ältesten Schichten der Evangelien machen immer wieder deutlich, daß J esus für drei verschiedene Gruppen Anspruch auf das Reich Gottes erhoben hat: I. für die notleidenden Armen, 2. für die Kranken und Verkrüppelten und 3. für ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierte. I. J esus verkündet, daß das Reich Gottes den Bettelarmen gegeben wird, die Logienquelle nimmt dagegen bereits die Seligpreisungen für die Jesusgemeinschaft in Anspruch. Daß die erste Seligpreisung das Reich Gottes den sozial Armen in Israel verheißt, wird durch die zweite und dritte Seligpreisung unterstrichen: »Selig, die jetzt hungern, denn sie werden gesättigt. 53 Selig, die jetzt weinen, denn sie werden lachen.« Wie entsetzlich die Armut von Frauen war, kann die Geschichte von der armen Witwe veranschaulichen, die »alles, was sie zum Leben hatte« in den Opferkasten des Tempels warf. »Alles, was sie zum Leben hatte«, waren »zwei Heller, das ist ein Pfennig« (Mk 12,41-44).54 Von denen, die nicht 53 Vgl. P. Hoffmann/V. Eid, Jesus von Nazareth und seine christliche Moral, Freiburg 1975,29 und 35; und Fitzmyer, The Gospel According to Luke, 645f. 54 A. G. Wright (The Widow's Mites. Praise or Lament? - A Matter of Context, in: Catholic Biblical Quarterly 44 (1982) 256-265.262) argumentiert, daß die Erzählung im markinischen Kontext Kritik an einer Religion vorträgt, die Menschen ermutigt, ih-
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wissen, woher sie Nahrung bekommen sollen, um ihren Hunger zu stillen, die weinen und ihre Kinder weinen hören, sind - damals wie heutedie meisten Frauen und von Frauen abhängige Kinder. Ungeklärt ist, ob die Weherufe gegen die Reichen (und damit auch die reichen Frauen), die das Gegenstück zu den Seligpreisungen in der Logienquelle darstellen, Jesusworte sind oder ob sie später hinzugefügt wurden. 55 Auf jeden Fall unterstreichen sie die eschatologische Umkehrung aller Werte, die das Reich Gottes zuwege bringt. Auch der vormarkinische Umkehrspruch Mk 10,25 macht deutlich, daß sehr früh schon solch eschatologische Warnung an die Reichen gerichtet wurde: Er betont, daß es für einein Reichein unmöglich ist, ins Reich Gottes zu kommen. Diese eschatologische Umkehrung wird auch im vorlukanischen Lied der Galiläerin Maria angekündigt: Gewaltige hat Gott vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat Gott erfüllt mit Gütern und Reiche leer davongeschickt. (Lk l,pf)5 6 So entfalten und konkretisieren die ältesten Traditionen die Antwort, die Jesus dem Johannes gegeben hat: »Armen wird die frohe Botschaft verkündet«. Denen, die durch Verhungern sterben und die verzweifeln, weil sie keinen Weg aus ihrer Armut und keine Zukunft für sich sehen, wird das Reich Gottes verheißen. Die Zusage des Reiches Gottes an die Ausgebeuteten und Notleidenden sichert ihnen zu, daß Gott ihre Sache zu »seiner« eigenen macht und Gott auf ihrer Seite steht gegen all jene, die ihre Rechte mit Füßen treten. Das Verständnis Gottes als parteinehmend für die Armen wurzelt im Bund Gottes mit Israel. Während in der Antike - wie heute - Armut als persönliches Versagen angesehen wird (was die Verachtung der Armen rechtfertigt), wird in Israel Armut als Ungerechtigkeit verstanden: Da J ahwe Eigentümer des Landes ist und es ren gesamten Lebensunterhalt religiösen Institutionen zu geben: »Sie war von religiösen Führern gelehrt und ermutigt worden, zu schenken, wie sie es nun tut. J esus verurteilt das Wertsystem, das ihr Handeln motiviert, und die Menschen, die sie dazu brachten, so zu handeln.« Vgl. auch]. D. M. Derrett, Eating Up the Houses of Widows'. Jesus Comrnent on Lawyers?, in: Novum Testamentum 14 (1972) 1-9. 55 H. Frankemölle (Die Makarismen (Mk 5>I - 12; Lk 6,20- 23). Motive und Umfang der redaktionellen Komposition, in: Biblische Zeitschrift 15 (1971) 52-75) vertritt die These, die Weherufe seien Bestandteil der Q- Tradition, während Fitzmyer (The Gospel According to Luke, 627) meint, daß Lukas sie eingefügt hat. 56 Vgl. den Überblick über die Diskussion beiR. E. Brown, The Birth ofthe Messiah, New York 1977, 346-366; Luise Schottroff, Das Magnifikat und die älteste Tradition über Jesus von Nazareth, in: Evangelische Theologie 38 (1978) 298-313.
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in die Obhut des ganzen Volkes gegeben hat, sind die Armen in Israel um ihr rechtmäßiges Erbe betrogen worden. Daher werden die ProphetInnen nie müde zu verkünden, daß Gott auf der Seite der Armen ist und sich ihrer Sache annehmen wird (Dt 15,7- 18; Am 6- 8). Die Verheißung des Reiches Gottes für die Armen, also auch die armen Frauen, sollte daher nicht als Trostpreis in ferner Zukunft mißverstanden werden, sondern ist die Proklamation der Rechte der Armen und der Gerechtigkeit Gottes. Mit anderen Worten: Die Armen haben Anteil an Gottes Zukunft, die Reichen und Wohlhabenden dagegen nicht, weil sie ihr Erbe jetzt schon genießen. Weder das Magnifikat Marias, noch die Seligpreisungen sprechen von Strafe für die Reichen, sie sprechen vielmehr von eschatologischer Umkehrung. Das jetzige Leben und das Leben im Reich Gottes werden als kontinuierliche Einheit angesehen. Die Gemeinde der Logienquelle hat eine vierte Seligpreisung hinzugefügt, die alle Seligpreisungen auf die Gemeinschaft der ChristInnen beziehtY Sie kündigt an, daß die Mitglieder der Jesusbewegung selig sind, wenn sie verfolgt, geschmäht, gehaßt und aus ihren jüdischen Gemeinden ausgestoßen werden. Denen gesagt worden ist, daß sie vom auserwählten Volk Israel ausgeschlossen sind, wird versichert, daß sie an der eschatologischen Rettung teilhaben werden. Auf dieser Stufe der Tradition ist es jedoch klar, daß die Mitglieder der Jesusbewegung immer noch sozial Arme, Notleidende und Hungernde sind. Erst die Seligpreisungen des Matthäus dehnen den Begriff Armut über soziale Armut hinaus auf eine religiöse Haltung aus, die Arme und Reiche gemeinsam haben können. 2. Das Reich Gottes wird im HeilungswirkenJesu erfahrbar. Während oft diskutiert wird, ob, wissenschaftlich gesehen, Wunder möglich und, historisch gesehen, die Wundergeschichten authentisch sind, wird der Vision von Menschsein, die durch die in J esus wirksame Macht Gottes Wirklichkeit wird, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. J esu Vision vom Reich Gottes macht Menschen heil, gesund, rein und stark. Sie macht Menschsein und menschliches Leben wieder ganz. Das Heil des Reiches Gottes ist nicht auf die Seele beschränkt, sondern bewirkt das Wohl-sein der ganzen Person in ihren sozialen Beziehungen. 58 Jesu Exorzismen geschehen in dem Wissen, daß es in dieser Welt entmenschlichende Mächte gibt, die wir nicht unter Kontrolle haben. Jesus geht es aber weniger um ihre Macht, Menschen unrein zu machen, als um ihre Macht, Menschen zu schwächen und zu entmenschlichen. Was wir heute ausbeuterische Machtstrukturen und entmenschlichende Machtsysteme 57 Vgl. z. B. Kee, Jesus in History, 86f. 58 Nach Antoinette Clark Wire (The Structure of the Gospel Miracle Stories and Their Tellers, in: Semeia I I (1978) 83- 113) ist die Struktur der Wundergeschichte eine Juxtaposition von unterdrückerischem Kontext und dem Aufbrechen dieses Kontexts.
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nennen, nennt die apokalyptische Sprache »böse Geister«, »Satan«, »Beelzebub«, »Dämonen«. Wenn also Jesus in göttlicher Vollmacht böse Geister austreibt und die bösen Mächte überwindet, die Menschen in Knechtschaft halten, dann ist die befreiende Macht Gottes, »das Reich Gottes zu euch gekommen« (Lk II ,20).59 Wenn die vorlukanische T radition Maria von Magdala als eine Frau kennzeichnet, »aus der er sieben Dämonen ausgetrieben hat« (vgl. Mk 16,9 und Lk 8,2), dann charakterisiert sie Maria von Magdala nicht als »Sünderin«, sondern als eine Frau, die die unbeschränkte (Zahl 7) befreiende Macht des Reiches Gottes an ihrem eigenen Leibe erfahren hat. Behinderte und Kranke waren entweder arm oder verarmten durch Tod und Krankheit. Die Geschichte von der Frau, »die seit zwölf Jahren Blutfluß hatte« (Mk 5,25-34) zeigt dies in voller Dramatik. 60 Sie hatte »ihr ganzes Vermögen darauf gewendet«, daß sie »viele Ärzte« konsultierte, »ohne daß es etwas genützt hätte, es war vielmehr immer schlimmer mit ihr geworden.« Diese wenigen knappen Worte erzählen eindringlich von der ökonomischen Verarmung von nicht kurierbaren Kranken. Diese Frau riskierte finanziellen Ruin und ökonomisches Elend, um gesund zu werden. Jesus nennt sie »Tochter« Israels und verkündet: Geh hin in Frieden, das heißt, sei glücklich und heil (Schalorn). Du bist geheilt. Diese Geschichte wurde mit der Geschichte von der Tochter des Jairus, eines Synagogenvorstehers, verbunden - vermutlich nicht nur wegen des Stichworts »zwölf«, sondern auch weil diese Geschichte dasselbe Verständnis von Heil-sein und Heilig-sein verkündet. Jesus berührt das tote Mädchen und wird dadurch »unrein« (vgl. Nm 19,II-13). Die Macht des Reiches Gottes beruht nicht auf Heiligkeit und kultischer Reinheit. Das Mädchen steht auf und geht umher, sie ersteht zum Frausein auf (jüdische Mädchen wurden mit 12 Jahren heiratsfähig). Der jungen Frau, die zu menstruieren beginnt, wie der älteren Frau, die vielleicht Menstruation als krankhaften Zustand erleidet, beiden wird neues Leben »geschenkt«. Die lebenspendenden Mächte von Frauen, die sich im »Blutfluß« kundtun, sind weder »schlecht« noch im Tod abgeschnitten, sondern werden »wiederhergestellt«, so daß Frauen »gehen und in Scha10m leben« können, in Gottes eschatologischem Wohlergehen und Glück. 6r 59 Perrin, Rediscovering the Teaching of Jesus, 63-67. 60 Zur Untersuchung der Form- und Traditionsgeschichte dieser zwei Wundergeschichten vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium, Freiburg 1976, Bd. 1,295-314 und
die dort zitierte Literatur. 61 Vgl. z. B. Rachel Conrad Wahlberg, Jesus Accordingto a Woman, New York 1975, 31-41.
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Die synoptischen Sabbatheilungen Jesu stellen ein besonderes Problem dar, weil sie Ereignisse erzählen, bei denen Jesus scheinbar »willentlich« das Sabbatgebot der Thora gebrochen hat. 62 Die Exegese besteht oft darauf, daß die vormarkinischen (Mk 3,1-5) und vorlukanischen (Lk 14,1-6) Sabbatheilungen ein allgemeines theologisches Prinzip Jesu verdeutlichen - nämlich daß »Gutes tun«, »heilen« und »Leben retten« das Sabbatgebot aufheben. Doch ein solches Prinzip hätten auch alle anderen jüdischen Thorainterpreten anerkannt, die mehr oder weniger alle darin übereinstimmten, daß es erlaubt ist, am Sabbat Menschen oder Tieren »das Leben zu retten«. Doch stützen die Heilungsgeschichten nicht diese generelle theologische Maxime, die in der Frage .des Streitgesprächs impliziert ist. Der Mann mit der verdorrten Hand, wie auch der Mann, der Wassersucht hatte, waren nicht lebensbedrohlich krank und hätten leicht einen Tag länger auf ihre Heilung warten können. Die Anstößigkeit der Sabbatheilungen besteht eben genau darin, daß Jesus das Sabbatgebot bricht, obwohl es nicht notwendig war. Die Behauptung, er habe das nur getan, um seinen GegnerInnen eine Lehre zu erteilen, scheint mir eine spätere christliche Interpretation zu sein. Ich würde vorschlagen, daß Lk 13,10-17, die Geschichte von der »verkrümmten Frau«, - und nicht Mk 3,1- 5 - die älteste Tradition von Sabbatheilungen überliefert. Die Exegese der Stelle schließt diese Annahme gewöhnlich aus formkritischen Gründen aus und argumentiert, daß das Streitgespräch in dieser Geschichte nicht mit dem Streit- oder Schulgespräch verflochten ist, sondern erst später hinzugefügt wurde. Doch es ist möglich, daß die Heilungsgeschichte Lk 13,10-13 ursprünglich eine eigenständige Geschichte war und zu einem späteren Zeitpunkt um das Streitgespräch erweitert wurde. In diesem Gespräch wird nicht argumentiert, daß Jesus den Sabbat gebrochen habe, »um Leben zu retten« - die Frau war schon 18 Jahre lang verkrümmt gewesen -, vielmehr wird argumentiert' Jesus habe so gehandelt, um sie heil zu machen und »von ihrer Krankheit zu befreien.« Nicht, daß es erlaubt ist, am Sabbat ein Tier aus Lebensgefahr zu retten, ist der Vergleichspunkt, sondern daß es notwendig ist, Ochsen und Esel am Sabbat zur Tränke zu führen. Sicherlich dürften manche JüdInnen einer solch »laxen« Interpretation des Sabbatgebotes widersprochen haben, obwohl diese wohl durchaus vorgekommen ist. Doch was hier Anstoß erregt, ist nicht eine »laxe« oder »strenge« Interpretation des Gesetzes, sondern die Tatsache, daß Jesus dem »Synagogenvorsteher« so antwortet, als habe er dessen Einwand nicht gehört. Dessen Argument lautete ja gerade, daß es sechs Tage gebe, an denen 62 Zu diesem Problem vgl. C. DietzJelbinger, Vom Sinn der Sabbatheilungen Jesu, in: Evangelische Theologie 38 (r978), 28r-297.
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Menschen kommen könnten, um sich heilen zu lassen, so daß keine Notwendigkeit bestehe, sich am Tage des Sabbats heilen zu lassen. Dieses Gespräch läßt uns aufhorchen und veranlaßt uns, nach einem anderen Schlüssel zum Verständnis dieser Geschichte zu suchen. Es zwingt uns, nach den Gründen zu fragen, warum Israel den Sabbat hielt. Seit dem Exil war die Einhaltung des Sabbats die rituelle Symbolisierung der Erwählung Israels als heiliges Volk. Nach dem vorchristlichen Jubiläenbuch, das auch in Qumran großen Einfluß hatte, wird im Himmel und auf Erden der Sabbat gehalten als Zeichen dafür, daß die JüdInnen das Volk Gottes sind und Jahwe ihr Gott ist. Israel hält den Sabbat, indem es sich jeder Arbeit enthält und »indem sie essen und trinken und den Allschöpfer segnen, wie er ein besonderes Volk aus allen den Völkern segnete und sich weihte« (Jubiläenbuch 2,2of). Während seine GegnerInnen auf völliger Arbeitsruhe am Tag des Sabbats bestehen (vgl. Lk 13,14), hat Jesus es der Frau und dem Volk ermöglicht, den Zweck der Sabbatruhe zu erfüllen: den Lobpreis Gottes als Schöpfer der Welt und Befreier »seines« Volkes. Die Frau, die sich wieder aufrichten konnte, »pries Gott«, und das ganze Volk (ochlos) freute sich (echairen) »über all das Wunderbare, das durch Jesus geschah«. Darum kann die Frau in Wahrheit »Tochter Abrahams« (vgl. Lk 3,8 [Q]: Kinder), Vollmitglied des geheiligten Volkes Israel, genannt werden. Wichtig ist noch ein letzter Aspekt dieser Heilungsgeschichte : Die Krankheit der Frau war vom Satan verursacht. Diese Tochter Israels war in einer Knechtschaft gefangen, die ihre gesamte leibliche Existenz achtzehn Jahre lang deformierte. Durch seine Hilfe befreit J esus sie aus der Macht des Satans und stellt die göttliche Schöpfung wieder her. J esus hat in Übereinstimmung mit den Intentionen des Sabbatgebotes gehandelt. Freude und Lobpreis sind darum angemessen. Seine Heilung am Sabbat ist keine Verletzung der Heiligkeit des Volkes Israel, im Gegenteil: sie ermöglicht es der Tochter Abrahams, gemeinsam mit der Gemeinschaft der Engel, Gott, »den« Schöpfer aller Menschen und Befreier des auserwählten Volkes Israel, zu preisen. Diese Interpretation wird durch das vormarkinische Streitgespräch Mk 2,23-28 bestätigt. 63 Die Aussage, daß »>der< MenscheD>sohn< >Herr< auch über den Sabbat« ist, wurde vermutlich später durch die Gemeinde hinzugefügt, die diese Geschichte überliefert hat. »Der Sabbat ist um der Menschen willen da und nicht die Menschen um des Sabbats willen« ist höchstwahrscheinlich ein echtes J esuswort. Dieser Ausspruch ist der Höhepunkt der ganzen Geschichte. In dieser Geschichte wird nicht Je63 Vgl. den Überblick bei Hultgren, Jesus and His Adversaries, Das Markusevangelium, Bd. I, 178-187.
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sus, sondern seinen JüngerInnen vorgeworfen, daß sie den Sabbat brechen. Nicht Krankheit, sondern Hunger hat sie dazu gebracht. J esus verweist auf David und seine Gefährten, die nicht nur das Sabbatgebot gebrochen, sondern sogar die Schaubrote gegessen haben (obwohl sie keine Priester waren). Die Bezugnahme auf die Schrift gilt der Auseinandersetzung mit dem Pharisäismus, das J esuswort in Vers 27 dagegen betont die tiefste Intention des Sabbatgebotes: Der Sabbat ist geschaffen, damit Menschen durch festliches Essen und Trinken das Gutsein von Israels Schöpfergott preisen können. Die JüngerInnen Jesu, die, wie die Bettelarmen, nichts zu essen haben außer den Ähren, die sie ausrupfen und essen, erfüllen durchaus die Intentionen der Thora. Sie halten den Sabbat, d. h. sie essen zum Lobe Gottes, obwohl sie dazu fast nichts haben. Diese Geschichte erzählt also, was es bedeutet, daß »der Sabbat um der Menschen willen geschaffen ist und nicht Menschen um des Sabbats willen«. Es wäre irreführend, ausschließlich auf einer Hälfte des Sabbatgebotes dem Gebot der Sabbatruhe - zu bestehen und die andere Hälfte - zur Ehre Gottes zu essen und zu trinken - dadurch zu pervertieren, daß zugelassen wird, daß Menschen verhungern. 64 3. Während die Kranken und Besessen~n mit Leichtigkeit als den Armen und Hungernden zugehörig erkannt werden, denen das Gottesreich verheißen ist, betont die Exegese gewöhnlich die schlechte Moral, nicht aber die üble soziale Lage von ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierten. Nahezu alle stimmen darin überein, daß der historische J esus und die älteste J esusbewegung in Palästina mit ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierten Umgang hatte, obwohl uns für diese Information nur spärliche Traditionen vorliegen. 65 Doch können wir noch redaktionelle Tendenzen im Traditionsprozeß und selbst in den Evangelien aufspüren, die diesen Vorwurf gegen die J esusbewegung verständlicher und akzeptabler zu machen suchen. Jesu Praxis und seine Bewegung bezogen alle Menschen ein. Auch Prostituierte und ZöllnerInnen hatten an der sich um den Tisch versammelnden Gemeinschaft der Jesusbewegung teil. Diese historische Praxis wird noch in der markinischen und lukanischen Redaktion (Mk 2,15; Lk 15,2b) und auch in der Tradition der Logienquelle (Mt 11,19; Lk 7,24) reflektiert. Sie kommt auch zum Ausdruck in dem provokativen Ausspruch: »Wahrlich, ich sage euch, die ZöllnerIn64 Vgl. Luise SchottrofflWolfgang Stegemann, Der Sabbat ist um des Menschen willen da, in: W. SchottrofflW. Stegemann (Hg.), Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Bd. 2: Neues Testament, München 1979, 58-70. 65 Als Überblick vgl.John R. Donahue, Tax Collectors and Sinner, in: Catholic Biblical Quarterly 33 (1971) 39-61; Martin Völkl, Freund,derZöllnerund Sünder, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und 'die Kunde der älteren Kirche 69 (1978) 1-10.
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nen und die Dirnen kommen eher in das Reich Gottes als ihr« (Mt 21,31 [SM]). In der Regel werden die Bezeichnungen ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierte in moralisierendem Sinn verstanden. Die Tradition vor allem bei Lukas - zeigt die Tendenz, Prostituierte mit Sünderin gleichzusetzen. Aber diese zwei Bezeichnungen sind nicht austauschbar. Es ist außerdem wichtig zu sehen, daß in patriarchaler Gesellschaft Prostitution die schlimmste Form der »Befleckung«, d. h. Sünde, für eine Frau ist, obwohl Prostitution gleichzeitig eine wesentliche Funktion des Patriarchats ist. Seit den Zeiten der Propheten hat die Bezeichnung Prostituierte religiös-theologische Obertöne, da die "Dirne« das Paradigma für das treulose Volk Israel und seine »Hurerei« mit anderen Göttern war. Daß die Dirnen eher in das Reich Gottes kommen werden als die treuen und gerechten IsraelitInnen ist - gelinde gesagt - empörend. Der Ausdruck »ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierte« beschreibt jedoch nicht einfach eine moralisch anstößige Gruppe, sondern vielmehr eine Klasse von Menschen, die in so großer Not lebten, daß sie, nur um zu überleben, »unehrenhafte« Berufe ausüben mußten. 66 Wegen Lk 19 haben wir zwar die Vorstellung, Zöllner seien »reich«, doch die meisten ZöllnerInnen, die die Arbeit tatsächlich taten und die Zölle und Steuern einzogen, waren Verarmte oder SklavInnen, die von einem »Zollbüro« angestellt und, sobald Probleme auftauchten, sofort entlassen wurden. Palästina war einem sehr unterdrückerischen Steuersystem unterworfen. Römische Steuerbeauftragte erhoben als direkte Steuern Warensteuer und Brücken- und Wegezoll; Angestellte der hohepriesterlichen Aristokratie J erusalems trieben als ihren direkten Anteil an der Ernte den Zehnten ein und ließen damit nur mehr wenig für die Priester und Leviten auf dem Land übrig; indirekte Steuern, Import- und Exportsteuern und Steuern auf alle Erzeugnisse und Mieten in Jerusalern wurden an die Meistbietenden verpachtet. Da Gebühren und Brücken- und Wegezölle selbst dann kassiert werden konnten, wenn eine Person lediglich von einem Dorf ins Nachbardorf ging, war die Belästigung durch ZöllnerInnen nicht nur ärgerlich, sondern auch sehr teuer, besonders auch deshalb, weil die ZolleintreiberInnen mehr als die offiziellen Gebühren einnehmen mußten, wenn sie genug für ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Levi war vermutlich ein solch untergeordneter Zolleintreiber, denn er saß selbst im Zollhaus (Mk 2,14). Während des ganzen Altertums wurden die ZolleintreiberInnen mit Räubern und Dieben verglichen und als gemein und grob verachtet. Daß sie Menschen belästigten 66 Vgl. L. Schottroff/Wolfgang Stegemann, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978, 15-28.
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und oft das letzte Geld aus ihnen herauspreßten, war nur zu bekannt. Im Judentum waren SteuereintreiberInnen auf besondere Weise »unrein« und oft als Agenten der römischen Kolonialmacht verhaßt. Prostituierte waren in der Antike - wie heute - in den meisten Fällen verarmte Frauen ohne Ausbildung. 67 Sie waren meist in den Städten zu finden und lebten dort oft in Bordellen oder Häusern, die mit einem Tempel verbunden waren. Im allgemeinen waren sie Sklavinnen, Töchter, die von ihren Eltern verkauft oder vermietet wurden, Ehefrauen, die von ihren Männern vermietet wurden, arme Frauen, ausgesetzte Mädchen, geschiedene Frauen und Witwen, alleinstehende Mütter, durch Krieg oder Piraterei in Gefangenschaft geratene Frauen, Frauen, die für Soldaten gekauft worden waren, kurz: Frauen, die aus ihrer Position in der patriarchalen Familie keinen ausreichenden Lebensunterhalt beziehen konnten, oder Frauen, die für ihren Lebensunterhalt außerhalb der Familie arbeiten mußten, aber nicht in Berufen tätig werden konnten, die den Frauen der Mittel- und Oberschicht vorbehalten waren. In dem von Krieg, kolonialistischer Steuer und Hunger gequälten Palästina war die Zahl dieser Frauen vermutlich sehr hoch. Die Bezeichnung Sünderln kann eine ganze Reihe von Bedeutungen haben. Sie kann Menschen beschreiben, die - nach dem strengeren sadduzäischen oder dem großzügigeren pharisäischen Verständnis - die Thora nicht befolgt haben; Menschen, die in unserem Sprachgebrauch Kriminelle genannt würden (in Israel war politisches und religiöses Recht ein und dasselbe); oder Menschen, die in verrufenen Berufen arbeiteten, z. B. als Obsthändlerlnnen, SchweinehirtInnen, HausiererInnen, die Knoblauch verkauften, WirtInnen, Seeleute, öffentliche AusruferInnen, SteuereintreiberInnen, KupplerInnen, Prostituierte, Hausangestellte und andere Dienstleistungsberufe, die die Theologen und Interpreten der Thora als »befleckend« und »unrein« ansahen. Bei jeder dieser Kategorien von SünderInnen handelt es sich auf irgend eine Weise um Marginalisierte, die schlecht bezahlt und oft mißbraucht wurden. Die wenigen »reichen« Steuereintreiber und Prostituierten waren Ausnahmen, die den unterdrückerischen Charakter des gesellschaftlich-religiösen Systems bestätigten. Die Geschichte von der Frau, die Jesus die Füße wusch (Lk 7,36-5°) hat eine sehr komplexe Traditionsgeschichte, die noch längst nicht ausreichend geklärt ist. 68 Allem Anschein nach sind bereits in einem vorlu67 Vgl. H. Herter, Die Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 3 (1960) 70ll!.
68 Zur Diskussion und Bibliographie vgl. Fitzmyer, The Gospel According to Luke, 683- 694.
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kanischen Überlieferungsstadium Elemente aus der Geschichte von der »Frau, die den Kopf Jesu salbte« (Mk 14,3-II j Jo 12,1-8) in dieser Erzählung übernommen worden. Dies gilt vermutlich für das »Alabastergefäß mit Salböl« (7,37C), die Salbung (7,38c) und den Namen des Pharisäers Simon. Das Gleichnis könnte ursprünglich auch als eigenständiges Gleichnis erzählt worden sein. Aber wenn dies zutrifft, muß es zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Geschichte aufgenommen worden sein. Der Gegensatz zwischen dem Pharisäer und der Frau und ebenso die Hervorhebung der Sündenvergebung jedoch scheinen redaktionell zu sein, da spätere christliche Autoren die Feindschaft zwischen PharisäerInnen und JesusjügerInnen unterstreichen. Es ist eine Vorliebe des Lukas, immer wieder zu betonen, daß »Jesus SünderInnen zur Umkehr berufen hat«. Daher geht die Charakterisierung der Frau als »eine Frau, die in der Stadt eine Sünderin war«, d. h. eine Prostituierte, vermutlich auf Lukas zurück. Die ursprüngliche Geschichte handelt nicht von einer reichen Prostituierten, sie handelt überhaupt nicht von einer Prostituierten. Die Beziehung zwischen Jesus und dem Pharisäer ist eine Beziehung zwischen Freunden und Kollegen, und Jesus wird wie in der ältesten Christologie der Logienquelle für einen »Propheten« gehalten. Daher würde ich vorschlagen, daß die ursprüngliche Geschichte folgendermaßen gelautet hat: Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen ein, und Jesus ging in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau, die erfahren hatte, daß er im Haus des Pharisäers zu Tische saß, und nun weinend von hinten an ihn herantrat, begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen, trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küßte seine Füße. Als nun der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, das sah, sagte er zu sich selbst: »Wenn dieser Mann ein Prophet wäre, so würde er doch wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: daß sie eine Sünderin ist.« Darauf sagte Jesus zu ihm: »Ich habe dir etwas zu sagen«, und der Pharisäer erwiderte: »Was ist es, Meister?« »Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner, der eine schuldete 500 Denare und der andere 50. Als sie nicht bezahlen konnten, erließ er ihnen gnädig die Schuld. Welcher von ihnen wird ihn nun mehr lieben?« Und sich zu der Frau wendend, sprach er zu ihr: »Deine Sünden sind dir vergeben. Gehe hin in Frieden (Schalorn).« Diese oder eine ähnliche Geschichte muß schon sehr früh unter den Jünger Innen weitererzählt worden sein - vermutlich mit dem Anspruch, daß ihre Botschaft von Jesus selbst kommt. Die Geschichte gibt keine Auskunft darüber, welche Art von Sünderin die Frau war - sie kann eine Kriminelle, eine rituell Unreine oder eine Frau mit schlechtem Ruf, eine
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Prostituierte oder ganz einfach die »Ehefrau eines stadtbekannten Sünders« gewesen sein. Daß die frühchristliche Bewegung sowohl diese Geschichte als auch die Geschichte von der Frau mit dem Blutfluß schon früh als »Taufgeschichten« ansah, wird aus dem formelhaften Spruch »dein Glaube hat dich gerettet« ersichtlich, der auf (eine) frühchristliche Tauftradition anspielt. Es ist jedoch offensichtlich, daß in beiden Geschichten dieser Satz eine spätere Anfügung ist, da »der Glaube« der Frauen in beiden Geschichten vorher gar nicht erwähnt wird. Diese Geschichten behaupten also, daß Jesus und die Jesusbewegung zu ihrer Tischgemeinschaft nicht nur Frauen einladen, sondern sogar notorische Sünderinnen. SünderInnen, Prostituierte, BettlerInnen, SteuereintreiberInnen, rituell Unreine, Behinderte und Bettelarme - kurz, der Abschaum der palästinischen Gesellschaft - stellten die Mehrheit der J esusnachfolgerInnen dar. Dies sind die Letzten, die die Ersten geworden sind, die Hungernden, die gesättigt, die Nichteingeladenen, die eingeladen werden. Und viele von ihnen sind Frauen. Aber wie konnte Jesus ein Prophet Gottes sein und seine Bewegung eine prophetische Bewegung in Israel, die das Reich Gottes erfahrbar machte, wenn dieses umfassende und alle Menschen einbeziehende Heil allem zuwider lief, was bisher in Thora und Tempel als offenbarter Wille Gottes angesehen wurde? War hier nicht BeelzebullSatan in der Maske des Propheten Gottes am Werk? Daß die Praxis Jesu und seiner Jüngerinnen gegen die religiösen Gefühle nicht nur ihrer Mit jüdInnen, sondern auch späterer ChristInnen verstieß, wird offensichtlich, wenn wir das Verständnis von Sünde und Vergebung untersuchen. Während die ältesten Jesusüberlieferungen jede kultische Deutung von Amt und Tod J esu als Sühnopfer für Sünden vermeiden, hat in einigen Teilen der frühchristlichen Bewegung gerade diese Interpretation Wurzeln geschlagen. Doch die Interpretation von Jesu Tod als Sühne für Sünden ist viel jünger, als in der neutestamentlichen Forschung im allgemeinen angenommen wird. 69 Im Begriff Sühnopfer kommen nicht Gottesverständnis und Gotteserfahrung der Jesusbewegung zum Ausdruck, sondern er ist eine spätere kultische Interpretation des gewaltsamen Todes Jesu. »Der« Gott Jesu ist kein Gott, »der« Sühne verlangt und »dessen« Zorn durch Menschenopfer oder Ritual besänftigt werden muß. C. Ochs hat darauf 69 Vgl. H. Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu, Düsseldorf 1970, 227- 329; S. K. Williams Oesus' Death as Saving Event. The Background and Origin of a Concept, Missoula, Mont. 1975,23°) vertritt die Auffassung, dieses Konzept sei »unter ChristInnen aufgekommen, die nicht nur griechisch sprachen, sondern auch in der griechisch-hellenistischen Gedankenwelt gänzlich zuhause waren«. Zur gegenteiligen Meinungvgl. M. Hengel, The Atonement. The Origins ofthe Doctrinein the NewTestament, Philadelphia 1981.
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hingewiesen, daß »der« patriarchale Gott Abrahams und »der« patriarchale christliche Gott ein richtender Gott ist und die Opferung des einzigen Sohnes verlangt.?o Auch wenn in frühchristlicher Theologie sich schon bald diese Interpretation des Todes Jesu findet, so war doch der Tod Jesu kein Opfer. Er war nicht von Gott gefordert, sondern von den Römern verursacht.
Jesu Sophiagott und die Nachfolgebewegung von Frauen Die J esusbewegung bringt ein ganz anderes Gottesverständnis zum Ausdruck, denn sie hatte in J esu Praxis »einen« Gott erfahren, »der« nicht Israels Gerechte und Fromme, sondern die religiös und sozial Benachteiligten Israels beruft. Durch Jesu Dienst wird Gott als alle Menschen einbeziehende Liebe erfahrbar, die über Gerechte und SünderInnen in gleichem Maß die Sonne scheinen und Regen fallen läßt (Mt 5,45). »Dieser« Gott ist »ein« Gott der Gnade und Güte, »der« alle annimmt und allen ohne jede Ausnahme Gerechtigkeit und Wohlergehen ermöglicht.?' Gott, »der« Schöpfer, akzeptiert alle Mitglieder Israels, besonders aber die Verarmten, Behinderten, Ausgestoßenen, SünderInnen und Prostituierten, wenn sie bereit sind, sich auf Perspektive und Macht des Reiches Gottes einzulassen. Umgekehrt wird betont: »Nur >einer< ist gut, Gott allein« (Mk ro,r8b; Lk r8,r9b). r. Das alle Menschen einbeziehende wohl-schaffende Gut-sein Gottes ist immer wieder in den Gleichnissen angesprochen.?2 Ich habe schon gezeigt, daß die Parabel vom Gläubiger, der denen, die nicht zahlen können, freigebig die Schulden erläßt, dieses wohl-tuende Gut-sein Gottes dadurch deutlich zum Ausdruck bringt, daß sie betont, daß Frauen und sogar öffentliche Sünderinnen in die J esusbewegung aufgenommen werden können - weil sie »mehr lieben«. Das Doppelgleichnis vom Hirten, der das verlorene Schaf sucht, und der Frau, die die verlorene Drachme sucht, wurde höchstwahrscheinlich von Lukas bereits in der jetzigen Form aus der Logienquelle übernommen.?) Die Gemeinde der Logienquelle gebrauchte diese Gleichnisse, um auf die Anschuldigung, daß Jesus SünderInnen aufnimmt und mit ihnen ißt (Lk r 5,2; vgl. die ähnliche Anschuldigung Mk 2,r6b), zu entgegnen, daß »im Himmel Freude über 70 Vgl. Carol Ochs, Behind the Sex of God, Boston 1977. 71 Vgl. Müller, Vision und Botschaft, 447. 72 Vgl. Perrins Übersicht in: Jesus and the Language ofthe Kingdom, 89-193; P. Perkins, Hearing the Parables of Jesus, New York 1981. 73 Vgl.J. Lambrecht, Once More Astonished. The Parables ofJesus, New York 1981, 24-5 6.
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eine/n einzige/n,SünderIn, die/der umkehrt« sein wird. Die Doppelgeschichte hatte ursprünglich vermutlich eher die Form einer Parabel als eines Gleichnisses, denn sie enthielt nicht diese ausdrückliche Anwendung auf die Situation der Gemeinde. Wie die ursprüngliche Geschichte hebt diese Anwendung die Freude über das »Finden des Verlorenen« hervor, aber sie betont nicht mehr die Suche. Wie Jesus die Geschichte erzählt haben wird, rüttelte sie die/den HörerIn zu der Erkenntnis auf: So handelt Gott - wie der Mann, der sein verlorenes Schaf sucht, wie die Frau, die auf der Suche nach ihrer verlorenen Münze unermüdlich ihr Haus kehrt. So entwirft Jesus sein Bild von Gott als einer Frau, die nach der einen ihrer 10 Münzen fahndet, als einer Frau, die verzweifelt das Geld sucht, das entsetzlich wichtig für sie ist. Durch das Erzählen des Gleichnisses von der Frau, die verzweifelt ihr Geld sucht, bringt J esus die Sorge Gottes zum Ausdruck, eine Anteilnahme, die seine eigene Praxis der Tischgemeinschaft mit SünderInnen und Ausgestoßenen prägt. Das Gleichnis fordert also die/den HörerIn zur Entscheidung heraus: Stimmst du überein mit diesem Verhalten Gottes, wie es in der Suche der Frau nach ihrem verlorenen »Kapital« zum Ausdruck kommt? Das Reich-Gottes-Gleichnis von den »ArbeiterInnen im Weinberg« (Mt 20,1-16) bringt die im wohl-tuenden Gut-sein Gottes wurzelnde Gleichheit aller deutlich zum Ausdruck.74 Sein Sitz im Leben ist dem des Gleichnisses vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Münze ähnlich, nämlich die Tischgemeinschaft der J esusbewegung mit den Ausgestoßenen. Die soziale Welt dieses Gleichnisses ist die Welt eines palästinischen Landbesitzers im I. Jahrhundert, der, um Geld zu sparen, während der Ernte ArbeiterInnen tage- und stundenweise anheuert. Für eine/n zeitgenössische/n HörerIn dieser Parabel wäre der Hausherr ganz eindeutig Gott und der Weinberg Israel gewesen. Der Kontrast zwischen der Welt des Gleichnisses und der tatsächlichen Arbeitssituation und Ausbeutung der armen ArbeiterInnen - täglich oder stündlich - unterstreicht die gnadenvolle Güte und Gerechtigkeit Gottes. Die die Letzten sind, empfangen den Lohn eines ganzen Tages. Doch die Geschichte endet nicht hier, denn sie bringt auch die Angriffe von einigen der als Erste eingestellten ArbeiterInnen zum Ausdruck. Der Hausherr hatte sie gerecht behandelt, indem er ihnen den versprochenen Lohn für die Arbeit eines Tages gab. Hätten die Letzten weniger bekommen, wären die Ersten zufrieden gewesen. Aber statt für »gerechte Löhne« und Arbeitsbedingungen zu streiten, murren die als Erste Angestellten darüber, daß der 74 Vgl. L. Schottroff, Die Güte Gottes und die Solidarität von Menschen. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, in: Schottroff/Stegemann (Hg.), Der Gott der kleinen Leute, 7I-93.
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Hausherr die Letzten ihnen gleichgestellt hat. Jesu Gleichnis überrascht so seine Hörerlnnen und bringt sie zu der Erkenntnis, daß Gnade und Güte Gottes unter uns allen - Gerechten und SünderInnen, Reichen und Armen, Männern und Frauen, PharisäerInnen und JesusjüngerlnnenGleichrangigkeit herstellt. Es ruft die Hörerlnnen zu Solidarität und Gleichheit mit »den Letzten« in Israel heraus. Die allen geltende Güte »des« Gottes Israels ruft Gleichgestelltheit und Solidarität unter Menschen hervor. Das spannungsvolle Symbol Reich Gottes beschwört in immer neuen Bildern die Verwirklichung der Gnade und Güte »des« Gottes Israels und die Gleichheit und Solidarität des Volkes Gottes herauf. Ein sehr ähnliches Verständnis von Gleichheit bringt eine der ersten Erklärungen der gegenwärtigen Frauenbewegung zum Ausdruck: Wir definieren die besten Interessen von Frauen als die besten Interessen der ärmsten, am meisten beleidigten, verachteten und mißbrauchten Frauen der Erde ... Keine Frau ist frei, bevor jedefrau frei istJ5 Der radikale Feminismus hat die >,Gleichheit von unten«, für die die J esusbewegung in Palästina eingetreten ist, wiederentdeckt, ohne ihre religiösen Wurzeln zu erkennen. Die ältesten Jesustraditionen erfassen »diesen« Gott der Gnade und Güte in einer Frauengestalt als göttliche Sophia (Weisheit)J6 Der sehr alte Spruch: »die Weisheit wird gerechtfertigt [oder verteidigt] von allen ihren Kindern« (Lk 7,35 [Q]) hat seinen Sitz im Leben vermutlich in Jesu Tischgemeinschaft mit ZolleintreiberInnen, Prostituierten und SünderInnen. J esu göttliche Sophia erkennt alle IsraelitInnen als ihre Kinder an, und sie wird von ihnen allen gerechtfertigt. Die Gemeinde der Logienquelle schränkt diesen Spruch ein, indem sie betont, daß die hervorragendsten unter den Kindern der Sophia J ohannes und J esus seien. Erst Matthäus setzt Sophia mit J esus gleichJ7 Es ist nun J esus, die Sophia, die durch ihre Taten gerechtfertigt wird. Die jüdische Weisheitstheologie ist in Ägypten entstanden, durchzieht aber auch die apokalyptische Literatur und findet sich in der Qumrantheologie. Vom dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an feierte die jüdische Weisheitstheologie Gottes Gnade und Güte bei der Schöp75 Redstockings, April 1969, in: Ferninist Revolution, New York 1975> 2°5. 76 V gl. F. Christ, J esus Sophia. Die Sophia Christologie bei den Synoptikern, Zürich 1970;]. M. Robinson, Jesus as Sophos and Sophia. Wisdom Tradition and the Gospels, in: R. Wilken (Hg.), Aspects of Wisdom in Judaism and Early Christianity, Notre Dame 1975, 1-16. 77 Vgl. M.J. Suggs, Wisdom, Christology and Law in Matthews Gospel, Cambridge, Ma. 197°,31-62.
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fung der Welt und der Erwählung Israels zum Volk, in dem Gott in der weiblichen Gestalt göttlicher Weisheit gegenwärtig ist. Obwohl jüdische (und auch christliche) Theologie von Gott in Männersprache und Männerbildern spricht, besteht sie trotzdem darauf, daß derartige Sprache und Bilder keine adäquate Wiedergabe des Göttlichen und menschliche Sprache und Erfahrung nicht fähig sind, Gottes Wirklichkeit zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen. Diese Einsicht kommt im zweiten Gebot und in der unaussprechbaren Heiligkeit des Gottesnamens sehr konkret zum Ausdruck. Gott auf eine bestimmte sprachliche Form oder ein vom Manne gemachtes Bild festzulegen, ist Götzendienst. Die klassische prophetische Theologie polemisierte, oft mit Schmähworten, gegen heidnische Göttinnen-/Götterbilder und lehnte so die Verehrung der Göttin ab - aber nicht, um einen männlichen Gott und einen patriarchalen Götzen zu verteidigen. Indem sie alle anderen Göttinnen/Götter verwirft, sucht die prophetische Theologie, die Einheit von Israels Gott und Gottes Schöpfung zu sichern. Daher verwirft sie den Mythos vom »göttlichen Paar« und lehnt es somit ab, Männlichkeit und Weiblichkeit als letzte, absolute Prinzipien des Menschseins anzuerkennen. Trotz dieser Einsicht blieb prophetische Theologie dem patriarchalen Gottesverständnis verfallen, insofern sie das Bild von der göttlichen Hochzeit auf das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel, das als Braut und Ehefrau Jahwes angesehen wird, übertrug. Anders als in der klassischen Prophetie ist in der Weisheitstheologie die apologetische Verteidigung des Monotheismus nicht von der Furcht vor der Göttin motiviert,78 Sie unternimmt vielmehr den positiven Versuch, in der Sprache ihrer eigenen Kultur zu sprechen und Elemente aus dem »Göttinnenkult« dieser Kultur, besonders dem Isis-Kult, in den jüdischen Monotheismus zu integrieren. Damit treibt sie Theologie als »reflektierende Mythologie«, das heißt sie verwendet Elemente aus der Rede von der Göttin, um von dem wohl-schaffenden Gut-sein »des« Gottes Israels zu sprechen. Ein bekanntes Isis-Gebet verkündet, daß all die verschiedenen Nationen und Völker jeweils die ihnen vertrauten göttlichen Namen verwenden. Sie rufen die Göttin an - im Wissen, daß Isis, da sie die eine ist, allels miteinschließt. Die göttliche Sophia ist Israels Gottheit in der Sprache und Gestalt der Göttin.l9 Sie wird Schwester, Ehefrau, Mutter, Geliebte und Lehrerin genannt. Sie ist Führerin auf dem Weg, Predigerin in Israel, Aufseherin bei 78 Eine ausführlichere Darlegung und Auseinandersetzung mit der Literatur findet sich in meinem Aufsatz: E. Schüssler Fiorenza, Wisdom Mythology and the Christological Hymns of the New Testament, in: Wilken (Hg.), Aspects of Wisdom, 17-42. 79 Zu einer anderen, »archetypischen« Interpretation vgl.J. Chamberlain Engelsman, The Feminine Dimension of the Divine, Philadelphia 1979, 106- I 18.
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der Arbeit und Schöpferin. Sie sucht die Menschen, findet sie auf der Straße und lädt sie zum Essen ein. Sie bietet Leben, Ruhe, Wissen und Rettung allen, die an sie glauben. Sie wohnt in Israel und wirkt im Heiligtum. Sie sendet ProphetInnen und ApostelInnen und macht die, die sie aufnehmen, zu »FreundInnen Gottes«. »Obwohl sie nur eine ist, vermag sie alles, und obgleich sie in sich selbst bleibt, erneuert sie doch das All« (Weish 7,27). Die Weisheit hat eine Wohnung unter den Menschen gesucht, aber keine finden können. Darum hat sie sich wieder zurückgezogen und Wohnung bei den Engeln genommen (1. Henoch-Buch 42,d). Sie ist »verständig, heilig, einzig in ihrer Art« (Weish 7,22). Sie ist »ein« menschenfreundlicher Geist (philanthropon pneuma, 1,6). Sie hat Anteil am Throne Gottes (9,10), ist Eingeweihte (mystis) in Gottes Wissen, Mitarbeiterin an Gottes Werk, Abglanz des göttlichen Lichts, lebt mit Gott symbiotisch zusammen und ist ein Abbild von Gottes Güte (8,Jf und 7,26). Hier wird spürbar, wie schwer sich die Sprache tut, Sophia als göttlich zu beschreiben, ohne einem Ditheismus zum Opfer zu fallen. Die Rede von der Göttin wird angewendet, um von »dem« einen Gott Israels zu sprechen, »dessen« gnadenreiche Güte die göttliche Sophia ist. Die jüdische Weisheitstheologie hat im Unterschied zur gnostischen Theologie erfolgreich gegen die Gefahr eines göttlichen Dimorphismus angekämpft. Doch wie die negative Beschreibung von Frauen in den apokalyptischen und den Weisheitsschriften zeigt, ist es ihr nicht gelungen, anthropologischen Dimorphismus zu vermeiden. Sie eröffnete damit die Möglichkeit, solch anthropologischen Dualismus wieder in die göttliche Wirklichkeit hineinzuprojizieren und »den« Schöpfergott des Judentums zu verwerfen. Während die kosmologische Weisheitsmythologie die ersten christologischen Aussagen der christlichen Missionsbewegung beeinflußt hat, gibt es in den Traditionen der J esusbewegung nur vereinzelte - wenn auch signifikante - Spuren dieser Weisheitsmythologie. Die ältesten palästinischen theologischen Erinnerungen und Deutungen des Lebens und T 0des J esu verstehen J esus als Gesandten der Sophia und später als die göttliche Sophia selbst. Die erste christliche Theologie ist Sophialogie. Es war deshalb wohl möglich, J esu Werk und Tod als Werk und Tod der göttli chen Sophia zu verstehen, weil sich J esus wahrscheinlich selber als Prophet und Kind der Sophia verstanden hat. Als Sophias Gesandter beruft er alle, die mühselig und beladen sind, und verspricht ihnen Ruhe und Schalom. Er verkündet, daß die Nachfolge (das »Joch«) der Sophia sanft und ihre Last leicht ist (Mt 11,28-30). Solch sophialogischer Kontext macht auch den schwierigen Spruch aus der Logienquelle (Mt 12,32; Lk 12,10) verständlicher, daß die Lästerung gegen Jesus als Paradigma für Menschen vergeben werden wird, nicht aber die Lästerung gegen »den«
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Geist. Ein Wort gegen J esus kann vergeben werden, ein Wort gegen das »Kind« oder den Boten der Sophia/»des« Geistes aber nicht, weil dies eine Ablehnung des gnadenreichen Gutseins Gottes ist. Diese theologische Reflexion verstand J ohannes und J esus als die Propheten und Apostel, die in der Sukzession der Botinnen Sophias standen. Wie diese anderen Botinnen werden sie verfolgt und getötet: »Darum hat auch die Weisheit Gottes gesprochen: Ich werde ProphetInnen und ApostelInnen zu ihnen senden, und sie werden etliche von ihnen töten und verfolgen.« (Lk II ,49 [Q ?]) In einer bewegenden Passage beklagt die Weisheit die Ermordung ihrer Botinnen, der ProphetInnen, die in jeder Generation gesa~dt werden, um ihrem Volk Israel die gnadenreiche Güte Gottes zu verkünden: Jerusalem, Jerusalem! Du tötest die ProphetInnen und steinigst, die zu dir gesandt sind; wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie die Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt. (Lk 13,34 Q)80 Dieser Spruch vergleicht das Werk von Sophia-Jesus mit dem einer Henne, die ihre Brut unter ihren Flügel sammelt. Doch die Freundlichkeit und Fürsorge der Weisheit wird zurückgewiesen. Zusammenfassung: Die Jesusbewegung in Palästina versteht Dienst und Mission J esu als Dienst und Mission des Propheten und Kindes der Sophia, ausgesandt zu verkündigen, daß Gott »der« Sophiagott der Armen und Beladenen, der Ausgestoßenen und Unrecht Leidenden ist. Als Kind der Sophia steht er in einer langen Sukzessionsreihe von ProphetInnen, die ausgesandt wurden, die Kinder Israels zu ihrer gnadenreichen göttlichen Sophia zu versammeln. Die Hinrichtung Jesu ist wie die des Johannes die Folge seiner Mission und Verpflichtung als Prophet und Gesandter der göttlichen Sophia, die für die Armen und Ausgestoßenen die Zukunft offen hält und ohne Ausnahme allen Kindern Israels die Gnade und Güte Gottes anbietet. Jesu Sophiagott verlangt kein Sühnopfer. Der Tod Jesu ist nicht von Gott gewollt, sondern er ist die Folge seiner alle Menschen einbeziehenden Praxis als Sophias Prophet. Dieses Verständnis des Leidens und der Hinrichtung J esu im Sinn prophetischer Sophialogie kommt in dem schwierigen Spruch zum Ausdruck, der die Weisheits- und Reich-Gottes-Traditionen zusammenbringt: »Seit den Tagen J ohannes des Täufers bis heute leidet das Reich Gottes Gewalt und wird von Gewalttätigen verhindert.« (Mt II,I2) Leiden und Tod Jesu, 80 Zur Bibliographie vgl. S. Schulz, Die Spruchquelle der Evangelien, Zürich 1972, 336-345.
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wie Leiden und Tod des J ohannes und aller anderen vor ihm zu Israel gesandten ProphetInnen, werden nicht verlangt, um die Sünden des Volkes angesichts einer absoluten Gottheit zu sühnen, sondern sind die Folge der Gewalt gegen die SophiabotInnen, die Gottes grenzenlose Güte und die Gleichheit und Erwählung aller ihrer Kinder in Israel verkünden. 2. Diese in Jesu Predigt, Heilungen, Exorzismen und alle Menschen einladenden Tischgemeinschaft buchstabierten Wirklichkeit der göttlichen Sophia rief einen Kreis von JüngerInnen ins Leben, die fortsetzen sollten, was J esus getan hat. Sophia, J esu Gott, will das Ganz-sein und die volle Menschlichkeit aller und befähigt daher die Jesusbewegung, eine Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten zu werden. Sie sind zu genau derselben Praxis der Gleichstellung und des Einbeziehens aller berufen, wie sie Jesus-Sophia gelebt hat. Wie Jesus sind sie ausgesandt, allen in Israel die Gegenwart des Reiches Gottes als Gottes gnadenreiche Zukunft unter den Armen, den Hungernden, den ZöllnerInnen, SünderInnen und Prostituierten zu verkünden. Wie J esus sind seine JüngerInnen ausgesandt, das Reich Gottes in ihren Heilungen und Exorzismen, im Wiederherstellen von Menschlichkeit und Heil-sein aller Kinder der göttlichen Sophia zu einer erfahrbaren Wirklichkeit zu machen. Die meisten von ihnen waren nicht reich wie die kynischen PhilosophInnen, die die Wahl hatten, Eigentum und hohe kulturell-gesellschaftliche Stellung zurückzuweisen, um »frei vom Besitz zu werden«. Sie wurden vielmehr aus der bettelarmen, hungernden und schwerbeladenen Landbevölkerung heraus berufen. Sie waren ZöllnerInnen, SünderInnen, Frauen, Kinder, FischerInnen, Hausfrauen, Menschen, die von ihren Krankheiten geheilt und von ihrer Versklavung durch böse Geister befreit worden waren. Die JesusjüngerInnen boten keinen alternativen Lebensstil an, sondern ein alternatives Ethos: Sie waren die, die keine Zukunft hatten, doch nun haben sie neue Hoffnung erhalten. Sie waren die Ausgestoßenen und Marginalisierten, doch nun haben sie neue Gemeinschaft geschenkt bekommen. Sie waren verachtet und mit Füßen getreten, doch nun haben sie Würde und Selbstvertrauen als geliebte Kinder von Sophia-Gott. Sie waren wegen ihrer Lebensverhältnisse und aufgrund sozialer Ungerechtigkeit SünderInnen ohne jede Hoffnung auf eine Teilhabe an Gottes Heiligkeit und Gegenwart, doch nun sind sie ErbInnen des Reiches Gottes und erfahren die gnadenreiche Güte Gottes, die sie den Heiligen und Gerechten in Israel gleichmacht. Als Heil- und Gleichgewordene kamen sie zusammen in der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten und teilten ihr karges Brot mit denen, die kamen, das Evangelium zu hören. (Die Geschichten von den wunderbaren Speisungen der vielen enthalten nicht nur eucharistische Beiklänge, sondern sprechen auch von der Sorge und Angst der J esusjüngerInnen darüber, daß sie so wenig Essen zu teilen ha-
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ben.) Sie stehen in der Sukzession der Sophiaprophetlnnen und verkündigen Israel Schalom. Als JüngerInnen Jesu führen sie weiter, was Jesus getan hat, nämlich die Wirklichkeit des Reiches Gottes und die allen Menschen geltende Güte von Jesu Sophiagott erfahrbar zu machen. 8I Während die Traditionen der Logienquelle das prophetische Werk J esu und seiner Bewegung auf das Volk Israel begrenzen, scheint die galiläische Jesusbewegung schon sehr früh HeidInnen aufgenommen zu haben. Die vormarkinischen Streitgespräche Mk 2,1-3,6, wie auch die in Mk 4,3 5-8, 10 verarbeitete Sammlung von Wundergeschichten, scheinen die Frage der Tischgemeinschaft mit HeidInnen als innerchristliches Problem anzusprechen. Die galiläischen »MissionarInnen« betonen nachdrücklich, daß viele SünderInnen mit Jesus und seinen JüngerInnen zu Tische saßen, »denn es waren viele, die ihm nachfolgten« (Mk2,1 5).82 Die Bezeichnung SünderInnen meint nun aber nicht diejenigen JüdInnen, die auf irgendeine Weise die Thora übertreten hatten, sondern - wie oft im jüdischen Diskurs - »HeidInnen«. Somit haben schon sehr früh Mitglieder der galiläischen J esusbewegung ihre Tischgemeinschaft mit HeidInnen durch Verweis auf die Praxis Jesu und auf die Tatsache, daß viele NichtjüdInnen JüngerInnen J esu geworden waren, gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung unternehmen sie weniger, um sich gegenüber den PharisäerInnen als um sich gegenüber der Kritik anderer ChristInnen zu verteidigen, denn die Sammlung der Streitgespräche verweist auf eine innerchristliche Auseinandersetzung. Daß eine solch offene Tischgemeinschaft von JüdInnen und HeidInnen unter ChristInnen sehr umstritten war, wird auch aus der Aussage des Paulus deutlich (Gal 2,II14), daß der Galiläer Petrus in Antiochia mit heidnischen ChristInnen Tischgemeinschaft gehalten, aber damit aufgehört habe, als er deswegen angegriffen wurde. Er und andere JudenchristInnen vollzogen eine Kehrtwendung, als sie von den JakobusjüngerInnen aus Jerusalem angegriffen wurden. Die Bekehrung des römischen Hauptmanns Kornelius (Apg 10,1 - 11,18) spiegelt dieselbe Auseinandersetzung über rituelle Unreinheit wider. Nachdem Petrus das ganze Haus des Römers getauft hatte, ging er nach Jerusalem hinauf und wurde dort von der »Beschneidungspartei« angegriffen: »Du bist zu Unbeschnittenen [d. h. HeidInnenJ gegangen und hast mit ihnen gegessen.« (Apg I I ,2f) Petrus rechtfertigt seine Tischgemeinschaft mit HeidenchristInnen dadurch, daß er sich 8r Vgl. P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, Münster r972, 287Fr, bes. 296ff. 82 Vgl. U. B. Müller, Zur Rezeption gesetzeskritischer Jesusüberlieferung im frühen Christentum, in: New Testament Studies 27 (r98r) 158-185; U. Luz, Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie, Tübingen 1975> 347-374.
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auf eine himmlische Vision beruft, in der ihm befohlen worden war, kultisclt unreine Speisen zu essen. Die vormarkinische Geschichte von der Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20) entscheidet diese Auseinandersetzung ebenfalls für sich, gebraucht jedoch ein anderes theologisch-historisches Argument: Jesus selbst war es, der die HeidInnen von ihren »unreinen« Geistern befreite. Jesus forderte den Mann aus Gerasa nicht auf, bei ihm zu bleiben, sondern befahl ihm, den Seinen die große Barmherzigkeit Gottes zu verkünden (5,18-20). Sitz im Leben dieser eigenartigen Exorzismusgeschichte ist deshalb nicht die Missionspredigt für die HeidInnen, sondern die innerchristliche Auseinandersetzung um die HeidInnenmission und die Tischgemeinschaft zwischen Heiden- und JudenchristInnen. In der vormarkinischen Heilungsgeschichte Mk 7,24-30 wird dasselbe schwierige Problem theologisch diskutiert. 83 Erstaunlicherweise ist es eine Frau, die die wichtigste Theologin und Fürsprecherin einer solchen Tischgemeinschaft mit HeidInnen ist. Im Gegensatz zu allen anderen Streitgesprächen hat hier Jesus nicht das letzte Wort. Vielmehr gibt das Argument der Frau gegenüber dem Argument Jesu den Ausschlag. Das Gleichniswort Jesu gegen die Zulassung von HeidInnen zur Gemeinde Jesu provoziert den klugen Widerspruch der Frau. Sie greift Jesu Gleichnisbild »Tisch-Kinder-Hunde« auf und wendet es als Argument gegen ihn. Die Frau gewinnt das Streitgespräch, denn Jesus, von ihrem Argument überzeugt (dia touton ton logon), befreit ihre Tochter von dem Dämon. Außer der Einleitung V. 24a und dem Zuatz V. 27 (erst die Kinder) ist die Geschichte eine einheitliche vormarkinische Komposition. Wenn sie zusammen mit der Exorzismuserzählung vom Besessenen von Gerasa erzählt worden ist, dann benutzten diese Geschichten das Beispiel Jesu gegenüber denen, die sich auf ein J esuswort beriefen, um ein striktes Verbot der HeidInnenmission zu rechtfertigen. So warnt das schwierige Wort Mt 7,6 davor, Speisen, die beim Opfer dargebracht wurden (und deshalb heilig sind), nicht den Hunden zu geben und Perlen nicht vor die Säue zu werfen. Da Hunde und Schweine als unreine Tiere galten, konnten sie als Metaphern für HeidInnen gebraucht werden. Dieses Jesus zugeschriebene Wort argumentiert also, daß das Evangelium vom Reich Gottes, das in Mt 13,45 mit einer Perle verglichen wird (und die »heilige« Tischgemeinschaft unter ChristInnen) nicht den HeidInnen gegeben werden solle - aus Furcht, diese könnten es mißbrauchen. 83 Vgl. die Diskussion und Literatur bei Alice Dermience, Tradition et redaetion dans la perieope de la Syrophenieienne: Mare 7,24-30, in: Revue Theologique de Louvain 53 (1977) 15- 2 9.
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Wenn Mk 7,24a eine markinische redaktionelle Einleitung ist, dann ist die ursprüngliche Geschichte in Galiläa angesiedelt. Die Frau wird ethisch und kulturell als Heidin charakterisiert. Ihre Tochter (ihre Zukunft?) war von einem bösen Geist versklavt, und sie erwartet von Jesus Befreiung. Das griechische Verb chortasthenai (satt werden) verbindet diese Geschichte mit den beiden vormarkinischen messianischen Speisungswundern, insofern dieses Verb sich bei Markus nur hier und in 6,42 und 8,4.8 findet. 84 Die Speisungswunder haben starke eucharistische Obertöne, die aber bei Markus abgeschwächt werden. Dem Argument, daß die Kinder (Israel) gesättigt werden sollen und ihnen nicht ihre Nahrung weggenommen und den Hunden (HeidInnen) gegeben werden dürfe, widerspricht die Frau mit dem Hinweis auf die messianische Fülle der christlichen Tischgemeinschaft. Gnade und Güte »des« Gottes Jesu sind in solchem Überfluß vorhanden, daß sie zur Sättigung nicht nur der JüdInnen, sondern auch der HeidInnen ausreichen. Die Macht des Reiches Gottes befreit nicht nur die »Kinder« Israels, sondern auch das Mädchen, das als Frau und Heidin gleich zweifach kultisch befleckt und damit in ritueller Unreinheit gefangen ist. Wenn J 0 4, I -42 eine überlieferte Missionslegende über die vorrangige Rolle einer Frau in den Anfängen der christlichen Gemeinde in Samaria bearbeitet85, dann gibt es aus zwei verschiedenen Schichten der Evangelientradition Beweismaterial dafür, daß Frauen bei der Ausbreitung der Jesusbewegung auf NichtjüdInnen bestimmend waren. Frauen waren die ersten nichtjüdischen Menschen, die Mitglieder der J esusbewegung wurden. Obwohl die Syrophönizierin den Primat der »Kinder Israels« respektiert, argumentiert sie dennoch theologisch gegen die Beschränkung der alle Menschen einbeziehenden messianischen Tischgemeinschaft J esu auf Israel allein. Daß ein solches theologisches Argument einer Frau in den Mund gelegt wird, ist ein Zeichen für die historische Führungsrolle, die Frauen bei der Öffnung der Jesusbewegung und Jesusgemeinschaft für die »von HeidInnen abstammenden SünderInnen« (Gal2,I 5) hatten. Diese historische Entwicklung war von größter Bedeutung für die Anfänge des Christentums. Frauen, die die gnadenreiche Güte von Jesu Gott erfahren hatten, hatten eine führende Rolle bei der Ausbreitung der Jesusbewegung in Galiläa und bei der Entwicklung einer theologischen Argumentation aus den Jesustraditionen zur Begründung, warum HeidInnen Zugang zur Macht »des« Gottes Jesu und Anteil an der überfließenden Fülle der messianischen Tischgemeinschaft haben sollen. Indem 84 Vgl. B. Flammer, Die Syrophoenizierin, in: Theologische Quartalschrift I48 (1968) 463-478.468. 85 Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 2°1978.
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sie die galiläische Jesusbewegung herausforderten, ihre Tischgemeinschaft auszudehnen und die Macht und Zukunft des Reiches Gottes auch HeidInnen erfahrbar zu machen, bewahrten diese Frauen die von J esus ins Leben gerufene, für alle Menschen offene Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten. Die syrophönizische Frau, deren schlagfertiges Argument ihrer Tochter eine Zukunft der Freiheit und des Heilseins eröffnete, ist zu einer historisch noch sichtbaren Anwältin einer solchen Zukunft auch für HeidInnen geworden. Sie ist die apostolische» Vormutter« aller Heidenchristlnnen geworden. 3. Galiläische Frauen waren nicht nur an der Ausbreitung der Jesusbewegung auf HeidInnen maßgeblich beteiligt, sondern auch an der kontinuierlichen Weiterführung dieser Bewegung nach der Verhaftung und Hinrichtung Jesu. Die galiläischen Jüngerinnen Jesu sind nach seiner Verhaftung nicht geflohen, sondern in Jerusalern geblieben, um bei seiner Hinrichtung und Bestattung in der Nähe zu sein. Diese galiläischen Frauen waren daher die ersten, die ihre Erfahrung der machtvollen Güte Gottes bezeugten, die den gekreuzigten Jesus nicht im Grabe ließ, sondern ihn von den Toten auferweckte. Das frühchristliche Bekenntnis»J esus von N azareth, der Gekreuzigte, ist auferstanden« wird nach der vormarkinischen Auferstehungsgeschichte Mk 16,I-6.8a86 zu allererst den galiläischen Jüngerinnen Jesu in einer Erscheinung offenbart. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die galiläischen Jünger nach der Verhaftung J esu aus J erusalem geflohen und nach Galiläa zurückgekehrt. Aufgrund visionär-ekstatischer Erfahrungen kamen die Jüngerinnen, die in der Stadt geblieben waren, zu der Überzeugung, daß Gott Jesus und sein Werk gerechtfertigt habe. Von daher wurden sie bevollmächtigt, Bewegung und Werk Jesu, »des« Auferstandenen, weiterzuführen. 87 Vermutlich versuchten sie, die verstreuten JüngerInnen und FreundInnen J esu, die in und um J erusalem lebten, zu sammeln - Jüngerinnen wie Maria, Martha von Bethanien, die Frau, die Jesus gesalbt hatte, die Mutter des Johannes Markus, die ein Haus in J erusalem besaß, oder Maria, die Mutter Jesu, aber auch Jünger wie Lazarus, Nikodemus oder den »Jünger, den Jesus lieb hatte«. Einige dieser Frauen sind vermutlich auch bald in ihr Heimatland Galiläa zurückgekehrt. Eine solche Rekonstruktion der Ereignisse nach dem Tod und der Auferstehung Jesu ist historisch plausibel, da es für die Frauen aus der Jesusbewegung wahrscheinlich 86 Vgl. die Übersicht und Diskussion bei H. Paulsen, Mk xvi 1-8, in: Novum Testamentum 22 (1980) 138-175; A. Lindemann, Die Osterbotschaft des Markus. Zur theologischen Interpretation von Mark 16.1-8, in: New Testament Studies 26 (1980) 298-3 1 7. 87 Dies bleibt völlig unberücksichtigt in der Untersuchung von G. O'Collins, Peter as Easter Witness, in: Heythrop Journa122 (1981) 1-18.
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leichter als für die Männer war, in den Untergrund zu gehen. Indem sie die frohe Botschaft von der Manifestation der lebenspendenden Macht Gottes in J esus von N azareth unter den NachfolgerInnen und FreundInnen J esu lebendig gehalten haben, führten die Frauen aus Galiläa die von J esus ins Leben gerufene Bewegung fort. Die hervorragendste unter den JüngerInnen aus Galiläa war Maria von Magdala. Denn nach der Tradition war sie die erste, die eine Erscheinung »des« Auferstandenen hatte. Zwei verschiedene vorevangelische Traditionsstränge überliefern Namen von galiläischenJüngerinnen. Obwohl die Namen variieren, scheint Maria von Magdala die führende Person unter ihnen gewesen zu sein, denn sie wird gewöhnlich an erster Stelle erwähnt. Die Namen werden uns in den palästinischen vorlukanischen und vormarkinischen Listen unterschiedlich überliefert. Hengel hat jedoch die Tendenz beobachtet, die Frauennamen in Dreiergruppen aufzuführen, ähnlich wie es auch bei der besonderen Dreiergruppe unter den Zwölfen (Petrus, Jakobus, Johannes) und den Leitern der J erusalemer Gemeinde (der Herrenbruder Jakobus, Kephas, Johannes) der Fall ist. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Dreiergruppe und die Abfolge der Namen ist Hinweis auf eine besondere Stellung der Genannten in der späteren Gemeinde. 88 In Lk 8>3 erwähnt das Sondergut des Lukas Johanna, die Frau eines Verwalters des Herodes, die so als eine Frau höheren sozialen Standes charakterisiert wird. Wie wichtig sie für Lukas war, geht daraus hervor, daß er in Lk 24,10 ihren Namen in die markinische Liste einfügt. Doch wahrscheinlich hat er diesen Namen wegen seines in Lk 8, 1 - 3 und in der Apostelgeschichte deutlich zum Ausdruck kommenden Interesses an wohlhabenden Frauen der Liste zugefügt. Hengel schließt seinen Artikel mit der Bemerkung, daß die Botschaft Jesu »in besonderer Weise auf die Frauen in Israel gewirkt haben«89 muß, doch er erklärt nicht, warum das so war. Wir haben gesehen, daß Jesu Sophiagott die Berufung von Frauen in die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ermöglicht hat. Es ließe sich jedoch einwenden, daß lhe Traditionen der Logienquelle Gnade und Güte von Jesu Gott nicht nur im Bild der göttlichen Sophia entwerfen, sondern »diesen« Gott auch »Vater« nennen. Legitimieren sie damit indirekt patriarchale Strukturen und den zweitklassigen Status von Frauen in diesen Strukturen, oder hat ihre androzentrische Sprache doch eine kritische Spitze, die den Strukturen des Patriarchats jede religiöse Autorität abspricht? Diese Frage ist 88 Vgl. M. Hengel, Maria Magdalena und die Frauen als Zeugen, in: O. Betz/M. Hengel/Po Schmidt (Hg.), Abraham unser Vater. Festschrift für Otta Michel, Leiden I963, 243- 2 56.24 8. 89 A.a.O.,256.
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keineswegs eine moderne Frage, die dem neutestamentlichen Text fremd wäre. Diese Frage stellen heißt vielmehr die J esustraditionen in Hinblick auf soziopolitische Strukturen zu untersuchen. Wir haben gesehen, daß im ersten Jahrhundert das Patriarchat als soziale Institution zwar fest etabliert war, aber zugleich durch religiöse Praxis und rechtliche Konventionen, die den Frauen größere Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit gaben, unterminiert wurde.
Befreiung aus patriarchalen Strukturen und die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten Ich habe zu zeigen versucht, daß die frühchristliche Bewegung Führungspositionen für Frauen öffnete und deshalb »egalitär« genannt werden kann. Als eine Konfliktbewegung in Palästina, Syrien, Griechenland, Kleinasien und Rom war sie wegen ihrer Praxis der Nachfolge von Gleichgestellten eine Herausforderung an das herrschende patriarchale Ethos und stand zu ihm in Opposition. Dagegen hat jedoch Luise Schottroff eingewendet, daß die Befreiung aus patriarchalen Strukturen für die palästinische J esusbewegung nicht von primärem Interesse gewesen sei und sie diese deshalb niemals als zentrales Thema angesprochen habe: »Die Befreiung aus patriarchalischen Strukturen, soweit sie überhaupt für Menschen unter solch harten Lebensbedingungen noch eine Rolle spielen, ergab sich aus der Hoffnung auf die Königsherrschaft Gottes.«9 Ein solches Argument will nicht antifeministisch sein, sondern dem sozialgeschichtlichen Kontext der Textstellen in den J esustraditionen über Frauen gerecht werden. So sehr ich auch Schottroffs Sorge um die Herausarbeitung des sozialen Sitzes im Leben der Jesusüberlieferungen teile, teile ich doch ihre implizite Voraussetzung nicht, daß patriarchale Strukturen und Armut zwei verschiedene Probleme und nicht zwei Seiten derselben Medaille seien. Daher müssen die gemeinsamen Grundlagen und die unterschiedlichen Akzentsetzungen von »sozialgeschichtlicher« und »feministisch-historischer« Interpretation weiter geklärt werden. Nur wenn ökonomische Ausbeutung und patriarchale Unterdrückung als zwei verschiedene sozio-ökonomische Systeme konzipiert werden, kann angenommen werden, daß die Befreiung aus patriarchalen Strukturen für Notleidende keine große Dringlichkeit hatte. Aber eine solche Annahme neigt dazu, die Tatsache zu übersehen, daß im ersten Jahrhun0
90 Luise SchottroJJ, Frauen in der Nachfolge Jesu in neutestamentlicher Zeit, in: W. SchottrofflW. Stegemann (Hg.), Traditionen der Befreiung, Bd. 2: Frauen in der Bibel, , München 1980,91-133.113.
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dert - wie heute auch - die meisten der Armen und Hungernden Frauen waren, besonders Frauen, die keine Männer hatten, durch deren Vermittlung sie am Reichtum der patriarchalen Gesellschaft hätten Anteil bekommen können. Im Altertum sind Waisen und Witwen die wichtigsten Beispiele für Arme und Ausgebeutete. Doch christlichem Bewußtsein und christlicher Theologie wurde »der arme Lazarus« und nicht »die arme Witwe« zur Verkörperung der Armut. Deshalb haben wir es unterlassen, theologisch die Hoffnung J esu für die Frauen zu artikulieren, die arm und notleidend sind. Außerdem glaube ich nicht, daß die soziale Kategorie »die Armen« den inklusiven Charakter der Jesusbewegung ausreichend beschreibt. Zu dieser Kategorie muß die Kategorie »die Marginalisierten« hinzugefügt werden, denn die Heilungsgeschichten und die Erzählungen über andere Personen in den Jesustraditionen weisen darauf hin, daß Jesus und seine Bewegung für alle Menschen offen waren, besonders für die religiös und gesellschaftlich Ausgestoßenen. Obwohl die Mehrheit der Zöllnerlnnen, Prostituierten und SünderInnen arm gewesen sein dürfte, trifft das vermutlich nicht auf sie alle zu. Die Behauptung, daß die Befreiung aus patriarchalen Strukturen für Jesus und seine Bewegung nicht von vorrangiger Dringlichkeit gewesen sei, übersieht nicht nur die androzentrischen Tendenzen, die in der Tradition und Redaktion des Quellenmaterials über J esus noch nachgewiesen werden können9I , sondern auch die störende und unterbrechende Wirkung J esu und seiner Bewegung auf das herrschende Ethos. Die Vorschriften des Heiligkeitsgesetzes wie auch der Schriftgelehrten kontrollierten das Leben von Frauen noch mehr als das von Männern und legten ihren Zugang zur Gegenwart Gottes in Tempel und Thora noch strenger fest. Jesus und seine Bewegung boten eine alternative Interpretation der Thora, die allen, die zum auserwählten Volk gehörten, und besonders denen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Situation nur wenig Möglichkeiten hatten, in Tempel und Thora Gottes Macht zu erfahren, Zugang zu Gott eröffnete. Diesen Erneuerungsaspekt der Jesusbewegung zu unterstreichen impliziert nicht Antijudaismus. Ihn zu übersehen würde dagegen, heißen, die verpflichtendsten religiösen Heilszugänge des Judentums im ersten Jahrhundert subtil herunterzuspielen. Der charismatische Prophet Hanina ben Dosa, ein Zeitgenosse Jesu, zeigt eine ähnlich galiläische Haltung der Unabhängigkeit gegenüber der herrschenden Theologie. Ein 9I L. Schattroff (Maria Magdalena und die Frauen am Grabe Jesu, in: Evangelische Theologie 42 (I 9 82) 3- 2 5) bestreitet solche androzentrischen Tendenzen im Quellen-
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solch galiläischer Widerstand gegen schriftgelehrtes Proselytenmachen ist in einem Spruch zusammengefaßt, der Johanan ben Zakkai, einer Schlüsselfigur in der Neuorganisation des Judentums nach 70, zugeschrieben wird: »Galiläa, du hassest die Thora; dein Ende wird Zerstörung sein.« Wenn Neusner mit seiner Darstellung der Entwicklungslinien des Heiligkeitsgesetzes recht hat, war dieses Gesetz das Herzstück jüdisch patriarchaler Mittelschichtreligion. Die bloße Tatsache, daß die palästinischen und galiläischen J esustraditionen nicht nur davon sprechen, daß Frauen wie Männer von Krankheit und Leiden befreit werden, sondern auch die Einwände gegen J esus, der sich von Kranken und SünderInnen »berühren« ließ, wiedergeben, zeigt an, welchen Störfaktor die alle Menschen einbeziehende Nachfolgepraxis der Jesusbewegung im herrschenden Ethos dargestellt hat. Dies unterscheidet die Jesusbewegung von anderen religiösen Gruppen ihrer Zeit, die den Zugang zu Gegenwart und Macht Gottes kontrollieren wollten. Schließlich dürfen wir Jesu »Parteinahme für die Armen« nicht in Gegensatz stellen zu »Emanzipation aus patriarchalen Strukturen«. Die J esustraditionen machen nicht nur seine Position auf seiten der Armen, sondern auch seine Parteinahme für Frauen deutlich, aber in keinem der beiden Fälle »artikulieren« sie eine Strategie für strukturelle Veränderung. Jesu Verkündigung spricht die Unterdrückungsstrukturen nicht explizit kritisch an. Doch indem seine Verkündigung auf der Grundlage, daß alle Personen in Israel durch das wohl-tu ende Gut-sein von Jesu Sophia-Gott geschaffen und erwählt sind, eine Vorstellung von einer anderen Zukunft und von anderen menschlichen Beziehungen entwirft, untergräbt sie implizit diese patriarchalen Strukturen. Jesus und seine Bewegung setzen die, die entmenschlicht und von bösen Mächten unterjocht sind, frei und untergraben dadurch ökonomische und patriarchale Strukturen, auch wenn die in diesen Prozeß verwickelten Menschen vielleicht nicht in Begriffen sozialer Strukturen gedacht haben. Die Unterschiede zwischen einer sozialgeschichtlichen und einer feministisch-historischen Bibelinterpretation treten weniger bei der Auslegung historischer Texte hervor, als in der Perspektive, die an solche Arten, die Bibel zu lesen, herangetragen wird. Folgende Aussage von Luise Schottroff kann dies veranschaulichen: »Eine arme Frau ist die Mutter des Messias Israels geworden, in dessen Namen seine Boten den Beginn des Reiches Gottes verkündigen. Sie repräsentiert die Hoffnung der Armen - Männer und Frauen - nicht etwa die Hoffnung von Frauen allein.«9 2 Ich stimme dieser Aussage völlig zu, aber ich würde sie präzisieren: Maria repräsentiert als Frau diese Hoffnung der Armen. Nur eine 92 Schattroff, Frauen in der Nachfolge Jesu,
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solche Präzisierung würde diesen Satz als feministisch ausweisen. Mir geht es hier nicht um Wortklauberei, ich argumentiere gegen eine ganze Richtung in der christlichen Theologie, die es Frauen zwar erlaubt, sich mit allgemeinen (Männer-)Kategorien und -Gruppen, z. B. den Armen, den Verlassenen, den Brüdern, den Priestern zu identifizieren, ihnen aber nicht erlaubt, sich selbst in Solidarität mit anderen Frauen als Frauen zu identifizieren. Eine durch christliche generische Sprache geförderte Selbstentfremdung von Frauen verlängert die exegetische und theologische Tradition, die arme Frauen als Frauen unsichtbar macht. Jedoch finden wir in den vorevangelischen Jesustraditionen noch einige Texte, die klar und deutlich, wenn auch indirekt, patriarch ale Strukturen ansprechen: 1. Die vormarkinischen Streitgespräche, in denen Jesus patriarchale Ehestrukturen infrage stellt (Mk 10,2-9 und 12,18-27), 2. die Texte über das a-familiale Ethos der Jesusbewegung und 3. die Worte über herrschaftsfreie Beziehungen in der Gemeinschaft der JüngerInnen. 1. Die beiden vormarkinischen Streitgespräche über die patriarchale Ehe werden in der Regel unter dem Gesichtspunkt »Scheidung« und »Auferstehung« behandelt. 93 Diese Thematisierung läßt uns jedoch den tatsächlichen Streitpunkt der Auseinandersetzung übersehen. Mk 10,29 muß nicht nur getrennt von dem Wort über die Scheidung in Mk 10,10- 12, es darf nicht einmal im Licht dieser Stelle interpretiert werden.94 Die an J esus herangetragene Frage (»darf ein Mann seine Frau entlassen?«) ist durch und durch androzentrisch und setzt die patriarchale Ehe als gegeben voraus. Der erste Wortwechsel zwischen Jesus und den Pharisäern macht deutlich, daß Scheidung wegen der» Herzenshärte« der Männer nötig ist, das heißt wegen der patriarchalen Geisteshaltung und Wirklichkeit von Männern. Solange das Patriarchat besteht, ist die Scheidung erlaubt. In den Strukturen des Patriarchats darf sie nicht abgeschafft werden. Aber J esus beharrt darauf, daß Gott das Patriarchat weder geschaffen noch gewollt hat, sondern Menschen als Männer und Frauen geschaffen hat. Nicht die Frau wird in die Macht des Mannes gegeben, um »sein« Haus und »seine« Familie weiterzuerhalten, sondern der Mann soll die Bindungen an seine patriarchale Familie lösen »und die beiden werden eine sarx sein«. Sarx (»Fleisch«) kann viele Bedeutungen haben: Leib, Person, Mensch, jede/r, menschliche Natur, menschliche Abstammung, Natürliches oder Irdisches, menschliches Leben im allgemeinen, 93 Vgl. B. Brooten, Konnten Frauen im alten Judentum die Scheidung betreiben? Überlegungen zu Mk IO,II-I2 und IKor 7,IO-II, in: Evangelische Theologie 42 (1982) 65-79· 94 Zur Literatur und zu einer etwas anderen Interpretation vgl. Hultgren, Jesus and His Adversaries, II9-123.
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soziale Beziehungen, » irdische« Geschichte. Im Gegensatz zu Geist kann Fleisch auch irdische, sündige menschliche Haltungen und Verhaltensweisen meinen, niemals jedoch hat es ausschließlich sexuelle Bedeutung. Deshalb wird dieser Abschnitt am besten so übersetzt: »Die beiden Mann und Frau - treten in ein gemeinsames menschliches Leben und in gemeinsame soziale Beziehungen ein, weil sie als Gleichgestellte geschaffen sind.« Der Text spielt nicht auf den Mythos eines androgynen ersten menschlichen Geschöpfes an, sondern verweist auf die von Gott, »dem« Schöpfer gewollte und ermöglichte, auf Gleichrangigkeit basierende Partnerschaft von Mann und Frau in der menschlichen Ehe. Was daher Gott in gleichberechtigter Partnerschaft verbunden hat (zusammen ins Joch gespannt hat, vgl. das Joch von J esus-Sophia als Symbol für Nachfolge), sollen Menschen nicht scheiden. Der zweite Text Mk 12,18-27 stellt die patriarchalen Strukturen nicht in Hinblick auf die Schöpfung kritisch infrage, sondern im Blick auf die eschatologische Zukunft, die in apokalyptischer Theologie oft als Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfung gesehen wird. Das schwierige rechtlich-theologische Problem wird von den Sadduzäerlnnen aufgeworfen, die den ungeschriebenen Glauben an die Auferstehung mit der Begründung zurückweisen, daß er sich nicht im Pentateuch findet. Sie machen geltend, daß der Auferstehungsglaube nicht mit dem Gebot der » Leviratsehe« (Dt 25,5 - 10) in Einklang gebracht werden könne. Solcher Auferstehungsglaube würde Inzest und Greueltaten im Himmel implizieren, denn die Auferstehung hätte die Gleichzeitigkeit von Personen, die zu historisch unterschiedlichen Zeiten gelebt hätten, zur Folge. Die Frau, die der Reihe nach mit sieben Brüdern verheiratet war, wäre nach der Auferstehung mit ihnen allen verheiratet. Wie die Sadduzäerlnnen in der Geschichte es formulierten, besteht die theologische Schwierigkeit im Glauben an ein Leben nach dem Tod, denn sie können sich nicht vorstellen, daß die Leviratsehe das theologische Problem darstellen könnte, das hier zur Diskussion steht. Das Gesetz der Leviratsehe diente der Fortführung der patriarchalen Familie dadurch, daß Wohlstand und Erbe garantiert in der Familie blieben. Dies war ein wichtiges Interesse der Sadduzäer, von denen viele der Oberklasse angehörten und Priester waren, reiche Landbesitzer, die in Jerusalem lebten - und so doppelten Profit hatten: von den Abgaben, die ihnen als Priester geschuldet wurden, und den Abgaben der Pächterlnnen, die ihr Land bearbeiteten. Für sie war das Leviratsgesetz, das die patriarchalen Strukturen der Großfamilie schützte und fortdauern ließ, von größter Wichtigkeit. Obwohl dieses Gesetz manchmal größere Härten für den Bruder des verstorbenen Ehemannes mit sich brachte, während es die finanzielle Sicherheit der Witwe garantierte, diente es dennoch der Fortsetzung der pa-
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triarchalen Familienlinie und der Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen. Jesu Antwort stellt ganz deutlich fest, daß die SadduzäerInnen im Irrtum sind. Sie kennen weder die Schriften noch die Kraft Gottes, weil sie nicht erkennen, daß »in der Welt« »des« lebendigen Gottes patriarchale Ehe weder für Männer noch für Frauen existiert. Sie heiraten nicht, noch lassen sie sich heiraten, »sondern sind wie die Engel im HimmeL« Letzteres wird oft so verstanden, als impliziere ihr »Wie-die-Engel-sein« A -sexualität oder Freiheit von Geschlechtsunterschieden und Geschlechtsverkehr. 95 Ohne Zweifel kann sich diese Interpretation auf eine lange Tradition berufen, doch sie hat keine Basis im Text. Das eschatologische »wie die Engel oder himmlischen Botinnen sein« von Männern und Frauen muß mit Bezug auf den ersten Teil dieses Satzes verstanden werden. Nicht Geschlechtsunterschiede und Sexualität gibt es in der Welt Gottes nicht mehr, sondern die »patriarchale Ehe ist nicht mehr«, denn ihre Funktion der Aufrechterhaltung und Fortführung patriarchaler ökonomischer und religiöser Strukturen ist nicht mehr notwendig. Das heißt »wie die Engel in der Welt Gottes« zu leben und zu sein. Der überleitende Satz in V 26a »Was aber die Toten angeht, daß sie auferweckt werden« scheint eine nachträgliche Einfügung durch die spätere Gemeinde zu sein, denn er ist nicht für dieses Streitgespräch, sondern nur für den Auferstehungs »beweis« von Interesse. Der darauf folgende Verweis auf die Offenbarung Gottes an Moses im brennenden Dornbusch spricht diese Frage und dieses Interesse nicht an. Er muß künstlich verdreht werden, damit er sich auf die Auferstehung bezieht (das heißt: Israels Patriarchen sind jetzt am Leben - aber das wird nicht gesagt). Aber dieser Verweis antwortet direkt auf die Frage nach der Fortführung der patriarchalen Familie: Im brennenden Busch offenbart sich Gott dem Moses als Gott der Verheißung und der Segnung, die den Patriarchen und ihren Nachkommen zuteil wurden. Das Fortbestehen des Hauses Israel wird nicht in und durch patriarchale Ehestrukturen, sondern durch die Verheißung und Treue von Israels mächtigem, lebensspendendem Gott garantiert. Während der Gott des patriarchalen Systems und seiner Sicherheiten der »Gott von Toten« ist, ist Israels Gott »der« »Gott von Lebenden«. In Gottes Welt sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen nicht mehr von patriarchaler Herrschaft und Abhängigkeit bestimmt, sondern Männer und Frauen stehen zueinander als Personen in Beziehung, die in der Gegenwart »des« lebendigen Gottes leben. Dieses Streitgespräch, das die soziale Welt Palästinas und der Jesusbewegung widerspiegelt, endet daher mit der entschiedenen Feststellung, daß die 95 Vgl. K. Niederwimmer, Askese und Mysterium, Gättingen 1975, 53.
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SadduzäerInnen »sehr im Irrtum« sind, wenn sie annehmen, daß die Strukturen des Patriarchats zweifellos auch eine Dimension der Welt Gottes seien. Ebenso haben auch alle späteren ChristInnen geirrt, insofern sie unterdrückende patriarchale Strukturen aufrechterhalten haben. 2. Gerd Theißen hat auf das a-familiale Ethos der Jesusbewegung in Palästina hingewiesen. Dadurch daß er jedoch zum Beweis dieser Behauptung Lk 14,26 (Q) als ältesten Text wählt, macht er aus der Jesusbewegung eine Bewegung wandernder charismatischer Männer, die nicht nur Haus und Kinder, sondern auch ihre Ehefrauen zurückgelassen hätten, während SympathisantInnengemeinschaften in den Orten solch radikales Ethos nicht gelebt hätten. Obwohl Theißen niemals deutlich seine Annahme ausspricht, daß die Wandercharismatiker Männer gewesen sind, setzt er unreflektiert voraus, daß dies der Fall gewesen ist: »Wahrscheinlich haben viele Familien über ihre Söhne, die sich der J esusbewegung angeschlossen hatten, nicht anders geurteilt als die Familie Jesu über ihren >verlorenen Sohn< ... Die Überlieferung schweigt darüber, wo die verlassenen Familien Ersatz für die verlorenen Arbeitskräfte finden sollten ... «9 6 Eine sorgfältigere Prüfung der synoptischen Texte, die vom Verlassen von Haus und Familie um des Reiches Gottes oder um J esu willen sprechen, zeigt jedoch deutlich, daß es nicht die Traditionen der Logienquelle sind (sondern eher die lukanische Redaktion ist), die die Ehefrau zu den Familienmitgliedern zählt, die bei der Nachfolge Jesu zurückgelassen werden sollen. Dasselbe Wort begegnet uns wieder in Lk 18,29b (eine Überarbeitung von Mk 10,29b). Hier zeigt Lukas dieselbe redaktionelle Tendenz, die »Ehefrau« zu den zurückgelassenen Familienmitgliedern zu rechnen, während Markus und Matthäus nur »Haus, Brüder, Schwestern, Mütter, Väter, Kinder und Äcker« erwähnen. Somit bietet Lukas die einzige Textbasis für die Annahme, daß die Jesusbewegung eine charismatische Bewegung wandernder Männer, Söhne und Ehemänner gewesen sei, die sich in der Nachfolge Jesu um ihre Verantwortung für die Familie gedrückt hätten. Da sie die Ehefrauen nicht zu den Zurückgelassenen rechnen, beschränken die Traditionen der Logienquelle und die vormarkinischen Traditionen den Zugang zur radikalen Nachfolge Jesu nicht auf Männer. Auch der diesem Nachfolgespruch vorausgehende Text der Logienquelle (Mt 10,34-36, par. Lk 12,51-53) kündet an, daß Jesus dem patriarchalen Haushalt nicht den Frieden, sondern »das Schwert«, das Symbol bitterer Feindschaft zwischen Angehörigen desselben Haushalts, 96 G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, München 1977, 17f.
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bringt. Botschaft und Anspruch Jesu »zerstören« patriarchale Familienbande und hetzen den Sohn gegen den Vater und den Vater gegen den Sohn auf, Mutter gegen Tochter, Schwiegertochter gegen Schwiegermutter und Schwiegermutter gegen Schwiegertochter (vgl. Mich 7,6). Dieses Wort betont, daß sich Kinder gegen ihre Eltern und Eltern gegen ihre Kinder stellen, und hebt damit nachdrücklich hervor, daß das Problem auch unter den weiblichen Angehörigen des Haushalts auftaucht. Doch über Ehefrau und Ehemann wird diese Feststellung nicht getroffen. Die für die letzten Tage der Umwälzung vor dem Ende der Welt in Mich 7,6 und Mk 13,12 angekündigte apokalyptische Zerstörung und Auflösung der Familie kennzeichnet nach den Traditionen der Logienquelle die gegenwärtige Zeit der Nachfolge. Ohne Frage respektiert die Jesusnachfolge keine patriarchalen Familienbindungen, und daher stört die J esusbewegung in Palästina den Frieden des patriarchalen Haushalts erheblich. Die Behauptung, ein solch radikales a-familiales Ethos sei nur von den wandercharismatischen Männern, nicht jedoch von den örtlichen SympathisantInnen gefordert worden, ist ein ernstes Mißverständnis der Texte. Eine ähnliche Kritik von »natürlichen« Familienansprüchen und -bindungen kommt in dem Makarismuspaar, in dem der zweite den ersten korrigiert, (Lk II,27f) zum Ausdruck - einem Text, den Lukas entweder aus der Logienquelle (Q) oder aus seinem Sondergut (SL) übernommen hat. Eine Frau im Volk ruft aus: »Selig der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesaugt hast.« Doch J esus antwortet: »Vielmehr selig, die das Wort Gottes hören und befolgen.« Treue Nachfolge, nicht biologische Mutterschaft, ist die eschatologische Berufung von Frauen. Daß dieser Spruch auch Maria, die Mutter J esu, zu den treuen J esusjüngerinnen zählt, kann nur aus dem redaktionellen Kontext des Lukas (vgl. 2,19.51)97, nicht jedoch aus den älteren Traditionen abgeleitet werden. Die Parallelisierung der zwei Makarismen und ihre Verbindung mit einem griechischen Gegensatzpartikel98 weisen darauf hin, daß der ursprüngliche Spruch religiösen Ansprüchen, die aufgrund von Mutterschaft und nicht aufgrund von Nachfolge erhoben wurden, entgegentritt. Eine solche Interpretation kann sich auf die vormarkinische Tradition stützen, die die patriarchale Familie in Kontrast setzt zur Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten. Die Geschichte in Mk 3,3 I - 3 5 erklärt den Kreis der JüngerInnen um Jesus zu seiner wahren Familie. 99 Das Wort J esu in V 35: »Wer den Willen Gottes tut, der! die ist mir Bruder 97 Vgl. R. E. Brown u. a., Mary in the New Testament, Philadelphia 1978,172. 98 Vgl. M. E. Thrall, Greek Particles in the New Testament, Leiden 1962, 35. 99 Vgl. auch R. Scroggs, The Earliest Christian Comrnunities as Sectarian Movement, in: J. Neusner, Christianity, Judaism, and Other Cults, Bd. 2, 14f.
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und Schwester und Mutter«, das ursprünglich ohne die Erzählung VV 31-34 verbreitet gewesen sein dürfte, hat Ähnlichkeit mit Lk II,28. Die in Gottes wohl-schaffendem Gut-sein leben, sind die wahre Familie Jesu, zu der Brüder, Schwestern und Mütter gehären, aber auffälligerweise keine Väter. Die Abwesenheit von Vätern von der wahren Familie Jesu läßt sich nicht durch Verweise auf Jesu Biographie oder durch den Hinweis auf Gott als wahren Vater Jesu erklären, da Mk 10,30 die Väter ebenfalls wegläßt. Dagegen werden »Mütter und Schwestern«, also Frauen, klar zu den NachfolgerInnen Jesu gezählt. Dies wird noch hervorgehoben durch die Spannung zwischen dem Erzählungskontext und dem Wort Jesu. Während die Erzählung zweimal betont (Mk 3,31.32), daß Jesu Mutter und Brüder draußen sind und ihn suchen, bezieht sich das Wort Jesu auf Brüder, Mutter und Schwestern. ·Darüberhinaus macht der Erzählungskontext deutlich, daß die, die »den Willen Gottes tun«, in der Nachfolgegemeinschaft zusammenkommen, um einen neuen Haushalt zu bilden. Jesus ist »im« Haus, er ist zu Hause (3,20). Er weist auf die, die »rings um ihn« sitzen, und erklärt sie zu seiner wahren Familie (V 34). Die Gemeinschaft der Nachfolge hebt die Ansprüche der patriarchalen Familie auf und begründet eine neue Familiengemeinschaft, die keine Väter in ihrem Kreis zuläßt. Dasselbe Verständnis der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten kommt in Mk 10,29f zum Ausdruck, einem durch eine Anfrage des Petrus eingeleiteten vormarkinischen Jesuswort, dem Markus »unter Verfolgungen« hinzugefügt hat. Das überlieferte Wort verspricht, daß die, die ihre patriarchalen Haushalte verlassen und alle ihre familiären Bindungen abgebrochen haben, um sich Jesus und seiner Bewegung anzuschließen, schon jetzt, heute schon, alles »hunderdältig« zurückerhalten werden. Die Jesusbewegung war die messianische Gemeinde, die Verarmte und Marginalisierte, wie auch HausbesitzerInnen und Bäuerinnen zusammenbrachte und in einer neuen, auf radikaler Nachfolge gründenden neuen Verwandtschaft und Familie verband. 3. Diese neue »Familie« der gleichrangigen Nachfolge hat für Väter keinen Platz. Während »Väter« unter den Zurückgelassenen genannt werden, gehären zu der neuen Verwandtschaft, die die Jüngerinnen bereits jetzt, in dieser Zeit haben, keine» Väter«. Insofern die neue »Familie« Jesu für Väter keinen Platz hat, lehnt sie. implizit deren Macht und Status ab; sie vertritt damit den Anspruch, daß in der messianischen Gemeinschaft alle patriarchalen Strukturen abgeschafft sind. Statt die patriarchalen Verwandtschafts beziehungen des antiken Haushalts zu reproduzieren, fordert die Jesusbewegung einen radikalen Bruch mit der patriarchalen Familie. Dies zeigt, daß die »Hauskirchen« in Galiläa, die diese Jesusworte wahrscheinlich überliefert haben, nicht in radikale
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Wanderjünger und eher bürgerliche Sympathisantlnnen gespalten waren und sich auch nicht dem Liebespatriarchalismus verschrieben haben. Das Kind und die/der SklavIn, die in den patriarchalen Strukturen den niedrigsten Rang hatten, werden zum Paradigma für wahre Nachfolge. Diese wird nicht an der Stellung des Vaters/Herrn, sondern an der des Kindes, der/des SklavIn gemessen. Sichtbar wird dies in dem paradoxen Jesuswort: »Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineingelangen.« (Mk 10,15) Dieses Wort ist keine Einladung zu kindlicher Unschuld und Naivität, sondern die Aufforderung, alle Macht- und Herrschaftsansprüche über andere aufzugeben. Wie dieses Wort in seinem ursprünglichen Sitz im Leben über den Kreis der JüngerInnen hinausreichte, um alle, die Jesus hörten, zur Nachfolge aufzufordern, so rief der Spruch über die Ersten und Größten (unter euch), die Kinder oder SklavInnen sind (oder sein werden), alle Prominenten der palästinischen Gesellschaft zur »Solidarität« mit den SklavInnen und Machtlosen heraus. Dieses Jesuswort spricht nicht von der eschatologischen Umkehrung (die Letzten werden die Ersten sein oder die Niedrigen werden erhöht bzw. die Ersten werden die Letzten sein und die Erhöhten erniedrigt), sondern von der »Solidarität von unten«, die das Reich Gottes verlangt. Es setzt deutlich eine Gesellschaft voraus, in der es Herren und SklavInnen gibt, und fordert von denen, die in einer feudalistischen Gesellschaft »Herr«schaft ausüben, denen, die keine »Herr«schaft ausüben, gleich zu werden. Herren sollen die »Herr«schaft über ihre SklavInnen und Pächterlnnen aufgeben und ihnen ganz genauso dienen, wie ein/e SklavIn ihrem/seinem Herrn dienen mußte. Die Bedeutung dieses Wortes für die Jesusbewegung geht daraus hervor, daß es in der synoptischen Tradition in siebenfacher Kombination enthalten ist und in sehr verschiedenen Formen und Situationen überliefert wird. loo Der kirchliche Interpretationsprozeß wendet ein Wort, das ursprünglich an die sozial Wohlhabenden in Israel gerichtet ist, auf die eigenen Verhältnisse innerhalb der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten an. Mk 10,42-45 und 9,33-37 (die Mt 20,26f und Lk 22,24-27 übernommen und auf die jeweilige eigene Situation und theologische Perspektive übertragen haben) stellt die politischen Herrschaftsstrukturen in Kontrast zu den von den JüngerInnen geforderten Strukturen. In der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten sollen keine Herrschaftsstrukturen geduldet werden, sondern die, die groß oder die Ersten unter den JüngerInnen sein wollen, müssen SklavInnen und DienerInnen aller sein. Wahre Leitung in der Gemeinde muß in der Solidarität mit de100
VgL v. a. die ausführliche Diskussion bei HoffmannlEid, Jesus von Nazareth,
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nen und in der Arbeit für diejenigen wurzeln, die »SklavInnen und Dienerlnnen« in der Gemeinde sind. Aber während Markus und Matthäus überhaupt keine großen oder ersten Mitglieder der Gemeinde anerkennen, gibt es bei Lukas Große und Erste. Er verlangt lediglich, daß sich ihr Führungsstil am Beispiel J esu orientiert. Eine zweite Spruchreihe hebt hervor, daß die Fürsorge und der Dienst der Gemeinde vorrangig »dem kleinen Kind« zukommt (Mk 9,35-37; Mt 18,1-4; Lk 9,48), weil Jesus selbst in diesen Kindern gegenwärtig ist, die die Gemeinde durch die Taufe (»in meinem Namen«) aufgenommen hat. Diese Form der Überlieferung spiegelt wohl eine ganz bestimmte Situation wider, in der die Gemeinde für ihre getauften Kinder gesorgt hat. Jedoch muß diese Kinderbetreuung Probleme verursacht haben, denn die »Ersten« und »Großen« in der Gemeinde scheinen sich nicht sehr um sie gekümmert zu haben. Nach Mk 9,35 (vgl. 10,13-16) bilden die zwölf Jünger den Kreis der »Großen«, die hier spezifisch angesprochen werden. In dieser Situation, in der die Kinderbetreuung anscheinend ein Gemeindeproblem war, besteht der Spruch darauf, daß die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten auch die Kinder einbeziehen und sich ihrer Nöte annehmen muß, wenn die Gemeinde J esus - und Gott - in ihrer Mitte haben will. Eine dritte Form von Sprüchen gegen das Interesse, »groß« oder »Erste/r« in der Gemeinde zu sein, findet sich bei Mt 23,8-11 (SM).'01 Matthäus - oder seine Tradition - hat das Wort »Der Größte unter euch soll euer Diener sein« einerseits mit dem eschatologischen Umkehrspruch »Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden« (V 12) verbunden. Anderseits hat er es mit einem Verbot »patriarchaler« Rollen und Titel in der Gemeinschaft von Jüngerinnen verbunden (VV 8-10). Obwohl es sehr schwierig ist, den Sitz im Leben dieser Gebote in der vormatthäischen Tradition zu bestimmen, da Lukas keine solchen Gebote aufweist, ist trotzdem offensichtlich, daß das letzte Verbot in V 10: »Auch Lehrerinnen sollt ihr euch nicht nennen lassen« V 8 in explizit christlicher Terminologie wiederholt, da die Bezeichnung »der Christus« gebraucht wird. Dieser Spruch ist daher allem Anschein nach eine spätere Redaktion von V 8. '02 Aller Wahrscheinlichkeit nach hieß es in der ursprünglichen Form des Spruchs »Jüngerinnen« anstelle von »Brüder«, denn »Jüngerin« ist die übliche Entsprechung zu »Lehrerin«, während »Brüder«, eine Entsprechung zu »Vater«, besser in den zweiten Spruch passen würde. Da »Brü101 Vgl. W. Trilling, Amt und Amtsverständnis bei Matthäus, in: K. Kertelge (Hg.), Das kirchliche Amt im Neuen Testament, Darmstadt '977, 524- 542, bes. 525ff. 102 VgI.J. P. Meier, Matthew, Wilmington, DeI. '980,265.
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der« eine von Matthäus bevorzugte Bezeichnung für Angehörige der christlichen Gemeinde ist, könnte er es hier auch eingesetzt haben, um den zweiten Spruch im Rahmen seiner eigenen Theologie zu überarbeiten. Das ursprüngliche Verbot stellt die Ausdrücke »nicht Rabbi nennen lassen«, »nur einen Lehrer«, »alle JüngerInnen« in Form einer Inklusion nebeneinander: Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn ihr habt nur einen Lehrer und ihr seid alle JüngerInnen. Entweder die Tradition des Matthäus, seine Quelle oder die matthäische Redaktion verband diesen Spruch mit einem zweiten Gebot (V 9), das aber - in seiner jetzigen Form - nicht ganz parallel zum ersten ist: Ihr sollt niemand unter euch auf Erden Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Der Parallelismus dieses Spruchs kontrastiert Erde und Himmel und formuliert das Verbot aktiv. '°3 Aber die W endung >,vater ... im Himmel« deutet auf die redigierende Hand des Matthäus hin, der auch »auf Erden« hinzufügte. Deshalb könnte eine ursprünglichere Fassung des Spruchs so gelautet haben: Nennt niemand Vater, denn ihr habt nur einen Vater, (und ihr seid alle Geschwister). Dieses kurze Gebot »Nennt niemand Vater, denn ihr habt nur einen Vater« beharrt daher auf den gleichen Beziehungen wie die Worte in Mk IO,29f. Die neue Verwandtschaft der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten läßt keine >,väter« zu und weist damit auch die patriarchale Macht und das patriarchale Ansehen, das »Väter« hatten, zurück. Zusammenfassung: Wie die ursprüngliche Form des Spruchs Mt 23,8f auch ausgesehen haben mag, der Inhalt der Sprüche bleibt der gleiche: Die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten lehnt LehrerInnen ab, weil sie von einem Lehrer allein ins Leben gerufen und gelehrt wurde. Ebenso lassen die Verwandtschaftsbeziehungen der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten keine »Väter« zu, weil sie von dem wohl-tu103 R. Bultmann (Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 9 1979 , 154f) hält es für möglich, daß VV 8f ein authentisches Jesuswort darstellen.
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enden Gut-sein Gottes, »den« die JüngerInnen undJesus »Vater« nennen (Lk 11,2-4 [Q]; 12,30; vgl. Mk 11,25) am Leben gehalten werden. Der »Vater«gott wird hier aber nicht angerufen, um patriarchale Strukturen und Verwandtschaftsbeziehungen in der Nachfolgegemeinschaft zu rechtfertigen, sondern um gerade alle derartigen Ansprüche und Machtstrukturen zurückzuweisen. Da die von diesen zwei Sprüchen heraufbeschworene soziale Welt die Welt Palästinas ist und da die beiden Sprüche dem theologischen Akzent entsprechen, der sich in der Tradition der Logien quelle findet, könnten diese Worte zur Quelle Q des Matthäus gehört haben. Selbstverständnis und Praxis J esu und seiner Bewegung in Palästina spiegeln sich besonders in V 9 wider. Die Anrede »Vater«, die Jesus und seine JüngerInnen verwenden, hat vielen christlichen Feministinnen großes Ärgernis bereitet, weil die Kirche dem Gebot Jesu »Nennt niemand Vater, denn ihr habt nur einen Vater« nicht gehorcht hat und dies zur Legitimierung des kirchlichen und gesellschaftlichen Patriarchats mithilfe des Gottesnamens »Vater« geführt hat, wobei der Name Gottes verunehrt wurde. Aber »der >Herr< wird die/den nicht ungestraft lassen, die/der >seinen< Namen mißbraucht« (Ex 20,7). Das Jesuswort verwendet den Gottesnamen »Vater« nicht zur Legitimierung bestehender patriarchaler Machtstrukturen in Gesellschaft und Kirche, sondern als kritische Subversion aller Herrschaftsstrukturen. Der »Vater«gott Jesu macht die »Schwesterschaft der Menschen« (mit Mary Dalys Worten) möglich, indem er jedem Vater und jeglichem Patriarchat die Existenzberechtigung abspricht. Weder die »Brüder« noch die »Schwestern« in der christlichen Gemeinde können sich auf die Vaterautorität berufen, weil das bedeuten würde, daß sie sich auf eine Autorität und Macht beriefen, die Gott allein vorbehalten ist. I04 Aber wir dürfen nicht übersehen, daß das ursprüngliche Logion nicht allein die christliche Gemeinde und die Beziehungen in ihr anspricht. Es verbietet den J esusjünger Innen zugleich, irgendeine Vaterautorität in ihrer Gesellschaft anzuerkennen, weil es nur einen Vater gibt. Das sozialkritische Potential dieses Spruchs im Blick auf alle patriarchalen Strukturen muß aber erst noch für gesellschaftlich-soziale Veränderung zur Wirkung gebracht werden. Die monotheistische Vaterschaft Gottes, die die Jesustradition als wohl-schaffendes Gut-sein auslegt - eine Haltung, die gewöhnlich mit einer Mutter in Verbindung gebracht wird - muß die Befreiung von allen patriarchalen Strukturen und aller patriarchalen HerrI04 Auch Fernando Belo erkennt dies: »Die Ekklesialität muß die Imago des Vaters auslöschen. Aber der kirchliche Apparat hat zahlreiche >väter<, ,Lehrer< und ,Meister< (das Lehramt) geschaffen und ihnen die dominierende Rolle der Ideologieproduktion zugewiesen.« (Das Markus-Evangelium materialistisch gelesen, Stuttgart I980, 293 Anm. IIO).
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schaft bewirken, wenn sie nicht eine Männerprojektion des Patriarchats in den Himmel bleiben soll. Befreiung aus patriarchalen Strukturen wird daher von J esus und seiner Bewegung nicht nur ausdrücklich artikuliert, sondern ist tatsächlich das Herzstück der Verkündigung des Reiches Gottes. 'Oj
Zusammenfassung Ich habe in diesem Kapitel versucht, Zugang zur Welt Jesu und seiner Nachfolgerlnnen zu finden. Dabei bin ich von der Frage ausgegangen, was es für eine Frau in Palästina bedeutet hat, J esus zu hören und in seine Bewegung einbezogen zu werden. Ich habe darauf bestanden, daß es wichtig ist, diese »Welt« J esu als jüdische »Welt« Palästinas zu erkennen und seine Nachfolgerinnen als jüdische Frauen zu sehen. Auch wenn Christentum und Judentum erst später zu zwei verschiedenen Religionen wurden, habe ich für die Darstellung der gemeinsamen Geschichte jüdischer und christlicher Frauen nicht zur Bezeichnung »jüdisch-christliche Tradition« gegriffen. Statt dessen habe ich meistens den Begriff »Israel« verwendet, um das Volk Jesu und seiner jüdischen Nachfolgerinnen zu benennen, die unsere christlichen Vorschwestern wurden. Ich bin mir des Problems durchaus bewußt, das durch diese Bezeichnung entsteht, aber ich habe mich deshalb für sie entschieden, weil sie von Rabbinen ,06 und frühchristlichen AutorInnen positiv gebraucht wird, um das wohltuende Gut-sein Gottes zu verkünden, das in der Erwählung und Fürsorge für ein historisch unterdrücktes Volk zum Ausdruck kommt. Ich bin mir durchaus bewußt, daß diese Wahl der Bezeichnung das Problem nicht löst. Aber sie eröffnet die Möglichkeit einer feministischen Diskussion. So kann eine von einer Christin vorgenommene feministische Rekonstruktion der Welt, in der die jüdischen Frauen des ersten Jahrhunderts gelebt haben, - sei sie auch noch vorläufig und ansatzweise - dennoch eine feministische historisch-theologische Erforschung fördern. Meine Rekonstruktion der Welt Jesu und seiner Bewegung setzt die Methoden und Resultate historisch-kritischer Exegese voraus, zum Beispiel die Zwei-Quellen-Theorie für die Synoptiker, formkritische Methoden, um die »ursprünglichsten« Schichten der Jesustraditionen herauszuarbeiten, usw. Jedoch wird jede/r Leserln, die/der mit diesen For105 R. Hamerton-Kelly (God the Father. Theology and Patriarchy in the Teaching of Jesus, Philadelphia 1979, 102) gibt jedoch zu bedenken, daß Jesus, indem er für Gott das Vatersymbol wählt, das Patriarchat »neutralisiert« und »humanisiert«. 106 Vgl.J. Neusner, Method andMeaningin AncientJudaism, Chico, Calif. 1981, 104 Anm·5·
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schungsergebnissen einigermaßen vertraut ist, erkennen, daß mein »Lesen« dieser Texte und Traditionen oft anders ist. Der Unterschied ist ein methodischer. Während Formkritik und Traditionsgeschichte oft auf das »Wort« Jesu in einer Geschichte oder Tradition die Betonung legen und dies »Wort« als ursprünglicher als die Geschichte selbst ansehen, habe ich mich auf die narrativen Texte und die in der Geschichte auftretenden Personen konzentriert, weil Frauen in der Geschichte J esu und seiner Bewegung zu finden sind. Indem ich diesen Aspekt des Narrativen betone, will ich die Sprüche und Worte J esu nicht eliminieren. Vielmehr ist meine Absicht, die in der Formkritik weitverbreitete Ansicht zu modifizieren, daß eine Wundergeschichte oder ein Streitgespräch lediglich eine Illustration oder Verdeutlichung eines Offenbarungs»wortes« oder einer Verkündigung J esu sei. Wenn das Offenbarungswort ein Wort ist, in dem Gottes Handeln gegenüber Israel erschlossen wird, dann ist das» Wort« eine Geschichte, und die Geschichte darf nicht auf eine »ideologische« Aussage reduziert werden. Diese Erkenntnis hat die Gleichnisinterpretation in den letzten Jahren revolutioniert, und sie wird sich ähnlich auch auf die Interpretation der anderen Erzählungen in den Evangelien auswirken. Die Erzählung wiederum darf auch nicht auf den »Text« als ideologisch fixierte ontologische Struktur reduziert werden, sondern muß statt dessen im Kontext der sozio-historischen Welt, die sie heraufbeschwört, verstanden werden. Nur wenn wir den J esusgeschichten über Frauen ihren Platz in der Gesamtgeschichte J esu und seiner Bewegung in Palästina geben, können wir ihren subversiven Charakter erkennen. In der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ist die Rolle von Frauen nicht peripher oder trivial, sondern zentral und daher von höchster Bedeutung für die Praxis der »Solidarität von unten«. 1°7 Die Geschichte von der Salbung J esu durch eine Frau artikuliert diese Einsicht. In ihrer letzten Form wird diese Geschichte von einer Gemeinde erzählt, die bereits eine weltweite Mission ins Auge faßt: Wo immer auf der ganzen Welt das Evangelium - die gute Nachricht vom Reich Gottes - verkündet wird, wird die Praxis dieser Frau in Erinnerung gerufen. Wie die Propheten die Könige Israels auf der Stirn gesalbt haben, so salbt diese Frau Jesus. Sie benennt ihn öffentlich in einer prophetischen Zeichenhandlung. Sie hat dafür viel Geld ausgegeben und wird von den Jüngern deswegen auf scheinheilige Weise getadelt. Die Jünger, die ihre messianischen Träume von Größe und Herrschaft auf J esus projiziert haben, gebrauchen »die Armen« als Argument gegen die Frau, die Jesus 107 Vgl. Francis Schüssler Fiorenza, Critical Social Theory and Christology. Toward an Understanding of Atonement and Redemption as Emancipatory Solidariry, in: Proceedings of the Catholic Theological Sociery of America 30 (1975) 63-IIO.
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salbte. Jesus jedoch verteidigt die Frau: »Arme habt ihr immer bei euch und könnt Gutes tun, sooft ihr wollt, mich aber habt ihr nicht allezeit« [»>ihnen< Gutes tun« findet sich nicht in allen Handschriften]. Die Gemeinde, die diese Geschichte erzählt, weiß, daß J esus nicht mehr in ihrer Mitte anwesend ist. Sie »haben« Jesus nicht mehr bei sich. Doch es ist klar, daß die Armen (und nicht nur die armen ChristInnen) immer noch unter ihnen sind. Jetzt ist es an der Zeit, Gutes zu tun. Wenn die Gemeinde in Erinnerung ruft, daß eine namenlose Prophetin J esus als messianischen Initiator des Gottesreiches gesalbt hat, ruft sie zugleich in Erinnerung, daß Jesu Gott auf seiten der Armen steht und daß Gottes Zukunft, das Reich Gottes, den Armen gehört. Immer wenn die Gemeinde gemeinsam die Geschichte dieser Frau ins Gedächtnis ruft, weckt sie die Erinnerung an das den Armen und Hungernden verheißene Reich Gottes. Umgekehrt wird, wo immer auf der ganzen Welt die gute Nachricht - das Evangelium - vom Reich Gottes gepredigt wird, in Erinnerung gerufen werden, was diese Frau getan hat. Lukas versteht diese kraftvolle Geschichte nicht mehr als Erzählung von einer Prophetin und ersetzt sie durch die Geschichte von der »reuigen Sünderin«. Zugleich versteht er auch die »Solidarität von unten« nicht mehr, die Jesus und seine ersten NachfolgerInnen inspiriert hat. Die Armen sind zum Objekt für Almosen und Mildtätigkeit geworden, Armut wird zur asketischen Übung und Praxis für Menschen mit besonderer religiöser Berufung. Obwohl die eucharistische Formel »zu meinem Gedächtnis« (rKor II,24f) der Proklamation des Evangeliums »zu ihrem Gedächtnis« wörtlich höchst ähnlich ist, hat die spätere Kirche die Geschichte von dieser Prophetin nicht zum Ritus gemacht; sie wurde statt dessen gebraucht, um einzuschärfen, daß nach Gottes Willen Armut nicht abgeschafft werden kann. Die »Kirche der Armen« und die »Frauenkirche« müssen gleichzeitig wiederentdeckt werden, soll »Solidarität von unten« für die ganze Gemeinde Jesu wieder Wirklichkeit werden. Die Reich Gottes-Vision Jesu kann als feministische Vision verstanden werden, denn sie ruft alle Frauen ohne Ausnahme sowohl zum eigenen Heil-sein und Selbst-sein als auch zur Solidarität mit den Frauen, die bettelarm, behindert oder aus Kirche und Gesellschaft ausgestoßen sind. Sie weiß um die tödliche Gewalt, der solche Vision und solche Verpflichtung ausgesetzt sein werden. Sie macht uns fähig, nicht zu verzweifeln und den Kampf angesichts dieser Gewalt nicht aufzugeben. Sie ermächtigt uns zum aufrechten Gang, befreit von der doppelten Unterdrückung durch gesellschaftliche und kirchliche Sexismen und Vorurteile. Der frauenund sklavInnenidentifizierte Mann Jesus hat eine Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ins Leben gerufen, die von Frauen und Männern heute immer noch entdeckt und verwirklicht werden muß.
5. Kapitel Die frühchristliche Missions bewegung Gleichheit in der Macht »des« Geistes Die Anfänge der frühchristlichen Missionsbewegung sind in historisches Dunkel gehüllt. Wie für die Jesusbewegung in Palästina fehlen auch für die frühchristliche Missionsbewegung in der griechisch-römischen Welt die Quellen für die entscheidende Zeit zwischen 30 und 50 n. u. Z. Denn die Paulusbriefe wurden in den fünfziger und sechziger Jahren geschrieben, während die Apostelgeschichte dem letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts zuzurechnen ist. Das historische Bild, das entsteht, wenn die Informationen aus den Paulusbriefen und aus der Apostelgeschichte zusammengesetzt werden, ist sehr skizzenhaft und alles andere als umfassend. Gar zu oft sind uns nur noch Spuren erhalten geblieben, Namen von Personen ohne konkrete Inhalte, isolierte Ereignisse, sporadische Nachrichten oder dunkle Legenden - etwa aus der talmudischen Literatur -, bis dann plötzlich größere Fragmente auftauchen, die auf einzelnen, glücklichen Funden beruhen. Ständig stoßen wir auf Lücken und weiße Flecken, stehen quellenmäßig auf ungesichertem Boden und müssen uns mit mehr oder weniger hypothetischen Rekonstruktionen begnügen. Das alles gilt innerhalb der Alten Geschichte im allgemeinen und erst recht für die Geschichte des frühen Christentums im besonderen, vor allem während seiner ersten 150 J ahre.«I Da der Verfasser der Apostelgeschichte die echten Paulusbriefe höchstwahrscheinlich nicht kennt, müssen wir die Darstellung der Apostelgeschichte aus den Informationen über die Entwicklungen der frühen Christenheit, die sich in der paulinischen Literatur finden, ergänzen und korrigieren. Die Briefe des Paulus sind jedoch Gemeindebriefe, die wegen besonderer Anlässe verfaßt sind. Die Weitergabe von Informationen über die Anfänge frühchristlicher Mission ist nicht ihr primäres Interesse. Wenn sie auf Personen, Orte oder Auseinandersetzungen Bezug nehmen, so geschieht das beiläufig und ist nicht als vollständige Auflistung gemeint. Der Apostelgeschichte wiederum geht es nicht um eine objektive Darstellung der Geschichte der frühchristlichen Bewegung 1
M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 12.
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und der christlichen Gemeinden, sondern um einen erzählenden Bericht über die »Taten« der führenden Apostel Petrus und Paulus. 2 Der Autor weist auf andere Personen, Ereignisse oder Gemeinden nur dann hin, wenn diese auf die Haupthelden des Buches Licht werfen oder mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Lücken, Widersprüche und plötzlich abbrechende Erzählungen erlauben uns, die Spannung zwischen den Traditionen, die Lukas als Material verwendet, und dem theologischen Interesse der lukanischen Redaktion zu erkennen. Selbst Hengel, der für die historische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte plädiert, muß zugeben: Er wußte gewiß wesentlich mehr, als er niederschrieb; wenn er etwas verschwieg, hatte dies bestimmte Gründe. Durch diese strenge Beschränkung des Stoffes wurden seine Helden erst >ins rechte Licht gerückt<.) Wenn wir fragen, welche historischen Informationen über die Beteiligung von Frauen an den ersten Anfängen der christlichen Missionsbewegung das »lukanische Schweigen« überlebt haben, dann scheint die Antwort auf den ersten Blick ganz und gar negativ. Es wird keine einzige Frau unter den ursprünglichen Aposteln, den Jerusalemer Hellenisten und in der Gemeinde von Antiochia erwähnt. Überdies verlieren die gelegentlichen Hinweise auf Frauennamen und Führungstitel von Frauen bei Paulus, wenn sie in dem von der Apostelgeschichte für die frühchristlichen Anfänge vorgesehenen redaktionellen Rahmen gelesen werden, ihre Bedeutung. An keiner Stelle seines Werks schildert Lukas Frauen als Missionarinnen und Predigerinnen. Statt dessen betont er, daß Frauen als wohlhabende Proselytinnen oder Gottesfürchtige die Missionsarbeit des Paulus unterstützen oder ihr Widerstand leisten. Die Hauptfigur der Apostelgeschichte ist Paulus, der große Apostel und HeidInnenmissionar. Frauen treten nur als Helferinnen oder einflußreiche Gegnerinnen seiner Mission auf. Lesen wir jedoch die gelegentlichen paulinischen Hinweise auf Frauen in ihrem eigenen Kontext, so läßt sich erkennen, daß die paulinischen und nachpaulinischen Schriften nicht nur von Frauen als reichen Patroninnen . der christlichen Missionsbewegung wissen, sondern auch von Frauen als hervorragenden Leiterinnen und Missionarinnen, die sich für das Evangelium abmühten - und zwar unabhängig. Diese Frauen waren sowohl vor Paulus als auch unabhängig von ihm in der Missions- und GemeindeVgl. die umfassende Diskussion der Literatur und Exegese zur Apostelgeschichte in: G. Schneider, Die Apostelgeschichte I, Freiburg 1980 (HThKNT 5). 3 Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, 37.
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leitung tätig. Ohne Frage waren sie wegen ihres Einsatzes für das Evangelium Paulus gleichrangig und ihm manchmal sogar überlegen. Als judenchristliche Missionarinnen könnten diese Frauen zu den christlichen Gemeinden in Galiläa, J erusalem oder Antiochia gehört haben, die am allerersten Anfang der christlichen Missionsbewegung stehen. 4 Wie ich gezeigt habe, spiegeln die Traditionen der Evangelien die Tatsache wider, daß Frauen einerseits nach J esu Hinrichtung und Auferstehung zur Weiterführung der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung beigetragen haben und andererseits an der Ausbreitung dieser Bewegung zu den HeidInnen in den benachbarten Gebieten beteiligt waren. Die Spannungen in der lukanischen Darstellung der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem und der Vertreibung der HellenistInnen deuten darauf hin, daß auch in der christlichen Gemeinde von Jerusalem Frauen aktiv gewesen sind. In diesem Kapitel suche ich die Anfänge der frühchristlichen Missionsbewegung und die Formen ihrer Institutionalisierung und Organisation zu rekonstruieren, ihre umfassende theologische Perspektive herauszuarbeiten und schließlich ihre vorpaulinische Taufformel (Gal3,28) in den strukturellen und theologischen Rahmen der Bewegung zu stellen.
»Die Kirche in ihrem Haus« Allem Anschein nach hat sich sehr bald nach der Ermordung und Auferstehung J esu die Gemeinde der sogenannten HellenistInnen Seite an Seite mit der aramäischsprechenden Gemeinde von Jerusalem versammelt. Diese HellenistInnen waren vermutlich PalästinierInnen, die sich als Familien oder Einzelpersonen wieder in Jerusalem niedergelassen haben. Wie archäologische Funde gezeigt haben, gab es in Jerusalem griechischsprachige Synagogen, zu deren Mitgliedern viele Frauen zählten. Josephus berichtet von der Königin Helena von Adiabene, die nachJ erusalem zurückkehrte, um in der Heiligen Stadt ihr Leben zu vollenden. Die meisten dieser Griechen-Palästinierlnnen waren vermutlich sehr gesetzestreue JüdInnen, da sie bzw. ihre Familien nach Jerusalem zurückgekehrt waren. Jedoch dürften einige von ihnen über das tatsächliche Alltagsleben in Jerusalem und im Tempel enttäuscht gewesen sein, weil dieses nicht mit ihren Erwartungen in Einklang stand. 5 4 H. Kasting (Die Anfänge der urchristlichen Mission, München 1969, 90ff) nimmt an, daß die frühchristliche Missionsbewegung in Galiläa entstanden ist und sich von dort nach Jerusalem und in das südliche Syrien (Damaskus) ausgebreitet hat. 5 Vgl. M. Hengel, Zwischen Jesus und Paulus: Die »Hellenisten«, die »Sieben« und Stephanus, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 72 (1975) 1 50-206, bes. 181ff.
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Obwohl der Bericht über die HellenistInnen (Apg 6,1-8,]) sehr stark von den redaktionellen Interessen des Lukas überlagert ist, ist es noch möglich, aus den Tendenzen der lukanischen Redaktion einige historische Informationen zurückzugewinnen, wenn folgende Aporien im lukanischen Bericht beachtet werden 6 : Obwohl die Apostelgeschichte behauptet, die Glaubenden in der Jerusalemer Kirche seien »ein Herz und eine Seele« gewesen, tritt ein Konflikt auf zwischen den sogenannten Hebräerlnnen und den HellenistInnen. In der lukanischen Darstellung wird dieser Konflikt gelöst durch die klare Unterscheidung von Dienst der Apostel (diakonia des Wortes) und Dienst der sieben Hellenisten (diakonia der Tische). Die folgende Erzählung schildert die Sieben jedoch als machtvolle Prediger und Missionare, die nach dem Tod des Stephanus aus J erusalem vertrieben wurden, während die Kirche, die sich in Jerusalem um die Apostel und den »Herren«bruder Jakobus versammelte, nicht vertrieben wurde. Überdies wurde Stephanus wegen seiner Kritik am Tempel gelyncht, während Lukas den Jakobus und die Apostel als getreue Befolger der Thora und der Tempelriten charakterisiert. Lukas versucht, diesen Konflikt in der Leitung der J erusalemer Kirche (oder Kirchen) zu vertuschen, aber die Tatsachen waren vermutlich nicht nur ihm, sondern auch seinen LeserInnen bekannt. Deshalb war er gezwungen, wenigstens einige der bekanntesten, historischen Informationen in seinen eigenen Bericht aufzunehmen, obwohl diese Informationen seinem eigenen theologischen Interesse an der Darstellung der Muttergemeinde zu Jerusalem als einer Gemeinde, in der alle ein Herz und eine Seele waren und alles miteinander teilten, zuwiderliefen. »Die versprengt worden waren, zogen umher und predigten das Wort« (8,4) in Samaria, Cäsarea, Damaskus und »bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia« (11,19). Nach Lukas war Petrus der erste, der HeidInnen aufnahm, weil er in einer Vision von Gott die Weisung dazu bekommen hatte. Doch die Bemerkung in der Apostelgeschichte, daß einige, die aus Zypern und Zyrene stammten, als erste den »GriechInnen« in Antiochia »>den< Kyrios Jesus« verkündet haben und daß »eine große Zahl zum Kyrios hinzugetan« (11,24) wurde, ist ein Zeichen dafür, daß eine größere Gruppe von MissionarInnen am Anfang der HeidInnenmission stand. Zu ihnen gehörte Barnabas 7 , ein Zypriot von Geburt, der wie viele Dia6 Zur Diskussion des Problems und der Literatur vgl. bes. M. Hengel, a.a.O.; S. G. Wilson, The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, Cambridge 1973 (SNTSM 23), 129- 153, und Schneider, Die Apostelgeschichte 1,4°5-480. 7 Vgl. H. Evans, Barnabas the Bridge-Builder, in: Expository Times 89 (1977) 248250; W. H. Ol!rog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zur Theorie und
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sporajüdInnen nach J erusalem gezogen war. Nach der Apostelgeschichte war Barnabas ein Repräsentant der Kirche in J erusalem, der die HeidInnenmission anerkannte - obwohl Lukas diese »Anerkennung« wahrscheinlich deshalb besonders betont, weil er sein zentralistisches Bild der frühchristlichen Anfänge stützen will. Barnabas scheint der Leiter der Kirche von Antiochia gewesen zu sein, der nicht nur Paulus nach Antiochia gebracht hat (II,26), sondern ihn auch mit Petrus bekannt gemacht zu haben scheint (Gal 1,18; vgl. Apg 9,27). Demnach war Barnabas der Lehrer des Paulus, Apostel und Heidenmissionar vor Paulus und später mit Paulus (vgl. 14,4.14) und selbst ein Prophet (13,1; vgl. II,24). üb Barnabas jedoch zu den HellenistInnen gehört hat, ist ungeklärt, da er nach der Apostelgeschichte nicht aus Jerusalem vertrieben wurde. Andererseits könnte auch diese Information das redaktionelle Interesse des Lukas widerspiegeln, die Jerusalemer Kirche zum Ursprungs zentrum frühchristlicher Mission zu machen. Die Beschreibung des Barnabas als Levit aus Zypern (4,36), wie auch seine Initiative in der HeidInnenmission und seine Leitungsfunktion in der Kirche von Antiochia sprechen dafür, daß er zu den »HellenistInnen« gehört. Andererseits könnte er auch eine Richtung in der J erusalemer Kirche vertreten haben, die sich sowohl von den HellenistInnen als auch vonJakobus und der Beschneidungspartei unterschieden hat. Diese theologische Sachlage würde erklären, warum es für Paulus so schwierig war, einerseits seine eigene theologische Position von denen anderer christlicher MissionarInnen (HellenistInnen?) in Korinth unterscheidbar zu machen und andererseits gegen die Beschneidungspartei des Jakobus die »Gesetzes«-Freiheit seiner Mission und seines Apostolats für die HeidInnen in Galatien zu verteidigen. Seine Lage erschwerte sich zusätzlich, als sowohl Petrus als auch Barnabas ihre frühere Praxis der Tischgemeinschaft mit den HeidenchristInnen aufgaben (Gal 2,II-21). Nach diesem Konflikt mit Petrus und Barnabas scheint Paulus jede Verbindung mit der und jeden Einfluß auf die Gemeinde von Antiochia verloren zu haben. Somit scheint es Barnabas zu sein, der das Bindeglied nicht nur zwischen den zwei Hauptgemeinden von J erusalem und Antiochia, sondern auch zwischen Antiochia und dem sogenannten paulinischen Missionsgebiet ist. Deshalb scheint Barnabas und nicht sein Jünger Paulus die hervorragendste und einflußreichste Führungsperson in den Anfängen der christlichen Missionsbewegung gewesen zu sein, deren Mittelpunkt Antiochia war, ein kosmopolitisches großstädtisches Zentrum der griechisch-römischen Welt, nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt im römischen Imperium. Doch wissen wir nur sehr wenig über die Lehre Praxis der paulinischen Mission, N eukirchen-Vluyn I979 (WMANT 50), I 4 - I 7. 2062I 5.
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des Barnabas und die Anfänge der christlichen Gemeinden in Antiochia, Alexandria und Rom, da die paulinische Mission ihren Mittelpunkt in Griechenland und Kleinasien hatte. Aus dem Brief des Paulus an die RömerInnen wissen wir, daß Paulus die Gemeinde dort nicht gegründet hat. Wenn die judenchristlichen Pseudoklementinen Spuren geschichtlicher Erinnerung enthalten, dann war es Barnabas, der das Evangelium nach Rom brachte. Er wird gekennzeichnet als einer, der »zum Kreise der SchülerInnen« Jesu 8 gehörte, ein Ausdruck, der interessanterweise in der Apostelgeschichte zum ersten Mal in Verbindung mit den HellenistInnen auftaucht (vgl. Apg 6,1.2.7). Auch wenn Barnabas Rom vielleicht nicht persönlich besucht hat, ist es wahrscheinlich, daß Mitglieder der Kirche von Antiochia als erste in der Hauptstadt das Evangelium gepredigt haben. Die besondere Rolle, die im Redaktionsplan der Apostelgeschichte Antiochia zugeschrieben wird, wie auch das Schweigen über Barnabas und die Kirche von Antiochia in anderen frühchristlichen Schriften zeigen jedoch, wie schwierig die Rekonstruktion der frühchristlichen Bewegung im ganzen gesehen ist, wenn eines ihrer einflußreichsten Zentren sich der historischen Forschung fast gänzlich entzieht. Solche Rekonstruktion muß daher verfahren wie die Restauration eines alten Gemäldes, das immer wieder übermalt worden ist. Unter den sieben Hellenisten, die dazu bestellt wurden, sich dem Tischdienst zu widmen, werden zwar keine Frauen genannt, doch Lukas erwähnt die Töchter des Philippus als wohlbekannte Prophetinnen in der frühen Kirche. 9 Auch eine bedeutende Prophetin in Thyatira, die in Apk 2 erwähnt wird, scheint in Verbindung gestanden zu haben mit den NachfolgerInnen des Nikolaus, der einer der Sieben war. Im ursprünglichen Konflikt, der nach der Apostelgeschichte zur Aufspaltung des Dienstes in den Dienst der Apostel und den Dienst der Sieben führte, waren auch Frauen verwickelt. Die Beschreibung des Vorfalls und seiner Lösung in der Apostelgeschichte ist eindeutig vom theologisch-historischen Interesse des Lukas gefärbt, Konflikte in den ersten Anfängen der christlichen Bewegung zu vertuschen. Diese Konflikte führten zur Vertreibung der HellenistInnen aus J erusalem, die dann die christliche Missionsbewegung unter den HeidInnen initierten. Obwohl Lukas die Hellinistlnnen den ApostelInnen in Jerusalem unterzuordnen und letzteren den Dienst des Wortes vorzubehalten sucht, ist es immer noch ersichtlich, daß die HellenistInnen einfluß8 Rekognitionen 1-7-7; vgl. Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. Wilhe1m Schneemelcher, Tübingen 1964, H. Band, 377·
9 App1,8f.
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reiche missionarische PredigerInnen und GemeindegründerInnen waren. 'C Die Aufspaltung des einen Dienstes in zwei Dienste, nämlich den Dienst des Tisches und den Dienst des Wortes, spiegelt vermutlich eine spätere Praxis der christlichen Missionsbewegung wider. Lukas reflektiert jedoch durch die Unterordnung des einen Dienstes unter den anderen und die Zuschreibung dieser Dienste zu bestimmten Gruppen klar seine eigene Situation. Diese Situation weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der Situation der Pastoralbriefe auf, die ebenfalls unterscheiden zwischen DiakonInnen, die »sich abmühen in der Predigt und im Unterricht« (1 Tim 5,17) und denen, die für den Tischdienst verantwortlich sind (1Tim 3,8ff). Obwohl der Begriff diakonos in der Apostelgeschichte nicht vorkommt, haben die LeserInnen der Apostelgeschichte in Apg 6 wahrscheinlich die Institution des Diakonats gesehen (vgl. auch Apg 15,22), da sie mit dem Amt der! des DiakonIn vertraut waren. Das Interesse, das Lukas daran hat, den einen Dienst dem anderen unterzuordnen, kommt auch in der Geschichte von Martha und Maria in Lk 10,38-42 zum Tragen, in der Martha als eine, die bei Tisch bedient, geschildert wird, während Maria wie eine rabbinische Schülerin dem Wort Jesu lauscht." Die Exegese interpretiert den Konflikt in Apg 6 gewöhnlich mit dem Hinweis auf die Not der Witwen und Waisen in der antiken Weh. 12 Die Hebräerlnnen, so wird argumentiert, hätten die bettelarmen Witwen unter den HellenistInnen bei der täglichen Verteilung von Gütern und Lebensmitteln an die Notleidenden der Gemeinde vernachlässigt. Zweifellos war die Not armer Witwen, besonders wenn sie kleine Kinder hatten, sehr groß, und zu verhungern oder zur Sklavin zu werden, war eine sehr reale Gefahr. '3 Doch in Apg 6 gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Witwen der HellenistInnen arm waren. 10 Vgl. R. Scroggs, The Earliest Hellenistic Christianity, in: J. Neusner (Hg.), Religions in Antiquity, Leiden 1970 (Supplements zu Numen 14), 176-206. Zur Kritik der Trennung von jüdisch-palästinischem und jüdisch-hellenistischem Christentum vgl.J. H. Marshall, Palestinian and Hellenistic Christianity: Some Critical Comments, in: NewTestament Studies 19 (1973) 271-287. II Erling Laland (Die Martha-Maria-Perikope in Lukas 10,38-42, in: Studia Theologia 13 (1959) 70- 8 5) nimmt an, daß Martha die Meinung einiger Kreise derfrühen Kirche zum Ausdruck bringt, die die Teilhabe von Frauen an der Gemeinde auf praktische Dienstleistungsfunktionen zu beschränken suchten. 12 Zur Übersicht über die Literatur vgl. A. Strobel, Armenpfleger »um des Friedens willen« (Zum Verständnis von Apg 6,1-6), in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 63 (1972) 271-276. 13 Vgl. die ausführliche Bibliographie bei G. Stählin, Das Bild der Witwe. Ein Beitrag zur Bildersprache der Bibel und zum Phänomen der Personifikation in der Antike, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 17 (1974) 5-20.
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»Bei Tisch dienen« (Apg 6,2; vgl. Apg 16,)4, vgl. auch Lk IOAO; 12,37; I7,8) heißt nicht Güterverwaltung, sondern Tischdienst bei einer Mahlzeit. Nach IKor IO,21 war der »Tisch >des< Herrn« der eucharistische Tisch. Tischdienst war daher höchstwahrscheinlich die Leitung der Eucharistiefeier, die das Zubereiten einer Mahlzeit, das Besorgen und Verteilen von Lebensmitteln, das eigentliche Bedienen während des Essens und vermutlich das Abspülen und Aufräumen danach miteinschloß. Solch eucharistische Tischgemeinschaft fand nach der summarischen Feststellung des Lukas täglich statt. »Tag für Tag weilten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und aßen gemeinsam mit frohem und lauterem Herzen.« (Apg 2,46). Außerdem benutzt Lukas im Kontext dieser Feststellung in 2,45 wie auch in Apg 4,32- 37, wo von der Verteilung von Gütern an die Bedürftigen in der Gemeinde die Rede ist, nicht den Ausdruck »bei Tisch dienen«, obwohl in den Anfangskapiteln der Apostelgeschichte die ApostelInnen für das wirtschaftliche Wohlergehen und die Verwaltung der Finanzen in der Gemeinde verantwortlich sind. Es ist daher möglich, daß es bei dem Konflikt zwischen den HellenistInnen und den HebräerInnen um die Rolle und Teilnahme von Frauen beim eucharistischen Mahl ging. Der Ausdruck, sie würden bei der täglichen diakonia oder beim täglichen Dienst »übersehen« oder »übergangen«, könnte entweder darauf hinweisen, daß sie nicht regelmäßig zur Leitung der Eucharistiefeier eingeteilt wurden, oder darauf, daß sie bei Tisch nicht korrekt bedient wurden. Worin das Problem auch bestanden hat, es scheint ähnlich wie das Problem der Tischgemeinschaft ~wischen Juden- und HeidenchristInnen in Antiochia gewesen zu sein. Da griechisch-römische Frauen gewohnt waren, an Gastmählern und Festessen teilzunehmen, haben die »hellenistischen« Frauen und Männer in Jerusalern und Antiochia die Teilnahme von Frauen am Brotbrechen in der Hauskirehe wahrscheinlich als selbstverständlich vorausgesetzt, während die »Hebräerlnnen« mit einer solchen Praxis vielleicht Schwierigkeiten hatten. '4 Daß sich die HellenistInnen - nicht jedoch die Gruppe um Jakobus im Haus einer Frau in Jerusalem versammelt haben, wird aus Apg I2,I217 ersichtlich. Petrus sagt denen, die im Haus der Maria versammelt waren, daß sie »Jako bus und den Brüdern« von seiner wunderbaren Befreiung aus dem Gefängnis erzählen sollen. Folglich waren diese nicht bei der Zusammenkunft anwesend. Außerdem wird Maria als Mutter des J ohan14 H. W. Beyer (diakoneo, in Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2) argumentiert, es habe eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit darüber bestanden, ob Frauen zur Mitgliedschaft zugelassen werden sollten, ob sie wirklich zur Gemeinschaft gehörten.
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nes Markus vorgestellt, der nach Kol 4, r der Vetter von Barnabas war. Auch die griechischen Namen Rhoda und Markus könnten auf denhelle-. nistischen Charakter dieser Hauskirche hindeuten. Maria war also eine Verwandte des Barnabas und verantwortlich für die (oder eine) Hauskir. che von HellenistInnen in J erusalem. Schon die bloße Tatsache, daß ihr Name erwähnt wird, bezeugt, welche Bedeutung sie in der Jerusalemer HellenistInnengemeinde hatte, denn es wäre leicht gewesen, ihr Haus »Haus des Johannes Markus« zu nennen. Wie Barnabas wird sie finanziell unabhängig und wohlhabend gewesen sein, denn allem Anschein nach war ihr Haus groß und gab es DienerInnen. Hengel hat darauf hingewiesen, daß in griechischen oder zweisprachigen Grabinschriften inJ erusalem Frauennamen relativ oft erwähnt wurden. 15 Helena, die Königin von Adiabene, ist das Musterbeispiel einer solch gutsituierten Frau. Wahrscheinlich waren viele dieser Frauen Proselytinnen, die aus religiösen Gründen in die Heilige Stadt gekommen sind. Auf diese Frauen hat wahrscheinlich die Predigt der HellenistInnen besonders anziehend gewirkt, weil sie ihnen Vollmitgliedschaft in der Gemeinde zuerkannten. Eine von ihnen könnte Maria gewesen sein. Wir können darüber nur spekulieren, ob sie zu den griechisch-palästinischen »Witwen« gehört hat, die von den Hebräern beim täglichen eucharistischen Dienst übergangen wurden, obwohl sie sich »der diakonia der Heiligen« verpflichtet hat (rKor r6,r5f zeigt, welche Ehre und Achtung ihr zugekommen wären, wäre sie ein Mann gewesen). Die Apostelgeschichte spiegelt wahrscheinlich historische Erfahrung wider, wenn sie betont, daß an der christlichen Missionsbewegung in jedem Stadium ihrer Ausbreitung Frauen beteiligt waren. 16 Tabita von Joppe repräsentiert das erste Ausbreitungsstadium, während Lydia die erste Konvertierte in Europa ist (Apg r6,I4ff). Gottesfürchtige Frauen hohen Standes in Antiochia von Pisidien vertrieben Paulus und Barnabas aus ihrem Gebiet (r 3,5°), während viele führende griechische Frauen, die in Thessalonich (r7,4) vom Judentum angezogen worden waren, und manche von den griechischen Frauen, die in Beröa (r7,12) den christlichen PredigerInnen zuhörten, bekehrt wurden. Eine bekehrte Frau, Damaria, wird in Athen erwähnt (r7,34), und Priska verkündigt in Korinth das Evangelium (r8,2). Der Sohn der Schwester des Paulus (23,r6) informiert den Obersten in Jerusalem über eine Verschwörung, Paulus aus dem Hinterhalt zu ermorden. Drusilla, die Frau des Statthalters Festus, und Berenike, die Frau des Königs Agrippa, sind bei der VerteidigungsVgl. M. Hengel, Zwischen Jesus und Paulus, I81. I6 Vgl. u. a. C. Parvey, The Theology and Leadership of Women in the New Testament, in: R. R. Ruether (Hg.), Religion and Sexism. Images of Women in the Jewish and Christian Traditions, New York I974, I42- I46. I5
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rede des Paulus zugegen und sind sich im stillen einig: »Der Mann tut nichts, was Tod oder Gefängnis verdient« (26)3 r). Obwohl diese letzte Bemerkung deutlich lukanische Färbung zeigt, unterstreicht die ganze Erzählung die Tatsache, daß viele angesehene und gutsituierte griechisch-römische Frauen für die christliche Bewegung gewonnen wurden. Daß mehr angesehene Frauen als Männer ChristInnen wurden, spiegelt sich besonders in den Angriffen gegen die ChristInnen im zweiten und dritten Jahrhundert wider, die bezeugen, daß Christinnen oft gezwungen waren, Heiden zu heiraten oder mit christlichen Sklaven in einer »Gewohnheitsehe« zu leben. Da solche Ehen nach römischen Zivilrecht verboten waren, wurden sie erst von Kallist kirchlich anerkannt, der selbst Sklave gewesen war, bevor er zu Beginn des dritten Jahrhunderts Bischof von Rom wurde. 17 Die Apostelgeschichte ist jedoch in ihrer Darstellung der christlichen Missionsbewegung und der aktiven Teilnahme von Frauen an dieser Missionsbewegung einseitig. Während der Verfasser ihren Status als angesehene und wohlhabende Frauen betont, spielt er ihren selbständigen Beitrag als Missionarinnen und Kirchenleiterinnen herunter. Wir können dieses einseitige historische Bild korrigieren, insoweit zusätzliche, aus der paulinischen Literatur stammende Informationen es uns erlauben, die historische Genauigkeit der Apostelgeschichte infragezustellen. Doch ist der tatsächliche Beitrag von Frauen zur frühchristlichen Missionsbewegung wegen der Spärlichkeit und des androzentrischen Charakters unserer Quellen größtenteils verloren. Sowohl historische Imagination als auch historische Rekonstruktion dieser Bewegung muß die uns noch zugänglichen Informationsfragmente ausfüllen und in ihren historischen Kontext stellen, damit dieser verlorengegangene Beitrag von Frauen zur frühchristlichen Missionsbewegung wieder ans Licht gebracht werden kann. Wir dürfen daher die historischen Texte und Informationen über die Beteiligung von Frauen an den Anfängen der frühchristlichen Missionsbewegung nicht als Beschreibungen der tatsächlichen Situation ansehen. Um es zu wiederholen: Die Texte müssen als die Spitze eines Eisbergs verstanden werden, dessen größter Teil versunken ist. Ihre Interpretation muß die führenden Frauen der frühchristlichen Missionsbewegung - nicht als Ausnahme von der Regel, sondern als Repräsentantinnen frühchristlicher Frauen, die androzentrische Redaktionen und historisches Schweigen überlebt haben - ins Bewußtsein heben. Ihren Einfluß und ihre Bedeutung dürfen wir nicht als Ausnahme anseI7 Vgl. H. Gülzow, Kallist von Rom. Ein Beitrag zur Soziologie der römischen Gemeinde, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 58 (1967) 102-121.
5. Kapitel hen, sondern wir müssen sie innerhalb der Strukturen der frühchristlichen Missionsbewegung verstehen, die die volle Teilnahme und Leitungsfunktion von Frauen ermöglichten. Dieses Kapitel geht deshalb so vor, daß es ein Modell dieser Bewegung rekonstruiert, dessen konstitutive Elemente die TrägerInnen der Mission einerseits und die Hauskirche und die lokalen Vereinigungen anderseits sind. Die Formen religiöser Propaganda und das reziproke Patronatssystem in der griechisch-römischen Gesellschaft waren konstitutive Organisationselemente dieser Bewegung, nicht jedoch die patriarchalen Strukturen des griechisch-römischen Haushalts. Eine solche Rekon, struktion der christlichen Missionsbewegung in Hinblick auf ihre Organisationsstrukturen stellt ein soziales Modell zur Verfügung, das die Führung von Frauen nicht nur plausibel sondern auch verständlich machen kann. Reisende MissionarInnen und Hauskirchen waren zentral für die frühchristliche Mission, die auf besondere Mobilität und Patronat angewiesen war, und Frauen waren auf beiden Gebieten führend.
MissionarInnen Daß die orientalischen Mysterienreligionen weitverbreitet waren, ist wissenschaftlich gut belegt. Sie waren der christlichen Mission in den griechisch-römischen Zentren vorgegeben und haben dabei das Klima geschaffen, in dem ein neuer östlicher Kult wie das Christentum verbreitet werden konnte. Die Mission konnte im ersten Jahrhundert von einer ganzen Bandbreite von PropagandistInnen verbreitet werden 18: von Phi10sophInnen, ProphetInnen, Wanderpredigerlnnen, BettlerInnen und MagierInnen bis hin zu reisenden Händlerlnnen, Staatsbeamten, ImmigrantInnen, SklavInnen und Soldaten. Allen war Mobilität und Überzeugtsein von ihrer Philosophie oder Religion gemeinsam. Das jüdische Proselytenturn des eI1sten Jahrhunderts muß im Kontext dieser östlichen Kulte gesehen werden. In Rom und überall im Mittelmeerraum wurde eine große Zahl- unter ihnen viele Frauen - für den Monotheismus und die hohen moralischen Werte des Judentums gewonnen. Unter den Gottesfürchtigen und den Proselytlnnen werden viele Frauen, oft von hohem sozialen Status genannt. '9 18 Vgl. A. D. Nock, Conversion: The üld and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo, London 196 I, und die Literatur bei E. Schüssler Fiorenza (Hg.), Aspects of Religious Propaganda in Judaism and Early Christianity, Notre Dame 1976. 19 Vgl. M. Radin, The Jews among the Greeks and Romans, Philadelphia 1915,149162; K. G. Kuhn/H. Stegemann, Proselyten, Supplement zu Pauly-Wissowa 9 (1962)
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Wie das Judentum wurde auch das christliche Evangelium von reisenden MissionarInnen verbreitet, Kaufleuten, die von der Gastfreundschaft und Unterstützung, die die Hauskirchen ihnen boten, abhängig waren.'O So waren die charismatischen MissionarInnen nicht unbedingt umherziehende BettlerInnen. Barnabas scheint reich genug gewesen zu sein, um durch Landverkäufe die J erusalemer Gemeinde unterstützen zu können. Paulus gehörte zu dem angesehenen Kreis ausländischer JüdInnen, die zu den privilegierten hellenistischen Familien in Tarsus gehörten und die im Austausch für geleistete Dienste die römische StaatsbürgerInnenschaft erhalten haben. Daher scheint E. A. J udges Schlußfolgerung zuzutreffen: »Das Christentum ist in seiner kanonischen Form also weniger das Werk der GaliläerInnen als das einer hochgebildeten Schicht der internationalen jüdischen Gemeinschaft. Jedenfalls haben diese es maßgeblich gefördert.«" Die außergewöhnlich hohe Beteiligung hervorragender Frauen, die wohlhabend und von hohem sozialen Status waren, sowohl an der jüdischen wie auch an der christlichen Missionsbewegung, wird in der Forschung zunehmend anerkannt." Die Praxis der PartnerInnenmission in der J esusbewegung scheint von der christlichen Missionsbewegung in den griechisch-römischen Städten übernommen worden zu sein.'3 Diese Praxis ermöglicht die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Missionsarbeit. Wahrscheinlich waren diese missionarischen PartnerInnen zuerst Paare. Zur Zeit des Paulus jedoch wurde nachdrücklich auf sexuelle Askese und Zölibat als bevorzugten Vorbedingungen für die Missionsarbeit gedrungen. Ob die »geistliche Ehe«, in der zwei AsketInnen als Paar zusammenleben, in irgendeiner Form ihre Wurzeln in dieser Praxis der PartnerInnenschaft hat, ist unklar, aber es ist durchaus möglich. Die paulinischen Texte über Missionarinnen erwähnen jedoch weder ihren sexuellen Status und ihre I 248 - I28 3; F. Siegert, Gottesfürchtige und Sympathisanten, in: Journal for the Study of Judaism 4 (I973) 109- I 6420 Vgl. D. W. Riddle, Early Christian Hospitality: A Factor in the Gospel Transmission, in: Journal of Biblical Literature and Exegesis 57 (I938) I41- I 54; Helga Rusche, Gastfreundschaft in der Verkündigung des Neuen Testaments und ihr Verhältnis zur Mission, Münster 1958. 2I E. A.Judge, The Social Patterns of Christian Groups in the First Century, London I960, 57 (deutsch: Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft, Wuppertal I984)· 22 Vgl. bes. H. Gülzow, Soziale Gegebenheiten der altkirchlichen Mission, in: H. Frohnes/U. W. Knorr (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, München I974, Bd. I, I89-226. bes. 200-206, und schonA. von Hamack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. 2, Leipzig I924. 23 Zur PartnerInnenmission vgl. G. Schille, Die urchristliche Kollegialmission, Zürich I967, 89ff, er erwähnt jedoch keine Ehepaare.
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Geschlechtsrollen, noch klassifizieren sie sie als Witwen oder Jungfrauen. Die Paulusbriefe erwähnen Frauen als Mitarbeiterinnen des Paulus, diese Frauen waren jedoch keine »Gehilfinnen« oder »Assistentinnen«. Lediglich fünf Mitarbeiter des Paulus - Erastus, Markus, Timotheus, Titus und Tychikus, also alles Männer - »stehen in ausgesprochen untergeordneter Stellung gegenüber Paulus, sie dienen ihm und ordnen sich seinen Anwei!,utigen unter«!4 Die echten Paulusbriefe gebrauchen missionarische Titel und Charakterisierungen wie Mitarbeiterln (Priska), Bruder/Schwester (Apphia), DiakonIn (Phoebe) und Apostelln Gunia) auch zur Kennzeichnung von Frauen. Sie setzen gewöhnlich »MitarbeiterInnen« mit denen gleich, »die sich abmühen«. In 1Kor 16,16ff ermahnt Paulus die KorintherInnen, sich »allen, die mitarbeiten und sich abmühen«, unterzuordnen und solche Personen in Ehren zu halten. 1Thess 5,12 fordert die Thessalonikerlnnen auf: »Achtet jene, die sich unter euch abmühen, die euch im Kyrios vorstehen und euch ermahnen.« Es ist daher von Bedeutung, daß Paulus dasselbe griechische Verb kopian (schwer arbeiten, sich abmühen)'! nicht nur zur Kennzeichnung seiner eigenen Verkündigung und Lehre, sondern auch zur Beschreibung der Verkündigung und Lehre von Frauen benutzt. In Röm 16,6 und 16,12 lobt er Maria, Tryphäna, Tryphosa und Persis, daß sie sich im »Herrn« »abgemüht haben«. Paulus läßt auch erkennen, daß Frauen auf gleicher Basis mit ihm gearbeitet haben. PhiI4,2-3 stellt ausdrücklich fest, daß Eu04ia und Syntyche Seite an Seite mit ihm gekämpft haben. Wie in einem sportlichen Wettkampf haben diese Frauen zusammen mit Paulus, Klemens und den übrigen MitarbeiterInnen des Paulus für die Sache des Evangeliums gekämpft!6 Paulus schätzt die Autorität dieser beiden Frauen in der Gemeinde von Philippi so hoch ein, daß er fürchtet, ihre Meinungsverschiedenheit könne der christlichen Mission ernsten Schaden zufügen. Die Philipperlnnen haben sich mit Paulus auf eine Partnerschaft von Gleichgestellten eingelassen - eine Partnerschaft, die durch die Meinungsverschiedenheit dieser zwei prominenten Missionarinnen in Gefahr gebracht wurde. J. P. Sampley hat darauf hingewiesen, daß nach römischen 24 E. E. Ellis, Paul and his Co-Workers,in: NewTestamentStudies 17 (1970-71)439.
25 A. von Harnack, (»Kopos«, [Kopian, Hoi Kapiountes] im frühchristlichen Sprachgebrauch, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 27 (1928) 1-10) argumentiert gegen von Dobschütz, daß diejenigen, die sich abmühten, einen offiziellen Kreis von AmtsträgerInnen bildeten, von denen die meisten vermutlich PresbyterInnen waren. 26 Vgl. W. D. Thomas, The Place ofWomen in the Church at Philippi, in: Expository Times 83 (1972) II7-I2o.
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Rechtstraditionen eine auf gegenseitiger Zustimmung beruhende rechtliche Partnerschaft »so lange in Kraft ist, wie die PartnerInnen eodem sensu sind, derselben Meinung über die zentrale Bedeutung des Zwecks, dessentwegen die Partnerschaft überhaupt gebildet wurde«. 27 Wenn also Paulus die zwei Frauen ermahnt, »eines Sinnes zu sein«, erinnert er sie damit an ihre ursprünglich gemeinsam eingegangene PartnerInnenschaft und Verpflichtung gegenüber demselben Evangelium. Es geht hier also nicht um persönliche Meinungsverschiedenheiten und Streitereien. Auf dem Spiel steht ihre PartnerInnenschaft als Gleichgestellte im "Wettlauf« für das Evangelium. Obwohl Phoebe (Röm 16,df) als einzige Person in der paulinischen Literatur einen offiziellen Empfehlungsbrief erhält und obwohl ihr drei wichtige Titel verliehen werden - Schwester, diakonos und prostatis -, ist ihre Bedeutung für die urchristliche Mission keineswegs anerkannt. Die Exegese tendiert dazu, diese Titel herunterzuspielen oder sie, weil sie einer Frau verliehen werden, anders zu interpretieren. Wenn Paulus den Titel diakonos für sich oder eine andere männliche Führungsperson verwendet, übersetzt die Exegese »Leiter«, »Missionar« oder »Diakon«. Im Falle Phoebes übersetzt sie gewöhnlich »Helferin« oder »Diakonisse«. Nachdem Lietzmann Phoebe eine »offenbar wohlhabende und wohltätige Dame« nennt, schreibt er weiter: »und noch lange hat es in der christlichen Kirche weibliche Diakone gegeben, welche mit ihrer Hilfe vorwiegend dann eintraten, wenn ihr Geschlecht sie dazu besonders geeignet machte, bei Armen- und Krankenpflege und der Taufe von Frauen«.28 Ähnlich bemerkt Michel: »Es ist möglich, daß Phoebe an Frauen, Kranken und Fremden ihren ,Dienst< versah, vielleicht sogar bei der Taufe von Frauen Beistand leistete.«29 Unbewußt projizieren diese Exegeten die Pflichten, die Diakonissen in späteren Jahrhunderten hatten, in das erste Jahrhundert zurück. Phoebes »Amt« in der Kirche von Kenchreä ist jedoch nicht durch vorgeschriebene Geschlechtsrollen begrenzt. Sie ist keine für die Frauenarbeit beauftragte Diakonisse, sondern Leiterin der ganzen Gemeinde. 30 Der Gebrauch des Titels diakonos in Röm 16,1 ist nicht identisch mit seinem Gebrauch in PhilI, I. Dort erhält keine namentlich genannte Person diesen Titel, weil Heilige, VorsteherInnen und LeiterInnen (diako27
J. P. Sampley, Pauline Partnership in Christ, Philadelphia 1980,62.
28 H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, Berlin-New York 4.51975, Bd.
I, 149. 29 Ouo Michel, Der Brief an die Römer, Göttingen '4 1978 (5. bearb. Auf!.), 473. 30 Gegen Klauck muß betont werden, daß sich dieser Text nicht auf eine Hauskirche bezieht. Vg!. sein Argument (Haus gemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, Stuttgart 1981, 31), daß »das Amt« Phoebes in ihrer Funktion als Gastgeberin für die Gemeinde von Kenchreä bestanden habe, der sie ihr Haus öffnete.
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noi) Bezeichnungen für die gesamte Gemeinde sind. Der Begriff wird in Phil 1,1 nicht formell, nicht als Titel und nicht offiziell verwendet. Paulus benutzt im 2. Korintherbrief denselben Titel, um sich selbst, Apollos und seine Gegner zu kennzeichnen, scheint ihn aber durch synergos (MitarbeiterIn) zu modifizieren. In IKor 3,5.9 gebraucht er diesen Ausdruck, um zu betonen, daß Gott Apollos und ihn berufen und sie zu einem ge-meinsamen Dienst beauftragt hat. In 2Kor 6,1 nennt er die ganze Gemeinde »MitarbeiterInnen Gottes«, während er in 2Kor 6,4 sich selbst als diakonos empfiehlt, der in seiner Missionsarbeit viel gelitten hat. Im 1. Brief an die ThessalonikerInnen entsendet Paulus Timotheus, »unseren Bruder« und »Gottes Mitarbeiter« im Evangelium Christi (3,2). Nach lKor 16,15 sind die, die mitarbeiten und sich abmühen, diejenigen, die »sich zur diakonia an den Heiligen zur Verfügung gestellt« haben. Die/ Der diakonos ist daher wie die/der synergos ein/e mit Predigt und Gemeindeführung betraute/r MissionarInY Da dieser Begriff auch in außerbiblischen Quellen für Predigen und Lehren gebraucht wird, scheint es eindeutig, daß die diakonoi der paulinischen Mission anerkannte und offizielle Funktionen als missionarische PredigerInnen und LehrerInnen hatten. Es kann daher der Schluß gezogen werden, daß Phoebe als offizielle Lehrerin und Missionarin der Kirche von Kenchreä empfohlen wirdY Diese Schlußfolgerung ist deshalb gerechtfertigt, weil Phoebes Stellung Ähnlichkeit mit der der im 2. Korintherbrief erwähnten sogenannten ÜberapostelInnen aufweist. Friedrich hat aufgezeigt, daß die Wortgruppe diakonos, diakonia, diakonein hauptsächlich im 2. Korintherbrief zu finden ist und die RivalInnen des Paulus möglicherweise ähnlich wie die HellenistInnen aus Apg 6-8 MissionarInnen gewesen sind. 33 Sie waren charismatische MissionarInnen und eindrucksvolle PredigerInnen, visionäre ProphetInnen und wahre ApostelInnen, erfüllt von Geist und Weisheit. Paulus greift ihre Lehre und Predigt nicht an, ihm geht es um den Beweis, daß er der wahre geisterfüllte Apostel Christi ist. Er scheint wegen seines schwachen persönlichen Auftretens und des Fehlens von 31 Vgl.A. Lemaire, Von den Diensten zu den Ämtern. Die kirchlichen Dienste in den ersten zwei Jahrhunderten, in: Concilium 8 (1972) 721-728; ders., The Ministries in the NewTestament. Recent Research, in: Biblical Theology Bulletin 3 (1973) 133- 166. 32 E.f. Goodspeed (Phoebe's Letter ofIntroduction, in: Harvard Theological Review 44 (1951) 55 - 57) argumentiert jedoch, daß Phoebe einen solchen Brief gebraucht habe, da sie sich als anständige Frau nicht in Gasthäusern mit schlechtem Ruf aufhalten konnte. Vgl. auch Klauck. 33 Vgl. G. Friedrich, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: O. Betz/M. HengellP. Schmidt (Hg.), Abraham unser Vater. Festschrift für Otto Michel, Leiden 1963, 181-215. Vgl. auch D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief (WMANT 11), Neukirchen- Vluyn 1964.
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Empfehlungsschreiben und dafür, daß er von der Gemeinde nicht genug unterstützt wurde, angegriffen worden zu sein. Die Gegner im 2. Korintherbrief sind keine isolierten Lehrer, sondern sind - wie ihre Empfehlungsschreiben (3,1) und ihre Selbstbezeichnung als »Apostel«, »Diener« und »Arbeiter« zeigen - Teil einer größeren Gruppe von Missionaren. 34 Phoebe wird ähnlich charakterisiert wie diese charismatischen PredigerInnen und erfolgreichen Missionarlnnen. 35 Aber sie steht zu Paulus in freundlicher Beziehung, denn sie erhält von ihm ein Empfehlungsschreiben und, wie Timotheus den Titel »Bruder«, so erhält sie den Titel »unsere Schwester«. Anders als die diakonoi, die als MissionarInnen in Korinth arbeiteten, wird Phoebe nicht als »Apostelin« bezeichnet. Doch dies läßt sich vermutlich darauf zurückführen, daß Paulus das Mißverständnis, sie sei Apostelin der Kirche von Kenchreä, vermeiden wollte. Denn die »ApostelInnen der Kirchen« wurden nur für eine bestimmte und begrenzte Funktion beauftragt. 36 Eine andere Frau in Röm 16,7 erhält jedoch diesen Titel. Wie Priska und Aquila waren Andronikus und Junia missionarische PartnerInnen, JudenchristInnen, die vielleicht aus Tarsus stammtenY Da sie vor Paulus ChristInnen wurden, scheinen sie mit ihm in Antiochia zusammengearbeitet zu haben und gemeinsam mit ihm im Gefängnis gewesen zu seinY Es ist zu vermuten, daß sie zum Kreis von ApostelInnen in Jerusalem gehörten, die zusammen mit Jakobus eine Vision des auferstandenen Christus hatten (vgl. IKor 15,7).39 Paulus betont sogar, daß sie hervorragend unter den ApostelInnen waren. 34 Ellis, Paul und his Co-Workers, 29I. 35 Vgl. jedoch W. Michaelis, Kenchreä. Zur Frage des Abfassungsortes des Rm, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 25 (I926) I40-I44, der argumentiert, daß Phoebe eine Hausgemeinde in Ephesus beherbergte und keine offizielle Leitungsposition innehatte. 36 Dies habe ich in meinem Artikel E. Schüssler Fiorenza, The Apostleship ofWomen in Early Christianity, in: L. und A. Swidler (Hg.), Women Priests, New York I977, I 37, übersehen. 37 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Die Rolle der Frau in der urchristlichen Bewegung, in: Concilium 7 (I976) 3-9; vgl. auch B. Braoten, »Junia ... hervorragend unter den Aposteln« (Röm I6,7), in: Elisabeth Moltmann - Wendel (Hg.), Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, München - Mainz 1982 (3. veränd. Aufl.), 148I51· 38 Vgl. Ol/rag, Paulus und seine Mitarbeiter, 51. 39 J. Roloff, (Apostolat - Verkündigung - Kirche, Gütersloh 1965, 60f) nimmt jedoch an, daß beide Männer waren.
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Da sie sich in Rom finden, scheinen sie sich - wie Paulus und die Gemeinde in Antiochia - in der HeidInnenmission engagiert zu haben. Wie Barnabas und Paulus (Apg 14,4.14) waren sie dem Werk des Evangeliums verpflichtete WandermissionarInnen. In der Auseinandersetzung mit seinen GegnerInnen in Korinth und Galatien betont Paulus, daß er selbst ein wahrer Apostel ist, weil er eine Erscheinung des Auferstandenen gehabt, eine Berufung zur Missionsarbeit erhalten und sich als hervorragender Missionar erwiesen habe. Für Paulus sind nicht machtvolle Rede und pneumatische Zurschaustellung, sondern das bewußte Annehmen und Ertragen der mit der Missionsarbeit verbundenen Mühen und Leiden Kennzeichen wahrer Apostolizität (IKor 4,8-13; zKor IIf). Andronikus und J unia erfüllen diese Kriterien wahren Apostolats. Sie waren schon vor Paulus ApostelInnen und sind wegen der Ausübung ihrer missionarischen Tätigkeit im Gefängnis gewesen. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sie sich jedoch von Paulus, der meist nur mit Männern als Mitarbeitern, wie Barnabas, Silvanus oder Timotheus, eng zusammengearbeitet hat. Wie oben bereits erwähnt, scheint es in der christlichen Bewegung ebenso wie in der Jesusbewegung die Regel gewesen zu sein, daß die Missionsarbeit von PartnerInnen oder Paaren - und nicht von Einzelpersonen - ausgeübt wurde. 40 In r Kor 9, 5 besteht Paulus darauf, daß er wie die anderen Apostel sowohl das Recht auf Unterhalt habe als auch das Recht darauf, von einer Missionarin begleitet zu werden, da die anderen Apostel, die »Brüder des Herrn« und Kephas, auf ihren Missionsreisen von »Schwestern« als »Ehefrauen« (wörtlich: Frauen) begleitet worden sind. Da »Bruder« auch ein Mitglied einer bestimmten Gruppe missionarischer Mitarbeiter bezeichnen kann (vgl. Phil4,zrff)4" ist zu vermuten, daß »Schwestern« sich auf Frauen als missionarische Mitarbeiterinnen bezieht. Das schwierige doppelte Akkusativobjekt (»Schwester«, »Frau«) läßt sich so am besten erklärenY Folglich waren die missionarischen Paare Priska und Aquila und Andronikus und Junia keine Ausnahmen. Solche Paare werden, wie wir bereits gesehen haben, vermutlich auch in Röm r 6, r 5 erwähnt. Wenn Paulus betont, der Zölibat sei der beste Lebensstil für die Missionsarbeit (rKor 7,z4ff), drückt er damit nur seine eigene Meinung aus - eine Meinung, die nicht mit der gewöhnlichen Praxis der Missionsbewegung 40 VgL j. Jeremias, Paarweise Sendung im Neuen Testament, in: A. J. B. Higgins (Hg.), N ew Testament Essays. Studies in Memory of T. W. Manson, Manchester, 13 6143, bes. 13 6- 139. 41 Ellis, Paul und his Co-Workers, 445-451. 42 VgL B. Bauer, Uxores Circumducere 1Kor 9.5, in: Biblische Zeitschrift 3 (1959) 94- 102.
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übereinstimmt. Es ist jedoch zu beachten, daß weder Priska noch Junia als »Ehefrauen« bezeichnet werden. Nicht ihr traditioneller Status und ihre Rolle als Ehefrauen kommt in den Blick, sondern vielmehr ihre missionarische Arbeit für das Evangelium. Außerdem haben wir auch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß die Arbeit dieser Missionarinnen ausschließlich auf Frauen beschränkt war, wie die patristische Exegese nahelegt. 43 Die Paulus- und Thekla-Akten, die wahrscheinlich aus dem 2. Jahrhundert stammen, sind der Geschichte einer Missionarin gewidmet. 44 In den ersten drei Jahrhunderten galt dieses Buch in vielen Gegenden als kanonisch. Es erwähnt neben der Apostelin Thekla eine große Zahl von Frauen. Thekla wird von Paulus bekehrt. Sie legt ein Keuschheitsgelübde ab und wird deswegen von ihrem Verlobten und ihrer Familie verfolgt. Zum Tode verurteilt, wird sie durch ein Wunder gerettet und geht mit Paulus nach Antiochia. Ein Syrer verliebt sich in Thekla, wird von ihr zurückgewiesen und rächt sich. Als Thekla dazu verurteilt wird, mit wilden Tieren zu kämpfen, tauft sie sich selbst in einem Wasserloch und wird, da die Tiere ihr nichts antun, daraufhin freigelassen. Ihre Beschützerin Tryphäna bekehrt sich zusammen mit einem Teil ihres Haushalts zum Christentum. Thekla verkündet das Wort Gottes im Hause der Tryphäna, dann folgt sie Paulus nach M yra. Nach nur kurzer Zeit mit ihm erhält sie den Auftrag, »das Wort Gottes zu lehren« und geht nach Ikonium und von da nach Seleucia, wo sie viele mit dem Evangelium erleuchtet. Da Paulus in dieser Erzählung nicht im Mittelpunkt steht, scheint der! die Verfasserln unabhängige Thekla-Überlieferungen zusammengefügt zu haben. Das Bild der Missionarin, das hier gezeichnet wird, ist beeindruckend. Thekla wird von Paulus beauftragt, zu »gehen und das Wort Gottes zu lehren«. Noch zu Beginn des dritten Jahrhunderts berufen sich Frauen in Karthago auf die Apostelin Thekla, um die Autorität von Frauen, zu lehren und zu taufen, zu beanspruchen. Andererseits spiegelt das Thekla-Bild traditionelle feminine Stereotypen wider. Thekla verliebt sich in Paulus, sie folgt ihm nach und ist abhängig von ihm. Doch ihre Weigerung zu heiraten bringt sie in Konflikt mit den patriarchalen Werten ihrer Gesellschaft. Hier werden Motive des 43 Klemens von Alexandria, Stromateis (Teppich), III, 53,3: » ... und führten ihre Frauen nicht als Ehegattinnen, sondern als Schwestern mit sich, damit sie ihre Gehilfinnen (syndiakonous) bei den Hausfrauen seien; und durch sie konnte die Lehre des Herrn auch in das Frauengemach kommen, ohne daß übler Nachruf entstand.« 44 Zur Bibliographie vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Word, Spirit, and Power. Women in Early Christian Communities, in: R. RuetheriE. McLaughlin (Hg.), Women of Spirit. Female Leadership in the Jewish and Christian Traditions, New York 1979, 29-70.
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hellenistischen Romans oder des Liebesromans für Missionszwecke übernommen. Wir finden das Motiv »Liebe auf den ersten Blick«, das Trennungsmotiv, die Themen »hingebungsvolles Paar« und »Treue trotz großer Bedrängnis«. Natürlich sind der Apostel und die Frau im christlichen Werk keine SexualpartnerInnen, sondern leben in völliger Enthaltsamkeit. Offensichtlich konnten diese Legenden und Geschichten Frauen nur in romantischer Verkleidung als Predigerinnen und Missionarinnen präsentieren. Frauen geben traditionelle Familienbande nicht um der Mission willen auf, sondern wegen einer spirituellen Liebesbeziehung mit dem Apostel. Im Genre der romantischen Liebe ist die Frau unsterblich verliebt, folgt dem Apostel und bleibt ihm treu. Doch trotz des romantischen Stils des hellenistischen Romans, der sich auch inJoseph und Asenath findet, bewahrt das Bild der Thekla Erinnerungen an die Macht und Autorität von Missionarinnen zu Beginn der christlichen Bewegung. Wie W. Ramsay dargelegt hat, wurde "Thekla zur typischen christlichen Lehrerin, Predigerin und Täuferin, und ihre Geschichte wurde bereits im zweiten Jahrhundert zur Rechtfertigung für das Recht von Frauen, zu lehren und zu taufen, angeführt«. 45 Mit der Zeit wurden jedoch »die anstößigen Züge der Erzählung wegerklärt« und jene Züge, die mit dem herrschenden Frauenbild mehr übereinstimmten, betont, bis die anstößigen Züge im Theklabild schließlich total eliminiert oder - wenn sie in der Tradition schon zu gut verankert waren - auf ein Minimum reduziert waren. So lesen wir zwar die kurze Anweisung, Thekla solle das Wort Gottes predigen, aber es wird keine einzige ihrer Predigten, dagegen mehrere Gebete Theklas zitiert. Zwar wird noch erwähnt, daß sie sich selbst tauft, doch ist »in den noch vorhandenen Handschriften keine einzige Spur der Thekla, die anderen die Taufe spendet, übriggeblieben. «4 6 Dennoch werden in den Paulus- und Thekla-Akten - trotz aller kirchlicher Redaktion und romantischer und erotischer romanhafter Überlagerung - Frauen noch als Nachfolgerinnen des Paulus und Zelebrantinnen des Agape-Mahls sichtbar. Die Geschichte Theklas als Nachfolgerin des Paulus ist in den noch vorhandenen Manuskripten nach dem Modell der Geschichte des Apostels Paulus gestaltet. Thekla ist die Jüngerin, die heranwächst, um den Platz ihres Lehrers einzunehmen. Nicht nur weist ihr Leben viele charakteristische Taten auf, die den Heldentaten des Paulus ähnlich sind oder sie übertreffen. 45 M. Ramsay, The Churchin the Roman Empire before A. D. I70, New York I983, 375· 46 A.a.O., 376.
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Thekla wird darüber hinaus schließlich von Paulus selbst als sein Gegenpart bestätigt. Paulus nimmt dagegen in der Geschichte eine zunehmend weniger bedeutende und heldenhafte Rolle ein, am Ende besteht seine Funktion nur noch darin, Thekla zu inspirieren und ihrer Mission apostolische Gültigkeit zu verleihenY Thekla wird nicht als isolierte Heldin gezeichnet, sondern ist von einer Zahl von Frauen umgeben, die sie unterstützen. Daß sie von ihrer Mutter verstoßen wird und ihre Familie aufgibt, wird dadurch ausgeglichen, daß sie in Königin Tryphäna »eine neue Mutter« und in ihrem »Haushalt« ein neues Zuhause gewinnt. Die »neue Familie«, die in den Evangelien denen versprochen wird, die in der Nachfolge Jesu alles verlassen haben, wird hier als eine solidarische Gemeinschaft von Frauen gezeichnet. 48 Nicht nur die Frauen der Stadt, sondern auch zwei wilde Löwinnen tragen zu Theklas Befreiung bei und unterstützen sie in dieser schwierigen Situation. Als sie endlich befreit ist, schrien die Frauen »alle mit lauter Stimme und lobten Gott wie aus einem Munde und sprachen: >Einer ist Gott, der Thekla gerettet hat<, so daß von dem Schreien die ganze Stadt erbebte« (3,3 8).
Obwohl es möglich ist, daß die Paulus- und Thekla-Akten ihren ursprünglichen Sitz im Leben in einer Frauengemeinschaft haben49 , lassen die redaktionellen Tendenzen und Überlagerungen dennoch vermuten, daß ihre jetzige Form das Werk von Kirchenmännern ist, die Frauen als Asketinnen, die in Kontemplation und Gebet verharrten, aber nicht als wandernde Missionarinnen, die das Evangelium predigten, tolerierten. Dies wird zum Beispiel an der Art deutlich, wie der Verfasser der Apostelgeschichte Priska, die große Missionarin der frühen Christenheit, darstellt. Er erwähnt, daß Paulus in Ephesus im Haus »von Aquila und Priska« gewohnt hat. Aber wenn dieses Haus zum zweiten Mal erwähnt wird, wird es nur noch als »Haus des Aquila« bezeichnet. Paulus wendet sich nur an die »Brüder und Männer«; Priska wird zur Hausdame des Aquila degradiert und deshalb leicht übersehen. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, daß eine Autorin so wenig Interesse an der großen Missionarin der paulinischen Zeit entwickelt hätte.
47 P. Wilson-Kastner, Macrina: Virgin and Teacher, in Andrews University Seminary Studies 17 (1979) 105-II7.107. 48 Darauf hatJudith Sanderson in einem Seminarpapier aufmerksam gemacht (Thekla und Her Sisters. Role Models in the Acts of Paul, University of Notre Dame, Herbst 1980). 49 Vgl. v. a. S. L. Davies, The Revolt ofthe Widows. The Social Worldof theApocryphal Acts, Carbondale 1980.
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Die Hauskirche Während Paulus sehr beredt über den Aufbau der Gemeinde predigen kann, scheint er selbst von einem Missionszentrum zum nächsten gereist zu sein. Im Gegensatz zu ihm gründeten und unterstützten Priska und Aquila überall, wohin sie kamen, eine »Kirche in ihrem Hause«. In ihrer Missionsarbeit war der Dienst von Wort und Tisch noch nicht aufgespalten. Die Hauskirche war der Beginn der Kirche in einer Stadt oder einem Gebiet. 50 Die Hauskirche bot Raum für Predigt des Worts, Gottesdienst und soziale und eucharistische Tischgemeinschaft. Die Existenz von Hauskirchen setzt voraus, daß sich der christlichen Bewegung einige ziemlich wohlhabende BürgerInnen angeschlossen haben, die den Gemeinden Raum und finanzielle Mittel zur Verfügung stellen konnten. Es ist nicht geklärt, ob sich der ganze Haushalt zur neuen Religion bekehrte, wenn der Hausherr oder die Hausfrau Mitglied der Kirche wurden. Da der griechisch-römische Haushault nicht nur unmittelbare Familienmitglieder, SklavInnen und unverheiratete weibliche Verwandte umfaßte, sondern auch Fre{gelassene, ArbeiterInnen, Pächterlnnen, Ge. schäftspartnerInnen und Schützlinge, ist dies nicht sehr wahrscheinlich. Eine Untersuchung der Hauskirche wirft daher nicht nur Licht auf den sozialen Status der führenden Mitglieder des Haushalts, sondern zeigt auch, daß die Mitglieder einer solchen Gemeinde aus verschiedenen mit dem Haushalt verbundenen gesellschaftlichen Schichten kamen. Als neue Glaubensgemeinschaft (Gal 6,10) mußte die Gemeinde neue Formen des Zusammenlebens finden oder entwickeln, da die gewohnten sozialen Verhaltensregeln nicht mehr zutrafen. Die Institution der Hauskirche bot Frauen gleiche Möglichkeiten, weil traditionell das Haus als Bereich der Frau angesehen wurde und Frauen von der Leitung des Hauses nicht ausgeschlossen waren. Dies wird sogar von Stephen B. Clark erkannt, obwohl seine Argumentation in die entgegengesetzte Richtung zielt: Die Männer nehmen einen prominenteren Platz im öffentlichen Leben der frühchristlichen Gemeinde ein als die Frauen. Dies ist aufgrund unserer Beobachtungen über das Familienleben und die gesamte Struktur der christlichen Gemeinde verständlich. Im Haushalt hatten 50 Vgl. F. V. Filson, The Significance of the Early House Churches, in: Journal of Biblical Literature 58 (1939) 105- I 12; Hans-joseph Klauck, Die Hausgemeinde als Lebensform im Urchristentum, in: Münchener Theologische Zeitschrift 32 (198 I) I - I 5; ders., Hausgemeinde und Hauskirche; R. E. Brown, New Testament Background for the Concept of Local Church, in: Proceedings of the Catholic Theological Society of America 36 (1981) 1-14.
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die Frauen mehr Verantwortung. Das heißt nicht, daß Frauen in der Gemeinde keine Verantwortung oder daß Männer keine Verantwortung im Haushalt gehabt hätten. Aber im außerhäuslichen Gemeindeleben hatten Männer mehr Verantwortung als Frauen. 5l Clark übernimmt die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Gemeinde und Haushalt, die für die griechisch-römische Gesellschaft genauso typisch ist wie für unsere. Dabei übersieht er jedoch, daß der öffentliche Bereich der christlichen Gemeinde im Haus und nicht außerhalb des Haushalts war. Die Gemeinde versammelte sich als Kirche »in ihrem Haus«. Daher konnte die domina des Hauses, in dem sich die ekklesia versammelte, die Hauptverantwortung für die Gemeinde und ihr Zusammenkommen in der Hauskirche haben. Dazu kommt, daß wohlhabende Frauen im ersten Jahrhundert dafür bekannt waren, daß sie ihre Anwesen und ihre Häuser orientalischen Kulten und ihren ekstatischen Gottesdiensten öffneten. Die ChristInnen waren weder die erste noch die einzige Gruppe, die sich zum Gottesdienst in Hausgemeinden versammelte. Ein Traktat über Keuschheit, der Mitgliedern einer pythagoräischen Gemeinschaft in Italien im zweiten oder dritten Jahrhundert v. u. Z. zugeschrieben wird, ermahnt Frauen: Sie halten sich fern von Geheimkulten und sibyllinischen Orgien in ihren Häusern. Denn öffentliches Gesetz hält Frauen davon ab, an diesen Riten, besonders denen, die zu Trunkenheit und Ekstase ermuntern, teilzunehmen. Die Dame des Hauses und Haushaltsvorsteherin sollte in jeder Hinsicht keusch und unberührt sein.!' Es wurde eine Inschrift aus dem ersten Jahrhundert v. u. Z. - mit Regeln für einen Hauskult in Philadelphia in Phrygien - wiederentdeckt, die betont, daß Frauen wie Männer, SklavInnen wie Freie an diesem Kult, der von Agdista gepflegt und geleitet wurde, teilnehmen konnten. In einer Satire verhöhnt Juvenal reiche Frauen, die in ihren Häusern orientalischen Kulten Platz geben: Und hüte dich vor einer Frau, die eine religiöse Fanatikerin ist! Im Sommer wird sie das Haus mit VerehrerInnen seltsamer orientalischer Gottheiten anfüllen. Ihr Priester ist eine unheimliche Erscheinung, ein riesiger, obszöner Eunuch, der verehrt wird, weil er sich selbst mit einer schartigen Glasscherbe kastriert hat. Er wird seine prophetische Macht ausüben und feierlich die üblichen Warnungen anstimmen ... 5I S. B. Clark, Man and Wornan in Christ. An Exarnination of the Roles of Men and Wornen in Light of Scripture and the Social Sciences, Ann Arbor 1980, 135. 52 M. F. LeJkowitziM. Fant (Hg.), Wornen in Greece and Rorne, Toronto 1977, 86.
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Er behauptet, daß jegliche drohende Gefahr von dem Umhang (den er als Opfergabe trägt) absorbiert würde, und verspricht Schutz für das kommende Jahr,5 3 Die Riten der Bona Dea, der guten Göttin, waren auf Frauen beschränkt. Aber während Juvenal diese als Riten sexbesessener, vor Wollust brennender Frauen beschreibt, trifft Plutarchs Bild des Kults vermutlich eher zu: Kein Mann darf der geheimnisvollen Feier beiwohnen, ja nicht einmal im Hause weilen; ganz für sich vollziehen die Frauen den Gottesdienst, welcher mit den orphischen Gebräuchen viel Ähnlichkeit aufweisen soll.54 Die sakralen Riten fanden im Haus des Konsuls oder Prätors statt, der das Haus verlassen mußte, »während seine Frau vom Anwesen Besitz ergriff«. Interessant ist auch der Mysterienkult des Dionysos, den Pompeia Agripinilla in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. u. Z. in Rom gründete und in dem sie die Funktionen einer Priesterin ausübte. In ähnlicher Weise waren die Synagogen in der Diaspora oft Hauskulte. Der Gründer der Synagoge von Stobi beispielsweise behielt sich für sich und seine Nachkommen das Recht vor, im oberen Stockwerk der Synagoge zu wohnen. 55 Frauen wurden auf Grabinschriften mit Titeln wie mater synagogae, presbyteres und archisynagogos geehrt, aber wir wissen nicht mehr genau, welchen Einfluß und welche Macht diese Frauen im Leben und Gottesdienst der jüdischen Gemeinde hatten. 56 Hauskirehen waren insofern in der Missionsbewegung ein entscheidender Faktor, als sie der Bewegung Räume, Unterstützung und Leitung boten. Die Hauskirchen waren der Ort, wo die ersten ChristInnen das Mahl »des« Kyrios feierten und das Evangelium predigten. Theologisch wird die Gemeinde das »Haus Gottes«, der »neue Tempel«, in dem »der« Geist wohnt, genannt. Da zu den wohlhabenden und angesehenen Bekehrten Frauen gehörten (vgl. Apg 17,4. 12), spielten diese bei Gründung, Unterhalt und Förderung solcher Hauskirehen eine wichtige Rolle. Dies 53 Nach Juvenal 6,5II-54I; vgl. JuvenaI, The Sixteen Satires, übers. v. P. Green, Baltimore 1967, 146ff. 54 Plutarch, Leben der Cäsaren, in: ders., Große Griechen und Römer V, Bern - Bimplitz 1960, 9,3f. 55 Vgl. M. Hengel, Die Synagogeninschrift von Stabi, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 57 (1966) 145-183. 56 Vgl. v. a. B. Brooten, Inscriptional Evidence for Women as Leaders in the Ancient Synagogue, in: SBL Seminar Papers 20 (1981) 1-17; dies., Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues, Chico, ·Ca. 1982 (BrownJudaic Studies 36).
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beweisen die Texte, die von Frauen als Leiterinnen von Hauskirchen sprechen: Paulus grüßt Apphia, »unsere Schwester«, die zusammen mit Philemon und Archippus Leiterin der Hauskirche in Kolossä ist, an die der Philemonbrief geschrieben ist (Phm 2).57 Paulus erwähnt auch zweimal das Missionspaar Priska und Aquila und »die Kirche in ihrem Haus« (IKor 16,19; Röm 16,5). Ähnlich grüßt der Verfasser des KolosserInnenbriefes Nympha von Laodizäa und die »Gemeinde in ihrem Haus« (Kol 4,15). Nach der Apostelgeschichte nahm die Kirche von Philippi mit der Bekehrung der Händlerin Lydia aus Thyatira, die ihr Haus der christlichen Mission anbot, ihren Anfang (Apg 16,15). Lydia könnte eine Freigelassene gewesen sein, da sie aus dem Osten kam und mit Purpurwaren handelte, die Luxusgüter waren. Sie war deshalb nicht unbedingt eine wohlhabende Frau von vornehmer GeburtY Drei Frauen waren also Gründerinnen und Leiterinnen der Kirche von Philippi, mit denen Paulus eine auf gegenseitiger Zustimmung beruhende PartnerInnenschaft (societas) eingegangen ist. Natürlich gehörten auch zu den Bekehrungen von Häusern und Hauskirchen, die nach Männern benannt werden, Frauen (vgl. Apg lo,Iff; 16,J2ff; 18,8ff; 1Kor 1,14; 1,16; 16,1 5ff: Stephanas; Röm 16,23: GaiuS).59 Eine der hervorragendsten MissionarInnen und KirchengründerInnen ist Priska oder Priszilla, die zusammen mit ihrem Gefährten Aquila das Evangelium verbreitete, wobei sie ihren Unterhalt durch ihr Handwerk verdienten und von den örtlichen Gemeinden unabhängig waren. 60 Wie Barnabas und Apollos war Priska Mitarbeiterin des Paulus, aber sie war unabhängig von Paulus und unterstand nicht seiner Autorität. Paulus ist Priska und Aquila zu Dank verpflichtet, weil sie ihr Leben für ihn riskiert haben. Nicht nur er, sondern die gesamte HeidInnenkirche hat Grund, diesen hervorragenden MissionarInnen zu danken (Röm 16,4). Ihre Hauskirchen in Korinth, Ephesus (2Tim 4,19; Apg 18,18ff) und Rom (wenn sich Röm 16 an die Gemeinde in Rom richtet) waren Zentren der Mission. 1Kor 16,19 übermittelt Grüße von dem Paar. Auch wenn Priska hier nach ihrem Mann genannt wird, ist es bemerkenswert, daß sie über57 Der traditionelle Rechtsgrundsatz .Tres faciunt collegium« ist wahrscheinlich schon früh auf die Leitungsgruppen christlicher Gemeinden angewandt worden. Vgl. B. Kötting, Genossenschaft: Christlich, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978) 148. 58 Vgl. S. Pomeroy, Goddesses, Whores, Wives, and Slaves, New York 1957, 199. 59 Zu den Problemen der Hauskirchen vgl. A.]. Malherbe, Social Aspects of Early Christianity, Baton Rouge 1977, 60-99. 60 Vgl. A. von Harnack, Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefes, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche I (1900) 16-41, bes. 33ff; vgl. auch Klauck, Hausgemeinde und Hauskirehe, 21-26.
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haupt mit Namen erwähnt wird, da normalerweise in solchen Grußformeln nur der Mann genannt wurde. Es ist jedoch bezeichnend, daß Paulus jedesmal, wenn er dem Paar Grüße sendet (Röm r6,3f), Priska zuerst anredet und damit hervorhebt, daß sie die wichtigere der beiden ist (vgl. auch rTim 4,r9). In Übereinstimmung mit den Informationen aus den Paulusbriefen erwähnt auch die Apostelgeschichte Priska und ihren Ehemann (vgl. Apg r8,2-4; r8,26). Da Lukas sich im zweiten Teil der Apostelgeschichte auf das Werk des Paulus konzentriert, erwähnt er das Paar nur beiläufig. Aber selbst diese kurzen Bemerkungen deuten an, welch großen Einfluß sie hatten. Wir können daher vermuten, daß Lukas viel mehr Informationen über sie besitzt, als er uns überliefert. Wie Paulus waren Priska und Aquila von Beruf ZeltmacherInnen und finanzierten ihre Missionstätigkeit durch eigene Arbeit. Wie Paulus waren sie JudenchristInnen und finanziell unabhängig von den Kirchen, mit denen sie arbeiteten. Wie Paulus reisten sie viel und mußten wegen ihrer Missionstätigkeit viel auf sich nehmen. Als Claudius JüdInnen aus Rom auswies, konnte das Paar dort nicht mehr bleiben und zog nach Korinth, wo die beiden Paulus in ihren Handwerksbetrieb und ihre Hauskirche als Mitarbeiter aufnahmen. In Ephesus begegneten sie Apollos, einem der gelehrtesten und redegewandtesten Missionare der frühchristlichen Bewegung. Vor allem Priska wurde zur Lehrerin des Apollos.6I Apollos Weisheits- und Geisttheologie könnte ihren Ursprung in Priskas Katechese haben. Wie ich bereits bemerkt habe, hatten Priska und Aquila eine andere Missionsmethode und -praxis als Paulus. Insofern sie - wie die »anderen ApostelInnen« (rKor 9) - als Paar reisten und die Bekehrten in Hauskirchen versammelten, spalteten sie die apostolische diakonia nicht auf in die eucharistische Tischgemeinschaft, die Gemeinde aufbaut, und das Wort, das auf Bekehrung von einzelnen zielt. Insofern sich Paulus berufen fühlte, »nicht zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen«, konzentrierte er sich nicht auf Gemeindebildung. Viele seiner späteren Probleme, beispielsweise mit der Gemeinde von Korinth, dürften ihre Wurzeln darin haben, daß er so wenige »getauft« hatte, während ähnliche Probleme in der Gemeinde von Philippi, mit der er koinonia gebildet hatte, nicht aufgetaucht zu sein scheinen. Außerdem läßt das Beispiel der Hauskirchen von Priska und Aquila vermuten, daß die frühe Hauskirche nicht nur aus der Großfamilie des Paterfamilias oder der Materfamilias bestand, sondern auch aus Bekehrten, die zu anderen Großfamilien ge61 Obwohl R. Schumacher (Aquila und Priszilla, in: Theologie und Glaube 12 (1920) 86-99) darauf hinweist, daß in der frühchristlichen Verkündigung und Mission Frauen eine bedeutende Rolle spielten, behauptet er dennoch, daß Priszilla keine »amtliche«, sondern nur private Lehrtätigkeit ausgeübt habe (97).
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hörten. Denn es ist unwahrscheinlich, daß Priska und Aquila auf ihren Reisen von Kindern, ehemaligen SklavInnen, Verwandten und Schützlingen begleitet wurden. Ihre Hauskirche glich daher strukturell höchstwahrscheinlich mehr einer religiösen Vereinigung als einer patriarchalen Familie. Wenn Priska und Aquila schon einer Kirche in Rom vorgestanden sind, bevor sie im Jahre 49 n. u. Z. vertrieben wurden, könnten sie mit einigen der ersten ChristInnen, die von den Jerusalemer HellenistInnen oder der Kirche von Antiochia gekommen sind, Kontakt oder Verbindung gehabt haben. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die römische Gemeinde sich zuerst nur in Synagogen versammelt und sich dann erst nach der Verfolgung unter Claudius in Hauskirchen organisiert hätte. 62 Die Praxis in Rom wird insofern ähnlich gewesen sein wie die in J erusalem, als die Christinnen ihre Bindungen an die ziemlich einflußreiche jüdische Gemeinde von Rom zunächst nicht abreißen ließen und so zusätzlich zu ihrer Teilnahme in einer Hausgemeinde weiterhin Mitglieder der Synagoge blieben. Die Verfolgung könnte jedoch eine Trennung von jüdischen und christlichen Gemeinden erzwungen und damit ein Anwachsen der Zahl von HeidenchristInnen in den römischen Gemeinden ausgelöst haben. Die römischen Gemeinden scheinen bis weit ins dritte Jahrhundert hinein in Hauskirchen organisiert gewesen zu sein. 63 Die Beteiligung von Frauen in diesen Kirchen muß bemerkenswert gewesen sein. Von den 25 Personen, die inRöm 16 namentlich gegrüßt werden, sind annähernd ein Drittel, nämlich 8, Frauen. 64 Zwei weitere Frauen, die Mutter des Rufus und die »Schwester« des Nereus, werden nicht mit Namen genannt. Darüber hinaus müssen auch unter denen, die zum Haus der Aristobul und zum Haus des Narzissus gehörten, Frauen gewesen sein, genau wie unter den in Röm 16,15 erwähnten »Brüdern« oder »Heiligen«. Interessanterweise werden hier auch zwei Paare erwähnt: Philologus und Julia sowie Nereus und seine »Schwester«. Sie scheinen Mis~ionspaare wie Priska und Aquila gewesen zu sein. Wenn adelphe (Schwester) hier - wie sonst auch - ein offizieller Titel ist, dann werden die Frauen hier nicht als Ehefrauen, sondern wegen ihrer Stellung in der 62 Zu dieser Hypothese vgl. W. Wiefel, Die jüdische Gemeinschaft im antiken Rom und die Anfänge des römischen Christentums, in: Judaica 26 (1970) 65-88, v. a. 77ff. 63 Vgl. Joan M. Peterson, House-Churches in Rome, in: Vigiliae Christianae 23 (1969) 264- 272. 64 Ob Röm 16 integraler Bestandteil des Briefes an die Gemeinde von Rom ist, ist umstritten. Vgl. jedoch die Literaturübersicht K. P. Donfried, A Short Note on Romans 16, in: Journal of Biblical Literature 89 (1970) 441-449, und H. Gamble, The Textual History of the Letter to the Romans, Grand Rapids 1977 (Studies and Documents 42), 84-95. Beide argumentieren, Röm 16 sei an Christlnnen in Rom und nicht in Ephesus gerichtet.
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Gemeinde erwähnt. Als sich die Missionsbewegung ausbreitete, schlossen sich wohl mehrere Hauskirchen als die ekklesia einer Stadt wie Korinth zusammen. Viele Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten, die gewöhnlich theologisch oder ideologisch interpretiert werden, haben wahrscheinlich ihre konkreten Wurzeln in der Verschieden artigkeit der Hauskirchen in einer Stadt oder in einem Gebiet. Jedoch war für die Organisationsstruktur der Ortskirche grundlegend, daß sie wie ein religiöser Kult oder eine private Vereinigung allen ihren Mitgliedern gleichen Anteil am Leben der Gemeinschaft bot. Die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung von Gleichgestellten mußte daher bald in Konflikt mit den traditionellen patriarchalen Haushaltsstrukturen kommen, innerhalb derer die Mitglieder heidnischer Haushalte weiterhin leben mußten. Während einige religiöse Vereine und GenossInnenschaften SklavInnen, Angehörige der Unterklassen und Frauen unterschiedslos aufnahmen, waren andere jeweils Personengruppen von hohem Status, bestimmten ethnischen Gruppen, Leuten aus der Unterklasse oder ausschließlich Frauen vorbehalten. Insgesamt gesehen waren ihre sozialen Strukturen weniger vielfältig und homogener als die der christlichen Gruppen. Viele dieser GenossInnenschaften kamen nicht primär zu religiösen, sondern zu sozialen und ökonomischen Zwecken zusammen. Solche Vereine hatten in der Regel nicht mehr als fünfzig und nicht weniger als drei Mitglieder. Anders als im Judentum waren sie lokale Organisationen und hatten keine internationalen Beziehungen. Die BaumeisterInnen und Zimmerleute, die FlickenteppichmacherInnen, die TrägerInnen und die PurpurfärberInnen in der 18. Straße kamen wie entsprechende Gruppen unter vielen anderen Namen zusammen, um - vielleicht etwas besser als gewöhnlich - Mahl zu halten und relativ guten Wein zu trinken, der von dem Mitglied, das an der Reihe war, besorgt worden war, um den Geburtstag des/der Gründerln oder PatronIn oder das Fest des Poseidon, Hermes, der Isis oder des Silvanus zu feiern und Regeln aufzustellen, die sicherstellen sollten, daß alle Mitglieder ein anständiges Begräbnis erhalten, wenn ihre Zeit gekommen ist. Die ekklesia, die sich mit den ZeltmacherInnen Priska, Aquila und Paulus in Korinth versammelte, könnte auf ihre NachbarInnen durchaus wie ein derartiger Verein gewirkt haben. 65 Die sich der christlichen Hauskirche anschlossen, schlossen sich ihr als einer Vereinigung von Gleichgestellten an. Die christliche Hauskirche war besonders für jene anziehend, denen eine auf Klassenzugehörigkeit 65 W. A. Meeks, The Urban Environment of Pauline Christianity, in: SBL Seminar Papers 19 (1980) II3-122.119·
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oder Männervorherrschaft beruhende Religion wenig Gewinn brachte. Wir haben zwar wenige, aber doch einige Beweise für reine Frauengenossinnenschaften. Frauen schlossen sich jedenfalls sozial gemischten GenossInnenschaften an und waren Gründerinnen und Patroninnen. Sie stifteten dem Verein Geldmittel für bestimmte, genau umschriebene Zwecke und erwarteten für ihre Wohltaten öffentliche Ehre und Anerkennung. Die Vorstandspersonen eines Vereins wurden in der Regel für einen bestimmten Zeitabschnitt von einem bis fünf Jahren gewählt und hatten weitaus weniger Einfluß als der/die PatronIn des Vereins, deren Schützlinge die Mitglieder oft waren. Wohlhabende, die sich zum Christentum bekehrten, verstanden sich vermutlich als Personen, die in einen Verein eintraten, und erwarteten, den Einfluß von PatronInnen auf diesen Verein auszuüben. Zweifellos war die Hauskirche als freigewählte Organisation gemäß diesem Beziehungsverhältnis von Patron In und Schützling strukturiert. Außerdem müssen ChristInnen wie Phoebe auch als AnwältInnen der Gemeinde oder einzelner ChristInnen in Verhandlungen mit der Regierung und den Gerichten aufgetreten sein. Mit ihrem Netzwerk von Verbindungen, Freundschaften und Einfluß konnten ChristInnen aus den oberen Schichten anderen ChristInnen in der griechisch-römischen Gesellschaft das soziale Leben erleichtern. Wir haben jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die christliche Gemeinde ihren reichen Mitgliedern besondere Ehre und Anerkennung erwiesen hätte. Wie bedeutend die Stellung Phoebes als Leiterin der Kirche von Kenchreä war, wird durch den Titel prostatis unterstrichen. Dieser wird gewöhnlich übersetzt mit »Helferin« oder »Patronin«, obwohl das Wort in der Literatur jener Zeit führendeIr Amtsträgerln, Präsidentin, GouverneurIn oder SuperintendentIn bedeutete. Wenn Paulus behauptet, daß Phoebe prostatis für viele und auch für Paulus selbst war, verwerfen die Wissenschaftler hier - weil es sich um eine Frau handelt - die Übersetzung »Patronin«. Jedoch charakterisiert das Wort in IThess 5,12 Autoritätspersonen in der Gemeinde, und in ITim 3,4f und 5,17 bezeichnet es die Funktionen von Frauen und Männern, die »BischöfInnen«, »DiakonInnen« oder »Älteste« waren. 66 Im Kontext von Röm 16,2 muß solche Führungsfunktion im mehr juridischen, technischen Sinn von patrona verstanden werden, obwohl Ernst Käsemann in seinem Kommentar erneut Einwände gegen ein solches Verständnis erhob. Er behauptet, das Wort könne nicht den juridi66 Vgl. B. Reicke, prohistemi, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 6,7°°-7°3, der betont, daß das Verbum-wie auch das Substantiv- "im Neuen Testament meistens die Bedeutung leiten und fürsorgen hat« (703)'
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schen Sinn der maskulinen Form haben, die den Leiter und Repräsentanten einer Vereinigung bezeichnet. Er erklärt kategorisch, daß auch nicht von >Schutzpatronin< die Rede ist ... Frauen können keine rechtliche Funktion wahrnehmen und scheinen nach Apk Joh einzig in häretischen Zirkeln als Prophetinnen kirchliche Leitungsbefugnisse besessen zu haben ... Gedacht ist an die Fürsorge im persönlichen Bereich, die Paulus mit vielen anderen von der Diakonisse erfahren hat. 67 Diese Behauptung übersieht jedoch, daß das Motiv der Reziprozität, das Paulus betont, für ein juridisches Verständnis des Titels spricht. Phoebes Patronat war nicht auf die Gemeinde in Kenchreä beschränkt, sondern erstreckt sich auf viele andere, auch Paulus selbst, der zu Phoebe in einem Beziehungsverhältnis von Schützling zu Patronin stand. Eine solche Patronatsfunktion bestand nicht nur darin, daß die Patronin die Schützlinge finanziell unterstützte und ihnen Gastfreundschaft gewährte, sondern bedeutete auch, daß sie für sie ihren Einfluß zur Geltung brachte und ihre Beziehungen nutzte. Dem »Gesetz der Reziprozität« des griechisch-römischen Patronatsinstituts 68 gemäß bittet daher Paulus die Gemeinde von Rom, daß sie Phoebe die Hilfe und Wohltaten gewährt, die ihr Paulus als ihr Schützling verdankt. Warum haben sich wohlhabende Personen wie Phoebe der christlichen Bewegung angeschlossen? Die Antwort auf diese Frage könnte die verhältnismäßig hohe Beteiligung wohlhabender Frauen an der christlichen Missionsbewegung erklären. Obwohl wohlhabende Frauen ebenso wie wohlhabende Männer in der christlichen Gemeinde keine Ehrungen als Gegenleistung für ihr Patronat bekamen 69 , gewannen sie dennoch Einfluß und Status, den sie auf andere Weise in der patriarchalen Gesellschaft und in der offiziellen römischen patriarchalen Religion nicht hatten. Insbesondere gebildete Frauen mit unabhängigem Vermögen oder Einkommen konnten in dieser Bewegung ihre Führungseigenschaften entfalten und Einfluß ausüben - Möglichkeiten, die ihnen ihre Gesellschaft oft verwehrte. Das römische Recht - und offensichtlich auch jüdisch-hellenistisches Gewohnheitsrecht (vgl. noch einmal Judith) - erlaubten es Frauen, 67 Ernst Käsemann, An die Römer, Tübingen 3 1974 (Handbuch zum Neuen Testament 8a), 395f. 68 V gl. S. C. M ott, The Power of Giving and Receiving. Reciprocity in Hellenistic Benevolence, in: G. E. Hawthorne (Hg.), Current Issues in Biblical and Patristic Interpretation, Grand Rapids 1975,60-72. 69 Vgl. L. W. Countryman, Patrons and Officers in Club and Church, in: SBL Seminar Papers I I (1977) 135-141; ders., Welfare in the Churches of Asia Minor under the Early Roman Empire, in: SBL Seminar Papers 19 (1980) 75-99.76.
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Eigentum und Häuser zu besitzen und zu verwalten. So war es möglich, daß eine wohlhabende Frau »das Prestige oder zumindest die finanziellen Mittel genießen konnte, die in der Regel dem Paterfamilias vorbehalten waren«/O Solche Statusunterschiede und -widersprüche brachten Frauen dazu, die in Gesetz und Brauch verankerten traditionellen patriarchalen Muster zu durchbrechen. Nicht nur Oberschichtfrauen, sondern auch Frauen aus den unteren Schichten hatten die Möglichkeit, Erwerbsarbeit auszuüben und es zu etwas Wohlstand zu bringen. Frauen waren im Finanzwesen, Handwerk und Handel tätig und konnten ihr Kapital für eine Patronatsfunktion verwenden, um ihre Wohltätigkeit mit Ansehen und öffentlicher Ehre vergolten zu bekommen. Archäologische Funde zeigen, daß zum Beispiel die Frauen von Pompeji in den letzten zwei Jahrhunderten des Bestehens dieser Stadt nicht nur aktiv am Geschäftsleben, sondern auch am bürgerlichen und religiösen Leben beteiligt waren. Eumachia, die im ersten Viertel des ersten Jahrhunderts lebte, stiftete ein sehr großes Gebäude als lokales Vereins zentrum für alle Geschäftsleute. Sie war eine bekannte Priesterin der Venus oder Ceres - ein religiöses Amt, das sicherlich durch ihren Reichtum und ihre Geschäftsbedingungen ermöglicht wurde/! Solche Statuswidersprüche hatten vermutlich auch die Frauen, die sich der christlichen Bewegung anschlossen, Hauskirchen gründeten und Führungseigenschaften entwickelten, erlebt. Ihre Leitungsfunktion in der Missionsbewegung ermöglichte ihnen, die - weil sie Frauen waren - sozial und politisch marginalisiert waren, neue Würde und neuen Status zu erlangen. Ihre marginale Stellung war nicht - wie Ross Kraemer behauptet die Folge von Kinderlosigkeit oder Witwenschaft/2 Griechisch-römische Frauen wurden von Moralisten dafür getadelt, daß sie keine Kinder wollten und sich durch leichte Ehescheidungen ihre Männer vom Halse schafften. Offensichtlich haftete der Kinderlosigkeit nicht mehr ein derartiges Odium an, daß wohlhabende Frauen hohen Standes deshalb gesellschaftlich weniger angesehen waren. Dagegen hatten griechisch-römische Frauen Wohlstand oder wenigstens etwas finanzielle Unabhängigkeit erlangt, ohne vergleichbare(n) politische(n) Einfluß und Macht zu erhalten. Es stimmt, daß Frauen noch nicht dadurch solch politischen Einfluß erreichten, daß sie sich religiösen GenossInnenschaften, Verei70 j. E. Stambaugh, Social Relations in the City of the Early Principate. State of Research, in: SBL Seminar Papers 19 (1980) 75-99-76. 71 Vgl. E. Lyding Will, Women's Roles in Antiquity. New Archeological Views, in: Science Digest, März 1980,35-39; R. MacMullen, Women in Public in the Roman Empire, in: Historia 29 (1980) 208-218. 72 Vgl. Ross S. Kraemer, Ecstasy and Possession. The Attraction of Women to the Cult ofDionysos, in: Harvard Theological Review 72 (1979) 55-80, bes. 73f.
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nen oder der christlichen Bewegung anschlossen; was sie jedoch gewannen, war religiöser Einfluß und religiöse Macht. Indem sich eine Frau der christlichen Bewegung anschloß und die Kirche in ihrem Haus gründete, konnte sie religiöse Autorität und persönliches Selbstwertgefühl gewinnen. Beides wog durchaus die Tatsache auf, daß die christliche Gemeinde ihr keine Ehren wegen ihres Reichtums zukommen ließ. Wie schon erwähnt, argumentiert Gerd Theißen, daß die frühchristliche Missionsbewegung außerhalb Palästinas mit ihrer Gesellschaft nicht in Konflikt stand, sondern in sie gut integriert war.7 3 Der Radikalismus der Jesusbewegung sei von den hellenistischen Stadtgemeinden in einen Liebespatriarchalismus nach Art der Großfamilie verwandelt worden, der die hierarchischen Beziehungen der patriarchalen Familie in gemilderter Form fortdauern ließ. Theißen übersieht jedoch die Tatsache, daß egalitäre Gemeinschaftsstrukturen privater Kollegien oder kultischer Vereinigungen Modelle für die frühchristliche Bewegung in der griechisch -römischen Welt waren - und nicht der patriarchale Haushalt! Diese Bewegung räumte nicht nur Frauen und SklavInnen grundsätzlich gleichen Status und die Möglichkeit zum Patronat ein, sondern war - als religiöser Kult aus dem Orient - den herrschenden Kreisen der griechisch-römischen Gesellschaft suspekt. Da die christliche Bewegung aus GenossInnenschaften von Gleichgestellten bestand, lebte sie genauso in Konflikt mit der dominanten griechisch-römischen Gesellschaft wie die Jesusbewegung mit der herrschenden Gesellschaft Palästinas. Zusammenfassung: Die paulinische Literatur und die Apostelgeschichte lassen uns noch erkennen, daß Frauen zu den angesehensten MissionarInnen und LeiterInnen der frühchristlichen Bewegung gehörten. Sie waren wie Paulus Apostelinnen und Leiterinnen und einige waren Mitarbeiterinnen, Predigerinnen und Wettstreiterinnen im Wettrennen für das Evangelium. Sie gründeten Hauskirchen und nutzten als angesehene Patroninnen ihren Einfluß zur Unterstützung anderer MissionarInnen und ChristInnen. Wenn wir ihre Leitung der Kirche mit dem Dienst der späteren Diakonissen vergleichen, so fällt auf, daß ihre Leitungsvollmacht weder auf Frauen und Kinder beschränkt war, noch ausschließlich in frauenspezifischen Rollen und Funktionen ausgeübt wurde. Zwar finden sich in der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen nur gelegentliche Bemerkungen, die uns einen flüchtigen Blick auf die Führungsfunktionen von Frauen in der christlichen Bewegung gewähren. Doch dasselbe gilt für die Führungsfunktionen von Männern, wie wir am Beispiel des Barnabas gesehen haben. Wir könnten die These aufstellen, 73 Vgl. Kap. 3 in diesem Buch.
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daß eine Missionarin um so geringere Chancen hatte, geschichtlich in Erinnerung gehalten zu werden, je unabhängiger sie von der paulinischen Mission war, da nur die Paulusbriefe das Schweigen über die allerersten Anfänge der christlichen Missionsbewegung brechen. Jedoch lassen uns unsere Quellen noch erkennen, daß diese Bewegung nicht wie der griechisch-römische patriarchale Haushalt strukturiert war und noch keinen Liebespatriarchalismus vertrat im Gegensatz zur späteren Kirche, die sich an die Strukturen der Gesellschaft anpaßte.
Das theologische Selbstverständnis der Missionsbewegung Ist es schon schwierig genug, die Anfänge und die Organisation der frühchristlichen Bewegung aufzuspüren, so ist es sogar noch schwieriger, die Theologie der hellenistischen und antiochenischen Kirche zu rekonstruieren. Wir können jedoch versuchen, ihre wichtigsten Züge dadurch nachzuzeichnen, daß wir die paulinischen und lukanischen Überlagerungen sorgfältig abstreifen. Diese Theologie wurzelt erstens in den Geisterfahrungen, versteht zweitens christologisch Werk und Leben Jesu im Sinne der Sophia und entwickelt daher drittens eine prophetisch-kritische Haltung gegenüber dem Kult als Ort der Gegenwart Gottes. r. Während für die J esus bewegung und ihre Vision die Erfahrung von Gottes wohltuendem Gut-sein in Dienst und Leben J esu fundamental ist, ist für die christliche Missionsbewegung die Erfahrung der Geistesmacht grundlegend,74 »Der« Gott dieser Bewegung ist »der« Gott, »der« Jesus nicht der Macht des Todes überließ, sondern ihn »in Vollmacht« auferweckte, so daß er zum »Geist, >der< lebendig macht«, wird (rKor r 5,45, pneuma zoopoioun). Christus wird JüdInnen und GriechInnen als »die Macht Gottes« und »die Weisheit Gottes« verkündet (rKor r,24). Daher ist »er« »der« Kyrios der Glorie (Herr der Herrlichkeit), »der« Kyrios ist »der« Geist (die Sophia) und der Befreier. (Wo »der« Geist »des« Kyrios ist, da ist Freiheit; vg1.2Kor 3,17). Das Reich Gottes besteht nicht in bloßem »Reden«, sondern in »Macht« (rKor 4,20). Die »in Christus« sind, sind wie Jesus »voll Heiligen Geistes« (Lk 4,r), von Gottes Geist besessen. Die Ausdrücke »voll Heiligen Geistes«, »voll Heiligen Geistes und Glaubens« und »voll von Geist und Sophia« kommen alle in der Apostelgeschichte vor - in Bezug auf die HellenistInnen (6,3.5.ro; vgl. auch 6,8: »voll Gnade und Macht«), auf Barnabas (II,24) 74 Vgl. E. Schweizer, pneuma, pneumatikos, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 6,387-453 (darin: Paulus V); P. Furnish, Theology and Ethics in Paul, Nashville 1968, II5-18I.
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und auf alle ChristInnen (13,52). »Die den Namen >des< Kyrios anrufen« (Apg 2,21) oder die »in Christus getauft« sind, leben im Geiste (Ga15 ,25) - sie sind geisterfüllte Menschen, Geistmenschen (Gal 6,1). Sowohl Frauen als auch Männer haben »den« Geist empfangen. Daher kann im zweiten Jahrhundert Justin in seinem Dialog mit T rypho im 88. Kapitel sagen, daß bei den ChristInnen alle, Frauen und Männer (kai theleias kai arsenas), Charismen vom Heiligen Geist empfangen haben. Diese »Gleichheit« im Geist wird von der frühchristlichen Bewegung mit den Worten des ProphetenJoel zusammengefaßt (Apg 2,17f): Ich will ausgießen meinen Geist über alles Fleisch und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen und eure Jungen werden Gesichte schauen und eure Alten werden Träume träumen und über meine Knechte und Mägde (in jenen Tagen) will ich meinen Geist ausgießen und sie werden weissagen. Die neue Gemeinde der Glaubenden, die im »Kraftfeld« »des« auferstandenen Christus lebt, wird hier in prophetischem Sinn als messianische Gemeinde verstanden. Was in Jes 43,18 oder 65,qf verheißen wurde, wird nun in der Gemeinschaft der Getauften Wirklichkeit: Also, wenn eine/r in Christus ist, so ist sie/er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden. (2Kor 5,17) In Gal 6,15 charakterisiert der Ausdruck »wiedererneuerte Schöpfung« die christliche Gemeinde de facto als »neue Religion«. Für jene, die Teil dieser neugemachten Schöpfung geworden sind, haben kultische Vorstellungen und Rituale (Beschneidung oder Nichtbeschneidung) »ihre Bedeutung verloren. Der Glaube an Christus ist die entscheidende Grundlage der Erlösung geworden.<J5 Paulus muß den Ausdruck »wiedererneuerte Schöpfung« bereits übernommen haben, denn er gebraucht ihn fast formelhaft und in all seinen Briefen nur zweimaP6 Dieser Ausdruck ist vermutlich der Sprache der judenchristlichen Missionspredigt zuzuordnen. Ein ähnliches Verständnis findet sich auch in dem jüdischen Missionsroman Joseph und Ase75 H. D. Betz, Galatians, Philadelphia 1979, 263; [dt. Übers.: Betz, Der Galaterbrief, München 1988]. 76 Vgl. G. Schneider, Die Idee der Neuschöpfung beim Apostel Paulus und ihr religionsgeschichtlicher Hintergrund, in: T rierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 25727°·
Zu ihrem Gedächtnis . .. nath. 77 Das Gebet des J oseph preist Gott für die umwandelnde Macht der Bekehrung:
Herr, der Gott meines Vaters Israel, der Höchste, der Starke des Jakob, der da lebendigmachte die Dinge alle und rief von der Finsternis in das Licht und von dem Irrtum in die Wahrheit und von dem Tode in das Leben, du, Herr, segne diese Jungfrau, und wiedererneuere sie mit deinem Geiste, und wiederforme sie mit deiner Hand der verborgenen, und wiederlebendigmache sie mit deinem Leben, und sie esse Brot deines Lebens und trinke Kelch deines Segens, und zähle dazu sie deiner Nation, die du auserwähltest, bevor wurden die Dinge alle und sie gehe hinein in deine Ruhe, die du bereitetest deinen Auserwählten, und sie lebe in deinem ewigen Leben in die Ewigkeit - Zeit. (8, IO) In Asenaths Gebet wird ihre Bekehrung als Trennung von der Familie beschrieben; sie wurde eine »Waise und alleine« (I2,rr) und fühlt sich verlassen (13,1). Sie bittet Gott, sie »aus der Hand des Feindes«, »vor denen, die sie quälen«, zu retten und vom Teufel, dem Vater ihrer früheren Götter, die sie aufgegeben hat, zu befreien (I2,8f). Als Neuaufgenommene bekommt Asenath ein neues glänzendes Gewand und einen neuen Namen (14,4; 15,5). Ihr wird Erlaubnis gegeben, am sakralen Mahl teilzunehmen, das mit den Engelwesen geteilt wird (15,14), und versprochen, daß sie bei der heiligen Hochzeit (2I,Iff) die Braut sein wird. So wurde Asenath zum Prototyp aller ProselytInnen jeder Herkunft, die sich zu Gott bekehren. Bei ihrer Taufe hören ChristInnen: In der Taufe mit Christus begraben, werdet ihr auch mit »ihm« auferweckt durch den Glauben an die Macht (Energie) Gottes, »der« Jesus von den Toten auferweckt hat (Kol 2,12). Die in das Kraftfeld »des« auferstandenen Kyrios, der befreienden Weisheit (2Kor 3,17) eingetreten sind, sind frei geworden, um an der 77 C. Burchard, Joseph und Asenath, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 2, Gütersloh 1983. Vgl. ders., Untersuchungen zu Joseph und Asenath, Göttingen 1965 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 8); R. j. Pervo, ]oseph and Asenath and the Greek Novel, in: SBL Seminar Papers 10 (1976) 171-181; H. C. Kee, The Socio-Religious Setting and Aims of "Joseph and Asenath«, a.a.O., 18 3- 19 2 •
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»glorreichen Freiheit der Kinder Gottes« (Röm 8,21) teilzuhaben. Dielebenspendende Macht Gottes hat inmitten dieser vom Tode beherrschten Welt (sarx) eine neue Schöpfung hervorgebracht. Daher kann Paulus verkünden: »Siehe, jetzt ist der Tag des Heils« (2Kor 6,2) und das Evangelium als »Gottesmacht zum Heil für jede/n, die/der glaubt«, definieren. Wenn Paulus verkündet, daß »das Ende der Zeiten gekommen ist« (1Kor 10, I I), hat er damit nicht die Absicht, die Zeit für nichtig zu erklären. Er spricht vom »Neuen« in Jesus Christus nicht als zeitlosem, oder überzeitlichem Ereignis. Gottes Sendung von Christus-Sophia prägt Zeit und Geschichte so, daß das eschatologische »Neue« in Zeit und Geschichte in Gang gesetzt werden kann. Die »Fülle der Zeit« ist nicht das Ende der Zeit, sondern der Beginn einer neuen Epoche, während das Ende der Zeit noch immer erwartet wird. Das Neue, das mit J esus Christus in diese Zeit und Welt hereingebrochen ist, schafft Zeit und Geschichte nicht ab, sondern sucht sie zu verwandeln. Daher ermahnt Paulus die ChristInnen, »in einem neuen Leben zu wandeln« (Röm 6,4) und sich nicht dem »alten Äon« (Röm 12,2) anzupassen. ChristInnen sind die Avantgarde der wiedererneuerten Schöpfung unter den Bedingungen der alten Welt und Geschichte. Mit Christus sind sie in der Taufe der Macht der Sünde, der alten Menschheit, der alten Weise, Mensch zu sein, gestorben, haben aber noch nicht teil an der Auferstehung Christi (Röm 6,1II). Daher kann Paulus davon sprechen, daß ChristInnen dem alten Menschsein gestorben sind, aber im Unterschied zu den Deuteropaulinen spricht er nicht von den »neuen Menschen«, die ChristInnen in der Taufe geworden sind (KoI3,10; Eph 4,24). Die Getauften sind in die Ära des Neuen eingetreten, aber müssen ihr »in-Christus-Sein« immer noch täglich aufs Neue verwirklichen.78 Da die Getauften im Namen Jesu und in »dem« Geist Gottes »reingewaschen, geheiligt und gerechtfertigt« sind (1Kor 6, II ), wurden sie »vom Gesetz der Sünde und des Todes frei gemacht« (Röm 8,2). Sie sind die »Erstlinge >des< Geistes«, warten aber noch immer sehnsüchtig auf »die Annahme als Kinder« und die »Befreiung unseres Leibes«. Obwohl die Getauften der Macht der Sünde und des Todes gestorben sind, ist die Macht der Sünde und des Todes noch nicht völlig überwunden. Das neue Zeitalter »des« Geistes tritt in Jesus Christus und in den ChristInnen in die Geschichte ein, aber hat die Geschichte noch nicht völlig verwandelt. Daher beharrt Paulus: »Paßt euch nicht dieser Welt an, sondern gestaltet euch um durch die Erneuerung >des< Geistes, damit ihr prüft, was der Wille Gottes, was das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene ist.« (Röm 78 Zu diesem Abschnitt vgL bes. E. Stegemann, Alt und neu bei Paulus und in den Deuteropaulinen (Kol-Eph), in: Evangelische Theologie 37 (1977) 5°8-536 (Literatur).
Zu ihrem Gedächtnis . .. 12,2) Die wiedererneuerte Schöpfung Gottes soll nach Paulus die Gesinnung umwandeln, aber Paulus betont nicht, daß die neue Zeit und die wiedererneuerte Schöpfung auch die soziopolitischen Beziehungen von ChristInnen verändern sollen. ChristInnen sind nach Paulus mit Christus gekreuzigt, sie sind mit dem Leiden und Tod Christi in der Taufe vereint. Doch Paulus versteht die Kreuzigung nicht im konkret politischen Sinn als Folge des Konfliktes zwischen der Vision J esu und den Interessen der Herrschenden dieser Welt. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Theologie des Paulus, der ja versucht, das Neue des christlichen Lebens im Kontext der Geschichte auszubuchstabieren, um zu verhindern, daß die christliche Vision zu einem bloßen Traum oder einer phantasiereichen Ideologie verpufft. Obwohl jedoch Jesus wegen seiner Kritik an und Opposition zu der religiös-sozialen Ordnung seiner Zeit am Kreuz starb, wird im Denken des Paulus das Kreuz Jesu so universalisiert, daß es für jegliche menschliche Schwäche und Sterblichkeit stehen kann. Die Petrus-Schule kann dann das Kreuzessymbol benutzen, um das Leiden derer religiös zu rechtfertigen, die durch die bestehenden patriarchaIen Herrschaftsstrukturen unterdrückt wurden (so z. B. der I. Petrusbrief und der Brief an die KolosserInnen). Nach diesem neuen Verständnis folgen Kreuz und Leiden nicht mehr als notwendige Konsequenz aus der Spannung zwischen dem N euen, der Vision Gottes und der wiedererneuerten Schöpfung in Jesus Christus einerseits und der alten Herrschaftsordnung dieser Welt, die durch Leiden, Sünde und Tod regiert, anderseits. Während Paulus die verwandelnde Macht des Neuen für das persönliche Leben und die Praxis von ChristInnen, besonders in der Gemeinde, betont, übersieht er, daß Jesu Kreuzigung eine politische Tatsache ist. Daher legt er kein Gewicht darauf, daß die Macht des N euen auch in soziopolitischen Beziehungen von ChristInnen zum Tragen gebracht werden muß. 2. Die Theologie der christlichen Missionsbewegung identifiziert »den« Auferstandenen nicht nur mit Gottes Geist, sondern auch mit Gottes Weisheit. (Dies war möglich, weil im Hebräischen und Aramäischen beide Begriffe grammatisch feminin sind und daher im Austausch mit dem Begriff der Schekina, der Gegenwart Gottes, gebraucht werden können.) Der Ausdruck Sophia wird in der Apostelgeschichte nur in Beziehung auf Stephanus - und immer in Verbindung mit Geist - gebraucht, um seine ekstatische Begabung und Verkündigung zu charakterisieren. Daß die vorpaulinische christliche Missionsbewegung Christus im Sinn von Sophia-Geist verstand, ist noch aus der polemischen Argumentation des Paulus im I. KorintherInnenbrief erkennbar. Diese Theologie findet sich besonders noch in den sogenannten vorpaulinischen
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christologischen Hymnen und einigem überlieferten Material der deuteropaulinischen Briefe an die Gemeinden von Kolossä und Ephesus. Ob besonders Apollos diese Sophia-Christologie entwickelt und verkündet hat, ist umstritten. Doch diese Diskussion wird wegen mangelnder Information vermutlich nie mehr zu einem eindeutigen Ergebnis kommen können. Einen kurzen Moment blitzt Apollos am Himmel des Neuen Testaments auf und verschwindet dann in ein Dunkel, das so undurchdringlich ist wie das, aus dem er aufgetaucht ist. Aber wenn wir von Dunkel reden, meinen wir unsere Unwissenheit und nicht die historischen Tatsachen. Vermutlich hat Apollos viel länger eine Rolle im öffentlichen Leben der frühen Christenheit gespielt, als wir annehmen, doch sind keine weiteren Quellen über ihn erhalten geblieben.79 Durch eine Bemerkung des Paulus wissen wir, daß Apollos die Kirche in Korinth nach der Abreise des Paulus besucht hat (IKor 3,6) und daß einige Mitglieder der Gemeinde sich als Jüngerinnen des Apollos verstanden. Paulus betont, daß zwischen beiden Aposteln freundschaftliche Beziehungen bestehen, aber er muß auch zugeben, daß Apollos (wenigstens in diesem Moment) seinen eigenen Weg in der Missionsarbeit geht (16,12). Apollos war ein gebildeter Jude aus Alexandria, ein in der Schrift gut versierter Theologe, der mit der Taufe des Johannes getauft und in der Lehre Jesu unterrichtet war (Apg 18,24-19,1). Wir wissen nicht, ob er in Alexandria bekehrt wurde und wer ihm das Evangelium verkündete. Möglicherweise hörte er die Geschichte von Jesus von Mitgliedern der Jesusbewegung, die die Bußtaufe und das Evangelium Jesu predigten, wie es die Gemeinden in Galiläa und die, die hinter der Logienquelle stehen, allem Anschein nach getan haben. Wie dem auch sei, die Apostelgeschichte betont, daß Priska zusammen mit Aquila den Apollos tiefer in den Weg Gottes einführte. Was diese tiefere Einführung hieß, ist wiederum nicht sicher, da Lukas »Weg Gottes« als stereotypen Ausdruck verwendet, um christliche Predigt und christliches Leben zu charakterisieren. In Apg 19,1-7 begegnen wir jedoch anderen Jüngerinnen, die, obwohl mit der Bußtaufe des Johannes getauft, nichts von »dem« Heiligen Geist gehört haben. Im Unterschied zur Bußtaufe des Johannes vermittelt die Taufe im Namen »des« Kyrios Jesus in ekstatischen Erfahrungen »den« Heiligen Geist. Die gründlichere Lehre der Priska dürfte also das Evangelium von Chri79 F. F. Bruce, Peter, Stephen, James and John. Studies in Early N on-Pauline Christianity, Grand Rapids 1979, 84.
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stus zum Inhalt gehabt haben, »der« als kosmischer Kyrios und lebenspendende Geist-Sophia verstanden wird. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann sind Priska und Aquila das historische Bindeglied nicht nur zwischen der Kirche in Rom und der paulinischen Missionsbewegung, sondern auch zwischen der Kirche in Rom und der christlichen Bewegung in Alexandria - vorausgesetzt, daß Apollos dort Missionar war. Der Inhalt der gründlicheren Unterweisung dürfte der in IKor 1,24 gebrauchten christologischen Formel entsprochen haben, die Christus als »Gottes Macht und Sophia« bekennt. Sie könnte auch zum Ausdruck kommen in der Charakterisierung Jesu Christi in IKor 1,30, die sich ebenfalls auf die Taufe beziehtSo: Ihr jedoch seid in Christus J esus, der uns von Gott zur Sophia geworden ist, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Befreiung (Erlösung). (Zu beachten ist der Wechsel des Pronomens, d. V.)
Während die Jesusbewegung Jesus und Johannes als Boten und Propheten der göttlichen Sophia verstand, betrachtet die Weisheitstheologie der christlichen Missionsbewegung Jesus als die göttliche Sophia selbst. Wie die formgeschichtliche Forschung dargestellt hat, kommt solche Sophia-Christologie besonders in den vorpaulinischen Hymnen Phil 2,6II; ITim 3,16; Kol 1,15-20; Eph 2,14-16; Hbr 1,3; IPetr 3,18;Jo 1,114 zum Ausdruck. Diese Hymnen verkünden die Universalität des Heils in Jesus Christus in einer Sprache, die aus der jüdisch-hellenistischen Weisheitstheologie und aus Mysterienreligionen jener Zeit stammt. SI Dienst und Bedeutung Christi, »des« Kyrios, werden zum Beispiel in ITim 3,6 und Phil2,6- 11 im Sinn der Weisheitstheologie verstanden. Der Weg J esu Christi war derselbe wie der Weg der Sophia. Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da ward ihr eine Wohnung in den Himmeln zuteil. Die Weisheit ging aus, um bei den Menschenkindern Wohnung zu nehmen, aber sie fand keine Wohnung; da kehrte die Weisheit zurück an ihren Ort und nahm ihren Sitz bei den Engeln. (Henoch 42,1-2) 80 Vgl. B. A. Pearson, Hellenistic-Jewish Wisdom Speculation and Paul, in R. L. Wilken (Hg.), Aspects of Wisdom in Judaism and Early Christianity, Notre Dame 1975, 43- 66. 81 Zum folgenden Abschnitt und zu bibliographischen Hinweisen vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Wisdom Mythology and the Christological Hymns of the New Testament, in: Wilken (Hg.), Aspects ofWisdom, 17-42.
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Durch die Erhöhung und Inthronisation hat Christus-Sophia ihre Regentschaft über den ganzen Kosmos, über himmlische und irdische Mächte erlangt. Dies wird in Phil 2,6 - I I in einer auf das Alte Testament Ges 45,23) und den Isiskult jener Zeit anspielenden Sprache verkündet. Wie Isis wird Christus-Sophia ein Name geben, "der über alle Namen ist«, und von allen Mächten im Kosmos verehrt. Ebenso wie die richtige Akklamation für Isis »Isis ,der< Kyrios« lautet, so ist die richtige christliche Akklamation »Jesus Christus ist ,der< Kyrios«. Diese Verkündigung der universalen Regentschaft von Christus-Sophia richtet sich an Personen der hellenistischen Welt, die glaubten, daß die Welt von gnadenlosen Mächten - und über allem einem blinden Schicksal- regiert werde. Sie spricht die Wünsche und Sehnsüchte hellenistischer Personen an, die die Befreiung von den Mächten dieser Welt und die Teilhabe an der göttlichen Welt ersehnen. In diesem religiösen Milieu der Mysterien verkünden ChristInnen Christus-Sophia als Regentin der Mächte und Gewalten, die vorher die Welt versklavt haben. In diesem Milieu, in dem die Hymnen und Preislieder auf Isis und andere Göttinnen gesungen werden, singt die christliche Gemeinde Hymnen zum Lobe J esu Christi, der Sophia Gottes, die auf Erden erschien und nun als Kyrios des ganzen Kosmos erhöht worden ist. Diese ChristInnen glauben, daß sie schon jetzt aus der Sklaverei des Todes und der Macht kosmischer böser Geister befreit sind. Sie glauben, daß sie bereits an der Macht und »Energie« von Christus-Sophia teilhaben, daß sie die wiedererneuerte Schöpfung sind, weil sie in der Taufe die Macht »des« Geistes empfangen haben. Diese Verkündigung von J esus Christus als Sophia Gottes und kosmischer Regentin hat in der christlichen Gemeinde die Funktion eines fundamentalen Mythos, der seinen eigenen Kult hervorbringt. Christi Erhöhung und Inthronisation zu Versöhnung und Regierungshoheit im Kosmos sind die zentralen Symbole dieses Mythos. Das Verständnis Christi im Sinne der Sophia als Mittlerin in der Schöpfung und als Macht der wiedererneuerten Schöpfung unterstreicht die kosmische Bedeutung des christlichen Glaubens, hält aber auch das Wissen lebendig, daß diese kosmische Herrin derselbe Jude J esus ist, der in Israel einen» Platz zum Ausruhen« gesucht hat. Dieses Wissen kommt in den Kategorien Erniedrigung, Fleischwerdung und Tod zum Ausdruck. Die mythischen Züge dieser Hymnen sind jedoch so stark, daß die Gefahr besteht, daß die Erinnerung an das menschliche Leben J esu Christi und das Bewußtsein für die historische christliche Existenz außer acht gelassen werden. Damit stellt sich eine fundamentale theologische Frage: Wie kamen ChristInnen dazu, die historische Person - J esus von N azareth - im Mythos und in mythologischer Sprache zu verkünden? Eine solche Verkün-
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digung beruht auf ekstatischer Geist- und Auferstehungserfahrung und wurzelt in jüdisch-hellenistischer Weisheitstheologie, die bereits Form und Sprache für eine Sophia-Christologie geschaffen hatte. Die vorpaulinischen christologischen Hymnen - die bereits an der Entwicklung einer »reflexiven Mythologie« im hellenistischen Judaismus und der jüdischen Gnosis teilhatten - verwenden zum Zweck apologetischer oder missionarischer Verkündigung Sprache und Motive verschiedener Mythen ihrer Zeit. Diese in mythologischer Sprache zum Ausdruck kommende Theologie scheint in erster Linie vom Isis-Osiris-Mythos und in zweiter Linie von Mythen anderer orientalischer Göttinnen abhängig zu sein. Ihre Entwicklungslinie nahm ihren Ausgang in der Theologie nachexilischer Weisheitsschulen und zog sich durch den hellenistischen Judaismus, die Gnosis und auf verschiedene Weise auch durch das frühe Christentum. Das Zusammentreffen dieser Entwicklung einer Weisheitstheologie mit der vorpaulinischen Sophia-Christologie und dem vorjohanneischen Logoshymnus scheint von der Theologie des Philo vorbereitet zu sein, in der die weibliche Gestalt der Sophia schon mit der Gestalt des männlichen Logos gleichgesetzt wurde. 82 Philo identifizierte den Logos mit historischen Personen wie Moses, Isaak oder Israel. Philo gebraucht jedoch die aus dem Isis-Osiris-Kreis stammende kosmologisch-mythologische Sprache, um psychologisch-mythische Realitäten auszudrücken. Der Logos als Priester und König des Kosmos wird zum Priester der Seele. Die historischen Gestalten Moses und Isaak werden zu Archetypen und Symbolen für Tugenden verwandelt. Die Geschichte Israels wird zum psychologisch-mythischen Paradigma. Ebenso weisen die mythischen Materialien über die Sophia, die sich in gnostischen Texten finden, eindeutige Verbindungen zur jüdischen Weisheits literatur und -theologie auf. Der kosmische Sophia-Mythos wird auch hier psychologisiert und verinnerlicht. Die Sophia und ihr Schicksal dient als Beispiel für den/die wahre/n Gnostikerln, dessen/deren Selbst durch Wissen über seinen/ihren Sündenfall und seine/ihre Erlösung aus dem Kerker dieser Welt befreit und zur göttlichen Natur wiederhergestellt werden kann. Dieser Mythos entwickelt sich zu einem metaphysischen Dualismus von maskulinen und femininen Archetypen. Die Gefahr der Spiritualisierung und Psychologisierung, die mit dem gnostischen Dualismus und der hellenistischen Weisheitsspekulation gegeben ist, nimmt bereits Paulus war. Er sucht dieser Gefahr zu begegnen, indem er mit Nachdruck den physischen Tod Christi und die historische 82 Vgl. B. L. Mack, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheits theologie im hellenistischen Judentum, Göttingen 1973 (SUNT 10), rr8-178.
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Realität von ChristInnen betont. Doch diese Gefahr besteht nicht in der Übernahme von »weiblicher« Sprache und Göttin-Symbolen, sondern darin, daß Jesus Christus, unsere Sophia und unser Kyrios, enthistorisiert und geschichtlich-christliche Praxis abgewertet wird. Um den Tendenzen zur U ngeschichtlichkeit im Christus-Mythos entgegenzuwirken, überträgt ihn Paulus aus seinem hymnischen Kontext in den Kontext moralischer Ermahnung. In Phil2, I - I 5 wird Christus zum Vorbild, das von denen nachgeahmt werden soll, die ihr »eigenes Heil mit Furcht und Zittern« wirken. In diesem Kontext arbeitet Paulus heraus, was christliche Gleichheit bedeutet. Er verweist auf Christus-Sophia, der/die nach dem Hymnus nicht an seinem/ihrem »Gottgleichsein« festhielt, sondern »sich selbst entäußerte« oder »erniedrigte«, das »Sklavendasein annahm« und »gehorsam bis zum Tode« wurde. Paulus bezeichnet Christi Tod ausdrücklich als gewaltsame Hinrichtung am Kreuz. Aber er reflektiert, wie bereits bemerkt, die politische Bedeutung des Todes Jesu nicht tiefer und betont statt dessen seinen Gehorsam. Paulus zitiert den Hymnus, um seine Ermahnungen zu begründen: »Nichts geschehe aus Streitsucht oder eitler Ruhmsucht, vielmehr achte in Demut jede/r die/den andere/n höher als sich selbst. Jede/r sei nicht nur auf das Eigene bedacht, sondern auch auf das der anderen.« (PhiI2,Jf) Gleichrangigkeit besteht für Paulus also im Beachten nicht nur der eigenen Interessen, sonden auch der der anderen. Dieses Verständnis vertritt Paulus auch in 2Kor 8,1 3f, der zweiten Textstelle, in der Paulus über Gleichheit und Ausgleichen spricht. Paulus appelliert an die KorintherInnen, ihren Teil zur Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem beizutragen. Er hat nicht die Absicht, den KorintherInnen eine Last aufzubürden, sondern um der Gleichheit willen soll »in der jetzigen Zeit euer Überfluß (der Überfluß der KorintherInnen, d. Ü.) dem Mangel jener (dem Mangel der Gemeinde in Jerusalem, d. Ü.) abhelfen, damit auch ihr Überfluß eurem Mangel zugute komme, so daß Gleichheit möglich wird.« Gleichheit besteht also im wechselseitigen Teilen von Überfluß mit den ChristInnen, die in Not sind. Aber Paulus sagt nicht genauer, was solches Teilen von Überfluß in sozialer Hinsicht heißt, obwohl das Schlüsselwort SklavIn im Hymnus Phil 2, I - I I die Gelegenheit dazu hätte geben können. Auch seine Rede über Jesu Tod versäumt, die politischen und sozialen Implikationen dieses Todes auszubuchstabieren. Wir können darüber nur spekulieren, warum Paulus dies unterlassen und sich statt dessen auf das persönlich-moralische und kirchliche Verhalten der einzelnen ChristInnen ungeachtet ihrer sozialen Stellung konzentriert hat. Da er seine Theologie gegenseitiger Liebe nicht auf die Theologie der erneuerten Schöpfung und nicht auf die sozio-politische Wirklichkeit des Todes Christi und der Existenz der
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ChristInnen gründet, privatisiert und verinnerlicht er notwendigerweise die christliche Liebe. 83 Daher kann sein Versuch, die wiedererneuerte Schöpfung und die Geschichte Christi in Geschichte zu verwurzeln, seine historisch-kritische Wirkung nicht voll entfalten. 3. Nach Apg 6,1 3f wird Stephanus angeklagt, gegen Tempel und Thora geredet zu haben, die für alle jüdischen Gruppen jener Zeit die Anwesenheit Gottes vermitteln. Die Identifizierung von Thora mit Sophia und ihre Lokalisierung im Jerusalemer Tempel verleiht Tempel und Thora Autorität, insofern dadurch beide Institutionen zum präexistenten, ewigen und endgültigen Symbol der Gegenwart Gottes werden. Das Bekenntnis zu Jesus, »dem« Kyrios, »>der< uns von Gott her zur Sophia geworden ist«, stellt somit diesen theologischen Anspruch von Tempel und Thora infrage. Dies scheinen die HellenistInnen und besonders Stephanus erkannt und theologisch zum Ausdruck gebracht zu haben. 84 In seiner Verteidigungsrede argumentiert Stephanus, daß nicht nur während der ganzen Geschichte Israels die göttliche Gegenwart niemals auf einen einzigen beschränkt war, sondern daß »der« »Allerhöchste ... nicht in Gebäuden von Menschenhänden« wohnt (7,48). Derselbe griechische Ausdruck »von Menschenhänden gemacht« findet sich auch in Mk 14,58 und Hebr 9,11.24. Sein semantischer und theologischer Kontext ist die Missionspredigt des hellenistischen Judentums, die den Ausdruck in ihrer Polemik gegen heidnische GöttInnenbilder verwendet hat. 8i Der Jerusalemer Tempel wird hier und in Mk 14,58 auf einer Ebene mit Götzendienst und daher als dem alten Äon zugehörig gesehen. Doch während die Ansprache des Stephanus nicht positiv aussagt, was die Funktion des Tempels, die Gegenwart Gottes zu vermitteln, ersetzen wird, tritt nach Markus die christliche Gemeinde an seine Stelle. Bereits in der vorpaulinischen Überlieferung finden wir das Verständnis, daß die christliche Gemeinde der Tempel Gottes ist. Die Texte 2Kor 6,14-7,1; 1Kor 3,16; Eph 2,22 und vielleicht 1Petr 2,4- 10 übertragen die Idee des naos (Tempel) auf die christliche Gemeinde, während Paulus in 1Kor 6,19 diese Tradition übernimmt, um sie auf den Leib der/des einzel83 Dies darf aber nicht als »introspektives Bewußtsein des Westens« mißverstanden werden, vgl. u. a. K. Stendahl, Paul AmongJesus and Gentiles, Philadelphia 1976, 7896 und 130ff. 84 Vgl. bes. O. Cullmann, Der johanneische Kreis. Sein Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum. Zum Ursprung des Johannesevangeliums, Tübingen 1975, und Hengel,Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, Schneider (Die Apostelgeschichte, Bd. 1,4 pff) vertritt die These, daß hier lukanische Tradition vorliegt. 85 So M. Simon, St. Stephen and theHellenists in the Primitive Church, London 1958, 87ff; C. H. Scobie (The Use of Source Material in the Speeches of Act III and VII, in: NewTestament Studies 25 (1979) 399-421) behauptet samaritanischen Ursprung.
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nen Christln zu beziehen. 86 Da die hellenistische und jüdisch-hellenistische Literatur nicht den menschlichen Leib, sondern die Seele oder den Geist als Tempel, in dem Gott oder »der« Geist wohnt, betrachtet und den Leib oft als Gefängnis der Seele versteht, spiegelt die Übertragung des Tempelbegriffs auf den menschlichen Leib typisch paulinische Theologie wider und geht daher vermutlich auf Paulus zurück. Mit dem Bild vom Leib als Tempel warnt Paulus vor einem spiritualisierten christlichen Selbstverständnis, das die Seele als den einzigen göttlichen Teil der menschlichen Person ansieht. Im Unterschied zu Paulus versteht die vorpaulinische »Tempeltradition « die christliche Gemeinde als »Tempel« Gottes, um sie von der ungläubigen Welt zu unterscheiden. Der Sitz im Leben dieser Tradition ist nicht eine moralisch-anthropologische Diskussion, sondern eine missionarische Situation, in der ein Interesse daran bestand, zwischen der christlichen Gemeinde und der Welt klare Grenzen zu ziehen. rKor 3,r6f gebraucht den Wortkomplex »Gebäude, Haus, Tempel« zur Charakterisierung der Gemeinde. Die Form dieses Textes könnte auf eine 'Tauftradition hindeuten, die Paulus hier zitiert, um korinthischen Spaltungen entgegenzuwirken. Er warnt die KorintherInnen, daß den Tempel Gottes zerstört, wer die Einheit der Gemeinde zerstört. Diese Warnung scheint Paulus in Hinblick auf seine eigenen theologischen Interessen formuliert und in die überlieferte Formel eingefügt zu haben. Diese bestand aus zwei Parallelismen: Ihr seid Gottes Tempel und »der« Geist Gottes wohnt in euch ... Denn der Tempel Gottes ist heilig (hagios), der seid ihr. Die überlieferte (Tauf-)Formel drückt das christliche Selbstverständnis aus, daß die Gemeinde der neue Tempel ist und sie daher alle geheiligt sind. Der Kontext, in dem das Tempelrnativ auf die christliche Gemeinde übertragen wurde, war missionarisch, wie auch in den Textpassagen der Paulus-Schule in Eph 2,18-22 und 1Petr 2,4-10 sichtbar wird. Der Brief an die Epheserlnnen gebraucht dieses Motiv, um zu betonen, daß JüdInnen und HeidInnen zu einem einzigen Volk oder einer einzigen Rasse geworden sind. Durch J esus Christus sind HeidInnen nicht mehr Fremde, die vom Allerheiligsten ausgeschlossen sind, sondern haben in »dem« einem Geist Zugang zu Gott. Sie sind Vollmitglieder der Tempelgemeinde, 86 Zu diesem ganzen Abschnitt vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Cultic Language in Qumran and in the New Testament, in: Catholic Biblical Quarterly 38 (1976) 159- 177, und die dort zitierte Literatur.
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des Haushalts Gottes geworden und leben in Gemeinschaft mit den heiligen Engeln. 1Petr 2,4- 10 überträgt aus missionstheologischem Interesse nicht nur das Bild des Tempels sondern auch des Priesters und des Opfers auf die christliche Gemeinde. Als Haushalt Gottes sind die ChristInnen der neue eschatologische Tempel, in dem nicht nur eine spezielle Gruppe, sondern alle Mitglieder geistgewirkte Opfer darbringen. Sie haben ihr früheres kulturell-religiöses Milieu verlassen und bilden eine neue Nation, eine neue PriesterInnenschaft, ein heiliges Volk. Sie werden daher in alttestamentlicher und politisch-kultischer Sprache »auserwähltes Geschlecht« genannt, »Königshaus, PriesterInnenschaft, heiliges Volk, Volk, das Gott zu eigen gehört«, das die befreiende Machttat Gottes verkündet. Diese Textstellen verbinden die Tradition über die Gemeinde als Tempel mit der Tradition über die Gemeinde als Haushalt. Ihr Kontext innerhalb dieses Briefes unterstreicht nämlich, daß christliches Verhalten sich an die antiken patriarchalen Haushaltsstrukturen anpassen soll. Eine ähnliche Tempeltheologie findet sich schon in dem vorpaulinischen 87 (aber nicht notwendig antipaulinischen 88 ) Fragment 2Kor 6,147, I, das von der Exegese meist als ein in den Brief eingefügtes T raditionsstück betrachtet wird. Es ist jedoch umstritten, ob Paulus selbst diese Tradition hier aufgenommen hat, oder ob dies nicht der Fall ist, da das Traditionsfragment den vorliegenden paulinischen Kontext unterbricht und daher nicht in den Zusammenhang paßt. 89 Laßt euch nicht mit den Ungläubigen in dasselbe Joch falsch zusammenspannen. Denn was haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit miteinander zu tun, und was für eine Gemeinschaft besteht zwischen Licht und Finsternis? Wie ist Christus mit Belial in Einklang zu bringen? Oder was hat ein/e Gläubigelr mit einer/einem Ungläubigen gemein? Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit den Götzenbildern? Wir sind ja Tempel »des« lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: »Ich will unter ihnen wohnen und wandeln 87 VgI.]. A. Fitzmyer, Qumran and the Interpolated Paragraph on 2Cor 6,14~7,1, in: Catholic Biblical Quarterly 23 (1961) 271-280;]. Gnilka, 2Cor 6,14-7,1 in the Light of the Qumran Texts and the Testaments of the Twelve Patriarchs, in: J. MurphyO'Connor (Hg.), Paul and Qumran, London 1968,48-68. 88 VgI. H. D. Betz, 2Cor 6,I4-7,I. An Anti-Pauline Fragment?, in: Journal of Biblical Literature 92 (1973) 88-108. 89 Zu dieser Frage vgI. M. E. Thrall, The Problem of Ir Cor vi. 14 -vii. I in Some Recent Discussion, in: New Testament Studies 24 (1977) 132-149.
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und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. Darum geht fort aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht >der< Kyrios, und rührt nichts Unreines an. Dann will ich euch aufnehmen und werde euch ein Vater sein, und ihr sollt meine Söhne und Töchter sein, spricht >der< Kyrios, >der< Allmächtige.« Da wir nun diese Verheißungen besitzen, Geliebte, so wollen wir uns rein halten von jeder Befleckung des Fleisches und »des« Geistes indem wir (unsere) Heiligung zur Vollendung führen in Gottesfurcht. Hans Dieter Betz hat triftige Gründe dafür vorgelegt, daß diese Paränese sich auf die »theologische Position der >falschen Brüder< in Jerusalern (vgl. GaI2,4f) und der l,eute, die >von Jakobus her kamen< (2,II-q) bezieht. »Sie würden >in dasselbe Joch falsch zusammenspannen< nennen, was Paulus getan hat, als er die GalaterInnen in die Kirche brachte, ohne sie dem Thora-Bund unterzuordnen.«90 Er behauptet, daß das Freiheitsverständnis des Paulus dem Joch der Thora, das er als>Joch der Sklaverei< (Gal 5,!) verstehe, widerspreche. Während die literarische Analyse von Betz erneut nachgewiesen hat, daß Vokabular und theologische Perspektive nicht paulinisch sind, muß hier jedoch gefragt werden, ob dieses verallgemeinernde Verständnis von »in dasselbe Joch falsch zusammenspannen« angemessen ist. Das griechische Wort für »falsch zusammenspannen« ist eine Metapher, die aus Lev 19,19 hergeleitet ist, wo die Septuaginta dasselbe griechische Wort für »zwei Arten kreuzen« verwendet. Dieselbe Metapher wird auch in Dt 22,10 gebraucht, wo verboten wird, beim Pflügen Ochs und Esel zusammenzuspannen. Der ganze Komplex von Texten untersagt, Dinge von zweierlei Art, z. B. zweierlei Saat, Tiere verschiedener Art, Wolle und Flachs, zu vermischen. Er spricht jedoch nicht von zwei Arten von Joch. Insgesamt gesehen, scheint das Bild des Jochs anders verstanden worden zu sein, als es in diesem Kontext gebraucht wird, insofern es gewöhnlich Lasten bezeichnet, die vor allem durch Fremdherrschaft auferlegt werden Ges 9,4; 10,27; 14,25; Jer 27,8.! 1.12; Gen 27,40; I Kg 12,4). Daher scheint die übliche Übersetzung und Interpretation, die den Imperativ als Warnung vor der Mischehe zwischen Gläubigen und 90 Betz, Galatians, 329 Anm. 2.
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Ungläubigen versteht, eher zuzutreffen. Es ist kein generelles judenchristliches Verbot sozialen und religiösen Umgangs mit HeidenchristInnen, sondern eine Warnung davor, HeidInnen zu heiraten. Die Schwierigkeiten, auf die eine Frau in einer solchen Ehe stoßen konnte, beschreibt T ertullian sehr anschaulich: Denn wer möchte seiner Gattin erlauben, straßenweise in den fremden und gerade in den ärmsten Hütten vorzusprechen, um die Brüder zu besuchen ? Wer wird es gern sehen, daß sie, wenn es erforderlich ist, sich zu nächtlichen Zusammenkünften von seiner Seite wegbegebe ? ... Wer wird sie zu dem bekannten Mahle des Herrn, welches sie so in Verruf bringen, ohne seinen eigenen Argwohn gehen lassen ?9 1
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Die Warnung in 2Kor 6,14 ist daher der in I Kor 7,39 ähnlich, aber viel emphatischer. Sie beruht auf dem theologischen Selbstverständnis der Gemeinde als Tempel und heiligem Volk Gottes und wird mit einer ganzen Reihe von Schrifttexten begründet. Eine sehr überraschende Anwendung eines Schrifttextes auf die christliche Situation ist die Abänderung von 2Sam 7,I4, um zu zeigen, daß die David, dem König Israels, von Gott zugesagte Sohnschaft für die Männer und Frauen in der Kirche gilt. Die Töchter repräsentieren genauso wie die Söhne den Tempel des lebendigen Gottes. Daher werden alle Christlnnen hagioi, Heilige, genannt. Mehrere Exegeten haben festgestellt, daß in dieser Abänderung »sexueller Egalitarismus« und sogar »Feminismus« zum Vorschein kommt. Robert Jewett unterstreicht dies, folgert daraus jedoch: »Das spricht mit Sicherheit gegen eine Herkunft aus Qumran oder dem Judenchristentum, weil diese Gruppen ein patriarchales Frauenbild befürworteten.«9 2 Er argumentiert weiter: »Dieser Vers muß im Licht der Kampagne für Androgynität in Korinth gelesen werden.«93 Aber beide Behauptungen sind nicht bewiesen. Gewiß stammt die Textpassage nicht aus Qumran, obwohl sie eine gewisse Nähe zur Qumran-Theologie aufweist. Nichts spricht jedoch gegen eine judenchristliche Herkunft, da wir keinen Anhaltspunkt für die Annahme solcher patriarchaler Einstellungen gegenüber Frauen im Judentum haben. Im Gegenteil scheint diese Textstelle in die Theologie der vorwiegend judenchristlichen Missionsbewegung zu passen. Nach ihrem Selbstverständnis war diese Bewegung die wiedererneuerte Schöpfung, war sie von Geist-Sophia erfüllt und nahm die Söhne und Töchter, die Sklaven 91 Tertullian, Die zwei Bücher an seine Frau, 2. Buch, 4. 92 R. Jewett, The Sexual Liberation of the Apostle Paul, in: Journal of the American
Academy of Religion, Supplements 47/r (1979) 55-87.68. 93 A.a.O.,69·
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und Sklavinnen, die »den« Geist empfangen und an ekstatischen Erfahrungen teilgehabt haben, mit offenen Armen auf. Diese Bewegung betont, daß Frauen und Männer Kinder Gottes sind, das heilige Volk, die Tempelgemeinde, in der »der« Geist wohnt. Nicht zwischen Männern und Frauen, nicht zwischen jüdischen und heidnischen ChristInnen werden hier scharfe Grenzen gezogen, sondern zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Der Glaube an Jesus Christus - und nicht Religion, Rasse oder Geschlecht - zieht die Grenzlinie zwischen der heiligen Gemeinde und dem Reich des Belial, zwischen dem Tempel Gottes und dem Götzendienst. Der Barnabas-BrieJ, ein vermutlich nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. u. Z. verfaßtes judenchristliches Midrasch-Mahnschreiben94, verbindet in seinem theologischen Ausblick (I 6,J - 5) ebenfalls die Motive »heiliges Volk«, »nicht von Menschenhänden errichteter Tempel« und »wiedererneuerte Schöpfung«. Der Brief zeigt ein späteres Stadium judenchristlicher Theologie an, insofern die christliche Gemeinde nun bereits als neues Volk Gottes im Gegensatz zu dem und als Ersatz für das Volk des alten Bundes verstanden wird. Trotzdem scheinen Teile des Briefes dasselbe soziale und theologische Milieu wie die hellenistischjüdische christliche Bewegung widerzuspiegeln. Es ist schwer zu entscheiden, ob das Textmaterial auf Barnabas zurückgeht oder auf einein seiner Studentinnen und Jüngerinnen oder ob der Brief einfach den Namen des Barnabas benutzt, ohne seine Theologie überhaupt wiederzugeben. Wahrscheinlich steht jedoch der Verfasser in derselben antiochenischen theologischen Tradition, der Barnabas angehört. 95 Obwohl der Brief betont, daß das Heil ein künftiges Ereignis und eine künftige Belohnung sei, sucht er seinen LeserInnen spezielle Erkenntnis oder Gnosis zu vermitteln: ein Geschenk, das Gott allen Kindern Gottes verleiht, um sie fähig zu machen, den Lauf der Heilsgeschichte - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft- zu deuten (1,7; 5,J). Solche Gnosis ist allen Mitgliedern der Gemeinde zugänglich, die der Verfasser als »Söhne und Töchter« anspricht, die die »Gnade der Geistbegabung« (I,If) erhalten haben. Der Autor versteht sich als Lehrer und nennt die LeserInnen oder HörerInnen des Briefes seine Kinder der Liebe, der Freude, des Friedens und seine »Brüder«. »Er hofft, daß auch sie >gute GesetzgeberInnen< und >zuverlässige BeraterInnen< werden 94 Für die Datierung erweist sich der Brief als wenig hilfreich. K. Wengst (Tradition und Theologie des Barnabasbriefes, Berlin I 97I) datiert ihn zwischen I 30 und I 32 und siedelt ihn im westlichen Kleinasien an (I I3ff), doch seine Argumente sind nicht schlüssig. 95 Die von Wengst formulierte Annahme einer »5chultradition« scheint die einsichtigste Hypothese zu sein.
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(21,4), die seine Lehren, die die Lehren >des< Kyrios sind (21,7f; vgl. 1,4), sorgfältig beachten. «9 6 Er ermahnt sie, kein einsiedlerisches Leben anzustreben, sondern zusammenzukommen, um danach zu suchen, was das wechselseitige Gute für sie ist (vgl. 4,10). Sie werden ermahnt, alle, die ihnen das Wort verkünden, wie ihren Augapfel zu lieben. Sie sollten selbst jeden Tag der Gnosis nachstreben, indem sie entweder sich abmühen und reisen, um das Wort zu verbreiten, zu ermahnen oder durch das Wort eine Seele zu retten, oder indem sie mit ihren Händen arbeiten und alle Dinge mit ihren NachbarInnen teilen, da sie kein einziges Ding als ausschließlich ihnen gehörig beanspruchen können (19,8-11). Abgesehen von der hohen Wertschätzung für die, die lehren und über die Feinheiten des Wortes nachdenken (10,11), gibt es keinen Hinweis auf Führungsfunktionen in dieser Gemeinde, die den Sonntag als »Tag der Freude« über Jesu Auferstehung feierte und zur Vergebung der Sünden (1I,lb) die Taufe durch Untertauchen praktizierte (I 1,8b.1 I). Nach Pseudo-Barnabas istJesus auf der Erde erschienen, um »das neue Volk« (5,7) vorzubereiten: er lehrte in Israel, wirkte große Wunder und Zeichen und wählte seine eigenen ApostelInnen aus, die »sein Evangelium predigen« sollten. Diese ApostelInnen waren »über jede Sünde hinaus gesetzlos, damit er zeige, daß er nicht gekommen war, Gerechte zu berufen, sondern SünderInnen « (5,9). Letzteres deutet darauf hin, daß Pseudo-Barnabas die ApostelInnen als Prototyp jeder/jedes ChristIn, die/der berufen und getauft ist, sieht, während die wenigen Hinweise auf den Dienst Jesu ihn wie einen der Hellenisten oder im 2. Brief an die Gemeinde in Korinth erwähnten »anderen Apostel« darstellen. Gottes heiliges Volk, die Mitglieder der christlichen Gemeinde, sind die wahren ErbInnen des Gottesbundes. Als wiedererneuerte Schöpfung . sind sie der neue eschatologische Tempel. In dem Text bleibt unklar, ob die ganze Gemeinde oder nur die einzelne Person der neue Tempel ist. Doch im Unterschied zu Paulus ist es nicht der Leib, sondern-wie in der jüdischen Theologie - »das Herz«, in dem Christus wohnt (6,1 1-14). »Dadurch daß wir die Vergebung der Sünden empfingen und auf den Namen unsere Hoffnung setzten, sind wir neu geworden, nochmals von Grund auf geschaffen; deshalb wohnt wahrhaftig in unserer Wohnung Gott in uns. Wie? Das Wort vom Glauben an ihn, die Berufung zu seiner Verheißung, die Weisheit der Rechtsforderungen, die Gebote der Lehre, er selbst in uns prophezeiend, er selbst in uns wohnend
96 Vgl. Klaus Wengst (Hg.), Schriften des Urchristentums. Zweiter Teil, Darmstadt I984, I03-202.
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... Das ist der geistliche Tempel, der dem Herrn aufgebaut wird.« (I6,8b.9ab.lob )97
Zusammenfassung Die Aufforderung des Pseudo-Barnabas: »Laßt uns Geisterfüllte sein, laßt uns der vollkommene Tempel Gottes sein!« faßt das theologische Selbstverständnis der vorpaulinischen Missionsbewegung gut zusammen. Als prophetische Bewegung der »Söhne und Töchter Gottes« sammelt sie sich in Hauskirchen und verbreitet das Evangelium in missionarischer Partnerschaft. Als neuer Tempel sind ihre Mitglieder »erfüllt« von Sophia und Geist; sie sind die neue Schöpfung und die neuen Geschöpfe Gottes. Als »neues Volk« kommen sie in Hauskirchen zusammen, um das Brot zu brechen und Tischgemeinschaft zu halten. Genau wie die verschiedenen Arten von griechisch-römischen Vereinigungenwie Handwerksvereinigungen, Begräbnisvereinigungen, Mysterienkulte oder die pharisäische havuroth - hatten die christlichen Hauskirchen als ein sie vereinigendes Zentrum das gemeinsame Mahl, bei dem alle Mitglieder der Gruppe regelmäßig zur Tischgemeinschaft zusammenkommen. Gemeinsam zu essen und zu trinken war das wichtigste Integrationsmoment in der sozial vielfältigen christlichen Hausgemeinde. 98 . Der Tischdienst war daher für die christliche Gemeinde sehr wichtig. Doch diese diakonia war noch nicht getrennt von der diakonia des Wortes. Die ChristInnen versammelten sich zum Brechen des Brotes und zum Lobpreis Gottes. Sie dachten über Gottes Verheißungen in der Schrift nach und sangen Christus, »dem« Kyrios, neue Lieder. Wie die Königin Isis, die »Männer und Frauen gleich machte«, so erschien auch Sophia-Christus inmitten dieser alten Welt des Todes und der Entfremdung, um ein neues Volk, »die Söhne u~d Töchter Gottes« zu formen. In der Taufe treten ChristInnen in das Kraftfeld »des« Geistes ein, haben teil an ekstatischen Erfahrungen und werden »ausgesandt«, das Evangelium in der Vollmacht des Geistes zu verkünden, beglaubigt durch Wunderzeichen und überzeugende Beredsamkeit. Sie sind »eine geheilte Schöpfung« geworden, die geisterfüllte Gemeinde derer, die gereinigt, geheiligt und gerechtfertigt sind. Sie sind alle gleich, weil sie alle 97 Wengst (Tradition und Theologie, pf) schlägt vor, daß 16,I.7b- 10 aus der Tradition übernommen ist. L, die alte lateinische Fassung, schließt mit 17,2, es fehlt ihr daher das Material über die zwei Wege; vgl. Kraft, Die Apostolischen Väter, Bd. 3· 98 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Tischgemeinschaft und Feier der Eucharistie, in: Concilium 18 (1982) 76-85.
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Zugang zu der Geistesmacht Gottes haben; sie heißen alle Auserwählte und Heilige, denn sie sind alle ohne Ausnahme von Gott an Kindes statt angenommen: JüdInnen und HeidInnen, Frauen und Männer, SklavInnen und Freie, Arme und Reiche, jene von hohem Status und jene, die in den Augen der Welt »Nichtse« sind. In der sich in der Hauskirche versammelnden neuen Familie sind alle ohne Ausnahme »Schwestern und Brüder«. Gal 3,28 gehärt diesem Kontext und diesem missionarischen Umfeld zu. Dieser Vers ist weder eine Spitzenformulierung des Paulus 99 , noch ein paulinischer theologischer Durchbruch!OO, noch eine isolierte Zufalls äußerung des Paulus. Ga13 ,28 ist ein Schlüsseltext- nicht des Paulus, sondern der christlichen Missionsbewegung, der deren theologisches Selbstverständnis ausdrückt und weitreichende historische Wirkung hatte.
99 Vgl. z. B. P. Stuhlmacher, Der Brief an Philemon, Zürich 1975 (EKKNT), 67. IOO Vgl. K. Stendahl, The Bible and the Role ofWomen, Philadelphia 1966, F.
6. Kapitel Nicht männlich und weiblich GaI3,28: Eine alternative Vision und ihre paulinische Modifik.ation Viele sehen Ga13,28 als locus classicus der Lehre des Paulus über Frauen oder als Brennpunkt und Ausgangspunkt an, von dem her er seine Theologie gestaltet und mit dem seine gesamte Theologie steht und fällt, andere dagegen bestreiten dies. Dabei stützen sie sich auf die sogenannte Haustafeltradition des Neuen Testaments und der frühen Kirchenväter, die betont, daß Frauen den Männern untergeordnet sein sollen. J. E. Crouch wiederum vertritt die These, daß beide Texte - Ga13,28 und die Haustafel im KolosserInnenbrief (die erste im Neuen Testament) - aufeinander bezogen sind. Er argumentiert, die Haustafel sei in der christlichen Predigt entwickelt worden, um übertrieben enthusiastischen Ansprüchen, die sich auf Ga13,28 beriefen, entgegenzuwirken. I Wayne Meeks hat den rituellen Kontext der» Wiedervereinigungsformel« in Ga13,28 erhellt und argumentiert, daß diese Formel den Mythos der Androgynität heraufbeschwöre, der im Hellenismus, im Judaismus und besonders im Gnostizismus weit verbreitet war. Diesen Mythos findet er besonders in dem »durch die Kleidung symbolisierten >neuen Mann<, der >erneuert ist nach dem Bild seines (!) Schöpfers«< Ko13,10 (vgl. Eph 4,24) und in gnostischen Texten. Dabei versteht er »nicht männlich und weiblich« in Ga13,28 im Sinne der »eschatologischen Wiederherstellung der ursprünglich androgynen menschlichen Gottebenbildlichkeit.«2 In 1Kor 11,2- 16 und 14,33 b-36 »scheint es Paulus vorrangig darum zu gehen, die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich wieder geltend zu machen.«3 Paulus bestehe auf »den symbolischen Unterschieden, die dem Menschsein des alten Adam zugehören«, räume jedoch ein, daß »funktionale Unterschiede« so lange außer Geltung sein könnten, solange dies dem »Aufbau der Gemeinde diente«.4 Damit folgt Meeks Robin Scroggs, der argumentiert, daß Paulus die Un-
I v gl. j. E. Crouch, The Origin and Intention of the Colossian Haustafel, Göttingen I972 (FRLANT 109), 144. 2 W. A. Meeks, The Image of the Androgyne. Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, in: History of Relig\ons 13 (1974) 165-208.197. 3 A.a.O.,200. 4 Vgl. a.a.O., 202.
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gleichheit zwischen den Geschlechtern beseitigen wollte, während die GnostikerInnen den Geschlechtsunterschied beseitigen wollten.«! Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Robert J ewett in seinem Aufsatz » The Sexual Liberation of the Apostle Paul (Die sexuelle Befreiung des Apostel Paulus)«: »Die echten Paulusbriefe stehen in einer Entwicklung, die zur vollen Anerkennung von Gleichheit führt, aber gleichzeitig betonen sie nachdrücklich, daß die gottgegebenen Wesensunterschiede der Geschlechter aufrechterhalten werden müssen.«6 Jewett stimmt der These von Crouch ausdrücklich zu, daß die Haustafeln »gegen die Exzesse von freien Frauen und SklavInnen« gerichtet seien, die die »Stabilität der paulinischen Kirchen« bedroht hätten. Im Brief an die Gemeinde von Kolossä sei jedoch im Streit gegen die Androgynität »der Ausgleich zwischen Gleichheit und Geschlechtsunterschied verlorengegangen.« Paulus habe also »um die Erhaltung zweier scheinbar widersprüchlicher Punkte gekämpft: den Geschlechtsunterschied der geschlechtlichen Identität einerseits und die Gleichheit von Ansehen und Rolle andererseits.«7 In exegetischen Kommentaren und Aufsätzen über »die Frau in der Bibel« ist die Unterscheidung zwischen »Schöpfungsordnung«, zu der die Haustafeln gehören, und »Erlösungsordnung« weitverbreitet, obwohl sich keiner dieser beiden Ausdrücke im Neuen Testament findet. Während manche Traditionalisten behaupten, daß Frauen in der Schöpfungsund Erlösungsordnung eine von Männern verschiedene Rolle und bei der Schöpfung von Gott eine Position der Unterordnung zugewiesen bekommen haben, behaupten andere, daß »vor Gott« alle gleich sind. Hinsichtlich der Erlösung und der Geistesgaben hätten alle den gleichen Stand vor Gott. Die soziologischen Implikationen dieser gleichen Stellung könnten jedoch nicht auf die Gesellschaft oder das kirchliche Amt angewendet werden, sondern müßten bis zur eschatologischen Zukunft aufgeschoben werden. Gegen eine solche Interpretation von Gal3,28, die Gleichheit und Einheit auf die Seele oder auf die Stellung vor Gott beschränkt, hat Krister Stendahl massive Einwände erhoben: Diese Aussage beschränkt sich darauf, was in Christus durch die Taufe geschieht. Aber in Christus ist durch die Taufe die Dichotomie überwunden und eine neue Einheit geschaffen, und dies kann nicht nur mit 5 A.a.O., 203, Anm. 153. 6 R. Jewett, The Sexual Liberation of the Apostle Paul, in: Journal of the American Academy ofReligion Supplements 4711 (1979) 55-87.75f. 7 A.a.O.,67·
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den Augen des Glaubens wahrgenommen werden, sondern manifestiert sich in den sozialen Dimensionen der Kirche. 8 Stendahl argumentiert jedoch, daß sich Paulus im I. Brief an die Gemeinde von Korinth gegen eine Art »spirituellen Snobismus« wende und seine christliche Eschatologie gegen jene formuliere, »die denken, daß sie die Welt des Todes und der Begrenzungen bereits überwunden hätten.« Wenn Paulus gegen diejenigen gekämpft hat, die das Alte verteidigten, ist seine kühne Vision des Neuen in voller Stärke - wie in Gal 3,28 zum Ausdruck gekommen. Wenn er die Überbetonung des N euen wahrnahm, sprach er sich - wie im Brief an die Gemeinde von Korinth - für das Alte aus. 9 Paulus wollte also die Spannung zwischen Neuem und Altem, zwischen kommender Zeit und Jetztzeit aufrechterhalten. Einerseits sei die alte Hierarchie in Hinblick auf Frauen und Männer, SklavInnen und Freie überwunden; andererseits sei totale Emanzipation aus gesellschaftlichen Zwängen illusionärer Enthusiasmus, der die Ausbreitung des Evangeliums behindere und die Einheit der Kirche bedrohe. All diese verschiedenen Interpretationen scheinen auf einem bestimmten Vorverständnis und auf modernen Interpretationskategorien zu beruhen. Während die ältere Exegese darauf beharrt, daß die Unterordnung und Unterschiede von Frauen gegenüber Männern, von SklavInnen gegenüber Freien - und ich würde hinzufügen: auch von JüdInnen gegenüber GriechInnen (NordamerikanerInnen, Deutschen usw.) - in Gesellschaft und Kirche Geltung haben, geht die jüngere Exegese vom Postulat des »Gleichwertig, aber andersartig« aus. Interessanterweise beharrt sie nicht auf dem symbolischen Unterschied von Rasse oder Klasse, sondern nur auf dem Geschlechterunterschied, der von Frauen immer noch in Unterordnung gelebt werden muß. Stephan Clark verwendet zum Beispiel viel Zeit darauf, zu betonen, daß die ersten beiden Satzpaare in Gal 3,28 ganz verschieden sind vom letzten Paar, um zu beweisen, daß, wenn eine/r für die Unterordnung von Frauen argumentiert, deswegen nicht auch für die Unterordnung von SklavInnen und JüdInnen argumentieren muß.'O Wenn ich auf die Vorannahmen der heutigen Exegese bei der Interpretation von Gal 3,28 aufmerksam mache, will ich damit nicht für 8 K. Stendahl, The Bible and the Role ofWornen, Philadelphia 19 66, 33. 9 A.a.O·,37· 10 V gl. S. B. Clark, Man and Wornan in Christ. An Exarnination of the Roles of Men and Wornen in Light of Scripture and the Social Sciences, Ann Arbor 1980, 155ff.
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eine wertfreie Exegese plädieren, sondern bloß erklären, um welche Werte es hier geht. Die Diskussion, die Gal3 ,28 mit der Haustafeltradition in Verbindung bringt, weist auf eine geschichtlich-gesellschaftliche Dynamik hin, die nicht sichtbar wird, wenn sie in die Gegensätze »Schöpfungsordnung Erlösungsordnung« einerseits und »enthusiastischer Exzeß oder gnostische Häresie - paulinische Theologie oder neutestamentliche Orthodoxie« andererseits gepreßt wird. Hans Dieter Betz hat aufgezeigt, daß die Kommentare zum Brief an die GalaterInnen »durchweg bestreiten, daß die Aussagen des Paulus politische Implikationen hatten. «II Diese Kommentare sind bereit, das Gegenteil von dem zu behaupten, was Paulus tatsächlich sagt, nur um eine »rein religiöse« Interpretation beizubehalten. Dabei können sie mit Nachdruck die Wirklichkeit der Gleichheit vor Gott betonen, aber zugleich »abstreiten, daß daraus irgendwelche Schlußfolgerungen in Hinblick auf kirchliche Ämter (!) und die politische Ordnung gezogen werden können« - die alle, so würde ich sagen, auf der Annahme sogenannter »natürlicher« Geschlechtsunterschiede und deren Institutionalisierung in der patriarchalen Ehe beruhen.
Analyse und Interpretation von Ga13,28 Formgeschichtliche Untersuchungen konvergieren darin, daß sie Gal 3,26-28 formgeschichtlich als ein traditionelles Taufbekenntnis, das von Paulus zitiert worden ist I2 , bestimmen. Folgende Beobachtungen sprechen dafür, daß es sich um eine überlieferte Formel handelt. Dieselbe Formel taucht in verschiedenen neutestamentlichen und frühchristlichen Texten auf. Ferner wechselt Paulus vom »wir« in V 25 zum »ihr« in V 26 und kehrt in 4>3 wieder zum »ihr« zurück. Darüber hinaus spricht der unmittelbare Kontext im Brief an die GalaterInnen weder von Taufe noch von sozialen Beziehungen. Die Taufformel unterscheidet sich theologisch von ihrem unmittelbaren Kontext. Paulus geht es im Brief an die GalaterInnen um die religiösen Beziehungen von JüdInnen und HeidInnen, nicht um kulturelle und politische Unterschiede zwischen JüdInnen
I I H. D. Betz, Galatians, Philadelphia 1979 (Hermeneia), 189 Anm. 68. 12 Vgl. Meeks, Image ofthe Androgyne; vgl. auchH. D. Betz, Spirit, Freedom, Law. Paul's Message to the Galatian Churches, in: Svensk Exegetisk Arsbok 39 (1974) 14516o, und ders., Galatians, 181 -201;]. Becker, Auferstehung der Toten im Urchristentum, Stuttgart 1976 (SBS 82), 5M; H. Paulsen, Einheit und Freiheit der Söhne GottesGaI3,26-29, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 71 (1980) 74-95 (Bibl.).
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und GriechInnen als Völker und Kulturen unterschiedlichen Typs. Daher gebraucht er in Gal5,6 und 6,15 (vgl. IKor 7,19) nicht die Bezeichnung »JüdInnen und GriechInnen« und bezieht sich statt dessen auf Beschneidung und Unbeschnittensein. Ferner spricht der unmittelbare Kontext von Unfreiheit und Sklaverei, von der Sklavin und der Freien (GaI4). »Sklaverei« und »Freiheit« werden jedoch gebraucht, um die religiöse, nicht aber um die soziale Situation der christlichen Galaterlnnen zu kennzeichnen, während das Paar »männlich - weiblich« bei der Argumentation des Paulus im GalaterInnenbrief überhaupt keine Rolle spielt. Schließlich lassen sich in der Taufformel mehrere paulinische Hinzufügungen erkennen. Die syntaktischen Übergänge »also/daher« und »durch den Glauben in Jesus Christus«, wie auch V 29 sind eindeutig paulinische Einschübe. Da Paulus den Begriff der Sohnschaft in unmittelbarem Kontext gebraucht, dürfte er auch »Kinder« in »Söhne« verändert haben. Denn die überlieferte Formel, »daß wir Kinder Gottes sind« (Röm 8,16c), ist Hinweis dafür, daß die christliche Missionsbewegung die Gabe »des« Geistes als Bestätigung dafür versteht, daß ChristInnen tatsächlich Kinder Gottes sind, »wenn aber Kinder, dann auch ErbInnen« (Röm 8,17). Die Taufverkündigung, die Paulus zitiert, könnte demnach aus folgenden Elementen bestanden haben: i) 3.26a De~n ihr seid alle Kinder Gottes ii) 3.27a Denn wie viele auf Christus getauft sind b haben Christus angezogen iii) 3.28a Da gibt es weder JüdIn noch GriechIn b Da gibt es weder SklavIn noch Freielr c Da gibt es nicht männlich und weiblich iv) Denn ihr seid alle eins. Obwohl die Bibelwissenschaftlerlnnen die verschiedenen Verse unterschiedlich abgrenzen, stimmen alle darin überein, daß der Kern der überlieferten Formel Gal 3,28abc ist. Wegen des Gegensatzpaares JüdIn GriechIn nehmen sie an, daß dieses Kernstück in einer judenchristlichen Gemeinde formuliert wurde. Daher hindert uns nichts daran, es der vorpaulinischen Missionsbewegung zuzuschreiben und als integralen Teil der Geisttheologie dieser Bewegung zu verstehen. Die Funktion dieses Bekenntnisses wird in der Beschreibung von Meeks am treffendsten erfaßt: ... ein/ e Bewohnerln einer der Städte in der Provinz Asien, die/der es wagte, Mitglied einer der winzigen christlichen Zellen der früheren Jahre zu werden, hätte die utopische Deklaration der Wiedervereini-
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gung der Menschheit als feierliches rituelles Bekenntnis gehört. Verstärkt durch dramatische Gesten (entkleiden, untertauchen, sich neu kleiden), hätte eine solche Deklaration - in einer Gemeinde, in der die Sprache der Deklaration Bedeutung hatte - die Macht gehabt, das symbolische Universum, durch das sich jene Gruppe von der »normalen« »Welt« der Gesamtgesellschaft unterschied, zu gestalten. Als wirkmächtige Proklamation, die auf Verwirklichung abzielt, beansprucht sie faktisch eine »objektive« Umwandlung der Wirklichkeit, die die sozialen Rollen grundlegend verändert. Neue Haltungen und veränderte Verhaltensweisen würden daraus folgen - aber nur, wenn es der Gruppe gelingt, diese neuartige Deklaration mit einer »Aura der Faktizität« zu kleiden. '3 Wir haben gesehen, daß solch neues Verhalten tatsächlich durch diese Taufdeklaration hervorgerufen wurde - zumindest in Beziehung auf Frauen, die in den Hauskirchen und der Mission der frühchristlichen Bewegung Führungsrollen ausübten. Ein Brief von Plinius an Kaiser Trajan bestätigt, daß zu Beginn des zweiten Jahrhunderts »Dienerinnen« (Sklavinnen?) in der Kirche von Bithynien Diakonninen waren.'4 Etwa zur selben Zeit schreibt Ignatius an den Bischof Polykarp von Smyrna und gibt ihm die Anweisung, Sklavinnen oder Sklaven nicht auf Kosten der Kirche freizulassen (4,3). Diese Mahnung setzt voraus, daß SklavInnen, die sich der christlichen Gemeinde anschlossen, von der Gemeinde erwarteten, daß sie ihnen die Freiheit erkaufte. Solche Erwartungen wurden durch den Glauben der ChristInnen daran, daß sie durch Christus wirklich freigeworden sind, bestätigt. In den Paulusbriefen kommen immer wieder solche Formulierungen vor: »Ihr seid teuer erkauft, werdet keine MenschensklavInnen« (IKor 7,23; 6,20). Oder: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit ... laßt euch nicht wieder in das Joch der Sklaverei spannen« (Gals ,I). Das Ziel der christlichen Berufung ist Freiheit: »Zur Freiheit seid ihr berufen« (Gal 5,13), denn »wo >des< Kyrios Geist ist, da ist Freiheit« (2Kor 3,17). Die Behauptung, christliche SklavInnen, die ihre Berufung als Berufung zur Freiheit verstanden, hätten bloß »ein oberflächliches Verständnis des Evange13 Meeks, Image oftheAndrogyne, 182 . . 14 Vgl. Plinius, Briefe, 10,96. NachA. N. Sherwin White betrachtetPlinius »die diakonoi, die diese >DienerInnen< offensichtlich waren, als SklavInnen, deren Zeugenaussage gewöhnlich unter Folter abgenommen wurde. Daß freigeborene ZeugInnen in gewöhnlichen Strafprozessen gefoltert wurden, ist eine Neuerung des späten römischen Reichs ... Plinius betont, daß viele >jeden Alters, jeder Klasse und beiden Geschlechts angeklagt< wurden ... « (The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, Oxford 1966,708).
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liums«'j gehabt, spielt die große Wirkung herunter, die diese Sprache in einer Welt hatte, in der die Sklaverei eine allgemein anerkannte Einrichtung war. Befreiung aus der Sklaverei der Sünde, des Gesetzes, des Todes, aus den Bedingungen der »gegenwärtigen bösen Weltzeit« (Gal 1,4) hat »Freiheit« zum Zweck und Ziel. »Das Ergebnis ist, daß eleutheria (Freiheit) der zentrale theologische Begriff ist, der die Situation der ChristInnen sowohl vor Gott als auch in dieser Welt zusammenfaßt.«'6 Daher hörte eine Sklavin, die im ersten Jahrhundert Christin wurde, dieses Taufbekenntnis als »rituellen Zuspruch, der auf Verwirklichung zielt«, und nicht nur die Kraft hat, das »symbolische Universum« der christlichen Gemeinde zu prägen, sondern auch die sozialen Beziehungen und Strukturen der Kirche bestimmt. Daß solche Erwartungen, den Status einer/eines Freien aufgrund der Taufe zu erlangen, kein übertriebener Enthusiasmus war, wird offensichtlich, wenn wir einen Blick auf das erste Gegensatzpaar der Taufformel werfen: JüdIn - GriechIn. Es ließe sich zeigen, daß das gesamte Werk des Paulus um die Aufhebung der religiösen Unterschiede zwischenJüdInnen und GriechInnen kreist. Denn »da gibt es keinen Unterschied zwischen JüdInnen und GriechInnen. Ein und dasselbe ist ja >der< Kyrios aller. >Seinen< Reichtum verschenkt >er< an alle, die >ihn< anrufen.« (Röm 10,12) Die Gleichheit aller, die »den« Kyrios anrufen, basiert auf der Tatsache, daß sie alle ein und »den«selben Kyrios haben, »der« »seinen« Reichtum mit ihnen allen teilt (vgl. auch Röm 3,22). Daß solch »religiöse Gleichheit« soziale und kirchliche Konsequenzen für die Beziehungen von JudenchristInnen und HeidenchristInnen hatte, geht deutlich aus dem Vorfall in Antiochia hervor, der in der frühen Kirche allgemein bekannt gewesen zu sein scheint. '7 Petrus und Barnabas hatten sich auf die Tischgemeinschaft mit den HeidenchristInnen in Antiochia eingelassen, sie aber auf Druck aus Jerusalem hin wieder aufgegeben. Sie hielten sich nun erneut an die pharisäisch-christlichen Reinheitsgesetze, die sich gegen das gemeinsame Mahl mit »Unreinen« wandten. Paulus greift Kephas und die judenchristliche Gruppe um ihn öffentlich an, weil »sie nicht recht wandelten nach der Wahrheit des Evangeliums« (Gal 2,14). Der ganze Brief an die GalaterIntien ist geschrieben, um genau dies zu betonen: Was zählt, ist nicht Beschneidung oder Unbeschnittensein, sondern die wieder erneuerte Schöpfung. Dieser Kampf des Paulus um Gleichheit zwischen HeidenchristInnen und JudenchristInnen hatte wichtige Konsequenzen für juden- und heir 5 Crouch, Colossian Haustafel, 127.
r6 Betz, Galatians, 255. 17 Vgl. die Literatur und Diskussion dazu bei Betz, Galatians, r03f.
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denchristliche Frauen. Wenn der wichtigste Initiationsritus nicht mehr Beschneidung, sondern Taufe ist, dann können Frauen Vollmitglieder des Volkes Gottes mit gleichen Rechten und Pflichten werden. Dies bewirkte eine grundlegende Veränderung nicht nur ihrer Stellung vor Gott, sondern auch ihrer kirchlichen und sozialen Stellung und Funktion, weil im Judentum religiöse Unterschiede auch in gemeinschaftlichen Verhaltensweisen und sozialer Praxis zum Tragen kamen. Während JüdInnen ins Judentum hineingeboren wurden - ein Proselyt konnte niemals den Status eines israelitischen Mannes erringen - verstand sich die christliche Bewegung als eine »neue Familie« in Jesus Christus. 18 Durch die Taufe traten ChristInnen in eine »Verwandtschaftsbeziehung« mit Menschen sehr unterschiedlicher rassischer, kultureller, nationaler Herkunft ein. Diese sozialen Unterschiede sollten ebenso wenig wie die der alten Großfamilie und der Sippe die sozialen Strukturen der Gemeinde bestimmen. Folglich veränderten sich Status und Rolle sowohl jüdischer als auch christlicher Frauen drastisch, da Haushalt und Verwandtschaft nicht die sozialen Strukturen für die christliche Bewegung liefern. Dies scheint das letzte Wortpaar des Taufbekenntnisses zum Ausdruck zu bringen: »Da gibt es nicht männlich und weiblich«. Dieses dritte Wortpaar unterscheidet sich insofern in der Formulierung von den beiden vorhergehenden, als es nicht von Gegensätzen, sondern von Mann und Frau spricht. In der Exegese wurden ziemlich viele Spekulationen darüber angestellt, warum es hier »männlich und weiblich« und nicht »Mann und Frau« heißt. 19 Oft wird behauptet, daß nicht nur »die sozialen Unterschiede (Rollen) sondern auch die biologischen Unterschiede von Männern und Frauen«20 hier gemeint sind. Deshalb werden, wie wir gesehen haben, Hypothesen aufgestellt, daß die Formel gnostisch sei und für Androgynie plädiere. Nach dieser Interpretation wiederholt Paulus in 1Kor 12,13 die Formel deshalb nicht, weil er in Korinth besondere Probleme gehabt habe, die auf die gnostischen oder enthusiastischen Konsequenzen zurückzuführen seien, die Frauen aus Gal 3,28 gezogen hätten. Eine solche Vermutung beruht jedoch auf der unbewiesenen Annahme, daß das Verhalten der Frauen von Korinth von gnostischen Lehren und nicht von frühchristlichen prophetischen Erfahrungen bestimmt gewesen sel. 18 Dies betont R. Loewe: »Die soziologische Basis, auf der das Christentum beruht, sind nicht- wie im Judentum - die Verwandtschaftsbindungen sondern die Bindungen der Gemeinschaft - Gemeinschaft in Christus« (The Position of Women in Judaism, London 1966,52). 19 Vgl. bes. H. Thyen, » ..• nicht mehr männlich und weiblich ... «. Eine Studie zu Galater 3,28, in: F. Crüsemann/H. Thyen (Hg.), Als Mann und Frau geschaffen, Gelnhausen 1978, lo9f. 20 Betz, Galatians, 195.
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Außerdem übersieht diese Interpretation die Tatsache, daß grammatisch neutrale Geschlechtsbezeichnungen (das Männliche, das Weibliche) schlicht anstelle von »Mann und Frau« gebraucht werden können. Diese Ausdrücke implizieren keine Leugnung biologischer Geschlechtsunterschiede!' In Gal 3,28c wird jedoch vermutlich auf Gen 1,27 angespielt, wo die nach dem Bilde Gottes geschaffene Menschheit als »männlich und weiblich« qualifiziert wird, um das Thema »Fortpflanzung und Fruchtbarkeit« einführen zu können. Die jüdische Exegese verstand »männlich und weiblich« daher vor allem im Sinne von Ehe und Familie. Auch in der frühchristlichen Theologie ruft der Ausdruck, wie an Mk 10,6 zu sehen ist, das Bild des ersten Paares - und nicht die Vorstellung eines androgynen Wesens - ins Gedächtnis. »Männlich und weiblich« ist folglich am zutreffendsten im Sinne von patriarchaler Ehe und Geschlechterrollen zu verstehen. So gesehen, behauptet Ga13,28c nicht, daß es in Christus keine Männer und Frauen mehr gäbe, sondern daß für die neue Gemeinde in Christus die patriarchale Ehe - und patriarchale Beziehungen von Ehemännern und Ehefrauen - nicht mehr konstitutiv sind." Ungeachtet ihrer Fortpflanzungsfähigkeiten und der damit verbundenen sozialen Rollen werden Personen in der und durch die Taufe Vollmitglieder der christlichen Bewegung. Diese Interpretation wird auch von der außerkanonischen Tradition gestützt. Die apokryphe Literatur überliefert ein J esuswort, das ein christliches Selbstverständnis wiedergibt, das Gal 3,28c ähnlich zu sein scheint. Im Vorbeigehen sieht J esus Mütter ihre Kinder stillen und sagt zu den JüngerInnen: »Diese saugenden Kleinen sind denen gleich, die ins Königreich eingehen.« Die JüngerInnen wollen sichergehen, daß sie ihn recht verstanden haben und fragen: »Wenn wir klein sind, werden wir dann ins Königreich eingehen?«, und Jesus antwortet:
21 Vgl. die Dokumentation: M. de Merode, Une theologie primitive delafemme?, in: Revue Theologique de Louvain 9 (1978) 176-189, bes. 184f. 22 Eine ähnliche exegetische Argumentation, jedoch mit anderer systematischer Schlußfolgerung findet sich bei B. Witherington, Rite and Rituals for Women - Galatians 3,28, in: New Testament Studies 27 (1981) 593-6°4. Nach Witherington wurde, wenn Menschen sich dem Judentum anschlossen, »vielleicht darauf bestanden, daß Ehe und Fortpflanzung notwendig sind - möglicherweise um auf diese Weise Frauen in die Gemeinschaft miteinzubeziehen und ihnen eine tragende Rolle zu geben ... «. Witherington betont jedoch, daß schon die bloße Tatsache, daß Paulus hier von Geschlechts-, Rassen-, Religions- und Klassenunterschieden spricht, zeigt, daß Paulus sehr wohl bestätigt, daß solche Unterschiede existieren. Seiner Ansicht nach will Paulus sie »nicht verwischen«, sondern »richtig orientieren«: »Er verwirft also ihren Mißbrauch, nicht jedoch ihren rechten Gebrauch« (601f). Doch eine solche Schlußfolgerung läßt sich nicht aus dem Text ableiten.
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Wenn ihr die zwei eins macht, und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht, und das Äußere wie das Innere, und das Obere wie das Untere, und wenn ihr das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen macht, damit das Männliche nicht (mehr) männlich und das Weibliche nicht (mehr) weiblich ist ... (Thomas-Evangelium, Log 22) Ähnlich wendet sich der 2. KIemensbrief, eine auf das frühe 2. Jahrhundert datierte und Klemens von Rom zugeschriebene anonyme Predigt, an bekehrte Heidinnen (vermutlich aus Ägypten), »die in der Gefahr sind, gnostischen Lehren zum Opfer zu fallen.«'} Der Prediger zitiert das Jesuswort im Kontext einer eschatologischen Predigt: Denn als einer »den« Kyrios fragte, wann »sein« Reiche komme, sagte »er«: »Wenn die zwei eins und das Äußere wie das Innere und das Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch weiblich sein werden.« Er erklärte dann, daß das Innere und das Äußere Seele und Leib bedeuten. Ferner bedeutet »das Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch weiblich« folgendes: Wenn ein Bruder eine Schwester sieht, soll er genauso wenig an ihr Geschlecht denken wie sie an seines. (12,1-6) Diese Interpretation spiegelt deutlich noch die gleiche Gemeindesituation wie Gal3,28 wider. Sie versteht dieses Jesuswort noch nicht wie die gnostischen Schriften anthropologisch im Sinne von Androgynie. Zwar wird im Thomas-Evangelium der kirchliche Kontext des Jesuswortes nicht klar, aber das J esuswort spricht nicht von Bisexualität oder Androgynie, sondern eher von Präsexualität, wie das Bild der saugenden Babies vermuten läßt. Die Aussage dieser Spruchüberlieferung ist also, daß die Geschlechterpolarität und die darauf basierenden Geschlechtsrollen aufgegeben werden müssen, um ins Reich Gottes eingehen zu können. Oder in der Sprache der/des anonymen Predigerln: Ein/e Christln sollte andere ChristInnen nicht als Sexobjekte, als männlich oder weiblich, ansehen, sondern als Mitglieder derselben »Familie Gottes«, als Brüder und Schwestern. Die Jesus zugeschriebene Spruchüberlieferung drückt also mit anderen Worten dasselbe Verständnis von Christlnsein wie die Taufformel in Gal3,28 aus. Frauen und Männer in der christlichen Gemeinde sind nicht auf ihre geschlechtlichen Fortpflanzungsfähigkeiten oder auf 23
C. C. Richardson, Early Christian Fathers, New York 1970, 200.
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ihre religiösen, kulturellen und sozialen Geschlechterrollen festgelegt, sondern durch ihre Nachfolge und Geistbevollmächtigung gekennzeichnet. In der Antike wurden nicht nur die Geschlechterrollen sondern auch kulturelle, rassische und soziale Unterschiede als in der biologischen Natur begründet angesehen. Religiöse, soziale, rassische und sexuelle Merkmale wurden nicht so sehr unterschieden, wie das heute geschieht. Obwohl heute die meisten zugeben würden, daß Rassen- oder Klassenunterschiede nicht natürlich oder biologisch, sondern kulturell und sozial bedingt sind, werden Geschlechtsunterschiede und Geschlechterrollen noch immer als naturgegeben erklärt. Feministische Untersuchungen haben jedoch zur Genüge belegt, daß die postulierten sogenannten biologischen Geschlechtsunterschiede und Geschlechterrollen zumeist soziokulturell entstanden sind. Sobald wir geboren sind, werden wir in Geschlechterrollen hineinsozialisiert. Jede Kultur gibt der biologischen menschlichen Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr, zum Kindergebären und Stillen andere symbolische Bedeutung und leitet aus dieser Fähigkeit unterschiedliche soziale Rollen ab. 24 Geschlechterpolarisierung und starr definierte Geschlechterrollen sind Produkte patriarchaler Kultur, die Herrschaftsstrukturen aufrechterhalten und die Ausbeutung von Frauen durch Männer legitimieren. 25 Ga13,28 verkündet nicht nur die Abschaffung religiös-kultureller Trennungen und der durch die Institution der Sklaverei aufrechterhaltenen Herrschaft und Ausbeutung, sondern auch die Abschaffung der auf Geschlechtertrennung basierenden Herrschaft. Die Formel wiederholt mit verschiedenen Kategorien und Worten, daß in der christlichen Gemeinde keine Herrschaftsstrukturen geduldet werden können. Gal 3,28 ist deshalb am zutreffendsten als gemeindliche christliche Selbstdefinition zu verstehen - und nicht als Aussage über das getaufte Individuum. Die Formel verkündet, daß in der christlichen Gemeinde alle Unterschiede von Religion, Rasse, Klasse, Nationalität und Geschlecht aufgehoben sind. Alle Getauften sind gleich, sie sind eins in Christus. Die Taufformel von Ga13,28 drückt also, recht verstanden, keinen »exzessiven Enthusiasmus« und keine »gnostische« Abwertung von Fortpflanzungsfähigkeiten aus. Mit Ausnahme des Mithras-Kults haben die orientalischen Kulte Frauen genauso wie Männer ohne Ansehen der Familie, Klasse und so24 Vgl. bes. M. Zimbalist Rosaldo, The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Understandings, in: Signs 5 (I980) 389-4I7; und Kap. I in diesem Buch. 25 Zu Definition und Beschreibung von biologischem Geschlecht (Sexus) und sozialem Geschlecht (Genus) vgl. A. Oackley, Sex, Gender and Society, New York I972, I 58ff.
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zialen Stellung aufgenommen. In Eleusis war die Initiation Frauen wie auch SklavInnen und sogar Hetären und Fremden, falls sie griechisch sprechen konnten, zugänglich. Eine Inschrift aus dem ersten Jahrhundert v. u. Z. mit Regeln für einen Hauskult in Philadelphia (Lydia) erwähnt ausdrücklich Männer, Frauen, SklavInnen, Freie: Die von Zeus dem Dionysos im Traum gegebenen Gebote, die sowohl freien Männern und Frauen, als auch Haussklavinnen Zugang zu seinem Haus gewähren ... Die in dieses Haus eintreten, sowohl Männer als auch Frauen, sowohl SklavInnen als auch Freie, sollen vor den Göttinnen einen Eid ablegen ... Diese Vorschriften wurden (hier) niedergelegt von Agdistis, der heiligsten Schutzpatronin und »Herrin« dieses Hauses, um Männern und Frauen, SklavInnen und Freien ihren guten Willen (oder ihre gute Absicht) zu zeigen, so daß diese den hier geschriebenen (Regeln) folgen und an den Opfern teilhaben. 26 Die bildhafte Sprache - wie ein Kleid »Christus anziehen« - hat Parallelen in den Mysterienreligionen, wo das An- oder Ausziehen der ErlöserIngestalt ebenfalls mit dem Initiationsritus verbunden ist. 27 Dieselbe Sprache wie in Gal 3,2M findet sich auch im Zusammenhang mit dem Ausziehen des »alten Menschen« und Anziehen des »neuen Menschen« in KoI3,IO und Eph 4,24 und in der Gnosis. Jedoch ist solch anthropologisch-kosmische Interpretation in Gal 3,28 nicht explizit. In Christus hinein getauft sein heißt in die Sphäre »des« Auferstandenen, »des« lebensspendenden Geistes, »dessen« Wirklichkeit und Vollmacht sich in der christlichen Gemeinde manifestiert, eintreten. Nicht anthropologisches Einssein, sondern ekklesiologische Einheit ist das Ziel der christlichen Taufe. Im Unterschied zur Initiation in Mysterienkulte, die gewöhnlich keine sozialen Konsequenzen hatten, schafft die christliche Taufe individuelles Heil und ist die Initiation in eine Gemeinde, in eine religiöse Vereinigung. Obwohl die traditionellen philosophischen Schulen (die oft gleichzeitig kultische Vereinigungen waren) die Gleichheit von Frauen und Männern in der Theorie oder als Ideal vertraten, hat nur der epikuräische Garten Frauen auf gleicher Basis aufgenommen. 28 Wir wissen sogar von einer Präsidentin (Deontion). Sie gründeten ihre Gemeinschaft auf Freundschaft (philia) und Gemeinschaftsleben (koinonia) - derselbe Begriff beschreibt oft die Beziehung in der Ehe. Da sie der öffentlichen Gesell26 F. C. Grant, Hellenistic Religions, Indianapolis I953, 28f.
27 Vgl. Betz, Galatians, I88 Anm. 60. 28 Vgl. Meeks, Image of the Androgyne, I72ff.
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schafts ordnung gegenüber pessimistisch eingestellt waren, empfahlen sie das »Privatleben«, in dem durch wechselseitige Unterstützung individuelle Unabhängigkeit (autarkeia) erlangt werden konnte. Obwohl sie erotische Liebe und Ehe um der Freundschaft zwischen Frauen und Männern willen ablehnten, zählten sie auch Paare zu ihren Mitgliedern. So schufen sie eine Gemeinschaft und eine Theorie, in der Männer und Frauen, die sich der Gesellschaft entziehen konnten, gleich waren. Dieses philosophische Ideal hatte später im dritten und vierten Jahrhundert großen Einfluß auf von Frauen gegründete christliche Gemeinschaften. In diesem Kontext war es jedoch mit sexueller Askese verbunden. 29 Wir wissen nicht, welche sozialen Auswirkungen die Aufnahme ins Judentum für Frauen hatte, aber wir haben einige Anhaltspunkte dafür, daß sie für SklavInnen Freiheit bedeuten konnte. Die Emanzipation oder Freilassung einer/eines SklavIn war ein Akt, den der/die SklavenhalterIn mit Zustimmung der Synagoge vollzog. Der/die SklavIn erhielt völlige Freiheit mit Ausnahme der Vorschrift, die Synagoge zu besuchen. Mit dem Akt der Emanzipation war eine zweite Waschung verbunden, die der Proselytlnnentaufe so sehr entsprach, daß beide als ein und dasselbe angesehen werden konnten. Vor dem Hintergrund orientalisch-kultischer und jüdisch-religiöser Emanzipationspraxis haben SklavInnen ganz offensichtlich von ihrer Initiation in die christliche Gemeinde die Freiheit erwartet. 3° Davon geht Paulus offenbar aus, wenn er den getauften Onesimus zu Philemon zurückschickt, »nicht mehr als Sklaven«, sondern als geliebten Bruder, »sowohl in der Ordnung der Welt wie auch im Herrn«, das heißt, sowohl sozial als kirchlich, als Mensch wie als Christ (Phm 16). Paulus hat weder rechtliche Vollmacht, Onesimus freizulassen, noch Autorität, Philemon zu befehlen, dies zu tun. Aber indem er Onesimus als neues Mitglied der Kirche in Philemons Haus zurückschickt, erwartet er, daß Philemon den neuen Status des früheren Sklaven als »Bruder« anerkennt. In seiner Beschreibung des »kontemplativen« oder »philosophischen« Lebens der TherapeutInnen betont Philo: »Sie lassen sich nicht von SklavInnen bedienen, da sie den Besitz von SklavInnen für gänzlich naturwidrig ansehen. Die Natur nämlich brachte alle als Freie hervor, die Ungerechtigkeit jedoch und die Habgier einiger, die nach Ungleichheit, der Quelle allen Übels strebten, brachte die Menschen unter ihr Joch und gab 29 Vgl. A. Yarbrough, Christianization in the Fourth Country. The Example of Roman Women, in: Church History 45 (1976) 149-165; E. A. Clark, Jerome, Chrysostom and Friends, New York 1979 (Studies in Women and Religion 2) 35-106; dies., Ascetic Renunciation and Feminine Advancement. A Paradox of Late Ancient Christianity, in: Anglican Theological Review 63 (1981) 240-257. 30 Vgl. Crouch, Colossian Haustafel, 126-129.
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den Mächtigeren Gewalt über die SchwächerenY Anstelle von SklavInnen bedienen junge, freigeborene Männer bei Tisch, wobei die Männer auf der rechten Seite und die Frauen auf der linken zu Tisch liegen. Die Ausgewählten sind den andern eifrig und freudig zu Diensten, wie eheliche Söhne ihren Vätern und Müttern; denn sie betrachten die älteren Mitglieder der Vereinigung als ihre gemeinsamen Eltern, da recht gesinnten Menschen nichts näher steht als die sittliche VortrefflichkeitY In dieser asketischen Gemeinschaft von Weisen scheinen Frauen in gleicher Weise wie Männer teilgenommen zu haben, »von demselben Eifer und demselben Streben beseelt«, obwohl das Heiligtum um der Askese und um der »der weiblichen Natur angemessenen Zurückhaltung« willen durch eine drei bis vier Ellen hohe Mauer geteilt war. 33 Diese Frauen haben »ihre Reinheit nicht unter Zwang bewahrt, wie einige von den Priesterinnen bei den GriechInnen, als vielmehr durch freien Entschluß, aus eifrigem Streben und Sehnen nach Weisheit«, mit der zusammen sie zu leben begehrten. Die meisten dieser Frauen sind »alte Jungfrauen«, die ihr Leben dem Schriftstudium, dem Gebet, dem Komponieren von Hymnen, kurz, »den Wahrheiten der Weisheit« gewidmet haben. Es ist nicht bekannt, ob sie auch aktiv an der wöchentlichen Diskussion von Texten der Schrift teilnahmen, ob ihre »Seniorin« auch vor der versammelten Gemeinschaft die Heilige Schrift auslegen durfte oder auch beim Singen der selbstkomponierten Hymnen an die Reihe kam. Doch es wird ausdrücklich erklärt, daß sie sich zur »heiligen Nachtfeier« in zwei Chöre teilen und für jeden Chor ein/e LeiterIn gewählt wird, »der/die unter ihnen der/die geachtetste und musikalischste ist.«J4 N achdem die beiden Chöre ihre eigenen Lieder gesungen haben, vermischen sie sich. Als sie das gesehen und erlebt hatten, ein Ereignis, welches Worte, Gedanken und Hoffnungen überstieg, bildeten Männer und Frauen voll Begeisterung einen einzigen Chor und sangen die Dankeshymnen auf Gott, ihren Retter, die Männer geleitet von dem Propheten Moses, die Frauen von der Prophetin Miriam. 35 3 I Philo, De vita contemplativa, 70. Zitiert nach: Über das betrachtende Leben, übersetzt von Karl Bonmann, in: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. L. Cohn, J. Heinemann u. a., Berlin I964, 44-70-70. 32 A.a.O., 72 .. 33 Vgl. a.a.O., 32f. 34 A.a.O.,83· 35 A.a.O.,87·
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Obwohl die frühchristlichen Hauskirchen keine asketisch-monastischen Gemeinschaften waren, die sich an einen isolierten Ort zurückzogen, sondern in den städtischen Zentren der griechisch-römischen Welt lebten, hatten sie doch teil an den ekstatischen Erfahrungen von GeistWeisheit und sahen sich als neue Familie Gottes. Ihre Gottesdienstversammlungen waren denen der TherapeutInnen insofern ähnlich, als sie die Schrift auslegten, neue Hymnen und Psalmen sangen, Prophezeiung ~nd Ekstase in ihrer Mitte erlebten und mit einem gemeinsamen Mahl, an dem alle Mitglieder der Gemeinde teilnahmen, schlossen. Schließlich liefert uns Philos Beschreibung der TherapeutInnen ein Beispiel dafür, daß jüdische Frauen voll am Thorastudium und am gemeinschaftlichen Gottesdienst der Gemeinde teilnahmen. Aber der asketische Charakter dieser jüdischen Gemeinschaft scheint eine institutionalisierte Trennung zwischen männlichen und weiblichen Mitgliedern der Gemeinschaft hervorgebracht zu haben, wie sie aus den Traditionen der frühchristlichen Bewegung nicht ersichtlich ist, aber dann in der christlichen Literatur gegen Ende des ersten Jahrhunderts auftaucht. Ferner bot die christliche Gemeinde, da sie sich nicht - wie der epikuräische Garten und die jüdischen TherapeutInnen - aus der Gesellschaft zurückzog, denen, die mit ihr in Kontakt kamen, die Erfahrung einer alternativen Gemeinschaft inmitten der griechisch-römischen Stadt. Als alternative Vereinigung, die den neu initiierten Frauen und SklavInnen gleichen Status und gleiche Rollen zugestand, war die christliche Missionsbewegung eine Konfliktbewegung, die zu den Institutionen »Sklaverei« und »patriarchale Familie« in Spannung stand. Solche Konflikte konnten nicht nur innerhalb der Gemeinde entstehen, sondern mehr noch gegenüber der Gesamtgesellschaft, da die christliche Gemeinde Frauen und SklavInnen als Mitglieder aufnahm, die weiterhin in heidnischen Ehen und Haushalten lebten. Diese Spannung zwischen der alternativen christlichen Gemeinde und der Gesamtgesellschaft mußte Konflikte verursachen, die eine Lösung - oft unterschiedlicher Art - erforderlich machten. Die paulinischen Ermahnungen und die Haustafeltradition im Neuen Testament zeugen von solchen Spannungen. Unbewußt drücken diese von Männern formulierten Gebote, die die Unterordnung von SklavInnen, Frauen und Kindern verlangen, möglicherweise auch die Interessen der »Klasse der Besitzenden« und »Patrone«3 6 aus, wie Judge vermutet- ebenso wie sie die Interessen von Ehemännern und Sklavinnenherren wiedergeben, von Familienoberhäup36 E. A.Judge, The Social Pattern of the Christian Groups in the First Century, London 1960, 60 (deutsch: Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft, Wuppertal 1964).
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tern, die glaubten, daß ihre Privilegien untergraben würden. Doch es ist schwierig für uns zu bestimmen, ob solche Motivationen bei der Modifizierung des christlichen Tauf-Selbstverständnisses eine Rolle spielten oder nicht. D. h. es ist schwierig zu entscheiden, welche Ermahnungen zur Unterordnung einer genuinen Sorge um die konfliktträchtige Situation der christlichen Gemeinde zuzuschreiben sind und welche Ermahnungen aus einer in theologischer Begrifflichkeit gekleideten Verteidigung patriarchaler Herrschaftsinteressen erwachsen sind. Die theologischen Gegenargumente von SklavInnen und Frauen haben nicht geschichtlich überlebt. Die Annahme eines solchen Ressentiments ist historisch in dem Maß plausibel, wie die Taufformel in Gal3,28 der generellen Annahme männlich-religiöser Privilegien bei GriechInnen, RömerInnen, PerserInnen und auch Jüdinnen im ersten Jahrhundert n. u. Z. zuwiderläuftY Es war ein rhetorischer Gemeinplatz, daß der hellenistische Mann den Göttern dankbar war, weil er das Glück hatte, als Mensch und nicht als wildes Tier, als Grieche und nicht als Barbarln, als Freier und nicht als SklavIn, als Mann und nicht als Frau geboren zu sein. Dieses kulturelle Muster scheint im ersten oder zweiten Jahrhundert n. u. Z. vom Judentum übernommen worden zu sein und seinen Weg in die Liturgie der Synagoge gefunden zu haben. 38 Ein jüdischer Mann dankte Gott dreimal am Tag, daß er ihn nicht als HeidIn, als SklavIn oder als Frau geschaffen hat. Dies ist kein frauenfeindliches Gebet, sondern ein Ausdruck der Dankbarkeit für religiöse Privilegien von Männern, wie der Kommentar von Rabbi Jehuda (im zweiten Jahrhundert n. u. Z.) erläutert. Rabbi Juda sagt: drei Lobsprüche schuldet man jeden Tag: gepriesen sei, der mich nicht machte zumIzur HeidIn, nicht machte zum Weib, nicht machte zurIzum Bildungslosen! Gepriesen sei, der mich nicht machte zurIzum HeidIn! Alle HeidInnen sind nichts vor ihm. Gepriesen sei, der mich nicht machte zum Weib! nicht verpflichtet auf das Gebot ist das Weib! Gepriesen sei, der mir Bildung gab! Der Ungebildete fürchtet die Sünde nicht. 39 37 Nachweise bei M eeks, Image of the Androgyne, 167 Anm. 7 und 8.
38 Vgl. H. Fischel, Story and History. Observations on Greco-Roman Rhetoric and Pharisaism, in: D. Sinor (Hg.), American Oriental Society Middle West Branch SemiCentennial Volume, Bloomington 1969, 74ff. 39 T. Berakot: VII, 18, vgl. Der Tosephtatraktat Berakot, hg. v. Oscar Holtzmann, Gießen 1912 (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 23),95.
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Obwohl es schwer zu sagen ist, ob dieses Gebet bereits den JüdInnen bekannt war, die im Jahre 40 des I. Jahrhunderts zum Christentum konvertierten, so war jedenfalls das darin zum Ausdruck kommende Bewußtsein der männlich-religiösen Privilegien nicht nur unter Juden, sondern genauso unter den Griechen und Römern weit verbreitet. Bekehrung und Taufe in Christus brachten daher für Männer einen viel radikaleren Bruch mit ihrem früheren sozialen und religiösen Selbstverständnis - besonders für reiche SklavInnenhalter - mit sich als für Frauen und SklavInnen. Während das Taufbekenntnis von Ga13,28 für Frauen und SklavInnen eine neue religiöse Vision eröffnete, verneinte es den Männern in der christlichen Gemeinde alle auf Geschlechterrollen basierenden religiösen Vorrechte. Wie geborene Juden die privilegierte Vorstellung, sie allein seien das auserwählte Volk Gottes, aufgeben mußten, so mußten SklavInnenherren auf die Macht über ihre SklavInnen und Ehemänner auf die Macht über ihre Frauen und Kinder verzichten. Da diese soziopolitisehen Privilegien zugleich religiöse Privilegien waren, hieß Bekehrung zur christlichen Bewegung für Männer auch Verzicht auf ihre religiösen Vorrechte. Oft wird behauptet, für die winzige christliche Gemeinde sei es unmöglich gewesen, die Institution der Sklaverei und andere soziale Hierarchien abzuschaffen. Das mag stimmen oder auch nicht. Was dabei jedoch übersehen wird, ist, daß der Verzicht auf religiöse Vorrechte für Männer in der christlichen Gemeinde möglich war und daß ein solcher Verzicht ebenso die Abschaffung ihrer sozialen Privilegien beinhaltete. Für ChristInnen galten die gesetzlich-gesellschaftlichen und kulturellen Privilegien für Männer nicht mehr. Insofern dieses egalitäre christliche Selbstverständnis alle Privilegien von Religion, Klasse und Kaste für Männer beseitigt, erlaubte es nicht nur Heiden und Sklaven, sondern auch Frauen, Leitungsfunktionen in der Missionsbewegung auszuüben. Die vorpaulinische Taufformel spiegelt daher nicht diejenige Vorstellung von anthropologischem Einswerden und androzentrische Perspektive wider, die das Gleichheitsverständnis bestimmt hat, das sich in späteren gnostischen und patristischen Schriften findet. 40 Nach zahlreichen gnostischen und patristischen Texten heißt Jüngerin werden für eine Frau: »männlich«, »wie ein Mann« werden und auf ihre Gebärmachtverzichten, weil das männliche Prinzip für den göttlichen Bereich des Himmels und der Engel steht, während das weibliche Prinzip menschliche Dieses Gebet drückt patriarchale kulturell-religiöse Anmaßung aus und sollte nicht zur Kritik jüdischer patriarchaler Einstellungen ausgesondert werden. 40 Vgl. bes. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, Göttingen 1956 (FRLANT 66), 227 Anm. 1.
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Schwäche oder das Übel repräsentiertY Während gnostische und patristische Autoren die Gleichheit von christlichen Frauen und Männern nur als »Männlichkeit« oder als Aufgeben der eigenen sexuellen Natur ausdrücken konnten, preist Gal 3,28 nicht die Männlichkeit, sondern das Einssein des Leibes Christi, der Kirche, wo alle sozialen, kulturellen, religiösen, nationalen und biologischen Trennungen und Unterschiede der Geschlechter überwunden und alle Herrschaftsstrukturen zurückgewiesen sind. Nicht der Liebespatriarchalismus der nachpaulinischen Schule, sondern dieses von der vorpaulinischen und paulinischen christlichen Missionsbewegung gepredigte egalitäre Ethos des »Einsseins in Christus« war für Paulus Anlaß, seine Anweisungen für das Verhalten von Prophetinnen in der korinthischen Gemeinde zu formulieren.
Paulinische Modifikation von Ga13,28 In 1Kor 12,13 42 und 1Kor 7,17-24 bezieht sich Paulus explizit auf Gal 3,28. 43 Trotzdem ist es schwierig, die Position des Paulus gegenüber Frauen und SklavInnen in der Gemeinde mit Sicherheit zu ermitteln. Obwohl er in 1Kor 12,13 im Zusammenhang mit Taufe und Empfang »des« Geistes ausdrücklich Gal 3,28 zitiert, erwähnt er das dritte Begriffspaar der Taufformel- »männlich und weiblich« - nicht. Außerdem ist die Bedeutung seiner Anweisung an SklavInnen in 7,21 sehr umstritten, und seine Argumentation in II,2-16 bezüglich des Verhaltens von Prophetinnen in der gottesdienstlichen Versammlung ist sehr gewunden und heute nicht mehr eindeutig verstehbar. Schließlich besteht keine Klarheit über die Theologie und Praxis der KorintherInnen in den aufgeworfenen Fragen. Wenn die Annahme richtig ist, daß das dritte Paar der Taufformel- »männlich und weiblich« - sich auf die Ehe bezieht und diese als nicht mehr konstitutiv für die Gemeinde der ChristInnen erklärt, dann können Fragen wie: Sollen verheiratete ChristInnen weiter Geschlechtsverkehr praktizieren oder sexuell enthaltsam leben? Sollen Unverheiratete heiraten? Was ist zu tun, wenn der/die Ehepartnerin ein/e Ungläu4I Vgl. meinen Aufsatz: E. Schüssler Fiorenza, Word, Spirit, and Power. Women in Early Christianity, in: R. Ruether/E. McLaughlin (Hg.), Women of Spirit. Female Leadership and theJewish Christian Traditions, New York 1979, 44-57. 42 vgl. M. Bouttier, Complexio Oppositorum. Sur les formules de I Cor xii. 13; Ga! iii.26-28; Col iii.Io,II, in: New Testament Studies 23 (1976) 1-19. 43 S. S. Bartchy, First Century Slavery and I Corinthians, Missoula, Mout. 1973 (SBL Diss. 11), 162-165, und D. Lührmann, Wo man nicht mehr Sklave oder Freier ist. Überlegungen zur Struktur frühchristlicher Gemeinden, in: Wort und Dienst 13 (1975) 53-83, haben dies erkannt.
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bige/r - JüdIn oder HeidIn - ist? Was ist mit Jungfrauen und Witwen? als direkte praktische Entfaltung von Gal 3,28c betrachtet werden, auch wenn das dritte Begriffspaar aus der Taufformel nie direkt erwähnt wird. Ferner müssen wir beachten, daß die korinthische Gemeinde sich vermutlich aus einer hohen Zahl aktiver Christinnen zusammensetzte, die in der Theologie und Praxis der Gemeinde durchaus eine Stimme hatten. Obwohl über die Leitungsfunktion von Frauen in der frühen Christenheit nur sehr spärliche Informationen erhalten geblieben sind, hatten, wie wir bereits bemerkt haben, die Gemeinden von Korinth und Umgebung mindestens drei hervorragende leitende Frauen in ihrer Mitte: Chloe, Priska und Phoebe. Alle drei hatten anscheinend zu Paulus gute Beziehungen, obwohl wir nicht mehr wissen können, wie sehr sie seine Theologie beeinflußt oder ob sie mit ihm theologisch übereingestimmt haben. Paulus wenigstens bringt ihnen als seinen Mitarbeiterinnen Respekt und Lob zum Ausdruck. Von Paulus wissen wir auch, daß in der Gemeinde Frauen Prophetinnen und Charismatikerinnen waren, aber von keiner Prophetin oder leitenden Frau in Korinth kennen wir den Namen. Auf jeden Fall können wir, obwohl Paulus ständig die Anrede »Brüder« gebraucht, als sicher annehmen, daß es unter den ChristInnen in Korinth sowohl gebildete und reiche als auch arme und versklavte Frauen gab. Daß Paulus sowohl die Verhältnisse zwischen Frauen und Männern und den Geschlechtsverkehr in der Ehe, als auch die Rolle von Frauen in der gottesdienstlichen Versammlung problematisiert, deutet darauf hin, daß in der Gemeinde Frauen sehr aktiv waren. Dazu kommt, daß die korinthischen ChristInnen - wie wir gesehen haben - ihren Glauben wie die TherapeutInnen im Sinne einer Sophia-Theologie verstanden. Sie glaubten, daß »>der< Geist ... die >Weisheit Gottes< ist und daß die Geist-Weisheit die Gabe der Weisheit auf jene ausgießt, die ihre Gaben pflegen und ihrer Berufung gemäß leben. «44 Die KorintherInnen und Paulus verstanden die Bedeutung Jesu Christi im Sinne der Weisheits-Theologie, wie die vorpaulinischen christologischen Hymnen andeuten. Da in dieser Theologie Sophia als semihypostatische göttliche Frauengestalt begriffen wurde, waren Frauen wahrscheinlich besonders geneigt, ihre Anhängerinnen zu werden. Im Gottesdienst der Gemeinde war die göttliche Geist-Sophia anwesend. Alle erhielten Geistesgaben und Geisteskraft von ihr. Frauen wie Männer waren geisterfüllt und konnten daher unter dem Einfluß der göttlichen Sophia öffentlich vor der ganzen versammelten Gemeinde beten und prophezeien. Sie waren die wiedererneuerte Schöpfung in Chri44 B. A. Pearson, The Pneumatikos-Psychikos Terminology in soula, Mont. I973 (SBL Diss. 12),37.
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stus und konnten in der Vollmacht »des« Geistes als »Kinder Gottes« den Namen Gottes anrufen. Paulus teilt diese Theologie und dieses christliche Selbstverständnis. Er weist es in keiner Weise zurück, versucht es vielmehr im Blick auf die konkrete Situation in Korinth herauszuarbeiten. Dabei interpretiert und übernimmt er das Taufbekenntnis des Einsseins und der Gleichheit in Christus von GaI3,28. Paulus spricht in IKor 7 die Probleme Ehe, Sklaverei, Scheidung und Zölibat an45 , diskutiert in den Kapiteln II und I4 »Sitte« und »Anstand« im Hinblick auf die gottesdienstliche Versammlung und entfaltet in der Diskussion mit den anderen christlichen »Parteien« in Korinth sein Verständnis des Missionars (der Missionarin?) als »Vater« derer, der er (sie?) getauft hat (4,14-17). Schließlich führt er in 2Kor 11,2-3 das Bild der Eva als Gegenbild zum Bild von der Kirche als Braut und Christus als Ehemann ein. Diese in einer konkreten pastoralen Situation vorgenommenen Modifikationen von Ga13,28 wurden alle von der paulinischen »Schule« in eine patriarchale Richtung hin weiterentwickelt. Ehe und Zölibat (IKor 7) Die Einleitung zu IKor 7 erklärt eindeutig, daß Paulus hier auf Anfragen antwortet, die die ChristInnen ihm geschrieben haben. Obwohl alle aufgeworfenen Fragen in irgend einer Weise auf Ehe und Geschlechterbeziehungen Bezug zu nehmen scheinen, erwähnt Paulus in IKor 7,17-24 auch die Frage »Beschneidung - Unbeschnittensein« und »SklavIn - Freie/r«. Da er in diesem Teil von der Berufung der ChristInnen durch Gott spricht, scheint er eindeutig die Taufformel im Sinn zu haben, wenn er die allgemeine theologische Begründung seiner Anweisung in Kapitel 7 herausarbeitet. Besonders sein Verweis auf »Beschneidung - Unbeschnittensein« weist darauf hin, daß er die drei Gegenüberstellungen »JüdInHeidIn, SklavIn - Freie/r, männlich-weiblich« im Sinn hatte, da sein Verweis auf die Beschneidung nicht ganz zum Tenor des gesamten Kapitels paßt: Nicht die soziale Situation, in der sich ChristInnen vorfinden, sondern das Leben nach dem Willen Gottes bestimmt das Christlnsein. 46 Die Exegese versteht den Rat des Paulus an Juden- oder HeidenchristInnen 45 Es ist fraglich, ob rThess 4,4 von einer Ehebeziehung spricht (»sich eine Frau nehmen«) oder die Beherrschung des eigenen Körpers meint. (skeuos bezeichnet in jüdischen und griechischen Schriften den menschlichen Körper). Beide Lesarten sind möglich. Vgl. z. B. W. Klassen, Foundations for Pauline Sexual Ethics as seen in IThess 4: r-8, in: SBL Seminar Papers r4 (r978) r59-r81.r66. 46 H. Conzelmanns Interpretation (Erster Korintherbrief, Göttingen "r969) nimmt eine andere Gewichtung vor: »Und: die Gnade erreicht die Welt und hält mich in mei-
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falsch, wenn sie meint, daß Paulus hier sagen wolle, daß die ChristInnen in dem sozialen Stand und der religiösen Rolle bleiben sollen, die sie inne hatten, als sie den Ruf zur Bekehrung hörten. Paulus sagt den ehemaligen JüdInnen und den ehemaligen HeidInnen eindeutig nicht, daß sie in ihrem jüdischen oder heidnischen Stand verbleiben sollen. Vielmehr betont er, daß das religiös-biologische Zeichen der Initiation in die jüdische Religion für ChristInnen keine Bedeutung mehr hat. Ebenso kann der Rat an die SklavInnen nicht bedeuten, daß SklavInnen in dem Stand bleiben sollen, in dem sie waren, als sie berufen wurden. Die Anweisung in 7,21 ist schwer zu verstehen, da nicht deutlich wird, ob die SklavInnen Freiheit oder Sklaverei zu ihrem Vorteil "nutzen« sollen, wenn sie die Möglichkeit haben, freigelassen zu werdenY Obwohl Exegese und Übersetzung meist davon ausgeht, daß SklavInnen im Stand der Sklaverei bleiben sollten, wenn sie ChristInnen wurden, spricht der Kontext meiner Meinung nach gegen eine solche Interpretation. Das Gebot in Vers 23 - »ihr seid teuer erkauft, werdet keine MenschensklavInnen« - verbietet eine solche Deutung. Der Rat, den Paulus christlichen SklavInnen gibt, scheint also am zutreffendsten wie folgt zu verstehen zu sein: »Wenn ihr noch unter dem Joch der Sklaverei leben müßt, ohne die Möglichkeit, freigelassen zu werden, obwohl ihr doch zur Freiheit berufen seid, dann beunruhigt euch deswegen nicht. Wenn ihr jedoch die Möglichkeit habt, freigelassen zu werden, dann nutzt diese Möglichkeit mit allen Mitteln und lebt eurer Berufung zur Freiheit gemäß. Diejenigen unter euch, die SklavInnen waren, als sie berufen wurden, ChristInnen zu werden, sind nun freigelassene Frauen und Männer ,des< Kyrios, ebenso wie diejenigen, die Freigeborene waren, nun in Jesus Christus einen ,Herrn< haben.« Demnach argumentiert Paulus hier, daß SklavInnen wie Freie in der christlichen Gemeinde gleich sind, weil sie alle ein und »den«selben Kyrios haben. Daher ist es möglich, als SklavIn ChristIn zu sein, auch wenn keine Möglichkeit besteht, freizukommen. Natürlich entspricht es der Berufung zur Freiheit mehr, als Freie/r zu leben. Durch eine Veränderung der sozialen Stellung wird, wenn sie möglich ist, viel gewonnen. In welchem sozialen Stand ChristInnen auch leben müssen, ist es für sie aber entscheidend, daß sie an dem Ruf zur Freiheit weiterhin festhalten, den sie in der Taufe gehört und auf den sie sich durch die Taufe eingelassen haben. 48 So ist es wahrscheinlich, daß Paulus das ner Weltlichkeit fest. K~ine Veränderung meines Status, die ich herbeiführe, kann mein Heil befördern.« (151)' 47 Eine Synopse der Auslegungen von 1Kor 7,21 findet sich bei Bartchy, First Century Slavery, 6f. 48 Eine ähnliche Interpretation auch bei: P. Trummer, Die Chance der Freiheit. Zur Interpretation des mallon chresai in 1Kor 7,21, in: Biblica 56 (1975) 344-368.
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Taufbekenntnis von Gal3,28 im Sinn hatte, als er in Kapitel 7 Fragen der Beziehungen zwischen den Geschlechtern ansprach, auch wenn er nur beiläufig auf die ersten beiden Gegensatzpaare der Taufformel verweist. 49 Die theologische Anweisung des Paulus hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern ist seiner Anweisung an die SklavInnen im wesentlichen ähnlich. Es ist durchaus möglich, als Verheiratete/r ein christliches Leben zu führen, wenn dies der Stand war, in dem eine/r gelebt hat, als sie/er Christln wurde. Paulus begründete seine Meinung jedoch nicht mit dem Hinweis auf die bestehende soziale Ordnung, sondern mit einem Wort »des« Kyrios, das die Ehescheidung verbietet. Das eschatologische Ideal des Jesuswortes über die Ehe wird hier in ein Scheidungsverbot J esu umgedreht. Doch trotz dieses ausdrücklichen Verbots »des« Kyrios haben Ehefrauen - die in 7,10f zuerst und ausführlicher angesprochen werden - immer noch die Möglichkeit, sich von den Fesseln der patriarchalen Ehe zu befreien, um ein ehefreies Leben zu führen. Haben sie dies getan, müssen sie jedoch in diesem ehefreien Stand bleiben. Sie dürfen zu ihrem Ehemann zurückkehren, aber sie dürfen keinen anderen heiraten. Etwas anders ist das Problem der Mischehen zwischen ChristInnen und »Ungläubigen«, die HeidInnen oder JüdInnen sein konnten, gelagert. Im vorausgegangenen Kapitel (6,12-20) hat Paulus die rhetorische Frage gestellt: »Wißt ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? Soll ich also die Glieder Christi nehmen und zu Gliedern einer Prostituierten machen?« Ähnlich konnten ChristInnen, die mit einer/einem Ungläubigen verheiratet geblieben waren, gefragt haben. Kann ich als »Glied Christi« mit einer/einem sexuell verkehren, die/der nicht zum Leib Christi gehört? Passe ich mich damit ihrer/seiner heidnischen Existenz an und verliere meinen Stand in Christus? Dazu kommt, daß die jüdische und christliche Missionstheologie betonte, daß Bekehrte in der Taufe zu einer wiedererneuerten Schöpfung wurden. Als neugeborene Kinder wurden sie Mitglieder der neuen Familie Gottes. Nach jüdischer Theologie und Praxis löste Initiation in das Judentum frühere Verwandtschafts- und Ehebindungen auf. 50 Daher dürften ProselytInnen oder JüdInnen, die 49 Zur Bibliographie vgl. z. B. D. Cartlidge, lCor 7 as a Foundation for a Christian Sex-Ethic, in: Journal of Religion 55 (1975) 220-234; W. Schrage, Zur FrontsteIlung der paulinischen Ehebewertung in lKor 7,1-7, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 67 (1976) 214-234, und die Kommentare. 50 Vgl. G. Schneider, Die Idee der Neuschöpfung beim Apostel Paulus und ihr religionsgeschichtlicher Hintergrund, in: Trierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 26of. Zu Joseph und Asenath vgl. E. w: Smith, »Joseph and Asenath« and Early Christian Literature, Ann Arbor 1975> 1-44.
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ChristInnen geworden sind, zu Recht die Frage gestellt haben: Löst auch die christliche Taufe alle früheren Eheverbindungen auf? Wenn ja: Besteht meine Ehe weiter, wenn ich Christln geworden bin, aber mein/e EhepartnerIn nicht? Auf dieses Problem antwortet Paulus, daß infolge der Missionssituation (Gott hat uns zum Frieden berufen!) die Entscheidung, ob die Ehefortgeführt werden soll oder nicht, den Ungläubigen und nicht den christlichen EhepartnerInnen überlassen wird. Wenn ungläubige EhepartnerInnen sich scheiden lassen wollen, dann sollen die christlichen PartnerInnen diese Entscheidung respektieren, weil sie keine Garantie dafür haben, daß sie die ungläubigen PartnerInnen »retten« können. Wenn Ungläubige jedoch verheiratet bleiben wollen, dann sollen die ChristInnen auch diese Entscheidung respektieren. Durch den sexuellen »Verkehr« stellen christliche PartnerInnen die Ehe wieder her. Daher sind die Kinder aus dieser Ehe legitime Kinder und heilig. David Daube hat darauf hingewiesen, daß »heiligen« und »weihen« in jüdischer Sprache »jemanden heiraten« heißt. Aber »im Judentum ist es unveränderlich die Frau, die als Ehepartnerin durch den Mann geheiligt wird .... Seine (des Paulus) Erweiterung des Begriffs der Heiligung ist völlig untraditionell.«P Paulus gesteht hier also christlichen Ehefrauen die gleiche Heiligungsvollmacht zu, die traditionell den Ehemännern zukam. Daß Paulus darauf bestand, daß heidnische PartnerInnen die letzte Entscheidung über die Fortführung der Ehe haben, muß christlichen Frauen größere Probleme bereitet haben als christlichen Männern. Außerdem scheint sich die frühe Kirche nicht daran gehalten zu haben. Die apokryphen Apostellnnenakten sind voll von Geschichten über Frauen, die zum Christentum bekehrt wurden und ihre Ehemänner verließen. 52 Außerdem scheinen sich mehr Frauen als Männer der Oberschicht zum Christentum bekehrt zu haben. Dies ist ein ständiger Stein des Anstoßes für heidnische Schriftsteller, die gegen die ChristInnen schreiben. Der Apologet Justin, der hundert Jahre nach Paulus schreibt, weiß noch von diesem Problem. Er erzählt von einer römischen verheirateten Frau, die sich zum christlichen Glauben bekehrte und sich gegen den Vorschlag ihrer RatgeberInnen von ihrem Mann scheiden ließ, da sie seinen ausschweifenden Lebenswandel nicht mehr mitmachen konnte. Daraufhin klagte ihr Mann sie vor Gericht als Christin an. Als sie den Kaiser bat, den Prozeß solange aufzuschieben, bis sie ihren Haushalt und ihre Geschäfte
sr D. Daube, Pauline Contributions to a Pluralistic Culture. Re-Creation and Beyond, in: D. G. Miller/D. Y. Hadidian (Hg.), Jesus and Man's Hope, Pittsburgh 1970, Bd. 2, 223-245.24°. 52 V gl. R. Kraemer, Ecstatics and Ascetics. Studies in the Functions of Religious Activitiesfor Wornen ... , Ann Arbor 1976, 134- 167.
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geordnet hätte, denunzierte ihr Mann auch ihren Lehrer Ptolemäus als Christen. Dieser Fall zeigt, wie schwer es für christliche Frauen gewesen sein muß, sich am heidnischen Lebensstil und den gesellschaftlichen Verpflichtungen ihres Haushalts weiterhin zu beteiligen. 53 Auf der anderen Seite riskierten arme Frauen, die Christinnen wurden, daß sich ihre Männer scheiden ließen und sie als Konsequenz ihre ökonomische Lebensgrundlage verloren. Paulus weist sie an, eine solche Entscheidung des ungläubigen Ehemannes nicht zu verhindern. Dadurch daß Paulus aus missionarischem Interesse die Entscheidung dem/ der ungläubigen Partner In überläßt, gibt er das Recht von ChristInnen, ihren Lebensstand selbst zu bestimmen, auf. Dies ist umso erstaunlicher, als Paulus - insgesamt gesehen - das ehefreie christliche Leben dem Ehestand vorzieht. Trotz seiner Bevorzugung des Zölibats hält Paulus daran fest, daß Ehe und Ehefreiheit Berufungen und Charismen Gottes sind. Es ist klar, daß ihm am liebsten wäre, wenn jede/r unverheiratet lebte wie er, aber er betont nachdrücklich, daß dies seine persönliche Meinung ist. Ehelicher Verkehr ist jedoch gestattet, wenn eine/r das von der Ehefreiheit geforderte asexuelle Leben nicht führen kann. Es ist vorteilhaft oder »gut« (nicht im moralischen Sinn), »keine Frau zu berühren« (aus seiner Männerperspektive formuliert), d. h. keinen sexuellen Verkehr zu haben, wenn eine/r das »Charisma« dazu hat. Diejenigen aber, die in Versuchung kommen, sollen mit ihren Ehefrauen oder Ehemännern sexuell verkehren. Beide PartnerInnen haben gegenseitig die Pflicht zu und das Recht auf solchen Verkehr - mit Ausnahme der zölibatären Zeiten, die dem Gottesdienst vorbehalten sind. Wie andere orientalische Kulte auch, so rät Paulus zu zeitweiliger ritueller Keuschheit. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Paulus das Recht auf sexuellen Verkehr nicht auf den Zweck der Fortpflanzung beschränkt. Erst später wird Enthaltsamkeit als Geburtenkontrolle in christlich-apologetischen Schriften eine Rolle spielen. Die Exegese hat darauf hingewiesen, wie sorgfältig Paulus jede Anweisung in 7, I - 5 wiederholt, um sicherzustellen, daß Ehemann und Ehefrau die gleichen sexuellen Pflichten und die gleichen ehelichen Rechte haben.5 4 Wir sehen also, daß Paulus mit großer Umsicht ein doppeltes Gebot zu erteilen versucht, das jeden Fall aktiver sexueller Interaktion zwischen Ehemann und Ehefrau abdecken soll. Es geht jedoch zu weit, wenn daraus geschlossen wird, daß Frauen und Männer in der Ehe Rollen53 Vgl.Justin, Apologia, II. 2. Vgl. H. Gü!zow, Soziale Gegebenheiten der altkirchlichen Mission, in: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd. I: Alte Kirche, München 1974,203. 54 Vgl. bes. R. Scroggs, Paul and the Eschatological Woman, in: Journal ofthe American Academy ofReligion 40 (1972) 283-3°3.
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gleichheit, PartnerInnenschaft in der Beziehung 55 und gleiche Pflichten, Freiheit und Verantwortung gehabt hätten. 56 Überdies war das persönliche Ideal des Paulus - auch wenn er sich gezwungen fühlte, die Ehe anzuerkennen - das asexuelle Leben und der Stand der Ehefreiheit. 57 Dieses Ideal kommt durchgängig im ganzen Kapitel zum Tragen, besonders in seinem Rat an die »Unverheirateten«, d. h. an die Verwitweten und die Geschiedenen, wie auch an die Verlobten (dies ist vermutlich die beste Erklärung des dornenreichen Problems von 7,32- 35)' Wenn die sexuelle Begierde sie überwältigt, sollten sie heiraten. Aber wenn es auch nur irgend möglich ist, ist es besser, nicht zu heiraten und im Stand der Ehefreiheit zu bleiben. Wenn Unverheiratete und Witwen keine Selbstkontrolle ausüben können, sollen sie "im Kyrios« heiraten. Sie sind aber nach Ansicht des Paulus glücklicher, wenn sie unverheiratet bleiben. Für diese Anweisung beruft er sich auf eigene prophetisch-charismatische Inspiration. Wenn es schon bemerkenswert ist, daß Paulus auf gleichen und wechselseitigen sexuellen Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau besteht, dann ist es umso bemerkenswerter, daß er Christen, aber besonders Christinnen rät, ehefrei zu bleiben. Diese Tatsache wird oft übersehen, weil in der christlichen Tradition die Option des Paulus für den Zölibat die "höhere Berufung« wurde. Doch im ersten Jahrhundert waren ständige sexuelle Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit ganz außergewöhnlich. Die Entdeckungen von Qumran und Philos Beschreibung der Gemeinde der TherapeutInnen sind zwar Anhaltspunkte für einen derartigen asketischen Lebensstil im Judentum, aber dieser wurde in Isolation von der herrschenden städtischen Kultur gelebt. Zeitlich begrenzte Keuschheit kannten die meisten orientalischen Kulte; im Gottesdienst der Großen Mutter wurde Kastration praktiziert, und in Rom mußten die Vestalischen Jungfrauen die dreißig Jahre ihres Dienstes keusch leben; aber Jungfräulichkeit war nach römischem Recht ein Privileg und kein Anrecht. Das Leben der Vestalinnen war streng geregelt, aber in mancher Hinsicht waren sie die emanzipiertesten Frauen Roms. Wie in unserer Untersuchung über die unverheirateten Göttinnen bemerkt, sind die freiesten Frauen diejenigen, die nicht in einer Dauerbeziehung an Männer gebunden sind ... Ein weiterer Beweis für das Freisein von denjenigen Einschränkungen, denen gewöhnliche Frauen unterwor55 Vgl. Meeks, Image of the Androgyne, 200. 56 Vgl. Scroggs, Paul and the Eschatological Woman, 294. 57 Vgl. Cartlidge, leOr 7 as a Foundation, 232.
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fen sind, findet sich in den Privilegien, die die Vestalinnen genießen ... Diese Privilegien hatten solche Statusimplikationen, daß die »Rechte der Vestalinnen« oft auf weibliche Mitglieder der Kaiserfamilie übertragen wurden, die auf Münzen regelmäßig als Vestalinnen porträtiert wurden. 58 Das Privileg der Jungfräulichkeit war den »gewöhnlichen Frauen« nach dem römischen Recht nicht zugänglich. Um die traditionelle römische Familie zu stärken, hatte Augustus strenge Ehegesetze eingeführt und die Religion ganz offen benutzt, um seine Eheideale durchzusetzen. 59 Um die Geburtenraten zu steigern, gewährte er freigeborenen Frauen mit drei Kindern und freigelassenen Frauen mit vier Kindern die Emanzipation aus patriarchaler Vormundschaft. Er gewährte dieses Privileg jedoch auch seiner Frau, den VestalischenJungfrauen und anderen Frauen, die die vorgeschriebene Anzahl an Geburten nicht erfüllten. Niedrige Geburtenrate und Kinderzahl machten jedoch dem patriarchalen Establishment des Kaiserreichs große Sorge. Denen, die noch JunggesellInnen waren, erlegte der Kaiser Sanktionen und Steuern auf. Darüber hinaus wurde von Witwern und Geschiedenen beiden Geschlechts erwartet, daß sie nach Ablauf eines Monats wieder heirateten. Zuerst sollten Witwen nach Ablauf eines Jahres wieder heiraten, aber aufgrund von Protesten wurde dieser Zeitraum auf drei Jahre verlängert. Nur die, die älter als fünfzig Jahre waren, durften unverheiratet bleiben. Obwohl diese Gesetze vermutlich nicht im ganzen Kaiserreich strikt eingehalten wurden, zeigen sie das generelle kulturelle Ethos und die rechtliche Situation hinsichtlich des Standes der Ehefreiheit. Zu Ende des ersten Jahrhunderts verschärfte der Kaiser die Ehegesetze des Augustus, vor allem, um die führenden Familien des Reiches zu stärken. Es ist daher wichtig, daß der Rat des Paulus, frei von der Ehe zu bleiben, einen Frontalangriff auf das bestehende Gesetz und das allgemeine kulturelle Ethos darstellte, insbesondere da diese Anweisung Menschen erteilt wurde, die in den städtischen Zentren des römischen Imperiums lebten. Sie stand in Widerspruch und Gegensatz zu den herrschenden Werten der griechisch-römischen Gesellschaft. Darüber hinaus war seine Anweisung, daß Frauen verheiratet bleiben sollten, eine ernsthafte Verletzung der Vorrechte des Paterfamilias, da nach römischem Recht eine Frau unter der Vormundschaft ihres Vaters und ihrer Familie blieb, auch wenn sie verheiratet war. Seine Anweisung an die Witwe9; die nicht un58 S. B. Pomeroy, Goddesses, Whores, Wives, and Slaves, New York 1975, 213f. 59 Vgl. L. Naphtali, Roman Civilization, New York 1955, pff; P. E. Corbett, The Roman Law of Marriage, Oxford 1930, 106-146.120f.
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bedingt »alt« waren - da Mädchen in der Regel im Alter zwischen zwölf und fünfzehn heirateten -, ermöglichte es »gewöhnlichen Frauen«, unabhängig zu werden. Gleichzeitig erzeugte seine Anweisung jedoch für die christliche Gemeinde Konflikte in Hinblick auf ihre Interaktion mit der Gesellschaft. Mit seinem theologischen Argument, daß diejenigen, die ·heirateten, »gespalten« seien und sich nicht in gleicher Weise der Sache »des« Kyrios widmeten wie die Unverheirateten, verwies Paulus verheiratete Frauen jedoch in die Schranken der patriarchalen Familie. Er disqualifizierte Verheiratete theologisch als weniger engagierte MissionarInnen und weniger hingebungsvolle ChristInnen. Er erzeugte so eine Kluft zwischen der verheirateten Frau, die sich um Ehemann und Familie sorgt, und der unverheirateten Jungfrau, die rein und heilig ist und deshalb die pneumatischen Privilegien der Jungfräulichkeit erlangt. Ich kann mich nur wundern, wie Paulus derart theologisch argumentieren konnte, wo er doch Priska zur Freundin hatte und andere Missionspaare kannte, die lebendigeBeispiele dafür waren, daß seine Theologie falsch ist.
Frauen im Gottesdienst der Gemeinde (IKor 11-14) In seinem Abschnitt des I. Briefes an die Gemeinde von Korinth über den geisterfüllten Gottesdienst der Gemeinde (Kap. I I - 14) spricht Paulus zweimal über Frauen - falls 14,34- 36 kein späterer Einschub ist. Die Anordnungen zum Benehmen von Frauen sind für Paulus jedoch nicht nebensächlich, sondern sehr wichtig, wie ihr Ort in der Struktur des Briefes andeutet. Die Kapitel I I bis 14 sprechen in ihrer Gesamtheit vom geisterfüllten Gottesdienst der Gemeinde und sind in Form einer thematischen Interpolation komponiert, insofern dieser Abschnitt mit dem Problem des richtigen Verhaltens von Frauen in der Gottesdienstversammlung beginnt und endet. 60 Der unmittelbare Kontext der paulinischen Anordnungen zum Verhalten von Frauen im Gottesdienst der Gemeinde zeigt, daß Frauen genauso wie Männer an den Geistgaben der Geist-Sophia teilhaben und öffentlich unter dem Einfluß »des« göttlichen Geistes predigen und prophezeien. Paulus bestätigt ausdrücklich, daß die KorintherInnen, indem sie so handeln, seiner Lehre und seinem Beispiel folgen (11,2), und er disqualifiziert keineswegs das Selbstverständnis und die Praxis der korinthischen Pneumatikerlnnen. Der Kon60 Vgl. H. Wendtland, Die Briefe an die Korinther, Gättingen 1965 (NTD 7), 80. Else Kähler vertritt die These, daß 10,32- II,2 Einleitung und Überschrift für den folgenden Text darstellen (Die Frau in den Paulinischen Briefen, Zürich 1960, 43f).
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trast zwischen IKor 11,2 und 11,17 zeigt eindeutig, daß Paulus sich hier nicht auf irgendeinen speziellen Mißbrauch bezieht, sondern Regeln und Bräuche einführt, die auch in anderen christlichen Gemeinden beobachtet wurden (11,16; 14,33). Die abschließenden Verse 14,37-40 deuten darauf hin, wie ernst diese Fragen für Paulus sind und welch großen Widerstand er gegen seine Ansicht erwartet. Paulus appelliert an die ProphetInnen und PneumatikerInnen mit der Forderung, seine Argumente als Offenbarungswort "des« Kyrios selbst aufzunehmen (V 37).61 Er versichert den KorintherInnen, daß er nicht prophetische und ekstatische Rede verhindern möchte, sondern daß ihm daran liegt, daß alles »mit Anstand und Ordnung vor sich gehen« soll (V 40). So scheint es, daß es Paulus ist - und nicht die KorintherInnen -, der das pneumatische Verhalten der Gemeinde abschwächen oder verändern will. Die Spitze seines Arguments richtet sich auf Anstand und rechte Ordnung - Werte, die nicht spezifisch christlich sind. 62 Gleichzeitig befindet sich Paulus in einer schwierigen Position, da er in Korinth ursprünglich über das neue Leben in »dem« Geist und über die sich daraus ergebende christliche Freiheit gepredigt hatte. 6 ) Um die Position des Paulus ganz zu verstehen, müssen wir die Gebote und Anweisungen von 1Kor 11,2 - 16 und 14>33 - 36 genauer untersuchen. IKor II,2-I6: Wir können nicht mehr mit Sicherheit unterscheiden, welches Verhalten Paulus in 1Kor 11,2 - 16 kritisiert und welche Sitten er einführen möchte. 64 Die traditionelle Exegese vermutet, daß Paulus darauf besteht, die führenden Pneumatikerinnen sollten den Schleier nach jüdischer Sitte tragen. 65 Doch VI 5 sagt, daß Frauen ihr Haar statt einer 6r Conzelmann (Erster Korintherbrief, 256) argumentiert: »Doch paßt dieser Gedanke eher zur Interpolation als zu Paulus und wird durch sie suggeriert.« (290). 62 Zum Konzept der »guten Ordnung« vgl. G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Voraussetzungen im Judentum und ihre Struktur im r. Korintherbrief, Stuttgart r975 (BWANT r04), 278-284. 63 Vgl.f. C. Hurd, The Origin of r Corinthians, New York r965, 287;]. W. Drane, Tradition, Law, and Ethics in Pauline Theology, in: Novum Testamenturn r6 (r974) r67- r8 7· 64 Argumente für den nichtpaulinischen Charakter von rKor II,2-r6 bei: W. o. Walker, r Corinthians r r,2-r6 and Paul's View Regarding Women, in: Journal ofBiblical Literature 94 (r975) 94-IIO, und bei Lamar Cope, rCor rr,2-r6. One Step Further, in: Journal of Biblical Literature 97 (r978) 435-436. Zur Untersuchung und Widerlegung dieser Argumente vgl.f. Murphy-O'Connor, The Non-Pauline Character of r Corinthians r1,2-r6?, in: Journal of Biblical Literature 95 (r976) 6r5-62r; ders., Sex and Logic in r Corintlrians II,2- 16, in: Catholic Biblical Quarterly 42 (r980) 482-500;]. P. Meier, On the Veiling ofHermeneutics (rCor r r,2- r6) in: CatholicBiblical Quarterly 40 (1978) 212-226. 65 Vgl. S. Lösch, Christliche Frauen in Korinth, in: Theologische Quartalschrift r27 (r947) 2I6-261; A.Jaubert, Le voile des femmes (rCor xi. 2-r6), in: New Testament
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Kopfbedeckung tragen, und macht damit eine solche Interpretation unmöglich. Es ist daher eher anzunehmen, daß Paulus hier über die Art spricht, in der Frauen und Männer ihr Haar tragen sollen, wenn sie beten und prophezeien. 66 Anscheinend haben während der ekstatisch-pneumatischen Gottesdienstfeier einige der korinthischen Prophetinnen und Liturginnen ihr Haar gelöst und offen fallen gelassen, statt es in einer modischen Frisur zu tragen, die oft sehr kunstvoll gebildet und zusätzlich mit Juwelen, Bändern und Schleiern geschmückt war. 67 Aufgelöste Haare waren im ekstatischen Gottesdienst orientalischer Gottheiten ein gewohnter Anblick. In 14,23 verweist Paulus darauf, daß der korinthische pneumatische Gottesdienst auf Außenstehende den Eindruck von Schwärmerei macht. In orientalischen Kulten war solch ekstatische Raserei ein sehr erwünschter spiritueller Zustand und ein Zeichen wahrer Prophetie. Aufgelöste Haare und zurückgeworfene Köpfe waren typisch für die Menaden im Kult des Dionysos, der Kybele, der Pythia von Delphi, der Sibylle; und offenes Haar war für Frauen notwendig, um eine wirksame magische Beschwörung vornehmen zu können. 68 Als Zeichen des Widerstands gegen das Dekret ihres Gatten, des Königs, fordert Vergils Amata die anderen Frauen auf, ihre Haarbänder J!!1d -netze abzulegen. Fließendes und offenes Haar findet sich auch im Isis-Kult, der in Korinth ein Hauptzentrum hatte. Z. B. mußte eine Freundin des Dichters Tibullus zweimal täglich im Gottesdienst der Isis ihr Haar herunterlassen, um »die Lobpreisungen zu sprechen «.69 Archäologische Funde zeigen, daß Anhängerinnen der Isis gewöhnlich langes Haar trugen »mit einem Band um die Stirn und bis auf die Schulter fallenden Locken«, während die männlichen Anhänger ihr Haar rasiert hatten.?o Daher rührt die sarkastische Bemerkung des Paulus in V 5f, daß Frauen, die ihr Haar lösen, es ebensogut kurzgeschnitten oder auch geschoren tragen könnStudies 18 (1972) 419-43°; A. Fe~illet, La Dignite et le röle de la femme d'apres quelques textes paulines, in: New Testament Studies 21 (1975) 157-191; und die Aufsätze von Meeks, Scroggs undJewett. 66 Vgl. bes.j. B. Hurley, Did Paul Require Veils or the Silence ofWomen?, in: Westminster TheologicaIJournal3 5 (1972/73) 190-220; W.]. Martin, lCor II,2- 16, in: W. W. Gasque/R. P. Martin (Hg.), Apostolic History and the Gospel, Grand Rapids 1970, 231-234; A. Isaakson, Marriage and Ministry in the New Testament, Lund 1965 (ASNU 24),165-186; Murphy-O'Connor, Sex and Logic, 488ff. 67 Vgl. z. B.]. P. V. D. Balsdon, Women in Imperial Rome, in: History Today 10 (1960) 24-3I. 68 Vgl. R. und K. Kroeger, An Inquiry into Evidence ofMaendaism in the Corinthian Congregation, in: SBL Semiar Papers 14 (1978) Bd. 2, 331-346. 69 Tibullus I, 3. 29-32. Zu anderen Kulten vgl. Lösch, Christliche Frauen, 240ff. 70 Vgl. S. Kelly Heyob, The Cult ofIsis Among Women in the Greco-Roman World, Leiden 1975,60.
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ten. Für eine Frau ist es genauso schändlich, ihr Haar offen zu tragen wie es abzurasieren. Die korinthischen PneumatikerInnen haben diesen Stil wahrscheinlich deshalb übernommen, weil sie ihre Gleichheit in der Gemeinde und ihre Verehrung von Geist-Sophia analog zum Isis-Kult verstanden, da ja Isis dafür bekannt war, daß sie die Macht der Frauen der der Männer gleich gemacht hat,?' und ihre GenossInnenschaften - wie die christlichen Gemeinden - Frauen und SklavInnen zu gleichberechtigter Mitgliedschaft und aktiver Teilnahme aufnahmen?' Für die christlichen Frauen in Korinth könnte dann solch offenes, ungebundenes Haa{Anzeichen ihrer ekstatischen Begabung mit Geist-Sophia und ihrer prophetischen Vollmacht gewesen sein. Paulus dagegen ist daran interessiert, pneumatische Exzesse im Gottesdienst zu vermeiden. Für Paulus sind der Aufbau der Gemeinde und verständliche missionarische Verkündigung - aber nicht orgiastisches Verhalten - wahres Zeichen »des« Geistes. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum Paulus darauf besteht, daß Frauen ihr Haar hochgebunden tragen sollen. Dazu kommt, daß offenes Haar vermutlich eine noch schlimmere Bedeutung in judenchristlichem Kontext hatte. Nach jüdischen Quellen war offenes Haar, auch noch zur Zeit des Paulus, ein Zeichen der Unreinheit?3 Nm 5, I 8 (LXX) schreibt vor, daß die wegen Ehebruchs angeklagte Frau öffentlich dadurch gebrandmarkt werden soll, daß ihr Haar gelöst wird. Ebenso ist nach Lev 13,45 (LXX) offenes Haar ein Symbol der Unreinheit von Aussätzigen. Jüdische Frauen trugen kunstvoll geflochtenes Haar und steckten es hoch, so daß es eine Art Tiara auf ihrem Kopf bildete (vgl. Jdt 10,3; 16,8) - eine Wirkung, die noch durch Goldschmuck, Juwelen, Bänder und Seidenstreifen verstärkt wurde?4 Wenn wir diese Haarmode in Betracht ziehen, wird die exegetisch schwierige Aussage in V 10 verständlicher. Da die Engel im pneumatischen Gottesdienst der Gemeinde, die mit »Engelszungen«75 redet, anwesend sind, sollen Frauen nicht dadurch als kultisch unreine Personen am Gottesdienst teilnehmen, daß sie ihr Haar herunterlassen. Vielmehr sollen sie ihr Haar 71 Vgl. a.a.O., 52. 72 Vgl. a.a.O., 105f. Vgl. auch R. E. Witt, Isis-Hellas, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 12 (1966) 62; ders., Isis in the Greco-Roman W orld, Ithaca, N. Y. 1971;J. Z. Smith, Native Cults in the Hellenistic Period, in: History ofReligions I I (1971-72) 236-249. 73 Vgl. W. C. van Unnik, Les cheveux defaits des femmes baptisees, in: Vigiliae Christianae I (1947) 77-100. Murphy-O'Connor (Sex and Logic, 485ff) meint jedoch, das eigentliche Problem seien hier »langhaarige Männer« und die »Art der Haartracht«. 74 Vgl. H. L. Strack/Po Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 1926, Bd. 3, 428f. 75 Vgl. U. a.J. A. Fitzmyer, A Feature of Qumran Angelology and the Angels of ICor 11,10, in: NewTestament Studies 4 (1957-58) 48-58.
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hochstecken - als Zeichen ihrer geist gegebenen Macht über ihr Haupt. Das griechische Wort exousia in V 10 kann nur im aktiven Sinn als Macht über ihr Hauptl 6 verstanden werden, wobei »Haupt« eine doppelte Bedeutung hat: Kopf oder Mann, der nach 11,3ff das »Haupt« einer Frau ist.?7 Solche Macht haben Frauen durch die Engel, die nach jüdischer und christlicher apokalyptischer Theologie die »Worte der Prophetie« übermitteln.?8 In einer recht gewundenen Argumentation, die nicht mehr ganz zu entwirren ist, führt Paulus mehrere Argumente für »diese Sitte« oder Haarmode an. Der Schlüssel zu seinen Argumenten liegt meiner Meinung nach in der Aussage, die diesen Abschnitt eröffnet und in der Paulus die korinthischen Pneumatikerlnnen dafür lobt, daß sie an den Überlieferungen festgehalten haben, die er ihnen übermittelt hat. Diese T raditionen sind: Befreiung, Freiheit, Gleichheit und Geistbevollmächtigung in Christus oder im Kyrios. Die Argumente des Paulus in IKor 11,2-16 suchen die Gemeinde zu einem tieferen Verständnis dieser Traditionen zu führen. Da Paulus die KorintherInnen dafür lobt, daß sie an seinen Überlieferungen festgehalten haben, läßt sich nicht entscheiden, ob sie bereits einen neuen orgiastischen liturgischen Stil der offenen und unbedeckten Haare praktizieren oder ob Paulus sie davor warnen wollte, einen solchen Brauch einzuführen. Seine »theologischen« Argumente sind: Erstens gibt es eine absteigende Hierarchie Gott - Christus - Mann Frau, in der jedes vorangehende Glied als »Haupt« oder »Quelle« dem nächsten übergeordnet ist» in dem Sinne, daß es das Sein des nächsten begründet.« Daher kann Paulus sagen, daß der Mann als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sei, während die Frau Abglanz des Mannes sei und das Haar Abglanz der Frau. Es ist zu beachten, daß es hier nicht heißt, die Frau sei das Bild des Mannes. Also spricht diese Aussage der Frau nicht ab, »das Bild Gottes« zu sein, sondern sagt nur, daß die Frau Abglanz des Mannes ist. Das Argument konzentriert sich auf »Abglanz« und gipfelt im »Haar als Abglanz der Frau« (V 15). Um sein Argument zu begründen, greift Paulus auf die weitverbreitete stoische Beweisführung »aus 76 Vgl. M. D. Hooker, Authority on Her Head. An Examination of ICor xi.lo, in: New Testament Studies 10 (1964/65) 410-416; A. Feuillet, Le signe de puissance sur la tete de la femme (ICor xi.lo), in: Nouvelle Revue Theologique 55 (1973) 945-954· 77 Vgl. H. Schlier, kephale, in ThWNT, Bd. 3; S. Beale, The Meaning of kephale in the Pauline Epistles, in: Journal of Theological Studies 5 (1954) 2 I3f; Scroggs, Paul and the Eschatological Woman, 298f. 78 Im Neuen Testament vgl. bes. die Apokalypse. Vgl. E. Schüssler Fiorenza, lnvitation to the Book of Revelation, Garden City, N. Y. 1981; und dies., Apokalypsis and Propheteia. The Book of Revelation in the Context of Early Christian Prophecy, in: J. Lambrecht (Hg.), L'Apocalypse johannique et l'Apocalyptique dans le Nouveau Testament, Gembloux-Löwen 1980 (BETL 53), 105-128.
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der Natur«79 zurück, die weitgehend benutzt wurde, um den Unterschied zwischen Frauen und Männern zu betonen. Er schließt diese Kombination von theologischen und stoisch-philosophischen Argumenten mit einem autoritären Aufruf, vermutlich weil er selber spürt, daß seine Überlegungen nicht sehr überzeugend sind. Er betont, daß er und die Kirchen keinen solchen Brauch des offenen und unbedeckten Haares kennen. Dies ist der Punkt, auf den es ihm ankommt. Zweitens betont Paulus, vielleicht weil er spürt, daß sein midraschartiger Beweis mißverstanden werden könnte, daß er die Gleichheit von Mann und Frau »im Kyrios« nicht bestreiten will. rKor II,rr wird gewöhnlich übersetzt: »im Kyrios ist weder die Frau etwas ohne den Mann, noch der Mann ohne die Frau.« Das griechische Wort choris wird so im Sinn von V r 2 übersetzt, in dem gesagt wird, daß schon in der Schöpfung Mann und Frau voneinander abhängig sind, weil die Frau (im Beginn) aus dem Mann gemacht ist, aber nun der Mann aus der Frau geboren wird und in jedem Fall »alles von Gott« kommt. V r2 stellt eindeutig fest, daß Paulus mit seinem Schriftbeweis nicht die schöpfungsgemäße gegenseitige Abhängigkeit und Wechselbeziehung von Männern und Frauen abstreiten will. Wenn choris mit »ohne« oder »unabhängig von« übersetzt wird, dann würde V r r das Gleiche für ihre Beziehungen »im Kyrios« aussagen. Josef Kürzinger hat die Belege für eine solche Übersetzung überprüft und herausgefunden, daß sie nur eine schmale Basis hat. Gewöhnlich bedeutet das Wort choris nicht »ohne«, sondern »anders als«, »verschieden von«, »heterogen«, »von anderer Art«.8o Also wäre die beste Übersetzung von VII: »Im Kyrios wird die Frau nicht vom Mann unterschieden und der Mann nicht von der Frau.« Mit anderen Worten: Als ChristInnen sind Männer und Frauen gleich. Hochgesteckte Haare sind daher am besten als liturgisches Symbol für die prophetische Macht einer Frau zu verstehen. Unterschiede, die es aufgrund der Natur oder der Schöpfung geben mag, bestehen in der gottesdienstlichen Versammlung der ChristInnen nicht mehr. Zusammenfassend sei gesagt: Paulus argumentiert in II,2-r6 nicht, daß Frauen und Männern trotz ihrer Gleichheit in Christus eine »schöp79 Vgl. Conzelmann, Erster Korintherbrief, 224f. 80 Vgl. Kürzinger, Frau und Mann nach rKor II,rrf, in: Biblische Zeitschrift 22 (r978) 270-275; Murphy-O'Connor (Sex and Logic, 497f) übernimmt zwar auch Kürzingers Korrektur, gelangt aber erneut zu einer »Gleichwertig, aber andersartig« - Interpretation: »die wiederneugeschaffene Frau hat gleiche Autorität wie der Mann (VV rO-12). Beide sind aufeinander bezogen (dia touto, V ro), weil die Frau diese Macht eben genau als Frau hat. Der Frau und nicht einem zweideutigen Wesen, dessen »unweibliche« Haartracht einen Affront gegen die allgemein anerkannten Sitten darstellt, wird ein neuer Status zuerkannt« (498).
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fungsgemäße« oder »symbolische« Differenz zukommt. Vielmehr setzt er sich dafür ein, hochgesteckte Haare als Symbol für die prophetischcharismatische Macht von Frauen zu verstehen. Wie seine anderen Argumente in 1Kor II,2-14,40 zielt seine Anweisung darauf, den Eindruck von Schwärmerei, die typisch ist für orgiastisch-kultischen Gottesdienst, zu mildern. Wohlverhalten und rechte Ordnung in der Gemeinde verlangen, daß Prophetinnen und Charismatikerinnen, die im Gottesdienst aktiv engagiert sind, »anständig« aussehen. Paulus argumentiert daher theologisch mehr oder weniger überzeugend für eine »anständige« Haarmode als kultisches Symbol für die spirituelle Macht und Gleichheit von Frauen in der Gemeinde »im« Kyrios. Ziel seiner Ausführungen ist daher nicht, kulturelle Geschlechterunterschiede und Geschlechterrollen zu verfestigen, sondern die Ordnung und den missionarischen Charakter der Gottesdienstgemeinde zu wahren. IKor 14,J3b-J6: Es ist umstritten, ob diese Verse authentisch paulinisch sind oder ob sie von einem späteren Herausgeber der paulinischen Schule eingefügt wurden. 8I Da diese Verse nicht aufgrund textkritischer Argumente ausgeschlossen werden können, sondern gewöhnlich aus theologischen Gründen als unecht erklärt werden, ist es exegetisch solider, sie als original paulinische Aussagen zu verstehen und dann in ihrem gegenwärtigen Kontext zu erklären. Wie in Kap. I I, so sucht auch in den Kapiteln 12-14 Paulus die KorintherInnen zu überzeugen, daß Anstand und Ordnung höher einzuschätzen seien als geistgewirkter Status und individuelle pneumatische Inspiration. Während die KorintherInnen das Zungenreden am höchsten geschätzt zu haben scheinen, gibt Paulus der Gabe der Prophetie den Vorzug und deutet sie im Sinne von Vernunft, Ordnung und Mission (14,4.5.19).82 Die korinthischen PneumatikerInnen sollten sich weniger um die Zurschaustellung ihrer spirituellen Gaben kümmern als um den Aufbau der Gemeinde und den Eindruck, den sie auf interessierte Außenstehende machen (14,16; 17,23f). 14,26- 36 ist am zutreffendsten als gemeindliche Ordnung mit Regeln für ZungenrednerInnen (V 27ff), ProphetInnen (V 29-33) und Ehefrauen (34- 36?3 zu verstehen. Diese drei Regeln sind in strukturell ähnlicher Form formuliert. Allgemeine Regelungen (V 27.29 und 34) werden 81 Viele ExegetInnen stimmen der Einschätzung von lKor 14,33b-36 als nachpaulinische Interpolation zu. Vgl. v. a. G. Fitzer, Das Weib schweige in der Gemeinde, München 1963 (TEH 110); Conzelmann, Erster Korintherbrief, 246, und die Darstellung und Kritik der Argumente bei Feuillet, La dignite etle role, 162- 170. 82 Vgl. E. Ellis, »Spiritual« Gifts in the Pauline Community, in: New Testament Studies 20 (1974) 128-144; U. B. Müller, Prophetie und Predigt im Neuen Testament, Gütersloh 1975 (StNT 10), II-45. 83 Vgl. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie, 253-288.
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durch Sätze ergänzt, die sie konkretisieren (V 28.30.35). Die zweite und die dritte Regel werden durch Gründe für die Anweisungen erweitert (3 d. Ha. 35 b). Die Weisung für die Frauen unterscheidet sich insofern von den anderen, als sie mit einer doppelten rhetorischen Frage endet (V 36), was die Wichtigkeit dieser letzten Regel offensichtlich unterstreichen soll. IKor 14,33 - 36 wird oft so verstanden, als spreche die Stelle zu Frauen im allgemeinen und stehe daher in Widerspruch zu 11,2 - 16, wo vorausgesetzt wird, daß Frauen Geistbegabte sind und als solche im Gottesdienst der Gemeinde beten und prophezeien. Diese Schwierigkeit wird aber behoben, wenn wir erkennen, daß sich diese Anweisung nicht auf alle Frauen bezieht, sondern nur auf christliche Ehefrauen, denn aus Kap. 7 geht hervor, daß nicht alle Frauen in der Gemeinde verheiratet bzw. nicht alle verheirateten Frauen mit christlichen Partnern verheiratet waren. Sie konnten daher gar nicht ihren Mann zu Hause fragen. 1Kor 7, F35 unterstützt die Deutung, daß sich das Verbot in 14,33-36 nur an Ehefrauen richtet. Obwohl Paulus in IKor 7 die Gleichheit und PartnerInnenschaft von Ehemännern und Ehefrauen unterstreicht, ist seine asketische Bevorzugung des ehelosen Standes deutlich. 84 In 7>32- 35 interpretiert er die apokalyptische »Als ob nicht«-Überlieferung von 7,29- 3 1 in christologisch-missionarischer Perspektive. Die verheiratete Person ist, so argumentiert Paulus, gespalten und sorgt sich um Probleme von Ehe und Familie, während die unverheiratete Person sich voll und ganz der Sache »des« Kyrios hingibt. Offenkundig nimmt Paulus hier »bürgerliche Moralbegriffe auf, welche nicht absolute, sondern konventionelle Werte bezeichnen.«85 Diese Argumentation des Paulus überrascht, wie schon bemerkt, da wir von führenden Missionspaaren wissen, die ihr Leben im Dienst »des« Kyrios verbrachten. Der ungeteilte Einsatz der unverheirateten Frau und der Jungfrau für die Sache Gottes, aber nicht des unverheirateten Mannes, wird jedoch mit dem Nebensatz näher qualifiziert: »um heilig zu sein an Leib und Seele« (7)34). Paulus schreibt hier der unverheirateten Frau und der Jungfrau, offensichtlich weil sie nicht von einem Manne berührt wird (vgl. 7,1), eine besondere Heiligkeit zu. 86 Wir können daher annehmen, daß Paulus die pneumatische Teilhabe solcher besonders heiliger Frauen im Gemeindegottesdienst akzeptieren kann, daß er aber in 14,34f dagegen argumentiert, daß Ehefrauen auf aktive Weise am Gottesdienst teilnehmen. 84 Vgl. K. Niederwimmer, Askese und Mysterium, Göttingen 1975 (FRLANT II3), 80- 12 3.
85 Conzelmann, Erster Korintherbrief, 159. 86 Vgl. Niederwimmer, Askese und Mysterium,
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Wie in IKor 7,35 beschließt Paulus seine Weisungen auch hier, indem er an den Anstand appelliert (I4,35b). Paulus leitet seine theologische Argumentation vermutlich aus der jüdisch-hellenistischen Missionstradition ab, die -wie Josephus dokumentiert - die griechisch-römischen Ermahnungen zur Unterordnung von Ehefrauen als Teil des »Gesetzes« übernommen hatte. 87 Die traditionelle römische Haltung gegenüber verheirateten Frauen, die in der Öffentlichkeit sprechen und sich zu öffentlichen Demonstrationen versammeln, kommt in der Rede des Konsuls Cato gegen die römischen Frauen, die die Abschaffung des oppianischen Gesetzes anstreben, zum Ausdruck. Obwohl sie sich auf einen Vorfall bezieht, der sich gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. u. Z. ereignet hatte, ist die Rede erst im 1. Jahrhundert n. u. Z. von Livius geschrieben worden: Mitbürger, wenn jeder von uns es verstanden hätte, bei seiner eigenen Frau das Recht und die Würde des Mannes zu behaupten, hätten wir jetzt mit allen Frauen zusammen weniger Last. Jetzt wird unsere Entscheidungsfreiheit, um die es zu Hause durch die Herrschsucht der Frauen geschehen ist, auch hier auf dem Forum zermalmt und mit Füßen getreten ... Was ist das für eine Sitte, aus dem Haus zu laufen, die Straßen zu belagern und fremde Männer anzusprechen! Konntet ihr nicht jede zu Hause die eigenen Männer genau um dasselbe bitten? ... Laßt einer unbeherrschten Natur und einem ungezähmten Geschöpf die Zügel schießen und hofft, daß sie selbst ihrer Hemmungslosigkeit ein Ziel setzen. Wenn ihr das nicht tut, ist dies nur das geringste von dem, was die Frauen nur widerwillig hinnehmen, obwohl es ihnen durch Sitte und Gesetz auferlegt ist. Freiheit in allen Dingen begehren sie, eher noch Hemmungslosigkeit, wenn wir es beim wahren Namen nennen wollen. .. Sobald sie angefangen haben, gleichberechtigt zu sein, werden sie euch auf der Stelle über sein. 88 Die Gemeinderegel von IKor 14,34- 36 setzt voraus, daß in den christlichen Gottesdienstversammlungen Ehefrauen bei der gemeindlichen Auslegung von Schrift und Prophetie es gewagt hatten, anderen Ehemännern Fragen zu stellen oder auf Fehler ihrer eigenen Ehemänner hinzuweisen. Solches Verhalten widersprach jeder Sitte und jedem Brauch. Der Text sagt aber nicht, daß sich Ehefrauen der Gemeindeleitung oder ihren 87 Vgl. S. Aelan, A Rabbinic Formula in 1Kor 14,34, in: Studia Evangelica 87 (1964) 513-525, v. a. 517ff, und bes. Crouch, Colossian Haustafel, 138ff. 88 Livius, Römische Geschichte 34, hg. von H. J. Hillen, München 1978, 321-323. Zur androzentrischen Tendenz der Geschichtsschreibung des Livius vgl. S. E. Smethurst, Womenin Livy's History, in: Greece and Rome, n. s. 22 (1975) 45-75.
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Ehemännern unterordnen sollen. Er verlangt einfach, daß sie in der Gemeindeversammlung schweigen und sich zurückhalten. Das primäre Interesse des Paulus ist aber hier nicht das Verhalten von Frauen sondern das Verhalten der christlichen Gemeinde. Er will verhindern, daß die christliche Gemeinde als einer der orgiastischen orientalischen Geheimkulte mißverstanden wird, die öffentliche Ordnung und Anstand unterminieren. Denn wie wir gesehen haben, hatte bereits im 2. oder 3. Jahrhundert v. u. Z. ein neopythagoräischer Traktat aus Italien bei der Erörterung des Verhaltens von Frauen festgestellt: »Öffentliches Gesetz hält Frauen davon ab, an diesen Riten (Geheimkulte und sibyllische Orgien, d. V.), vor allem jenen Riten, die zu Trunkenheit und Ekstase ermuntern, teilzunehmen.«89 Die abschließenden rhetorischen Fragen in V 36 deuten an, welches Gegenargument Paulus erwartet. Es wird oft argumentiert, daß diese Fragen sich auf die ganze Gemeinde beziehen, weil die Ehefrauen ja wohl nicht behauptet haben könnten, daß das Wort Gottes von ihnen ausgegangen sei oder sie die einzigen seien, zu denen es gekommen sei. Wenn wir jedoch in Betracht ziehen, daß solch führende frühchristliche Missionarinnen wie Priska, Junia und vielleicht auch Apphia, wahrscheinlich verheiratet waren und daß die anderen führenden Frauen in den Paulusbriefen im allgemeinen nicht als Jungfrauen, Witwen oder Unverheiratete gekennzeichnet werden, dann wird ein Gegenargument wie in V 36 plausibel. Da wir gesehen haben, daß Ehefrauen als Missionarinnen predigten und Gründerinnen von Hauskirchen waren, klingt die Forderung des Paulus, diese Frauen sollten schweigen und ihren Mann zuhause fragen, absurd. Paulus erkennt, daß diese Vorschrift der üblichen Praxis der Missionskirchen in den hellenistischen Stadtgemeinden zuwiderläuft. Daher beansprucht er für diese und die vorausgehenden Vorschriften die Autorität »des« Kyrios (V 37). Letztlich bestimmt nicht Theologie, sondern das Interesse an Anstand und Ordnung die paulinische Anweisung für das Verhalten von PneumatikerInnen im Gottesdienst der Gemeinde (V. 40). Zusammenfassung: In der obigen Analyse habe ich zu zeigen versucht, daß die paulinischen Anordnungen, die im 1. KorintherInnenbrief an Frauen gerichtet werden, im Kontext der paulinischen Argumentation gegen orgiastisches Verhalten im Gemeindegottesdienst verstanden werden müssen. Einerseits verbietet 1Kor 11,2-16 das Beten und Prophezeien von Frauen im Gottesdienst nicht, sondern betont, daß in der christlichen Gemeinde Frauen und Männer gleich sind. Sie sollen aber nicht das Symbolverhalten orgiastischer Gottesdienste nachahmen. An89 M. F. LefkowitzlM. Fant (Hg.), Wornen in Greece and Rome, Toronto 1977, 86.
6. Kapitel dererseits hat die Gemeinderegel 14,33-36 eine spezifische Gruppe und Situation vor Augen, nämlich Ehefrauen, die in der öffentlichen Gottesdienstversammlung argumentieren und Fragen stellen. Hier scheint Paulus - wie in 7,34 und 9,5 - die aktive Teilnahme von Ehefrauen an der »Sache »des« Kyrios« einschränken zu wollen. Seine abschließenden rhetorischen Fragen zeigen, daß er nicht erwartet, daß seine Vorschriften ohne Protest von der korinthischen Gemeinde akzeptiert werden, die Ehefrauen als führende christliche Apostelinnen und Missionarinnen kennt. Doch Paulus ist mehr daran gelegen, Ordnung und Anstand zu bewahren, damit Außenstehende die christliche Gemeinde nicht religiöser Exzesse bezichtigen können. In beiden Textabschnitten versucht Paulus also die geistgewirkte Teilnahme von Frauen am Gemeindegottesdienst zu begrenzen und zu modifizieren. Ob die Männer und Frauen in Korinth seine Einschränkungen akzeptiert haben, wissen wir nicht. Der Liebespatriarchalismus der deuteropaulinischen Haustafeln und die Vorschriften der Pastoralbriefe jedenfalls sind spätere Weiterentwicklungen der Argumentation des Paulus - Entwicklungen, die in der Zukunft zum schrittweisen Ausschluß aller Frauen vom kirchlichen Amt und zur schrittweisen Patriarchalisierung der gesamten Kirche führen werden.
Patriarchale Bilder und Metaphern Während die eben untersuchten paulinischen Texte, die Ga13,28 modifizieren, in der Forschung zum Thema »die Frau in den Paulusbriefen« viel diskutiert werden, wird den von Paulus eingeführten patriarchalen Bil~ dern und seiner patriarchalen Sprache wenig Beachtung geschenkt. Von besonderer Bedeutung ist hier sein missionarisches Selbstverständnis als »Vater der Gemeinde« und das Bild der Braut für die christliche Gemeinde. Paulus verwendet nicht nur die Metapher» Vater«, sondern auch »Mutter« und »Amme«, um seine Beziehung zu den von ihm gegründeten Gemeinden und den von ihm zum Evangelium bekehrten Personen zu beschreiben. Durch das Evangelium hat er sie gezeugt, ihnen neues Leben gegeben, sie wie Babies ernährt und zu Kindern Gottes gemacht. 90 Der Sklave Onesimus wurde sein Kind und Paulus umgekehrt dessen Vater (Phm 10). Timotheus hat dem Paulus für das Evangelium Dienste ge90 Zur »geistlichen Mutterschaft« vgl. Gal4,19 und Betz, Galatians, 233ff; zur »geistlichen Elternschaft« vgl. 2Kor 2,14; zum Vergleich mit einer »Amme« vgl. IThess 2,11 und bes. A. Malherbe; »Gentle as a Nurse«. The Cynic Background to IThess ü, in: Novum Testamentum 12 (1970) 203-217.
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leistet wie ein Kind dem Vater (PhiI2,22). Er ist sein »liebes und treues Kind in Christus« (IKor 4,17). Paulus ermahnt die KorintherInnen, ihm nachzufolgen, weil er »ihr Vater in Christus J esus durch das Evangelium« geworden ist (4,15). Sie haben viele Berater, aber nicht viele Väter. Er droht an, nach Korinth zu kommen und die Arroganten herauszufinden: »Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder in Liebe im Geist der Milde?« (4,21) Obwohl Paulus seine väterliche Liebe zu seinen »Kindern«, die er bekehrt hat, betont, öffn:'et er damit der Wiedereinführung patriarchaler Autorität in die christliche Gemeinde Tür und Tor. Sein Begriff »geistliche Vaterschaft«9 1 versteht die christliche·Gemeinde als »neue Familie Gottes«, die» Väter« auf Erden hat und nicht mehr nur einen einzigen >>Vater« im Himmel. Obwohl Paulus die Metaphern Vater, Mutter, Amme noch gleichzeitig gebrauchen kann, versteht er sich und seine Autorität doch hauptsächlich im Sinne von >>Vaterschaft«. Seine Vorstellung, daß er seinen Kindern das Leben »gegeben« hat, nimmt die natürliche Gebärmacht von Müttern für sich in Anspruch und assoziiert» Vaterschaft« mit Taufe und Wiedergeburt. Auf diese Weise schafft Paulus die Voraussetzungen dafür, daß spätere Generationen die neue Familie Gottes im Sinne der Hierarchie der patriarchalen Familie umgestalten - auch wenn Paulus selbst seine Autorität92 und seinen Dienst noch nicht ganz patriarchal verstanden hat, sondern auch als den lebenspendenden, nährenden Dienst einer Mutter oder Amme sieht. In der Auseinandersetzung mit den »Überapostellnnen« (2Kor II,26)93 stellt er sich als »Vater« vor (V 2f), der seine» Tochter«, die Kirche von Korinth, als »reine Jungfrau« mit Christus »verlobt« hat. Obwohl das Bild von Christus als Bräutigam schon aus den synoptischen Traditionen bekannt ist, begegnen wir hier zum ersten Mal der Brautmetapher für die Kirche. Mit diesem Bild bezieht sich Paulus auf die Propheten, die Israel wiederholt als Braut Jahwes sehen. Hos 2,19-20 stellt die Beziehung zwischen Jahwe und Israel als Verlobung dar, aber es wird kein Heiratsvermittler erwähnt. 94 In der Apokalypse wird das Bild der Braut 91 Vgl. StracklBillerbeck, Kommentar, Bd. 3, Hof; G. Schrenk, pater, in: ThWNT, Bd. 5; P. Gutierrez, La paternite spirituelle selon Saint Paul, Paris 1968; P. A. H. De Boer, Fatherhood and Motherhood in Israelite andJudaean Piety, Leiden 1974. 92 Zur Untersuchung der Soziologie »apostolischer Autorität« bei Paulus vgl. Schütz, Paul and the Anatomy of Apostolic Authority, Cambridge 1975, 278. Er hebt hervor, daß die Autorität des Paulus darauf gründet, daß sie sich auf die Gemeinsamkeit mit dem gemeinsamen christlichen Charisma - und nicht auf die Unterscheidung von allen anderen - beruft. 93 Vgl. z. B. P. C. Hanson, II Corinthians, London 1954, 79f;Jean Hering, The Second Epistle ofSt. Paul to the Corinthians, London 1967, 783ff. 94 Vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Interpretation patriarchalischer Tradi-
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nicht für die historische christliche Gemeinde, sondern für die eschatologische Gemeinde des N euen J erusalem verwendet. In 2Kor I 1,2 wird die ganze Gemeinde, Männer und Frauen, mit einer jungfräulichen Braut verglichen, die auf Christus als eschatologischen Bräutigam wartet. 95 Das Gegenbild zum Bild von der jungfräulichen Braut und dem Bräutigam Christus ist das von Eva und der Schlange. Die Gemeinde könnte, so fürchtet Paulus, eher der von der List der Schlange verführten Eva ähneln, nämlich dann, wenn sie den» Überapostellnnen« (I 1,5) folgt, die die Gedanken der Korinther Innen von ihrer reinen und ungeteilten Christus-Verehrung ablenken. Paulus ist »eifersüchtig«, daß diese falschen LehrerInnen die Gemeinde von ihrer Verpflichtung auf Christus weglocken könnten, so wie auch Eva verführt worden ist. Wenn Paulus sonst die Macht der Sünde erwähnt, spricht er von Adam, dem Repräsentanten der »alten Menschheit«, dessen Gegenbild Jesus Christus ist, der Repräsentant der »wiedererneuerten Menschheit«.9 6 Er verweist auf Eva, um die Leichtgläubigkeit der korinthischen Gemeinde, die hier als jungfräuliche Braut vorgestellt wird, zu betonen. Der Unterschied zwischen der Verwendung des Eva-Bildes bei Paulus und seiner Verwendung in der späteren Theologie wird offensichtlich, wenn wir 2Kor 11,3 mit ITim 2,I3ff vergleichen, der einzigen anderen Stelle im Neuen Testament, in der Eva erwähnt wird. In ITim 2,I3ffwerden Adam und Eva nebeneinandergestellt, aber es wird betont, daß Adam zuerst und Eva erst nach ihm geschaffen wurde. 97 Adam wurde nicht verführt, sondern Eva, die zur Übertreterin des Gebotes Gottes wurde. Diese TextsteIle beschränkt das Bild Adams ausdrücklich auf Männer und das Bild Evas auf Frauen, um den Vorrang und die Treue von Männern im Unterschied zu Frauen zu unterstreichen. Im Gegensatz dazu bezieht Paulus das Bild der Eva auf Männer und Frauen, d. h. auf die ganze Gemeinde. Sein Interesse zielt nicht darauf, Frauen mit Eva zu identifizieren und ihnen einen zweitrangigen Status in der Gemeinde zuzuweisen. Aber indem er die Metapher der jungfräulichen Braut für tionen, in: Letty M. Russel (Hg.), Als Mann und Frau ruft er uns. Vom nicht-sexistischen Gebrauch der Bibel, München 1979, 3I - 51; H. Balz-Cochois, Gomer oder die Macht der Astarte. Versuch einer feministischen Interpretation von Hos 1-4, in: Evangelische Theologie 42 (1982) 37-65. 95 Vgl. D. C. Smith, Paul and the Non-Eschatological Woman, in: Ohio Journal of Religious Studies 4 (1976) rr-18.16. 96 V gl. R. Scroggs, The Last Adam, Philadelphia 1966; und vor allem Ernst Käsemann, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen '1972, 9-60; vgl. auch R. Scroggs, Paul for a New Day, Philadelphia 1977. 97 C. K. Barett, The Pastoral Epistles, Oxford 1963, 56, faßt es folgendermaßen zusammen: »Adam, erster in der Schöpfung, Eva, erste in der Sünde.« Zur jüdischen Interpretation von Gen 3,13 vgl. Hanson, 11 Corinthians, 65-77.
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die Kirche benutzt, die - wie Eva - in der Gefahr steht, von den »Üb erapostelInnen« verführt zu werden, öffnet er jenen späteren Spekulationen Tür und Tor, die die patriarchal konzipierte Ehebeziehung - zwischen Israel und Jahwe, zwischen Kirche und Christus, zwischen Eva und Adam - auf Frauen und Männer übertragen.
Zusammenfassung Die paulinische Interpretation und Anwendung des Taufbekenntnisses von Ga13,28 in seinen Briefen an die Gemeinde von Korinth belegt eindeutig die Gleichheit und charismatische Begabung von Männern und Frauen in der christlichen Gemeinde. Frauen sind genauso wie Männer ProphetInnen und GottesdienstleiterInnen in der Gemeinde. Frauen sind genauso wie Männer zu einem ehefreien Leben berufen. Frauen haben genauso wie Männer in den sexuellen Beziehungen der Ehe gegenseitige Rechte und Pflichten. Insofern Paulus jedoch mit Rücksicht auf die Missionsarbeit einen Unterschied zwischen Verheirateten und Unverheirateten macht, weist er ersteren die Sorgen dieser Weh zu und schreibt letzteren einen besonderen reinen und heiligen Stand zu. Daher schränkt er mehr die aktive Teilnahme christlicher Ehefrauen am Gemeindegottesdienst als die von unverheirateten Frauen ein. Sein Gebrauch der Metapher »jungfräuliche Braut« für die Kirche, wie auch seine metaphorische Charakterisierung seines Apostelseins als »Vaterschaft« ist ein erster Schritt zur Wiedereinführung von patriarehaien Werten und Geschlechterdualismen. Während Paulus einerseits mit seiner Befürwortung des ehefreien Standes von ChristInnen den Konflikt zwischen der christlichen Gemeinde und der herrschenden Gesellschaft intensiviert, sind seine Anordnungen für die gottesdienstliche Versammlung der KorintherInnen darauf bedacht, diesen Konflikt so weit wie möglich zu verringern. 98 Da er verhindern möchte, daß Außenstehende die christliche Versammlung als orgiastische Kuhfeier mißverstehen, besteht er auf einer »anständigen« Haarmode für die Frauen, die in der Gottesdienstversamrnlung leitend aktiv sind. Er rechtfertigt diese Sitte theologisch, indem er sie als Symbol ihrer geistlichen Macht in Christus interpretiert. Außerdem will er das Diskutieren von Ehefrauen in der Öffentlichkeit - in Übereinstim98 Zu dieser fundamentalen Uneindeutigkeit bei Paulus vgl. W. A. Meeks, »Since Then You WO\Jld Need to Go Out of the World«. Group Boundaries in Pauline Christianity, in: T. J. Ryan (Hg.), Critical History and Biblical Perspective, Villanova, Pa. 1979,4- 2 9.
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mung mit der römischen Auffassung, dies verstoße gegen »Gesetz und Ordnung« - zum Verstummen bringen. Im Falle der Mischehen schränkt er die Freiheit der/des christlichen PartnerIn, sich von ihrem/seiner ungläubigen PartnerIn zu trennen, dadurch ein, daß er die Trennung von der Entscheidung der/des ungläubigen EhepartnerIn abhängig macht. Dabei ist sein Interesse jedoch missionarischer Art und nicht in erster Linie gegen die geistgewirkte Freiheit und die Beteiligung von Frauen in der Gemeinde gerichtet. So ist die Wirkung, die Paulus auf die Leitungsfunktion von Frauen in der christlichen Missionsbewegung hat, zweischneidig. 99 Einerseits bejaht er christliche Gleichheit und Freiheit. Er eröffnet Frauen einen neuen unabhängigen Lebensstil, indem er sie ermutigt, ehefrei zu bleiben. Anderseits unterwirft er das Verhalten von Frauen in Ehe und Gottesdienst den Interessen der christlichen Mission und schränkt ihre Rechte nicht nur als Pneumatikerinnen, sondern auch als Frauen ein, da er keine expliziten Einschränkungen für Männer qua Männer im Gottesdienst fordert. Die nachpaulinische und pseudopaulinische Tradition wird diese Einschränkungen noch weiter verstärken und die Gleichheit von Frauen und Männern, SklavInnen und Freien in Christus in ein patriarchales Unterordnungsverhältnis umwandeln, das einerseits Frauen aus der Gottesdienstund Gemeindeleitung eliminieren und anderseits das Amt von Frauen auf den Dienst an Frauen beschränken will.
99 Wenn diese praktische Spannung in den paulinischen Schriften übersehen wird, dann wird Paulus abwechselnd als »Chauvinist« verdammt und als »Befreier« bejubelt.
TEIL III DIE KONFLIKTE AUFSPÜREN
PATRIARCHAT UND AMT In den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts entstehen Texte, die die Beziehungen in der Gemeinde nach Art des griechisch-römischen Haushalts zu ordnen suchen. (Die Verfasser der Briefe an die Gemeinden von Kolossä und Ephesus und der Pastoralbriefe beanspruchen die Autorität des Paulus. I Obwohl der I. Petrusbrief im Namen des Apostels Petrus geschrieben ist, ist er von paulinischer Tradition geprägt. 2 ) Die Verfasser der nachpaulinischen Literatur plädieren für die Übernahme der griechisch-römischen patriarchalen Ordnung des Großhaushalts, die auf der Unterordnung und Unterwerfung der sozial Schwächeren besteht. 3 Anfangs dürften sie in der Absicht geschrieben worden sein, die politischen Spannungen zwischen den christlichen Gruppen und dem heidnischen patriarchalen Haushalt abzuschwächen. Dann aber wendeten die christlichen Autoren dieses Verständnis von der Kirche als dem Haushalt Gottes als Muster patriarchaler Unterwerfung auch auf das christliche Gemeindeverständnis und Gemeindeleben an. Interessanterweise sind die meisten frühchristlichen Schriften, die das Modell des patriarchalen Haushalts als Modell der Kirche vorschreiben, an Kirchen in Kleinasien adressiert. Die Situation der Kirchen in Kleinasien4 scheint noch relativ wenig verfestigt und ziemlich vielfältig gewesen zu sein. Es hatte sich noch kein Monepiskopat stabilisiert, und es existierte auch noch keine einheitliche Organisationsstruktur. Die vorherrschende Organisationsform war vermutlich die Hauskirche, obwohl auch Wandercharismatikerinnen und I Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Frage, ob Paulus der Verfasser ist, vgl. Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg (21., erneut ergänzte Auflage) I 98 3, 294- 34 I, und andere allgemeine Einführungen ins Neue Testament. 2 Vgl. z. B. H. Goldstein, Paulinische Gemeinde im Ersten Petrusbrief, Stuttgart I975 (SBS 80). 3 Vgl. meine Rezension der Literatur in meinem Aufsatz: E. Schüssler Fiorenza, Discipleship und Patriarchy. Early Christian Ethos and Christian Ethics in a Feminist Perspective, in: L. Rasmussen (Hg.), Selected Papers I982. The American Society of Christian Ethics, Waterloo, üm. I982, I3 I - I72. 4 Eine ausführliche Bibliographie zu Kleinasien und den Gemeinden in Kleinasien findet sich bei]. H. Elliot, AHorne for the Homeless. A Sociological Exegesis of I Peter, Philadelphia I98I, 88-90.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
»schulähnliche« Versammlungen die paulinische Mission weitergeführt haben dürften.! In den Gemeinden Kleinasiens scheinen mehrere Richtungen frühchristlicher Überlieferung zusammengekommen zu sein. Prophetische Autorität, apokalyptische Erwartung, Druck, sich an die herrschende Gesellschaft anzupassen, asketischer Rückzug aus Ehe und Familie, judaisierende Tendenzen, Bekenntnis zum Doketismus, Streit und Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Führungspersonen und Gruppierungen, Verfolgung durch Rom und Belästigung durch Nachbarn - all dies bestimmte auch das aufregende Leben von Frauen in den asiatischen Gemeinden zu Eride des ersten Jahrhunderts. Johannes, der Verfasser der Apokalypse, und Ignatius von Antiochia schrieben Briefe an die wichtigsten Kirchen der Region. Für solche Gemeinden dürften auch die Apostelgeschichte und das vierte Evangelium in seiner endgültigen Fortn verfaßt worden sein. Die Paulus- und TheklaAkten wurden von einer/einem der asiatischen Ältesten verfaßt. Der Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan, das vierte Buch der Sibyllinischen Orakel, das Buch der Offenbarung und der I. Petrusbrief bezeugen die prekäre politische Situation dieser Gemeinden, die teilweise durch ihren Widerstand gegen den Kaiserkult und die kaiserliche Politik bedingt war. Wichtige asiatische ChristInnen im zweiten Jahrhundert, die uns noch bekannt sind, sind: »Jezebel«, die Leiterin einer prophetischen Schule in Thyatira, Polykarp von Smyrna, Papias von Hieropolis, Alke von Smyrna, Polykrates von Ephesus, Markion und Markus mit ihren JüngerInnen und die montanistischen ProphetInnen Maximilla, Priska und Montanus. Die ausgezeichneten Straßen im westlichen Kleinasien ertnöglichten ausgedehnte Reisen und Kommunikation verschiedener Art. 6 Die Kirchen in Kleinasien dürften zwar klein gewesen sein, doch sie waren nicht isoliert. Sie hatten enge Verbindungen zu anderen christlichen Zentren, besonders zu Antiochia und Rom. Kaufleute wie Lydia von Thyatira, Handelsreisende wie Priska und Aquila, Gefangene wie Ignatius von Antiochia hielten einen lebhaften Austausch zwischen verschiedenen Missionsgebieten der christlichen Bewegung aufrecht. Wanderprophetlnnen, reisende MissionarInnen und kirchliche Gesandte brachten den ChristInnen in Kleinasien neue Ideen, theologische Perspektiven und 5 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Apokalypsis and Propheteia. The Book of Revelation in - the Context of Early Christian Prophecy, in: J. Lambrecht (Hg.), L' Apocalypse johannique et I'Apocalypse dans le Nouveau Testament, Gembloux-Leuven 1980 (BETL 53), 10 5- 128. 6 Vgl. z. B. V. Schultze, Altchristliche Städte und Landschaften. Kleinasien, Gütersloh 1922, bes. 1-62.
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neue Bräuche. Während die Bibelwissenschaft im nachhinein unterschiedliche christliche Traditionen herausstellen und zwischen paulinischen, johanneischen und lukanischen Strängen der Theologie unterscheiden kann, war dies den gewöhnlichen Mitgliedern der asiatischen Kirchen wahrscheinlich nicht möglich. Bei der Untersuchung der Situation der christlichen Missionsbewegung in Kleinasien um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert ist also zu berücksichtigen, daß verschiedene Traditionen und Einflüsse zusammengekommen und verschmolzen sind. Diese Vielfalt literarisch-theologischer Ausdrucksformen, die uns aus diesem Gebiet erhalten sind, dürfte durch eine sehr komplexe politische Situation bedingt sein. Wenn jedoch die verbreitetste Organisationsform der christlichen Gemeinde die Hauskirche war, dann ist eine solche Vielfalt theologischer Perspektiven und Selbstverständnisse leicht zu verstehen. Frauen gehörten zu den LeiterInnen solcher Hauskirchen in Kleinasien. Wie wir gesehen haben, grüßt Paulus Apphia als führendes Mitglied der Hauskirche des PhilemonJ Er nennt sie zwar »Schwester«, aber nicht, wie viele Exegeten annehmen, »Schwester des Philemon«, was für sie bedeuten würde, daß sie die Ehefrau des Philemon ist. Wie Philemon und Archippus wird sie mit der Bezeichnung »Schwester« als Mitmissionarin des Paulus beschrieben. Der Verfasser des KolosserInnenbriefes sendet besondere Grüße an Nympha und die Kirche in ihrem Haus, während der Autor des 2. Briefes an Timotheus die Missionsarbeit von Priska und Aquila in Erinnerung ruft, indem er ihnen besondere Grüße sendet (4,19). Er übermittelt auch Grüße von einer Frau namens Claudia, über die wir außer ihrem Namen nichts wissen. Wie Eubulus, Linus und Pudens muß sie den EmpfängerInnen des Briefes wohlbekannt gewesen sein (4,21). Dieser Brief betont auch, daß Timotheus seinen Glauben von seiner Großmutter Lois und seiner Mutter Eunika überliefert bekommen hat. Da der Vater des Timotheus nicht erwähnt wird, können wir annehmen, daß nur der weibliche Zweig der Familie christlich war. Frauen werden hier als treue Überlieferinnen und Garantinnen des christlichen Glaubens verstanden (1,5). Diese Aufzählung von Frauen als Glaubensvermittlerinnen - Lois, Eunika, Timotheus - ist eine Parallele zum paulinischen Stammbaum apostolischen Dienstes - »meine Väter« (1,3), Paulus selbst, Timotheus, der von Paulus ~>geliebtes Kind« genannt wird (1,2).8 7 Zur Annahme, daß diese Hauskirche zur christlichen Gemeinde von Kolossä gehörte, vgl. Eduard Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, Göttingen 1 51977 (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Abt. 9, Bd. 2), 26r. 8 V gl. die Untersuchung der Informationen über Personen, die im 2. Timotheus-Brief
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Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts grüßt Ignatius von Antiochia in zwei seiner Briefe allein Frauen. Diese Briefe messen Frauen und nicht Männern große Bedeutung bei. Dazu kommt, daß die Grüße in den anderen Ignatiusbriefen nur noch Polykarp und die Gemeinde in Smyrna (Briefe an die EpheserInnen, TrallianerInnen, MagnesierInnen), einige Personen, die mit ihm in Trojas waren (Brief an die PhiladelphierInnen) und Krokus, einen Vertreter der Gemeinde von Ephesus, der den Brief an die Gemeinde zu Rom überbracht haben könnte, erwähnen. Die persönlichen Grüße an die Gemeinde von Smyrna und an Polykarp in den Ignatiusbriefen sind zu verstehen, wenn wir berücksichtigen, daß Ignatius nur in Smyrna und Philadelphia lange genug geblieben, um mit der aktuellen Situation und den führenden Personen der Gemeinde vertraut zu werden. Während sein Verhältnis zu den ChristInnen in Philadelphia etwas gespannt war, hatte er längerdauernde und positive Kontakte zu den ChristInnen in Smyrna. 9 Im Brief an die SmyrnäerInnen (13, I) sendet er Grüße nicht nur an die Haushalte »meiner Brüder mit Frauen und Kindern«, sondern auch an die»Jungfrauen, die Witwen genannt werden« und die er anscheinend als eine eigene Gruppe ansieht. Mit Namen grüßt er zwei Männer- »Daphnus, den Unvergleichlichen« und Euteknus - und zwei Frauen. Diese sind T avia und ihr Haushalt, der er wünscht, »daß sie feststehen möge in Glaube und Liebe, fleischlicher wie geistiger«, und Alke, »den mir teuren Namen«. Im Brief an Polykarp grüßt er wiederum Alke (8,3)' und die Frau (bzw. Witwe oder geschiedene Frau) des Epitropus mit ihren Kindern und ihrem ganzen Haus. Epitropus muß nicht notwendig Eigenname, sondern könnte auch ein Titel sein, der »Prokurator« bedeutet. Da hier nicht der Paterfamilias, sondern eine Frau erwähnt wird, ist sie entweder Witwe oder Ehefrau des Epitropus (oder des Prokurators), der selbst kein Christ ist. Dies kann jedoch nicht mehr geklärt werden. Alke wird auch im Martyrium des Polykarp (17,2) erwähnt, das etwa fünfzig Jahre später geschrieben wurde. Ihr Bruder Niketas ist Heide und Gegner des Christentums. Ihn als »Bruder der Alke« einzuführen, hat nur dann einen Sinn, wenn Alke den ChristInnen in Smyrna und Philomelium, an die sich der Bericht wendet, gut bekannt war. Kurz gesagt: Beide Ignatiustexte lassen erkennen, daß Alke noch im Jahre 150 in den Kirchen Kleinasiens wohl bekannt war als eine Christin mit großem Einfluß und besonderer Wirkung in Smyrna. 10 Wir erfahren jedoch nicht gezu finden sind, bei: Martin Dibelius, Die Pastoralbriefe, hg. u. neu bearbeitet v. Hans Conzelmann, Tübingen I95 5, 96f. 9 Vgl. V. Corwin, St. Ignatius and Christianity in Antioch, New Haven I960, IM. ID Vgl. A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2. Band, Leipzig I9 2 4, 595.
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nau, welche Leitungsfunktion sie in Smyrna und anderen asiatischen Gemeinden hatte und warum sie für Ignatius so wichtig war. Ihr Name ist jedoch nur einer von vielen Frauen, die - wie Grant aufgezeigt hat - »im zweiten Jahrhundert in der Kirche wie auch in der Gesellschaft überhaupt von großem Einfluß waren. «11 Grant vermutet auch, daß der Frauenhaß Tertullians und Hypolyts wahrscheinlich deren persönliche Haltung gegenüber Frauen widerspiegelt. Es scheint, daß die namenlose Frau, an die der 2. Johannesbrief geschrieben ist, am besten als Leiterin ihrer Hauskirche verstanden wird. Die meisten Exegeten nehmen zwar an, daß »auserwählte Kyria« und »auserwählte Schwester« symbolische Namen sind, die für Kirchen in Kleinasien stehen." Aber für diese Vermutung gibt es keinen zwingenden Grund. »Auserwählte Kyria« und »auserwählte Schwester« sind am zutreffendsten als Ehrenbezeichnungen für Leiterinnen von Hauskirchen zu verstehen '3, da kyria und domina gebräuchliche Titel für die Materfamilias sind und »Schwester« von Paulus als missionarischer Titel gebraucht wird. Der Ausdruck »Kinder« kann biologische Kinder bedeuten, aber im Kontext der christlichen Mission bezeichnet er häufiger »geistliche Kinder«, die zum Christentum bekehrt wurden. Mit »Kinder« können auch JüngerInnen und Mitglieder einer philosophischen Schule gemeint sein.'4 Da der 3. Johannesbrief an den Leiter einer Hauskirche adressiert ist, hindert uns nichts daran, gleiches für den 2. J ohannesbrief anzunehmen. Malherbe hat darauf hingewiesen, daß Diotrephes, der im 3. Johannesbrief angesprochen ist, eine Position von Einfluß und Bedeutung hatte: »Dns wird das Bild eines Mannes vermittelt, der Einfluß ausübt, und nicht das Bild eines Mannes, der durch Überredung seinen Willen aufdrängen will. .. Er hat vielleicht keine gesamtkirchliche Autorität gehabt, aber er hatte sehr wohl die Macht, aus der Versammlung in seinem Haus diejenigen auszuschließen, die sich ihm widersetzten.«'j Ähnlich wird die »auserwählte Kyria« ermahnt, keine/n in ihr Haus zuzulassen, die/ der nicht dieselbe Lehre vertritt, die der Älteste predigt. Der Presbyter, I I R. M. Grant, The Social Setting of Second-Century Christianity, in: E. P. Sanders (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition, London 1980, Bd. I, 16-29.27f. 12 Vgl. R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe, Freiburg 1963 (HThKNT), 306f. 13 Vgl. L. Swidler, Biblical Affirrnations of Wornen, Philadelphia 1977, 3 I sf. Swidler folgt E. Gaugler, Die Johannesbriefe, Zürich 1964, 283. 14 Vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, The Quest for the Johannine Schoo!. The Apocalypse and the Fourth Gospel, in: New Testament Studies 23 (1977) 402-
4 2 7. S A.J. Malherbe, The Inhospitality of Diotrephes, in: J. J erwelllW. A. Meeks (Hg.),
I
God's Christ and His People. Studies in Honour ofNils Astrup Dahl, Oslo 1977,222232·228f.
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der den Brief schreibt, hat nicht die Macht, der Leiterin dieser Hauskirche Befehle zu erteilen, sondern wendet sich mit einer Bitte an sie. Er erinnert sie an die Gebote und warnt sie vor doketischen PredigerInnen, kann sie aber nicht daran hindern, solchen PredigerInnen Gastfreundschaft zu gewähren. Hier bekommen wir einen Eindruck davon, wie groß persönlicher Einfluß und persönliche Macht von wohlhabenden ChristInnen waren, die der Ortskirche einen Versammlungsort, Geld· mittel und soziopolitischen Status verschafften. Der Presbyter kann Appelle erlassen und dafür plädieren, daß seinen GesandtInnen Gastfreundschaft gewährt wird, er kann warnen und seine persönliche Intervention ankündigen, aber weder Diotrephes noch die »auserwählte Kyria« sind seiner Autorität unterworfen. Solch einflußreiche Stellung und Leitungsfunktion von Frauen in den asiatischen Kirchen steht durchaus in Einklang mit der religiösen Stellung und dem sozialen Einfluß von Frauen in Kleinasien im allgemeinen. Selbst unter römischer Herrschaft hatten Frauen im politischen, sozialen und religiösen Leben des Landes eine bemerkenswerte Stellung. Die Zahl an Inschriften und antiken Monumenten, die Frauen erwähnen, ist ungewöhnlich groß.16 Selbst in den Städten, die am meisten romanisiert und hellenisiert waren, hatten Frauen Funktionen als Magistratinnen und Beamtinnen, als Priesterinnen und Kultpersonal. Unter der Herrschaft Roms war nicht mehr ein Eunuch, sondern eine Hohepriesterin oberste PriesterIn der Artemis von Ephesus, deren Tempel eines der sieben Weltwunder war. Die Organisation der PriesterInnen des Artemesiums umfaßte eine große Zahl von BeamtInnen - sowohl Männern als auch Frauen. Die Kultfeiern und Feste der Artemis von Ephesus l7 zogen PilgerInnen aus der ganzen Welt an, besonders aus den benachbarten Gebieten Kleinasiens. Frauen und Männer nahmen in gleicher Weise an den Riten der Großen Göttin teil. Daß die frühen ChristInnen sich bewußt waren, daß sie zu diesem Kult in Konkurrenz standen, wird in Apg 19,23-41 offenkundig. 18 Diese apologetische Erzählung gibt der jüdischen Konkurrenz die Schuld an den Unruhen und läßt den Stadtschrei16 V gl. P. Paris, Quatenus Feminae Res Publicas in Asia Minore, Romanis Imperantibus, Attigorint, Paris 1891. Zur kritischen Auswertung von Paris vgl. O. Braunstein (Die politische Wirksamkeit der griechischen Frau, Leipzig 19II, 64ff), der mit Nachdruck hervorhebt, daß die bürgerlich-politische Rolle von Frauen in Kleinasien außergewöhnlich in der hellenistischen Weh war. 17 V gl. L. Ross Taylor, Artemis of Ephesus, in: F. J. Foakes-J ackson (Hg.), The Beginnings of Christianity, New York 1933, Bd. 5,251-256; B. Kötting, Peregrinatio Religiosa, Münster 1950, 32-57. 18 Vgl. meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, Miracles, Mission, and Apologetics, in: dies. (Hg.), Aspects ofReligious Propaganda in Judaism and Early Christianity, Notre Dame 1976, 16-20.
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ber der großen Artemis bestätigen, daß Paulus und seine MitchristInnen »weder TempelräuberInnen noch LästerInnen unserer Göttin sind« (19,37). Gleichzeitig unterstreicht die Erzählung, daß die paulinische Mission nicht nur für die Geschäftsleute, die Bilder der Göttin und ihres Tempels herstellten und als Souvenir verkauften, eine Bedrohung darstellt, sondern auch den Tempel der Großen Göttin, ,>die ganz Asien, ja alle Weh verehrt« (19,27), gefährdet. Im westlichen Kleinasien gab es viele jüdische Gemeinden, die großen Einfluß hatten. 19 Die Rechte, die zum Beispiel dem jüdischen politeuma von Sardis zugestanden werden, sind Illustration dafür, wie sehr sich Religion und Politik gegenseitig durchdringen. Der jüdischen Gemeinde wird erlaubt, ihre Gottesdienste zu halten und ihren angestammten Gesetzen zu folgen, ihren eigenen Kuhraum zu haben, vor eigenen Gerichten über interne Angelegenheiten zu entscheiden, die Halbe-SchekelSteuer nach Jerusalem zu entrichten und ihre Mitglieder gegenüber der kaiserlichen Regierung zu vertreten. Seit vielen Generationen sind die J üdInnen von Sardis in die Gesellschaft integriert und spielen im bürgerlichen Leben eine bedeutende und einflußreiche Rolle. Kraabel, der die Situation von jüdischen Gemeinden in Kleinasien untersucht hat, zeigt auf, daß Frauen angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Kleinasien waren. 20 Eine aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert stammende Grabinschrift aus Smyrna lautet: Rufina, Jüdin, Vorsteherin der Synagoge (archesynagogos), errichtete dieses Grab für ihre freigelassenen SklavInnen und die SklavIn~n, die in ihrem Haus aufgewachsen sind. Keine/r sonst hat das Recht, eine Person [hier] zu begraben. Wenn eine/r dies wagen sollte, muß sie/er 1500 Denare an den Tempelschatz und 1000 Denare an das jüdische Volk zahlen. Eine Kopie dieser Inschrift wird im Archiv verwahrt. 21 Diese Inschrift gibt uns einen Hinweis darauf, welch einflußreiche Stellung Frauen in jüdischen Gemeinden hatten. Mindestens einige 19 V gl. M. Stern, The J ewish Diaspora, in: S. Safrai/M. Stern (Hg.), The J ewish People in the First Century, Philadelphia 1974, Bd. I, 143 - I 55 . 20 Vgl.A. T. Kraabel,Judaismin Western Asia Minorunder the Roman Empire, with a Preliminary Study of the Jewish Community at Sardis, Lydia, Harvard University 1968 (ThD diss.), 42- 50; vgl. auch S. E. Johnson, Asia Minor and Early Christianity, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and Other Greco-Roman Cults, Leiden 1975, Bd. 2, 77-145.98. 21 C II 741 (= IGR IV, 1452; griech.). Zur Untersuchung dieserInschriftvgl. Bernadette Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue, Chico, Calif. 1982, 5ff, erstmals: Inscriptinal Evidence for Women as Leaders in the Ancient Synagogue, in: SBL Seminar Papers 20 (1980) Iff.
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Frauen verfügten über so viel Vermögen, daß sie aus eigenen Mitteln Synagogen bauen, SklavInnen besitzen und freilassen und führende Amtsträgerinnen der Synagoge sein konnten. Als Vorsteherin der Synagoge hatte Rufina für die korrekte Durchführung des Gottesdienstes in der Synagoge zu sorgen, Geld zu beschaffen, zu predigen und zu lehren. Asiatische Frauen, die sich vom Judentum oder von ihrer angestammten Religion zum Christentum bekehrten, dürften erwartet haben, daß sie in der christlichen Gemeinde ebenso viel Einfluß haben würden. Vor allem wohlhabende Frauen dürften ihren Enfluß in der Gemeinde als selbstverständlich vorausgesetzt haben, da ihre Kultur und Religion sie für die Übernahme bedeutender Positionen im bürgerlichen Leben und in religiösen Institutionen sozialisiert hatte. Von Plinius wissen wir jedoch, daß das Leitungsamt in der christlichen Gemeinde nicht auf wohlhabende und freie Matroninnen beschränkt war, sondern daß bei den ChristInnen auch Sklavinnen Leitungsfunktionen innehatten. Die Pastoralbriefe und die Briefe des Ignatius zeigen, daß solche SklavInnen von der christlichen Gemeinde erwarteten, deshalb freigekauft zu werden, weil sie »Schwestern/Brüder« - Vollmitglieder der neuen christlichen Familie - sind. Die Verdrängung von Frauen aus der Gemeindeleitung und die fortdauernde Unterdrückung von versklavten und armen Menschen, besonders Frauen, im Namen des Christentums sind in ihrer Dynamik miteinander verflochten und haben beide ein- und dieselben Wurzeln in den patriarchalen Herrschafts- und Unterdrückungs strukturen der griechisch-römischen Gesellschaft.
7. Kapitel Christliche Mission und patriarchale Haushaltsordnung Wie wir gesehen haben, zog die in der Hauskirche gelebte Nachfolgepraxis von Gleichgestellten besonders SklavInnen und freie Frauen zum Christentum hin. Wie wir ebenfalls gesehen haben, bewirkte sie aber auch Spannungen und Konflikte mit dem herrschenden kulturellen Ethos des patriarchalen Haushalts. Es stimmt, daß Frauen und Männer, SklavInnen und Freigeborene, AsiatInnen, GriechInnen und RömerInnen uneingeschränkt und voll am Kult der Großen Göttin teilnehmen konnten. In einem solchen religiösen Kontext war das Taufbekenntnis von Gal 3,28 keineswegs utopisch. Aber im Unterschied zum öffentlichen Kult der Göttin waren bei den ChristInnen der öffentlich-religiöse Bereich der Kirche und der private Bereich des Hauses nicht voneinander geschieden. Insofern sich ChristInnen als die neue Familie verstanden" und dieses Selbstverständnis in der Hauskirche institutionell zum Ausdruck brachten, waren öffentlich-religiöser und privat-religiöser Bereich nicht mehr getrennt. Tatsächlich ersetzte in der Hauskirche das religiöse Ethos des Gleichgestelltseins das patriarchale Ethos des Haushalts und geriet in Konflikt mit diesem patriarchalen Ethos. So bot die christliche Missionsbewegung eine zur herrschenden Gesellschaft und Religion alternative Vision und Praxis.
Der Brief an die Gemeinde zu Kolossä und die Haustafel Der von einem Paulus-Schüler geschriebene'3 Brief an die KolosserInnen zitiert zwar GaI3,28, verändert den Text aber beträchtlich. Überdies hebt er ihn durch eine Haustafel der patriarchalen Unterwerfung wieder auf. Die Beziehung zwischen JüdInnen und HeidInnen war für den Verfasser kein großes Problem und kein besonderes Anliegen mehr. Zur Zeit der Abfassung des Briefes hatte die Trennung zwischen jüdischen und christlichen Gemeinden vermutlich bereits stattgefunden. Der Brief an die Ge22 Einen Überblick über neutestamentliche Schriften gibt R. Hamerton-Kelly, God the Father. Theology and Patriarchy in the Teaching of Jesus, Philadelphia I979, 8299· 23 Vgl. E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, 249-257. Zum Ver-
gleich von KolosserInnenbrief und paulinischer Theologie vgl. Kolosserbrief, Gütersloh I97I, II-28 und I53-I82.
J. Lähnemann, Der
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meinde zu Kolossä nennt, wenn er die Taufformel zitiert'4, die GriechInnen an erster Stelle und erläutert den zweiten Teil des Gegensatzpaares »Beschneidung und Unbeschnittensein« durch »BarbarIn und SkythIn«, um zu betonen, daß in der erneuerten Menschheit Christi nationale und kulturelle Unterschiede und Ungleichheiten überwunden sind. Da die SkythInnen die sprichwörtlichen »BäuerInnen« der Antike waren, ist es offensichtlich, daß der Verfasser des Briefes an die Gemeinde von Kolossä besonders an dem Gegensatzpaar »GriechIn - Barbarln« interessiert ist. Während das dritte Begriffspaar in Gal 3,28 - männlich und weiblich - überhaupt nicht erwähnt wird, löst Kol 3,11 auch die Polarisierung SklavIn - Feie/r auf, die sich auf sozialpolitisch gegensätzliche Schichten bezieht. Ko13,1 1 stellt SklavInnen und Freie nicht mehr als soziale Gegensätze einander gegenüber, sondern listet sie in der Aufzählung von Unbeschnittenen auf: Barbarln, SkythIn, SklavIn oder Freie/r. Obwohl sich der Brief an die Gemeinde von Kolossä noch auf die Taufliturgie und -theologie der kleinasiatischen Kirchen bezieht, feiert er weniger die Wiederherstellung der menschlichen Gleichheit in der neuen Gemeinde, als vielmehr ein kosmisches Ereignis, in dem gegensätzliche Elemente des Universums miteinander versöhnt wurden. 25 Die sogenannte enthusiastische Theologie, die den GegnerInnen des Paulus in Korinth zugeschrieben wird, kommt hier zum Zuge. Taufe bedeutet Auferstehung und Inthronisation mit Christus im Himmel durch das »Ablegen des Fleischesleibes« (2,11) und ein Leben im Himmel, nicht auf der Erde (2,1-4; vgl. 2,12.20). Die Getauften sind »aus der Gewalt der Finsternis gerettet und in das Reich des >Sohnes< seiner Liebe versetzt« (1,13). Sie sind der Welt gestorben, ihnen wurde Geheimwissenoffenbart (1,26f; 2,2f) und ein Leben mit den Heiligen im Reich des Lichts zugesichert. Der Verfasser des Briefes an die Gemeinde von Kolossä stimmt mit seinen Adressatinnen in dieser Theologie der Erhöhung überein. Doch darüber, wie das »symbolische Universum« und das Geschehen der Taufe in Erinnerung gehalten und wirksam gemacht werden soll, ist er anderer Meinung als einige KolosserInnen. Während in der Gemeinde von Kolossä einige Mitglieder glaubten, daß das »Abtun des Fleisches« und die in der Taufe »erneuerte Menschheit« durch asketische Übungen und strenge Beobachtung von Riten verwirklicht werden muß, betont 24 Lohse (a.a.O., 197-210) argumentiert, die Reihe sei aus der Tradition übernommen worden, während jedoch die Tradition darauf bestehe, daß mit der wiedererneuerten Menschheit und der wiedererneuerten Schöpfung, die in der neuen Gemeinde gegenwärtig sind, »auch der Gegensatz der sozialen Stellung überwunden« ist, verstehe der Brief an die KolosserInnen das »einen neuen Menschen Anziehen« moralisch. 25 VgL v. a. W. A. Meeks, In One Body. The Unity of Humankind in Colossians and Ephesians, in:Jervell!Meeks, God's Christ and His People, 209-221.
7. Kapitel
der Verfasser des Briefes die Endgültigkeit der Versöhnung und Einheit mit Christus. Die neue »Religion der Engel« und das Leben im Himmel seien nicht durch asketische und rituelle Übungen zu verwirklichen, sondern durch ethisches Verhalten und im Gemeinschaftsleben. 26 Da sie mit Christus auferstanden sind, sollen sie suchen und trachten nach dem, »was droben ist«. Dies tun sie, indem sie "Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung und Schandrede« »ablegen« und »herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld« »anlegen«. Vor allem aber sollen sie die Liebe anziehen, »die das Band der Vollkommenheit ist« (3,5- 17). Sie sollen sich gegenüber Außenstehenden »weise« verhalten und allen Rede stehen können (4,5f). Dies ist der Kontext der Haustafel (3,18-4,1), die sich hier im Neuen Testament zum ersten Male findet. Die grundlegende Formel dieser Haustafel besteht aus drei Paaren wechselseitiger Ermahnungen, die das Verhältnis von Ehefrau und Ehemann, von Kindern und Vater, von SklavInnen und Sklavenhaltern ansprechen. Jedesmal wird die sozial untergeordnete erste Hälfte des Paares ermahnt, dem übergeordneten zweiten, der in allen drei Fällen ein und derselbe Paterfamilias ist, gehorsam zu sein. Die formale Struktur einer solchen Haustafel besteht also aus Anrede (ihr Frauen), Ermahnung (ordnet euch euren Männern unter) und Begründung (wie es sich geziemt »im Herrn«). Das einzige christliche Element in der Haustafel des Briefes an die KolosserInnen ist der Zusatz »im Herrn«!7 Der Verfasser des Briefes an die KolosserInnen zitiert diese Haustafel hier jedoch nicht deshalb, weil es ihm um das Verhalten von Ehefrauen, sondern weil es ihm um das Verhalten von SklavInnen geht. Die Erweiterung des dritten Gegensatzpaares, SklavIn - Herr, zeigt, daß der Verfasser großes Interesse daran hat, daß christliche SklavInnen gehorchen und die Sklaverei akzeptieren!8 Der Brief an die KolosserInnen bittet die SklavInnen, ihre Aufgaben mit Einfalt des Herzens und Hingabe zu erfüllen »wie etwas, das sie für ,den< Herrn tun und nicht für Menschen« (3,23). Er verspricht nicht nur eschatologische Belohnung für solches Verhalten, sondern droht auch eschatologisches Gericht und Strafe für schlechtes Verhalten an (3,24f). Die Anweisung an die Herren 26 Zu den zahlreichen Versuchen, die »GegnerInnen« der KolosserInnen zu identifi-
zieren, vgl. F. O. Francis/W.A. Meeks (Hg.), Conflict at Colossae, Missoula, Mont. I973 (SBLSBS 4). 27 Lohse (Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, 223) argumentiert jedoch, daß diese Hinzufügung »nicht lediglich eine formelhafte Wendung« sei. »Sondern alles Leben, Denken und Handeln der Glaubenden wird der Herrschaft des Kyrios unterstellt.« 28 Vgl.J. E. Crouch, The Origin and Intention of the Colossian Haustafel, Göttingen I972 (FRLANT I09), I50f.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
dagegen ist sehr kurz und hat keine christlichen Elemente außer der Erinnerung, daß auch sie einen» Herrn« im Himmel haben. Das V erhalten der SklavInnen wird hier mit dem Dienst Christi, »ihres Herrn«, die Sklavenherren aber werden mit »dem Herrn« im Himmel verglichen. Für den Verfasser des Briefs an die Gemeinde von Kolossä ist offensichtlich das gehorsame Verhalten von SklavInnen die konkrete Verwirklichung von Gal 3,28, SklavInnen und Freigeborene haben beide ein und denselben »Herrn«, Christus, im Himmel und gehören der geretteten Menschheit an, die »mit Christus in Gott verborgen« ist (3,3). Fraglos hat E. A. Judge recht, wenn er feststellt, daß wir in diesen Anweisungen »die Stimme der besitzenden Klasse«29 hören. Aber es bleibt unklar, ob die, die auf Erden SklavenherrInnen sind, nur die heidnischen SklavenherrInnen waren oder ob es auch christliche Skalvenhalterlnnen gab. Die Ermahnung an die SklavenherrInnen scheint aber vorauszusetzen, daß sie ChristInnen waren, die christliche oder auch nichtchristliche SklavInnen hatten. Dadurch daß der Brief an die Gemeinde von Kolossä die griechisch-römische Ethik der patriarchalen Haustafeln übernimmt, spiritualisiert und moralisiert er nicht nur das Gemeindeverständnis, das in Gal 3,28 zum Ausdruck kommt, sondern macht die Ethik des griechisch-römischen Haushalts zum Bestandteil »christlicher« Sozialethik. Es ist jedoch wichtig zu beachten, daß solche Neuinterpretation des christlichen Taufverständnisses erst später ist - und zwar nicht vor dem letzten Drittel des ersten Jahrhunderts. Überdies findet sie sich nur in der nachpaulinischen Tradition, also nur in einem kleinen Ausschnitt der frühchristlichen Tradition, und hatte keine Auswirkung auf die J esustraditionen. Das Bestehen auf Gleichgestelltheit und Gegenseitigkeit in der christlichen Gemeinde, das wahrscheinlich von der Gruppe der Frauen und der Gruppe der SklavInnen zum Ausdruck gebracht worden ist, ist nicht auf spätere »enthusiastische Ausschreitungen«3o oder auf illegitime Agitation für Emanzipation zurückzuführen. Gerade das Gegenteil trifft zu: Der Brief an die Gemeinde von Kolossä zeigt, wie eine sogenannte »enthusiastische« eschatologische Perspektive dazu führen kann, daß im Namen J esu Christi auf patriarchalem Verhalten bestanden und der etablierte status quo von Ungleichheit und Ausbeutung akzeptiert werden kann. Die Frage nach dem Sitz im Leben der Haustafeln wird in der Exegese unterschiedlich beantwortet. Während einige wenige ExegetInnen die Forderungen nach Gehorsam und Unterwerfung von Frauen, Kindern und SklavInnen für genuin christlich halten, sieht die Mehrheit die Haus29 E. A. Judge, The Social Pattern of Christian Groups, London 1960, 60 und 71 (deutsch: Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft). 30 Vgl. Crouch, Origin and Intention, 141.
7. Kapitel
tafeln als spätere christliche Bearbeitung eines griechisch-römischen oder jüdisch-hellenistischen philosophisch-theologischen Schemas an. Während Dibelius (vgl. auch Weidinger und Lohse) die Ansicht vertritt, die Haustafel im Brief an die Gemeinde von Kolossä sei eine nur geringfügig christianisierte Version eines stoischen Schemas sittlicher Unterweisung, haben Lohmeyer und Crouch den jüdisch-hellenistischen Ursprung der Haustafel in einem apologetisch-missionarischen Kontext betont. Nicht die Stoa sondern orientalisch-jüdische Religion liefern den Hintergrund für die Haustafel. Indem ChristInnen dieses Schema übernahmen, folgten sie dem Beispiel des hellenistischen Judaismus und benutzten die in der judenchristlichen Missionsapologetik entwickelte Form der HaustafelY Wissenschaftlerlnnen haben auf die Abhandlungen über Wirtschaft und Politik hingewiesen, die die Form wiedergeben, die sich bereits bei Aristoteles findet und in den philosophischen Schulen und Morallehren des ersten Jahrhunderts n. u. Z. beheimatet ist. Thraede betont, daß die Moralisten des frühen Imperiums eine Ethik zu formulieren suchten, die einen Ausgleich zwischen den absoluten, traditionellen Forderungen nach Unterordnung und Gehorsam gegenüber dem Paterfamilias und den Gleichheitsidealen, die im hellenistischen Zeitalter formuliert wurden, finden soll. In der Haustafelform des N euen Testaments komme die Option für einen ethisch gemilderten und humanisierten Begriff von Herrschaft und Ordnung zum VorscheinY Aber während Lührmann betont, daß der Sitz im Leben von Form und Topos der Bereich der Ökonomie 33 mit seinen indirekten Implikationen für den politischen Bereich ist, beleuchtet Balch den politischen Kontext der Lehren über die rechte Ordnung von Haushalt und Wirtschaft. 34 Beide sind miteinander verflochten, weil in der Antike der wirtschaftlich unabhängige, autarke und 31 Vgl. den ausgezeichneten Überblick über Entwicklung und Stand der Forschung zu den Haustafeln bei Crouch, Origin and Intention, 9-36, und die Schlußfolgerungen, die er selbst zieht (146- I 5I); vgl. auch W. Schrage, Zur Ethik der Neutestamentlichen Haustafeln, in: New Testament Studies 2I (1974-75) 1-22; W. Lillie, The Pauline House-tables, in: Expository Times 86 (1975) 179-183; E. Schweizer, Die Weltlichkeit des Neuen Testaments. Die HaustafeIn, in: H. Doner/R. Hanhardt/R. Smend (Hg.), Beiträge zur Alttestamentlichen Theologie. Festschrift für Walther Zimmerli, Göttingen 1977, 397-413. 32 Vgl. K. Thraede, Zum historischen Hintergrund der »Haustafeln« des NT, in: Jahrbuch für Antike und Christenrum, Ergänzungsband 8 (1981) 359-368.365. 33 Vgl. D. Lührmann, >,Wo man nicht mehr Sklave und Freier ist. Überlegungen zur Strukrur frühchristlicher Gemeinden«, in: Wort und Dienst 13 (1975) 53-83; ders., Neutestamentliche Haustafeln und antike Ökonomie, in: New Testament Srudies 27 (19 81 ) 83-91. 34 Vgl. D. L. Balch, Let Wives Be Submissive. The Domestic Code in I Peter, Chico, Calif. 1981 (SBLM 26).
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hierarchisch geordnete Haushalt die Basis des Staates war. Daher standen die drei Topoi »über den Staat«, »über den Haushalt« und "über die Ehe« in engem Zusammenhang. 35 Aristoteles, der die westliche Philosophie wie auch das deutsche und amerikanische Recht entscheidend beeinflußt hat36, argumentiert gegen Plato, daß die Diskussion der Politik mit dem Nachdenken über die Ehe beginnen müsse, in der sich nach seiner Definition »ein von Natur Beherrschendes und ein von Natur Beherrschtes« verbindetY Wenn zur Familie SklavInnen hinzukommen, kann sie »Haus« genannt werden. Mehrere Haushalte bilden ein Dorf und mehrere Dörfer einen Staat, eine politeia: Da nun jede Sache zuerst in ihren kleinsten Teilen untersucht werden muß und die kleinsten Teile der Familie Herr und Sklave (SklavIn, d. Ü.), Mann und Frau, Vater und Kinder sind, so wären diese drei Verhältnisse in Betracht zu nehmen, und zu untersuchen, was jedes von ihnen seinem Wesen nach ist und wie beschaffen es sein muß. (Politik I, 12 53 b) Es gehört zur Haushaltslehre, daß der Hausherr über die freigeborene Frau und die freigeborenen Kinder herrscht. Diese Herrschaft wird jedoch nicht in gleicher Weise ausgeübt. Während der Vater über seine Kinder wie ein Monarch herrscht, übt der Ehemann über seine Ehefrau Kontrolle und Führung wie eine republikanische Regierung aus. Denn das Männliche ist von Natur mehr zur Leitung und Führung geeignet als das Weibliche ... und das Ältere und Vollendete mehr als das Jüngere und Unvollendete. Nun wechselt in den meisten Freistaaten Herrschendes und Beherrschtes miteinander ab ... Nun aber verhält sich das Männliche zu dem Weiblichen in dieser Weise immer. (Politik I, 12 59 b) Dem Argument, die Sklaverei stehe im Widerspruch zum Naturrecht, entgegnet Aristoteles mit Hinweis auf die Herrschaft der Seele über lien Leib. 35 Vgl. F. Wilhelm, Die Oeconomia der N eupythagoräer Bryson, Kallikdratidas, Periktione, Phintys, in: Rheinisches Museum 70 (I9I 5) I6I-233.222. 36 Vgl. bes. S. Malter Okin, Women in Western Political Thought, Princeton I979, 234-3°3· 37 Zum gesamten Abschnitt vgl. Okin, Wornen in Western Political Thought, I5-96 (zu Plato und Aristoteles), und Baleh, Let Wives Be Subrnissive, 33- 38. Aristoteies ist hier zitiert nach: Aristoteles, Politik, hg. v. Eugen RoHes, Harnburg I958.
7. Kapitel
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Es liegt am Tage, daß es für den Leib naturgemäß und nützlich ist, von der Seele, und ebenso für das Subjekt der Gefühle, vom Verstande und dem vernunftbegabten Teile beherrscht zu werden, wohingegen eine Gleichstellung oder umgekehrte Stellung allen Seelenteilen schädlich wäre ... Endlich verhält sich Männliches und Weibliches von Natur so zueinander, daß das eine das Bessere, das andere das Schlechtere und das eine das Herrschende und das andere das Dienende ist. Ganz ebenso muß es nun mit dem gegenseitigen Verhältnis der Menschen überhaupt bestellt sein. Die so weit voneinander abstehen, wie die Seele vom Leibe und der Mensch vom Tiere ... sind Sklaven von Natur, und es ist ihnen besser, sich in dieser Art von Dienstbarkeit zu befinden .... (Politik I, 1254b) Diese »natürlichen« Unterschiede bezeichnen patriarchale Herrschaftsbeziehungen in Haushalt und Staat, so daß es von Natur mehrere Klassen von Herrschenden und Dienenden gibt. Denn auf je andere Weise herrscht das Freie über das, was Sklave ist, und herrscht das Männliche über das Weibliche und herrscht der Mann über das Kind. Und in ihnen allen finden die Seelenteile sich zwar, aber sie finden sich mit Unterschied. Der Sklave hat das Vermögen zu überlegen überhaupt nicht, das Weibliche hat es zwar, aber ohne die erforderliche Entschiedenheit, und das Kind hat es auch, aber noch unentwickelt. (Politik I, I26oa) Interessanterweise kennt Aristoteles eine Ausnahme, in der Frauen mit »Autorität« herrschen können: Gewöhnlich ist das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau einer »Aristokratie« ähnlich, aber wenn der Ehemann alles beherrscht, schlägt es um in »Oligarchie«, »denn dies vollzieht sich gegen die Würdigkeit und nicht insofern der Mann besser ist.« Zuweilen »herrschen aber auch die Frauen, wenn sie Erbtöchter sind. Da ist die Herrschaft nicht von der Tüchtigkeit, sondern von Reichtum und Macht abgeleitet, wie in den Oligarchien.« (Aristoteles, Die Nikomachische Ethik VIII, n6ob). Da jedoch jeder Haushalt Teil des Staates ist, wird der Staat gefährdet, wenn die verschiedenen Formen der Herrschaft im Haushalt nicht genau beachtet werden. Ferner schadet die zu schlaffe Zucht der Weiber gleichmäßig der gewählten Staatsform und dem Wohle des Gemeinwesens. Wie Mann und Weib (!) je einen Teil des Hauses bilden, so muß offenbar auch der Staat als in zwei nahezu gleiche Teile geteilt gelten, in die männliche
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und in die weibliche Bevölkerung, und wo es darum in einer Verfassung mit den Verhältnissen der Weiber (!) übel bestellt ist, da muß man urteilen, daß die Hälfte des Staates der gesetzlichen Ordnung entbehrt. Und dies ist dort wirklich der Fall. Da der Gesetzgeber den ganzen Staat zur Sittenstrenge anleiten wollte, so hat er diese seine Absicht in bezug auf die Männer deutlich kundgegeben, um die Weiber (!) aber hat er sich gar nicht bekümmert. (Politik II, I269b) Dies war in Sparta der Fall, wo Frauen ihr eigenes Vermögen verwalteten. Obwohl die Männer in Sparta versuchten, ihre Frauen unter das herrschende Gesetz zu zwingen, gaben sie nach, als die Frauen Widerstand leisteten. Sie liebten und schätzten den Reichtum und standen unter dem Einfluß ihrer Frauen. Es lag ein gutes Stück der Regierung in den Händen der Frauen, und die Regierenden ließen sich von den Frauen befehlen! Diese Bemerkungen zeigen deutlich, daß Aristoteles einen historischen Staat kannte, der anders konstituiert war. Obwohl der negative Einfluß des Aristoteles auf die christliche Anthropologie heute weithin erkannt ist38 , wird nicht genügend berücksichtigt, daß diese Anthropologie im aristotelischen Verständnis von Herrschaft wurzelt. So wie Aristoteles das »natürliche Wesen« der SklavInnen in Hinsicht auf ihren Status als Besitz und auf ihre ökonomische Funktion definiert, so versteht er das »natürliche Wesen der Frau«: Sie hat nicht die volle Autorität zur Herrschaft. Diese Definition nimmt Aristoteies vor, obwohl er sich sehr wohl bewußt ist, daß Herrschaft von Frauen eine tatsächliche historische Möglichkeit und Realität war. Die aristotelische Definition des »natürlichen Wesens der Frau« und der »wesensgemäßen Stellung der Frau« wurzelt also in einem bestimmten Herrschafts- und Unterordnungsverhältnis von Ehemann und Ehefrau, das einen konkreten politischen Hintergrund und Zweck hat. Der abendländische Frauenhaß hat seine Wurzel in der patriarchalen Ordnung des Haushalts, die das Modell für den Staat liefert. Feministische Theologie muß daher nicht nur den anthropologischen Dualismus analysieren, den die abendländische Kultur und Theologie hervorgebracht haben, sondern auch dessen politische Wurzeln im patriarchalen Haushalt der Antike aufdecken. BaIch trägt beachtliches Beweismaterial dafür zusammen, daß die politische Philosophie des Aristoteles in der neopythagoräischen und stoischen Philosophie wiederbelebt worden ist. 39 Sie wurde auch im helleni38 Vgl. z. B. K. E. B0rresen, Subordination and Equivalence. The Nature and Role of Women in Augustine and Thomas Aquinas, Washington, D. C. I98 I. 39 Vgl. D. L. Baleh, Household Ethical Codes in Peripatetic, Neophythagorean and Early Christian Moralists, in: SBL Seminar Papers I I (I977) 397-404.
7. Kapitel
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stischen Judentum übernommen, wie die Schriften von Philo und Josephus zeigen. So betont Philo beispielsweise die enge Verknüpfung von Haushaltsführung und Staatsführung: Er sollte nämlich, daß er zum Staatsmann bestimmt war, vorher auch in den Geschäften der Hausverwaltung tüchtig eingeübt werden; das Haus ist ja ein Staat im Kleinen und die Hausverwaltung eine kleine Staatsverwaltung ... Daraus folgt, daß Hausverwalter und Staatsmann eins und dasselbe sind. (Philo, Über J oseph, } 8f) Und in »Über die Einzelgesetze« stellt er fest: ... es gibt zwei Arten städtischer Gebilde, größere und kleinere: die größeren heißen Städte, die kleineren Hauswesen; von diesen beiden haben auf Grund einer Teilung die Männer die Leitung der größeren, die man Stadtverwaltung nennt, die Frauen die der kleineren, die Haushaltung genannt wird. Die Frau soll sich also um weiter nichts kümmern als um die Obliegenheiten der Haushaltung; sie soll sich eines zurückgezogenen Lebens befleißigen und nicht wie eine umherziehende Dirne auf den Straßen den Blicken fremder Männer sich aussetzen ... (Philo, Über die Einzelgesetze III, 17of) Philo betont nachdrücklich, daß JüdInnen gottesfürchtig sind, daß sie Vater und Mutter ehren und daß Ehefrauen ihren Männern dienen müssen. Crouch 40 hat jedoch argumentiert, daß die engste Parallele zu den neutestamentlichen Haustafeln Hypothetica VIII, 7,14 ist: Jede/r von ihnen, den du angreifst und nach den überkommenen Institutionen fragst, weiß schnell und mühelos zu antworten. Der Ehemann scheint fähig, seiner Ehefrau das Wissen über die Gesetze weiterzugeben, ebenso der Vater seinen Kindern und der Herr seinen SklavInnen. In seiner Untersuchung der politeia des Moses im Vergleich zu der des Romulus betont Josephus, daß die jüdischen Gesetze nicht Pietätlosigkeit sondern Frömmigkeit, nicht Haß auf andere sondern Gemeindeleben fordern. Sie wenden sich gegen Ungerechtigkeit und lehren Gerechtigkeit, sie halten vom Krieg ab und ermuntern die Menschen zum Arbeiten. Daher gibt es nirgends mehr Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Harmonie als bei den JüdInnen. In ihren Ehegesetzen und bei der Geburt und Erziehung der Kinder erfüllen die JüdInnen die Gesetze der politeia des 40 Vgl. Crouch, Origin and Intention, 8rf.
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Romulus, die die Römer dem ganzen Imperium auferlegt hatten. Jüdische Frauen sind gute römische Bürgerinnen: Die Frau, so sagt das göttliche Gesetz, ist in allen Dingen dem Mann unterlegen. Sie sei folglich untertan, nicht zu ihrer Erniedrigung, sondern damit sie gelenkt werde, denn die Autorität ist von Gott dem Mann gegeben worden. (Gegen Apion II, 201) Da die JüdInnen dafür kritisiert wurden, daß Moses, der Gründer des jüdischen Staates, eine Revolte entfacht und andere Ehe- und Begräbnisgesetze eingeführt hat, betont Josephus 4 " daß jüdische Ehefrauen - anders als die Frauen von Sparta - ihren Ehemännern völlig untertan sind. Diese Aussage hat deutlich apologetisches Interesse - was auch für Philo zutrifft. Dionysos von Halicarnassus hat in ähnlicher Weise die Stellung von Frauen in der politeia des Romulus detailliert ausgeführt: Das Gesetz leitete die Frauen zu zurückhaltendem und hochanständigem Betragen an. Zu diesem Zweck war es Gesetz, daß eine Frau, die ihrem Mann durch heilige Ehe verbunden worden war, an seinem gesamten Besitz teilhaben und sich an seinen sakraien Riten beteiligen sollte ... Dieses Gesetz verlangte von den verheirateten Frauen, daß sie sich - da sie keine andere Zuflucht hatten - völlig dem Charakter ihrer Ehemänner anpaßten, und verpflichtete gleichzeitig die Ehemänner, ihre Ehefrauen als notwendigen und untrennbaren Besitz zu leiten. Folglich war eine Ehefrau, wenn sie tugendhaft und in allen Dingen ihrem Ehemann gehorsam war, im selben Maß Herrin des Hauses, wie ihr Ehemann Herr des Hauses war, und nach dem Tod ihres Ehemannes war sie die Erbin seines Besitzes. (Antiquitates Romanae II, 25,2) Thraede weist jedoch zurecht darauf hin, daß wir nicht übersehen dürfen, daß sich neben dieser aristotelischen Unterwerfungs- und Herrschaftsethik gleichzeitig ein Eheethos entwickelt hat, das die Harmonie zwischen den EhepartnerInnen betonteY Plutarch beschreibt die ideale Ehe als PartnerInnenschaft. So muß die Frau mit dem Mann und der Mann mit der Frau Freude und Leid teilen; durch die Zuneigung, die sie im Wechsel einander erweisen, muß ihre Gemeinschaft fester werden, wie zwei Bänder durchs 41 Vgl. a.a.O., 83; vgl. auch D. L. Baleh, ]osephus, Against Apion Ir. 145-295, in: SBL Seminar Papers 9 (1975) Bd. I, 187-192. 42 Vgl. Thraede, Zum historischen Hintergrund, 364; vgl. auch ders., Gleichheit, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978) 122-164; vgl. Plutarch, Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften, Zürich 1948,98.
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Zusammenknüpfen einander ihre Stärke mitteilen. (Pflichten von Ehegatten, 141) Obwohl die Ehefrau eindeutig die dem Ehemann Untergeordnete ist, soll der Ehemann sie in Philosophie unterrichten, und sie soll ihn als »Führer, Philosophen und Lehrer in allem, was schön und göttlich ist, respektieren«. Sie solle nicht gekränkt sein, »wenn sie - wie die Flötenspielerin - mittels einer anderen Stimme als ihrer eigenen eindrucksvoller klingt.«43 Deshalb soll sie sich immer bescheiden und zurückhaltend benehmen, in der Öffentlichkeit nur mit ihrem Mann erscheinen, in ihrer Rede zurückhaltend sein und übertriebenen Schmuck und Luxus vermeiden. So rät der Neopythagoräer Kallikratidas den Männern, Jungfrauen in der Blüte ihrer Jugend (zwischen 12 und 15 Jahren) zu heiraten, denn solche Jungfrauen sind leicht zu formen, sie sind gelehrig und von N atur aus dazu veranlagt, sich Anweisungen geben zu lassen und ihre Männer zu fürchten und zu lieben. Wenn der Ehemann bewundert und geliebt werden möchte, dann soll er seine Macht so ausüben, daß sie sich mit Vergnügen und Verehrung mischen kann; Vergnügen allerdings entsteht durch seine Zärtlichkeit, und Verehrung wird dadurch bewirkt, daß er nichts Abstoßendes und Gemeines tut. 44 Die Ehe wird glücklich sein, wenn Ehemann und Ehefrau in guten und schlechten Zeiten miteinander in Einklang stehen. Die Rolle des Ehemannes ist die Rolle des Herrn, Lehrers und Lenkers, die Frau soll sich klug, bescheiden und respektvoll benehmen. Periktione betont, daß die Ehefrau die GöttInnen durch Gehorsam gegenüber den Gesetzen und sakralen Institutionen ihres Landes ehren soll. Sie soll ihre Eltern ehren und respektieren, mit ihrem Ehemann rechtlich und sozial zusammenleben und sich besonders darum bemühen, daß sie ihre Pflichten »in häuslicher Harmonie« erfüllt und die Hüterin seines Bettes ist, 43 Zu diesem Abschnitt vgl. K. Thraede, Ärger mit der Freiheit, in: G. Scharffenorthl K. Thraede, »Freunde in Christus werden ... «. Die Beziehungen von Mann und Frau als Frage an Theologie und Kirche, Gelnhausen 1977, 59-62, und bes. K. Q'Brien Wicker, First Century Marriage Ethics. A Comparative Study of the Household Codes and Plutarch's Conjugal Precepts, in: J. W. Flanagan/A. W. Robinson (Hg.), No Famine in the Land. Studies of Honor ofJohn L. McKenzie, MissoulaMont. 1975, 141153· 44 Zit. nach D. Balch, Let Wives Be Submissive. The Domestic Code in I Peter (Dissertationsfassung), Ann Arbor (University Microfilms) 1974, 102.
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dann wird sie nicht nur ihrem Ehemann Gewinn bringen, sondern auch ihren Kindern, ihrer Verwandtschaft, ihren DienerInnen und ihrem ganzen Haus, das Besitz, FreundInnen, StaatsbürgerInnen und Fremde umfaßt. 45 Plutarch hebt auch hervor, daß die Ehefrau nicht nur dieselben Freunde und Freundinnen, sondern auch dieselben Götter und Göttinnen wie ihr Ehemann haben soll. Sie muß daher »vor allen ausgefallenen Ritualen und allem ausländischen Aberglauben ihre Haustür fest verschließen. Denn kein/e GöttIn findet Gefallen an von einer Frau vollzogenen verstohlenen und geheimen Riten.« (14od)' Es ist daher offensichtlich, daß in der Antike die Ordnung des Großhaushalts - ebenso wie religiöse Riten und angestammte Bräuche - als Teil des wirtschaftlichen und politischen Lebens zu verstehen ist. Das Wohlergehen des Staates und .die religiöse Befolgung der Gesetze und Bräuche in der patriarchalen Familie sind miteinander verflochten. SklavInnen und Ehefrauen, die die GöttInnen des Paterfamilias nicht verehren, verletzen nicht nur ihre Pflichten im Haushalt, sondern auch die Gesetze des Staates.
Der I. Petrusbrief und die Haustafel Die Haustafel in IPetr 2,II-3,I2 46 besteht formal nicht mehr aus drei I doppelten wechselseitigen Anordnungen, denn sie erwähnt nur noch SklavInnen, Ehefrauen und Ehemänner, aber nicht mehr Kinder und Eltern. Darüber hinaus betont sie hauptsächlich die Pflichten der untergeordneten Mitglieder des Haushalts. Ihr Kontext ist die griechisch-römische Diskussion über die politeia mit ihren drei Teilen: Diskussion der Pflichten gegenüber dem Staat, der Pflichten gegenüber dem Haushalt und der Pflichten gegenüber der Ehe. Die Erörterung des christlichen Lebens im I. Petrusbrief folgt deutlich dieser Dreiteilung. Sie beginnt mit der Forderung, sich jeder menschlichen Ordnung zu unterwerfen (2,1317), ermahnt dann SklavInnen, sich ihren Herren zu unterwerfen, selbst 45 A.a.O., 104· Zu herzlichen und liebevollen Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau siehe bes. die Briefe von Plinius d. J. an seine Frau Calpurnia, vgl. z. B. M. F. LeJkowitzlM. Fant (Hg.), Women in Greece and Rome, Toronto 1977, 184. 46 Neben Baleh (Let Wives Be Submissive) und Elliott (A Horne for the Homeless) vgl. auch K. H. Sehelkle, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief, Freiburg 1961 (HThKNT 1312),68-98; L. Goppelt, Der erste Petrusbrief, Göttingen 1978 (Meyer K I2h), 155226; N. Brox, Der erste Petrusbrief, Zürich - Neukirchen - Vluyn 1979 (EKKNT 2 I), 1II- 163·
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wenn diese hart und ungerecht sind (2, r 8- 2 5), und weist freie Ehefrauen an, sich ihren Ehemännern zu unterwerfen, selbst wenn diese Heiden sind und ihre negative Einstellung gegen die christliche Gemeinde dadurch zeigen, daß sie dem Wort nicht gehorchen (3,r-6). Während die TextsteIle keinerlei Mahnung an die Herren enthält, folgt den Ermahnungen der Ehefrau eine kurze Mahnung an den Ehemann (3,7). Zwar steht diese Anweisung im Stil einer Haustafel nicht - wie es im Brief an die Gemeinde von Kolossä der Fall ist - in Zusammenhang mit kosmischer Versöhnung und himmlischer Inthronisation, doch ist sie deutlich mit einer Anspielung auf Taufe und Taufunterweisung verbunden. Die ChristInnen sind »wiedergeboren« aus dem unvergänglichen, lebendigen Wort (r,2 3- 2 5). Sie sind auserwählt und heilig, sie sind die Geliebten, die zu einer unvergänglichen lebendigen Hoffnung berufen sind. Als neugeborene Babies sollen sie alle Bosheit und alle Laster »ablegen« (2,r) und als »Kinder des Gehorsams« (r,r4) leben, so daß sie »zum Heil heranwachsen«, denn sie haben ja schon »gekostet, wie gut >der< Kyrios ist« (2,2f). Als geistlicher Tempel, als priesterliches Volk Gottes sollen sie heilig sein, wie auch Gott heilig ist, »der« sie berufen hat. Sie sollen all ihre Sorgen auf Gott werfen, weil Gott es ist, »der« für sie sorgt (5,7). Als königliche PriesterInnenschaft sind sie ein heiliges politeuma, ein neues Volk, das durch den Tod Christi »befreit ist von dem eitlen von den Ahnen überkommenen Wandel« (r,r8). Hier kommt der Konflikt zwischen der christlichen Gemeinde und der Gesellschaft, in der diese lebt, zum Vorschein: Die ChristInnen haben ihre angestammten Bräuche und die GöttInnen ihrer heidnischen Haushalte verlassen und sich zu dem »lebendigen Stein« Jesus Christus hingewendet. Als »Gottes eigenes Volk« sind sie jetzt jedoch »in die Diaspora Verbannte«, Fremde und Immigrantlnnen. Als solche sind sie von ihrer eigenen Gesellschaft zutiefst entfremdet. Sie müssen mancherlei Prüfungen erleiden, werden verleumdet, wie Kriminelle behandelt und geschmäht. Sie werden daher ermahnt, ihrer Angst nicht nachzugeben, sich nicht vor denen zu fürchten, die sie ungerecht behandeln (3, r 3) oder verleumden könnten (3, r 6). Im Wissen, daß sie zu Gottes ewiger »doxa« (»Herr<
47 Vgl. N. Brox, Situation und Sprache der Minderheit im Ersten Petrusbrief, in: Kairas 19 (1977) 1-13·
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halts gestört hat. 48 Da keine » Herren« angesprochen werden, können wir davon ausgehen, daß die Mehrzahl der Gemeindemitglieder SklavInnen heidnischer Sklavenhalter und Ehefrauen heidnischer Ehemänner war. Wegen ihres abweichenden Lebensstils und ihres hohen Erwählungsbewußtseins wurden sie verfolgt. Der Verfasser des 1. Petrusbriefes versucht sie in ihren harten Prüfungen zu ermutigen und betont daher, daß ihr ungerechtes Leiden um Christi und ihres Lebensstils als »Gottes eigenes Volk« willen notwendig ist und nur kurze Zeit dauern wird. Gleichzeitig ermöglicht er ihnen eine »Strategie«49 zum Überleben inmitten der Prüfungen und Verfolgungen. Diese Strategie besteht darin, Gutes zu tun und sich als »gesetzestreue« BürgerInnen zu erweisen; sie setzt voraus, daß darüber, was »gut ist«, bei ChristInnen wie HeidInnen Einigkeit besteht und daß das Leiden der ChristInnen in einem »Mißverständnis« der HeidInnen wurzelt und nicht in einem Konflikt bezüglich des gesellschaftlich-religiösen Ethos}O Die Eigenart des christlichen Glaubens betont er nur insofern, als SklavInnen und ChristInnen bereit sein müssen, für ihr Christlnsein zu leiden. Jedoch sollen sie um der christlichen Mission willen danach streben, durch einen den Bräuchen und dem Ethos ihres heidnischen Haushalts und Staates völlig angepaßten Lebensstil Lei. den und Konflikte so weit wie möglich abzubauen. IPetr 2,12, der in den gesamten Abschnitt einführt, liefert den Schlüssel zur Interpretation der Vorschriften in dieser Haustafel : Geliebte, ich ermahne euch: Als Fremde und PilgerInnen ... führt einen guten Lebenswandel unter den HeidInnen, damit sie, während sie euch als ÜbeltäterInnen verleumden (besser: GesetzesbrecherInnen, d. V.), eure guten Werke sehen und am Tag der Heimsuchung Gott preisen. (2,IIa. 12) Der Autor faßt die gesamte Ermahnung mit folgenden Worten zusammen: 48 Etwa hundert Jahre später reflektiert Tertullian noch diese Situation: »Der Ehemann, der jetzt nicht mehr eifersüchtig zu sein braucht, verstößt seine nunmehr züchtig gewordene Gattin, der früher so geduldige Vater enterbt einen nunmehr gehorsamen Sohn, der früher so nachsichtige Herr verweist den nun treu gewordenen Skalven von seinem Angesicht. Sobald sich jemand unter dieser Bezeichnung bessert, stößt er an.« (Apologetikum 3,4). 49 Vgl. c. F. Sleeper, Political Responsibility According to I Peter, in: Novum Testamenturn IO (I968) 270-286.284ff. 50 Vgl. W. C. van Unnik, The Teaching of Good Works in I Peter, in: NewTestament Studies I (I954-55) 92-IIO; ders., Die Rücksicht auf die Reaktion der Nicht-Christen als Motiv in der altchristlichen Paränese, in: W. Ehester (Hg.), Judentum, Urchristentum, Kirche, Berlin I964 (BZNW 36), 22I-234.
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Ihren Schrecken fürchtet nicht und laßt euch nicht verwirren. Heiligt vielmehr Christus als» Herrn« in euren Herzen. Seid allezeit bereit zur Verantwortung (Apologie) gegen alle, die von euch Rechenschaft fordern über die Hoffnung, die in euch lebt. Aber tut das mit Sanftmut und Ehrfurcht und habt ein gutes Gewissen, damit, wenn ihr heruntergemacht werdet, die beschämt werden, die euren guten Wandel in Christus schmähen. Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, für gutes Tun (d. h. ein/e gute/r Christln und gutelr BürgerIn sein, d. V.) zu leiden als für böses Tun (d. h. Gesetze und Bräuche brechen, d. V.) (V4b- I 7)· Offensichtlich begreift der Verfasser die Haustafel als Form der Apologie des christlichen Glaubens)' Anders als Josephus und Philo jedoch, die solche Verteidigungs schriften gegen diejenigen schreiben, die die JüdInnen angegriffen haben, spricht der Verfasser des I. Petrusbriefes ChristInnen an, die machtlos und ohne rechtlichen Rückhalt sind, und drängt sie, sich dem politeuma Roms und seinen angestammten Bräuchen anzupassen. Auf diese Weise mindert der Autor die Spannung zwischen der christlichen Gemeinde und der patriarchalen Gesellschaft, weil diese Spannung genau dadurch entsteht, daß die Religion des Paterfamilias aufgegeben wird. Der Autor will sie in ihrer Zurückweisung der »alten Religion« stärken, aber er tut dies, indem er die neue Freiheit jener SklavInnen und Frauen aufgibt, die Mitglieder des neuen priesterlichen Volkes geworden sindY Er beschränkt diese Freiheit auf innerliche Freiheit, um ihnen selbst und der christlichen Minderheit als Gruppe das Überleben zu ermöglichen. Eine ganz andere Strategie wurde dagegen von dem prophetischen Autor des Buchs der Offenbarung gewählt, für den der Kaiser und Rom die Verkörperung des Antichrist waren. Rom mußte als einer unterdrückerischen Macht Widerstand geleistet werden - auch auf das Risiko von Gefangenschaft und Tod hin. Beide Schriftsteller schrieben ungefähr zur selben Zeit an ChristInnen in Kleinasien. Während der Verfasser des I. Petrusbriefes in seiner Ermahnung an die 5I Den apologetischen Charakter der Haustafe! hebt Baleh zu Recht hervor, während Elliott argumentiert, die Haustafe! sei »um der Gruppensolidarität und des Gruppenzusammenhalts willen« aufgestellt worden. (Elliott, Horne for the Home!ess, II I). »Die Haustafe! stellte auch die Mitte! zur Verfügung, um soziales Engagement und Verantwortlichkeiten innerhalb der Gruppe zu betonen und dadurch Gruppensolidarität zu fördern« (2II). Seine Argumente gegen Balch überzeugen jedoch nicht, da Balchs These nicht von seinem Vertrauen aufJosephus' Schrift »Gegen Apion« abhängt (vgl. 216). 52 Zur Klärung dieses Begriffs vgl. E. Sehüssler Fiorenza, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalyse, Münster 1972 (NTAbh 7), 51-
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SklavInnen auf Christi Beispiel und Leiden verweist, beruft er sich in seiner Ermahnung an die Ehefrauen auf das Beispiel der heiligen Frauen aus der Hebräischen Bibel. Sara, die die Mutter von ProselytInnen war, wird besonders hochgeschätzt, weil sie gehorsam war und Abraham »Herr« nannte. 53 Unterwerfung und stilles Benehmen von Ehefrauen werden in dieser prekären Situation als Überlebensstrategie empfohlen (fürchtet keine Einschüchterung!), dienen aber im Grunde genommen auch missionarischen Interessen. Dadurch daß sich Ehefrauen der patriarchalen Herrschaftsordnung unterwerfen, konnten sie ihre Ehemänner »ohne Worte« für das Christentum gewinnen. In Einklang mit den Idealen jener Zeit sollen Frauen nicht versuchen, ihre Ehemänner durch Lehren für das Evangelium zu bekehren und von ihrer christlichen Hoffnung zu überzeugen, sondern den Verleumdungen durch ihre Ehemänner mit stillem Benehmen begegnen. Nicht ihr Schmuck sondern ihr stiller Geist, der in der Unterwerfung unter den Ehemännern als ihren »Herrn« Frieden und Harmonie sucht, kann die Ehemänner vielleicht davon überzeugen, daß ihre Ehefrauen gesetzestreu und tugendhaft sind. 54 Durch ihr Verhalten werden sie die verleumderischen Angriffe gegen ChristInnen als falsch erweisen. Das patriarchale Muster der Unterwerfung zielt daher nicht in erster Linie darauf ab, die Ehefrauen auf ihre »eigentlichen«, »geziemenden« patriarchalen Rollen und Plätze zurückzudrängen, sondern versucht vielmehr, die Konflikte zwischen der christlichen Gemeinde und dem heidnischen patriarchalen Haushalt zu verringern. Besonders die Bekehrung von freien Ehefrauen und von SklavInnen rief solche Spannungen zwischen der christlichen Bewegung und ihrer heidnischen Gesellschaft hervor. Dieser Konflikt war ein Konflikt der Werte und der Prioritäten zwischen der christlichen Gemeinde und der patriarchalen Großfamilie: Das Christentum richtete wie alle evangelisierenden Religionen seine Botschaft an Einzelpersonen - an Männer, Frauen und Kinder. Die Strategie war deshalb vom christlichen Gesichtspunkt aus lebenswichtig und fast selbstverständlich: die historischen und immer noch tief verwurzelten Verwandtschafts bindungen so weit wie möglich abzuwerten und die Gemeinde der ChristInnen selbst als einzig wirkliche und wahre Form der Verwandtschaft anzubieten. 55 53 Vgl. H. L. Strack/Po Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 1926, Bd. 3,764; undL. Ginzberg, Legends oftheJews, Philadelphia 1913, Bd. 1,203. 54 Balch (Let Wives Be Submissive, 95-1°5) hat dokumentiert, wie sehr der ganze Abschnitt (3,1-7) von griechisch-römischem patriarchalen Ethos durchdrungen ist. 55 R. A. Nisbeth, The Social Philosophers. Community and Conflict in Western Thought, New York 1973, 178.
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Die von heidnischen Schriftstellern des zweiten Jahrhunderts vorgebrachte Beschuldigung, das Christentum zerstöre den Haushalt, weil es besonders Frauen, SklavInnen und junge Menschen anziehe, kann daher nicht einfach als unbegründete Verleumdung beiseitegeschoben werden, sondern muß ernst genommen werden. Nisbeth betont dies in Hinblick auf Frauen: Es gibt in der Tat einigen Grund für die Einschätzung, daß diese Religion im ersten Jahrhundert auf alle Fälle eine Art Frauenbefreiung mit sich brachte, nämlich aus der machtvollen und männlichen Orientierung der traditionellen Familie. Um zu erreichen, daß Frauen sich aus ihren Familienbanden lösen ... , war es notwendig, die Familie abzuwerten und gleichzeitig die Christenheit selbst als Familie - und zwar als Familie höchster Art - anzubieten. 56 Es wurde allgemein als Zeichen guter bürgerlicher Ordnung angesehen, daß SklavInnen ebenso wie Ehefrauen die Religion ihrer »Herren« oder Ehemänner praktizieren und die angestammten religiösen Bräuche des Haushalts bewahren. Diese generelle Voraussetzung der griechischrömischen Gesellschaft bringt Cicero zum Ausdruck: Für sich allein soll niemand Götter (Göttinnen, d. Ü.) haben, weder neue noch fremde, außer vom Staat aufgenommene; zu Hause soll man die Götter verehren, deren Kult man nach stehender Sitte von den Vätern übernommen hat ... Nächtliche Opfer, die von Frauen gefeiert werden, sollen nicht stattfinden ... Auch die von den Vorfahren den Besitzherren und besonders der Dienerschaft überlieferte Art der Larenverehrung, die an einem Platz mit Blick auf das Grundstück und das Landhaus stattfindet, darf man nicht verwerfen. (Über die Gesetze 11,8,19; 9,21; 11,27) Bereits die Bekehrung von Frauen, SklavInnen und jungen Menschen, die zum Haushalt eines nichtbekehrten Paterfamilias gehörten, stellte eine potentielle politische Verletzung der patriarchalen Ordnung dar. Sie konnte auch gar nicht anders denn als Verstoß gegen die patriarchale Ordnung verstanden werden, insofern in der Antike die patriarchale Ordnung des Haushalts als Paradigma des Staates betrachtet wurde. Die 56 A.a.O., 178. Obwohl sich Elliott auf Nisbeth bezieht, übersieht er das Gewicht, das Nisbeth auf die die patriarchale Ordnung des griechisch-römischen Haushalts störende Bekehrung von Individuen legt. Anders als die Pastoralbriefe besteht der I. Petrusbrief nur für die Beziehungen im Haushalt, nicht aber für die christliche Gemeinde auf der patriarehaien Ordnung.
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patriarchale Großfamilie war der Kern des Staates. Nicht Enthusiasmus stellte eine revolutionäre subversive Bedrohung dar, sondern die Bekehrung der untergeordneten Mitglieder des Haushalts, von denen erwartet wurde, daß sie die Religion des Paterfamilias teilen. Schon das Judentum ist wegen Verletzung der patriarchalen religiösen Vorrechte des Paterfamilias angegriffen worden, weil es SklavInnen und Ehefrauen heidnischer Haushalte als Gottesfürchtige und Konvertitlnnen aufnahm. Wie sehr die Römer die durch den Proselytismus bewirkte massive Störung der sozialen Ordnung übelnahmen, wird in folgender Bemerkung von Tacitus deutlich: Gerade die schlechtesten Elemente waren es nämlich, die ihren heimischen Glauben schmählich aufgaben und Tempelsteuern sowie sonstige Spenden dort anhäuften, wodurch sich die Macht der Juden gewaltig hob ... Wer zu ihrem Kult übertritt, hält sich auch an diesen Brauch (Haß auf andere Gruppen, unmoralisches Leben, Einführung der Beschneidung, d. V.); auch wird den Proselyten zu allererst das Gebot beigebracht, die Götter zu verachten, das Vaterland zu verleugnen, ihre Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen. (Tacitus, Historien V,5) In seiner Verteidigung gegen Apion betont daher Josephus, daß es nicht die JüdInnen sondern die GriechInnen waren, die neue Göttinnen eingeführt haben, da die jüdischen Bräuche von höherem Alter seien. Er unterstützt völlig die Ansicht, daß alte Bräuche beachtet werden müssen: Es ist Pflicht für einen Weisen, die religiösen Gebote seines Landes peinlich genau zu befolgen und sich des Mißbrauchs der religiösen Gebote anderer Länder zu enthalten. (Adv. Apion 11, 144) Im Kontext einer solchen missionarischen Apologetik betont J osephus - wie auch Philo -, daß jüdische Haushalte korrekt geführt und geordnet sind. Immer wenn sich SklavInnen oder Ehefrauen zum Judentum, zum Isiskult oder zum Christentum bekehrten, geriet die patriarchale Ordnung des Haushalts und damit also die politische Ordnung des Staates in Gefahr. Besonders der Isiskult wurde als Bedrohung des römischen bürgerlichen Lebens angesehen, weil Isis als die Göttin, die Frauen und Männer gleich macht, verkündet wurdeY Der römische Historiker Dio Cas57 Vgl. POxy., I380. 1. 2I4-2I6. Zur Behauptung, daß zurZeit des Augustus derIsiskult den größten Einfluß hatte, vgl. auch R. E. Witt, Isis-Hellas, in: Proceedings of the
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sius überliefert eine Rede, in der Oktavian seine Soldaten aufruft, »den guten Ruf eurer Vorväter aufrecht zu erhalten, eure eigenen stolzen Traditionen zu bewahren, an denen, die gegen uns revoltieren, Rache zu üben, die zurückzuweisen, die euch beleidigen, die ganze Menschheit zu erobern und zu beherrschen, keiner Frau zu gestatten, sich einem Mann gleich zu machen.«5 8 Die ganze Rede verbindet das Bewahren der Bräuche der Vorväter mit der Gegnerschaft gegen den Isiskult und der Behauptung, daß Isis die rechten Beziehungen zwischen Männern und Frauen auf den Kopf ~tellt.59 Ich habe die These aufgestellt, daß HeidInnen nicht ohne Grund ChristInnen als Gruppe sehen, die mit der patriarchalen Ordnung des Haushalts in Widerstreit gerät. Insofern ChristInnen SklavInnen und freigeborene Frauen aus heidnischen Haushalten als Bekehrte und Mitglieder aufnahmen, brachen sie eindeutig die überkommenen patriarchalen Gesetze. Ihr Selbstverständnis als die neue eschatologische Gemeinschaft, als geheilte Schöpfung, als erneuerte Menschheit, in der die soziopolitischen Statusunterschiede aufgrund von Religion und Klasse, Sklaverei und patriarchaler Ehe aufgehoben sind und alle »in Christus« gleichgestellt sind, war eine alternative Vision, die die griechisch-römische patriarchale Ordnung deutlich untergrub. Die christliche Predigt war gerade deshalb für freigeborene Frauen und SklavInnen so anziehend und überzeugend, weil sie ihnen Befreiung von patriarchaler Ordnung versprach und eine neue Freiheit in der Gemeinschaft der Gleichgestellten gab. Daß ChristInnen verdächtigt wurden, politisch subversiv zu sein und die gesellschaftliche Ordnung und die Institutionen des patriarchalen Haushalts zu gefährden, kommt immer wieder in heidnischen Angriffen gegen das Christentum im zweiten und dritten Jahrhundert zum Ausdruck. 60 Auch Jesus wurde der Subversion beschuldigt. Eine abweichende Lesart von Lk 23,1 df, die zum ersten Mal von Markion im zweiten Jahrhundert bezeugt wird, besagt, daß J esus vor Pilatus angeklagt wurde, weil er »Frauen und Kinder aufgewiegelt« habe. 61 Diese Lesart Cambridge Philological Society 12 (1966) 62: »Er war eine internationale Religion. Im Dienst der Königin des Ganzen Universums konnten sich SklavInnen vereinen und frei fühlen, farbige AfrikanerInnen konnten sich mit RömerInnen zusammenschließen, und Frauen konnten dieselbe Macht wie Männer beanspruchen«. 58 Dio Cassius, Römische Geschichte 50,28.3; vgl. Baleh, Let Wives Be Submissive, 70f. 59 Vgl. S. Pomeroy, Goddesses, Whores, Wives andSlaves, New York 1975,223-225. 60 Vgl. P. de Labriolle, La reaction pal~nne, Paris 1948, 284f und 41 8f;Jeanne-Marie Demarolle, Les femmes chretiennes vues par Porphyre, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 13 (1970) 42-47. 61 Vgl. K. Thraede, Frau, in: Reallexikon für Antike und Christentum 8 (1970) 228.
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von Epiphanius führt aus: »Er hat unsere Kinder und Ehefrauen widerspenstig gemacht, denn sie baden sich nicht wie wir und reinigen sich nicht«, d. h. sie beachten die rituellen Gebote ihrer überlieferten jüdischen Religion nicht mehr. Eine TextsteIle in der Apostelgeschichte, die der Exegese viele Probleme gemacht hat, sagt, daß Paulus und Silas vor der Stadtbehörde von Philippi dafür angeklagt wurden, daß sie in der Stadt dadurch große Verwirrung angerichtet haben, daß sie Bräuche propagierten, »die wir als RömerInnen nicht annehmen und befolgen dürfen« (Apg 16,21). Diese Anklage wird von dem Herren einer Sklavin vorgebracht, die von einem Wahrsagegeist besessen war und ihren Herren durch ihre Wahrsagerei großen Gewinn eingebracht hatte. Paulus hatte sie geheilt (16,18) und dadurch für ihre Herren wertlos gemacht. Indem er die Sklavin von ihrer Besessenheit durch den Wahrsagegeist befreite, geriet Paulus in Widerspruch zu den Besitzrechten und überlieferten Gesetzen des Haushalts. 62 Daß christliche MissionarInnen beschuldigt wurden, die griechischrömische patriarchale Ordnung zu stören, wird besonders in den apokryphen Apostellnnen-Akten betont, die zu der Zeit, als der I. Petrusbrief und die Pastoralbriefe geschrieben wurden, in den Gemeinden Kleinasiens verbreitet waren. Nach den Paulus- und Thekla-Akten wird Paulus beschuldigt, »alle Frauen« zu korrumpieren. Thekla, eine Frau aus der Oberschicht von Ikonium, kündigt ihre Rollen als Tochter, Ehefrau, Mutter und Haus»herrin« auf. Dafür - nicht für ihr Christinsein wird sie zum Tode verurteilt. Ihre eigene Mutter verlangt vom Stadthalter: »Verbrenne die Gesetzlose, verbrenne die Unglücksbraut mitten im Theater, damit alle Frauen, die sich von diesem haben belehren lassen, Angst bekommen!« (3.20,3-5). DIe Paulus-und-Thekla-Akten und andere apokryphe ApostellnnenAkten führen näher aus, welche massive Störung die Bekehrung von Frauen, besonders wenn sie mit sexueller Askese verbunden war, in heidnischen Haushalten bedeutet hat. Eine solche Situation setzt der I. Petrusbrief voraus und sucht sie zu lindern. Dabei »vergeistigt« und »verinnerlicht« der Verfasser die christliche Berufung zu einer rein religiösen Berufung, die der etablierten Ordnung des Haushalts und des Staates nicht mehr zuwiderläuft. Durch Unterwürfigkeit und Gehorsam gegenüber ihren »Herren« können christliche SklavInnen und Ehefrauen zeigen, daß die Veleumdungen, die sich gegen ChristInnen richten, ungerechtfertigt sind. ChristInnen sind nach dem Verfasser des I. Petrusbrie62 Vgl. die etwas anders akzentuierte Auslegung bei Y. Redalie, Conversion or Liberation? Notes on Acts 16,II-40, in: N. K. Gottwald/A. C. Wire (Hg.), TheBible and Liberation. Political and Social Hermeneutics, Berkeley 1976, 102-108.
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fes keine FeindInnen der römischen politischen Ordnung, sondern unterstützen sie. 6} Natürlich konnte diese Verteidigungs schrift nicht behaupten, daß ChristInnen die griechisch-römische Ordnung des patriarchalen Haushalts und Staates nicht antasteten. Denn indem sie die Religion ihrer »Herren« und Ehemänner aufgaben, haben sie tatsächlich einen Bruch in dieser patriarchalen Ordnung vollzogen. Doch führte die Überlebensstrategie des 1. Petrusbriefes das patriarchal-gesellschaftliche Ethos jener Zeit allmählich in die Kirche ein. Als Folge ersetzte es auf die Dauer die genuine christliche Vision der Gleichheit, die freigeborene Frauen und SklavInnen für das Christlnwerden gewonnen hatte. Während jedoch im 1. Petrusbrief die patriarchale Herrschaftsordnung noch nicht auf die christliche Ehe oder die christliche Gemeinde bezogen wird, versteht der Brief an die Epheserlnnen die christliche Ehe im Licht dieser Herrschaftsordnung und identifizieren die Pastoralbriefe diese Ordnung mit den Strukturen der christlichen Gemeinde.
Der Brief an die Gemeinde von Ephesus und die Haustafel Der Brief an die Gemeinde von Ephesus formuliert die Hoffnung, zu der ChristInnen berufen sind (1,18), als »Evangelium des Friedens.« (6,15)64 . Solch universaler Friede wurde nach dem Verfasser dieses Briefes durch den Sieg Christi über die Mächte der Finsternis errungen, ein Sieg, der die Kluft zwischen JüdInnen und Nicht jüdInnen beseitigte. Vergebung der Sünden bedeutet hier Befreiung von den ,>bösen Geistern in den Himmelshöhen« und Vereinigung von JüdInnen und NichtjüdInnen »zu einem neuen dritten Geschlecht« oder zu der einen Familie Gottes. Der göttliche Mittler hat den Bruch zwischen Himmel und Erde geheilt, Christus hat JüdInnen und HeidInnen zu neuer universaler Harmonie und zu universalem Frieden vereint. 65 63 Thraede (Zum historischen Hintergrund, 363f) hat daher zu Recht betont, daß die Haustafel-Tradition des Neuen Testaments die anti-egalitären und konservativen Tendenzen griechisch-römischer Kultur unterstützt. 64 Zur Bibliographie zu Eph 5>15-6,9 vgl.J. P. Sampley, Ephesians, Colossians, 2 Thessalonians, The Pastoral Episdes, Philadelphia 1978 (Proclamation Commentaries), 9-39;]. Gnilka, Der Epheserbrief, Freiburg 1971 (HThKNT loh) I-52 und die Exkurse. 65 Die Einheit von ChristInnen wurde in der Taufe gefeiert, vgl. Meeks, In One Body, 2I4ff.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt Der Verfasser schreibt an HeidenchristInnen und erinnert sie, indem er sich auf biblisch-jüdische und frühchristliche Traditionen beruft, daran, daß sie inJesus Christus Zugang zu dem einen wahren Gott Israels erhalten haben. Die Fremdlinge und Gäste waren, wurden zu MitbürgerInnen der Heiligen und Engel. Die Scheidewand des Tempels, die hier auf den ganzen Kosmos und die Struktur des Universums projiziert wird, wird niedergerissen und eine erneuerte vereinte Menschheit kommt in der Kirche zum Leben. Der Brief an die Gemeinde von Ephesus interpretiert die kosmische Ausrichtung der Briefe an die Gemeinde von Kolossä ekklesiologisch neu. Christus ist Haupt und Quelle des Friedens für die Kirche. »Sein« Werk als universaler Friedensstifter muß nun von der Kirche ausgeführt werden, die das pleröma Christi, Christi Einflußbereich und das Kraftfeld von Christi friedens stiftender Macht ist. Die Kirche »verkörpert« den Frieden Christi. Die Getauften sind die erneuerte Schöpfung (2,10), haben das neue Menschsein angezogen (4,24; vgl. 4,13: der »vollkommene Mann«). Sie sind mit Christus auferweckt und mit ihm in den Himmel versetzt (2,6). »Durch Gnade seid ihr gerettet (2,5C) und »besiegelt« mit »dem« verheißenen Heiligen Geist, »dem« Garanten ihres »Erbes« (I,I3f). Sie sind Kinder Gottes Ü,1.8). Der universale Friede Christi muß in der Gemeinde von JudenchristInnen und HeidenchristInnen sichtbar gemacht werden. Sie werden ermahnt, ein Leben zu führen, »würdig der Berufung, die an euch ergangen ist« (4,1). Sie sollen eifrig bemüht sein, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens. Ein Leib und ein Geist ... ein »Herr«, ein Glaube, eine Taufe, »ein« Gott und »Vater« aller. (4,3-6) Die Tauferinnerung in 2, I 1-22 bezieht sich eindeutig auf die vorpaulinische Taufformel mit ihrem Gegensatzpaar Beschneidung - Nichtbeschnittensein. Auf verschiedene Weise drückt der Verfasser die durch den Tod Christi bewirkte Einheit von JüdInnen und HeidInnen und ihre Gleichgestelltheit in der neuen Gemeinde der in Christi Tod und Auferstehung Hineingetauften aus. Die einst »fern« waren, sind nun »>nahe< geworden durch das Blut Christi« (2, I 3). Dreimal betont der Verfasser in 2,13-18, daß Christus aus beidem eins geschaffen hat (ha amphotera hen): V 14 betont, daß Christus, »unser Friede«, die Feindschaft zwischen JüdInnen und HeidInnen aufgehoben hat; V I 5 benennt, was durch das Friedenstiften bewirkt wird: »um die beiden in ihm als Friedensstifter zu >einem< neuen Menschen umzuschaffen«; V I 6 fügt hinzu: »und beide in einem Leibe mit Gott zu versöhnen«; V 17 wiederholt nocheinmal, daß die »Fernen« und die »Nahen« Frieden erhalten haben.
7. Kapitel
Daher kann der Verfasser in V 18 zusammenfassen: »Durch ihn nämlich haben wir heide in einem Geiste Zugang zum >Vater<. «66 Folglich sind die Getauften »Mitglieder des Haushalts Gottes« (2,19), der zu einem »heiligen Tempel im >Herrn«< wächst, in dem sie »miteinandergebaut zu einer Wohnung Gottes im Geiste« werden (2,21f). Dieses theologische Leitmotiv von Frieden und Einheit wendet der Verfasser auf die Beziehung von HeidenchristInnen und JudenchristInnen in der Gemeinde an, um ihre Einheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit im »Haushalt Gottes« zu betonen. Er sucht die HeidenchristInnen davon abzubringen, daß sie sich als den JudenchristInnen überlegen betrachten, und sie zu gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Unterstützung zu ermuntern. Obwohl es zwischen 2,II-22 und 5,21-33 (der Ermahnung der Ehemänner und der der Ehefrauen) viele Ähnlichkeiten gibt, ist sein Begriff von »Frieden stiften in Christus« hier ein völlig anderer. Während Ehefrauen und SklavInnen ermahnt werden, sich selbst unterzuordnen und »mit Furcht und Zittern« zu gehorchen, ermahnt der Autor die JüdInnen nicht sich unterzuordnen, um den Frieden in der Gemeinde zu bewahren, sondern er weist sie an, ihrer Berufung gemäß zu leben. Er greift zu einer Vielfalt judenchristlicher Theologoumena, um die HeidInnen, die die einflußreichen und entscheidenden Mitglieder der Gemeindeversammlung gewesen zu sein scheinen, zu überreden, den Frieden, der im Leib Christi sichtbar werden soll, zu wahren. Daß der Verfasser auch die Taufformel im Sinn hat, wenn er die traditionelle Hausordnung67 in Hinblick auf die christliche Gemeinde ausführt, wird aus der Bemerkung in 6,8c, daß alle, ob SklavInnen oder Freie, dieselbe eschatologische Vergeltung von Christus erhalten werden, offensichtlich. 68 Während der Verfasser die Gegenseitigkeit, Einheit und Gleichheit von HeidInnen und JüdInnen hier und jetzt betont, sagt er solche Gleichheit für SklavInnen und Freigeborene erst für die eschatologische Zukunft aus. Während unklar war, ob die Ermahnungen in den Briefen an die Gemeinde von Kolossä für Beziehungen zwischen ChristInnen und HeidInnen gegolten haben, und während sich die Anweisung des 1. Petrusbriefes eindeutig an Ehefrauen richtet, die mit Nichtgläubigen verheiratet sind, und an SklavInnen, die in heidnischen Haushalten leben, wendet der Brief an die Gemeinde von Ephesus die traditionelle Ordnung des Haushalts auf die Beziehungsverhältnisse unter christlichen Ehepaaren und zwischen christlichen SklavInnen und 66 Vgl. D. C. Smith, The Two Made One. Some Observations on Eph 2,14-18, in: Ohio Journal of Religious Studies I (1973) 34-54; H. Merklein, Zur Tradition und Komposition von Eph 2,14-18, in: Biblische Zeitschrift 17 (1973) 79-109. 67 Zum ganzen Abschnitt (5,15 -6,9) vgl. Gnilka, Epheserbrief, 264 - 303. (Literatur!) 68 Vgl. bes. Meeks, In One Body, 216.
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christlichen Sklavenhaltern und damit auf den christlichen Haushalt selbst an. Daß dieser Haushalt als Hauskirche verstanden wird, ist aufgrund des Textabschnitts 5,18-20, der die traditionelle Haustafel einleitet und vom geisterfüllten Gottesdienst der ChristInnen spricht, wahrscheinlich. Überdies wird die ganze Gemeinde als »Haushalt« (2,19), Familie (3,15), Haus (2,20) Gottes verstanden. Die Gläubigen sind Kinder (5, I. 8; 1,5: Söhne) Gottes, die die Garantie auf ein glorreiches Erbe (1,3.18) haben. Ihr »Vater« ist Gott (3,14; 4,6; vgl. 1,2.3) selbst. Es ist jedoch wichtig zu beachten, daß der Verfasser das patriarchale Herrschafts-Unterordnungs-Beziehungsverhältnis nicht in Hinblick auf die gesamte Gemeinde entwickelt. Obwohl er von denen spricht, die ApostelInnen, ProphetInnen, EvangelistInnen, HirtInnen und LehrerInnen sind, »um die Heiligen heranzubilden« (4,I2), verlangt er nicht, daß die Heiligen sich ihnen unterordnen, und macht sie auch nicht zum Symbol der Einheit. Der Verfasser erhebt auch nicht den Anspruch, daß die LeiterInnen der Gemeinde Gott repräsentieren, den »Vater« des Haushalts, auch sagt er nicht, daß die LeiterInnen der Gemeinde Männer sind, die im Namen und anstelle Christi handeln. Die Kirche erhält hier nicht, wie J. Ernst behauptet, »in Nachahmung der Organisationen des antiken Staates eine Sozialstruktur, die das konkrete Leben allgemein regelt. «69 Der Brief an die Gemeinde von Ephesus arbeitetlediglich heraus, daß einige diese Gaben und andere jene Gaben zum Aufbau des Leibes Christi empfangen haben. Seine Aufzählung der Dienste erweitert den paulinischen Katalog um die EvangelistInnen und Hirtinnen, aber beschränkt diese Dienste nicht auf Männer. Während die Haustafel im Brief an die Gemeinde von Kolossä deutlich an einem der patriarchalen Ordnung angemessenen Verhalten von SklavInnen interessiert war, gibt die Haustafel des Briefes an die EpheserInnen detaillierte Anweisungen für das Beziehungsverhältnis von Ehemann und Ehefrau in der patriarchalen Ehe.l° Dabei verknüpft der Verfasser die traditionelle Form der Haustafel mit der »Kirche als Leib«-Theologie und dem paulinischen »Braut und Bräutigam«-Bild, das sich in 2Kor 11>3 zum ersten Mal findet. Die Beziehung zwischen Christus und Kirche, die in den Metaphern »Kopf und Leib« sowie »Bräutigam und Braut« zum Ausdruck gebracht wird 7 !, wird zum Paradigma christlicher Ehe und 69 j. Ernst, From the Local Community to the Great Church. Illustrated from the Church Patterns of Philippians and Ephesians, in: Theology Bulletin 6 (1976) 237257. 245. 70 Zum gesamten Abschnitt vgl. v. a.j. P. Sampley, »And the Two Shall Become One Flesh«. A Study of Traditions in Eph pI -33, Cambridge 1971 (SNTSM 16). 71 Vgl. R. Batey, »Jewish Gnosticism« and the »Hieros Gamos« of Eph v. 21-33, in: New Testament Studies 10 (1963) 121-127; ders., The Mia Sarx Union of Christ and the Church, in: New Testament Studies 13 (1966-67) 270-281.
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umgekehrt. Dieses theologische Paradigma verstärkt das kulturell-patriarchale Muster der Unterordnung, insofern die Beziehung zwischen Christus und Kirche eindeutig nicht als Beziehung zwischen Gleichgestellten betrachtet wird. Denn die Braut Kirche wird als völlig abhängig von ihrem Bräutigam oder Haupe2 und als ihm unterworfen dargestellt. Daher bedeutet die generelle Anweisung an alle Mitglieder der christlichen Gemeinde »Ordnet euch einander unter in der Furcht Christi« für christliche Ehefrauen eindeutig die Forderung nach Unterwerfung und Ungleichheit. Wie die Kirche Christus untergeordnet ist, so hat sich die Ehefrau ihrem Ehemann in allem zu unterwerfen. Der Ausdruck »in allem«, der in der Haustafel des Briefes an die Gemeinde von Kolossä in Zusammenhang mit dem Gehorsam von Kindern und SklavInnen stand, unterstreicht hier die untergeordnete Stellung der Ehefrau (5,24). 5,22 betont, daß die Unterwerfung der Ehefrau unter ihren Mann auf gleicher Stufe steht mit ihrer religiösen Unterwerfung unter Christus, den »Herrn«. Die Anordnung an die Ehefrauen verstärkt also deutlich das Muster der patriarchalen Ehe und rechtfertigt es christologisch. Daher werden die Anordnungen an die Ehefrau zusammengefaßt in der Ermahnung, ihren Ehemann zu fürchten oder zu respektieren (V 33). Jedoch wird dieses gesellschaftlich-patriarchale Gebot in der' Anweisung an den Ehemann modifiziert. Die negative Forderung des Briefes an die KolosserInnen, daß Ehemänner nicht grob gegen ihre Frauen sein sollen, wird hier nicht wiederholt. Statt dessen wird den Ehemännern dreimal befohlen, ihre Ehefrauen zu lieben (5,25.28,33). Jesu Gebot, »deinein Nächstein wie dich selbst« zu lieben (vgl. Lev 19,18), wird auf die Ehebeziehung des Ehemannes angewendet,73 Darüber hinaus wird das Verhältnis zwischen Christus und der Kirche zum Modell für den Ehemann. »Wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat« (Eph 5,25), soll Beispiel für die Liebesbeziehung des Ehemannes zu seiner Frau sein. Patriarchale Herrschaft wird folglich durch den Verweis auf die paradigmatische Liebesbeziehung Christi zur Kirche radikal infragegestellt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese christologische Modifikation der patriarchalen Position und der Pflichten des Ehemannes theologisch das patriarchale Muster der Haustafel nicht zu verändern vermochten, auch wenn dies die Absicht des Verfassers gewesen sein dürfte. Statt dessen zementiert der Brief an die Gemeinde von Ephesus 72 Zu Christus als Ober-Haupt aller Dinge vgl. G. E. Howard, The Head/Body Metaphors ofEphesians, in: New Testament Studies 20 (1975) 350-356. 73 Vgl. V. P. Furnish, The Love Command in the New Testament, Nashville 1972, 12 3.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
die untergeordnete Stellung der Ehefrau in der Ehebeziehung christologisch. Es ließe sich die These aufstellen, daß die Ermahnungen an die Ehemänner herausbuchstabieren, was es heißt, eine Ehebeziehung als ChristIn zu leben, während die Ermahnungen an die Ehefrauen auf dem geziemenden sozialen Verhalten von Frauen insistieren. Grund für dieses theologische Versagen in der Anweisung an die Frauen dürfte das Interesse des Verfassers sein, die Beziehung zwischen Christus und der Kirche zu klären, deren Einheit sein vorrangiges Anliegen im restlichen Brief ist. Daß diese Vermutung zutrifft, zeigt seine Interpretation von Gen 2,24. Obwohl die frühchristliche Theologie diesen Text aus der Hebräischen Bibel zum Verständnis der Ehebeziehung benutzte, wendet ihn der Verfasser hauptsächlich auf die Beziehung von Christus und Kirche anJ4 Eph 5,21 - 33 setzt demnach die Entwicklungslinie der patriarchalen Haustafeltradition insofern fort, als diese Textstelle die Form der Haustafel übernimmt und die Unterwerfung von Ehefrauen unter ihre Ehemänner als religiöse Christinnenpflicht behauptet. Gleichzeitig modifiziert Eph 5,2 I - 33 die patriarchalen Gebote dadurch, daß an die Stelle patriarchaler Überordnung und Herrschaft das christliche Gebot der Liebe tritt, die nach dem Beispiel Christi gelebt werden soll. Insgesamt gesehen, war der Verfasser jedoch nicht fähig, diese patriarchalen Gebote zu »christianisieren«. Das ),Evangelium des Friedens« hat die Beziehungen zwischen HeidInnen und JüdInnen verändert, nicht jedoch die sozialen Rollen von Ehefrauen und SklavInnen im Haushalt Gottes. Ganz im Gegenteil werden die kulturellen und sozialen Herrschaftsstrukturen theologisch überhöht und dadurch verstärkt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Haustafel und ihre theologische Legitimation nicht die tatsächliche Situation von Frauen und SklavInnen in den Gemeinden Kleinasiens widerspiegelt. Das Gegenteil ist der Fall: Sie ist Verordnung und Vorschrift und sucht ein christlich-patriarchales Verhalten durchzusetzen, das so noch nicht von den ChristInnen in Kleinasien gelebt wird.
Die gnostisch-patristische Entwicklungslinie Einheit von männlich und weiblich wie auch menschliche Ehe und »Paare« als Paradigmen für himmlische kosmische Wirklichkeiten - diese theologischen Ideen sind in gnostischen und kosmologischen Spekulationen, die auch durch die in Gal 3,28 überlieferte Taufformel inspiriert worden sein dürften, noch weiter und in eine andere Richtung entwickelt worden. 74 Vgl. Sampley, »And the Two Shall Become One Flesh«, 94-102.
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üb Markion Gnostiker genannt werden kann oder nicht, ist umstritten.7 5 Er traf eine Unterscheidung zwischen »dem« fremden und guten Gott, »dem« »Vater« Jesu Christi, und »dem« Weltgott (»dem« Schöpfergott, »dem« Gott des Gerechtigkeitsgesetzes), »der« die Antithese zum guten Gott darstellt. »Der« Demiurg oder Weltgott schuf Kosmos und Menschheit, »der« gute Gott jedoch ist allem Geschaffenen völlig fremd. Menschliche Geschöpfe gehören physisch und psychisch »dem« Weltgott zu. Christus ist gekommen, um sie vom Weltgott zu befreien und zu Kindern »des« fremden und guten Gottes zu machen. Da die Markionitlnnen der geschaffenen Welt entfliehen wollten, weihten sie sich rigoroser Askese und demonstrierten, indem sie gegen Fleisch und Materie protestierten, daß sie sich nicht »dem« Weltgott verschrieben hatten. Weil Fortpflanzung den Einfluß »des« Demiurgen fortsetzte, heirateten sie nicht und hatten keine Kinder. Severus, ein Mitarbeiter von Markion, lehrte, daß die Frau »das Werk des Satans«76 ist und daher diejenigen, die eine Ehe eingehen, das Werk des Satans ausführen. Der Markionismus gehört zu dem Typus von Gnostizismus, der von einem Dualismus zweier gegensätzlicher Prinzipien ausgeht. In diesem System gehört Weiblichkeit zum Bereich der Schöpfung, während Männlichkeit für himmlische transzendente Wirklichkeiten steht. Im Ägypterevangelium wird als Wort des Heilands überliefert: »>Ich bin gekommen, den Werken des Weibes(!) ein Ende zu machen<, des Weibes, das heißt, der Begierde, den Werken, das heißt, dem Entstehen und dem Vergehen.«77 Die klassische Formulierung dieses Dualismus findet sich, ausgedrückt im Gegensatzpaar »männlich-weiblich«, in den Pseudo-Clementinen, wo die gegenwärtige Welt »weiblich ist und einer Mutter gleich Kindern das Leben gibt, die zukünftige, männliche Zeit dagegen ihre Kinder in der Weise eines Vaters aufnimmt.«7 8 Daher gibt es zwei Arten von ProphetInnen in der Welt: die einen sind die weiblichen Prophetln nen, deren Worte völlig in Einklang sind mit der Welt der Schöpfung, die anderen sind die männlichen ProphetInnen, die für die künftige höhere
75 Das Startdardwerk zu Marcion ist noch immer A. von Harnack, Macion. Das Evangelium vom fremden Gott, erstmals 1924, Neuausgabe: Darmstadt 1960. 76 Epiphanius, Panarion, 45.2.1. Im folgenden Abschnitt vgl. zu den patristischen Zi-
taten gnostischer Kirchenleiter und ihrer Lehren W. Förster (Hg.), Die Gnosis, 1. Band: Zeugnisse der Kirchenväter, Zürich - Stuttgart 1969. 77 Clemens von Alexandria, Teppiche (Strornateis) (Bibliothek der Kirchenväter) 111, 63,2. 78 Die Pseudo-Clementinen, H 11, 15,3, in: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, hg. v. W. Schneemelcher, Tübingen 4 1971 , Bd. 2, 381.
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Welt sprechen. In den enkratischen Thomas-Akten entspricht die Bezeichnung »Gemeinschaft des Männlichen« den Ausdrücken »das höchste Geschenk der Gnade«, »Heiliger Geist« oder »die Macht >des< Allerhöchsten«.79 Die Kategorien »weiblich« und »männlich« charakterisieren daher weniger reale Frauen und Männer als gegensätzliche Typen dualistischer Prinzipien. Wie die AnhängerInnen des Markion unterscheiden auch die AnhängerInnen des Karpokrates zwischen dem »Vater«, der nicht erschaffen wurde, und »dem« Gott, von »dem« das Gesetz stammt. 80 Da sie an die Seelenwanderung glauben, sind sie davon überzeugt, daß sie nicht durch Askese, sondern durch Libertinismus von Körper und Wiedergeburt befreit werden können. Alle Dinge sind gleichgültig, und nichts auf der Welt ist an sich böse. Nicht durch Gesetzesgehorsam, sondern nur durch Glaube und Liebe können Menschen erlöst werden. 8I Die Anhängerinnen des Karpokrates berufen sich auf Salome, Maria von Magdala und Martha als Quellen und Bürginnen ihrer Traditionen. Eine ihrer Lehrerinnen, Marcellina, repräsentierte um die Mitte des zweiten Jahrhundert ihre Lehre in Rom und warb dort viele AnhängerInnen. Epiphanes, der Sohn des Karpokrates, lehrte, daß »die Gerechtigkeit Gottes .. , eine Art von Gemeinschaft auf Grund von Gleichheit« ist. 82 Da Gott für alle Lebewesen gleich gesorgt hat, soll kein Unterschied gemacht werden »zwischen reich und arm, Volk und HerrscherInnen, Törichten und Verständigen, Weib und Mann, Freien und SklavInnen.«83 Epiphanes tritt also für das gleiche Ideal ein wie Paulus (Gal 3,27), begründet aber die grundsätzliche Gleichstellung aller nicht mit der Taufe, sondern mit der Schöpfung. Daher bezieht sich seine »Gemeinschaft auf Grund von Gleichheit« nicht nur auf Geschlechterrollen in der christlichen Gemeinde, sondern auch auf Geschlechterrollen in Sexualität und Ehe. »Da also Gott für die Menschen alles zum Gemeingut gemacht und das Weib mit dem Mann ohne Unterschied zusammengeführt und in gleicher Weise alle Lebewesen vereinigt hatte, erwies er die Gerechtigkeit als eine Gemeinschaft auf Grund von Gleichheit. «84 Die Reflexionen des Epiphanes legen Ga13,28 im Sinn des idealen Staats bei Plato aus. Sie wer79 Thomasakten II, 27, in: Hennecke/Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 2, 319. 80 Vgl. H. Kraft, Gab es einen Gnostiker Karpokrates?, in: Theologische Zeitschrift 8 (1952) 434-444· Zu patristischen Nachweisen vgl. W. Förster (Hg.), Die Gnosis, Bd. I, 50 - 56. 81 Vgl./renäus, Adversus haereses (Gegen die Häresien), I, 25,1-6. 82 Clemens von Alexandria, Teppiche (Stromateis) III, 6,1. 83 A.a.O., III, 6,2. 84 A.a.O., III, 8,1.
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den jedoch insofern aus männlicher Perspektive angestellt, als sie die Vorstellungen vermitteln, vor der Ehe als Institution seien alle Frauen allen Männern zum Geschlechtsverkehr verfügbar gewesen, aber nicht umgekehrt. Nach Epiphanes war es »der« böse Gesetzesgott, der »mein und dein« einführte und so private Eigentumsrechte und die Institution der Ehe proklamierte. Da »sein« Gesetz die Gemeinschaft nach Göttlichem Recht zerstört hat, versuchen die AnhängerInnen des Karpokrates das Göttliche Recht dadurch wiederherzustellen, daß sie sich »vermischen, wie sie wollen und mit wem sie wollen«.85 Wir wissen jedoch nicht, ob dieses »Liebesfest« der AnhängerInnen des Karpokrates eine rituelle Feier der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Geschlechter war oder ob sie wahllos miteinander Geschlechtsverkehr hatten, da der Vorwurf der »Hurerei« eine gebräuchliche Polemik der verschiedenen religiösen Gruppen gegeneinander war. 86 Der Valentinianismus gehört zu jenem Typ des gnostischen Dualismus, der die Ansicht vertritt, daß Männlichkeit und Weiblichkeit nicht antagonistische Gegensätze sondern komplementär sind. Diese Gruppe siedelte den Ursprung der Finsternis, des Bösen und des Dualismus in der Gottheit selbst an »mittels einer Genealogie personifizierter göttlicher Stadien, die voneinander hervorgehen und die zunehmende Verdunke1ung des ursprünglichen Lichts in Kategorien von Schuld, Irrtum und Fehler beschreiben.«87 Infolgedessen »identifizierten die ValentinianerInnen das Weibliche nicht mit einem absoluten Prinzip des Bösen, sondern mit dem fehlbaren Teil Gottes, der in die materielle Welt hineinverwickelt wurde.«88 Das System des Valentinianismus geht aus von der Dyade Bythos (Voranfang, Abgrund) und Sige (Schweigen, Ruhe), die ein Paar hervorbringt: Nus und Wahrheit. Obwohl diese Ur-Tetrade aus vier verschiedenen Hypostasen zu bestehen scheint, bilden Bythos und Si ge ebenso wie Nus und Wahrheit eine einzige männlich-weibliche Substanz oder ein einziges männlich-weibliches Wesen. Die zweite Tetrade Logos und Leben und Mensch und Kirche geht aus der ersten Tetrade hervor und bringt ihrerseits zehn und zwölf Äonen hervor. Die zehn Äonen in der weiblichen Reihe haben Namen, die auf die Einheit von Mann 85 A.a.O., 111, IO,1. 86 Solche Vorwürfe erhoben HeidInnen und JüdInnen gegen die ChristInnen im allgemeinen, das patristische Christentum gegen MontanistInnen und gnostische ChristInnen und umgekehrt, aber auch verschiedene gnostische Gruppen gegeneinander. Vgl. R. Haardt, Gnosis. Character und Testimony, Leiden I971, 69 Anm. 1. 87 H. Jonas, The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, Boston 1963,237. Vgl. auch H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Göttingen 31964, Bd. 1. 88 R. A. Baer, Philo's Use of the Categories Male and Female, Leiden 1970, 71.
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und Frau anspielen, während die zwölf Äonen in der männlichen Reihe die christlichen Tugenden ins Gedächtnis rufen. Das göttliche Pleroma besteht also aus einer Reihe männlich-weiblicher Äonen. Der letzte Äon, die Sophia, spielt die Rolle der kosmischen Eva. Wegen ihrer Unwissenheit und ihres Verlangens, den unbegreiflichen >>Vater« zu erkennen, bringt sie den Sündenfall in die göttliche Welt, der der Ursprung der schlechten, sichtbaren Welt ist. Sophia wird dem Pleroma wiederhergestellt, aber ihre »Fehlgeburt« kann nicht im Pleroma bleiben. Ihr wird von Christus und »dem« Heiligen Geist Gestalt verliehen und der Name Achamoth gegeben. Da Achamoth keinen Eingang in das Pleroma finden kann, verfällt sie jeder Art von Leiden. Auf ihr Bitten hin wird Jesus, der Erlöser, in die Welt gesandt, um die Sophia »zur Form der Erkenntnis zu gestalten« und sie von ihren Leiden zu erlösen. Nun kann Achamoth dem Demiurgen Form geben, der alles andere zu seiner Zeit gestaltet. Der Demiurg erzeugt den menschlichen Leib zuerst körperlos und umgibt ihn später mit Haut. Doch ohne Wissen des Demiurgen sät Achamoth geistlichen »Samen« in manche Menschen. Daher besteht die Menschheit aus drei Klassen menschlicher Wesen: die Hylikerlnnen (Weltmenschen oder fleischliche Menschen), die Psychikerlnnen (gewöhnliche GemeindechristInnen; diejenigen, die in der Erfüllung des Schöpfer-Gesetzes ihr relatives Heil suchen) und die Pneumatikerlnnen (Gnostikerlnnen; diejenigen, die von der »Mutter« Achamoth den geistlichen Samen erhalten haben). Das weibliche und das männliche Element waren ursprünglich eins. Sie werden wiedervereint, wenn das weibliche Element männlich wird. Dann sind sie vereint mit den Engeln und gehen in das Pleroma ein. Daher heißt es, daß die Frau in einen Mann und die Kirche in Engel verwandelt werden. 89 »Männlich und weiblich« sind eindeutig keine reinen Geschlechtsunterschiede, sondern mythologische, archetypische Wirklichkeiten. 90 Die Gnosis des Valentinus-Schülers Markus unterscheidet sich dadurch, daß er eine weitere Tetrade- Einheit, Einssein, Monade und das Eine - vor dem dritten Äon ansiedelt. Die Tetrade wird auch »der Vaterlose, der Undenkbare und Wesenlose, der Geschlechtlose«9 1 genannt. Markus nimmt an, daß der »geistige Mensch«, nach dem Bild und Gleich89 Vgl.lrenäus, Gegen die Häresien, I, 23,3. 90 Zur Affinität von Jungscher Denkweise und diesem zweiten Typ des gnostischen Dualismus vgl. R. M. Stein, Liberating the Feminine, in: R. Tiffany Barnhouse/U. T. Holmes (Hg.), Male and Female, New York I976, 76-88;A. Belford Ulassov,Jung on Male and Female, in: a.a.O., I97-2IO. Zur feministisch-theologischen Kritik an diesem Dualismus vgl. R. R. Ruether, Frauen für eine neue Gesellschaft. Frauenbewegung und menschliche Befreiung, München I979, I65-I74. 9I lrenäus, Gegen die Häresien I, I4,r.
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nis Gottes geschaffen, »mannweiblich« gewesen sei. 92 Die AnhängerInnen des Markus scheinen die Sakramente des »Brautgemachs« und der Taufe gefeiert zu haben. Sie tauften "im Namen des unbekannten ,vaters< des Weltalls, in der Wahrheit, der ,Mutter< des Ganzen, in dem, der auf Jesus herabkam, zu Vereinigung und Erlösung und der Gemeinschaft der Kräfte.«93 Der Ritus des »Brautgemachs« bezieht sich auf die neutestamentliche Braut- und Ehe-Metaphorik. 94 Die Feier der »geistigen Hochzeit« im Ritus der Markus-Anhängerlnnen stellte eine Vorwegnahme der vollkommenen eschatologischen ehelichen Vereinigung dar. Am Ende der Weltzeit wird Achamoth in das Pleroma eingehen und den Erlöser wie einen Bräutigam empfangen. Der vollendete geistliche Same wird dann den Engeln zu Bräuten gegeben werden. Anders formuliert: Die »geistige Vermählung nach dem Vorbilde der oberen Verbindungen« bringt zum Ausdruck, was »Männlichwerden« bedeutet. 95 Folglich hatten die AnhängerInnen des Valentinus eine sehr positive Vorstellung von der ehelichen Vereinigung und sahen sie als Symbol und Modell der Erlösung an, die die ursprüngliche androgyne Einheit der Menschheit wiederherstellt. N ach dem Philippusevangelium96, einer Schrift, die enge Verwandtschaft mit den Lehren des Markus aufweist, »entstand der Tod«, als Eva sich von Adam trennte. »Wenn sie wieder hineingeht und er sie zu sich nimmt, wird es keinen Tod geben.« Christus ist gekommen, um die Trennung aufzuheben und das Männliche und Weibliche zu vereinen. 97 Über Markus wird berichtet, daß er großen Erfolg bei Frauen hatte, was seine Gegner seiner Zauberei und seinen Liebestränken zuschrieben. Irenäus behauptet, Markus habe vor allem wohlhabende Frauen von hohem Rang verführt, um in Besitz ihres Vermögens zu kommen und um sie physisch zu mißbrauchen. Eine solche Frau sei bereit gewesen, »mit ihm völlig vereint zu werden, auf daß sie mit ihm zusammen eingehe in 92 Vgl. a.a.O., I, I8,2. 93 A.a.O., I, 23,3· 94 Vgl. R. M. Grant, The Mystery of Marriage in the Gospel of Philip, in: Vigiliae Christianae I5 (I96I) I29-I40. 95 Irenäus, Gegen die Häresien I, 2I,3. 96 Zu den Übersetzungen vgl. R. McL. Wilson, The Gospel of Philip, London I962. Vgl. auch die Untersuchung: W. A. Meeks, The Image of the Androgye. Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, in: History ofReligions I3 (I974) I9I-I95, und die
dort angeführte Literatur. (Im Original wird als englische Übersetzung verwendet: W. Isenberg, The Gospel of Philip, in: J. M. Robinson (Hg.), The Nag Hammadi Library, San Francisco I977, I3 I - I sr (zit.: NHL); zur deutschen Übersetzungvgl. Walter Till, Das Evangelium nach Philippos, Berlin I963 (Patristische Texte und Studien 2), d. Ü.). 97 rr6 (7I), 24-26 (II, 68, 20-25; NHL I4I).
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das >Eins(.«9 8 Offensichtlich hat Irenäus »das Geheimnis der Vereinigung« und den Ritus des »Brautgemachs«, der eine »Antizipation der eschatologischen Vereinigung zwischen den spirituellen Gnostiker Innen und den Engeln« war, nicht mehr verstanden. Ein solches Mißverständnis war leicht möglich, da nach dem Philippusevangelium Zentrum des Ritus »der heilige Kuß« war: »Die Vollkommenen werden durch einen Kuß schwanger und gebären. Deswegen küssen auch wir einander und empfangen die Schwangerschaft durch die Gnade (charis), die gegenseitig ist.«99 Im selben Philippusevangelium wird Maria von Magdala die »Gefährtin Christi« genannt: »Der Herr liebte Maria mehr als die JüngerInnen alle. Und er küßte sie auf ihren Mund oftmals. «100 Da das Valentinianische System drei verschiedene Christusgestahen kannte und sich das Göttliche und die Weh in Szygien (in Paaren) vorstellte, ist es möglich, daß Maria von Magdala als Gefährtin des irdischen Jesus, »der« Heilige Geist als GefährtIn des Pleroma und Sophia als Gefährtin des Erlösers verstanden wurde. Die Gnosis verwendete - so können wir schlußfolgern - die Kategorien »männlich« und »weiblich« nicht zur Kennzeichnung realer Menschen, sondern zur Benennung kosmisch-religiöser Prinzipien oder Archetypen. In den radikal-dualistischen gnostischen Systemen setzt Erlösung die Vernichtung und Zerstörung des Weiblichen bzw. des »weiblichen Prinzips« voraus. In den gemäßigt-dualistischen Systemen bedeutet Erlösung Wiedervereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips zu einer androgynen oder asexuellen Einheit. Im Gnostizismus werden die PneumatikerInnen, Männer und Frauen, als VertreterInnen des weiblichen Prinzips betrachtet, während das männliche Prinzip für die himmlischen Bereiche, für Christus, Gott und Geist steht. Das weibliche Prinzip ist nachgeordnet, da es für jenen Teil des Göttlichen steht, der in die geschaffene Weh und Geschichte verwickelt wurde. Der gnostische Dualismus hat Anteil am patriarchalen Paradigma der abendländischen Kultur. 101 Er macht das erste Prinzip männlich und definiert Weiblichkeit in Bezug auf Männlichkeit. Männlichkeit ist das Subjekt, das Göttliche, das Absolute; Weiblichkeit ist das gegensätzliche oder komplementäre »Andere«. Der gnostische Dualismus reflektiert die Kluft zwischen der Weh und dem Göttlichen, dem Körper und dem spirituellen Selbst. Wir wis98 Irenäus, Gegen die Häresien I, 13>499 107 (3 1) 2-4 Vgl. Wilson, The Gospel ofPhilip, 31. 100 Philippus-Evangelium I I I (55) 34-37 (11,63,3°-35; NHL 13 8). 101 E. H. Pagels (Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, Frankfurt 1981) erkennt dies, ohne jedoch die systemischen Implikationen zuzugeben. Vgl. auch dies., What Became of God the Mother? Conflicting Images of God in Early Christianity, in: Signs 2 (1976) 293-303.
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sen jedoch nicht, ob dieser Dualismus auch Männer von Frauen trennte und ob im Ritus des »Brautgemachs« Männer den männlichen und Frauen den weiblichen Archetyp repräsentieren, da sich ja alle GnostikerInnen als »weiblich« verstanden. Auf jeden Fall wird hier - wie im Brief an die Gemeinde von Ephesus - die irdische Ehe zum Paradigma für himmlische kosmisch-göttliche Vereinigung. Wie der Brief an die EpheserInnen versteht das PhilippusEvangelium diese Vereinigung der eigenen patriarchalen Begrifflichkeit gemäß: Während die Vereinigung in dieser Welt Mann und Frau ist, der Ort für die Kraft und die Schwäche, ist im Äon das Abbild der Vereinigung etwas anderes. Wir nennen sie aber mit diesen Namen. 102 Wie die Einheit von Christus und Kirche im Brief an die Gemeinde von Ephesus, so ist auch hier das »Brautgemach« ein wahres Geheimnis, das noch verborgen ist. »Niemand wird den Bräutigam und die Braut sehen können, außer er/sie wird dieses«, Braut oder Bräutigam. Jedoch bezieht sich dieses Geheimnis nicht auf soziale und kirchliche Ehebeziebungen 103, sondern auf die Verwandlung des/der Voll-Gnostiker In in ein auferstandenes Wesen: Das Philippus-Evangelium vertritt im vollen Vertrauen auf die Wirksamkeit des Bildes, des »widergespiegelten« Brautgemachs, eine optimistischere Sicht der Welt und der Menschen, als wir im allgemeinen mit gnostischen Systemen verbinden. Die Schöpfung als solche mag aus Mißverständnis und Unwissenheit entstanden sein und noch bestehen. Trotzdem wissen die wahren Gläubigen, wie sie die Mittel dieser Welt benutzen können, um sie zu transzendieren. Diese Transzendenz impliziert wesentlich den Zusammenbruch der dualistischen Weltsicht. '°4 Aber ein solcher Zusammenbruch der dualistischen Weltsicht ereignet sich nur für die einzelne Seele des/der GnostikerIn. Er führt zur Bildung einer geistigen Elite und zum kirchlichen Dualismus zwischen den VollGnostikerInnen, die bereits »die Vollendung der Ehe« erhalten haben und den »psychischen« oder »hebräischen« Menschen, die nicht fähig 102 Philippus-Evangelium, 124 (103), 6-9 (II, 76,5-10; NHL 145)' 103 Vgl. a.a.O. 130 (122), 4-6 (II, 82,1-5; NHL 149): »Wenn die Hochzeit der Befleckung verborgen ist, um wie viel mehr ist die unbefleckte Hochzeit ein wahres Geheimnis.« 1°4 J. ]acobson Buckley, A Cult Mystery in the Gospel of Philip, in: Journal of Biblical Literature 99 (1980) 569-5 81.5 81.
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sind, von der »psychischen« zur »pneumatischen« Existenzebene aufzusteigen. r05 Während der Brief an die Gemeinde von Ephesus eine Ehetheologie der Unterordnung vertritt, vertritt das Philippus-Evangelium das Sakrament des »Brautgemachs« als spirituell-symbolisches Mittel zur individuellen Vervollkommnung und psychischen Vereinigung. Hier »in dieser Welt« verkörpert die Ehefrau »Schwäche« und muß »in allem untergeordnet« bleiben. Das weibliche Prinzip ist dem männlichen nachgeordnet - nicht nur auf Erden sondern auch im Himmel. Solch kosmischanthropologischer Dualismus jedoch ist für die Gnosis weder eigentümlich noch auf sie beschränkt. R. Bear hat überzeugend aufgezeigt, daß Philo von Alexandria die Kategorien »männlich und weiblich« auf zwei verschiedene Weisen benutzt: Einerseits vertritt Philo die Ansicht, daß die rationale menschliche Seele dem Göttlichen nahe verwandt ist und überhaupt keinen Anteil an der Sexualität hat, die irrationale menschliche Seele dagegen, die der menschliche Körper umgibt, an der Geschlechterpolarität männlich/weiblich teilhat. Die Kategorien »männlich« und »weiblich« beziehen sich nach Philo deshalb auf den sterblichen Teil und nicht auf den nach dem Bilde Gottes geschaffenen unsterblichen Teil von Menschen. Andererseits gebraucht Philo die Kategorie »männlich« zur Bezeichnung der menschlichen Seele, während er die irrationale Seele als »weiblich« charakterisiert. r06 In diesem Kontext wird »männlich« stets in sehr positiver Bedeutung verwendet, während Sprache und Bilder für »das Weibliche« negative Beiklänge haben. Die geistige und sittliche Entwicklung von Menschen wird dann als »Männlich-werden« verstanden, wenn die Betonung auf menschlicher Anstrengung und Askese liegt. Wenn Philo aber unterstreichen will, daß die wahre Tugend ein Geschenk der göttlichen Gnade ist, spricht er von »Jungfrau-werden« oder »Eins-werden«. Männlich-werden oder Jungfrau-werden heißt, den Bereich der Geschlechterpolarität verlassen, weil die menschliche rationale Seele, die nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, weder männlich noch weiblich ist. Bei den Menschen macht die Vereinigung zum Zwecke der Kindererzeugung die Jungfrau zum Weibe; wenn aber Gott mit der Seele zu verkehren begonnen hat, erklärt er die, die zuvor schon Weib war, wieder zur Jungfrau, da er die unedlen und unmännlichen Begierden, durch die sie Weib wurde, aus ihr wegschafft und dafür die edlen und 105 Vgl. E. H. Pagels, The Valentinian Claim to EsotericExegesis ofRomans as Basis for Anthropological Theory, in: Vigiliae Christianae 26 (1972) 241-258. 106 Vgl. Baer, Philo's Use, 14-44.
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unbefleckten Tugenden in sie einführt. So verkehrt er mit Sarah nicht eher, als bis sie alle Eigenschaften des Weibes verloren hat (Gen 18, I I) . und wieder zum Rang einer reinen Jungfrau zurückgekehrt ist. 10 7 Obwohl Philos Rede von »männlich und weiblich« große Nähe zur gnostischen Sprache und Denkweise zeigt, werden diese Kategorien innerhalb eines begrenzten Dualismus angewendet und bezeichnen nicht zwei letzte göttliche Prinzipien. Auch patristische Autoren setzen einen weitreichenden anthropologischen Dualismus voraus, der dem Dualismus mancher gnostischer Autoren ähnlich ist. Wie Philo halten sie sich jedoch davon zurück, diesen anthropologischen Dualismus zu einem absoluten kosmologischen Dualismus oder einer göttlichen Dualität zu verallgemeinern. Statt dessen betonen sie, daß die göttliche Wirklichkeit monistisch ist und daß Dualität dieser Welt, der Schöpfung und dem Leib zugehört. Während manche betonen, daß in der christlichen Ehe Frauen und Männer GefährtInnen und Geschwister sind und Frauen und Männer »ein und denselben« Schöpfer, ein und denselben Ursprung, »ein und dasselbe Bild Gottes, ein und dasselbe Gesetz, ein und denselben Tod und ein und dieselbe Auferstehung«108 haben, verbinden die Mehrzahl der Kirchenväter theologischen Monismus und anthropologisch-kosmologischen Dualismus. Sie betonen, daß die göttliche Wirklichkeit monistisch und einheitlich ist, dagegen Geschlechterdualität diese Welt als irdische, körperliche Wirklichkeit kennzeichnet. 109 Wie Philo (und Aristoteles) sehen die Kirchenväter den Mann als paradigmatisches menschliches Wesen und Männlichkeit als Symbol des Göttlichen an. Während ihre philosophische und theologische Begrifflichkeit die natürliche Unterlegenheit von Frauen voraussetzt und das Weibliche als Symbol der irdischen, leiblichen, fleischlichen Weiblichkeit sieht, zwingt sie ihr christlicher Glaube logischerweise, anzuerkennen, daß alle Getauften gleichgestellt sind. 110 Sie hatten folgendes theolo107 Philo, Über die Cherubim 50, zit. nach Philo von Alexandria, hg. v. L. Cohn u. a., Berlin 1962, Bd. IIl, 167-2°5.185. Vgl. auch Baer, Philo's Use, 51. 108 In derselben Homilie 37 über Matthäus verurteilt Gregor von Nazianz das bürgerliche Gesetz, das es einem Ehemann erlaubt, untreu zu sein, die Ehefrau dagegen für Untreue bestraft: "Das Gesetz wurde von Männern gemacht, und aus diesem Grund richtet es sich gegen Frauen.« Im Gegensatz dazu mache das göttliche Gesetz keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, vgl. PG 36.289-292. 109 Zu Gregor von Nyssa vgl. Rosemary R. Ruether, Virginal Feminism in the Fathers of the Church, in: Religion and Sexism, New York 1974, 15°-183, bes. 153-155. IIO ZU Augustinus vgl. K. Thraede, Augustin-Texte aus dem Themenkreis »Frau«, »Gesellschaft« und »Gleichheit«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 22 (1979) 7°-97·
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gisches Problem: Wie kann eine Christin, die als Frau von Natur, Gesetz und patriarchaler Gesellschaftsordnung aus minderwertig ist, in ihrem Leben die christliche Gleichstellung erlangen, die ihr als JüngerIn Christi gebührt? Als Antwort auf diese Frage erklärten die Kirchenväter: Eine Christin ist nicht mehr Frau. Während eine ungläubige Frau durch ihr physisches Geschlecht definiert wird, »gelangt« die gläubige Frau »hin zur vollen Mannesreife«, dem Maßstab für die Reife als Christln (vgl. Eph 4,I3)·III Der asexuelle Monismus des Göttlichen kommt auch der von der Dualität leiblicher Geschlechtlichkeit erlösten Seele zu. Die Seele ist bei Mann und Frau gleich und vom selben Wesen. Männlich und Weiblich sind gleich in ihrer Gottebenbildlichkeit, denn auf der Ebene der Seele gibt es weder männlich noch weiblich, auf der historisch-geschöpflichen Ebene jedoch hat die Frau dem Mann untertan zu sein. Die anthropologische leibliche Dualität der Geschlechter ist Folge des Sündenfalls und betrifft nicht die ursprüngliche geistige Schöpfung nach dem Bilde Gottes. Daher repräsentiert die Jungfrau oder Unverheiratete das ursprüngliche, nach dem Bilde Gottes geschaffene »geistige, engelartige« Menschsein. »Hingelangt« zur »vollen Mannesreife«, hört sie auf, eine Frau zu sein, und kann »Mann« genannt werden. Dies ist eine schlichte, wenn auch weitreichende Umwandlung eines neutestamentlichen Konzepts. Die Gleichstellung von Mann und Frau durch die Taufe, die Paulus in der Feststellung »Da gibt es weder männlich noch weiblich« zitierte, wurde von der Taufe getrennt und zur Folgewirkung asketischen Lebens gemacht. In ihren Seelen sind Männer und Frauen ein und dieselben, nicht jedoch in ihren Körpern. Da sie aber dazu ausersehen sind, in ihrem Ein-und-dieselben-sein und ihrer Gleichheit wiederhergestellt zu werden, wenn die Seele den Körper verläßt, können sie bereits jetzt lernen, am himmlischen Leben teilzuhaben. Diese Teilhabe, die allen Gläubigen angeboten ist, läßt sich nicht ohne mühsame Anstrengung erlangen: Sie fordert Enthaltsamkeit von der Ehe, Umerziehung der Sinne und völliges Meiden des weltlichen Lebens. II2 Da patristische Autoren Jungfräulichkeit als wahren Ausdruck der christlichen Gleichheit verstehen, kritisieren sie die patriarchale Ehe und ihre unterdrückerischen Auswirkungen auf Frauen oft sehr scharf. Aber statt patriarch ale Ehe im Sinne christlicher Gleichheit und Freiheit für I I I Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Der vergessene Partner, Düsseldorf 1964, 68ff. 112 G. H. Tavard, Womanin Christian Tradition, Notre Dame 1973, 77f.
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Frauen und Männer von Grund auf zu verändern, schränken sie die christliche Gleichheit und Freiheit auf diejenigen ein, die frei bleiben von den Fesseln der patriarchalen Ehe, die aus der Verfluchung im Paradies resultieren. Gleichgestelltheit von Frauen und Männern wurde nur für eine kleine Zahl von Elite-ChristInnen in Anspruch genommen, die den Lebensstil der Jungfrau und der/des Asketln gewählt hatten. IIJ Jovinian, der behauptete, daß nicht Jungfräulichkeit, sondern Taufe die wahren ChristInnen ausmacht, wurde 389/390 n. u. Z. von Papst Siricius verurteilt. Hieronymus zitiert ihn als einen, der gelehrt habe, »daß Jungfrauen, Witwen und Ehefrauen - wenn sie einmal in Christus gewaschen sind - von gleichem Wert sind, sofern sie sich nicht durch andere Werke unterscheiden.« "4 Wie die Gnosis so verwandelte auch die patristische Kirche ihren kosmisch-spirituellen Dualismus in ekklesial-spirituellen Dualismus und ekklesial-spirituelle Praxis. Nicht alle Getauften, nur eine spirituelle, asketische Elite konnten irdische leiblich-sexuelle Dualismen transzendieren und zu geistlicher Vollkommenheit gelangen. Obwohl Frauen das schwächere Geschlecht waren, konnten sie als Asketinnen »wie Männer« werden. In diesem Punkt stimmen gnostische und patristische AutorInnen überein. Die theologische und christologische Anwendung des patriarchalen Unterwerfungsmusters führt zu einer dualistischen kirchlichen Praxis: Wahre religiöse Frauen sind keine Frauen mehr, sondern »vollkommener Mann«, zur »vollen Mannesreife« gelangt, verheiratete Christinnen dagegen bleiben »Frauen« und müssen daher den »Fluch« patriarch al er Ehe erleiden. Trotzdem konnten im Kontext der patriarchaien Kirche nicht einmal jene Frauen, die »männlich« geworden waren, Leitungsfunktionen ausüben, weil sie immer noch Frauen waren. "5 Beschränkt auf die Seele, konnte die Nachfolgepraxis von Gleichgestellten weder die patriarchale Ehe grundlegend verändern noch die Entwicklung der Kirche zu einer patriarchalen Kirche und die Ausschaltung von Frauen aus der Kirchenführung verhindern. Gnostische und patristische Dualismen sind in gleicher Weise das ideologische Resultat patriarchaler Wirklichkeit und patriarchaler Strukturen. Im Laufe der Zeit wurde Ga13,28 nicht nur - aus missionarischen oder ideologischen Gründen - im Interesse des patriarchalen Haushalts modi113]. A. McNamara, Sexual Equality and the Cult ofVirginity in Early Christian Thought, in: Feminist Studies 3 (1976) 145 - I 58. II4 Hieronymus, Adversus Jovinianum 1,3 (PG 23.224); zur Bibliographie vgl. D. Callam, Clerical Continence in the Fourth Century, in: Theological Studies 41 (1980) 3-50, bes. 8-24. II 5 Vgl. R. Gryson, The Ministry ofWomen in the Early Church, Collegeville, Miss. 1976, II3·
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fiziert, sondern auch »vergeistlicht«, weil Kirche und Kirchenleitung patriarchalisiert wurden. Im ersten Jahrhundert findet sich eine solche Patriarchalisierung der Kirche noch nicht. In meiner Untersuchung der Entwicklungslinie der Haustafeln habe ich zu zeigen versucht, daß für die Hauskirchen der frühchristlichen Mission patriarchale Haushaltsund Familienstrukturen nicht bestimmend waren. Ferner haben präsentische oder »enthusiastische« Eschatologie und kosmologische Spekulation christlich-theologische Anpassung an das patriarchale Unterwerfungsmuster bewirkt. Das weitverbreitete exegetische Argument, enthusiastische Theologie, präsentische Eschatologie oder gnostische Spekulationen seien für das in Gal 3,28 zum Ausdruck gebrachte christliche Selbstverständnis verantwortlich, ist nicht haltbar. Ganz im Gegenteil: Die Praxis gegenseitig gleichgestellter Nachfolge von SklavInnen und HerrInnen, Frauen und Männern, JüdInnen und BarbarInnen, Reichen und Armen, Jungen und Alten brachte die christliche Gemeinde in Konflikt mit ihrer sozio-politischen Umwelt. Dieser Konflikt, der durch die christliche Vision von Gal 3,28 und nicht durch »enthusiastische Exzesse« hervorgerufen wurde, wurde zum Anlaß, die griechisch-römische patriarchale Ordnung in die Hauskirche einzuführen. Die Briefe an die Gemeinden von Ephesus und Kolossä bezeugen, daß eine - im Dualismus von irdischer und überirdischer Welt wurzelnde präsentische - Eschatologie dafür verantwortlich ist, daß sich eine theologische Rechtfertigung der patriarchalen Ordnung herausgebildet hat. Die Pastoralbriefe ermöglichen es uns, die Anfänge der Patriarchalisierung nicht nur des christlichen Haushalts sondern auch der Kirche als »Haushalt Gottes« aufzuspüren.
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Der patriarchale Haushalt Gottes und die Frauen-Ekklesia Die vorliegenden Untersuchungen zur Entwicklung von kirchlichen Ämtern und Kirchenordnungen sind zwar zahlreich, aber letztlich nicht schlüssig. I Trotz aller Forschungsarbeit, die geleistet worden ist, um die Spuren der Kultifizierung und Klerikalisierung des christlichen Amtes in eine hierarchische und monarchische, die politischen Strukturen des römischen Reiches übernehmende und fortsetzende Institution zu ermitteln, ist der Patriarchalisierung des christlichen Amtes und der christlichen Kirche nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Einige sozialgeschichtliche Untersuchungen des frühen Christentums setzen voraus, daß patriarchales Selbstverständnis und patriarchale Struktur integrale Bestandteile der christlichen Missionsbewegung in den städtischen Zentren der griechisch-römischen Welt waren, andere dagegen betonen den egalitären Charakter der christlichen Gruppen. Andere Ansätze be, haupten wiederum, daß vom allerersten Anfang an beide Strukturen und Einstellungen in der Kirche nebeneinander existiert haben: der Nachdruck auf der religiösen Gleichheit aller Gläubigen als Schwestern und Brüder, verbunden mit einer hierarchisch geordneten Vorrangstellung der mit Leitungsfunktionen beauftragten ChristInnen gegenüber der christlichen Gemeindeversammlung. Die Gleichheit aller Gläubigen ohne Ansehen aller weltlichen Unterschiede, die außerhalb der Kirche bestehen mögen, ist eines der vorrangigen Themen des frühen Christentums ... Doch wir müssen auch beachten,' daR es im frühen Christentum eine Gruppe gegeben hat, die über oder außerhalb der allgemeinen Gleichrangigkeit stand: die mit der Leitung beauftragten ChristInnen. Schon in neutestamentlicher Zeit waren die Apostel in gewissem Sinn den anderen Christen übergeordnet, und im zweiten Jahrhundert wurde der Unterschied zwischen Klerus und Laien ziemlich klar definiert. 2 I Vgl. v. a. E. Schweizer, Geist und Gemeinde im Neuen Testament und heute, München 1952, und E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981. Vgl. auch die Übersicht über die neutestamentliche Literatur: A. Lemaire, The Ministries in the New Testament, in: Biblical Theological Bulletin 3 (1973) 133- 166; zurfrühen Kirche vgl. J. Mühlsteiger, Zum Verfassungs recht der Frühkirche, in: Zeitschrift für Katholisehe Theologie 99 (1977) 129-155 und 257-285. 2 L. W. Countryman, Christian Equality and the Early Catholic Episcopate, in: Anglican TheologicaiReview63 (1981) 1I5-I38.II5.
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Diese Argumentation vermischt jedoch unterschiedliche Organisationsformen und führt schließlich zu einem dualistischen Verständnis von Kirche und Amt. Sie nimmt an, daß Gleichrangigkeit und egalitäre Organisationsstrukturen Autorität und Leitung ausschließen müssen. Dabei übersieht sie die Tatsache, daß ein rollierendes System - wie die Soziologie es nennt - charakteristisch ist für Gleichrangigkeit und egalitäre Strukturen) Gleichgestelltheit wird dadurch gewährleistet, daß Autorität und Leitung unter den Mitgliedern einer Gruppe getauscht und gewechselt werden und grundsätzlich alle gleichen Zugang zu Autorität, Leitung und Macht haben. Dies war in der frühchristlichen Bewegung insofern der Fall, als alle Gemeindemitglieder geistbegabte Gottesleute waren, die vom heiligen Geist die Macht und Begabung empfangen haben, die Gemeinde aufzubauen. Verschiedene Gemeindemitglieder mochten verschiedene Gaben erhalten und verschiedene Leitungsfunktionen ausüben, aber im Prinzip hatten alle Gemeindemitglieder gleichen Zugang zu Geistesmacht und öffentlichen Leitungsrollen. Begabung und Berufung durch Gott waren unabhängig von religiösem Hintergrund, gesellschaftlicher Rolle, Geschlecht oder Rasse der einzelnen. In den Paulusbriefen wird die Apostolizität nur deshalb betont, weil die Apostolizität des Paulus von vielen infragegestellt wurde, und nicht um die Überlegenheit des Apostels gegenüber allen anderen Leitungsrollen herauszustreichen. 4 Dle frühchristliche Missionsbewegung wurde nicht von der Dichotomie zwischen religiöser Gleichheit aller Mitglieder und spiritueller Überlegenheit von ApostelInnen und anderen Leitungspersonen bestimmt. Wenn überhaupt zwischen verschiedenen Leitungsämtern unterschieden wurde, dann wurde der Unterschied hauptsächlich zwischen regionaler und überregionaler Leitung getroffen. Die Probleme, die Paulus mit der Gemeinde in Korinth hat, rühren zum Teil daher, daß Paulus - als Missionar - kein ständiges Mitglied der Gemeinde von Korinth war.5 ProphetInnen und ApostelInnen übten überregionale Leitung aus und führten die Legitimation ihrer Leitungstätigkeit auf die direkte Offenbarung und Autorität »des« auferstandenen Kyrios zurück. 6 Die regionale Leitung - VorsteherInnen von Hauskirchen, BischöfInnen, DiakonInnen 3 Vgl. E. Baulding, The Underside ofHistory, Boulder, Colo. I976, 48-67. 4 Vgl. den Exkurs über Apostel in: H. D. Betz, Galatians, Philadelphia I979 (Hermeneia), 74f (Bibliographie), und D. Geargi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, Neukirchen- Vluyn I964 (WMANT rr). 5 Vgl. W. Wiefel, Die missionarische Eigenart des Paulus, in: Kairos I7 (I975) 21823I.224; B. Halmberg, Paul and Power, Lund I978 (Con BNTS rr) 72-95. 6 Vgl. H. Kraft, Die Anfänge des geistlichen Amtes, in: Theologische Literaturzeitung IOO (I975) 82-98.
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und Älteste - scheint sich in Analogie zu den Verwaltungs ämtern der privaten griechisch-römischen Vereinigungen und der jüdischen Synagogen-Organisationen entwickelt zu haben und war von der Gemeinde abhängig. Während die administrativen Charismen hauptsächlich im Kontext von Hauskirchen und örtlichen Gemeinden ihre Funktion hatten, beschränkte sich die Leitung von ApostelInnen, MissionarInnen und ProphetInnen nicht auf örtliche Gemeinden. Die Veränderung, die im zweiten Jahrhundert stattfand, war nicht ein Wechsel von charismatischer Leitung zu institutioneller Konsolidierung, sondern der Wechsel von charismatischer und gemeinschaftlicher Autorität zu einer den regionalen AmtsträgerInnen übertragenen Autorität, wobei diese AmtsträgerInnen mit der Zeit nicht nur die Lehrautorität der ProphetInnen und ApostelInnen, sondern auch die Entscheidungsmacht der Gemeinde an sich zogen. Dies ist gleichzeitig ein Wechsel von der allen Getauften zugänglichen - gegenseitig abwechselnden Leitung zu einem auf führende und wohlhabende männliche Haushaltsvorstände beschränkten patriarchalen Amt; es ist ein Wechsel von der Hauskirehe zur Kirche als »Haushalt Gottes«. Diese Veränderung brachte es auch mit sich, daß die Autorität und der Einfluß wohlhabender Gemeindemitglieder nun örtlichen Verwaltungsleuten der Kirche übertragen wurde. Obwohl die Analogie zwischen der frühchristlichen Gemeinde und privaten GenossInnenschaften oder Vereinen in rechtlicher Hinsicht umstritten ist, ist sie in sozialer Hinsicht größtenteils anerkannt. Vor einem Jahrhundert hat E. Hatch darauf hingewiesen, daß die Titel episkopos und diakonos die VerwaltungsbeamtInnen und VorsteherInnen des christlichen Zusammenschlusses in Analogie zu den griechisch-römischen Vereinen bezeichnen.7 Die Ältesten wiederum repräsentieren einen Rest oder einen Ausschuß von LeiterInnen, deren Mitgliedschaft auf Alter und patriarchalem Status beruht. Diese Ämter in örtlichen GenossInnenschaften waren nicht immer Ämter auf Dauer und waren oft von der Wahl auf Zeit durch die Vereinsoder Kultmitglieder abhängig. Dazu kommt, daß für das Leben der privaten griechisch-römischen GenossInnenschaften und Vereine reiche GönnerInnen oder PatronInnen sehr wichtig waren. Das verlieh ihnen Einfluß und Macht über die Mitglieder. Folglich hatten wohlhabende Mitglieder der christlichen Gemeinde - besonders diejenigen, die einer Hauskirche vorstanden -, indem sie Räume und rechtliche und finanzielle Hilfe zur Verfügung stellten, vom allerersten Anfang an auch in der Kirche bedeutenden Einfluß und große Macht. 8 In rKor r,r6 erwähnt 7 Vgl. E. Hateh, The Organization of the Early Christian Churches, Oxford r88r. 8 Vgl. H. Conzelmann, Erster Korintherbrief, Göttingen" r969.
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Paulus den Haushalt des Stephanas, des ersten Bekehrten in Achaia, dessen Haus »sich zur Diakonia an den Heiligen zur Verfügung gestellt hat« (16,15). Daher redet Paulus den Gemeindemitgliedern dringend zu, sich diesen und allen, die in der Mission mitarbeiten und sich abmühen, unterzuordnen (16,16). Noch zu Beginn des zweiten Jahrhunderts tadelt die/ der VerfasserIn des 3. Johannesbriefes Diotrephes, den Vorsteher einer Hauskirche, der den Gesandten der Ältesten die Gastfreundschaft verweigert hat und gegen die Ältesten selbst agitiert. 9 In dem Maße, in dem Episkopat und Diakonat gegen Ende des ersten Jahrhunderts an Stärke und Einfluß gewannen, indem sie darauf abzielten, alle anderen Leitungsfunktionen zu besetzen, wurde der Einfluß der wohlhabenden Gemeindemitglieder zunehmend beschnitten und geriet unter die Kontrolle der Verwaltungs ämter. Nun werden die Reichen ermahnt, der Kirche und den Armen großzügig zu geben, doch die finanzielle Kontrolle des Kirchenvermögens geht immer mehr in die Hände von Bischof und Klerus über. 10 In den griechisch-römischen GenossInnenschaften machte der Patron klar bezeichnete Schenkungen: die Inschriften geben genau die Bedingungen der Schenkungen an und die Grenzen, innerhalb derer die Vereins beamten diese Bedingungen verändern dürfen. Im Kirchensystem lautete die Ermahnung schlicht, daß die Reichen geben sollen. Die Rolle der Verwaltung wird völlig dem Klerus überlassen. I I Eine solche Trennung von wohlhabenden LaiInnen und Klerus findet sich jedoch in den neutestamentlichen Schriften noch nicht. Die Verschiebung von Patronatsamt zu Verwaltungsamt setzt erst im zweiten Jahrhundert ein. Sie sollte weitreichende Konsequenzen für die Kirchenleitung von Frauen haben, da in der griechisch-römischen Gesellschaft insgesamt und besonders in privaten GenossInnenschaften es ihr Wohlstand war, der Frauen zu großem Einfluß und hoher Autorität verhalf. Daß nun zunehmend männliche Verwaltungsfunktionäre an die Macht kamen, bewirkt folglich drei ineinandergreifende Entwicklungen: 1. Die Ortskirchen und ihre Leitung wurden patriarchalisiert, 2. prophetische und apostolische Leitung gingen im patriarchal bestimmten Bischofsamt 9 Vgl. A. I Malherbe, The Inhospitality of Diotrephes, in: J. Jervell/W. A. Meeks (Hg.), God's Christ and His People. Studies in Honour of Nils Alstrup Dahl, Oslo I977,222-232· IO Vgl. H.-I Drexhage, Wirtschaft und Handel in den frühchristlichen Gemeinden, in: Römische Quartalschrift 76 (I98I) I-72. I I L. W. Countryman, The Rich Christian in the Church of the Early Empire. Contradictions and Accommodations, New York I980, I64.
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auf, 3. die Leitungsaktivität von Frauen wurde auf »den Frauenbereich« beschränkt.
Die Patriarchalisierung von Kirche und Amt Die drei neutestamentlichen Schriften, die üblicherweise Pastoralbriefe genannt werden 12, sind keine Briefe im 'eigentlichen Sinn. Während der 2. Brief an Timotheus einem persönlichen Brief am nächsten zu kommen scheint, klingen der I. Brief an Timotheus und der Brief an Titus eher wie offizielle Weisungsschreiben. Nur diese beiden Briefe enthalten Anweisungen für verschiedene Gruppen in der Gemeinde. Die Zeit der ApostelInnen ist vorbei. Nur noch Paulus, in dessen Namen die Briefe geschrie~ ben sind, wird Apostel genannt. Timotheus und Titus sind Evangelisten und Missionare, Mitarbeiter und Jünger des Paulus, aber keine Apostel. Ihre Funktion und ihre Berufung besteht im Bewahren und Pflegen der wahren Lehren der Tradition. Sie sollen die Verkündigung anderer Lehren bekämpfen und die Gemeinde anweisen, die unverdorbene und »gute« Lehre zu beachten. Die Pastoralbriefe sind keine Kirchenordnung im eigentlichen Sinn'J mit eindeutigen Beschreibungen bestimmter Ämter und Funktionen, sondern Anweisungen für das rechte Verhalten im »Haushalt Gottes«, der Kirche. Es ist schwierig, eindeutig zu bestimmen, an welche Gruppen sie sich richten. Darüber hinaus ist unklar, ob die Adressaten Pseudonyme sind und - falls dies nicht der Fall ist - ob die apostolischen Beauftragten Timotheus und Titus für mehrere Kirchen verantwortlich sind, wie groß diese Kirchen sind und ob die Ortskirche sich noch immer aus Hauskirchen zusammensetzt. Doch ist die Kirche nun deutlich nach »natürlichen« Alters- und Geschlechtsunterschieden hierarchisch geschichtet. Sie ist zwar noch die »neue Familie«, doch diese wird deutlich als patriarchaler Haushalt begriffen. '4 Die Kirche wird als Haushalt Gottes verstanden (ITim 3,15), als »großes Hauswesen« (2Tim 2,20), in dem es 12 Vgl. den Überblicks artikel A. Lemaire, Pastoral Epistles. Redaction and Theology, in: Biblical Theology Bulletin 2 (1972) 25-42. 13 Vgl. H. W. Bartseh, Die Anfänge urchristlicher Rechtsbildungen. Studien zu den Pastoralbriefen, Hamburg 1965 (ThF 34); A. Sand, Anfänge einer Koordinierung verschiedener Gemeindeordnungen nach den Pastoralbriefen, in: J. Hainz (Hg.), Kirche im Werden. Studien zum Thema Amt und Gemeinde im Neuen Testament, München - Paderbom - Wien 1976,215-237; G. Lohfink, Die Normativität der Amtsvorstellungen in den Pastoralbriefen, in: Theologische Quartalschrift 157 (1977) 93- 106. 14 Vgl.J. D. Quinn, in: Communio 8 (1981), aber was Quinn »bewährte Tugenden der christlichen Familie« nennt, sind die Tugenden des griechisch-römischen patriarchalen Haushalts. .
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viele verschiedene "Gefäße« gibt. Ihr Vorsteher oder Verwalter ist der Aufseher/Bischof, der gebildet, untadelig, gut, klug, gerecht, fromm, Ehemann einer einzigen Ehefrau und angesehen bei denen, die nicht zur Gemeinde gehören, sein soll. Er sollte kein Neubekehrter sein und keinen unehrlichen Gewinn anstreben, sondern sich der Gastfreundschaft widmen. Kurz gesagt, der Aufseher/Bischof soll ein guter Paterfamilias sein, der sich als fähig erwiesen hat, seinen eigenen Haushalt gut zu führen (rTim 3,2ff; Tit r,7ff). Ebenso müssen die Ältesten/Presbyter bewiesen haben, daß sie wie Haushaltsvorsteher fähig sind, für die ganze Gemeinde zu sorgen. 15 Die untergeordneten Mitglieder des Haushalts müssen sich ihrerseits der/dem Haushaltsvorsteherln unterwerfen. So wie Ehefrauen (Tit 2,5), Kinder (rTim 3,4) und SklavInnen (Tit 2,9) sich innerhalb des Haushalts unterwürfig verhalten sollen, so sollen sie auch in der Gemeinde ihre untergeordnete Rolle beachten. Eine Ehefrau/eine Frau soll sich stillschweigend und unterwürfig belehren lassen, wie es ihr Status vorschreibt. Sie soll nicht lehren oder Autorität über einen Ehemann/einen Mann haben, da dies die Unterwerfungsordnung verletzen würde (rTim 2,ro-r5). SklavInnen werden ermahnt, sich ihren HerrInnen zu unterwerfen und ihnen nicht zu widersprechen, wohingegen falsche LehrerInnen beschuldigt werden, unbotmäßig zu sein und törichte Dinge zu sagen (Tit r,ro; 2,9). Wie SklavInnen ihre HerrInnnen nicht verachten sollen (rTim 6,2), so soll die Gemeinde insgesamt ihre AmtsträgerInnen hochschätzen (rTim 4,r2; Tit 2,r 5). Wie SklavInnen ihren HerrInnen zu Gefallen sein müssen, so sollen ChristInnen Gott, ihrem »Vater«, wohlgefallen (2 Tim r,2). Für die Autoren der Pastoralbriefe ist der höchste Wert Gehorsam und Unterwürfigkeit gegenüber denen, die die Autorität haben, so daß die Gemeinde - und besonders ihre untergeordneten Mitglieder - der christlichen Lehre zur Ehre gereichen (Tit 2,ro in Hinblick auf SklavInnen) und daß infolge ihres Verhaltens »Gottes Wort nicht in üblen Ruf gebracht werde« (2,5 in Hinblick auf Ehefrauen). ChristInnen sollen gute BürgerInnen sein, die patriarchale Ordnung des Haushalts achten und »für KönigInnen und alle Obrigkeiten« beten, »damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können, in aller Frömmigkeit und Heiligkeit« (rTim 2,rff). Die Pastoralbriefe treten jedoch nicht nur aus apologetischen Gründen 15 Zu diesem ganzen Abschnitt vgl. bes. H. von Lipp, Glaube - Gemeinde - Amt. Zum Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen, Göttingen 1979 (FRLANT 122),94- I 50. Er weist darauf hin, daß es Vorbedingung für einen »Bischof« ist, daß er sich als guter Paterfamilias erwiesen hat; im Haushalt Gottes ist der Bischof jedoch nicht Paterfamilias, sondern nur Verwalter. Herr des Haushalts ist Gott (5. 147, unter Bezugnahme auf 2Tim 2,21).
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für die patriarchale Unterwerfungsordnung ein. Als Haushalt Gottes war die christliche Gemeinde nach den Alters- und Geschlechtsunterschieden, die für den patriarchalen-Haushalt bestimmend waren, hierarchisch geschichtet. Amt und Leitung hingen nicht in erster Linie von spirituellen oder organisatorischen Mitteln und Begabungen, sondern von Alter und Geschlecht ab. Dies wird oft übersehen, wenn exegetische Untersuchungen zwischen Anweisungen an KirchenleiterInnen und Anweisungen an einzelne nach Geschlecht geteilte Altersgruppen zu unterscheiden suchen. Eine solche Unterscheidung ist haltlos, da die Kirchenleitung jetzt den gesellschaftlichen Statusunterschieden des patriarchalen Haushalts angeglichen ist. Beispielsweise wendet sich die Ermahnung in ITim 5,1 nicht auf unterschiedliche Weise an Altersgruppen und Gruppen von AmtsträgerInnen, sondern spricht beide als ein und dieselbe Gruppe an: Einen älteren Mann/Presbyter (presbyteros) fahre nicht an, sondern ermahne ihn wie einen Vater, jüngeren Männern/Diakonen (neoteroi) rede zu wie Brüdern, älteren Frauen/Presbyterinnen (presbyteraz) wie Müttern, jüngeren Frauen/Diakoninnen (neoterai) wie Schwestern in aller Züchtigkeit. I6 Also besteht die Leitung einer Gemeinde aus PresbyterInnen - Männern und Frauen - einerseits und DiakonInnen - Männern und Frauenanderseits. Eine besondere Gruppe sind die Witwen. Diese sind entweder Frauen ohne Ehemänner oder wirkliche Witwen. Die/Der Aufseherln/ BischöfIn scheint aus der Gruppe der PresbyterInnen gewählt worden und - wie es auch in anderen Organisationen jener Zeit der Fall war - in erster Linie mit dem Beschaffen und Verteilen der Kirchengelder beauftragt gewesen zu sein. Bei dieser Aufgabe halfen ihr/ihm DiakonInnen Männer und Frauen. Das Presbyterium war der Verwaltungs rat oder -ausschuß, der sich aus angesehenen HaushaltsvorständInnen - wieder Männer und Frauen - zusammensetzte. Da die Pastoralbriefe nur eine/n AufseherIn/BischöfIn erwähnen, ist es wahrscheinlich, daß dieses Amt unter den PresbyterInnen rotiert hat. I ? ITim 5,17 unterscheidet daher zwischen PresbyterInnen und vorsitzenden PresbyterInnen, die diese Aufgaben gut versehen. Sie sollen doppelten Lohn erhalten. Außerdem
16 Zu dieser Interpretation vgl. R. E. Brown, Episkope and Episkopes. The New Testament Evidence, in: Theological Studies 41 (1980) 322-338.385. 17 Eine gründliche Diskussion findet sich bei]. P. Meier, Presbyteros in the Pastoral Epistles, in: Catholic Biblical Quarterly 35 (1973) 323-345. Zu beachten ist jedoch, daß seine Unterscheidung zwischen der Kirche in Ephesus (1Tim und 2Tim) und der Kirche in Kreta (Tit) nur von wenigen akzeptiert wird.
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scheint die/der vorsitzende PresbyterIn dieselbe Funktion gehabt zu haben wie die/der AufseherIn/BischöfIn: Unterweisung und Lehre. Presbyterinnen I8 , die Vorsteherinnen von Haushalten und Hauskirchen waren, müssen es daher als selbstverständlich vorausgesetzt haben, daß sie auch für die Funktion der/des AufseherIn/BischöfIn gewählt werden konnten. Es ist bezeichnend, daß sich die Ermahnung zu Unterordnung und stillem Verhalten I9 in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde an wohlhabende Frauen richtet. Indem der Autor Frauen verbietet, zu lehren und Autorität über Männer zu haben, spricht er - im Namen des Paulus - ihnen jeden Zugang zum Amt der/des AufseherIn/ BischöfIn ab. Zwar wird führenden Frauen noch erlaubt zu lehren, aber ihre Lehre wird auf die Unterweisung von Frauen beschränkt.'° Folglich widersprechen sich die Anweisungen in rTim 2,r rund Tit 2,3- 5 nicht, sondern stellen vielmehr zwei Seiten derselben patriarchalen Medaille dar. PresbyterInnen sollen »priesterlich« in ihrer Haltung sein und sich als »gute Lehrerinnen«2I erweisen, doch ihre Lehre soll sich auf die Unterweisung von Frauen beschränken. Zusammenfassung: Die Pastoralbriefe scheinen die Gemeindeleitung durch wohlhabende PatronInnen mit der Leitung durch örtliche AmtsträgerInnen der christlichen Genossenschaft zu verbinden. Dabei strukturieren sie die Kirchenleitung entsprechend dem patriarchalen Status und Rang. Die Gemeindeleitung besteht noch aus männlichen und weiblichen Haushaltsvorständen, aus PresbyterInnen - Männern und Frauen -, aus Vätern und Müttern, doch deren Funktionen werden den Statusun18 R. E. Brown (Episkope, 335, Anm. 29) vermutet, daß »Apuila und Priska ein Beispiel darstellen für einen Mann und eine Frau in Rollen, die als typisch für PresbyterInnen betrachtet werden können«, weil sie eine Hauskirche leiten und lehren. 19 Es darf nicht übersehen werden, daß der Text nicht vom »Schweigen« von Frauen spricht, sondern »stilles Verhalten« von Frauen verlangt, das das Ideal für alle ChristInnen ist (vgl. 2,2). Vgl. L. Seanzoni/N. Hardesty, All We're Meant to Be, Waco, Tex. 1974, 7of. Zur Verwandtschaft dieser TextsteIle mit 1Petr 3,1-6 vgl. D. L. Baleh, Let Wives Be Submissive. The Domestic Code in I Peter, Chico, Calif. 1981,95-1°5. 20 Vgl. auch M. Ford, Biblical Material Relevant to the Ordination of Women, in: Journal of Ecumenical Studies 10 (1973) 669-694.683. Sie argumentiert, daß das Lehrverbot für Frauen darauf abzielte, sie vom formellen Entscheidungsfindungsprozeß auszuschließen, der dem Bischof als Inhaber des obersten Lehramts vorbehalten werden sollte. H. W. Williams (Let the Women Learn in Silence, in: Expository Times 16 (1904-05) 188f) meint, Frauen hätten tatsächlich geschwiegen. N.j. Hommes (Let the Women Be Silentin the Church, in: Calvin TheologicalJournal4 (1969) 410-416.410f) dagegen vertritt die These, daß es Frauen erlaubt war, sich an der Lehre und Ermahnung für Frauen zu beteiligen, da diese Funktionen nicht an ein Amt gebunden waren, sondern in der Gemeindeversammlung geschahen (vgl. Eph 5,19). 21 Kalodidaskalous wird gewöhnlich falsch als »sie sollen lehren, was gut ist« übersetzt, vgl. z. B. die RSV-Übersetzung oder j. L. H oulden, The Pastoral Epistles, N ew York 1976, 146 und 148, (vgl. die Zürcher Bibelübersetzung: »Gutes lehrend«, d. Ü.).
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terschieden des griechisch-römischen Großhaushalts und der griechischrömischen Gesellschaft gemäß definiert und beschränkt. Das an die Macht gekommene Patronatssystem usurpiert die demokratischeren Ämter der privaten GenossInnenschaften dadurch, daß es die örtliche Elite in die eigenen Reihen aufnimmt. Dadurch wird die Funktion von BischöfIn und DiakonIn so patriarchalisiert, daß sie dem wohlhabenden griechisch-römischen Großhaushalt angepaßt werden. Diese Entwicklung wird auch durch die jüdische Organisationsform eines leitenden Ältestenrates gestützt, der aus den Oberhäuptern der führenden Familien besteht. Die Gemeindeleitung und das Verhalten von freien Frauen und SklavInnen werden eingeschränkt und den patriarchalen Normen der griechisch-römischen Gesellschaft gemäß festgelegt, damit Außenstehende nicht an ihrem ungehorsamen Verhalten Anstoß nehmen. 22 Wenn die patriarchale Ordnung des Großhaushalts auf die Kirchenordnung angewendet wird, schränkt dies die Leitungsfunktion wohlhabender Frauen ein und zementiert die soziale Ausbeutung von SklavInnen Frauen und Männern _23 sogar innerhalb der christlichen Hausgemeinde bzw. führt sie dort wieder ein. 24 Der 1. Klemensbrief'5, der möglicherweise vor den Pastoral briefen verfaßt wurde, ermöglicht uns einen Einblick in die Beteiligung der Gemeinde an Einstellung und Entlassung örtlicher AmtsträgerInnen. Der Brief wird von der Gemeinde in Rom an die Gemeinde in Korinth geschrieben, weil diese Gemeinde bestimmte PresbyterInnen/BischöfInnen 26 abgesetzt hat. Dies hätte sie nicht tun sollen, so argumentiert der 22 Dieser politisch-apologetische Kontext der Gebote für Frauen darf nicht übersehen werden, da der ganze Abschnitt darüber, was »rechtes Verhalten« in Gottes Haushalt sei, mit einem Aufruf zum Gebet für »Kaiser und alle Autoritäten, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können, in aller Frömmigkeit und Heiligkeit« (rTim 2,2) beginnt. 23 Christliche SklavInnen scheinen darauf bestanden zu haben, daß sie als ihren christlichen SklavenherrInnen gleichgestellt behandelt werden, »weil sie Brüder und Schwestern« und ebenso weil sie »Gläubige und Geliebte« sind (rTim 6,rf; zu diesen Ausdrücken vgl. bes. den Brief des Paulus an Philemon). 24 Es darf nicht übersehen werden, daß rTim 2,r2- r 5 mit Berufung auf die Bibel das Verbot der Leitung für Frauen und die Anpassung von Frauen an griechisch-römische Haushaltsstrukturen legitimiert. Eva wird nicht nur als zweite für die Schöpfung, sondern auch als erste für die Sünde dargestellt. Wegen der Anpassung des Haushalts Gottes an griechisch-römische patriarchale Haushaltsstrukturen wurde eine frauenfeindliche Theologie entwickelt. 25 Zur Bibliographie vgl. die Einleitung zu C. C. Richardson, Early Christian Fathers, New York r970, 33-42; O. Knoch, Die Ausführungen des I. Clemensbriefes über die kirchliche Verfassung im Spiegel der neueren Deutungen seit R. Sohm, und A. Harnack, in: Theologische Quartalschrift r4r (r96r) 385-407; K. Beyschlag, Klemens Romanus und der Frühkatholizismus, Tübingen r966. 26 Die Nomenklatur ist unklar. Vgl. P. Stockmeier, Bischofsamt und Kircheneinheit
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Verfasser, weil diese AmtsträgerInnen mit Zustimmung der ganzen Gemeindeversammlung ernannt worden sind und ihre Sache gut gemacht haben. Also schien es die Regel gewesen zu sein, daß die Gemeindeversammlung GemeindeleiterInnen absetzte, wenn diese ihr Amt nicht gut versahen. Der Verfasser bestätigt außerdem, daß »der« Geist auf alle Gemeindemitglieder ausgegossen wurde (2,2) und daß es Sache der Gemeindeversammlung ist, zu entscheiden, was zu tun ist (54,2). So hat es den Anschein, daß der Verfasser von einer älteren Gemeindeordnung weiß, nach der die örtlichen kirchlichen Amtsträgerinnen von der gesamten Gemeindeversammlung ernannt wurden und von ihr abhängig waren. Trotzdem stempelt er die Initiative bestimmter Gemeindemitglieder, hochgeachtete PresbyterInnen/BischöfInnen aus dem Amt zu entfernen, als Aufruhr und Streit ab. Er deutet an, daß die abgesetzten Amtsträger ihr Amt bis auf die ApostelInnen zurückverfolgen können (44,2ff), und verlangt, daß die GegnerInnen ihre Intervention noch einmal überdenken und ihre Maßnahmen widerrufen. Zwar gibt er zu, daß es schon zur Zeit des Paulus Streit und Meinungsverschiedenheiten in Korinth gegeben hat, doch sein Argument ist, die damaligen Probleme seien eine geringere Sünde gewesen, weil die KorintherInnen »für bezeugte Apostel und einen nach ihrem Urteil erprobten Mann Partei ergriffen« hatten (47,4)· Der theologische Schlüsselbegriff im 1. KIemensbrief ist »Ordnung«.27 Diese Ordnung stellt sich der Verfasser analog zur militärischen Rangordnung, zur levitischen Ordnung des Priesteramtes und zur patriarchalen Ordnung des Großhaushalts vor. Die männlichen Haushaltsoberhäupter in Korinth werden dafür gelobt, daß sie in der Vergangenheit diese patriarchale Ordnung beachtet haben (1,3), und sie werden ermahnt, sie in der Gegenwart erneut in Kraft zu setzen (21,6-9). Diese Ordnung gründe in der Natur und wurzle in der Schöpfung. Daher wird Gott» Vater der Ewigkeit« und »Herr des Alls« genannt, der »züchtigt« (56,16). Darum werden diejenigen KorintherInnen, die »Grund zum Aufruhr gelegt« haben, ermahnt: »ordnet euch den PresbyterInnen unter, laßt euch züchtigen zur Buße ... , lernt Unterordnung, legt ab die prahlerische und hochmütige Überheblichkeit eurer Zunge« (57,If), damit sie in der Herde Christi, der Kirche, einen achtbaren, wenn auch unbedeutenden Platz einnehmen können. Die für die Absetzung der hochangesehenen Ältesten verantwortlich sind, werden folgendermaßen charakterisiert: bei den Apostolischen Vätern, in: Trierer Theologische Zeitschrift 73 (1964) )2I335·)28. 27 Vgl. G. Deussen, Weisen der Bischofswahl im I. Clemensbrief und in der Didache, in: Theologie und Glaube 62 (1972) 125-I35.
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So erhoben sich die Unbeachteten gegen die Geachteten, die Unangesehenen gegen die Angesehenen, die Unverständigen gegen die Verständigen, die Jungen gegen die Alten. (3,3) Im Vergleich zu derartigem Benehmen wird in folgendem Lobspruch beschrieben, wie die KorintherInnen Gottes Gesetz und Ordnung beachten: Ihr wart untertan euren Vorgesetzten und erwiest die geziemende Ehre den Alten bei euch; die Jungen hieltet ihr zu maßvoller und ehrbarer Gesinnung an; den Frauen gebotet ihr, alles mit untadeligem, ehrbarem und keuschem Gewissen zu tun. (1)3) Es ist wichtig festzuhalten, daß zu den HeldInnen, die wegen »Bescheidenheit und Gehorsam« gelobt werden und der Gemeinde als Beispiele vorangestellt werden, denen alle nacheifern sollen, Frauen gehören. Darüber hinaus gehören Frauen auch zu denen, die Streit und Rivalität als Opfer erleiden mußten. Von denen, die Rivalität verursacht haben, werden die Ehefrauen herausgegriffen, die sich ihren Männern entfremdet haben und »das Wort unseres Vaters Adam (verkehrten): Das ist nun Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (6,3). Zu denen, die aufgefordert werden, Gehorsam zu lernen und ihre Zunge in Zaum zu halten, gehören - neben den AnführerInnen gegen die PresbyterInnen/BischöfInnen - Frauen: »sie sollen der Keuschheit liebenswerte Gesittung zeigen, die lautere Absicht ihrer Sanftmut ausweisen, die Milde offenbar machen, ihre Liebe (agape) nicht nach Neigungen (vgl. ITim 5,21, d. V.), sondern allen Gottesfürchtigen in heiligem Wandel gleichmäßig zuwenden« (21,7). Schließlich erwähnt der Verfasser, wenn er die Aufsässigen zur Buße auffordert, bei den Beispielen für Personen, die »edelmütig, hochherzig, von Liebe erfüllt« waren (54, I) »viele Frauen«, die »durch die Gnade Gottes gestärkt viele männliche Taten« vollbrachten C5 5,3)· Der Autor nennt als Beispiele keine Männer mit Namen, doch er nennt die Namen von zwei Frauen: Judith, die mit Zustimmung der Ältesten ihr Volk unter Gefährdung ihres eigenen Lebens rettete, und Esther, die als Frau von vollkommenem Glauben und vollkommener Demut charakterisiert wird. So rettet sie ihr Volk vor der Vernichtung (55,3 -6). Also scheint die Schlußfolgerung abgesichert, daß unter denen, die (nach den patriarchalen Wertmaßstäben des Verfassers) nicht hochgeachtet und nicht von gutem Ruf waren, aber in der Gemeinde von Korinth die Leitung übernommen hatten, auch Frauen - neben jungen Leuten 28 - waren. Außerdem waren diese Frauen wahrscheinlich wohl28 Countryman (The Rich Christians, 156) meint, sie seien nicht nur wohlhabend, sondern auch neubekehrt (neoi) gewesen.
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habend, wenn Agape sowohl spirituell als auch ökonomisch zu verstehen ist. Statt ihre Spenden von den PresbyterInnen/BischöfInnen verwalten zu lassen 29 - die offensichtlich anderer Meinung darüber waren, wie ihre Mittel verteilt werden sollten, scheinen sie sich denen angeschlossen zu haben, die die PresbyterInnen/BischöfInnen aus dem Amt entfernten. Für griechisch-römische private GenossInnenschaften war dies ein völlig zulässiges Vorgehen. Die Neuerung war folglich nicht der Vorgang der Absetzung, sondern das Bestehen des Verfassers auf der patriarchalen Unterwerfung unter die Autorität. 30 Dies ist eindeutig der Fall, da selbst der Autor des I. KIemensbriefes zugeben muß, daß alle »den« Geist empfangen haben. Überdies hat der Autor keine Macht, die patriarchale Ordnung wieder in Kraft treten zu lassen, und unterläßt es, an eine bestimmte Person oder Gruppe zu appellieren, die Macht dazu hätten haben können. Statt dessen appelliert er an den guten Willen der aufrührerischen Mitglieder der Gemeinde und setzt sie unter moralischen Druck. Während der 1. KIemensbrief noch nicht behauptet, daß BischöfInnen/PresbyterInnen die Vertreter Gottes, des »Vaters« und »Herrn« seien, vollzieht Ignatius von Antiochia 3I diese theologische Wende. Wie die Pastoralbriefe, so spricht auch Ignatius nicht im Plural von BischöfInnenl AufseherInnen, sondern weiß nur von einem Bischof, der sich deutlich von den DiakonInnen und PresbyterInnen unterscheidet. Der Bischof soll das vorrangige Zentrum für die Einheit der Kirche werden. J2 Er soll die Kirche leiten, assistiert von DiakonInnen und unterstützt von einem Rat von PresbyterInnen. Für Ignatius leitet sich die Autorität des Bischofs, der DiakonInnen und Ältesten nicht von den ApostelInnen, einer Sukzessionsreihe oder einer Traditionskette her. Vielmehr sind die AmtsträgerInnen die irdische Ausprägung eines himmlischen Musters. 33 In diesem Muster repräsentiert der Bischof Gott, die PresbyterInnen sind
29 Nach Justin dem Märtyrer (2. Jahrhundert) wurde die Sonntagskollekte der/dem vorsitzenden Amtsträgerln der Kirche übergeben, die/der sie wiederum für alle in Not verwenden sollte (Apologia 77,6). BesucherInnen, die Armen und der niedriger stehende Klerus wurden also vom episkopos wirtschaftlich abhängig. 30 H. von Campenhausen (Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1953) argumentiert jedoch, Clemens habe sich nicht als Erneuerer, sondern als Verteidiger der überlieferten Ordnung verstanden. 31 Vgl. Übersetzung und Kommentar in: R. M. Grant, The Apostolic Fathers, Bd. 4: Ignatius of Antioch, London 1966; (zur deutschen Übersetzungvgl. z. B.]oseph A. Fischer (Hg.), Schriften des Urchristenrums. Erster Teil, Darmstadt 1956, d. Ü.) 32 Vgl. auch R. Padberg, Das Amtsverständnis der Ignatius-Briefe, in: Theologie und Glaube 62 (1972) 47-54. 33 Zu diesem gesamten Abschnitt vgl. E. Dassmann, Zur Entstehung des Monepiskopats, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 17 (1974) 74-90.
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die ApostelInnen und die DiakonInnen Christus selbst (Mg 6, I). Die Autorität des Bischofs leitet sich nicht von einer historisch-soziologischen Verbindung mit den ApostelInnen, sondern von einer archetypischen Verwandtschaft zwischen »dem« einen Gott im Himmel und Gottes Vertreter oder typos auf Erden her. Erik Peterson hat in seiner sehr bekannten Untersuchung dargelegt, daß der Monotheismus oft dazu gedient hat, monarchische Herrschaft politisch zu rechtfertigen: ein Gott, ein Kaiser, ein Reich! Analog betont Ignatius: ein Gott, ein Bischof, eine Kirche. Doch so wie Augustus zunehmend als Landesvater, pater patriae, verstanden wird, so ist für Ignatius der Bischof der typos Gottes, des Vaters. Obwohl der Bischof der Magnesierlnnen sehr jung ist, sollen sie ihn voll respektieren, wie sie die Autorität »Gottes, des Vaters« (Mg 3,1) respektieren. Der Bischof hat den Vorsitz »an Gottes Stelle«, während die Presbyter Innen die Stelle des Rats der ApostelInnen einnehmen und DiakonInnen »mit dem Dienst Christi betraut sind, der vor aller Zeit beim Vater war und am Ende erschienen ist« (Mg 6,1). Genauso wie Jesus Christus nichts ohne den >>Vater« tat, so sollen die Gemeindemitglieder nichts ohne den Bischof tun. Die Magnesierlnnen sollen sich dem Bischof unterwerfen, genauso wie Jesus sich »dem Vater« unterworfen hat. Die Epheserlnnen werden ermahnt, dem Bischof keinen Widerstand zu leisten, damit sie Gott untertan sind (Eph 5,3). Die Trallianerlnnen werden angewiesen, die DiakonInnen zu »achten wie Jesus Christus, ebenso den Bischof als Abbild des Vaters, die PresbyterInnen aber wie eine Ratsversammlung Gottes und wie eine Vereinigung von ApostelInnen« (Tr 3,1). Dagegen haben diejenigen, die unabhängig von Bischof, PresbyterInnen und DiakonInnen handeln, kein reines Gewissen (7,2). Besonders die PresbyterInnen werden ermahnt, »dem Bischof Freude zu machen zur Ehre des Vaters, Jesu Christi und der Apostel« (Tr 12,2). In seinem Brief an die PhiladelphierInnen hebt Ignatius hervor, daß der Bischof sein Amt nicht sich selbst - oder anderen Menschen - verdankt, sondern der Liebe »Gottes, des Vaters und des Herrn Jesus Christus« (1,1). Die Smyrnäerlnnen werden ermahnt: »Folgt alle dem Bischof wie Jesus Christus dem Vater« (Sm 8,1). Was der Bischof gutheißt, gefällt Gott ebenfalls. Die den Bischof ehren, ehren Gott, während diejenigen, die unabhängig vom Bischof eigenmächtig handeln, dem Teufel dienen (9,2). Obwohl der Bischof auch mit Jesus Christus verglichen werden kann und alle ChristInnen das Siegel »des Vaters« tragen, ist die vorherrschende archetypische Beziehung die zwischen dem einen Bischof und »dem« einen Gott, »dem Vater«, »der« auch Bischof aller genannt wird (Mg 6,1). Die Kirche ist die Kirche Gottes, »des Vaters«, und des geliebten Christus (Brief an die Smyrnäerlnnen, Vorwort). Kurz: Ignatius
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rechtfertigt die patriarchale Ordnung theologisch. 34 Während der I. Klemensbrief die patriarchale Ordnung im Blick auf Natur und Schöpfung rechtfertigt, legitimiert sie Ignatius theologisch und christologisch. Unterordnung unter und Respekt für den Bischof, nicht die Nachfolge von einander Gleichgestellten, wird theologisch entfaltet. 35
Die Lehrautorität des Bischofs Die Verschiebung, die im zweiten Jahrhundert hinsichtlich kirchlicher Autorität und Struktur stattfindet, ist nicht nur eine Verschiebung von einer ortskirchlichen Leitung, die auf Geistbegabung und ökonomischen Ressourcen beruht, hin zu einer patriarchalen Übermacht des örtlichen Amtsinhabers der christlichen GenossInnenschaft. Es ist zugleich auch eine Verschiebung von einer überregionalen charismatischen Autorität, in der das apostolische und das prophetische Element miteinander verschmolzen waren, zu einer Autorität, die als auf die örtlichen Ämter, besonders das monarchische Bischofsamt, übertragen verstanden wird. Während das Apostelamt 36 auf die erste Generation eingegrenzt wurde, konnte das patriarchal definierte Bischofsamt Anspruch auf die Gabe der Prophetie erheben und tat das auch. Die Autorität der! des BischöfIn, Prophetln, LehrerIn 37 und MissionarIn beruhte auf dem unmittelbaren Einwirken "des« Geistes und auf der Erfahrung der Präsenz »des« Auferstandenen. Offenbarung, Predigt und Lehre waren die vorrangigen Funktionen dieser Autorität. Obwohl wir nur vereinzelte Hinweise auf Prophetie im N euen Testament haben, bezeugen diese Stellen, daß Prophetie ein allgegenwärtiges Phänomen in der frühchristlichen Bewegung war. ProphetInnen und Prophetie 38 wa34 Zum Versuch einer soziologischen Analyse vgl. B. j. Malina, The Social World Implied in the Letters to the Christian Bischop-Martyr (Named Ignatius of Antioch), in: SBL Seminar Papers 14 (1978) Bd. 2, 71-II9. bes. 97ff. 35 Aber W. R. Schroedel (Theological Norms and Social Perspectives in Ignatius of Antioch, in: E. P. Sanders (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition, London 1980, Bd. 1,3°- 56. 55) weist darauf hin, daß »das Bemerkenswerte an dem dreifachen Amt, das Ignatius förderte, immer noch eher der Sinn für Solidarität mit der Gemeinde ist und weniger, daß es sich als abgehobenes Segment der Gruppe herausbildet.« 36 Vgl. die Literatur bei F. Hahn, Der Apostolat im Urchristentum, in: Kerygma und Dogma 20 (1974) 54-77; und meinen Aufsatz E. Schüssler Fiorenza, The Apostleship of Women in Early Christianity,in: L. and A. Swidler (Hg.), Women Priests, New York 1977,135-140. 37 Vgl. H. Greeven, Apostel, Lehrer, Vorsteher bei Paulus, in: Zeitschriftfür die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 44 (1952 - 53) 1-4 3· 38 Zur Literatur vgl. E. Schüssler Fiorenza, Apocalypsis and Propheteia. The Book of Revelation in the Context of Early Christian Prophecy, in: J. Lambrecht (Hg.),
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ren in allen christlichen Zentren der griechisch-römischen Welt zu finden. ProphetInnen übten in den ersten Jahrhunderten offensichtlich große Autorität und großen Einfluß als Wortführerlnnen »des« Auferstandenen aus, die die aktuelle Situation der Gemeinde theologisch erleuchteten. Prophetie war nicht auf ein paar Männer in der frühchristlichen Bewegung beschränkt, vielmehr scheint sie charakteristisch für die gesamte Gemeinde gewesen zu sein. Christliche Bekehrung und Taufe führte Menschen in eine Gemeinschaft ein, die Wohnsitz »des« Heiligen Geistes war. In dieser Gemeinde wurden die Geistbegabungen und Geistesgaben erfahren und verwirklicht. Der Grund für die Gaben christlicher Prophetie ist im Glauben der frühen Kirche zu suchen, daß die Kirche als geisterfüllte Versammlung die eschatologische Gemeinschaft, die erneuerte Schöpfung ist. Während die Q-TraditionJesus und seine NachfolgerInnen als ProphetInnen und Botinnen der göttlichen Sophia sieht, die von ihr zu allen Generationen ausgesandt sind, versteht die Apostelgeschichte das Ausgießen »des« Geistes als Erfüllung von Joels eschatologischer Verheißung: In den letzten Tagen wird es geschehen, spricht Gott: Da will ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, und ihre Söhne und ihre Töchter werden weissagen ... Und ich will über meine Knechte und Mägde von meinem Geist ausgießen. (Apg 2,qf)39 Die Mitglieder der frühchristlichen Missionsbewegung verstehen sich als pneumatikoi, als Geisterfüllte. Nach der paulinischen Literatur wurde durch Zungenreden, Visionen, Wunder, Prophezeiung ebenso wie durch Apage, Gegenseitigkeit und Solidarität die schöpferische Lebensmacht »des« Geistes verwirklicht. Frauen empfingen solche prophetischen Gaben ebenso wie Männer. Wie im Judentum und in der griechisch-römischen Welt, so scheint auch im Christentum Jungfräulichkeit mit Prophetie40 in Verbindung gebracht worden zu sein. Der 1. KIemensbrief weiß noch, daß »der« Geist auf alle ChristInnen ausgegossen wird. Die frühchristliche Prophetie teilte die Weltsicht, die der antiken mediterranen Zivilisation gemein warY Viele Regionen überall in der grieL' Apocalypse johannique et I'Apocalyptique dans le N ouveau Testament, GemblouxLeuven 1980 (BETL 53), 105-128. 39 Zur lukanischen Redaktion des Joel-Materials in Apg 2,17-21 vgl. R. F. Zehnle, Peter's PentecostDiscourse, Nashville 1971 (SBLM 15), 28-34 und 125ff. 40 Vgl. die vier jungfräulichen Töchter des Philippus und die Interpretation von lKor II und 14 in diesem Buch, 274-291. 41 Zum folgenden vgl. H. KrämeriR. RendtorffiR. MeyeriG. Friedrich, prophetes, in: ThWNT, Bd. 6.
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chisch-römischen Welt hatten ihre Orakel oder ProphetInnen, durch die die GöttInnen ihren Willen kundtaten. Eines der berühmtesten Beispiele ist das Orakel des Apollo von Delphi. 42 Die Pythia oder Priesterin des Orakels verkündete inspirierte Äußerungen, die dann von amtlichen AuslegerInnen, prophetai genannt, gedeutet wurden. Die Ekstase, in der ein Orakel zum Ausdruck kam, wurde oft durch göttliche Ver-rückung noch besonders hervorgehoben. Wildes Tanzen, unverständliche Rede und Raserei kennzeichneten göttliche Inspiration. 43 Dieses Verständnis von Prophetie als ekstatisches Verhalten und Sprechen kennen auch jüdische Schriftsteller wie Josephus und Philo. Philo beschreibt seine eigenen prophetischen Erfahrungen so daß ich in göttlicher Begeisterung ganz verzückt war und nichts mehr erkannte: weder den Ort, noch die Anwesenden, noch mich selbst ... 44 Eine derartige Erfahrung überkam Menschen unerwartet, sie konnte nicht von selbst hervorgerufen werden. Im Kontext einer solchen Erfahrung von Verzückung und Ekstase ist eine Frau oder ein Mann bloßes Instrument in den Händen Gottes. Denn die/der ProphetIn verkündet überhaupt nichts Eigenes, siel er ist vielmehr nur die/der Sprecherln, der!dem »ein anderer« alles in den Mund legt, was sie/er vorbringt ... da das Denken schwindet und die Burg der Seele verlassen hat, der göttliche Geist aber eingezogen ist und seine Wohnung darin aufgeschlagen hat ... 45 Tatsächlich schweigt die/der ProphetIn, auch wenn sie/er zu reden scheint, da sich ihrer! seiner Sprachwerkzeuge, des Mundes und der Zunge ein anderer bedient ... 46 In Philos Sicht der Hebräischen Bibel waren ProphetInnen in diesem Sinn Instrumente Gottes. An ihrer Spitze steht Moses; doch Prophetie war nicht auf ihn allein beschränkt, da in gewissem Sinn alle, die zum »Herrn« gehören, ProphetInnen waren: »Jeder!m Weisen aber bezeugt die Schrift prophetische Kraft ... Ein Schlechter kann nicht Gottes Dolmetscher werden. «47 42 Vgl. a.a.O., 786-789. 43 Vgl. H. A. Guy, New Testament Prophecy. Its Origins and Significance, London 1947, II9- 142. 44 Philo, Über Abrahams Wanderung, 35. 45 Philo, Über die Einzelgesetze IV, 49; vgl. auch IV, 343. 46 Philo, Der Erbe des Göttlichen, 266. 47 A.a.O.,259·
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Nicht alle ProphetInnen - ob sie hebräisch waren oder griechisch verfielen in ihrer Ekstase in Ver-rückung oder Raserei. Aber alle verstanden sich als »Sprachrohr Gottes«, da »der« göttliche Geist die Stelle ihres Menschenverstandes eingenommen hat. Daher können sie in der ersten Person singular »Ich bin das Alpha und das Omega« oder »Ich bin der Weg und die Wahrheit« sagen. Sie maßen sich keine göttlichen Vorrechte an, indem sie so sprechen, sondern bringen mit direkter Stimme göttliche Offenbarung zum Ausdruck. Im Testament des Job, einer Schrift aus dem ersten Jahrhundert, gibt Job sein Vermögen an seine sieben Söhne, während er seinen Töchtern drei schöne Gürtel gibt, die nicht von dieser Welt, sondern vom Himmel kommen. Diese symbolisieren die prophetische Macht, die die Töchter befähigt, die Zukunft und die Vergangenheit zu schauen, die Sprache der Engel zu sprechen, Gott ein Lied zu singen und die himmlischen Dinge zu preisen. 48 Ekstase und Zungenreden waren Elemente, die zur frühchristlichen Prophetie gehörten, wie Paulus, die Apostelgeschichte, die Apokalypse und der Hirt des Hermas belegen. 49 Die/Der Prophetln verkündigte: »So spricht >der< Heilige Geist.« Die Ermahnung des Paulus in 1Thess 5,19f »>Den< Geist löscht nicht aus. Prophetische Weissagung verachtet nicht«5 0 ist nahezu identisch mit der Wendung, die als Verbot, die prophetische Inspiration durch ein Orakel zu unterdrücken, gebraucht wird. Die Betonung, die Paulus in I Kor 14 darauflegt, daß Prophetie verständlich sein muß, zeigt jedoch, daß dieses ekstatische Verhalten von ProphetInnen bereits reguliert wurde, indem es nun als eine verständliche Gabe definiert wurde, die zum Aufbau der Gemeinde gebraucht werden sollte. Also manifestiert sich die Macht »des« Geistes in ihrer Mitte vorrangig in
48 Vgl. Testament des Job, Kap. 47- 50. Vgl. G. W. E. Nickelsburg, Jewish Literature Between the Bible and the Mischnah, Philadelphia 1981, 241-248. Nickelsburg vermutet, daß diese Schrift ihren Ursprung bei den TherapeutInnen in Ägypten hat. Er betont, daß das Vermächtnis des Job, der seine himmlischen Vollmächte seinen Töchtern und seine irdischen Besitztümer seinen Söhnen vermacht, »Frauen einen höheren sozialen Status als Männern zuschreibt - sicherlich eine Umkehrung der Werte in der damaligen Welt« (246f). (Zur deutschen Übersetzung vgl. Testament des Job, in: Paul Riessler (Hg.), Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Darmstadt 1966, 11041134, d. Ü.) 49 Vgl. N. Bonwetch, Die Prophetie im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter, in: Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft 5 (1884) 4°8-424 und 460-477; E. Cothenet, Prophetisme et ministere d' apres le Nouveau Testament, in: Maison - Dieu 1°7 (1972) 29-50; J. Panagopoulos, l2ie urchristliche Prophetie. Ihr Charakter und ihre Funktion, in: deTS., Prophetie Vocation in the NewTestament, Leiden 1977 (Novum Testamentum, Supplements 45) 1-32. 5 Vgl. B. H ennecken, Verkündigung und Prophetie im I. Thessalonicherbrief, Stuttgart 1969 (SBS 29),1°3-113.
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der Agape-Beziehung unter ChristInnen und nicht nur in ekstatischer Begabung. Die Frage, wie verbreitet die Prophetie in der frühchristlichen Bewegung war, ist schwer zu beantworten. Von Lukas - und den apokryphen Paulus- und Thekla-Akten - erfahren wir, daß die wichtigsten städtischen Zentren des frühen Christentums - J erusalem, Antiochia, E phesus - einflußreiche ProphetInnen hatten, die in der Liturgie ihre Orakel zum Ausdruck brachten. Ebenso gab es sicherlich auch in Korinth und Thessalonich ProphetInnen. Die vier prophetischen Töchter des Philippus lebten in Caesarea und sollen später nach Kleinasien gezogen sein. Nach dem Brief an die Gemeinde von Ephesus ist die universale kosmische Kirche auf dem Fundament von ApostelInnen und ProphetInnen erbaut (2,20). rTim 4,14 nimmt an, daß Timotheus die Gnade der Leitung und des Amtes bei seiner Ordination durch die Ältesten durch das Wort einer/eines Prophetln verliehen wurde. In rTim 4,r verkündet der Verfasser ausdrücklich das prophetische Wort »des« Geistes, um seine GegnerInnen als »falsche Prophetlnnen« zu denunzieren. SI Die Offenbarung des Johannes beansprucht, »Wort der Weissagung« zu sein, und fordert deshalb von ihren LeserInnen: »Hört, was >der( Geist den Gemeinden sagt.«5 2 Außer der Apokalypse bezeugt auch die Didache - eine Kirchenordnung, die wahrscheinlich in Syrien gegen Ende des ersten Jahrhunderts geschrieben wurde 53 -, daß ProphetInnen und Prophetie weiterhin Autorität hatten. Aus Furcht, eine Blasphemie gegen »den« Heiligen Geist zu begehen, vermieden die Menschen, Worte und Offenbarungen der ProphetInnen einer Beurteilung zu unterziehen. Die Didache warnt: »Und jede/n Prophetln, die/der im Geist redet, sollt ihr weder prüfen noch beurteilen! Denn jede Sünde wird vergeben werden, diese Sünde aber wird nicht vergeben werden« (Il,7). Das Kriterium zur Beurteilung wahrer Prophetie war nicht- wie bei Paulus - eine charismatische Unterscheidung »des« Geistes, sondern das Verhalten der/des ProphetIn: »Nicht jede/r, die/der im Geist redet, ist ein/e Prophetln, sondern nur, wenn ihre/seine Lebensweise sich am >Herrn( orientiert« (r r,8). ProphetInnen sollen danach beurteilt werden, ob sie leben, was sie prophezeien, 51 Vgl. N. Brox, Propheteia im ersten Timotheusbrief, in: Biblische Zeitschrift 20 (1976) 229- 232. 52 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Invitation to the Book of Revelation, Garden City, N. Y. 1980. 53 Vgl. jedochJ.-P. Audet, La Didache. Instructions des ap6tres, Paris 1958 (EtBib), der die Schrift zwischen 50 und 70 n. u. Z. datiert. Zu Übersetzungen und Einführungen vgl. Richardson, Early Christian Fathers, 171- 179; und R. A. Kraft, Die Apostolischen Väter, Bd. 3. Vgl. Klaus Wengst (Hg.), Schriften den Urchistentums. Zweiter Teil, Darmstadt 1984, 3- 100.
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wie lange sie sich an einem Ort aufhalten, ob sie für ihre Weissagungen Geld verlangen oder nicht. Ähnliche Kriterien für die Beurteilung von Verhalten finden sich auch bei Matthäus und im Hirten des Hermas. Positiv betrachtet, schätzt die Didache die ProphetInnen hoch. Sie weist die ChristInnen an, ihnen von allem, was sie besitzen, einen Teil abzugeben, weil ProphetInnen dieselben Rollen und Rechte wie die jüdischen Hohepriester haben. Ihr Prophezeien und ihre liturgische Sprache darf nicht in feste Bahnen gelenkt werden. Bei der Eucharistiefeier sind sie nicht an die vorgegebenen liturgischen Gesetze gebunden. Es steht ihnen zu, das heilige Mahl und das eucharistische Dankgebet »im Geist« zu leiten. Nur wenn keine ProphetInnen anwesend sind, fällt der Zehnte den Armen zu und die Leitung der Liturgie den örtlichen AmtsträgerInnen. Das vierte Evangelium betont, daß der Paraklet zu allen JüngerInnen gesandt ist, und hat also ein prophetisches Gemeindeverständnis. 54 Es ist daher kein Zufall, daß das vierte Evangelium sehr machtvolle Geschichten über Jüngerinnen, wie Martha, Maria und Maria von Magdala, enthält. Sogar Ignatius von Antiochia - der ein Verfechter der örtlichen Ämter von BischöfIn, Diakonln und Ältester/rn ist - erhebt für sich selbst Anspruch auf ekstatische Prophetie.5 5 An die Gemeinde von Philadelphia schreibt er: »Ich schrie in eurer Mitte, ich rief mit lauter Stimme, mit Gottes Stimme: Haltet zurIzum BischöfIn und zum Presbyterium und den DiakonInnen.« Da einige seiner Adressatinnen vielleicht seinen prophetischen Status angezweifelt haben, besteht er darauf, daß es in Wirklichkeit nicht er selbst ist, der spricht: »Der Geist aber verkündete und sprach also: Tut nichts ohne die/den BischöfIn« (Phd 7,I-2). Ignatius muß prophetische Autorität in Anspruch nehmen, um Rolle und Einfluß des Bischofs amts stärken zu können. Der vermutlich in Rom um die Mitte des zweiten Jahrhunderts verfaßte Hirt des Hermas belegt die fortdauernde Bedeutung der Prophetie. 56 Wahre ProphetInnen sind demütig und bescheiden, geben, wenn sie um Rat gefragt werden, keine Antwort und sprechen nicht aus eigenem Antrieb. Wenn also der (!) Mensch, der den göttlichen Geist hat, in eine Versammlung gerechter Männer kommt, die den Glauben haben an ,den< göttlichen Geist, und die Versammlung dieser Männer fängt an, zu 54 Vgl. G. Johnston, The Spirit-Paraclete in the Gospel of John, Cambridge 1970 (SNTSM 12), II9-126. 55 Vgl. Grant, Ignatius of Antioch, I04f. 56 Vgl. J. Reiling, Prophecy and the Church. A Study of the 1ah Mandate, Leiden 1974 (Novum Testamentum, Supplements 37), 155- 176.
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Gott zu beten, dann erfüllt der Engel >des< prophetischen Geistes, der bei ihm weilt, den Menschen, und der Mensch, mit >dem< Heiligen Geist erfüllt, spricht zu der Gemeinde, wie der Herr es will. (Geb. XI,9) Falsche Prophet Innen jedoch sind leer und haben keine Macht. Sie sind geschwätzig, leben in großem Luxus, nehmen Honorar für das Weissagen und prophezeien nicht, wenn sie nicht bezahlt werden. Neben den MontanistInnen haben auch andere asketische und gnostische Gruppen die Autorität »des« Geistes, der ProphetInnen und Asketlnnen gegenüber nichtcharismatischen örtlichen AmtsträgerInnen betont. Klemens bezeugt, daß die Valentinianerlnnen die frühesten christlichen Traditionen der Prophetie am Leben gehalten haben. Die Vaientinianerlnnen sagen, daß »der« Geist, »den« alle ProphetInnen speziell für ihr Amt empfangen haben, auf alle in der Kirche ausgegossen wird. Daher werden die Zeichen »des« Geistes - Heilungen und Prophezeiungen - durch die Kirche ausgeführtY Der Bischof Irenäus polemisiert gegen die Anhänger Innen des Valentinianers Markus.5 8 Trotz des theologischen Systems dieser Gruppe, das gnostische Elemente enthalten hat, scheint ihre Kirchenordnung und ihr pneumatisches Selbstverständnis doch der Kirchenordnung und dem Selbstverständnis, das im Ersten Brief an die Gemeinde von Korinth und in der Apostelgeschichte zu finden ist, ähnlich zu sein. So könnte diese Gruppe eine ursprüngliche apostolisch-prophetische Praxis am Leben erhalten haben. In dieser Gruppe galt jedeIr, die/der aufgenommen war, als direkt vom Heiligen Geist inspiriert. Wenn sie zur Versammlung zusammenkamen, zogen die Mitglieder Lose - eine traditionelle jüdische und frühchristliche Praxis zur Weissagung des Willens Gottes. Durch diese Lose wurden sie immer wieder neu und unterschiedlich ausgewählt für die Rolle der! des Presbyterln, als BischäfIn für die Feier der Eucharistie, für die Aufgabe, die Schriften vorzulesen und zu erklären, und als Prophetln, die/der die Gemeinde lehrt und zu ihr spricht. Alle Mitglieder - Frauen und Männer - kamen dafür in Frage, als BischäfIn, Presbyterln, LehrerIn und Prophetln tätig zu werden. Weil diese Funktionen von einer Zusammenkunft zur anderen wechselten, wurden sie nie zu ausschließlichen Vorrechten bestimmter Mitglieder. Das Auslosen und der Gemeinschaftscharakter der geisterfüllten Leitung scheinen dem sehr nahe, was wir über den pneumatischen Gottesdienst in der frühchristlichen Bewegung wissen. Diese Praxis würde überdies erklären, warum 57 Excerpta ex Theodoto I, 24,1. 58 Vgl. Irenäus, Gegen die Häresien I, r3,r-6. Vgl. auchE. Pagels, Versuchung durch Erkenntnis, 57-65, die auf Tertullian, De praescriptione haereticorum 42 verweist.
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niemals eine Person als VorsitzendeIr oder LeiterIn der Eucharistie ausgewiesen ist und warum nichtkanonische Schriften die/den Prophetln als solch eucharistische/n LeiterIn verstehen. Unter den prophetischen LeiterInnen der paulinischen Gemeinden waren Frauen.5 9 Lukas charakterisiert Maria60 , Elisabeth und auch Anna als Prophetinnen. Er erwähnt auch die vier prophetischen Töchter des Philippus (Apg 21,9), deren Ruhm -laut Eusebius - so groß war, daß die Provinzen Asiens ihren apostolischen Ursprung von ihnen herleiteten. Papias, ihr Zeitgenosse in Hierapolis, versichert, daß sie eine der lebendigen Quellen waren, die ihm die wunderbare Geschichte über die Auferweckung der Ehefrau des Manaen erzählt haben. »Ferner führte er ... die Geschichte eines Weibes an, das fälschlich wegen vieler Sünden vor dem Herrn angeklagt worden war«, aber Eusebius sagt uns nicht, ob Papias auch diese Geschichte von den Töchtern des Philippus gehört hat. Prophetinnen sind also als Übermittlerinnen apostolischer Tradition anerkannt (Eccl. Hist. III, 39,7- 17). Johannes, der Verfasser der Apokalypse, weiß von einer Frau, die Prophetin, Lehrerin und Leiterin einer prophetischen Schule6I oder Hauskirche in Thyatira war. Ihre AnhängerInnen werden mit dem terminus technicus »Kinder« (tecna) - einem Ausdruck, der sich im 2. Johannesbrief für die Mitglieder der Hauskirche der »auserwählten Herrin« findet - als ihre JüngerInnen charakterisiert. Der Einfluß, den diese Prophetin hatte, scheint stark genug gewesen zu sein, um Johannes entgegenzuarbeiten, der den Titel »Prophet« nicht für sich selbst verwendet. Es ist jedoch wichtig festzustellen, daß Johannes trotz seines Angriffes auf eine bestimmte Prophetin und Lehrerin62 die Prophetie von Frauen nicht an und für sich in Zweifel zieht. Kleinasien erkannte weiterhin noch bis ins zweite und dritte Jahrhundert Prophetin:p.en an. Thyatira wurde später zu einem Zentrum der montanistischen Bewegung. Im zweiten Jahrhundert versuchten die MontanistInnen ihre Prophetie und ihren apostolischen Ursprung dadurch zu legitimieren, daß sie eine prophetische Sukzessionslinie aufstellten. Sie bezogen sich auf Am59 Vgl. bes. A. Wire, Pieces for a Mosaic of the Corinthian Wornen Prophets, New Y ork 1979 (Paper für das Jahrestreffen der Society of Biblical Literature ). 60 A. Grillmeier (Maria Prophetin. Eine Studie zur patristischen Mariologie, in: Revue des Etudes Augustiniennes I I (1956) 295-312) weist daraufhin, daß die Kirchenväter sich nicht auf Apg 2, sondern auf das Magnifikat berufen, wenn sie Maria als Prophetin beschreiben. 61 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, The Quest for the Johannine School. The Apocalypse and the Fourth Gospel, in: New Testament Studies 23 (1976-77) 402-427. 62 Zum Verhältnis dieser Frau zu den NikolaitInnen vgl. E. Schüssler Fiorenza, Apocalypse and Gnosis in the Book of Revelation and Paul, in: Journal of Biblical Literature 92 (1973) 565-581.
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mia, eine asiatische Prophetin, deren Name noch gegen Ende des zweiten Jahrhunderts in hohem Ansehen stand. Der Antimontanist Eusebius spricht ihr nicht etwa dieses prophetische Amt ab. Vielmehr nimmt er sie für die katholischen ChristInnen in Anspruch. In seiner Sukzessionslinie anerkannter ProphetInnen listet er Agabus, Judas, Silas, die Töchter des Philippus, Ammia in Philadelphia, Quadratus und andere auf (Eccl. Hist. V, 17). Gegen Mitte des zweiten Jahrhunderts bestätigtjustin, daß Christinnen und Christen vom Geist Gottes Charismen empfangen haben (Dial. m. Tryph. 88). Irenäus argumentiert gegen die Alogoi - eine Gruppe, die die Gültigkeit der Prophetie bestritt -, daß Paulus Prophetinnen und Propheten in der Gemeinde anerkannt hat (Adv. Haer. III, II). Die Paulus- und Thekla-Akten erwähnen Prophetinnen wie Theonoe, Stratonike, Eubulla, Phila, Artemilla und Nympha. In Korinth bestärkte eine Prophetin namens Myrte Paulus und die Gemeinde darin, nicht den Mut sinken zu lassen, als Paulus nach Rom gehen mußte. »Der Geist kam über die Myrte, so daß sie sagte ... : >Paulus, der Diener des Herrn, wird viele in Rom erretten, und er wird viele mit dem Worte nähren ... , so daß eine große Gnade sein wird in Rom< «.63 Der gottesdienstliche Kontext deutet darauf hin, daß sie in der eucharistischen Versammlung gesprochen hat. Frühchristliche Prophetie war liturgische Prophetie. Maximilla und Priszilla (oder Prisca) waren die führenden I?rophetinnen im Montanismus. 64 Sie waren nicht bloß Gefährtinnen und Anhängerinnen des Montanus, sondern hatten gleiche Geistesgaben und gleiche Leitungsfunktionen in der montanistischen Bewegung. Wie Montanus nahmen auch die Prophetinnen in Anspruch, daß »der« Paraklet oder Heilige Geist direkt zu ihnen und durch sie sprach. Dieser Anspruch beruhte auf dem Glauben an die Offenbarungen, die »der« Heilige Geist Frauen und Männern in prophetischer Ekstase gab. Die Bewegung erwartete das baldige Kommen »des« Kyrios und zeigte eine leidenschaftliche Verachtung für diese Welt, indem sie für sexuelle Enthaltsamkeit, Fasten und Martyrium eintrat. 65 Die Verkündigung der ersten drei Prophe63 Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 3. völlig neubearbeitete Auflage, hg. v. Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 1964, H. Band, 221-270, 262. 64 Vgl. K. Aland, Der Montanismus und die kleinasiatische Theologie, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 46 (1955) 1°9-116; H. Kraft, Die altkirchliche Prophetie und die Entstehung des Montanismus, in: Theologische Zeitschrift II (1955) 249- 271; T. Bames, The Chronology of Montanism, in: Journal of Theological Studies 21 (1970) 403-407; P. de Labriolle, La crise montaniste. Les sources de l'histoire du montanisme, Paris 1913. 65 Das Martyrium der Perpetua, das aus der Perspektive einer Frau geschrieben ist, zeigt promontanistische Tendenzen, enthält aber keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich Perpetua der Bewegung angeschlossen hätte. »Die Schilderung der Perpetua sowohl in
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tlnnen - Priszilla, Maximilla und Montanus - wurde niedergeschrieben und als Sammlung heiliger Schriften gelesen - genauso wie die Worte der alttestamentlichen ProphetInnen, die Worte Jesu und die Briefe der ApostelInnen. Die zwei bekanntesten Orakel der montanistischen Prophetinnen Priszilla und Maximilla sind bezeichnend. Während Priszilla schlief, erschien ihr Christus in weiblicher Gestalt, »legte in mich die Weisheit« und offenbarte, daß dieser Ort heilig sei und J erusalem aus dem Himmel hierher herabkommen werde (Epiphanius, Haer 49.1,2-3). Nach dem Tod des Montanus wurde Maximilla die Leiterin der Bewegung. Sie wurde verfolgt, und Kommissionen wurden ausgesandt, die sie als Schwindlerin bloßstellen sollten. Ihre GegnerInnen versuchten, Zweifel an der Echtheit der Bewegung aufkommen zu lassen, indem sie ihre geistigen Kräfte auf die Probe stellten. Maximilla beklagte sich bitter: »Ich werde verfolgt wie ein Wolf aus der Herde der Schafe heraus; ich bin nicht ein Wolf; Wort bin ich und Geist und Kraft« (Eusebius, Kirchengeschichte V, 16f). Da die GegnerInnen die montanistische Bewegung nicht aufgrund ihrer Lehre zurückweisen konnten, griffen sie sie mit Verleumdungen ihrer führenden ProphetInnen an. Die Frauen wurden beschuldigt, sie würden sich unmoralisch verhalten und ihre Ehemänner verlassen. Von antimontanistischer Seite wurde behauptet, daß montanistische LeiterInnen Selbst!flord begingen und daß sie bei ihren Mysterienkulten Kinder schlachteten und ihr Blut bei den Opfern vermischten - Vorwürfe, die ursprünglich von HeidInnen gegen alle ChristInnen erhoben wurden. Auf diese Weise wurden die MontanistInnen trotz grundsätzlicher Orthodoxie ihrer Lehre geschmäht und schließlich aus der monepiskopalen Kirche vertrieben. Die beträchtliche Menge an antimontanistischer Literatur konzentriert ihren Angriff besonders auf die Leitung durch Frauen. Da Maximilla und Priszilla Beweis dafür waren, daß »der« Heilige Geist durch das weibliche Geschlecht spricht, ließen die MontanistInnen Frauen zu den kirchlichen »Ämtern« zu. Didymus (De trinitate III, 41,3) behauptet, daß im Montanismus die Prophetinnen in der Gemeindeversammlung gelehrt und prophezeit haben. Firmilian weiß von einer Prophetin in Kleinasien, die 235 n. u. Z. viele LaiInnen und Klerikerlnnen bekehrte. Sie taufte und feierte die Eucharistie (Cyprian, E p. 75,10). Nach Origines »berufen sich diejenigen JüngerInnen, die Priszilla und Maximilla - und der Rolle des Männlichen als des Weiblichen zeigt die frühchristliche Überzeugung an, daß »der« prophetische Geist, wenn »er« weht, wo »er« will, kein Geschlecht bevorzugt« (R. Rader, The Martyrdorn of Perpetua. A Protest Account of Third Century Christianity, in: P. Wilson-Kastner u. a., (Hg.), A Lost Tradition. Wornen Writers of the Early Church, Washington,D. C. 1981, 10).
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nicht Christus, den Bräutigam - zu ihren Herrinnen gewählt haben, auf folgende Prophetinnen: die Töchter des Philippus, Debora, Maria, die Schwester des Aaron, Hulda und Anna, die Tochter des Phanuel« (Fragm. z. rKor 7 4). Origines weist diese Überlieferungen zurück und behauptet, diese Prophetinnen hätten nicht öffentlich und nicht in Versammlungen gesprochen, sondern nur im privaten Bereich. Schließlich erwähnt Epiphanius mehrere Gruppen, die mit dem Montanismus in Verbindung standen, darunter die Kataphrygierlnnen, die Priszilla und Quintilla in hohen Ehren hielten und sie Prophetinnen nannten. Um die Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt zu rechtfertigen, wiesen sie darauf hin, daß Eva als erste vom Baum der Erkenntnis gegessen habe. Sie verwiesen auf Miriam, die Schwester Aarons, die vier prophetischen Töchter des Philippus und auf Ga13,28 als Präzedenzfälle für ihre eigene Praxis: Regelmäßig ist eine Prozession von sieben Fackeln tragenden, weißgekleideten Jungfrauen zu sehen, wie sie in ihre Versammlungen Einzug hält. Unter dem Einfluß des prophetischen Deliriums beklagen sie das Elend des Menschseins und geben sich lauten Bußbezeugungen hin, so daß die HelferInnen ebenfalls mit ihnen weinen. Aber damit nicht genug: Sie haben Bischöfinnen und Presbyterinnen, da sie, wie sie sagen, keinen Unterschied hinsichtlich des Geschlechts machen, um mit der Erklärung des Paulus in Übereinstimmung zu leben: In Christus J esus gibt es weder männlich noch weiblich. 66 Das zweite und dritte Jahrhundert sind gekennzeichnet durch den Kampf zwischen dem prophetischen und örtlichen Amt um Autorität in der Kirche. Nicht der Kanon - wie Harnack glaubte:- sondern die bischöfliche Hierarchie trat an die Stelle der frühchristlichen Prophetie. Die Endredaktion der Didache erlaubt die Beauftragung von BischöfInnen und DiakonInnen, wenn sich keine ProphetInnen in der Gemeinde finden, denn sie »leisten euch nämlich ebenfalls den Dienst von ProphetInnen und LehrerInnen« (r5,r). In der Mitte des 2. Ja~rhunderts nennt das »Martyrium des Polykarp« Polykarp »einen prophetischen Mann« und weist damit darauf hin, daß seine prophetische Leitung größeren Beifall erfahren hat als seine Funktion als Ortsbischof. Ebenso wird gegen Ende des zweiten Jahrhunderts der Bischof Melito von Sardis als Prophet, der ekstatische Offenbarungen zum Ausdruck brachte, charakterisiert. Es hat den Anschein, daß im zweiten Jahrhundert erst die Gabe der Prophetie geltend gemacht wurde, um die Autorität des Orts bischofs 66 Epiphanius, Panarion 49,2-3; vgl. J. K. Koyle, The Fathers on Warnen and Wornen's Ordination, in: Eglise et Theologie 9 (1978) 51- 101.77.
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zu stärken, daß dann gelegentlich vorausgesetzt wurde, der Bischof besäße die Gabe der Prophetie, und schließlich die Autorität des Bischofs an die Stelle der Autorität der/des Prophetln trat. 67 In späteren Jahrhunderten durfte dann nur noch die Amtshierarchie den Anspruch erheben, »mit Gottes eigener Stimme« zu sprechen. Was wir über die montanistische Bewegung wissen, stammt alles aus sehr voreingenommenen und oft verleumderischen Quellen, da die montanistischen Schriften auf Anordnung eines kaiserlichen Edikts 398 n. u. Z. verbrannt wurden. Hippolyt erkannte an, daß MontanistInnen und Groß kirche dieselbe Lehre hatten, mit der Ausnahme, daß die Montanistlnnen eine strengere Disziplin eingeführt haben. Die Konkurrenz zwischen der neu aufkommenden bischöflichen Hierarchie und der traditionsreichen Autorität der/des geistbegabten ProphetIn bewirkte einen erbitterten Kampf - nicht nur gegen die montanistische Bewegung, sondern auch gegen andere asketische, ekstatische oder gnostische Gruppen. Der Kampf gegen den Montanismus gibt jedoch einen Anhaltspunkt dafür, daß nicht eine dogmatische Frage auf dem Spiel stand, sondern es um die Konkurrenz zwischen von Grund auf verschiedenen Kirchenstrukturen und christlichen Selbstverständnissen ging. Die MontanistInnen wie auch viele andere Gruppen - betonten die Autorität »des« Geistes, das heißt die Autorität der/des Prophetln oder Asketln im Gegensatz zur Autorität nichtcharismatischer örtlicher AmtsträgerInnen. Aber dieser Zusammenstoß am Anfang zwischen der Autorität kirchlicher Amtsträger , die Gottes Botschaft aus der Vergangenheit mit »dem« freien Geist neuer Vorgänge vermitteln, und unkontrollierten Offenbarungen war .ein Beispiel für einen fundamentalen Konflikt. Der MontanistInnenstreit illustriert ein Modell grundlegender Meinungsverschiedenheit, das uns durch die Geschichte hindurch begleitet. Die hierarchisch beherrschte Kirche wird mit der Beschuldigung konfrontiert, daß sie Ordnung und Kontinuität um den Preis der Unterdrückung oder mindestens Einschränkung der Spontaneität und Lebhaftigkeit »des« Geistes aufrechterhält. 68 Daß eine derartige Verschiebung stattgefunden hat, wurde sogar noch gegen Ende des vierten Jahrhunderts bestätigt. Der Ambrosiaster, ein pseudonymes lateinisches Werk, bestätigt in einem Kommentar zum Brief an die Gemeinde von Ephesus, daß am Anfang alle gelehrt und getauft haben (omnes docebant et omnes baptizabant). Später sei jedoch eine andere 67 Zum folgenden vgl. bes.]. L. Ash, The Decline of Ecstatic Prophecy in the Early Church, in: Theological Studies 37 (1976) 227-252. 68 R. B. Enno, Authority and Conflict in the Early Church, in: Eglise et Theologie 7 (19 67) 41 -60·47f.
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Ordnung für die Kirchenleitung eingesetzt worden, da es als irrational, vulgär und widerwärtig erschienen sei, daß alle alles tun konnten (... coepit alio ordine et providentia gubernari ecclesia, quia, si omnes omnia possunt, irrationabile esset et vulgaris res villissima videretur) (Ad Eph. 4,1 d). Um die Mitte des dritten Jahrhunderts war die Lehrautorität des Bischofs so gut entwickelt, daß sie anscheinend zur Regel wurde. Jetzt »gehörte die Fähigkeit, christliche Lehre auf Papier, in Lehrschreiben zu übertragen, entweder zum Bischof oder zeichnete einen Mann als qualifiziert für die Konsekration zum Bischof aus«.69 Während in Judentum und anderen Mysterienkulten Leitung und Lehre nicht in ein und demselben Amt vereint waren, genoß der patristische Bischof in allen Fragen der Lehre besondere Autorität. Wenn auch die christliche Missionsbewegung in der griechisch-römischen Welt eine Subgesellschaft war - mit alternativer Vision und Sozialstruktur -, beraubte doch ihre allmähliche Anpassung an die patriarchale Ordnung der griechisch-römischen Gesellschaft die Kirche ihrer klaren und emdeutigen Abgrenzungen gegen die vorherrschenden patriarchalen kulturell-religiösen Normen und das sie tragende Milieu. Während das prophetische, asketische und gnostische Christentum seine soziale Selbstidentität als geistlich-religiöse Identität in Form von innerem Wesen und Lebensstil ausbildete, zog das patristische Christentum seine sozialen Grenzen nach dem Kriterium der Unterwerfung unter den Episkopat, der die Lehr- und Glaubenssysteme kontrollierte. Die Grenzlinien der patristischen Kirche bildeten christliche Identität nicht mehr in Absetzung zur patriarchalen Gesellschaft aus, sondern in Absetzung zu anderen christlichen sozialen Systemen und LehrsystemenJo Die patriarchal definierte Autorität des Monepiskopats wurde somit für das patristische Christentum zum sozialen symbolischen Zentrum der Einheit. Die Lehrautorität des Bischofs wird konstitutiv für die Selbstidentität der patristischen KircheJ' Daher bestehen die patristischen Autoren darauf, daß Frauen nicht lehren, keine intellektuelle Leitung ausüben und keine 69 L. W. Countryman, The Intellectual Role of the Early Catholic Episcopate, in: Church History 48 (1979) 261-268.261. 70 G. Valley (Theological and Non-Theological Motives in Irenaeus' Refutation of the Gnostics, in: Sanders (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition, Bd. I, 174- I 8 5) vertritt die Ansicht, daß »ein autoritäres Muster entworfen wurde, um den häretischen Infragestellungen entgegentreten zu können, wesentliche Züge dieses Musters waren AlteriAntiquitas (Apostolizität) und Konsens (Mehrheit)« (185). Ich bin jedoch der Ansicht, daß es nicht so sehr die Zurückweisung von Dualismus, als vielmehr die Anpassung an griechisch-römische patriarchale Autorität ist, die dieses autoritäre System charakterisiert. Vgl. Dassmann, Zur Entstehung des Monepiskopats, 83ff. 71 Vgl. auch H. Kraft, Vom Ende der urchristlichen Prophetie, in: Panagopoulos, Prophetie Vocation, 162-185. bes. 176ff.
8. Kapitel
Bücher schreiben dürfen.?2 Trotzdem hat es noch Jahrhunderte gedauert, bis die Autorität von Frauen als amtlichen ProphetInnen und LehrerInnen in der Kirche allmählich eliminiert oder unterdrückt worden war. Dieser Prozeß wurde jedoch nie ganz vollendet, da Frauen durch die Jahrhunderte hindurch mystisch-prophetische Lehrautorität beansprucht und selbst Bischöfen und Päpsten gepredigt haben.?3 Die Argumente gegen das öffentliche Lehren und Prophezeien von Frauen wurden ganz besonders im Streit mit verschiedenen gnostischen Gruppen und mit dem Montanismus entwickelt. Da es Frauen tatsächlich wagten, »zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, vielleicht auch noch zu taufen«74, wurde ihre Initiative von der patriarchal orientierten Kirche mehr und mehr an die Kandare gelegt. Die apostolischen Konstitutionen aus dem 4. Jahrhundert erklären kategorisch, daß sie es Frauen nicht erlauben, in der Kirche zu lehren, sondern nur, zu beten und auf die zu hören, die lehren.?! Darüber hinaus schränken sie die Funktionen der DiakonInnen ein auf TürsteherInnen und AssistentInnen der Presbyter, denen sie aus Gründen der Schicklichkeit bei der Taufe von Frauen helfen sollen. Folglich berufen sich Montanismus, Gnostizismus und die patristische Kirche zur Rechtfertigung der eigenen Kirchenordnung und Theologie allesamt auf apostolische Offenbarung und Tradition. Weil die Kanonbildung noch im Fluß war, betrachteten manche Gruppen apokryphe Schriften als Heilige Schrift, während andere Gruppen manche der Schriften, die »kanonisch« wurden, verwarfen. Am Beispiel der Maria von Magdala76 läßt sich illustrieren, wie sehr Schriftauslegung und Rechtfertigung mithilfe der Schrift politischen Zwecken diente. Die kanonischen Evangelien erwähnen Frauen wie Maria von Magdala und Salome als Jüngerinnen J esu. Gnostische und andere Gruppen bauen auf dieser Tradition auf, um sich auf die Jüngerinnen als apostolische Autoritäten für das Empfangen von Offenbarung und Ge72 Vgl. P. de Labriolle, »Mulieres in Ecclesia Taceant«. Un aspect de la lutte antimontaniste, in: Bulletin d'Ancienne Litterature et d' Archeologie Chretiennes I (19 II) 324,103-122 und 291-298. 73 Unter anderem Hildegard von Bingen und Katharina von Siena. 74 Tertullian, Die Prozeßeinreden gegen die Häretiker, 41,5. 75 Vgl. Apostolische Kirchenordnung III, 6,lf. 76 Zu späteren Maria von Magdala-Traditionen vgl. U. Holzmeister, Die Magdalenenfrage in der kirchlichen Überlieferung, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 46 (1922) 402-422 und 556- 584; P. Ketter, The Magdalene Question, Milwaukee 1935; H. Hansei, Die Maria-Magdalena-Legende, Greifswald 1937; V. Saxer, Les Saintes Marie Madeleine et Marie de Bethanie dans la tradition liturgique et homiletique orientale, in: Revue des Sciences Religieuses 32 (1958) 1-37;M. M. Malvern, Venus in Sackcloth. The Magdalen's Origins and Metamorphoses, Carbondale 1975.
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heimlehren zu berufen. Demgegenüber versuchte das patristische Christentum, die Bedeutung der Jüngerinnen und ihrer Leiterin Maria von Magdala herunterzuspielen, und konzentrierte sich auf Petrus, Paulus oder die Zwölf als apostolische Bezugspersonen. Der Streit zwischen verschiedenen christlichen Gruppen darum, welche die höchste apostolische Autorität beanspruchen könne, spiegelt sich in verschiedenen apokryphen Texten wider, die sich auf die Konkurrenz zwischen Petrus und Maria von Magdala beziehen. Maria von Magdala wird in allen vier kanonischen Evangelien als die erste Zeugin des österlichen Glaubensereignisses erwähnt. Doch schon das Lukasevangelium versucht, ihre Rolle als erste Zeugin dadurch herunterzuspielen, daß es einerseits betont, daß »der« Auferstandene dem Petrus erschienen ist, und andererseits unterschlägt, daß »der« Auferstandene den Jüngerinnen erschienen ist. Der dritte Evangelist betont auch, daß die Worte der Apostel den Frauen vorkamen »wie leeres Gerede, und sie glaubten ihnen nicht« (Lk 24, I I). Die Epistola Apostolorum, ein apokryphes Dokument aus dem 2. Jahrhundert, unterstreicht die Skepsis der Jünger. In dieser Version werden Maria von Magdala und Sarah oder Martha und Maria gesandt, um den Aposteln zu verkünden, daß J esus auferstanden ist. Die Apostel glaubten ihnen jedoch nicht, auch nicht, als »der« Herr selbst ihr Zeugnis bestätigt. Erst nachdem sie ihn berührt haben, wissen sie, daß »er wahrhaft im Fleisch auferstanden« ist.n Die SophiaJesu Christi berichtet, daß »der« Erlöser den Zwölfen und den sieben Jüngerinnen, die ihm von Galiläa nach J erusalem gefolgt waren, erscheintJ8 Unter den Jüngerinnen ist Maria von Magdala die einzige, die mit Namen genannt wird. »Der« Erlöser belehrt sie über die Erlösung und über sich selbst und die Sophia. Diese Lehrausführungen schließen mit für gnostische Schriften typischen Schlußworten: >>Von diesem Tage an begannen seine JüngerInnen das Evangelium Gottes, des ewigen Vaters, zu predigen ... « Zu denen, die das Evangelium predigen, werden offensichtlich Frauen gezählt. Das Philippus-Evangelium79 und der Dialog des Erlösers erwähnen Maria von Magdala mit zwei anderen Marias, während das Ägypterevangelium Salome eine hervorragende Rolle zuspricht. In den Fragen Marias gewährt Christus »seiner« bevorzugten Jüngerin Maria von Magdala Offenbarungen und Geheimlehren, während das Thomas-Evangelium auf den Antagonismus zwischen Pe77 Epistula Apostolorum I2 (23), vgl. Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Band I, I32. 78 Vgl. a.a.O., I68-I73; vgl.j. M. Robinson, The Nag Hammadi Library, San Francis co I977, 206-228. 79 Als deutsche Übersetzung vgl. Walter Till, Das Evangelium nach PhilipF>Os, Berlin I9 83·
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trus und Maria von Magdala anspielt, ein Thema, das in der Pistis Sophia und im Evangelium der Maria (von Magdala) noch weiter entfaltet wird. 80 In der Pistis Sophia, einer Schrift aus dem dritten Jahrhundert, nehmen Maria von Magdala und Johannes unter den anderen JüngerInnen einen hervorragenden Platz ein. 8I Jesus selbst betont: »Maria Magdalena und Johannes, der Jungfräuliche, werden überragen alle meine JüngerInnen, und alle Menschen, die Mysterien in dem Unaussprechlichen empfangen werden, werden zu meiner Rechten und zu meiner Linken sein, und ich bin sie, und sie sind ich.« Andere Jüngerinnen, die in der Pistis Sophia erwähnt werden, sind Maria, die Mutter Jesu, Salome und Martha. Von 46 Fragen, die an J esus gerichtet werden, stellt Maria von Magdala 39 Fragen und spielt beim Auslegen eine Hauptrolle. Die Feindschaft des Petrus gegen sie ist durch das gesamte Werk hindurch offenkundig. Er wendet ein: »Mein Herr, wir können diese Frau nicht mehr ertragen, denn sie nimmt uns jede Möglichkeit und läßt keinen von uns zu Wort kommen, sondern spricht die ganze Zeit selbst.« Maria wiederum beklagt sich, daß sie kaum wage, die Offenbarungen, die sie erhalten habe, auszulegen, weil Petrus sie »zögern läßt; ich fürchte mich vor ihm, denn er haßt das weibliche Geschlecht.« Doch Jesus sagt ihr, daß jede/r- ob Frau oder Mann-, die/der Offenbarungen und Gnosis/Erkenntnis empfangen hat, verpflichtet ist zu sprechen. Der Streit zwischen Petrus und Maria von Magdala spiegelt deutlich die Auseinandersetzung in der frühen Kirche über die Frage, ob Frauen rechtmäßige Übermittlerinnen apostolischer Offenbarung und Tradition sind, wider. Diese Kontroverse kommt im Evangelium der Maria, das aus dem 2. Jahrhundert stammt, sogar noch deutlicher zum Ausdruck. 8• Am Schluß des ersten Teils ermahnt Maria von Magdala die JüngerInnen, trotz Angst und Furcht das Evangelium zu verkünden. Nachdem Jesus die JüngerInnen verlassen hat, sind sie dazu nicht bereit, denn sie fürchten, das Schicksal ihres Herrn zu erleiden. Maria von Magdala versichert ihnen, daß »der« Heiland sie beschützen werde und daß sie keine Angst haben sollen, weil der Heiland sie »zu Menschen« gemacht habe. Der zweite Teil des Evangeliums beginnt damit, daß Petrus Maria bittet, ihnen die Offenbarung mitzuteilen, die sie vom Erlöser, der sie mehr als die 80 Vgl. P. Perkins, Peter in Gnostic Revelation, in: SBL Seminar Papers 8 (1974) Bd. 2, 1-13; M. Mees, Das Petrusbild nach außerkanonischen Zeugnissen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 27 (1975) 193-205; C. Kaehler, Zur Form- und Traditionsgeschichte von Matth. xvi. 17- 19, in: N ew Testament Studies 23 (1976) 3658.54.
81 Vgl. Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1,174-183. 82 A.a.O.,251-255.
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übrigen Frauen liebte, empfangen hat. Aber als sie ihnen von einer Vision erzählt, die sie empfangen hat, reagieren Petrus und Andreas mit Ungläubigkeit. Petrus artikuliert den Einwand der Jünger: »Sprach er denn mit einem Weibe heimlich vor uns und nicht offen? ... Hat er sie uns gegenüber bevorzugt?« Maria ist verletzt und besteht weinend darauf, daß sie ihre Visionen nicht erfunden und über »den« Erlöser nicht gelogen hat. Levi kommt ihr zu Hilfe, verteidigt sie und weist Petrus zurecht: Petrus, du bist von je her aufbrausend. Nun sehe ich, wie du dich gegen die Frau ereiferst wie die Widersacher. Wenn der Erlöser sie aber würdig gemacht hat, wer bist denn du, daß du sie verwirfst. Sicherlich kennt der Erlöser sie ganz genau. Deshalb hat er sie mehr als uns geliebt. Wir sollten uns vielmehr schämen, »den« vollkommenen Menschen anziehen, wie er uns aufgetragen hat, und das Evangelium verkünden ... 83 Dieser polemische Dialog spiegelt die Feindseligkeit wider, auf die christliche Gruppen stießen, sobald sie sich auf die Jüngerinnen als Präzedenzfälle in der Schrift und ApostelInnen beriefen. Jene Gruppen, die die apostolische Autorität von Frauen anerkannten, haben vielleicht ihrerseits behauptet, daß alle, die die unter dem Namen einer Jüngerin überlieferten Traditionen und Offenbarungen zurückweisen, damit die Offenbarung des Erlösers zurückweisen und also den Auftrag, das Evangelium zu verkünden, nicht erfüllen. 84 Diejenigen, die sich auf die Autorität des Andreas und Petrus berufen und aufgrund ihres Hasses auf das weibliche Geschlecht gegen die Lehrautorität von Frauen streiten, entstellen die wahre christliche Botschaft. Die Gegenargumente der patriarchalen Opposition finden sich in verschiedenen Kirchenordnungen aus dem 3. und 4. Jahrhundert. Die Didaskalia Apostolorum behauptet, Frauen seien nicht zum Lehren und Predigen berufen. Diese Schrift bestätigt jedoch durchaus, daß Frauen Jüngerinnen J esu waren, und führt drei von ihnen mit Namen auf: Maria von Magdala, Maria, die Tochter des Jakobus, und die »andere« Maria. Doch der Herr habe sie nicht gesandt, zusammen mit den Jüngern »die Menschen zu unterweisen«: »Denn wenn Frauen hätten lehren sollen, hätte ihnen unser Meister selbst befohlen, zusammen mit uns Unterweisungen zu erteilen.«85 Das Dokument beruft sich jedoch auf das Beispiel der Jüngerinnen, wenn es für das Amt der Diakonissen eintritt. 83 Marienevangelium 7,r8; zit. nach a.a.O., 254. 84 Das Marienevangelium betont, daß die ApostelInnen nicht »ein weiteres Gebot oder ein weiteres Gesetz erlassen außer dem, was der Erlöser sagte« (7,r8,20; zit. nach a.a.O.,254)· 85 Didascalia Apostolorum 3.6,2 (ANF 7, 427).
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Die sogenannte Apostolische Kirchenordnung überliefert einen Dialog zwischen Jüngern und Jüngerinnen über die Frage, ob Frauen die Eucharistie feiern dürfen. 86 Dieser Dialog ist dem im Evangelium der Maria in der Form sehr ähnlich. Aber hier sind es nicht nur Petrus und Andreas, sondern auch Johannes, Jakobus und Maria selbst, die den eucharistischen Dienst für Frauen ablehnen. Andreas stellt die Frage, ob die Apostel ein besonderes Amt für Frauen begründen sollen. Petrus weist darauf hin, daß bereits einige Schritte in diese Richtung unternommen worden seien. Dann stellt er die Frage, ob der eucharistische Dienst Frauen offen sein solle. Petrus lehnt dies ab, weil beim Letzten Abendmahl J esus keiner Frau gestattet habe, bei den Aposteln zu stehen. Dieses Argument spiegelt die liturgische Praxis einer viel späteren Zeit wider, denn nach dem Neuen Testament »legte sich« Jesus mit seinen JüngerInnen zu Tisch. Martha wendet ein, dies sei kein Argument gegen den eucharistischen Dienst von Frauen. J esus habe Frauen nicht erlaubt, bei den Männern zu stehen, weil Maria, die vorher als Maria von Magdala identifiziert worden ist, gelacht hätte. Maria weist diese Beschuldigung von Martha zurück und zitiert ein J esuswort gegen den eucharistischen Dienst von Frauen: »Die Schwachen werden durch die Starken gerettet«; das heißt: Frauen werden durch Männer gerettet und nicht umgekehrt. Eine Frau muß hier dafür herhalten, das theologische Argument gegen das Amt von Frauen zu liefern. Auf ähnliche Weise lassen die Fragen des Bartholomäus 87 Maria, die Mutter J esu, dafür eintreten, daß Frauen beim Beten hinter den Männern stehen, da der Herr (tatsächlich jedoch Paulus) gesagt habe, daß das Haupt des Mannes Christus, das Haupt der Frau aber der Mann sei. Später steht Maria jedoch selbst auf und erhebt ihre Hände zum Gebet. Der Dialog zwischen einem Montanisten und einem Orthodoxen 88 wirft Licht auf die Auseinandersetzung um die kirchliche Leitung durch Frauen und weist deutlich darauf hin, daß dieser Streit noch in der Mitte des 4. Jahrhunderts um Fragen des öffentlichen Lehrens und der intellektuellen theologischen Leitung kreist: Montanist: Warum verwerft ihr die heiligen Frauen Maximilla und Priszilla und sagt, daß es Frauen nicht erlaubt sei zu prophezeien? 86 Vg!. The Ecclesiastical Canons ofthe Apostles 24,1 -28, ins Eng!. übertragen von]. P. Arendzen, An Entire Syriac Text of the Apostolic Church Order, in: Journal of Theological Studies 3 (1902) 71. 87 Die Fragen des Bartholomäus, in: Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1,360-372. 88 Vg!. G. Ficker, Widerlegung eines Montanisten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 26 (1905) 447-463.
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Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
Hatte nicht Philippus vier Töchter, die prophezeiten? Und war nicht Debora eine Prophetin? Und §agte nicht der Apostel: »Jede Frau, die mit unverhülltem Haupt betet oder prophezeit ... «? Wenn es Frauen nicht erlaubt ist zu prophezeien, so ist ihnen auch nicht erlaubt zu beten. Wenn sie aber beten, so laßt sie auch prophezeien. Orthodoxer: Wir lehnen nicht ab, daß Frauen prophezeien. Die Heilige Maria hat prophetisch geredet, als sie sagte: »Von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter.« Und wie du selbst sagst, hatte Philippus prophetische Töchter. Und Maria, die Schwester des Aaron, hat prophezeit. Aber wir erlauben Frauen nicht, in den Versammlungen zu sprechen oder Autorität über Männer auszuüben dadurch, daß sie unter eigenem Namen Bücher schreiben. Das ist nämlich für sie die eigentliche Konsequenz des Betens mit unverhülltem Haupt ... War nicht Maria, die Mutter Gottes, fähig, unter ihrem eigenen Namen Bücher zu schreiben? Sie hat es nicht getan, damit sie nicht ihr Haupt dadurch entehre, daß sie sich über Männer stellt. Montanist: Sagt ihr damit, daß mit unverhülltem Haupt beten oder prophezeien Bücher schreiben heißt? Orthodoxer: Genau. Montanist: Wenn die Heilige Maria sagt: >>Von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter«, spricht sie dann frei und offen oder nicht? Orthodoxer: Da das Evangelium nicht in ihrem Namen geschrieben ist, hat sie einen Schleier im Evangelisten. Montanist: Du solltest nicht Allegorien als Dogmen ausgeben! Orthodoxer: Es gibt wirklich keinen Zweifel, daß der Heilige Paulus Allegorien zur Bestätigung von Dogmen verwendete, wenn er sagte, daß Abraham zwei Ehefrauen hatte. Da diese Frauen die beiden Testamente sind, sprach er allegorisch. Wenn das Verhüllen des Hauptes nicht allegorisch verstanden werden soll, mußt du sämtliche allegorischen Interpretationen verwerfen. Wenn eine arme Frau es sich nicht leisten kann, ihr Haupt zu verhüllen, soll sie dann das Beten und Prophezeien unterlassen? Montanist: Denkst du, daß eine Frau wirklich so arm sein kann, daß sie ihr Haupt nicht verhüllen kann? Orthodoxer: Wir haben oft Frauen erlebt, die es sich nicht leisten konnten, ihr Haupt zu verhüllen. Aber wenn du nicht zugeben willst, daß es arme Frauen gibt, die es sich nicht leisten können, ihr Haupt zu verhüllen - was ist mit den Frauen, die getauft werden? Sollen diese Frauen nicht beten? Und was ist mit den Männern, die wegen Krankheit ständig ihren Kopf verhüllen müssen? Willst du auch sie vom Beten und Prophezeien abhalten?
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Montanist: Wenn er betet oder prophezeit, muß er seine Kopfbedekkung abnehmen. Orthodoxer: Müssen wir nicht ohne Unterlaß beten? Oder sollen wir die Lehre des Apostels abtun, der sagt: »Betet ohne Unterlaß« ? Rätst du einer Frau nicht zu beten, wenn sie getauft wird? Montanist: Erkennt ihr Priszilla und Maximilla aus dem Grund nicht an, daß sie Bücher geschrieben haben? Orthodoxer: Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch, weil sie falsche Prophetinnen sind, die ihrem Leiter Montanus folgen. Montanist: Warum meint ihr, daß sie falsche Prophetinnen sind? Orthodoxer: Haben sie nicht dasselbe gesagt wie Montanus? Montanist: Doch. Orthodoxer: Nun, Montanus wurde verurteilt, Dinge gesagt zu haben, die im Widerspruch zur Heiligen Schrift stehen. Daher müssen diese beiden ohne jeden Zweifel gemeinsam mit ihm verworfen werden. 89 Vermutlich verwendete Hieronymus, dem ein Montanist Argumente dafür vorgetragen hatte, daß der Glaube der montanistischen Bewegung in der Schrift begründet sei, diesen Dialog bei seiner Erwiderung auf Marcella. Didymus der Blinde, ein weiterer Autor aus dem 4. Jahrhundert, scheint seine Informationen ebenfalls aus dieser Quelle bezogen zu haben: Die Schrift erkennt als Prophetinnen die vier Töchter des Philippus an, Debora, Maria, die Schwester Aarons, und Maria, die Mutter Gottes, die - wie im Evangelium berichtet - sagt: >Siehe, von nun an werden mich alle Frauen und alle Geschlechter selig preisen.< Aber in der Heiligen Schrift gibt es kein Buch, das in ihrem Namen geschrieben ist. Im Gegenteil: Der Apostel sagt im 1. Timotheusbrief: >Zu lehren gestatte ich der Frau nicht<, und im 1. Brief an die KorintherInnen: >Jede Frau, die mit unverhülltem Haupt betet oder prophetisch redet, entweiht ihr Haupt.< Er meint damit, daß er einer Frau nicht erlaubt, schamlos eigene Autorität zu beanspruchen, um Bücher zu schreiben oder in der Versammlung zu lehren, weil sie damit ihr Haupt, den Mann, entweiht. Denn: >Das Haupt der Frau ist der Mann, und das Haupt des Mannes ist Christus.< Der Grund dafür, daß den Frauen dieses Schweigen auferlegt wurde, ist offensichtlich: Daß in den Anfängen Frauen gelehrt hatten, richtete im Menschengeschlecht beträchtliche Verwüstung an. Denn der Apostel schreibt: »Nicht der Mann war es, der verführt wurde, sondern die Frau.«90 89 R. Gryson, The Ministry of Wornen in the Early Church, Collegeville, Minn. 1976, 75-77· 90 Didymus der Blinde, De trinitate III. 41,3 (PG 39.988C-989A).
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
Das Verbot in den Pastoralbriefen, das es Frauen nicht erlaubt, zu lehren und Autorität über Männer zu haben, wird hier als apostolisches Verbot gegen Frauen, die unter Berufung auf ihre eigene Autorität Bücher schreiben, verstanden.
Die geschlechtliche Festlegung des kirchlichen Amtes Die Patriarchalisierung der frühchristlichen Bewegung und die Machtergreifung des monarchischen Episkopats 9 ! haben die Leiterinnen in der frühen Kirche nicht nur marginalisiert oder ausgeschlossen, sondern auch isoliert und auf Frauenbereiche, die zunehmend unter die Kontrolle des Bischofs gerieten, eingeschränkt. Trotzdem muß erneut betont werden, daß diejenigen Schriften, die eine Vorstellung einer derartigen patriarchalen Dynamik erwecken, präskriptiv und nicht deskriptiv sind, da der männliche Klerus noch bis in die Spätantike hinein oft abhängig war von wohlhabenden und einflußreichen Frauen. 92 Ideologische Präskription und tatsächliche soziale Realität stimmen nicht immer überein. Der Verfasser der Pastoralbriefe weist nicht den Bischof, sondern den vom Apostel Bevollmächtigten an, die »Witwen« in der Gemeinde klarer Regelungen zu unterwerfen und sie zu kontrollieren. Die Anforderungen für die Aufnahme in den Stand der Witwen sind denen für Bischöfe und Diakone ähnlich. 93 So wie der Leiter sich als guter Paterfamilias erwiesen haben muß, nicht erst kürzlich zum Christentum übergetreten sein darf und bei den Außenstehenden einen guten Ruf haben muß, so muß die Witwe unter Beweis stellen, daß sie eine gute Materfamilias gewesen ist, ihre Kinder gut aufgezogen hat und einem einzigen Mann Ehefrau gewesen ist. Aber im Gegensatz zu den Anforderungen an einen Bischof, der nicht unverheiratet und fortgeschrittenen Alters sein muß, wird dies für die Witwe zur Bedingung erklärt. Folglich scheinen Witwen Leitungspositionen, ähnlich denen des Bischofs, innegehabt zu haben, doch wurden sie - weil sie Frauen waren - anders behandelt. Dies wird 91 Die Behauptung, daß die Gegnerschaft gegen Gnostizismus und Montanismus zum Ausschluß von Frauen aus der Kirchenleitung führte, wäre eine allzu starke Simplifizierung. Vgl. A. von Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 4 1924, Bd. 2; und F. Heiler, Die Frau in den Religionen der Menschheit, Berlin 1977, I 15ff. 92 Vgl. Z. B. die Diakanin Olympias und die politische und ökonomische Unterstützung, die sie Chrysostomos und anderen Amtsträgern gewährte. Vgl. E. Clark, Jerome, Chrysostom and Friends, New York 1979, 107-157; und dies., Sexual Politics in the Writing of John Chrysostom, in: Anglican Theological Review 59 (1977) 3-20. 93 Vgl. P. Trummer, Einehe nach den Pastoralbriefen, in: Biblica 51(197°) 473-477·
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nicht nur darin offensichtlich, was sie an Lohn und Ehre erhalten - nur die Hälfte dessen, was Presbyter, die lehren, bekommen -, sondern auch in den Bedingungen und Anforderungen, die ihnen auferlegt werden. rTim 5,3 - r 6 94 spricht vier verschiedene Probleme an: 1. diefinanzielle Unterstützung für die Witwe, 2. die Bedingungen und Qualifikationen, die für die amtliche Aufnahme in den Witwenstand erforderlich sind, 3. die Frage der jungen Witwen, und 4. die Frage der Witwen, die von einer Christin versorgt werden. Der Verfasser behauptet, daß nur »wirkliche Witwen« die Unterstützung durch die Gemeinde verdienen. Eine wirkliche Witwe ist eine Frau, die völlig allein ist und keine lebenden Verwandten hat. Somit definiert der Verfasser Witwenschaft neu: nicht einfach als Stand einer Frau ohne Ehemann, sondern als Stand einer Frau ohne jede Familie. Solche Witwen richten ihre Hoffnung auf Gott und beten Tag und Nacht. Bezeichnenderweise legt der Verfasser zwar Gewicht darauf, daß Witwen abhängig von ihren Familien sind, attackiert aber gleichzeitig jene Witwen, die wohlhabend sind und sich ein bequemes Leben leisten können. Witwen, die eine Familie haben, die sie unterstützen kann, sollen nicht von der Gemeinde bezahlt werden, sondern ihre Kinder oder Verwandten sollen für sie sorgen. 95 Dies wird zu Beginn und Ende dieses Abschnitts wiederholt. Für männliche Älteste und Bischöfe werden keine derartigen Vorschriften erlassen. Deren Lohn hängt nicht von ihrem Familienstand ab, sondern von ihrer Fähigkeit, die Gemeinde wohl zu lehren und zu leiten. Sie sollen doppelt so viel wie die Witwen erhalten. Bedingung für die amtliche Aufnahme in den Witwenstand sind fortgeschrittenes Alter, guter Ruf als Familien- und Haushaltsvorsteherin sowie gute Werke, Gastfreundschaft, Hilfe für Notleidende. Auch hier ähneln die Anforderungen denen für Männer in kirchlichen Ämtern. Genauso wie der Bischof in untadeliger Ehe leben und Haushalt und Kinder gut leiten soll, wird dies auch der Witwe abverlangt. Doch obwohl der 94 Zu diesem Abschnitt vgl. die Kommentare und]. Ernst, Die Witwenregel des ersten Timotheusbriefes - ein Hinweis auf die biblischen Ursprünge des weiblichen Ordenswesens ?, in: Theologie und Glaube 6 (1969) 433 -44 5; G. Lohfink, Weibliche Diakone im Neuen Testament?, in: Diakonia I I (1980) 385-400; und v. a. O. Bangerter, Frauen im Aufbruch. Die Geschichte der Frau in der alten Kirche, Neukirchen - Vluyn 1971,39-64. 95 Vgl. die Inschrift auf einem christlichen Grabstein in Rom: »Für die sehr verdienstvolle Rigina hat ihre Tochter diesen Stein mit aller Sorgfalt angefertigt und gesetzt. Rigina, Mutter und Witwe, die 60 Jahre lange Witwe blieb und nie der Kirche zur Last fiel; eine univira, die 80 Jahre, 5 Monate und 26 Tage lebte« (Dessau 1581; [Nachdruck: Inscriptiones Latinae Selectae, Berlin 1962, d. Ü.]). Vgl. M. LightmanlW. Zeisel, Univira. An Example of Continuity and Change in Roman Society, in: Church History 46 (1977) 19-32.27.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
Bischof während seiner Amtszeit nicht zum Zölibat verpflichtet ist, muß die Witwe zölibatär leben. Es ist umstritten, ob die Bedingung, daß die Witwe Kinder aufgezogen hat, sich auf eigene Kinder bezieht oder auf Waisen, die nach dem Hirt des Hermas allem Anschein nach den Witwen der Gemeinde zur Pflege anvertraut wurden. 96 Es scheint hier jedoch wahrscheinlicher, daß der Verfasser an eigene Kinder der Witwe denkt, die nun erwachsen sind und daher Zeugnis für ihre »gute Arbeit« als Materfamilias sind. Wie vom Bischof so wird auch von der Witwe verlangt, daß sie Gastfreundschaft geübt hat, was für die frühen ChristInnen, die von Ort zu Ort reisten, sehr wichtig war. Ungewöhnlich ist die Bedingung, daß sie »den Heiligen die Füße gewaschen« haben muß - eine Aufgabe, die gewöhnlich von SklavInnen oder DienerInnen erfüllt wird. Schließlich muß sie den Bedrückten und N otleidenden geholfen und sich auf jede Weise dem »Gutes-tun« gewidmet haben. Die Witwe, die in den Witwenstand aufgenommen werden sollte, mußte also sowohl als Materfamilias als auch als Christin untadeliges Verhalten gezeigt haben, da »gute Werke« in den Pastoralbriefen das wahre christliche Verhalten charakterisieren. Während jedoch die Bestimmungen über die Qualifikation des Bischofs nur die Elemente in Betracht ziehen, die mit seinem Status als Haushaltsvorstand oder als bewährter Christ zusammenhängen, wird der Witwe, die aufgenommen werden will, ein ganzer Katalog von Pflichten, die sie erfüllt haben muß, vorgeschrieben. Die Forderung schließlich, daß eine Witwe 60 Jahre alt sein müsse, um aufgenommen zu werden, muß vom Verfasser neu eingeführt worden sein, da er selbst von »jüngeren Witwen« zu wissen scheint und sowohl Ignatius als auch T ertullian dieses Phänomen bezeugen. Bei dieser Anforderung geht es weniger um Alter als um Legalität, da nach römischer Gesetzgebung Witwen, die unverheiratet blieben, 50 oder 60 Jahre alt sein, also das gebärfähige Alter überschritten haben mußten. -Daß der Punkt, um den es hier geht, in Zusammenhang mit einer Rechtsvorschrift steht, wird deutlich, wenn wir die Polemik des Verfassers gegen »jüngere Witwen« analysieren. 97 Der apostolische Beauftragte wird angewiesen, »jüngere Witwen« zurückzuweisen, denn sie könnten versucht sein, wieder zu heiraten und damit ihr Christus gegebenes Versprechen zu brechen. Allem Anschein 96 Hermas soll zwei Abschriften geschrieben haben: eine für Klemens und die andere für Grapte: »Grapte ... wird die Witwen und Waisen damit zurechtweisen. Du selbst magst es in dieser Stadt vorlesen unter den Presbytern, die der Kirche vorstehen.« (Der Hirt des Hermas, Vis. 11,4, zit. nach Hennecke-Schneemelcher). 97 Zum folgenden vgl. v. a.j. A. McNamara, Wives and Widows in Early Christian Thought, in: International Journal ofWomen's Studies 2 (I979) 575-592, bes. 586ff (Literatur!).
8. Kapitel
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nach sind Frauen - solange der Stand einer Gemeindewitwe als Amt und nicht als Lebensstil verstanden wurde - für eine bestimmte Zeit beigetreten; dabei stand es ihnen jedoch frei, wieder zu heiraten. Der Verfasser jedoch scheint ein anderes Verständnis des Witwenstandes zu haben. Er sieht Witwenschaft als zölibatären Lebensstil - eine Neuerung im Vergleich zu den Bedingungen für (männliche) Amtsträger der Gemeinde. Obwohl er seine GegnerInnen dafür, daß sie die Ehe ablehnen, angreift, macht er selbst den Zölibat zur Voraussetzung für die Einstellung als Gemeindewitwe. Als Ergebnis besteht Pseudo-Paulus darauf, daß jüngere Frauen heiraten, Kinder gebären und ihren Haushalt leiten - ungeachtet des Rates des Paulus: »Wenn ihr Mann stirbt, steht es ihr frei, sich zu verheiraten, mit wem sie will, nur soll es >im Herrn geschehen<. Glücklicher aber ist sie, nach meiner Meinung, wenn sie bleibt, wie sie ist. Ich glaube doch auch >den< Geist Gottes zu besitzen« (IKor 7,39f). ITim 5,qliefert den Schlüssel für diesen Widerspruch zwischen Paulus und Pseudo-Paulus: Jüngere Frauen sollen den gesellschaftlichen und gesetzlichen Forderungen an Frauen ihres Alters nachkommen, damit das Ansehen der ChristInnen gewahrt bleibe. 98 Möglicherweise waren diese jüngeren Frauen keine »wirklichen Witwen«, sondern unverheiratete Frauen, die als Witwen eingestellt worden waren. Ignatius grüßt in seinem Brief an die SmyrnäerInnen »die Häuser meiner Brüder mit Frauen und Kindern sowie die Jungfrauen, die Witwen genannt werden« (13,1). Tertullian war entsetzt über einen asiatischen Bischof, der eine Jungfrau unter 20 Jahren in den Rang der Witwen versetzt hat. 99 Der amtliche Status unverheirateter Frauen, besonders junger Frauen, muß also Ärgernis erregt und Konflikte mit der griechisch-römischen Gesellschaft bewirkt haben und stand so der patriarchalen Anpassung der Kirche im Wege. Aber nicht nur sta~tsbürgerlich-apologetisches Interesse scheint bei der Veränderung der paulinischen Tradition durch den Verfasser der Pastoralbriefe am Werk gewesen zu sein. IOO Es heißt, daß jüngere Witwen von Haus zu Haus gehen, Faulheit lernen und Schwätzerinnen und Wichtigtuerinnen werden, die »reden, was sich nicht geziemt« (ITim 5,13). Der Verfasser teilte nicht mit, was die Witwen bei ihren Hausbesuchen geredet haben. Doch er weist Timotheus in 1,3ff an, gewissen Leuten zu verbieten, daß sie andere Lehren verbreiten und in endlosen Geschichten 98 Vgl. a.a.O., 582ff. 99 Vgl. Tertullian, De virginibus velandis 9, 4A; vgl. C. Stücklein, Tertullian. De Virginibus Velandis, Bern 1974 (Europäische Hochschulschriften 23), 184ff. 100 Vgl. R. Karns, The Background and Significance of the Polemic of the Pastoral Epistles, in: Journal ofBiblical Literature 92 (1973) 549-564;L. T.Johnson, H. Timothy and the Polemic Against False Teachers. A Re-examination, in: Journal of Religious Studies 6 (1978-79) 1-26 (mit ausführlicher Bibliographie).
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
oder Mythen schwelgen. Einige sind vom Ziel guter Unterweisung dadurch abgekommen, daß sie »leerem Geschwätz« nachrannten. »Sie wollen GesetzeslehrerInnen sein und wissen nicht, was sie reden und was sie kühn behaupten« (r,6ff). Die Lehren der GegnerInnen beruhen auf dem heuchlerischen Predigen von LügnerInnen, die »verbieten zu heiraten und auffordern, sich von Speisen zu enthalten« (4,2-4). Timotheus wird ermahnt, sich nicht mit »profanen Altweiberfabeln« zu befassen (4,7). Daß die GegnerInnen besonders gute Beziehungen zu und Erfolg bei Frauen hatten, wird in 2Tim 3,6-9 betont; sie verschaffen sich Einlaß in die Häuser und überreden »eitle« und »schwache« Frauen, die negativ abgestempelt werden als »mit Sünden belastet und von vielerlei Begierden gejagt.« Diese Frauen lernen und studieren ständig, aber können »doch niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.« Tit r,r-14 behauptet, daß »SchwätzerInnen und VerführerInnen, besonders aus der Beschneidung« ganze Familien ruinieren, indem sie Unziemliches lehren, schnöden Gewinnes wegen. Die Gemeindemitglieder sollen sich nicht dadurch vom gesunden Glauben abwenden, daß sie sich auf jüdische Fabeln und auf Gebote von Menschen einlassen, die der Wahrheit den Rücken kehren. Obwohl eine Einigung darüber, welcher Art die Lehren und die judaisierenden Tendenzen der GegnerInnen sind, in der Exegese noch aussteht, wird trotzdem vorausgesetzt, daß diese GegnerInnen Männer sind. Es ist jedoch durchaus möglich, daß darunter auch Frauen waren, die zu den »jüngeren Witwen« gehörten. Offensichtlich kann der Verfasser nicht beweisen, daß diese jungen unverheirateten Frauen irgendetwas Häretisches lehrten, doch ihr gesamter Lebensstil stimmte mit den Lehren der GegnerInnen überein. Es ist möglich, daß diese anderen LehrerInnen aus denselben Kreisen kamen, die auch für die apokryphen Apostellnnen-Akten, besonders für die Paulus- und Thekla-Akten, verantwortlich waren 101, oder aus anderen enkratischen asketischen Gruppen, die Frauen das öffentliche Lehren und die volle Teilnahme am kirchlichen Amt zugestanden. ,02 Im Gegensatz zu diesen Gruppen betont der Verfasser »gute Staatsbürgerschaft« als wichtigsten Inhalt christlicher Praxis und legt die Amtsfunktionen geschlechtlich fest, indem er Frauen das Lehren verbietet und sie statt dessen für »die guten Werke«, die für die christliche Agape charakteristisch sind, zuständig erklärt. Nachdem der Verfasser Zahl und Einfluß der »wirklichen Witwen« streng begrenzt hat, besteht er auch noch darauf, daß die Witwen, die im 101 Vgl. D. MacDonald, Virgins, Widows, and Pau! in Second Century Asia Minor, in: SBL Seminar Papers 18 (I979)Bd. I, 169-184. 102 Vgl.j. M. Ford, A Note on Proto-Montanismin the Pastora!s, in: NewTestament Studies 17 (1970-71) 338-346.
8. Kapitel
Haus einer Christin leben, ebenfalls nicht von der Gemeinde bezahlt werden. Infolgedessen hat es den Anschein, daß zu Beginn des 2. Jahrhunderts bereits unverheiratete Frauen in Gemeinschaften gelebt haben. Solche Frauengemeinschaften sind aus dem 3. und 4. Jahrhundert bekannt, aber diese Textstelle weist daraufhin, daß bereits zu Beginn des 2. Jahrhunderts solche Frauengemeinschaften existierten. Ignatius nennt in seinem Brief an Polykarp (4,If) drei verschiedene soziale Gruppen: Witwen, SklavInnen und Verheiratete. Witwen sollen nicht vernachlässigt werden; nach dem Herrn sei du ihr Fürsorger! Nichts soll ohne dein Einverständnis geschehen; auch du tue nichts ohne Gott, was du ja auch nicht tust; sei fest. Möglichst häufig sollen Versammlungen stattfinden, suche alle einzeln! Da Ignatius in seinem Brief an die Gemeinde von Smyrna die Häuser verheirateter Mitglieder mit den »Jungfrauen, die Witwen genannt werden«, auf gleiche Stufe stellt (13,1), können wir annehmen, daß diese Witwen in gemeinsamen Haushalten zusammenlebten. Die Häuser von Alke und Tavia waren vielleicht solche Hauskirchen von Witwen. Offensichtlich hat Polykarp nach der Meinung des Ignatius den Witwen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt oder nicht genug Kontrolle über sie ausgeübt. Er wird angewiesen, als ihr Vormund zu handeln, was gesetzliche, administrative und persönliche Kontrolle bedeutet. Nach römischer Ehegesetzgebung blieb die Ehefrau in der Gewalt (manus) ihres Vaters und wurde mit 25 Jahren der formalen Aufsicht eines gesetzlichen Vortnunds (tutor) oder Anwalts unterworfen. Da wohlhabende Frauen ihren Vortnund auswählen konnten, war diese gesetzliche Aufsicht oft minimal. '03 Römische Frauen behielten also die Kontrolle über ihren Besitz und konnten sich ohne große Schwierigkeiten von ihren Ehemännern scheiden lassen. In den Papyri bezeichnet das griechische Wort, das hier gebraucht wird, - Jrontistes,04 - den Vormund oder Bevollmächtigten von Frauen, die sich nicht selbst vor Gericht vertreten konnten. Das Wort kann außerdem die Verwaltung und Leitung eines Großhaushalts oder einer GenossInnenschaft bedeuten. In einer Inschrift aus Pamphylia, wird ein Jrontistes der Synagoge erwähnt. Das Wort mag die gesetzliche Vormundschaft und yerwaltung der Angele103
Vgl.]. P.
v. D.
Balsdon, Roman Women. Their History and Habits, London
1962,45.
Vgl. S. Applebaum, The Organization of the Jewish Communities in the Diaspora, in: S. Safrai/M. Stern (Hg.), TheJewish People in the First Century, Bd. 1,497; ].]. 0'Rourke, Roman Law and the Early Church, in: Benko/Rourke, The Catacombs and the Colosseum. The Roman Empire as the Setting of Primitive Christianity, Val1ey Forge, Pa. 1971, 165-186. bes. 169 und 183. 104
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
genheiten der Witwen bezeichnen oder hier in allgemeinerem Sinn gebraucht werden, auf jeden Fall macht es die Kontrolle des Bischofs über die Witwen geltend und sucht ihre Unabhängigkeit zu beschränken. Dies wird durch die folgenden Verfügungen hervorgehoben: »Nichts soll ohne dein Einverständnis geschehen!« und »Sei fest!«. Die nächste Anweisung - häufiger Zusammenkünfte abzuhalten und alle einzeln zu kennen - gibt uns einen Hinweis auf das Problem, das Ignatius im Sinn hatte, aber nicht genauer darlegte. 1°5 In seinem Brief an die Gemeinde von Smyrna befaßt sich Ignatius mit dem Verhalten von einigen Abweichlerlnnen, vermutlich DoketistInnen, Gemeindemitgliedern, die nicht an der Eucharistiefeier des Bischofs teilnahmen und ohne ihn tauften und Agape hielten. Da in den anderen Ignatiusbriefen solche Zusammenkünfte ohne den Bischof nicht erwähnt werden, scheinen sie typisch für Smyrna zu sein (7,r; 8,2). Ist es denkbar, daß gewisse Witwen gewohnt waren, die Eucharistie in ihren Häusern zu feiern? Wenn dies der Fall ist, so verbietet Ignatius es nicht und tadelt die Witwen nicht. Er besteht nur darauf, daß nichts ohne die Zustimmung des Bischofs geschehe, denn nur diejenige Eucharistie »gelte als zuverlässig, die unter dem Bischof oder einem von ihm Beauftragten stattfindet« (8,r). Der Aufruf zu regelmäßigeren Zusammenkünften und persönlicher Bekanntschaft mit jedem Gemeindemitglied, besonders den Witwen, scheint für Ignatius der Weg zu sein, Kontrolle und Aufsicht des Bischofs zu verstärken. Während die Anordnungen in den Pastoralbriefen die örtlichen Ämter auf das männliche Geschlecht festlegen, ordnen die Anweisungen des Ignatius das Leitungsamt von Frauen der strengen bischöflichen Kontrolle unter. Derartige Kontrolle scheint nicht nur als geistliche Leitung, sondern auch als gesetzliche und ökonomische Kontrolle verstanden zu werden, die die Unabhängigkeit unverheirateter Frauen in der Kirche beschränkt. Im Kontext dieser Anweisungen werden jedoch nicht nur Witwen, sondern auch Sklavinnen und verheiratete Frauen ersucht, von der Kirche keine Emanzipation zu erwarten. Sklavinnen sollen nicht erwarten, mit Kirchenmitteln freigekauft zu werden, während Ehefrauen befohlen wird, mit ihren. Ehemännern zufrieden zu sein. Gleichzeitig bekommt der Bischof die Aufsicht über Asketinnen wie auch über die Christinnen, die Ehen eingehen. Während in Rom die Eheschließung keine religiöse Angelegenheit oder Zeremonie war, darf nun nur mit Zustimmung des Bischofs eine Ehe geschlossen werden. '06 105 Diesen Vorschlag macht D. Hunter in: Widows, Slaves, and Celibates. Social Roles in Ignatius of Antioch, University of Notre Dame, Fall 1980 (Seminarpapier). 106 Nach Schoedel gibt dies »dem Klerus eines der wirksamsten Mittel sozialer Kontrolle an die Hand« (Theological Norms and Social Perspectives, 50).
8. Kapitel
Zusammenfassung: Die Pastoralbriefe wie auch die Ignatiusbriefe geben uns einige Hinweise darauf, daß die allmähliche Patriarchalisierung von Kirche und Kirchenleitung auch die »Kirche von Frauen« hervorrief: jenes Sich-Versammeln unverheirateter, unabhängiger Frauen, die allem Anschein nach ihre eigene Hauskirche und religiöse GenossInnenschaft bildeten. Dies war möglich, denn in der Antike waren auf Frauen beschränkte religiöse Genossinnenschaften oder Kulte durchaus bekannt. I07 Dennoch suchte der allmählich patriarchalisierte Episkopat schon seit einem sehr frühen Zeitpunkt diese Frauengenossinnenschaften sozial, rechtlich und ökonomisch zu kontrollieren. 108 Während Ignatius den Bischof in der Rolle des gesetzlichen Vormund sieht, suchen die Pastoralbriefe die Zahl der offiziell als Amtsträgerinnen angestellten und bezahlten Frauen zu beschränken. Dadurch erzeugen die Pastoralbriefe eine Kluft zwischen orthodoxer Lehre und orthodoxer Praxis, zwischen Verkündigung und diakonia. Eine ähnliche Arbeitsteilung war auch in Apg 6ff zu beobachten, wonach die missionarische Predigt den ApostelInnen vorbehalten wird und die HellenistInnen sich auf den Tischdienst (diakonein) beschränken sollen. Diese Teilung der Aufgaben des Amtes in der Apostelgeschichte ist jedoch noch nicht geschlechtlich festgelegt. Im Gegensatz dazu vertrauen die Pastoralbriefe die rechte Lehre und Überlieferung der Tradition Männern an, während sie die »guten Werke« christlicher Orthopraxie von Frauen verlangen. Außerdem verbieten sie den Presbyterinnen zwar nicht zu lehren, aber schränken deren Lehre auf die Unterweisung von Frauen ein. Sie weisen Presbyterinnen an, »gute Lehrerinnen« zu sein und jüngere Frauen zu bekehren, aber gestatten ihnen nicht, Männer zu belehren oder über Männer Autorität zu haben. Dieser Nachdruck auf patriarchaler Unterwerfung und Kirchenordnung erzeugt die geschlechtliche Festlegung des christlichen Amtes. Daß andere ChristInnen jener Zeit eine andere Auffassung von Nachfolge und Amt haben, ist 107 R. MacMullen (Roman SocialRelations, New Haven 1974, 179 Anm. 86) verlangt eine neue Erforschung solcher Frauenkollegien. 108 Daß die soziale Realität oft ganz anders war, wird in derfolgenden Bemerkung des Hieronymus offenkundig: "Selbst Geistliche, deren Wort belehren, deren Zurückhaltung vorbildlich wirken sollte, küssen das Haupt der Matronen und halten dabei zur Täuschung der Uneingeweihten die Hand wie zum Segen, in Wahrheit um den Lohn für ihren Gruß entgegenzunehmen. Aber der Übermut solcher Frauen, die erkennen, wie Priester ihres Schutzes bedürfen, steigt ins Ungemessene. Nachdem sie im Ehestande die Herrschaft der Männer kennengelernt haben, ziehen sie die Ungebundenheit des Witwenstandes vor, nennen sich enthaltsam und Nonnen und träumen nach zweifelhaften Mahlzeiten von ihren >Aposteln<.« (Briefe, 22,16; zit. nach: Hieronymus. Briefe. Über die christliche Lebensführung, München 1983 (Schriften der Kirchenväter 2), 47f). Es darf nicht übersehen werden, daß die Frauen in derfrühen Kirche - anders als die späteren Ordensfrauen - Kontrolle über ihren Besitz hatten.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
offensichtlich,' wenn wir die ersten Evangelien, besonders das Markusund das Johannesevangelium ansehen.
Frauen als Paradigmen wahrer Nachfolge Wo die nachpaulinischen Autoren die sozial unbeständige Situation gleichgestellter Nachfolge dadurch zu stabilisieren suchen, daß sie - nicht nur für den Haushalt, sondern auch für die Kirche - auf patriarchalen Herrschafts- und Unterwerfungsstrukturen bestehen, bewegen sich die VerfasserInnen der Evangelien auf das andere Ende der Skala sozialer »Balance« zu. Sie bestehen auf altruistischem Verhalten und Dienst als angemessener Praxis und rechtem Ethos christlicher Leitung. Wie wir gesehen haben, ist egalitäre Leitung - soziologisch gesprochen - wechselnde oder alternierende Leitung. Um veränderliche Situationen gegenseitig abwechselnder Leitung und Macht zu stabilisieren, können entweder beständige Statusverhältnisse von Herrschaft und Unterwerfung oder Verhältnisse, die altruistisches, der ganzen Gruppe zuträgliches Verhalten hervorrufen, eingeführt werden. Die Markus und Johannes genannten EvangelistInnen haben überliefertes Material und überlieferte Geschichten unabhängig voneinander zusammengetragen und in die Form eines Evangeliums gebracht. 109 Dies taten sie nicht aus antiquarischem oder nostalgischem Interesse an Jesu Leben in der Vergangenheit, sondern weil sie glaubten, daß »der« Auferstandene zum gegenwärtigen Zeitpunkt in den Worten und Taten Jesu von Nazareth zu ihren Gemeinden sprach." o Beide Evangelien betonen mit Nachdruck Dienst und Liebe als Kernstück von J esu Auftrag und Werk und als zentrale Forderung der Nachfolge. Das Markusevangelium wurde etwa zur selben Zeit geschrieben wie der Brief an die KolosserInnen, der die Anfänge der Entwicklungslinie der patriarchalen Haustafel markiert. Die Endredaktion des Johannesevangeliums entsteht ungefähr zur selben Zeit wie die Pastoralbriefe und die Ignatiusbriefe und ist wahrscheinlich an dieselben Gemeinden in Kleinasien gerichtet. I I I Es ist daher bezeichnend, daß die ersten EvangelienschreiberInnen ein ganz anderes Ethos christlicher Nachfolge und Gemeinde artikulieren als die Verfasser der Verordnungen zu patriarchaler Unterwerfung-obwohl sich beide an christliche Gemeinden im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts wenden. I09 Vgl.]. M. Robinson, On the Gattung of Mark (and John), in Jesus and Man's Hope, Pittsburg I970, Bd. I,99-I29. I I ° V gl. H. Köster, Ein J esus und vier ursprüngliche Evangeliengattungen, in: Kösterl Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen I97 I , I47- I90 .
Zu Entstehungsort, -zeit und VerfasserInnenschaft vgl. die Einführungen ins Neue Testament und die Kommentare zum Markus- und Johannes-Evangelium. II I
8. Kapitel Das Markusevangelium Die/der unbekannte Christln, die/der die verschiedenen Überlieferungen und Geschichten über Jesus von Nazareth in eine kohärente Erzählungsstruktur zusammenfügte, wollte damit Glauben und Praxis der christlichen Gemeinde, für die sie oder er schrieb, stärken. Obwohl die Forschung in der Einschätzung der theologischen Tendenzen und der historischen Situation des Markusevangeliums uneins ist, gibt es weitgehende Übereinstimmung, daß »in diesem Evangelium die Jesusüberliefe.rung so verwendet wurde, daß sie sich direkt bezog auf die Bedürfnisse, die Verantwortlichkeiten, das Selbstverständnis, die Ängste, Konflikte und Schwächen, die ihre Gemeinde in jener Zeit charakterisierte.«II2 Art und Wesen der Gemeinde, an die Markus schreibt, spiegeln sich in ihrem/ seinem Bild der JüngerInnen, ihrer Fragen, Reaktionen und ihres Versagens. Im Markusevangelium wird Nachfolge als buchstäbliches Nachfolgen Jesu und seines Beispiels verstanden. "3 Christologisch betont das Markusevangelium jedoch die Notwendigkeit von J esu Leiden, Hinrichtung und Tod. Nicht durch Wundererfahrung oder Jesu öffentliches Predigen oder geheime Unterweisungen wird Jesu Messianität recht verstanden, sondern nur darin und dadurch, daß Menschen »das Kreuz auf sich nehmen« und Jesus auf dem Weg des Leidens und Todes nachfolgen. "4 Nicht in seinen Wundern und seinem Lehren mit Autorität wird also die wahre Bedeutung Jesu erfaßt, sondern nur in und durch Erfahrung von Verfolgung und Leiden um des Evangeliums willen. Leiden ist jedoch kein Selbstzweck, sondern die Folge von Jesu Lebenspraxis der Solidarität mit den Ausgestoßenen seiner Gesellschaft. Der dreifachen Leidensankündigung Jesu (8,22-10,52) folgt jedes Mal das Mißverständnis der Jünger und Jesu Ruf zur JüngerInschaft als Nachfolge auf dem Weg des Kreuzes. So wie Abgelehntwerden, Leiden und Hinrichtung als Krimineller die Konsequenz von Jesu Predigt und Lebenspraxis sind, werden sie auch das Los der/des wahren JüngerIn sein. Aus der Sicht des Markusevangeliums ist dies die entscheidende christologische Erkenntnis, die Jesu Dienst und christliche Nachfolge gleichermaßen bestimmt. Diese Theologie des Todes und Leidens wird für ChristInnen entwickelt, die verfolgt, dem hohen Rat übergeben, in 112 H. C. Kee, Cornmunity of the New Age. Studies in Mark's Gospel, Philadelphia 1977,176. 113 Vgl. E. Schweizer, The Portrayal of the Life of Faith in the Gospel of Mark, in: Interpretation J2 (1978) 387-399. 114 Vgl. P. J. Achtemeier, Mark as Interpreter of the Jesus Traditions, in: Interpretation 32 (1978) 339-352·
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
Synagogen geschlagen werden und vor Königen und Statthaltern vor Gericht stehen »um Jesu willen«. Solche Verhaftungen und Prozesse sind Anlaß, »Zeugnis zu geben« und »auf der ganzen Welt das Evangelium zu verkünden«, um in der Kraft »des« Geistes auszusagen. Solche Prozesse werden durch ChristInnenhaß angezettelt - selbst von engsten Verwandten und FreundInnen -: »Ein Bruder wird den anderen zum Tode überliefern und ein Vater sein Kind. Und Kinder werden gegen ihre Eltern auftreten und sie zu Tode bringen« (13,12). So stellt das Markusevangelium Verfolgung und Leiden der markinischen Gemeinde in den Kontext der Konflikte innerhalb ihrer eigenen Haushalte. I I 5 Während die Verfasser des 1. Petrusbriefes und der Pastoralbriefe diese Konflikte dadurch zu verringern suchen, daß sie dafür plädieren, sich an die herrschende Gesellschaft anzupassen und zu vermeiden, Anstoß zu erregen, erklärt der J esus des Markusevangeliums klar und deutlich, daß ChristInnen es nicht vermeiden dürfen, Ärgernis zu geben und Leiden zu erfahren. Ein/e wahre/r Jesusjüngerln muß sich auf Leiden, Haß und Verfolgung gefaßt machen. Der Textabschnitt, der von »wahrer Nachfolge« (Mk 8,22-10,52) handelt, wird durch Wundergeschichten über Blindenheilungen eingeleitet und beendet. Die zweite Heilungsgeschichte hebt hervor, daß der Glaube Macht hat, zu retten und dazu zu befähigen, den Weg leidender Nachfolge zu gehen. So wird der Blinde, der geheilt wird und wieder sehen kann, zum Paradigma des/der wahren Jesusjüngerln. Diese beiden Heilungsgeschichten rahmen die drei Ankündigungen vonJesu Leiden, Hinrichtung und Auferstehung ein. Alle drei folgen demselben literarischen Muster: Die Ankündigung wird ausgesprochen (8,31; 9,31; 10,33ff), sie wird mißverstanden (8,pf; 9,P; 10>35-41); diesem Nichtverstehen folgt eine Unterw~isung über das Wesen wahrer Nachfolge (8,34-38; 9,33-37; 10,4 2 -45). Die erste Unterweisung über wahre Nachfolge richtet sich an alle JüngerInnen, die zweite und dritte Unterweisung wenden sich dagegen besonders an die Zwölf und verhandeln deren Art der Leitung. Während die erste Unterweisung eine Einladung darstellt, J esus in Leiden und Verfolgungen sogar bis zur Gefährdung des Lebens nachzufolgen, sprechen die beiden letzten Unterweisungen die Frage der Leitung in der Gemeinde an. Beide betonen, daß die Größten, d. h. die LeiterInnen in der Gemeinde, die Letzten, d. h. die DienerInnen aller, werden müssen. 1I6 In 115 Das »Haus« wiederum ist der Ort, wo Jesu »neue Familie« zusammenkommt und Jesus lehrt, während die Menge draußen ist (vgI. 4,II). VgI. M. Karnetzki, Die Gegenwart des Freudenboten, in: NewTestament Studies 23 (1976) 101-108.102. II6 Zur Literatur und Diskussion zum gesamten Abschnitt vgI. R. Peseh, Das Markusevangelium, Freiburg 1977, Bd. 2 (HThKNT 2) 1-175.
8. Kapitel
den Versen 9,36ff ist das Paradigma solchen Leitungsverhaltens ein Kind bzw. ein/e SklavIn, d. h. eine Person, die in der Antike völlig machtlos und in der Gewalt des Paterfamilias war. Im Gegensatz zu den nachpaulinischen Texten, die SklavInnen und Kinder zu Gehorsam und Unterwerfung ermahnen, ermuntert der Jesus des Markusevangeliums diejenigen, die die Ersten sind, die Personen aus den unteren Schichten voll zu akzeptieren und deren DienerInnen zu werden. Doch ebensowenig wie die Jünger - und Petrus als ihr Sprecher - Jesu Ankündigung der Notwendigkeit von Leiden und Tod begreifen, verstehen sie seine Einladung zu angemessener christlicher Leitung. Die dritte Aufforderung zur Leidensnachfolge betont diesen Punkt daher erneutdiesmal sogar noch eindringlicher. Die Söhne des Zebedäus, Jakobus und J ohannes, bitten um Ehrenplätze und Machtpositione~in J esu Reich. J esus macht sie darauf aufmerksam, daß ihnen nicht Macht und Herrlichkeit, sondern Leiden und Verfolgung verheißen sind. Er hebt ausdrücklich hervor, daß im Gegensatz zur Leitung, die auf Macht und Herrschaft über andere beruht, bei ChristInnen solch patriarchale Herrschaftsverhältnisse verboten sind. GemeindeleiterInnen sollen DienerInnen aller sein, und die Höchsten sollen SklavInnen aller werden. "7 Gemeindeleiterlnnen sollen keine Herrscherposition innehaben, sondern die Stellung von SklavInnen einnehmen, weil J esus für die Befreiung vieler sein Leben hingegeben hat. Sein Tod wird als Lösegeld verstanden - als Geld, das für SklavInnenbefreiung bezahlt wird. Nicht über die Befreiung von Sünden spricht der Text, sondern darüber, daß viele zu freien BürgerInnen gemacht werden. J esu Tod - verstanden als Befreiung vieler Menschen - verbietet jegliche Herrschafts- und Unterordnungsbeziehung. LeiterInnen und hochangesehene Gemeindemitglieder sollen den niedrigsten und sozial schwächsten Gemeindemitgliedern dadurch gleich werden, daß sie deren DienerInnen und SklavInnen werden. Gleichheit soll durch Altruismus erlangt werden: dadurch daß die Interessen der anderen und der Gemeinde an erste Stelle gesetzt werden. Während die nachpaulinischen Autoren für die Anpassung an die herrschende Gesellschaft eintreten, um Konflikte mit die:;er Gesellschaft zu verringern und dadurch das Leiden und die Verfolgung von ChristInnen zu reduzieren, besteht die/der Verfasserln des Markusevangeliums darauf, daß Leiden notwendig ist, und macht ganz klar, daß ChristInnen solches Leiden nicht vermeiden dürfen, besonders nicht dadurch, daß sie christliche Gemeinde- und Leitungsstrukturen griechisch-römischen Herrschafts- und Unterwerfungs strukturen anpassen. Während die 117 Anita B. Kolenkow (Beyond Miracles, Suffering and Eschatology, in: SBL Seminar Papers (1973) Bd. 2, 155-202), vertritt die These, Markus ordne die Idee des Leidens der des Dienens unter.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
nachpaulinischen Autoren die Macht des Paterfamilias auf die Gemeindeleitung übertragen und unter Berufung auf das Beispiel Christi befür. worten, daß SklavInnen sich freiwillig unterwerfen und leiden, betont .das Markusevangelium, daß authentische christliche Leitung nur im freiwilligen Dienerlnnen- und SklavInnensein derer, die Größe und Vorrang in der christlichen Gemeinde beanspruchen, ausgeübt wird. Petrus und die Elf verstehen jedoch J esu Lehre über sein eigenes Leiden und das Leiden, das wahre christliche Leitung auszeichnet, nicht. In der Forschung besteht Konsens darüber, daß Markus die führenden Jünger eher kritisch und beinahe negativ zeichnet. II8 Nicht nur daß sie Jesus und seinen Auftrag mißverstehen, sie deuten auch Jesu Wesen und Identität falsch. Schließlich verraten, verleugnen und verlassen sie ihn in der Zeit seiner Verhaftung und Hinrichtung. Trotz besonderer Anweisungen und ernster Rügen durch Jeims können sie weder Jesu Leidensmessianität noch seinen Aufruf zur Leidensnachfolge verstehen. Manche Exegeten versuchen, die kritischen Züge in der markinischen Darstellung der führenden Jünger zu mildern. Andere schlagen vor, daß diese redaktionelle Kritik die Korrektur einer falschen Christologie auf seiten »der Gegner« des Markus zum Angriffspunkt hat, die J esus entweder als großen Wundertäter" 9 oder als politischen Messias verstehen, seine Lehren über das Leiden jedoch ablehnen. Eine solche Christologie habe vielleicht die Leitung der Jerusalerner Gemeinde vertreten, Markus jedoch trete für seine Gemeinde für eine andere Christologie ein. 120 Eine solche Charakterisierung der »Gegner« des Markus als Vertreter . einer falschen Christologie berücksichtigt nicht genug, daß die drei Leidensankündigungen Jesu nicht Selbstzweck sind, sondern im Aufruf zu Leidensnachfolge und herrschaftsfreier Leitung gipfeln. Diese Deutung wird vom gesamten Kontext im Markusevangelium gestützt, der weitere Fragen des Gemeinschaftslebens und der christlichen Praxis anspricht. Die christologischen Aussagen in diesem Abschnitt über Nachfolge haben die theologische Funktion, den Nachdruck, den der markinische Jesus auf Leidensnachfolge und Leitungsdienst legt, zu unterstützen. Herrschaftsfreie Gemeindeleitung und die Bereitschaft, Leiden und Verfolgungen zu bestehen, hängen zusammen. Das am Beispiel der Zwölf illustrierte Mißverstehen und Nichtbegreifen der Leidensnachfolge schlägt um in Verrat und Verleugnung in der Passionsgeschichte. Judas verrät Jesus, Petrus verleugnet ihn, und alle Jünger verlassen ihn und fliehen, um sich zu verstecken. Aber im GegenII8 Vgl. die Diskussion dieser Frage bei R. E. Brown/K. P. Donfried/]. Reumann (Hg.), Peter in the NewTestament, Minneapolis 1973, 57-73. II9 Vgl. T.J. Weeden, Mark. Traditions in Conflict, Philadelphia 1971. 120 Vgl. W. Kelber, The Kingdom in Mark, Philadelphia 1974.
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satz zum Kreis der Jünger, die aus Furcht um ihr Leben Jesus auf seinem Weg zum Kreuz nicht folgen, beweist der Kreis der Jüngerinnen wahre Nachfolge. I2I Das ganze Evangelium hindurch unterscheidet Markus zwischen dem Kreis der Zwölf und einem größeren Kreis von JüngerInnen, denen als den »Seinen« »das Geheimnis des Reiches Gottes« gegeben ist (4,1 I). Während die Zwölf durch die Namensliste, die Markus aus der Tradition übernimmt, als Männer identifiziert werden, wird dieser größere JüngerInnenkreis nicht als männlich identifiziert. Daß die androzentrische Sprache des Markusevangeliums als inklusive Sprache funktioniert, wird durch die Information, daß JüngerinnenJ esus von Galiläa nach J erusalem folgten, ihn auf seinem Weg bis zum Kreuz begleiteten und seinen Tod bezeugten, offensichtlich. Wie Markus zu Beginn ihres/seines Evangeliums vier führende Jünger vorstellt, die Jesu Aufforderung zur Nachfolge hören, so stellt sie/er am Ende ihres/seines Evangeliums vier führende Jüngerinnen vor und nennt sie mit Namen. Die vier Jüngerinnen - Maria von Magdala, Maria, die Tochter oder Ehefrau von Jakobus dem Jüngeren, die Mutter des Joses und Salome - sind genauso hervorragend unter den Jüngerinnen, die Jesus nachfolgten, wie Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes hervorragend unter den Zwölf sind. Im Gegensatz zu den Zwölfen, die J esus im Stich gelassen, verraten und verleugnet haben, finden sich die Jüngerinnen unter dem Kreuz und riskieren Leben und Sicherheit. Daß sie sich der Gefahr, als Anhängerinnep eines von den Römern gekreuzigten politischen Aufrührers verhaftet und hingerichtet zu werden, sehr wohl bewußt waren, deutet die Bemerkung an, daß die Frauen »von ferne« (15,4°) zusahen. 122 Diese Frauen werden damit als J esu wahre» Verwandte« charakterisiert. Zur Charakterisierung der Nachfolge der Frauen unter dem Kreuz verwendet Markus drei Verben: Sie folgten ihm nach in Galiläa, sie dienten ihm, und sie zogen mit ihm nach Jerusalem hinauf (I 5,41). Das Verb akolouthein charakterisiert die Berufung und Entscheidung zur Nachfolge (1,18). 123 In 8,34 und 10,28 betont Jesus, daß ihm nachfolgen heißt: "Das Kreuz auf sich nehmen« - d. h. die Gefahr auf sich nehmen, hingerichtet zu werden (8,34). Mit dem Hinweis, daß die JüngerInnen alles verlassen haben und Jesus nachgefolgt sind, wird Petrus belehrt, daß ihr I2I Vgl. auch - allerdings als anders akzentuierte Auslegung - W. Munro, Women Disciples in Mark?, in: Catholic Biblical Quarterly 44 (I982) 225-241. I22 Vgl. auch L. Schattroff, Maria Magdalena und die Frauen am Grabe, in: Evangelische Theologie 42 (I982) 3-25.6f. I23 Die Schlußfolgerung, daß die Frauen nicht als Jüngerinnen charakterisiert würden, sondern nur auf einer Pilgerreise mit Jesus nach Jerusalem gekommen wären, ist Eisegese, denn der Text sagt das nicht (gegen E. Schweizer, Scheidungsrecht der jüdischen Frau? Weibliche Jünger Jesu?, in: Evangelische Theologie 42 (I982) 297ff).
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Lohn hier sowohl in der neuen Familiengemeinschaft als auch in Verfolgung besteht. Die Frauen werden damit als wahre Jüngerinnen Jesu geschildert, die alles zurückgelassen haben und ihm auf seinem Weg - selbst bis zum bitteren Ende am Kreuz - nachgefolgt sind. Das zweite Verb diakonein betont, daß die Jüngerinnen die von J esusjüngerInnen geforderte wahre Leitung ausgeübt haben. Wie wir gesehen haben, läßt sich diakonein nicht auf Tischdienst allein beschränken, denn diakonia faßt das gesamte Wirken J esu zusammen, der andere nicht nach Art heidnischer Herrscher unterordnet und versklavt (10,42), sondern der leidende Knecht ist, der andere aus dem Knechte- und Mägdesein befreit und erhöht. Ebenso sollen diejenigen, die in der Gemeinde Leitungsfunktion ausüben, den letzten Platz auf der sozialen Skala der Gemeinde einnehmen und ihre Leitung als DienerInnenschaft ausüben. Wie die Schwiegermutter des Petrus (I,J I) werden die Frauen unter dem Kreuz als jene Jüngerinnen charakterisiert, die wahre christliche Leitung verstanden und ausgeübt haben. 124 Das letzte Verb synanabainein bezieht sich nicht nur auf die vier führenden Jüngerinnen, sondern auf alle Jüngerinnen, die Jesus von Galiläa nach J erusalem gefolgt waren. Interessanterweise findet sich dieses Verb außer in dieser Textstelle nur noch in Apg 13,3 I, wo es sich auf diejenigen bezieht, die "dem« auferstandenen Herrn begegnet und »seine« ZeugInnen geworden sind. Viele Tage hindurch erschien er denen, die mit ihm von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen waren. Diese sind jetzt seine ZeugInnen vor dem Volk. Die Frauen, die Jesus von Galiläa nach Jerusalem nachgefolgt sind, werden so als apostolische Zeuginnen gekennzeichnet. Während die Apostelgeschichte die Zwölf als erste apostolische ZeugInnen vorstellt'2 5, kennzeichnet das Markusevangelium die Jüngerinnen unter dem Kreuz als solche. Sie werden auch erwähnt, nachdem J esus gestorben ist und der Zugang zum Tempelheiligtum für alle geöffnet ist. Zusammen mit dem römischen Hauptmann, der als Zeuge des Leidens und des Todes J esu ihn als Sohn Gottes bekennt, verkünden die Jüngerinnen unter dem Kreuz, daß die Gemeinde des Markusevangeliums - einschließlich ihrer Leitung - über alle sozialen, religiösen, sexuellen und ethnischen Grenzen hin124 Kee (Community of the New Age, 91) folgert jedoch, daß Frauen in der Gemeinde Raum gegeben wurde, daß aber "aus diesen TextsteIlen nicht hergeleitet werden kann, daß Frauen in der Gemeinde des Markus leitende Ämter besetzt hatten«, Frauen hätten vielmehr »niedrige Aufgaben« ausgeführt. 125 Vgl. E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, Göttingen '719 77'
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weg allen offen ist. Diese Gemeinde erkennt keine kultischen Reinheitsgebote mehr an (vgl. Kap. 5 und 7) und lehnt das in der griechisch-römischen Gesellschaft vorherrschende und offensichtlich von einigen führenden christlichen Autoritäten befürwortete Herrschafts-U nterwerfungs-Muster für die eigene Leitung ab. Eine ähnliche indirekte Polemik gegen die Jünger zeigen auch Anfang und Ende der Passionsgeschichte. Es ist eine Frau, die J esu leidende Messianität erkennt und J esus in einer prophetischen Zeichenhandlung zu seinem Begräbnis salbt, wogegen ),einige« der Jünger sie rügen. Es ist zweitens eine Magd, die Petrus dazu herausfordert, seinem Versprechen, Jesus nicht zu verraten, gemäß zu handeln. Dabei entlarvt sie ihn als Betrüger und stellt ihn bloß. Schließlich bezeugen zwei Frauen, Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Joses, den Ort, an dem Jesus begraben wurde (r 5,47), und drei Frauen empfangen die Botschaft von »seiner« Auferstehung (r6,r-8). So treten am Ende des Markusevangeliums drei Jüngerinnen als Beispiele für Leidensnachfolge und wahre Leitung in Erscheinung. Sie sind die apostolischen Augenzeuginnen von Jesu Tod, Begräbnis und Auferstehung. Doch eine solch positive Auslegung der zu Ende des Markusevangeliums in Erscheinung tretenden Jüngerinnen scheint sich durch r6,8 zu verbieten. 126 Es hat den Anschein, daß die/ der Evangelistln hier die J üngerinnen zur Sprache bringt, um zu zeigen, daß die Jüngerinnen wie die Jünger in der Prüfung wahrer Nachfolge versagt haben. Indem das Markusevangelium einem überlieferten Auferstehungsbericht die Verse 7 und 8b hinzufügt, scheint es auf den ersten Blick die Frauen als ungehorsam gegenüber dem Befehl des Jünglings oder Engels zu entlarven. 127 Theodore Weeden hat daher den Schluß gezogen, die Zwölf hätten die Auferstehungsbotschaft nie erhalten und seien somit in den Augen der markinischen Gemeinde nie rehabilitiert worden. 128 Das Evangelium scheint im Versagen der Jüngerinnen seinen Höhepunkt zu haben, die die frohe Botschaft der Auferstehung nicht verkünden, ungehorsam flüchten und furchtsam schweigen. Wenn dies zutrifft, dann haben die andeten Jüngerinnen samt Petrus und den Zwölfen das Evangelium der Auferstehung nie gehört. Der Schluß des Evangeliums muß aber nicht unbedingt so gelesen wer126 Munro (Women Disciples, 235) vertritt die Ansicht, daß »die Frauen nicht in den Vordergrund geschoben werden, um den Platz der Zwölf einzunehmen oder sie zu diskreditieren«. Als Begründung führt er unter anderem an, daß »die markinische Redaktion die Frauen in 16,8 schweigen läßt«. 127 Vgl. T. E. Boomershine, Mark 16,8 and the Apostolic Commission, in: Journal of Biblical Literature 100 (1981) 225-239. 128 Vgl. Weeden, Mark. Tradition in Conflict, 50.
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den. Eine solche Deutung übersieht nämlich, daß die Frauen vom Grab, nicht jedoch vom Engel oder von der Auferstehungsbotschaft wegfliehen. '29 Während alle Jünger und der unbekannte junge Mann beiJesu Gefangennahme fliehen, fliehen die Frauen vom Grab weg, das leer ist. Am Grab einer/eines Hingerichteten vorgefunden zu werden, hieß zu riskieren, als ihre/ihr oder seine/sein AnhängerIn identifiziert und möglicherweise festgenommen zu werden. Die Furcht der Frauen war daher durchaus begründet. '3° Die Feststellung, daß sie aus Furcht, wie Jesus festgenommen und hingerichtet zu werden, schwiegen, bedeutet aber nicht, daß sie dem Befehl des Engels nicht gehorchten. »Eine allgemeine Anweisung zu schweigen verhindert nicht die Enthüllung gegenüber bestimmten Einzelpersonen (oder Gruppen), sondern bezieht sich nur auf die Öffentlichkeit insgesamt.« '3' In Mk r ,44 beispielsweise befiehlt J esus dem geheilten Aussätzigen: »Sieh zu, daß du niemanden etwas sagst, sondern geh, zeige dich dem Priester. .. « Der Befehl zu schweigen schließt nicht aus, daß der Priester informiert wird. Ebenso schließt das Schweigen der Frauen gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit nicht aus, daß sie den Befehl »geht hin und sagt den Jüngern und dem Petrus« erfüllt und die Botschaft »des« Auferstandenen, daß »er« nach Galiläa vorangeht, wo sie »ihn« sehen werden, mitgeteilt haben. Mk r6,7 und r6,8b beziehen sich daher nicht wie Befehl und Ungehorsam zueinander, sondern wie Befehl und gehorsame Ausführung des Befehls, die die Botschaft zu eigens benannten Personen bringt, aber sonst keine/keinen informiert. Trotz ihrer außerordentlich großen Angst um ihr Leben sind die Jüngerinnen zu J esus in seinem Leiden gestanden, wollten ihn in seinem Tod ehren und werden nun die Verkündigerinnen seiner Auferstehung. Sie bewahren die messianische Identität »des« gekreuzigten und auferstandenen Kyrios, die dem Kreis der JüngerInnen anvertraut wird. Trotz Angst und Flucht der Frauen, wird die frohe Botschaft von der Auferstehung weitergegeben. Die Gemeinde des Markusevangeliums erfährt noch diese Furcht der Maria von Magdala und der anderen Frauen. '3 2 Die Gemeinde ist wie Petrus in Versuchung, Jesus zu verraten, um eigenes Leiden zu vermeiden. Sie versammelt sich im Verborgenen und in Hauskirchen. Sie weiß, daß Jesu wahre Identität als der leidende Messias für seine JüngerInnen, nicht aber für Außenstehende geoffenbart ist. Sie kämpft darum, die Strukturen von Herrschaft und Unterordnung, die die soziale und kulturelle Umwelt beherrschen, zu vermeiden. Diejenigen, 129 Vgl. H. Balz, in ThWNT, Bd. 9. 130 Vgl.j. Blinzler, Der ProzeßJesu, Regensburg 41969,386. 131 D. Catchpale, The Fearful Silence ofthe Wornen at the Tornb. A Study in Markan Theology, in: Journal ofTheology for Southern Africa 18 (1977) 3-10.6. 132 V gl. auch L. SchattroJ!, Maria Magdalena, 2 I .
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die am weitesten entfernt sind vom Zentrum religiöser und politischer Macht - die SklavInnen, die Kinder, die HeidInnen, die Frauen - werden zu den Paradigmen wahrer Nachfolge.
Das Johannesevangelium Das vierte Evangelium wurde etwa 20 bis 30 Jahre nach dem Markusevangelium geschrieben. Obwohl es eine unabhängige Evangelienform darstellt, läßt auch es sich in drei Abschnitte gliedern: Jesu öffentliches Wirken (das Buch der Zeichen, Kap. 1-12), ein spezieller Abschnitt mit Anweisungen an seine JüngerInnen (Kap. 13-17) und die Leidens- und Auferstehungsgeschichte (Kap. 18-20). Kap. 21 wurde vermutlich von einer/einem SchlußredakteurIn hinzugefügt. Während die Anweisungen zur Nachfolge sich im Markusevangelium hauptsächlich auf die Notwendigkeit leidender Messianität und leidender Nachfolge richten'H, konzentrieren sie sich im Johannesevangelium auf das Motiv altruistischer Liebe und altruistischen Dienstes, obwohl dieses Thema sich auch in den markinischen Nachfolgeanweisungen findet. Wie die markinische so erfährt auch die johanneische Gemeinde Verfolgungen und Schwierigkeiten '35: Die »Welt« hat nicht nur J esus wegen der Offenbarung, die er brachte, gehaßt und getötet, sie haßt auch seine JüngerInnen, die - wie Jesus - ZeugInnen vor der Welt sind (15,27; 17,14). Jesus hatte geoffenbart, daß Gott die Welt liebt (3,16) oder - in den Worten des 1. Johannesbriefes - daß Gott die Liebe ist (4,8). '3 6 J esus zeigt seine Liebe dadurch, daß er sein Leben für die Seinen hingibt und sie zu »FreundInnen« macht, und fordert sie von daher auf, einander zu lieben. Die JüngerInnen geben der Welt Zeugnis; wenn sie einander lieben (I 3,Hf). Diese Liebe ist dann am größten, wenn sie ihr Leben für ihre FreundInnen hingeben (15,13), denn dadurch demonstrieren sie, daß sie nicht »von dieser Welt« sind, d. h. daß ihr Leben nicht von den zerstörerischen Mächten des Hasses und des Todes, sondern von der in Jesus geoffenbarten lebenspendenden Macht Gottes bestimmt wird. So wie J esus 133 Vgl. den Bericht zum Stand der Forschung in: R. Kysar, The Fourth Evangelist and His Gospel. An Examination of Contemporary Scholarship, Minneapolis 1975; und]. M. Robinson, Die johanneische Entwicklungslinie, in: KösteriRobinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 223 - 2 50. 134 Vgl. P.]. Achtemeier, Mark, Philadelphia 1975 (Proclamation Commentaries). 135 Vgl.J. L. Martin, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville '1979· 136 Zur Verwandtschaft zwischen dem Evangelium und dem 1. Johannesbrief in dieser Hinsicht vgl. F. F. Segovia, Love Relations in the Johannine Tradition, Chico, Calif. 1982 (SBL Diss. 58) (mit ausführlicher Bibliographie).
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sie bis zum letzten Augenblick seines Lebens geliebt hat, sollen die JüngerInnen einander lieben. Sie sind berufen, in und durch ihre(r) Liebe zueinander öffentliches Zeugnis für die in Jesus geoffenbarte lebenspendende Macht der Liebe Gottes abzulegen. Durch diese Praxis der Agape wird allen offenbar, daß sie Jesu JüngerInnen sind. Nachfolge muß also in Dienst und Liebe gelebt werden. Sie muß als öffentliches Zeugnis gelebt werden, das die haß- und todbringenden Mächte der »Welt« anklagt. ' )7 Obwohl das vierte Evangelium an einer politischen Rechtfertigung gegen die römischen politischen Machtinstanzen interessiert ist, tritt es nicht für eine Anpassung der Gemeinde an griechisch-römische patriarchale Machtstrukturen ein. Es besteht darauf, daß J esu Macht und die von ihm berufene Gemeinde von FreundInnen nicht »von dieser Welt« des Hasses und des Todes sind. Daß die johanneische Gemeinde eine alternative Gemeinde ist, wird in J esu Zeichenhandlung der Fußwaschung an seinen JüngerInnen deutlich sichtbar. Während in den Pastoralbriefen von den amtlich eingestellten Witwen erwartet wird, daß sie »den Heiligen die Füße gewaschen« haben, ist dies im vierten Evangelium Jesu Liebestat, der alle seine JüngerInnen folgen sollen. 1)8 Dienst und GottesoffenbarungJ esu werden in ihrer Gesamtheit in dieser Szene zusammengefaßt: Vor dem Osterfest aber, da Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und er die Seinen in der Welt liebte, so liebte er sie bis zum Ende ... (Er steht) vom Mahle auf, legt die Oberkleider ab, nimmt ein linnenes Tuch und bindet es sich um. Hierauf gießt er Wasser in das Waschbecken und beginnt, den JüngerInnen die Füße zu waschen und sie mit dem linnenen Tuche, das er sich umgebunden hatte, abzutrocknen ... Als er nun ihnen die Füße gewaschen und seine Oberkleider angelegt und sich wieder zu Tisch gelegt hatte, sagte er zu ihnen: »Versteht ihr, was ich euch getan habe? Ihr ruft mich »Meister« und »Herr«, und mit Recht sagt ihr das, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, müßt auch ihr einander die Füße waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht (oder die/der SklavIn) ist nicht größer als (ihr/)sein Herr und die Abgesandten nicht größer 137 Zum Verständnis der johanneischen Gemeinde als ,>introvertierter« sektiererischer Gruppe vgl. W. A. Meeks, The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, in : Journal of Biblical Literature 19 (1972) 44 -72; und Segovia, Love Relations, 2 I 2. 138 Vgl. den Überblick über den Forschungsstand zur Fußwaschungserzählung bei G. Richter, Die Fußwaschung im Johannesevangelium, Regensburg 1967, und Segovia, Love Relations, 213-219.
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als die, die sie gesandt haben. Wenn ihr das wißt, selig seid ihr, wenn ihr danach handelt.« (r 3, I.4f. r 2 - r 7) Die Fußwaschung und ihre Interpretation durch Jesus werden vom Mißverständnis und Protest des Petrus unterbrochen, der nicht versteht, daß die JüngerInnen durch das Wort, das Jesus zu ihnen geredet hat (r 5,3 und r7, r 7), bereits rein und heilig sind. Absicht dieser symbolischen Zeichenhandlung ist nicht rituelle Reinigung, sondern die Vollendung der Offenbarung J esu in seiner Praxis des Dienstes und der Liebe. Wenn Petrus es unterläßt, den Liebesdienst anzunehmen, hat er nicht teil an Jesus und seinem Dienst. Wenn Beziehungen des Gleichgestelltseins durch wechselnde Machtbeziehungen und durch regelmäßig abwechselnde Leitung, die jedem Gemeindemitglied offensteht, gekennzeichnet sind, dann tritt der johanneische Jesus dafür ein, daß Leitung und Macht durch regelmäßig abwechselnden Liebesdienst unter den JüngerInnen, die sich als Gemeinde von FreundInnen verstehen, ausgeübt werden. '39 Daher hebt das vierte Evangelium niemals eine besondere Leitungsfunktion der Zwölf unter den JüngerInnen hervor, wenn es auch von diesem Kreis der Zwölf weiß. Alle Gemeindemitglieder haben »den« Geist empfangen, sind von neuem geboren (3,3-9) und haben die Kräfte der wiedererneuerten Schöpfung empfangen. »Der« Auferstandene erscheint allen JüngerInnen, nicht nur den Zwölfen. Alle JüngerInnen sind EmpfängerInnen derselben Sendung, die Jesus anvertraut war (20,2r), alle empfangen »den« Geist (V 22), und allen ist die Macht gegeben, Sünden zu vergeben (V 23). Wenn Raymond E. Brown mit seiner Annahme recht hat, daß sich die Erzählung, die der Evangeliumsfassung vorausliegt, auf die Elf bezogen hat'4 0 , dann hatte die/der vierte Evangelistln die Tradition bewußt so verändert, daß sie sich auf alle JüngerInnen und nicht hauptsächlich auf die Zwölf bezieht (vgl. Mt r6,r9; r8,r8; 28,r6-20). Die johanneische Gemeinde von FreundInnen versteht sich in erster Linie als Gemeinde von JüngerInnen. Die/Der JüngerIn, die/den Jesus liebte, ist ihre apostolische Autorität und ihr symbolisches Zentrum. Durch die Liebe, die sie füreinander haben, konstituiert sich diese Gemeinde als Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten. Die/der JüngerIn, die/den Jesus liebte '4 " ist nicht historisch mit Na139 Vgl. G. W. MacRae, Invitation to John, Garden City, N. Y. 1978, 170. 140 Vgl. R. E. Brown, The Gospel According to John, Garden City, N. Y. 1970 (Anchor Bible 29a), Bd. 2, 1034. 141 Zur Literatur und Rezension der Literatur zu diesem Problem vgl. T. Lorenzen, Der Lieblingsjünger im Johannesevangelium, Stuttgart 1971 (SBS 55), und R. Schnakkenburg, Das Johannesevangelium, Bd. 3, Freiburg 1975 (HThKNT 4).
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men identifiziert. Sie/Er tritt erstmals beim letzten Abendmahl auf, das charakterisiert wird als die Stunde, in der J esus, der die Seinen liebte, seine Liebe bis zum Ende zeigt. Der johanneischeJesus feiert sein letztes' Mahl nicht nur mit den Zwölfen sondern mit allen JüngerInnen. »Der« Auferstandene erscheint allen JüngerInnen, gibt ihnen »seinen« Frieden und betraut sie mit »seiner« Sendung. Sie alle belebt er mit »dem« Geist, macht sie damit alle zur wiedererneuerten Schöpfung (vgl. Gen 2,7) und gibt ihnen allen Macht, Sünden zu vergeben, zu binden und zu lösen (20,r9-23). Daher vergleicht der Jesus des Johannesevangeliums die »Stunde« seiner Erhöhung am Kreuz und die Zeit der Verlassenheit und Trauer der JüngerInnen mit der Erfahrung einer schwangeren und gebärenden Frau vor und nach der Geburt. Genauso wie die Frau in Erwartung der Geburt ihres Kindes Angst und Sorge durchlebt, so machen die . JüngerInnen Angst und Sorgen durch, weil Jesus von ihnen gegangen ist. Doch genauso wie die Frau, wenn sie ihr Kind geboren hat, froh und glücklich ist, werden die JüngerInnen Frieden und Freude haben, wenn in Jesu Auferstehung ihnen neues Leben und Zukunft geoffenbart worden ist (r6,20-22). Obwohl die Bezeichnung »JüngerIn« die Zwölf miteinbezieht und obwohl die/der Verfasserln des vierten Evangeliums um deren führende Rolle in der Tradition weiß, stellt sie/er dennoch »die/den JüngerIn, die/ den J esus liebte« ausdrücklich in Gegensatz zu Petrus. Die johanneische Gemeinde sieht die Zwölf eindeutig als zu den »Seinen« gehörig an, aber indem sie die/den HeldIn der Gemeinde im Kontrast zu Petrus sehen, behaupten sie implizit, daß ihre Form der Nachfolge jener, die sich auf Petrus beruft, überlegen ist. Obwohl Petrus im redaktionellen Kap. 2r rehabilitiert wird, weist der größere Teil der Evangelienerzählung in die entgegengesetzte Richtung. Unter Druck leugnet Petrus, daß er ein Jünger Jesu ist (r8,17-25), beim letzten Abendmahl ist Petrus auf die/den JüngerIn, die/den Jesus liebte, angewiesen, um Informationen zu erhalten; Petrus findet sich nicht bei Jesus unter dem Kreuz zur Stunde, zu der die neue Gemeinschaft geboren wird (r 9,26f); er glaubt nicht als erster an die Auferstehung (20,2- ro); und er erkennt »den« Auferstandenen nicht (21,7) im Gegensatz zu der/dem »LieblingsjüngerIn«. Somit scheint Brown mit seiner Schlußfolgerung recht zu haben, daß die »johanneischen ChristInnen, repräsentiert durch die/den JüngerIn, die/den J esus liebte, ganz eindeutig der An~icht waren, sie seien J esus näher und könnten ihn besser verstehen«142 als die Gemeinden, die Petrus und die Zwölf als apostolische Autorität in Anspruch nehmen. Einer je~ ner Christen, die sich auf den Namen und die Autorität des Petrus beru142
R. E. Brown, The Community of the Beloved Disciple, New York 1979, 84.
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fen, ist der Verfasser des I. Petrusbriefes, der auf der Unterordnung von SklavInnen und Ehefrauen besteht. Der Streit zwischen johanneischem und petrinischem Christentum scheint sich nicht um christologische Streitfragen, sondern um Fragen der Nachfolge gedreht zu haben. Kap. 21 erkennt die pastorale Leitung des Petrus (»Weide meine Schafe«) an, aber nur unter der Bedingung, daß er Jesus »liebt«, d. h. daß er die altruistische Leitung, für die der J esus des J ohannesevangeliums eintritt, anerkennt (21,15- I9).'43 Nachfolge und Leitung beziehen in der johanneischen Gemeinde Frauen und Männer gleichermaßen ein. Obwohl die Frauen, die im vierten Evangelium erwähnt werden, für Frauen wie Männer gleichermaßen Beispiele für Nachfolge sind, ist es dennoch erstaunlich, daß die/der Evangelistln in ihrer/seiner Erzählung Frauen einen solch hervorragenden Platz einräumt. '44 Sie/Er läßt J esu öffentliches Wirken mit einer Geschichte von einer Frau beginnen und enden: mit Maria, der Mutter Jesu, und Maria von Bethanien. Neben den Pharisäer Nikodemus stellt sie/er die Samaritanerin, neben das Christusbekenntnis des Petrus das der Maria. Vier Frauen und die/der JüngerIn, die/den Jesus liebte, stehen bei Jesus unter dem Kreuz. Maria von Magdala bezeugt nicht nur als erste das leere Grab, sondern hat auch als erste eine Erscheinung »des« Auferstandenen. So treten an zentralen Stellen der Erzählung Frauen als beispielhafte Jüngerinnen und apostolische Zeuginnen hervor. Wenn die Geschichte von der Frau, die beim Ehebruch überrascht wurde, auch eine spätere Einfügung in den Evangeliumstext darstellt, so hat die/ der VerfasserIn, die/der diese Interpolation einfügte, doch ein feines Gespür für die Dynamik der Erzählung bewiesen, die an zentralen Punkten der Entwicklung und Konfrontation in der Geschichte Frauen auftreten läßt. '45 Daß eine solch heryorragende Stellung von Frauen in der johanneischen Gemeinde und ihrer apostolischen Tradition bei anderen ChristInnen 143 Vgl. jedoch F. Grady (Recent Development in Johannine Studies, in: Biblical Theology Bulletin 12 (1982) 54-58): »Wenn die hierarchische Kirche des Petrus dem Zeugnis des Lieblingsjüngers zustimmte, das auf Glaube und Liebe als Grundlage des Christentums besonderen Nachdruck legt, dann würde die johanneische Gemeinde die Notwendigkeit und das Faktum einer etablierten Kirchenordnung akzeptieren« (57)· 144 Vgl. R. E. Brown, Roles ofWomen in the Fourth Gospel, in: Theological Studies 36 (1957) 688 - 689, nochmals erschienen in deTS., Community ofthe Beloved Disciple, 183-198; S. M. Schneiders, Women in the Fourth Gospel and the Role of Women in the Contemporary Church, in: Biblical Theology Bulletin 12 (1982) 35-45. 145 Zur Geschichte der Exegese vgl. U. Becker, Jesus und die Ehebrecherin, Berlin 1963 (BZNW 28);]. D. M. Derrett, Law in the New Testament. The Story of the Woman Taken in Adultery, in: Theology Today 10 (1963-64) 1-26; und R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, H. Teil, Freiburg 3 1980.
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Fassungslosigkeit auslöste, kommt in 4,27f zum Ausdruck, wo die Jünger »schockiert« sind darüber, daß Jesus mit einer Frau spricht und sich ihr offenbart. Die/Der Evangelistln betont jedoch, daß die Jünger klug genug sind, Jesu egalitäre Praxis nicht offen infragezustellen oder abzulehnen. Jesu öffentliches Wirken beginnt mit dem Wunder bei der Hochzeit zu Kana. Die vorjohanneische Geschichte, die vielleicht zu der Wundergeschichtenquelle (Semeiaquelle) gehört, die die/der Evangelistln übernommen und redaktionell bearbeitet hat, unterstreicht den Einfluß Marias 146 als der Mutter Jesu: Sie greift für ihre FreundInnen ein und zwingt Jesus, ein Wunder zu wirken. Die Spannungen innerhalb des Textes weisen darauf hin, daß die/der Evangelistln diesen überlieferten Bericht durch den Einschub von V 4 modifiziert hat: »Frau, was hast du mit mir zu tun? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« Da es in jüdischen und griechisch-römischen Quellen keinen Präzedenzfall dafür gibt, daß ein Sohn seine Mutter mit »Frau« anredet 147 , distanziert diese Anrede Jesus von seiner biologischen Mutter und weist jeglichen Anspruch, den sie aufgrund ihrer Familienbeziehung auf ihn haben könnte, zurück. Gleichzeitig stellt die Anrede »Frau« Maria von N azareth mit der Samaritanerin (4,2 I) und mit Maria von Magdala (20, I 3) - beide apostolische Zeuginnen und beispielhafte Jüngerinnen - auf gleiche Stufe. Maria von N azareth erweist sich hier selbst als apostolische Zeugin und Jüngerin. Trotz der Abfuhr durch Jesus weist sie die DienerInnen (diakonoi) an: »Alles, was er euch sagt, das tut.« Wenn die johanneische Gemeinde diakonoi als leitende AmtsträgerInnen anerkannt hat, dann hat Marias Anordnung für die LeserInnen des Evangeliums symbolische Obertöne. Am Anfang ihrer Amtsausübung im Evangelium werden die GemeindeleiterInnen angewiesen: »Alles, was er euch sagt, das tut.« Außerdem wird betont, daß sie diese Ermahnung annehmen sollen - nicht weil sie von Jesu Mutter stammt, sondern weil sie von einer Jüngerin erteilt wird. Der Offenbarungsdialog zwischen Jesus und der Samaritanerin gelangt durch Mißverständnisse hindurch zu einem umfassenderen Verstehen des Offenbarers. Höhepunkt des Abschnitts ist das Bekenntnis der Samaritanerin, daß J esus »der Retter der Welt« ist. Vermutlich hat dieser dramatische Dialog eine missionarische Tradition, die einer Missionarin bei der Bekehrung der Samaritanerlnnen eine besonders wichtige Rolle zugeschrieben hat, zur Grundlage. 148 In der Exegese besteht Konsens 146 Die Literatur zu Maria im Johannesevangelium ist sehr umfangreich. Als knappen· Überblick vgl. R. E. Brown u. a. (Hg.), Mary in the New Testament, Philadelphia 1978,179-218 . 147 Vgl. a.a.O., 188. 148 V gl. R. Bultmann, Das Evangelium des J ohannes, Göttingen '° 197 8.
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darüber, daß die johanneische Gemeinde einen starken Zustrom samaritanischer Bekehrter hatte, die vielleicht Katalysatorfunktion für die Entwicklung der hochentfalteten Christolqgie des Evangeliums hatten. '49 Daß die johanneische Gemeinde nun die Früchte erntet, wurde möglich durch die Missionsarbeit einer Frau, die die Bekehrung des samaritanischen Teils der Gemeinde angefangen hat. In dem »Zwischenspiel« über Missionsarbeit (4,31-38) verwendet Jesus das paulinische Verb kopian, um die Missionstätigkeit der Frau zu beschreiben: »Ich habe euch ausgesandt zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt. Andere haben gearbeitet, und ihr seid gekommen, die Früchte ihrer Arbeit zu genießen« (4,38). Da der Begriff hier als terminus technicus für Missionsarbeit gebraucht wird, wird die Frau hier demnach als Repräsentantin der SamaritanerInnenmission charakterisiert. Missionarische Bekehrung wird analog zu Berufung zur Nachfolge verstanden. So wie Andreas seinen Bruder Petrus in die Jesusnachfolge beruft, indem er ihm sagt: »Wir haben den Messias gefunden« (1,40-42), so motiviert das Zeugnis der Frau die Samaritanerlnnen, zu Jesus zu kommen (4,39). Wie NathanaelJüngerwird, weilJesus wußte, was erunter dem Feigenbaum getan hatte (1,46-49), so wird die Frau Jüngerin und legt Zeugnis ab, weil »er mir alles gesagt hat, was ich je getan habe« (4,29). 17,20 betont, daß Jesus nicht nur für die JüngerInnen betet, sondern auch »für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden«. Mitfast denselben Worten stellt 4,39 fest, daß viele Samaritanerlnnen an ihn glaubten »auf das Wort der Frau hin, die Zeugnis ablegte«. Zum vollen Glauben kommen sie jedoch durch die Selbstoffenbarung Jesu. Die johanneische Gemeinde in Samaria gründet ihren Glauben nicht mehr auf die Verkündigung der MissionarInnen, sondern auf ihre eigene Erfahrung der Gegenwart und Offenbarung J esu. Schließlich ist es wichtig, die Antwort, die die Frau J esus gegeben hat, und den Inhalt seiner Offenbarung zu beachten. Glaube und Offenbarung sind die zwei Motive, die in dieser dramatischen Erzählung den Ton angeben. Wie Glaube und Offenbarung dialektisch aufeinanderwirken, läßt sich an der Weiterentwicklung der christologischen Aussagen ablesen: Jude (V 9), Herr (V 11), größer als unser Vater Jakob (V 12), Prophet (V 19), das Heil kommt vo~ den JüdInnen (V 22), Messias (V 25), ich bin es (V 26), Christos (VV 25 und 29), Retter der Welt (V 42). Neben dem Hauptthema Mission werden zwei zusätzliche Themen behandelt: die Gabe des Offenbarers -lebendiges Wasser - und der Gottesdienst der neuen Gemeinde. Das ganze Evangelium erläutert die Fülle des Lebens, die der Offenba149 Vgl. Brown, Community of the Beloved Disciple, Hf.
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rer gibt und verheißt. Wein, Wasser, Brot, Licht, Wahrheit, Weg, Weinstock, Tor, Wort sind für Menschen lebensnotwendig, sie gehen zugrunde, wenn diese fehlen. Diese Bilder kennzeichnen nicht nur Jesus selbst, sondern gleichzeitig seine Lebensgaben, die lebendigen und lebenspendenden göttlichen Kräfte, die zum ewigen Leben führen. Es ist »der« Geist, »der« solches Leben schafft und erhält (vgl. 3,8; 6,63). Das durch »den« Geist vermittelte Leben ist die Heilsgabe schlechthin ... , die eine lebendige dynamische Wirklichkeit im Menschen darstellt, so daß auch auf sie das Bild der sprudelnden und unversieglichen Quelle zutrifft. 'jO Das zweite Thema im Offenbarungsdialog mit der Samaritanerin ist die Anbetung in »Geist und Wahrheit« (4,20-24). Das zentrale Symbol religiöser Macht ist für die johanneische Gemeinde nicht mehr der Tempel in Jerusalem und auch nicht der auf dem Berg Garizim. Bereits in 2,13-22 erfahren wir, daß der »Leib« »des« Auferstandenen der Ort der Gottesverehrung ist, der wahre Tempel, der das zentrale jüdische/samaritanische Symbol religiöser Macht ersetzt. Für die johanneische Gemeinde ist jetzt die Stunde, da die wahren BeterInnen den Vater in Geist und Wahrheit anbeten, weil Gott Geist ist; die zu verehrende lebenspendende Macht. Diese Gottesverehrung findet in der Gemeinde der Gläubigen statt, die im Geist neugeboren sind und berufen sind, »die Wahrhit zu tun« (3,21). Es ist der Gottesdienst derer-, die durch das Wort heilig geworden sind und für die soziale und religiöse Unterschiede zwischen JüdInnen und SamaritanerInnen, zwischen Frauen und Männern keine Geltung mehr haben. Das öffentliche Wirken J esu findet seinen Höhepunkt in der Offenbarung, daß Jesus die Auferstehung und das Leben ist (II,I-54).'jI Während in der ursprünglichen Quelle der Wundergeschichte die Auferwekkung des Lazarus im Mittelpunkt der Geschichte stand, hat die/der Evangelistln den Dialog zwischen J esus und Martha und das Bekenntnis der Martha ins Zentrum des ganzen Berichts gerückt. Zentral für den Dialog mit Martha sind das Offenbarungswort J esu in I 1,2 5f »Ich bin die Auferstehung und das Leben ... « und Marthas Erwiderung in V 27: »Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die 150 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 1. Teil, Freiburg 4 1979 , 467. Zur Bedeutung von» Bildern« und Weisheitsmotiven im Johannesevangelium vgl. A. Yarbro Collins, New Testament Perspectives. The Gospel ofJohn, in: JSOT 22 (1982) 47-53. (Diese Nummer von JSOT hat den Titel: The Effects ofWomen's Studies on Biblical Studies [Die Auswirkungen der Frauenforschung auf biblische Forschung]). 15 1 Zum ganzen Abschnitt vgl. Schnackenburg, Das Johannesevangelium II.
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Welt kommen soll.« Als Totenerweckung ist die Auferweckung des Lazarus das größte Wunder und daher der Höhepunkt von J esu »Zeichen«. Doch nicht weil sie ein solch großes Wunder ist, hat sie die/der EvangelistIn an das Ende von Jesu öffentlichem Wirken und den Anfang vonJesu Leiden gestellt, sondern um deutlich zu machen, daß Jesus, der getötet werden wird, in Wirklichkeit »die Auferstehung und das Leben« ist. Das Wunder wird zu einem Zeichen, das auf die wahre Auferstehung und das immerwährende Leben verweist: aufJesus selbst. Auch wenn die Gläubigen den irdischen Tod erleiden, haben sie Leben im eigentlichen Sinn. Im Glauben gewinnt das menschliche Leben eine neue Dimension, die keinen endgültigen Tod kennt, und diese neue Dimension des Lebens - das ewige Leben - wird durch J esus eröffnet. Martha, Maria und Lazarus werden als J esu FreundInnen, die er liebte, dargestellt (11,5). Sie sind seine wahren JüngerInnen, und er ist ihr »Lehrer«. Nachdem Martha die Offenbarung empfangen und ihren Glauben in den Worten Jesu ausgedrückt hat, geht sie und ruft Maria (11,28), so wie Andreas und Philippus Petrus und N athanael gerufen haben. Als eine »Lieblingsjüngerin« Jesu ist sie die Sprecherin für den messianischen Glauben der Gemeinde. Sie bekennt ihren Messiasglauben jedoch nicht als Antwort auf das Wunder, sondern als Antwort auf die Offenbarung und den Anruf Jesu: »Glaubst du das?« Ihr Bekenntnis ist Gegenstück zum Bekenntnis des Petrus (6,66-71), ist jedoch ein christologisches Bekenntnis im volleren Sinn des johanneischen Messiasglaubens : J esus ist der Offenbarer, der vom Himmel herabgekommen ist. Ihm kommt die volle Bedeutung zu, die das Bekenntnis des Petrus in Cäsarea Philippi bei den SynoptikerInnen , bes. in Mt 16,15 - 19, hat. Daher repräsentiert Martha den vollen apostolischen Glauben der johanneischen Gemeinde, genauso wie Petrus den Glauben der matthäischen Gemeinde repräsentiert. Was noch wichtiger ist: Ihr Glaubensbekenntnis wird am Schluß des Evangeliums wiederholt, wenn die/der VerfasserIn das Ziel formuliert, auf das hin sie/er das Evangelium geschrieben hat: »Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubet, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen« (20)31). Wenn Robert Forna damit recht hat, daß diese summarische Aussage die Zeichenquelle abschloß'F, dann wird folgende Annahme wahrscheinlich: Die/ Der Evangelistln könnte die aus ihrer/seiner Quelle stammenden Worte als ein einen Höhepunkt darstellendes Glaubensbekenntnis einer/eines »LieblingsjüngerIn« absichtlich Martha in den Mund gelegt haben, um sie als Verfasserin des Buches zu identifizieren. Dies ist nicht undenkbar,
152 Vgl. R. Fortna, The Gospel of Signs, Cambridge 1970 (SNTSM rr), 197f.
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da wir nicht wissen, wer das Evangelium verfaßt hat. Anderseits läßt sich eine solche Annahme historisch weder beweisen noch widerlegen. Während Martha von Bethanien für die erste Artikulation des christologischen Glaubens der Gemeinde steht, artikuliert Maria von Bethanien die rechte Praxis der Nachfolge. Sie wird ausdrücklich als J esu Lieblingsjüngerin, die der Lehrer besonders berufen hat, beschrieben. Sie hat viele Anhängerlnnen unter "den JüdInnen«, die zum Glauben an Jesus gekommen waren (rr,45). Obwohl Maria in 11,1-54 gegenüber Martha eine untergeordnete Rolle spielt, ist sie in 12,1-8 der Mittelpunkt der Handlung. I53 Die/Der Evangelistln hat vielleicht zusätzlich zur markinisehen (matthäisehen) Salbungsgeschichte und zur lukanischen Geschichte von der großen Sünderin, die Jesus mit ihren Tränen die Füße gewaschen und sie mit ihren Haaren getrocknet hat, eine Tradition verwendet, die Lk 10,38-42 ähnlich war. Das MahlfindetinBethanien statt. (Im Markusevangelium ist es im Haus Simons des Aussätzigen, während hier der Name der/des GastgeberIn nicht genannt wird.) Daß Martha bei Tisch bediente, könnte eine Anspielung auf Lk 10,4° sein, wird hier jedoch viel positiver gesehen. Wenn Corells Vermutung zutrifft, daß das einzige fest eingeführte Amt in der johanneischen Gemeinde das Amt der/des diakonos war I54 , dann wird Martha hier als Person charakterisiert, die ein solches Amt erfüllt. Im Gegensatz zum Lukasevangelium sieht das Johannesevangelium Maria und Martha nicht in Konkurrenz zueinander. Sie werden dargestellt als die beiden Amtsträgerinnen bei einem Abendmahl, das an einem Sonntagabend stattfindet, dem Tag, an dem die frühe Kirche die Eucharistie feiert. Maria salbt Jesus die Füße. Dies erinnert an die Salbungsgeschichte der Synoptikerlnnen, aber in der johanneischen Tradition bleibt die Frau nicht namenlos. Doch daß sie das Salböl dann mit ihren Haaren abwischt, ist schwierig zu erklären und erregt unsere Aufmerksamkeit. Möglicherweise deutet diese Geste bereits auf das Letzte Abendmahl J esu hin, bei dem Jesus seinen JüngerInnen die Füße wäsche 55 und mit einem Handtuch abtrocknet. Außerdem unterstreicht die zentrale Rolle, die Judas sowohl in dieser Szene als auch in der Fuß waschungs szene spielt, die Absicht der/des Evangelistln, die wahre Jüngerin Maria von Bethanien als Gegenpart zu dem treulosen Jünger Judas Iskariot zu zeichnen. Während 153 Vgl. die Kommentare und v.a. E. E. Platt, Ministry and Mary of Bethany, in: TheologyToday 34 (1977) 29-39; W. Munro, The Anointing in Mark 14,3-9 andJohn 12,1-8, in: SBL Seminar Papers 18 (1979) Bd. 1, 127-130. 154 Vgl. A. Corell, Consummatum Est. Eschatology and Church in the Gospel of J ohn, London 1958, 4off. 155 "Seine Füße« kommt zweimal vor. Vgl. Schnackenburg, Das Johannesevangelium
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bei Markus »einige« (14,4) und bei Matthäus »die JüngerInnen« (26,8) an der Verschwendung kostbaren Salböls Anstoß nehmen, ist es im Johannesevangelium Judas, der Einwände erhebt, und zwar tut er das aus Habsucht. Damit wird nicht nur Judas als Person, sondern auch der Einwand von Männern gegen Marias Salbungsdienst diskreditiert. Dies wird durch Jesu scharfe Zurechtweisung noch unterstrichen: »Laß sie in Frieden!« Wenn wir all diese verschiedenen Aspekte der Geschichte berücksichtigen, so ist die/der Evangelistln höchstwahrscheinlich daran interessiert, Maria von Bethanien als die wahre Jüngerin und Amtsträgerin zu schildern - im Kontrast zu dem Verräter, der einer der Zwölf war. Maria nimmt Jesu Gebot, als Zeichen der Agape-Praxis wahrer Nachfolge einander die Füße zu waschen, vorweg. Marthas Messiasbekenntnis und Marias Fußsalbung an J esus - beide Geschichten verweisen auf J esu Tod und Auferstehung, auf die Stunde seiner Verklärung. Nach dem vierten Evangelium standen bei Kreuz J esu Jüngerinnen - die Mutter Jesu, die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala - und ein Jünger (19,25-27), Zu dieser Szene sind zahlreiche Studien geschrieben und eine Vielzahl von Deutungen vorgeschlagen worden. 15 6 Einen Hinweis, welche Bedeutung diese Szene höchstwahrscheinlich hat, gibt vermutlich die ausdrückliche Feststellung, daß die Mutter J esu nach dem Tod und der Auferstehung J esu Mitglied der johanneischen Gemeinde wurde. Interessanterweise wird weder sie noch die/der JüngerIn, die/den Jesus liebte, beim Namen genannt. Hier wie in Kap. 2 wird sie mit dem Titel »Frau« angesprochen und damit als eine der apostolischen Jüngerinnen gekennzeichnet. Die Szene hat also vermutlich eine ähnliche Bedeutung wie Mk 3,31 - 3 5, wo ebenfalls betont wird, daß Jesu Nachfolgegemeinde alle Bindungen und Ansprüche der patriarchalen Familie ersetzt. In Jesu Tod wird die »neue Familie« von JüngerInnen begründet und werden auf diese Weise alle zu Schwestern und Brüdern. Die Szene soll also die Botschaft des Prologs weitervermitteln : »Er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, denen, die an seinen Namen glaubten, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden« (l,IIf). Die/Der JüngerIn, die/ den Jesus liebte, repräsentiert dann die JüngerInnen Jesu, die alles verlassen haben und nun eine neue Familie bekommen: »Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker ... und in der künftigen Welt ewiges Leben« (Mk 10,J0). Das Verständnis der johanneischen Gemeinde ist dem Markusevangelium anscheinend ähnlich: die »neue
156 Vgl. Brown u. a., Maryin the NT, 206-218; undR. F. ColZins, Mary in theFourth Gospel. A Decade of Johannine Studies, in: Louvain Studies 3 (1970) 99- 142.
Die Konflikte aufspüren. Patriarchat und Amt
Familie« umfaßt »Mütter« ebenso wie Brüder und Schwestern, Väter jedoch nicht, weil Gott allein ihr Vater ist. Schließlich enthält die Szene vielleicht auch manche historischen übertöne. Während die Mutter Jesu ausdrücklich als eine von Jesu »Seinigen« anerkannt wird, die von der/dem LieblingsjüngerIn repräsentiert werden, werden die Brüder Jesu nicht gleichermaßen rehabilitiert. Raymond Brown hat den Vorschlag gemacht, daß die Brüder Jesu im Evangelium möglicherweise für JudenchristInnen mit ungenügendem Glauben stehen (7,1-10). Nach frühchristlicher Überlieferung hat Jakobus, der Herrenbruder, eine Auferstehungserscheinung gehabt (IKor 15,7), als Leiter der Jerusalemer Gemeinde gedient (vgl. Gal 1,19; 2,9; Apg 15; 21,18) und ist in den frühen sechziger Jahren als Märtyrer gestorben: Dies paßt zur gegenwärtigen Diskussion, wenn wir uns erinnern, daß Jakobus, dem Herrenbruder, noch zu Lebzeiten eine Anzahl von JudenchristInnen in J erusalem folgten, die konservativer waren als Petrus und Paulus (GaI2,I2), und daß er nach seinem Tod zum Helden par excellence für die JudenchristInnen des zweiten Jahrhunderts wurde, die sich allmählich von der »Großkirehe« lösten. 157 Wenn Browns Vorschlag historische Plausibilität hat, so müssen wir darauf hinweisen, daß das vierte Evangelium zwischen den männlichen und weiblichen Mitgliedern der Familie Jesu - und implizit also auch zwischen Judenchristen und Judenchristinnen - unterscheidet. Nicht nur die Mutter Jesu, sondern auch ihre Schwester war bei den treuen NachfolgerInnen Jesu. Waren die weiblichen Mitglieder der johanneischen Gemeinde möglicherweise offener für das johanneische Christentum, und veranlaßten sie daher die/den Evangelistln, darauf zu bestehen, daß sie Mitglieder der Gemeinde der/des LieblingsjüngerIn geworden sind? Die letzte Frau, die im vierten Evangelium auftritt, ist Maria von Magdala, die auch als eine der Frauen erwähnt wird, die unter dem Kreuz J esu standen. Sie entdeckt nicht nur das leere Grab, sondern ist auch die erste, die eine Auferstehungserscheinung hat. So wird sie in zweifacher Hinsicht die apostola apostolorum, die Apostelin der ApostelInnen. 15 8 Sie ruft Petrus und die/den »LieblingsjüngerIn« zum leeren Grab, und sie wird zu Jesu »neuer Familie« gesandt, um ihnen zu sagen, daß Jesus »zu meinem Vater und eurem Vater, meinem Gott und eurem Gott« aufsteigt (20,17). Im Gegensatz zu Mk 16,8 erfahren wir hier eindeutig, daß Maria 157 Brown, Community of the Beloved Disciple, 76. 158 E. Schüssler Fiorenza, Mary Magdalene. Apostle to the ApostIes, in: UTS Joumal, April 1975, 22ff. V gl. auch K. H. Schelke, Der Geist und die Braut. Frauen in der Bibel, Düsseldorf 1977, I pf.
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von Magdala zu den Jünger Innen ging und ihnen verkündete: »Ich habe den Herrn gesehen«. Sie überbringt ihnen die Botschaft, die er ihr gegeben hat. So ist sie die erste apostolische Zeugin der Auferstehung. Während das Matthäusevangelium, das Johannesevangelium und der Anhang des Markusevangeliums Maria von Magdala den Primat als apostolische Zeugin zuerkennen, behaupten das judenchristliche vorpaulinische Bekenntnis in IKor 15,3 -6 und das Lukasevangelium, daß »der« auferstandene Kyrios zuerst Petrus erschienen sei. Da die Tradition vom Primat der Maria von Magdala als apostolischer Zeugin die petrinische Tradition infragestellt, ist es bemerkenswert, daß sie in zwei voneinander unabhängigen Evangelienüberlieferungssträngen überlebt hat. Darüberhinaus reflektieren - wie wir bereits gesehen haben - spätere apokryphe Schriften ausdrücklich die theologische Debatte, ob Maria von Magdala oder Petrus der apostolische Primat zukommt. Die Geschichte »im Garten« darf nicht psychologisiert werden. Maria wird nicht so sehr als »die große Liebhaberin« Jesu, die aus persönlichen Gründen über seinen Tod bestürzt ist, charakterisiert, sondern als typische Vertreterin für die Situation der JüngerInnen, nachdemJ esus sie verlassen hat. Ihre große Betrübnis wandelt sich in Freude, so wie Jesus in den Abschiedsreden verheißen hat. In dreifacher Hinsicht wird Maria von Magdala als treue Jüngerin gekennzeichnet: Jesus spricht sie erstens mit »Frau« an und fragt: »Wen suchst du?« Das griechische Verb zetein ist für die johanneische Gemeinde, die es vermutlich als Fachausdruck für »forschen« und »sich als JüngerIn engagieren« kannte, sehr bedeutungsvoll. Nach Culpepper besagtJo 13,33-35, daß auch wenn die JüngerInnen Jesus vor der Auferstehung nicht erfolgreich »suchen« konnten, sie sich (in der johanneischen Schule) anschließend von den JüdInnen unterschieden und J esus (das Wort) suehen (und finden) konnten, indem sie das neue Gebot beobachteten und die Worte Jesu in Erinnerung hielten (15,20; 16,4). '59 Maria von Magdala ist die Jüngerin, die trotz ihrer Betrübnis Jesus »sucht« und findet. Sie erkennt zweitens J esus in dem Augenblick, in dem er sie bei ihrem Namen ruft. In Jo 10, der Rede über den guten Hirten, versichert Jesus: »Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich« (10,14). Der gute Hirt »ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Wenn er die Seinen alle hinausgebracht hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen« (IO,3f). Wie der 159 R. A. Culpepper, The Johannine School, Missoula, Mont. 1975 (SBL Diss. 26),29 8.
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gute Hirt sein Leben für seine Schafe hingibt, so liebte Jesus »die Seinen« bis zum Ende (13,1). Maria von Magdala wird dargestellt als einevonJesu »Seinen«, denn Jesus ruft sie bei ihrem Namen, und sie erkennt seine Stimme. Ihre Antwort ist drittens die Antwort der wahren Jüngerin. Sie erkennt »den« auferstandenen Jesus als »Lehrer«. Als treue Jüngerin, die die Kyrios-Sophia »sucht«, wird Maria von Magdala zur vorrangigen Zeugin der Auferstehung. Wie Maria von Nazareth, die namenlose Samaritarierin, Martha und Maria von Bethanien (und vielleicht auch die namenlose Ehebrecherin, die von J esus nicht verurteilt, sondern gerettet wurde) gehört sie zu den JüngerInnen, die die »Seinen« sind. So sind für die/den Evangelisten diese fünf Jüngerinnen Paradigmen für apostolische Jüngerinnenschaft und zugleich für die Leitung der johanneischen Gemeinden durch Frauen. In diesem Sinn sind sie Paradigmen treuer Nachfolge, denen nicht nur wauen, sondern alle, die zu Jesu eigener Familie gehören, nacheifern soll~n.
Zusammenfassung Unsere neutestamentliche Literatur wurde zum größten Teil im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts geschrieben und richtet sich an christliche Gemeinden jener Zeit. Allem Anschein nach erlebten diese Gemeinden gleichermaßen durch ihre jüdische wie ihre heidnische Umwelt Konflikte, Schwierigkeiten und sogar Verfolgungen. Obwohl die nachpaulinische Literatur diese Konflikte zwischen christlicher Gemeinde und griechisch-römischer Gesellschaft dadurch zu verringern sucht, daß sie die alternative christliche Missionsbewegung den patriarchalen Strukturen und Sitten der herrschenden griechisch-römischen Gesellschaft und Kultur anpaßt, bestehen die ersten EvangelistInnen darauf, daß solche Leiden und Verfolgungen sich nicht vermeiden lassen. Während die AutorInnen der Briefe sich auf die Autorität von Paulus und Petrus berufen, um ihre Anweisungen zu Unterordnung und Anpassung an griechisch-römische patriarchale Strukturen zu legitimieren, berufen sich die VerfasserInnen der ersten Evangelien auf J esus selbst zur Unterstützung ihrer alternativen Betonung von altruistischer Liebe und altruistischem Dienst, die nicht von den Letzten und SklavInnen, sondern von den LeiterInnen und SklavenherrInnen - und ich möchte hinzufügen, nicht nur von den Frauen, sondern auch von den Männern - gefordert sind. Während die nachpaulinischen und nachpetrinischen Autoren aus Gründen der Apologetik die Leitungsrollen von Frauen in der christlichen Gemeinde auf Rollen zU; beschränken suchen, die kulturell und reli-
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giös akzeptabel sind, heben dIe EvangelistInnen, die Markus und J ohannes genannt werden, den alternativen Charakter der christlichen Gemeinde hervor und erkennen deshalb die apostolische und amtliche Leitung von Frauen an. In historischer Retrospektive hat die soziologische und theologische Betonung auf Unterwerfung und patriarchaler Überordnung im Neuen Testament den Sieg davongetragen über den neutestamentlichen Nachdruck auf altruistischer Liebe und amtlichem Dienen. Doch dieser »Erfolg« läßt sich nicht theologisch rechtfertigen, da er für die eigene christliche Praxis nicht die Autorität Jesu beanspruchen kann. Die VerfasserInnen des Markus- und J ohannesevangeliums haben es der christlichen Kirche unmöglich gemacht, die Aufforderung J esu, ihm auf dem Weg des Kreuzes nachzufolgen, zu vergessen. Wo immer daher das Evangelium gepredigt und gehört, verkündet und gelesen wird, ist nicht völlig vergessen, was die Frauen getan haben, weil das Evangelium daran erinnert, daß die Nachfolge und apostolische Leitung von Frauen '60 integraler Bestandteil von Jesu alternativer Praxis der Agape und des Dienens sind. Das» Licht scheint in der Finsternis« patriarchaler Unterdrückung und patriarchalen Vergessens, und diese »Finsternis hat es nicht überwältigt«.
I60 Zur Interpretation dieser Frauen in christlicher Kunst, Legenden und Geschichte vgl. bes. E. Moltmann-Wendel, Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, Gütersloh I980.
Epilog Auf dem Weg zu einer biblisch-feministischen Spiritualität Die Ekklesia der Frauen Im ersten Teil dieses Buches habe ich dargelegt, daß nur in einem und durch einen kritischen Bewertungsprozeß feministischer Hermeneutik die Schrift als Hilfsquelle im Befreiungskampf von Frauen und anderen untergeordneten und unterdrückten Menschen gebraucht werden kann. Vision und Praxis unserer Vorschwestern, die den Ruf in die einander gleichgestellte Nachfolge gehört und in der Macht »des« Geistes gehandelt haben, müssen sich zu verändernder Macht entfalten können, die Frauen in der christlichen Religion eine feministische Zukunft eröffnen kann. Daher sind wir vom Lesen androzentrischer Texte zur Rekonstruktion der Frauengeschichte im frühen Christentum gelangt. Eine solche Rekonstruktion habe ich im zweiten und dritten Teil des Buches versucht. Was nun noch aussteht, ist eine Reflexion über die spirituellen Implikationen einer solchen Rekonstruktion. I In ihrem Buch Women of Crisis erzählen Jane und Robert Coles von einer als Dienstmädchen angestellten Frau, die ziemlich ambivalente Gefühle gegenüber den feministischen Bestrebungen der Mittelschichtsfrau, für die sie arbeitet, hat. Dennoch äußert sie »in einer Mischung von Zuversicht und Zweifel«, so berichten die AutorInnen, »sie würde gerne erleben, daß >ihr Volk< es einmal besser habe«. Jane und Robert Coles kommentieren dies: Wir dachten, dies sei »ethnisch« gemeint, wir dachten, sie spreche von Klasse und Rasse, von Nachbarschaftsgebieten und Städten, von Gehaltsstufen, Kirchenmitgliedschaften oder beruflicher Stellung; aber nein, auf unsere Frage erklärte sie, daß »alle Frauen der Welt« ihr Volk selen. Im Bild und in der Vision des Volkes/der Leute Gottes, meiner Leute, die Frauen sind, kristallisieren sich theologisch meine eigenen spirituellen feministischen Erfahrungen und die meiner Schwestern, die unser Solidarischsein als Schwestern feiern, um uns gegenseitig Macht zu verleiI Diese Überlegungen habe ich im Kontext der »Women Moving Church Conference«, die vom Center of Concern, Washington, D. c., gefördert wurde, ausgearbeitet und unter dem Titel »Gather Together in My Name ... Toward a Christian Feminist Spirituality« in der Dokumentation dieser Konferenz (Diann Neu/Maria Ritey (Hg.), Women Moving Church, Washington, D. C. 1983) in ausführlicherer Fassung veröffentlicht.
Die Ekklesia der Frauen
hen, und die unsere durch die Taufe ergangene Berufung zur Nachfolge von Gleichgestellten zurückgewinnen. Dieses Bild und Selbstverständnis macht es uns möglich, eine feministische Bewegung aufzubauen - nicht an den Rändern der Kirche, sondern als zentrale Verkörperung und Inkarnation der Vision von Kirche: Kirche, die in Solidarität mit den Unterdrückten und Verarmten lebt; deren Mehrheit Frauen und von Frauen abhängige Kinder sind. Ekklesia - die Bezeichnung für Kirche im N euen Testament - ist weniger ein religiöses, als ein politisches Konzept. Ekklesia ist die Zusammenkunft freier BürgerInnen, die sich versammeln, um ihre spirituell-politischen Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Da in einer patriarchalen Kirche Frauen über ihre eigenen theologisch-religiösen Angelegenheiten und die ihrer eigenen Leute - nämlich Frauen - nicht entscheiden können, ist die Frauen-Kirche ebensosehr Hoffnung auf die Zukunft wie bereits Realität. Wir haben bereits begonnen, uns als die Frauen-Ekklesia, als die Leute - das Volk - Gottes, zu versammeln, um unsere eigenen religiösen Kräfte zu beanspruchen, uns voll am Entscheidungsprozeß der Kirche zu beteiligen und uns gegenseitig als Christinnen zu fördern. Die Taufe ist das Sakrament, das uns in die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten ruft. Es ergeht keine besondere Berufung, es ist keine »vollkommenere« christliche Lebensweise möglich. Engagement, Verantwortlichkeit und Solidarität in der Frauen-Kirche sind die gelebte Praxis einer solchen feministisch-christlichen Berufung. Diese Praxis ist eine zentrale Verkörperung und Inkarnation der Vision einer »erneuerten Kirche« in Solidarität mit den Unterdrückten und den »Letzten« dieser Welt, die in ihrer Mehrheit Frauen und von Frauen abhängige Kinder sind. In der üblichen Sichtweise hat Spiritualität mit Innerlichkeit zu tun, mit Gebetsleben und Gottesdienst, Meditation und mystischer Vereinigung, mit der passiven Erwartung, daß der Wille Gottes schon geschehen wird, und mit der innerlichen Erfahrung des Göttlichen. Nach diesem Verständnis konzentriert sich Spiritualität vor allem auf Gebet und Meditation, »geistliche« Führung, auf asketische und religiöse Übungen als Vorbedingungen, damit die Seele auf ihrem spirituellen Weg von einer Stufe zur nächsten vorankommen kann. Ebenso besteht die Gefahr, daß feministische Spiritualität ganz in Anspruch genommen wird von Meditation und Beschwörungen, Zauber und Räucherstäbchen, Menstruationsritualen und Kerzenschein, weiblichen Symbolen für das Göttliche und Trance. Ein solches Verständnis von Spiritualität, religiösen Ritualen und Übungen findet sich in allen Religionen und ist nicht auf das Christentum beschränkt. Daher drückt sie nicht das Spezifische der Vision Jesu und der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung aus.
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Epilog
Das Evangelium ist nicht eine Angelegenheit der individuellen Seele, es ist die öffentliche Verkündigung der lebenspendenden Macht von GeistSophia und von Gottes Vision einer alternativen Gemeinde und Weit. Die Erfahrung der schöpferischen Macht »des« Geistes befreit uns von den lebenszerstörenden Mächten der Sünde und bevollmächtigt uns, für uns und füreinander ein alternatives Leben zu wählen. Zentral für das frühchristliche Selbstverständnis war nicht ein heiliges Buch oder ein kultischer Ritus, nicht mystische Erfahrung oder magische Anrufung, sondern ein Geflecht von Beziehungen: die Erfahrung der Anwesenheit Gottes unter den Gemeindemitgliedern und durch sie. Die christliche Botschaft annehmen heißt in eine Gemeinschaft eintreten. Eines ist nicht ohne das andere zu erlangen. Das Evangelium ruft Kirche als Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten, die in der Macht »des« Geistes fortwährend neugeschaffen wird, ins Leben. Der Jesus der Evangelien macht durch seinen Dienst, seine Heilungen und Exorzismen, seine Verheißung für die Armen und Infragestellung der Reichen, durch das Übertreten religiöser Gebote und die Tischgemeinschaft mit Ausgestoßenen und SünderInnen Gottes neue Welt nicht - wie wir zu denken gewohnt sind - in uns, sondern unter uns erfahrbar. Die Präsenz Gottes ist mitten unter uns (vgl. Lk 17,21). Jesu Name ist Emmanuel, Gott mit uns. Dies ist auch der Name »des« Gottes Judiths. »Der« Gott Jesu ist göttliche Geist-Weisheit, deren Macht sanft und deren Joch leitht ist. Wie der Dienst J esu, so ist auch der Dienst der Gemeinschaft, die J esus, der Bote der göttlichen Weisheit, ins Leben gerufen hat, kein Selbstzweck. Die JüngerInnen sind gesandt, in der Macht »des« Geistes zu tun, was Jesus getan hat: die Hungrigen speisen, die Kranken heilen, die Unterdrückten befreien, den Anbruch von Gottes erneuerter Welt und Menschheit hier und jetzt ankündigen. In jeder Generation bevollmächtigt die göttliche Weisheit ProphetInnen und macht sie zu Gottes Kindern und FreundInnen. Diese Botschaft annehmen heißt sich auf eine Bewegung einlassen, Mitglied der Gottesleute werden, die auf dem Weg sind, der vom Tod Christi zu Ihrer Wiederkunft in Macht führt. Ekklesia bringt diese dynamische Realität christlicher Kirche zum Ausdruck. Es ist keine Orts bezeichnung und keine Bezeichnung für einen statischen Zustand, es ist nicht einmal ein religiöser Ausdruck; Ekklesia ist die Versammlung von Leuten als Volk, die Zusammenkunft freier BürgerInnen in einer Stadt, die zusammengerufen werden, um Angelegenheiten zu entscheiden, die ihr eigenes Wohlergehen betreffen. In der griechischen Version der Hebräischen Bibel ist ekklesia die «Versammlung des Volkes/der Leute Israels vor Gott«. Im Neuen Testament kommt Ekklesia durch die Vermittlung »des« Geistes zu einer sichtbaren und greifbaren Gestalt in der und durch die Versammlung der Got-
Die Ekklesia der Frauen
tesleute um den Tisch, die zum Gedächtnis des Leidens und der Auferstehung Christi gemeinsam ein Mahl essen, das Brot brechen und die Getränke teilen. Christliche Spiritualität heißt zusammen essen, miteinander teilen, gemeinsam trinken, miteinander sprechen, sich gegenseitig akzeptieren, die Anwesenheit Gottes in den anderen erfahren und dadurch den christlichen Glauben als Gottes alternative Vision für alle, besonders die Armen, Ausgestoßenen und Geschlagenen zu verkünden. Solange Christinnen vom Brotbrechen und von der Selbstbestimmung ihres eigenen spirituellen Wohlergehens, ihrer eigenen Ziele und ihres eigenen Engagements ausgeschlossen sind, wird Ekklesia als Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten nicht verwirklicht und das Evangelium entscheidend abgeschwächt. Die wahre spirituelle Person wandelt nach Paulus im Geist und verwirklicht diese erneuerte Welt und Familie Gottes gegen den Widerstand und die Gewalt aller unterdrückenden Mächte dieser Welt und ihrer versklavenden patriarchalen Strukturen. Eine feministisch-christliche Spiritualität ruft uns daher dazu, die Ekklesia von Frauen zu versammeln, die in der zornigen Geistesmacht gesandt sind, unsere eigenen Leute, die Frauen sind, - unser »Volk« - zu speisen, zu heilen und zu befreien. Solche Spiritualität entlarvt die strukturelle Sünde Sexismus und unsere Entfremdung durch sie, befreit uns von dieser Sünde Sexismus und treibt uns an, Töchter und W ortführerinnen Gottes zu werden. Sie verwirft die Vergöttlichung des Männlichen, sieht das Bild Gottes in der menschlichen Existenz von Frauen und bringt es in der Sprache über Gott zum Ausdruck. Sie befreit uns von der internalisierten falschen Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung, die sich in erster Linie um das Wohlergehen und das Werk von Männern sorgt - zum Schaden unseres und anderer Frauen Wohlergehens und Berufenseins. Sie befähigt uns, »füreinander« zu leben und die Anwesenheit Gottes in der Ekklesia als Versammlung von Frauen zu erfahren. Diejenigen unter uns, die diesen Ruf gehört haben, antworten darauf, indem wir uns im Befreiungskampf von Frauen und anderen Unterdrückten engagieren, uns für Frauen und die Zukunft von Frauen verantwortlich erweisen und in der Frauen-Ekklesia Solidarität am Leben halten. Engagement, Verantwortlichkeit und Solidarität in Gemeinschaft sind die unverwechselbaren Kennzeichen unserer Berufung und unseres Kampfes. An dieser Stelle werden in der Regel hauptsächlich zwei Einwände erhoben. Erstens: Die Frauen-Kirche habe keinen Anteil an der Katholizität der Kirche. Das stimmt, aber das gilt genauso für eine exklusiv männliche Hierarchie. In der christlichen Geschichte haben immer religiöse Gemeinschaften von Frauen existiert. Sobald wir Zeugnisse darüber haben, daß die Strukturen der Ortskirche patriarchal und hierarchisch wurden und daher Frauen in untergeordnete Rollen verbannten oder sie
4 I2
Epilog
gänzlich vom kirchlichen Amt ausschlossen, gibt es auch Belege darüber, daß Frauen solche Gemeinschaften gebildet haben . Umgekehrt war die hierarchische Männerkirche stets bestrebt, diese Gemeinschaften unter Kontrolle zu bringen, indem sie sie durch von Männern bestimmte Theologie, Liturgie, Gesetzgebung und Spiritualität kolonisierte. Doch es ist ihr nie ganz gelungen. Indem die protestantische Reformation diese religiösen Frauengemeinschaften auflöste, hat sie die patriarchalen Kirchenstrukturen verfestigt und die klerikale Männerherrschaft über römischkatholische Frauengemeinschaften in heutiger Zeit verstärkt. In den letzten Jahrhunderten sind jedoch immer wieder neu Frauen als Gründerinnen und Anführerinnen ihrer Leute - ihres »Volkes« - aufgetreten, die versucht haben, frei von klerikaler oder monastischer Kontrolle Frauengemeinschaften zu bilden. Christlich-feministische Spiritualität erhebt auf diese Frauengemeinschaften und ihre Geschichte als unser Erbe lind unsere Geschichte Anspruch und versucht, diese Frauengemeinschaften auf Frauen-Ekklesia hin zu verändern, indem wir unsere eigenen spirituellen Kräfte und Gaben zurückfordern, über unser Wohlergehen selbst entscheiden, für unsere eigenen Entscheidungen Verantwortung übernehmen - kurz, indem wir die patriarchal-strukturelle Trennung von Laienfrauen und Ordensfrauen, von nichtordinierten und ordinierten Frauen zurückweisen. Der zweite Einwand ist der Vorwurf des »Gegensexismus« und die Forderung nach »wechselseitiger Zusammenarbeit mit Männern«, der immer dann erhoben wird, wenn wir uns in Ihrem Namen als FrauenEkklesia versammeln. Doch ein solcher Einwand konfrontiert die Probleme patriarchaler Unterdrückung und Macht nicht genügend. Er trachtet zu schnell nach billiger Gnade, nachdem er die strukturelle Sünde Patriarchat nur oberflächlich und halbherzig bekannt hat. Nennen wir es denn »Gegenimperialismus«, wenn die Armen Lateinamerikas sich als Volk zusammenschließen? Oder nennen wir es »Gegenkolonialismus«, wenn sich AfrikanerInnen und AsiatInnen zu einem Volk zusammenschließen? Natürlich nicht, weil wir nur zu gut wissen, daß das Sichzusammenschließen dieser Ausgebeuteten nicht bedeutet, daß die Reichen unterdrückt werden oder daß die Kolonialisierten Macht über weiße Männer und westliche Nationen gewinnen, sondern daß es bedeutet, daß sich Unterdrückte in ihrem Kampf um ökonomisches und kulturelles Überleben zusammenschließen. Warum fühlen sich dann Männer bedroht, wenn sich Frauen in unserem Kampf für Befreiung solidarisch zusammentun? Warum können dann Kirchenmänner nicht verstehen und anerkennen, daß sich Christinnen um unseres spirituellen Überlebens als Christinnen und Frauen willen versammeln? Wenn wir uns zusammentun, ist dies nicht gegen Männer gerichtet, sondern es geschieht,
Die Ekklesia der Frauen
um uns als Ekklesia Gottes zur Selbstbestimmung unseres geistlichen Wohlergehens und Kampfes zu versammeln. Weil die Kolonisierung der Spiritualität von Frauen durch Männer bewirkt hat, daß wir das Männliche als göttlich internalisiert haben, müssen Männer ihre spirituelle und religiöse Herrschaft über Frauen und über die Kirche als Leute - VolkGottes aufgeben, wenn Wechselseitigkeit eine reale Möglichkeit werden soll. Frauen wiederum müssen ihre geistliche Macht zurückfordern und die Vergöttlichung des Männlichen, von der wir besessen sind, austreiben, bevor ein Miteinander möglich wird. In der Tat gehört der »Traum einer gemeinsamen Sprache« zu Gottes alternativer Welt des Miteinanderseins in der Macht »des« Geistes. Doch dieser Traum kann unter den Leutendem »Volk« - Gottes nur Wirklichkeit werden, wenn die Vergöttlichung des Männlichen und ihre dämonischen Strukturen durch das Bekennen der strukturellen und persönlichen Sünde Sexismus aufgegeben werden und wenn die Ekklesia in ihrer Fülle durch die tatsächliche Veränderung von einzelnen und kirchlichen Strukturen eine reale Möglichkeit wird. Nicht Frauen schließen Männer aus, sondern Kirchenmänner schließen Frauen vom »Brechen des Brotes und gemeinsamen Trinken des Weins« in der eucharistischen Tischgemeinschaft aus. Bilder haben eine große Macht in unserem Leben. Seit fast zweihundertjahren beherrschen zwei biblische Bilder die amerikanische Frauenbewegung innerhalb und außerhalb der institutionellen Religionen. Das Bild des Paradieses als Heim/Heimat prägt heute Argumente und Appelle der sogenannten Moralischen Mehrheit, während das Bild des Exodus den radikalen Feminismus inspiriert und uns auffordert, aus den unterdrückerischen Begrenzungen von Heim und Kirche auszubrechen. Das Bild des »Ewigweiblichen« proklamiert, die Frau sei zur Hausfrau berufen. Die Erfüllung ihrer wahren Natur und ihr Glück bestehe darin, das Heim als friedliche Insel im Meer einer entfremdeten Gesellschaft zu schaffen, als Paradies des Gartens Eden, wohin sich Männer von der Ausbeutung und den Versuchungen der Arbeitswelt zurückziehen können. Im Heim müssen Frauen für ein Klima des Friedens und Glücks, der selbstaufopfernden Liebe und des edelmütigen Selbstverzichts sorgen, um »die Familie zu retten«. Daher sei die Berufung zu weiblicher Spiritualität der Berufung der Männer überlegen. Dieses Lob des Ewigweiblichen übersieht geflissentlich die Tatsache, daß es sich arme und unverheiratete Frauen nicht leisten können, »daheim« zu bleiben; es übersieht die Gewalt, die Frauen und Kindern im privaten Heim angetan wird, es mißversteht christliche Familie als patriarchale Abhängigkeit. Das Bild des Exodus nötigt Frauen andererseits, all das hinter sich zu lassen, was ihnen wichtig ist: Gemeinschaft mit Männern, ein Zuhause
Epilog und Glück, Kinder, Geborgenheit und Religion, weil dies alles zu ihrer Unterdrückung und Ausbeutung in der patriarchalen Familie und Kirche beigetragen hat. Frauen müssen die »Fleischtöpfe« patriarchaler Sklaverei und patriarchaler Institutionen hinter sich lassen und in einem neuen Raum und in einer neuen Zeit leben. Das Bild des Exodus ruft Frauen auf, aus der Geborgenheit des Heims auszuziehen, den Dienst an der patriarchaien Familie zu verlassen und die Sicherheiten patriarchaler Religion aufzugeben. Die Exodus-Spiritualität übersieht jedoch nicht nur, daß »Ägypten«, die patriarchale Unterdrückung, überall ist, sondern auch, daß Gott nicht nur an den Grenzen, sondern auch im Zentrum gegenwärtig ist, wenn Gott - wo und wann immer wir für Befreiung kämpfen »mitten unter uns« ist. Diese beiden biblischen Bilder- Eden und Exodus - stellen uns vor die Alternative, entweder Martha zu werden, die Jesus im Heim (be)dient, oder Miriam, die Schwester des Moses, die ihr Volk in die Wüste führt. Diese Bilder führen uns jedoch nicht in das Zentrum patriarchaler Gesellschaft und Kirche, um Gottes Vision des Miteinanderseins durch unseren Kampf und unsere Solidarität zu verwirklichen. Die römisch-katholische Variante dieser alternativen biblischen Bilder ist das Bild von Martha, die als Laiin Jesus und der Familie im Heim dient, und das Bild von Maria, die als Klosterfrau die Welt der Familie und der Sexualität hinter sich läßt und J esus im Ordensleben und in patriarchal bestimmten kirchlichen Gemeinschaften dient. Die Dichotomie, die von den Bildern des Exodus und des Paradieses hervorgerufen wird, drückt sich strukturell in der Dichotomie von zwei Ständen aus: Jungfrau - Mutter, Klosterfrau - Laiinnenfrau, geistlich - biologisch bestimmter Lebensstil. Die sexuellen oder die geistlichen Beziehungen von Frauen mit Männern - oder deren Fehlen - sind für das christliche Selbstverständnis von Frauen konstitutiv. So charakterisiert z. B. der Heiligenkalender Frauen - aber nicht Männer- als jungfräulich, wenn er ihre Heiligkeit preist. Feministisch-christliche Spiritualität lehnt es ab, die Beziehung von Frauen zu Gott durch ihre sexuellen Beziehungen zu Männern und durch die patriarchalen Strukturen von Familie und Kirche zu definieren. Statt dessen bestimmt sie die Beziehung von Frauen zu Gott durch die Erfahrung, in die Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten berufen zu sein, in die Versammlung freier BürgerInnen, die über ihr geistliches W ohlergehen selbst bestimmen. Das Bild der Frauen-Kirche, der Versammlung von Frauen als freie und selbstbestimmende Gemeinde des Volkes Gottes, ersetzt die Dichotomie der biblischen Bilder, die ich erwähnt habeParadies/Heim, Exodus/Welt und Jungfrau/Mutter - indem sie sie miteinander zu integrieren sucht. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die strukturell-patriarchalen Dualismen, in denen diese alternativen Bilder
Die Ekklesia der Frauen
ihre spirituellen Wurzeln haben, abgelegt werden. Die Frauen-Ekklesia als das neue Modell für Kirche läßt sich nur dann am Leben erhalten, wenn wir die strukturell-patriarchalen Dualismen zwischen Jüdinnen und Christinnen, Laiinnenfrauen und Ordensfrauen, »Hausfrauen« und »Karrierefrauen«, zwischen aktiven und kontemplativen, zwischen protestantischen und katholischen Frauen, zwischen verheirateten und alleinstehenden Frauen, zwischen biologischen und geistlichen Müttern, zwischen heterosexuell und lesbisch lebenden Frauen, zwischen Kirche und Welt, zwischen sakral und säkular überwinden. Überwinden werden wir diese Dualismen jedoch nur in und durch schwesterliche(r) Solidarität aller Frauen in der Frauen-Kirche, die alle patriarch al-kirchlichen Spaltungen transzendiert. Diese patriarchalen Spaltungen und Konkurrenzen unter Frauen müssen in eine Bewegung von Frauen als Leute »Volk« - Gottes umgewandelt werden. Feministisch-christliche Spiritualität inkarniert sich in einer historischen Bewegung von Frauen, die für Befreiung kämpfen. Sie wird in prophetischem Engagement, mitleidender Solidarität, beharrlichem Widerstand, kraftspendenden Feiern und Liturgien und in Basisgemeinden von Frauen-Kirche gelebt. Eine solche Frauenbewegung als >>Volk« Gottes ist wirklich ökumenisch, insofern sie nicht nur die Erfahrung des patriarchalen kirchlichen Sexismus verbindet, sondern ihr zentrales integratives Bild das biblische Bild des Volkes Gottes ist, das jüdische und christliche Religion gemeinsam haben. Darüber hinaus unterscheidet sie sich zwar von den sogenannten säkularen Frauenbewegungen, aber sie ist nicht von ihnen getrennt. Jeder Kampf gegen die strukturelle Sünde Sexismus, der für Anglikanerinnen, Jüdinnen oder Mormoninnen gewonnen wird, kommt dem Befreiungskampf aller Frauen zugute und umgekehrt. Solidarität im Kampf mit armen Frauen, Frauen der dritten Welt, Lesben, Sozialhilfeempfängerinnen, alten und behinderten Frauen bringt unser fundamentales spirituelles Engagement und unsere Verantwortung zum Ausdruck. Obwohl das Leben der meisten Frauen bestimmt wird durch das Gebären und Aufziehen von Kindern, hat die christlich-feministische Bewegung den Bedürfnissen von Kindern und von Frauen mit Kindern nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Daher muß die Frauenbewegung als Volk Gottes erneut theologisch erfassen, was religiöse Initiation in die Frauen-Ekklesia heißt. Patinnen (»godmothers«) könnten für die Arbeit mit allen Kindern und Jugendlichen verantwortlich sein. Die Frauen-Kirche ist eine feministisch-kirchliche Gemeinschaft von Erwachsenen, die nach dem Modell der Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten lebt und von der Kinder ihre leibliche und geistliche Nahrung erhalten. Kinder stehen nicht nur in der Verantwortung von
Epilog Müttern, auch nicht nur in der Verantwortung von Eltern - Vätern und Müttern. Für ihre Rechte müssen wir alle sorgen - nicht weil wir Frauen sind, sondern weil Kinder unsere Zukunft sind. Frauen als Ekklesia Gottes haben eine fortdauernde Geschichte, die sich auf Frauen im Judentum, wie auch in der Jesusbewegung und der frühchristlichen Bewegung als ihre Wurzeln und Ursprünge berufen kann. Diese Geschichte von Frauen als Ekklesia ist sowohl als Unterdrückungsgeschichte, als auch als Bekehrungs- und Befreiungsgeschichte zu rekonstruieren. Wenn ich von der Frauen-Ekklesia spreche, denke ich an Frauen in der Vergangenheit und Gegenwart, an Frauen, die in der Macht der lebenspendenden Geist-Sophia gehandelt haben und handeln. Ein solches Verständnis von Frauen-Kirche, die alle Zeiten, Nationen und Kontinente umspannt, braucht keineswegs unsere Verletzung und unseren Ärger zu leugnen oder die Ungerechtigkeiten und Gewalttaten zu verheimlichen, die Frauen im Namen Gottes oder Christi angetan wurden. Es braucht jedoch auch nicht für Frauen heilende Kräfte zu behaupten und das Verständnis von Schwesterlichkeit auf jene Frauen einzuengen, die die Auserwählten und die Heiligen sind. Es erwartet von Frauen nicht die Befreiung, weil es weiß, daß Frauen ebenfalls die strukturelle Sünde Sexismus verinnerlicht haben und daher auch gegen ihre eigenen geistlichen Interessen und ihre leitenden Frauen handeln können. Es ruft uns auf zur Solidarität mit allen Frauen der Vergangenheit und Gegenwart. Solche schwesterliche Solidarität macht es uns möglich, unser Erbe als Christinnen und Volk Gottes wiederzuentdecken und hochzuschätzen. Wie Judy Chicago aufgezeigt hat, versuchen alle Institutionen unserer Kultur uns davon zu überzeugen, daß wir unbedeutend sind. »Doch unser Erbe ist unsere Macht. « Schließlich wurzelt feministisch-christliche Spiritualität in der FrauenEkklesia als» Leib Christi«. Unsere leibliche Existenz ist weder nachteilig noch peripher, sondern konstitutiv und zentral für unseren geistlichen Prozeß als Frauen-Kirche. Nicht Seele, Verstand oder innerstes Selbst, sondern der Leib ist Bild und Modell unseres Kirche-seins. Wie können wir auf das eucharistische Brot weisen und sagen »Dies ist mein Leib«, solange die Leiber von Frauen geschlagen, vergewaltigt, sterilisiert, verstümmelt, prostituiert und für Männerzwecke gebraucht werden? Wie können wir »wechselseitige Beziehungen mit Männern« im Leib Christi verkündigen, solange Männer uns unsere reproduktive Freiheit und moralische Selbstbestimmung beschneiden und bestreiten? Wie in der Vergangenheit so führen auch heute Männer ihre Kriege auf den Schlachtfeldern unserer Körper und machen uns zu Zielen ihrer körperlichen und geistlichen Gewalt. Daher beansprucht die Frauen-Ekklesia die Körper von Frauen wieder als »Bild und Leib Christi«. Sie klagt jede Gewalt ge-
Die Ekklesia der Frauen
gen Frauen als Sakrileg an und besteht auf der moralischen Macht und Verantwortlichkeit von Frauen, unser eigenes geistliches Wohl selbst zu bestimmen: als ein Wohlsein, das Leib und Seele, Herz und Bauch miteinbezieht. Feministisch-christliche Spiritualität muß kritische Spiritualität und gemeinschafts bezogene Gemeinde-Spiritualität bleiben. Als kritische Spiritualität sucht sie nicht nur die befreienden Erfahrungen von Frauen in biblischer Religion zu artikulieren, sondern auch die Erinnerung an die Kämpfe (das Gerangel) und Leiden unserer Vorschwestern in der patriarchalen Religion am Leben zu halten. Ich habe versucht, Vision und Kampf unserer Vorschwestern im 1. Jahrhundert n. u. Z. aufzuspüren und dadurch zu zeigen, daß Frauen als Volk Gottes, als Frauen-Ekklesia die apostolische Tradition unserer Vorschwestern und das Beispiel Jesu für unsere feministische Vision und Praxis der Nachfolge einander Gleichgestellter in Anspruch nehmen können. Eine gemeindliche feministisch-christliche Spiritualität beansprucht die Frauen-Kirche wieder als unser eigenes christliches Erbe. Ich habe daher versucht, frühchristliche Geschichte als Geschichte von Frauen und Männern zu verstehen. Ich habe die christlichen Anfänge nicht nur als Geschichte, in der Männer wirksam wurden, sondern auch als Geschichte des beharrlichen Ringens von Frauen um Befreiung rekonstruiert. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Geschichte patriarchaler Unterdrückung die Geschichte des Lebens, des Ringens und der Leitung von Frauen in der biblischen Religion ausradiert. Die Bindung an die Frauen-Kirche als Volk Gottes und das Engagement für sie wird aufrechterhalten in beständigem Widerstand gegen alle Formen patriarchaler Unterdrückung und in politischer Teilnahme am Ringen von Frauen um Befreiung und Gleichheit. Nur wenn sich der Ekklesia der Frauen all jene Angehörigen der biblischen Religion anschließen, die die Vision des Volkes Gottes als Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten teilen, wird auf der ganzen Welt das Evangelium verkündet. Nur dann können wir angemessen erzählen, was unsere Vorschwestern zu ihrem Gedächtnis getan haben. Im Brechen des Brotes und im gemeinsamen Trinken verkünden wir nicht nur das Leiden und die Auferstehung Christi, sondern feiern wir auch das Leiden und die Auferstehung von Frauen in der biblischen Religion.
Bibelstellenregister I. Hebräische Bibel Genesis 1,27 2f 2,7 2,24 18,1 I 27,40
26 3 89 39 6 33° 339 249
Exodus 9 14 19,5f 19,6 20,7
15 8 15 8 164 151 201
Leviticus 1-15 13,45 17-26 19,18 19,19 Numeri 5,18 19,II- 13 Deuteronomium 15,7- 18
95 28 4 95 329 249
28 4 169
25,5- 10
168 249 193
Richter 4,21
15 8
Samuel 17,51
15 8
22,10
I
II,22f 12,4 13,II 13,14af 15>9 15,13 16,6 16,8
15 8 15 8 28 4 159 160 159 160 15 8 161 15 8 159 159 15 8 28 4
Psalmen 8
75
Sprüche 31,10-3 1
149
8,33 9,10f 10,3 10,7 10,19 11,21
Weisheit 1,6 7,22 7,26f 8,3f 9,10 11,1
181 181 181 181 181 15 8
Jesaja 9,4 10,27 14,25 43,18 25> 23 65,qf
249 249 249 23 6 243 23 6
249 47
Samuel 7,14
25°
Jeremia 27,8.IIf 44,15- 19
Könige 12,4
249
Hosea 2,19f
292
Judith 8,10f
159
Amos 6-8
168
2
I
Bibelstellenregister
420 Micha 7,6
196
II. Neues Testament Matthäus 3,10 5,45 7,6 10,Hff 11,12
11,19 II,28ff 12,3 2 13,45 16,15- 19 16,19 18,1-4 18,18 1903° 20,1-16 20,16 20,26f 21,3 I 21,3 2 22,1-14 23,8-11 23,12 26,8 28,16-20
162 177 18 5 195 f 182 172 181 181 18 5 4°1 395 199 395 166 178f 166 198 173 155 16 5 199- 202 199 4°3 395
8,4.8 8,22-10,52 9,33-37 10,2-9 10,6 10,IOff 10,13- 16 10,15 10,18b 10,25 10,29b 10,29f 10,30 10,31 10,35 10,42-45 II,25 12,18- 27 12,41-44 13,12 14,3-9 14,J-II 14,4 14,9 14,5 8 15,4° 15,41 15,47 16,1-8 16,1-6.8a 16,8 16,9
186 385-393 19 8f 193f 26 3 192 199 198 177 167 195 197. 200 112.197.4°3 166 112 19 8 201 165. 193ff 166 196.3 86 203f 175 4°3 IIf·39 1 246 389 12.3 89 39 1 39 1f 18 7 4°4 169
Markus 1,18 1,3 I 1,44 2,1-3,6 2,14ff 2,16b 2,18ff 2,23- 28 3,1-5 3,20 3,3 1-35 4,1 I 4,35- 8,10 5,10-20 5>25-34 6,17- 29 6,42 7,24-3°
389 39° 39 2 18 4 172ff 177 163 171f 17° 197 19 6f· 403 389 184ff 18 5 169 I Hf 186 I85f
Lukas 1,52f 2,19 2,51 3,8 4,1 7,22 7,24 7,29f 7,H 7,35 7,3 6-5° 8,1-3 8,2 9>4 8 10,18 10,3 8-42 11,2-4
16 7 196 196 171 236 163 172 155 163 179 174ff. 204 188 169 199 162 2IIf·402 201
Bibelstellenregister 11,20
II,27f II,49 12,10
12,3° 12,37 12,51ff 13,10- 17 13,30 13,34 14,1-6 14,16- 24 14,26 15,2 15,2b 17,8 17,21 17,34 18,19b 18,29b 22,24- 27 23,IIff 24,10 24, II
421 16 5. 169 196 182 181f 201 212 195 f 17Of 166 183f 17° 16 5 195 177 172 212 162.410 74 177 195 19 8 323 f 188 37°
13,34f 15,3 15,13 15,20 15,27 16,4 16,20ff 17,14 17,17 17,20 18,25ff 19,25ff 19,26f 20,2-10 20,13 /20,17 20,19- 23 20,3 1 21,7 21,15- 19 Apostelgeschichte 1,14 2,17f 2,21
Johannes 1,1-14 1,1 If 1,40ff 1,46-49 2,1-12
2,13- 22 3,3-9 3,8 3,16 3,21 4,1-42 4,7- 26 4,8 4,27f 6,63 6,66-71 7,1-10 1°,3 f 10,1 I
10,14 II,I-54 12,1-8 13,1 13,1.4f.12- 17 13,33 ff
242 4°3 399 399 29 8 4°° 395 4°° 393 4°° 186·399 39 8ff 393 39 8 4°° 4°1 4°4 40 5f 4°5 4°5 400ff 175·402f 4°6 395 4°5
2,45f 4,32-37 6-8 6,1-8,3 6,1.2-7 6,2 6,3.5. 10 6,8 6,13f M8 8,4 9,27 10,Iff 10,1-11,18
11,19 11,24 II,26 12,12- 17 13,1 13>3 I 13,50 13,)2 14,4 14,14 15 15,22
393 395 393 4°5 393 4°5 39 6 393 395 399 39 6 4°3 39 6 39 6 39 8 4°4 395 f 4°1 39 6 397
86 237·357 237 212 212 21 9.3 83 208 210-212 212 23 6 23 6 246 246 208 2°9 228 184f 208 208f.23 6 139. 209 212 2°9 39° 21 3 237 209.221 209.221 4°4 211
Bibelstellenregister
422 16,qff 16,15 16,18 16,21 16,J2ff 16,34 17,4 17,12 17,34 18,2 18,2-4 18,8ff 18,18ff 18,24- 19,1 18,26 19,1-7 19,23-41 21,9 21,18 23,16 26,3 1
21 3 228 J24 324 228 212 86. 21 3. 227 86. 21 3. 227 86. 21 3 21 3 229 228 228 24 1 86.229 24 1 302f 210.3 63.3 66 4°4 21 3 21 4
RömerInnen 2,6 3,22 6,1-II 8,2 8,16c.17 8,21 10,12
12,2
16 16,1 16,Iff 16,2 16,3-5 16,6 16,7 16,15 16,23 I
10,1 I
74 f 261 239 239 259 239 261 239f 88.228.23° 77. 218 8of. 218 217·2J2 228f 21 7 79ff. 22O 221. 230 228
Korintherinnen
1,14 1,16 1,24 1,3° 3,5 3,6 3,9 3,16ff
4,8- 13 4,14- 17 4,15 4,17 4,20 4,21 6, II 6,12-20 6,19 6,20 7 7,1 7,1-5 7,IOf 7,14- 24 7,19 7,23 7,24 7,34 7,39 7,39 f 9 9,5
228 228·345 23 6. 242 242 81. 219 24 1 8 I. 219 24 M
10,21
II-q II II,3 II,24f 12,13 14 14,26-3 6 14,33-3 6 14,J4f 15>3-5 15>3- 6 15,7 15,45 16,12 16,15 16,15f 16,15ff 16,16ff 16,19 2
221 274 292 292 23 6 292 239 27 M 24 M
260 274- 281 288 278 276 272. 274ff 259 260 221 288.29 1 25° 379 229 221. 291 239 212 77.281-291 274 7 8f 2°4 84.262.272 89. 274.359 287f 43· 84.255.287-291 36 84 4°5 220.404 23 6 24 1 21 9 21 3.34 6 228 21 7 228
Korintherinnen
2,14 3,1 3,17 5,17 6,1
29 1 220 236.238.260 237 21 9
Bibelstellenregister
42 3
6,2 239 6,4 21 9 6,14-7,1 246ff 6,14 25° 279 7,32-35 8,13 245 221 IIf II,2-16 43.77.84.255.272.282-287 II,2-6 292 II,2f 274 II,3 328
4,24 5,1.8 p8ff 5,21-33 6,8c 6,15
239.255.266.326 326 '3 28 328 32 5-33° 327 325
Philipperlnnen 1,1 2,1- I 5 2,6-II 2,22
Galaterinnen 1,4 1,18 1,19 2,4f 2,9
261 2°9 4°4 249 4°4 2,11-21 249 2,11-14 18 4. 249 2,12 4°4 261 2,14 186 2,15 3,26ff 258f.266·332 3,28 84· 88. II 5. II7· 255-295. 305f. 308. 330. 33 2. 341f. 366 3,29 259 25 8f 4>3 4,19 29 1 5,1 249. 260 5,6 259 260 5, 13 5,25 237 6,1 237 6,10 225 6,15 237. 2 59
Epheserlnnen 1,2-5 1,13f 1,18 2,5 c.6.1O 2,11-22
2,14ff 2,18-22 2,20
3,14f 4,1 4,3- 6 4,12 4. 13
328 326 325.3 28 326 326ff 242 246f 360 328 326 326 . 32 8 32 8 326 .340
4,2f 4,21ff
Kolosserinnen 1,13 1,15- 20 1,26f 2,1-4 2,1 I 2,12 2,20
3,3 3,5- 17 3,10 3,1 I 3,18-4,1 4,5 f 4,10 4,15 I
80.218f 245 242f 292 217 221
3°6 242 3°6 3°5 306 23 8.306 306 3°8 3°7 239. 255. 266 3°6 306-3 16 3°7 21 3 85f. 228. 299
Thessalonicherlnnen
2,1 I
3,2 5,12 5,19
Thimotheus 1,3ff 1,6ff 2,1ff 2,9- 15
29 1 21 9 21 7. 232 359
I
2,1 I
2,I3ff 3,2ff Mf 3,6 3,8ff 3,15 3,16
379 f 380 34 8. 351 89· 34 8. 351 35° 293 34 8 23 2 242 2II 347 242
c
Bibelstellenregister
42 4 4,1 4,2ff 4,7 4,12 4,14 4,19 5,1 5>3- 16 5,17 5,21 6,2
Timotheus 1,2 1,3 1,5
360 380 380 34 8 360 229 349 377-3 80 211. 23 2. 349 353 34 8.351
2
2,20
3,6-9 4,19 4,21
Titus 1,1-14 1,7-2,10 2,3 2,15 Philemon 2 10 16
299.348 299 299 347f 380 228.299 299
380ff 34 8.35° 77 34 8
228.299 291 267
HebräerInnen 1,3 9,11.24 Petrus 1,6f 1,14ff 1,18 1,23ff 2,lff 2,4- 10 2,11-3,12 3,13 3,14b-17 3,16 3,18.22 5>7 5,IOf
242 246
I
I Johannes 4,8
2
3 17 317 3 17 3 17 3 17 246ff 3 16-325 3 17 319 3 17 24 2 317 3 17
393
Johannes 3°1
JJohannes 9 9ff
30d 346
Apokalypse 2,20
9°.210.363
Anerkennung und Dank Ein Buch ist nie nur das Werk einer Autorin, wenn diese auch alleine die Verantwortung trägt. Für eine feministisch-theologische Arbeit wie die vorliegende gilt dies besonders. Es ist mir nicht möglich, all die Frauen namentlich zu erwähnen, die zu meinen Erfahrungen und meinem Denken beigetragen haben, besonders jene, mit denen ich beim Aufbau der Frauenbewegung in der Kirche und bei der Entwicklung feministischer Theologie zusammengearbeitet habe: die Frauen von der National Women's Conference, die Sisters Against Racism in Washington, D.C., das Feminist Theological Institute in New York, die Women Scholars in Religion, die Women Moving Church, Women's Caucus von AAR/SBL, die Women in Theology (WIT) von der Catholic University und Notre Dame und die Frauen in den verschiedenen Arbeitsgruppen und Workshops zu Frauen in Kirche und Theologie. Bei meinem Vorhaben haben mich Diskussionen mit meinen feministischen Kolleginnen im akademischen Bereich herausgefordert und inspiriert und Gespräche mit meinen Freundinnen ermutigt und unterstützt. Euch allen meinen herzlichen Dank! Laurie Boddie, M. Div., arbeitete im Sommer 1982 als meine Research Assistant und Cheryl Reed, Sandy Dewulf, Karen Kretschner und Janet Wright vom Notre Dame Word Processing Center tippten das Manuskript. Ich danke ihnen für Ihre Mühen. Manche der Interpretationen und Argumente, die ich in diesem Buch ausführlicher entfaltet habe, habe ich bereits in Vorlesungen und Seminaren an folgenden Institutionen vorgetragen: an der Chicago Divinity School, der Perkins School of Theology, der Catholic University of America, am Gettysburg Lutheran Theological Seminary, an der McGill University, der Duke Divinity School, der University of Indiana, am Seton Hill College, am College of St. Catherine und an der Wichita State University. Als Antoinette Brown Lecturer an der Vanderbilt Divinity School, J. Balmer Showers Lecturer am Dayton United Theological Seminary, Colwell Lecturer an der School of Theology in Claremont, Georgia Harkness Lecturer am Garret-Evangelical Theological Seminary, Nelle Morton Lecturer an der Drew Divinity School und als Theologian in Residence am College of W ooster, 0 hio hatte ich die Ehre, meine Arbeit zur Diskussion zu stellen. Die Gelegenheit, mit Studentinnen und . KollegInnen an diesen Institutionen schwierige exegetisch-hermeneutische Probleme einer feministischen Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge zu diskutieren, war für die Entwicklung meiner Forschung und die Kristallisation meiner Gedanken eine unschätzbare Hilfe.
Anerkennung und Dank
Schließlich möchte ich den Männern danken, die dieses Buch »genährt« haben. Justus George Lawler hat das Manuskript sorgfältig gelesen und mir geholfen, mich durch den Prozeß des Schreibens hindurchzukämpfen. Frank Oveis hat das Manuskript durch die verschiedenen Stadien der Drucklegung und Produktion hindurch mit großer Aufmerksamkeit und Sorgfalt begleitet. Robert Craft und Frederick Holper haben die Anmerkungen nachgeprüft und die Druckfahnen korrekturgelesen. F. Holper versuchte nicht nur, meine Germanismen im Englischen in den verschiedenen Fassungen des Manuskripts aufzuspüren, sondern hat auch als mein Teaching Assistant in den letzten zwei Jahren meine Arbeit mit intellektuellem Enthusiasmus für die theologisch-hermeneutischen Fragen, die durch historisch-feministische Forschung aufgeworfen werden, unterstützt. Nicht zuletzt schulde ich - mehr als alle Worte zu sagen vermögen - Francis Schüssler Fiorenza Dank für seine kritische Freundschaft und Unterstützung. Während des gesamten Entstehungsprozesses dieses Buches hat Christina Schüssler Fiorenza mich immer wieder ermahnt, »hart zu arbeiten«, damit wir wieder mehr Zeit zum Reden und Spielen haben. Ich hoffe, daß sie später einmal erkennt, daß dieses Buch Teil unseres fortdauernden Gesprächs und unserer kreativen Imagination ist. 12. November 1982 am Geburtstag Elizabeth Cady Stantons