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Eckhard Beubler Hans Haltmayer, Alfred Springer (Hrsg.) Opiatabhängigkeit Interdisziplinäre Aspekte für die Praxis 2. Auflage
SpringerWienNewYork
Univ.-Prof. Dr. Eckhard Beubler Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Karl-Franzens-Universität Graz
Dr. Hans Haltmayer Verein Wiener Sozialprojekte, Ambulatorium „Ganslwirt“, Wien
Univ.-Prof. Dr. Alfred Springer Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung am Anton-Proksch-Institut, Wien
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ISBN-10 3-211-29116-4 Springer-Verlag Wien New York ISBN-13 978-3-211-29116-0 Springer-Verlag Wien New York
Vorwort zur 2. Auflage
Auch nach langjähriger Erfahrung stellt die Behandlung opiatabhängiger PatientInnen immer noch eine große Herausforderung für die medizinische, sozialmedizinische und psychosoziale Versorgung dar. Opiatabhängigkeit ist nicht eine Krankheit wie andere auch, sondern ein komplexes Phänomen, das Krankheiten und Leidenszustände einschließt, die Interventionen auf den verschiedenen Behandlungsebenen erforderlich macht. Die Mortalität unter Opiatkonsumenten ist bis zu zwanzig Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung der gleichen Altersgruppe. Dafür sind nicht nur Überdosierungen, Aids und andere Infektionserkrankungen verantwortlich, sondern auch externe Ursachen wie Gewalt, Selbstmord und schlechte Lebensbedingungen (Obdachlosigkeit, Mangelernährung, gesellschaftliche Ausgrenzung). Trotz aller Bemühungen, die Behandlung dieser Patientengruppe zu „normalisieren“, war es bislang nicht möglich, der Stigmatisierung, die sich gegen die Betroffenen selbst und oftmals auch gegen deren Behandler richtet, wirkungsvoll entgegenzutreten. Die Stigmatisierung wird von der im außermedizinischen Feld erworbenen Sucht auf die Behandlung übertragen, ist vielgestaltig und kann selbst auf die in der Behandlung eingesetzten Medikamente übergreifen, wie eine aktuell in Österreich stattfindende Diskussion über „gute“ und „böse“ Medikamente im Rahmen der arzneimittelgestützten Behandlung Suchtkranker zeigt.
Große Anstrengungen sind erforderlich um die komplexen Zusammenhänge von Entstehung und Phänomenologie dieses Erkrankungsbildes zu verstehen und frei von ideologischen Einflüssen darzustellen. Nur auf dieser Basis sind wirksame Interventionen möglich, die im Regelfall auf mehreren Ebenen (pharmakologisch, psychosozial, medizinisch, juristisch) und unter besonderer Berücksichtigung von interdisziplinären Aspekten erfolgen müssen. Mit vorliegendem Buch versuchen wir, diesem Ansatz gerecht zu werden. Die 2. Auflage wurde in diesem Sinn um neue Beiträge zu medizinischen Problemstellungen aus den Bereichen Geburtshilfe, Chirurgie und Schmerztherapie erweitert. Beiträge zu den Themen „Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit“ sowie zur Fahrtauglichkeit sollen – ebenso wie die Darstellung von Aspekten der psychosozialen Betreuung und der Behandlung mit Heroin – das Spektrum der Behandlung des Erkrankungsbildes ergänzen. Diese erweiterte Neuauflage soll einen rationaleren Umgang mit dem Erkrankungsbild „Opiatabhängigkeit“ fördern und einen Beitrag dazu leisten, die Behandlungsqualität weiter zu verbessern und die Ausgrenzung von Betroffen zu reduzieren.
Die Herausgeber Wien, im September 2006
Vorwort zur 1. Auflage
Dieses Buch soll einen möglichst umfassenden Blick auf das Krankheitsbild der „Opiatabhängigkeit“ unter Beachtung weitreichender Interdisziplinarität vermitteln. Um diesem Umstand möglichst gerecht zu werden, sind auch die Herausgeber aus drei verschiedenen fachlichen Richtungen, der Psychiatrie, der Allgemeinmedizin und der Pharmakologie, zusammengekommen. Diagnostik, Betreuung und Behandlung der Opiatabhängigkeit und deren Begleiterkrankungen verlangen eben koordiniertes, fächerübergreifendes Handeln auf der Basis fundierten Wissens. Alle beteiligten Berufsgruppen sollten über dieses Wissen verfügen, zum Wohle der ihnen anvertrauten Menschen, aber auch um eigenen Negativerlebnissen und Frustrationen, die oft in resignativem Rückzug enden, vorzubeugen. Das dafür notwendige Rüstzeug soll in diesem Buch dargelegt werden. Besonderer Wert wurde dabei auf praktische Anwendbarkeit unter Einbindung wissenschaftlicher Erkenntnisse und klinischer Erfahrungen gelegt. In Österreich gibt es heute etwa 2 Millionen RaucherInnen, 330.000 Alkoholabhängige, 110.000 Arzneimittelabhängige und etwa 20.000 Menschen mit „problematischem“ Opiatkonsum. Statistisch betrachtet spielt Opiatkonsum als gesellschaftliches Problem gegenüber den legalen Suchtmitteln im Gegensatz zur emotionalen Bewertung eine untergeordnete Rolle. Gerade auf diesem Gebiet hat sich aber in den letzten Jahren vieles verändert. Schadensminimierende Strategien wurden verfeinert, das Wissen um die Diagnostik
und Therapie psychischer und somatischer Begleiterkrankungen hat sich beträchtlich erweitert, und bei der medikamentösen Behandlung der Opiatabhängigkeit wurden Fortschritte gemacht. Besonders die Substitutionsbehandlung hat im gesamten deutschen Sprachraum kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. In Österreich werden derzeit etwa 5000 PatientInnen nach dieser Methode behandelt, und in diesem Buch wird ihr ein entsprechend breiter Raum gewidmet. Grundlagen, Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren der Substitutionsbehandlung werden von kompetenten AutorInnen beleuchtet. Der breite Einsatz der Substitutionstherapie hat dazu geführt, dass der medizinische Zugang zum Suchtphänomen wieder jene alte Bedeutung gewonnen hat, die im Spannungsfeld drogenpolitischer Aufträge an die Behandlung der Suchtkranken bereits verloren gegangen schien. Diese Entwicklung hat entscheidende Veränderungen im Umgang mit Suchtkranken mit sich gebracht. Darüber hinaus wurde eine Versachlichung im Umgang mit Opiaten angebahnt, welche die bei den Praktikern der Suchtbehandlung oftmals überhöhte Angst vor diesen Substanzen relativierte. In der Folge geriet das „Abstinenzparadigma“ ins Wanken und es eröffnete sich eine neue Dimension im drogenpolitischen Diskurs. Der hohe Stellenwert des medizinischen Zuganges sollte jedoch nicht den Eindruck entstehen lassen, dass nunmehr eine Einbahnstrasse zur effizienten Behandlung suchtbezogener Probleme eröffnet sei. Trotz der intensiven Forschung, die im
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Bereich des Drogengebrauchs und der Abhängigkeit betrieben wird, gibt es bislang kein Erklärungsmodell, das ein grundsätzliches und universelles Verständnis dieser Phänomene erlauben würde. Umso wichtiger sind interdisziplinäre Ansätze. All die wissenschaftlichen und praktischen Disziplinen, die in diesem Feld arbeiten, müssen in einem ständigen Dialog stehen. Nur so kann vermieden werden, dass Standpunkte verhärten und eine Situation entsteht, in der die Versorgung Abhängigkeitskranker durch ideologische Positionierungen behindert wird. Auch die Prävention außermedizinischen Drogengebrauchs kann nur durch die Bereitschaft zu fächerübergreifender Kooperation im Denken und Handeln erfüllt werden. Die bestimmenden Variablen für die Entwicklung einer Abhängigkeit kommen in der Interaktion von Substanz, Persönlichkeit und sozialem Umfeld zur Wirkung. Dementsprechend müssen Möglichkeiten erarbeitet werden, in alle diese Bereiche einzugreifen. Neben der Beschränkung der Verfügbarkeit und therapeutischen Maßnahmen sind sozialpädagogische Strategien notwendig, um junge Menschen rechtzeitig, objektiv, sachlich und offen aufzuklären und so kulturellen Trends zur Verklärung der Wirksamkeit psychoaktiver Stoffe, also der „Drogenromantik“, entgegenzuwirken. Inhalt und Form der sachlichen Aufklärung können aber wieder nur als Resultat interdisziplinärer Kooperation ihre bestmögliche Wirkung entfalten.
Vorwort zur 1. Auflage
Wir weisen darauf hin, dass hinsichtlich rechtlicher und administrativer Belange länderspezifisch (Österreich, Schweiz, Deutschland), aber auch regional (Bundesländer, Kantone) oftmals recht unterschiedliche Voraussetzungen gegeben sind und somit für den Leser und die Leserin die Aufgabe besteht, die Aussage mancher Artikel an die jeweilig herrschenden Bedingungen angepasst umzudenken. Wo immer es ging, wurde darauf geachtet, die Beiträge so grundsätzlich zu halten, dass sie über regionale Grenzen hinweg Gültigkeit besitzen. In diesem Buch kommen viele Fächer respektive ihre VertreterInnen zu Wort, und diese wurden eingeladen, über den engen Themenbereich des Buchtitels „Opiatabhängigkeit“ hinaus auch die mit dem Gebrauch anderer psychoaktiver Stoffe verbundenen Probleme zu erörtern. Dennoch wird wohl manches zu kurz gekommen und einiges unerwähnt geblieben sein. Sollten die LeserInnen bestimmte Themen oder Problemstellungen vermissen, werden Anregungen gerne für eine zukünftige Auflage entgegengenommen. Besonderen Dank möchten die Herausgeber an Frau Mag. Renate Eichberger und Herrn Raimund Petri-Wieder für die besondere Betreuung bei der Bearbeitung dieses Buches richten.
Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Mitarbeiterverzeichnis ....................................................................................................... XI
I. Drogen und Ihre Wirkung Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle (A. Springer) .................................................... Opiate aus heutiger Sicht (S. Haas) .................................................................................. Abhängigkeit aus psychologischer Sicht (J. W. Egger) .................................................. Abhängigkeit im Experiment (G. Zernig, J. A. Crespo, P. Stöckl, K. Sturm, J. Schneider, A. Saria) ........................................................................................................ Abhängigkeit in der Adoleszenz (K. Steinberger) ........................................................... Pharmakologie psychotroper Substanzen (E. Beubler) .................................................... Heroinmythologie und Heroinkontrolle (A. Springer) ..................................................... Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte (A. Springer) .........................
3 17 23 33 45 51 65 79
II. Begleiterkrankungen Psychiatrische Komorbidität (T. Berthel) ........................................................................... 93 Agieren und Mitagieren in der Behandlung von Substanzabhängigen (T. Berthel) ..... 99 Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C (H. Haltmayer) .............................. 107 Das A-B-C der postexpositionellen Prophylaxe (B. Schmied) ........................................ 117 Antiretrovirale Therapie (B. Schmied) .............................................................................. 125 Kardiologische und pulmologische Komplikationen bei Opiatabhängigkeit (S. Reiter) ............................................................................................................................. 139 Chirurgische Komplikationen (G. Hastermann) ............................................................... 149 Geburtshilfliche Komplikationen (I. Frech) ...................................................................... 155
III. Behandlungsstrategien Schadensmindernde Aspekte – „Harm Reduction“ (H. Haltmayer) .............................. 165 Aspekte der Apotheker (M. Einfalt, H. Jakesz, S. Köhler-Barta, M. Wellan) ................. 173 Substitutionstherapie (W. Werner) .................................................................................... 185 Heroingestützte Behandlung (A. Uchtenhagen) .............................................................. 205 Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit (F. Tretter) ........................................................ 213 Begleitende psychosoziale Unterstützung in der Substitutionsbehandlung (R. Gerlach, H. Stöver) ........................................................................................................ 225
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Inhaltsverzeichnis
Psychotherapeutische Aspekte (A. Springer) ................................................................... 231 Allgemeinmedizinische Aspekte (H.-J. Fuchs, R. Jens) ................................................... 243 Opiatabhängigkeit und Schmerztherapie (W. Jaksch) .................................................... 251 Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter (E. Berger, T. Elstner, S. Fiala-Preinsperger) ......................................................................................................... 259 Drogen und Opiate im Straßenverkehr (Y. Körner, E. Schnabel, H.-P. Krüger) ............. 269 Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen (R. Schmid) ................................................... 281 Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit (Ch. Grünhut) ...................................................................................................................... 297 Substanzabhängigkeit und Strafvollzug (C. Obrist, W. Werdenich) ............................... 309 Was sind eigentlich „Drogenopfer“? (A. Uhl) .................................................................. 321 Sachverzeichnis .................................................................................................................. 339
Mitarbeiterverzeichnis
Univ.-Prof. Dr. Eckhard Beubler Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie Karl-Franzens-Universität Graz Universitätsplatz 4 A-8010 Graz Tel.: +43 316 380-43 09 E-Mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr. med. Ernst Berger Neuropsychiatrische Abteilung für Kinder und Jugendliche mit Behindertenzentrum Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel Riedelgasse 5 A-1130 Wien Tel.: +43 1 880 00-361 E-Mail:
[email protected] Dr. med. Toni Berthel Integrierte Psychiatrie Winterthur (IPW) Wieshofstrasse 102 Postfach 144 CH-8408 Winterthur Tel.: +41 52267 5904 E-Mail:
[email protected] Dr. Jose A. Crespo Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504-3711 E-mail:
[email protected] Univ-Prof. Dr. Josef Egger Institut für Medizinische Psychologie und Psychotherapie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 43 A-8036 Graz Tel.: +43 316 385-3042 E-Mail:
[email protected]
Mag. pharm. Margita Einfalt Apotheke am Reumannplatz Reumannplatz 16 A-1100 Wien Tel.: +43 1 604 13 98 E-Mail:
[email protected]
OA. Dr. med. Thomas Elstner Neuropsychiatrische Abteilung für Kinder und Jugendliche mit Behindertenzentrum Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel Riedelgasse 5 A-1130 Wien Tel.: +43 1 880 00-361 E-Mail:
[email protected]
OÄ. Dr. med. Sabine Fiala-Preinsberger Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde Thermenklinikum Mödling Sr.M.Restituta-Gasse 12 A-2340 Mödling Tel.: +43 2236 204-814 E-Mail:
[email protected]
Dr. med. Inge Frech Abteilung für Geburtshilfe Universitätsklinik für Frauenheilkunde Allgemeines Krankenhaus Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien Tel.: +43 1 40400-2821 E-Mail:
[email protected]
Univ.-Lektor Dr. med. Hans-Joachim Fuchs Praxis für Allgemeinmedizin Marktgasse 62/1/3 A-1090 Wien Tel.: +43 1 319 72 75 E-Mail:
[email protected]
XII Dipl.-päd. Ralf Gerlach Institute zur Förderung qualitativer Drogenforschung, akzeptierender Drogenarbeit und rationaler Drogenpolitik (INDRO e.V) Bremer Platz 18–20 D-48155 Münster Tel.: +49 251 601 23 E-Mail:
[email protected] Dr. Christine Grünhut Döblinger Hauptstraße 21/15 A-1190 Wien Tel.: +43 0 699 111 083 19 E-Mail:
[email protected] Dr. Sabine Haas Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) Stubenring 6 A-1010 Wien Tel.: +43 1 515 61-160 E-mail:
[email protected]
Mitarbeiterverzeichnis MR Dr. med. Rolf Jens Penzingerstraße 36 1140 Wien Tel.: 894 23 55 Fax: 893 50 63 74 E-Mail:
[email protected] Mag. pharm. DDr. Silvia Köhler-Barta Verdi-Apotheke Laxenburgerstraße 123–125 A-1100 Wien Tel.: +43 1 604 12 44 E-Mail:
[email protected] Dipl. Psych. Yvonne Körner Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg Röntgenring 11 D-97070 Würzburg Telefonnummer: +49 931 97099 41 E-Mail:
[email protected]
Dr. med. Hans Haltmayer Sozialmedizimsche Drogenberatungsstelle „Ganslwirt“ Verein Wiener Sozialprojekte Esterhazygasse 18 A-1060 Wien Tel.: + 43 1 586 04 38-22 E-Mail:
[email protected]
Univ.-Prof. Dr. Hans-Peter Krüger Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg Röntgenring 11 D-97070 Würzburg Tel.: +49 931 31 26 53 E-Mail:
[email protected]
OA Dr. med. Gabriele Hastermann Fachärztin für Allgemein-u.Gefäßchirurgie Abteilung für Allgemein-u.Gefäßchirurgie Krankenanstalt Rudolfstiftung Juchgasse 25 A-1030 Wien Tel.: +43 664 422 65 62 E-mail:
[email protected]
Mag. Corinna Obrist Justizanstalt Wien-Favoriten Hardtmuthgasse 42 A-1100 Wien Tel.: +43 1 60121-3405 E-Mail:
[email protected]
Mag. pharm. Hans Jakesz Adler Apotheke Währinger Straße 149 A-1180 Wien Tel.: +43 1 479 33 20 E-Mail:
[email protected]
Dr. med. Susanne Reiter Sozialmedizinische Drogenberatungsstelle „Ganslwirt“ Verein Wiener Sozialprojekte Esterhazygasse 18 A-1060 Wien Tel.: + 43 1 586 04 38-22 E-Mail:
[email protected]
OA Dr. med. DEAA Wolfgang Jaksch Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin Wilhelminenspital Montleartstr. 37 A-1160 Wien Tel.: +43 1 491 50-4001 E-Mail: mailto:
[email protected]
Univ.-Prof. DI Dr. Alois Saria Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstrasse 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504-3710 E-Mail:
[email protected]
Mitarbeiterverzeichnis Univ.-Prof. Dr. Rainer Schmid Klinisches Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik Allgemeines Krankenhaus Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien Tel.: +43 1 40 400-5398 E-Mail:
[email protected] OA Dr. med. Brigitte Schmied 2. Interne Lungenabteilung Pulmologisches Zentrum Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe Otto Wagner Spital mit Pflegezentrum Baumgartner Höhe 1 A-1140 Wien Tel.: +43 1 910 60-42 711 E.Mail:
[email protected] Dipl. Psych. Eva Schnabel Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg Röntgenring 11 D-97070 Würzburg Tel.: +49 931 31 24 89 Dr. Juliane Schneider Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504-3711 Univ.-Prof. Dr. med. Alfred Springer Ludwig Boltzmann Institut für Suchtforschung Mackgasse 7–11 A-1237 Wien Tel.: +43 1 888 25 33-112 E-Mail:
[email protected]
XIII Heino Stöver Institut zur Förderung qualitativer Drogenforschung Akzeptierender Drogenarbeit und rationaler Drogenpolitik (INDRO e.V) Bremer-Platz 18–20 D-48155 Münster Tel.: +49 251 601 23 E-Mail:
[email protected] Dr. Katja Sturm Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504 Priv.-Doz. Dr.med. Dr.phil. Dr.rer.pol. Felix Tretter Suchtabteilung im Bezirkskrankenhaus Haar Vockestraße 72 D-85529 Haar / München Tel.: +49 89 45 623708 E-Mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr.med. Dr.phil. Ambros Uchtenhagen Stiftung für Sucht- und Gesundheitsforschung (assoziiert mit der Universität Zürich) Konradstr. 32, CH-8005 Zürich Tel.: +41 44 448 11 60 E-Mail:
[email protected] Dr. Alfred Uhl Ludwig Boltzmann Institut für Suchtforschung Mackgasse 7–11 A-1237 Wien Tel.: +43 1 888 25 33-112 E-Mail:
[email protected]
OA. Dr. med. Karl Steinberger Neuropsychiatrische Abteilung für Kinder und Jugendliche mit Behindertenzentrum Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel Riedelgasse 5 A-1130 Wien Tel.: +43 1 880 00-328 E-Mail:
[email protected]
Mag. pharm. Max Wellan Apothekerkammer Wien Spitalgasse 31 A-1090 Wien Tel.: +43 1 404 14-151 E-Mail:
[email protected]
Dr. Petra Stöckl Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504-3711
Dr. Wolfgang Werdenich Justizanstalt Wien-Favoriten Hardtmuthgasse 42 A-1100 Wien Tel.: +43 1 60121-3508 E-Mail:
[email protected]
XIV OA. Dr. med. Wolfgang Werner Drogeninstitut-Pavillon W Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe – Otto Wagner Spital mit Pflegezentrum Baumgartner Höhe 1 A-1140 Wien Tel.: +43 1 910 60-24 830 E-Mail:
[email protected]
Mitarbeiterverzeichnis Univ.-Prof. Dr. med. Gerald Zernig Abteilung für Neurochemie Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Tel.: +43 512 504-3711 E-Mail:
[email protected]
I. Drogen und Ihre Wirkung
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle Alfred Springer Die Begrifflichkeit „legal“ vs. „illegal“ Im gesellschaftspolitischen Diskurs um den Gebrauch von psychoaktiven Substanzen hat es sich eingebürgert, von „legalen“ und „illegalen“ Drogen zu sprechen. Als „legal“ gelten Alkohol und Nikotin, die Kategorie „illegale Drogen“ umfasst alle Stoffe, die vom Suchtmittelgesetz erfasst sind und deren außermedizinischer Konsum zwar de lege nicht strafbar ist, die jedoch nur unter eingeschränkten Bedingungen hergestellt und nicht frei verkauft bzw. sonst wie weitergegeben oder erworben werden dürfen. Eigentlich ist es falsch, in dieser Form von legalen und/oder illegalen Drogen zu sprechen. Diese Interpretation entspricht lediglich der Sicht des Konsumenten, der bestimmte psychoaktive Substanzen zugänglich haben möchte, die unter diese Kontrolle gestellt sind. Sie ist daher nur vom Standpunkt der „Freizeitgebraucher“ zu begreifen. Die Substanzen selbst sind nicht „illegal“, sie alle genießen irgendeine Art legalen Status. Ihr Gebrauch ist aber unter besondere Kontrollmaßnahmen gestellt, die den Umgang mit ihnen unter bestimmten Umständen zum Delikt werden lassen. Das heißt, dass es stimmiger ist, zwischen „erlaubten“ und „verbotenen“ Drogen zu differenzieren. Diese Terminologie entspricht der amerikanischen Klassifizierung in „licit and illicit drugs“. Allerdings wird auch diese der komplizierten Sachlage nicht gerecht, deren Komplexität sich daraus ergibt, dass psychoaktive Stoffe in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten
zum Einsatz kommen und der jeweils kontextabhängigen Kontrolle unterworfen werden.
Die Verschränkung von Gebrauch und Kontrolle in anthropologischer Sicht Wir kennen keine Kulturen, von den einfachsten Naturvölkern bis zu Vertretern der höchstentwickelten Gesellschaften, von denen nicht der Gebrauch psychoaktiver Stoffe überliefert wäre. Grundsätzlich kommen dem Umgang mit Drogen mehrfache Bedeutungen und Funktionen zu, die in gewisser Weise miteinander verschränkt sind. In allen Kulturen lässt sich dabei beobachten, dass der Umgang mit psychoaktiven Stoffen in drei gesellschaftlichen Teilbereichen abläuft: – einem rituellen, religiös-„mantischen“, – dem medizinischen und – dem Bereich der Gestaltung der Freizeit und der Genussmittel. Der Gebrauch der Stoffe unterliegt in allen Kulturen und auf allen zivilisatorischen Niveaus Regulierungen. Es wird vorgeschrieben, wie die Rohstoffe der Drogen aufgesucht und verarbeitet und die Substanzen selbst zubereitet werden sollen und, schließlich, wie und in welchem Kontext sie gebraucht werden dürfen. Auf diese Weise tragen die Stoffe zur Strukturierung hierarchischer gesellschaftlicher Konstruktionen bei. Ein weiterer Einfluss auf die Gliederung der Gesellschaft ergibt sich aus dem Umgang mit Drogen insofern,
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als eine bestimmte Substanz oder Substanzengruppe zur „Leitdroge“ bestimmt wird, die dann auch in Alltagsrituale Eingang findet. Der Gebrauch der andern bekannten Stoffe wird auf den medizinischen Bereich eingeschränkt, dem Übergreifen der Konsumation auf die Gestaltung der Freizeit werden Regeln entgegengestellt. Dadurch werden jene Personen, die sich den Gebrauch dieser Stoffe dennoch nicht verbieten lassen, zu Abweichlern und je nach den Prinzipien, nach denen die jeweilige Kultur oder Gesellschaft geordnet ist, sanktioniert. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die zweite große drogenbezogene Krisensituation der westlichen Zivilisation. Die erste fand im 16. und 17. Jahrhundert statt und bezog sich damals auf den Gebrauch von Alkohol, Tabak und Kaffee. Es war in dieser früheren Epoche dadurch zu einer starken Veränderung der Konsumsitten gekommen, dass erstmals Branntwein in größeren Mengen produziert und konsumiert wurde und dass Tabak und Kaffee aus der Neuen Welt und aus Arabien eingeführt wurden. Die Kontroverse, die damals um die neuen Konsumsitten bezüglich der heute gebräuchlichen und „erlaubten“ Stoffe entstand, war mit äußerster Heftigkeit geführt worden, durchaus vergleichbar mit der heute ablaufenden drogenpolitischen Diskussion (2).
Kultischer Gebrauch und religiöse Kontrolle In traditionellen Kulturen („Naturvölkern“) ist das Wissen um den Umgang mit Drogen dem Schamanen als dem Mittler mit den Reichen der Götter und Dämonen vorbehalten. In diesen Kulturen sind in der Gestalt des schamanistischen Systems auch die religiösen und die medizinischen Funktionen des Drogengebrauches in eins gefasst. Die Stammesangehörigen erhalten nur zu bestimmten streng durchritualisierten Anlässen Zugang zum kollektiven festlichen Gebrauch dieser Drogen. Eine derartige Strukturierung ist jedoch nicht
A. Springer
ausschließlich Naturvölkern vorbehalten. Reste einer vergleichbaren Einstellung finden sich wohl auch noch im katholischen Wandlungsritual, in dem nur der Priester die Droge zu sich nimmt. Im kultischen Kontext ergibt sich eine weitere Funktion der Stoffe: sie werden zu Medien der Subversion. Sie finden sakramentalen Eingang in „periphere Kulte“ und können zum Motor kritisch-alternativer kultureller Tendenzen uminterpretiert und umfunktioniert werden. Die Vertreter der jeweiligen staatlichen Ordnung und der Hochkirchen reagieren auf diese Möglichkeit recht sensibel und sind aus eben diesem Grund bemüht, den Drogengebrauch unter Kontrolle zu halten und zu sanktionieren. Drogen, die in Rituale anderer Religionen eingebunden sind, bedrohen die einzigartige Position der herrschenden Religion und müssen ferngehalten werden. Dieses Involvement der religiösen Ordnungsmächte lässt sich der Religionsgeschichte, insoweit sie eine Geschichte des Missionarismus ist, deutlich entnehmen. Besonders interessant ist in diesem Kontext die Historie der Eroberung der Südamerikanischen Kulturen und der religiös motivierten Unterdrückung des Kokagebrauches. Jedoch auch der Genuss von Hanfdrogen wurde bereits im ausklingenden Mittelalter durch päpstliche Order verboten. Mit diesem Kontrollanspruch tragen aber auch die kirchlichen Ordnungsmächte wieder dazu bei, dass Drogengebrauch innerhalb subversiver peripherer Kulte eine Funktion übernimmt. Dies lässt sich im europäischen Kulturkreis z.B. bereits in der Antike, etwa in den dionysischen Mysteriumskulten der Frauen in Pompej, aufspüren. Sie erreicht eventuell einen frühen Gipfel im Mittelalter in der Periode der Hexen und reißt seither nicht ab. Sie findet sich in den Satanskulten des Rokoko und des 19. Jahrhunderts ebenso wie im „Magick“ Aleister Crowleys und in parapsychologischen und ästhetischen Ritualen sowie gesellschaftspolitischen Bewegungen bis in unsere Tage. In den peripheren Ritualen spielen zumeist halluzinogene Stoffe eine große Rolle. Bei den
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
Hexen waren es die natürlich vorkommenden Atropinkörper in den Nachtschattengewächsen; diese Tradition setzte sich im Satanismus fort. In den zwanziger Jahren fand das Mescalin Eingang in die Zirkel der Geheimen Wissenschaften. In den 60erJahren wurde das LSD diesen Drogen zugeordnet. Allerdings scheiterte der amerikanische Psychologe und Propagator der Drogenkultur der 60er-Jahre, Timothy Leary, in seinem Versuch, einen quasi legalen LSD-Kult, analog zum sakramentallegalisierten Peyote-Gebrauch in der „Nativ American Church“, zu etablieren. Auch die Anregung, im Gefolge Aldous Huxleys, Mescalin, LSD und ähnliche Drogen innerhalb der christlichen Liturgie zwecks der Provokation mystischer Zustände zum Einsatz zu bringen, stieß auf wenig Gegenliebe. In den Ritualen der „Magick“ von Aleister Crowley fanden auch Kokain und Heroin Verwendung (2, 3).
Medizinischer Gebrauch und medizinische Kontrolle In traditionellen Kulturen ist der Priester/Schamane gleichzeitig Arzt. Dadurch kommt ihm automatisch die Verfügungsgewalt über den heilenden Einsatz der Drogen zu. Mit dem Fortschritt des Zivilisationsprozesses wird die Festschreibung der medizinischen Kompetenz in zunehmendem Maß zu einem Instrument der Kontrolle des Freizeitgebrauches der Drogen. Der Gebrauch der Substanzen soll auf den therapeutischen Bereich beschränkt bleiben. Idealtypisch repräsentiert sich dieser Kontrollmechanismus in den Formulierungen der internationalen Kontrollverträge. Wird Substanzen die medizinische Brauchbarkeit aberkannt, dann kann ihr Gebrauch in jedem Kontext verboten und kriminalisiert werden. Das bekannte Schicksal des Heroin und der Hanfdrogen kann diesen Zustand deutlich illustrieren. Die meisten psychoaktiven Stoffe, auch jene, deren Gebrauch heute aufgrund in-
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ternationaler Regeln und Vertragswerke als obsolet gilt und/oder verboten ist, waren bis vor nicht allzu langer Zeit im europäischen Kulturkreis gebräuchliche Arzneimittel. Zum Teil kann die Heilkunst auch heute nicht auf sie verzichten. Schon in der Antike wurden Zubereitungen aus dem Mohnsaft und aus der Hanfpflanze medizinisch verwendet. Das Opium spielte eine große Rolle im medizinischen System von Galen (131–201 nach Christi Geburt) und fand in der Folge weite Verbreitung im Abend- und Morgenland. Das Morphin als das wirksamste Alkaloid des Opium wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts von dem deutschen Apotheker Sertürner entdeckt. Auch später wurden in Deutschland wirksame Opiumderivate und synthetische morphinähnliche Stoffe entwickelt. So auch das Diazetylmorphin (Heroin) 1898 durch Dreser für die Firma Bayer und das Polamidon in der Zeit des 2. Weltkrieges. Die Opium- und Morphiumpräparate sind auch heute noch unverzichtbare Mittel bei bestimmten schweren Schmerzzuständen, bei Durchfallerkrankungen und bei schwerem Husten. Während der medizinische Stellenwert der Opiumabkömmlinge unumstritten ist, wurde im 20. Jahrhundert in der offiziellen Literatur über Rausch- und Suchtmittel die medizinische Bedeutung der Hanfdrogen heruntergespielt bzw. überhaupt keiner Erwähnung würdig befunden. Hinweise auf die medizinische Verwendung des Cannabis finden sich jedoch in der Europäischen Kulturgeschichte bereits im Mittelalter, im „Gargantua und Pantagruel“ des Arztes und Schriftstellers Rabelais. Im 19. Jahrhundert, nachdem das Wissen über die verschiedenen Rauschmittel als Folge der Berichte der großen Reisenden jener Zeit und des Kolonialismus ungemein zugenommen hatte, wurden an vielen Orten medizinische Experimente mit den Hanfdrogen durchgeführt. Der indischen Medizin ließen sich Zuschreibungen an die Wirkung dieser Stoffe entnehmen, die ans Wunderbare grenzten. Haschisch sollte bei Pest, Tetanus und Cholera wirksam sein. Englische Ärzte verbreiteten diese Ein-
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schätzung in Europa. Wien nahm in dieser Zeit in der pharmakologischen Forschung eine führende Rolle ein. Auch hier wurden therapeutische Experimente mit Cannabis durchgeführt. Die Substanz wurde klinisch erprobt und zum Beispiel in die Gynäkologie eingeführt. In der Geburtshilfe wurde die Droge als Ersatz für Opium verwendet. Diese Indikation ergab sich vor allem daraus, dass im Gegensatz zu Opium das Cannabis nicht zu Verstopfung führt. Die Krankheits- und Leidenszustände, in denen im 19. Jahrhundert Hanfdrogen als Arzneimittel zum Einsatz gebracht wurden, umfassten spastische Erscheinungen, Migräne und andere Formen des Kopfschmerzes, andere Schmerzzustände, Menstruationsbeschwerden und Zyklusunregelmäßigkeiten, Schlafstörungen und Erregungszustände. Später wurde auch eine antiepileptische Wirksamkeit des Cannabis beschrieben. Heute ist das wirksame Alkaloid Tetrahydrocannabinol als synthetische Droge im Handel und wird als Antiemetikum vor allem als Begleitbehandlung bei Nebeneffekten zytostatischer Therapie verordnet. In letzter Zeit wird die medizinische Brauchbarkeit der Droge in der Schmerzmedizin, der Neurologie und der Ophthalmologie erneut diskutiert und man geht daran, die Wirksamkeit nunmehr auch in klinischen Untersuchungen unter Einsatz korrekter Forschungsmethoden zu überprüfen. Die Blätter des Kokastrauches selbst, Zubereitungen aus ihnen und dadurch das Alkaloid Kokain sind bis heute wesenhaft mit der Volksmedizin der Andenländer verbunden. Die Beobachtung, dass eine direkte Beziehung zwischen dem Kauen von Koka-Blättern und der Anpassung an die Lebensverhältnisse in großen Höhen besteht, die von Humboldt, Tschudi, Poeppig und anderen großen Reisenden des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde, führte zu einem großen Interesse an der medizinischen Anwendung der Koka. In Wien befasste man sich im Pharmakologischen Institut unter Schroff, an das entsprechendes Material von der Weltumsegelung der „Novara“ gesandt wurde, mit der Substanz
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und hier gehörte Sigmund Freud zu den ersten, die sowohl das Wissen um diese Droge verbreiteten sowie selbst Experimente mit ihr durchführten. Die Koka galt zunächst als Wundermittel, dem vor allem eine ungeheure Steigerung der Leistungsfähigkeit zugeschrieben wurde. Neben dem bekannten Marianischen Wein gab es weitere alkoholische Kräftigungsmittel ähnlicher Zusammensetzung sowie auch kokainisierte Milch („Cocalac“) und Produkte wie das Coca Cola, das ursprünglich in jenen amerikanischen Bundesstaaten, in denen bereits im späten 19. Jahrhundert Alkoholprohibition eingeführt wurde, als Alkoholersatz angeboten wurde. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Getränk dann „entkokainisiert“. Von Medizinern wurde Kokain als Kräftigungsmittel, aber auch als Entzugshilfe bei Alkoholismus und Morphinismus empfohlen. Ebenfalls in Wien gelang Koller der Nachweis der lokalanästhetischen Wirkung des Kokains; diese Entdeckung sicherte der Substanz ihren hohen Rang im Arzneimittelschatz. Obwohl sie heute durch andere Substanzen mit ähnlich lokalanästhetischer Wirkung bei geringerem Nebenwirkungspotential verdrängt ist, gibt es immer noch Anwendungsbereiche, in denen das Kokain unvergleichlich besser wirkt und in denen dementsprechend die Nebeneffekte in Kauf genommen werden müssen. Dies betrifft vor allem Operationen im Augenbereich. Das Kokain ist auch keineswegs aus dem Arzneimittelschatz verschwunden. In manchen Ländern beträgt auch heute noch der Jahresbedarf der Substanz viele Kilogramm. Es gibt hier erstaunliche regionale Schwankungen. Zu den Ländern, die regelmäßig einen hohen Jahresbedarf an Kokain anmelden, zählen die USA, Großbritannien, Belgien, die Niederlande und Russland, aber auch Finnland, Bulgarien und die Schweiz (siehe die entsprechenden Berichte des Drogenkontrollbüros der UNO).
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
Psychoaktive Stoffe und die Psychiatrie Einen wesentlichen Bezug zu psychoaktiven Stoffen hat die psychiatrische Forschung und Praxis. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts experimentierte neben anderen der französische Psychiater Moreau le Tour mit Haschisch. Er versuchte sowohl mittels klinischer Experimente hinter das Wesen der Geisteskrankheit zu kommen, wie auch mittels der Hanfdrogen bestimmte Formen der Geisteskrankheit zur Heilung zu bringen. Er führte seine Experimente einerseits mit Patienten andererseits aber auch im „Klub der Haschischraucher“ mit Freunden, Mitarbeitern, Intellektuellen und Künstlern durch. Die Ergebnisse, zu denen er kam, veröffentlichte er 1845 in einer Monographie (4), die als die erste psychopharmakologische Arbeit gelten kann: „Über Haschisch und die Geisteskrankheit“. In dieser Monographie wird auch zum ersten Mal die Phänomenologie des Haschischrausches in der wissenschaftlichen Literatur zur Darstellung gebracht. Charles Baudelaires berühmte Ausführungen über die „künstlichen Paradiese“ sind nicht unwesentlich von diesen frühen klinischen Beobachtungen beeinflusst. Die Untersuchungen von Moreau Le Tour und seinen Zeitgenossen stehen am Anfang der Bemühungen, die Geisteskrankheiten mittels Modellpsychosen zu beforschen. Cannabis wurde mit dieser Intention in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts weiter benützt. Bei entsprechenden Experimenten in München wirkten später so prominente Intellektuelle wie Ernst Bloch und Walter Benjamin (5) als Versuchspersonen mit. Noch 1958 führte ein südafrikanischer Autor eine „klinische und metabolische Studie über akute Cannabisvergiftung und deren Rolle in der Modellpsychose“ durch. Daneben wurde auch versucht, die Wirkung der Hanfdrogen für die Behandlung von Geisteskrankheiten nutzbar zu machen. Moreau Le Tour hatte empfohlen, die euphorisierende Wirkung des Haschisch gegen Verstimmungen von depressivem
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Charakter einzusetzen und seine Auffassung mittels Falldarstellungen belegt. Er fand teils Zustimmung, teils stieß er auf Widerspruch. Schroff in Wien, der in Kontakt mit Le Tour stand, warnte vor der quasi psychopharmakologischen Anwendung der Droge, da er sie in ihrer Wirkung zu unsicher fand. Auch in dem ebenfalls in Wien erschienenen „Lehrbuch der Arzneimittellehre“ von Bernatzik und Vogel aus dem Jahr 1891 (6) wird festgestellt, dass sich „der indische Hanf für die Behandlung von Neurosen und Psychopathien nicht einzubürgern vermocht hat.“ Interessant ist jedoch, dass sowohl eine standardisierte Cannabinollösung als auch ein Kombinationspräparat, zusammengesetzt aus Cannabinol und einem Barbiturat (Luminal) noch 1931 mit der Indikation „Behandlung der Dementia präcox“ mit dem Produktnamen „Canual“ in den Arzneimittelschatz aufgenommen wurde. Sowohl hinsichtlich der Forschung zur Modellpsychose wie auch hinsichtlich der Entwicklung der medikamentösen Behandlung von Geisteskranken wandte sich das Forschungsinteresse jedoch im 20. Jahrhundert weitgehend von den Hanfdrogen ab und anderen halluzinogenen Stoffen zu. Zunächst wurde mit Mescalin experimentiert, das ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert durch Lewin der wissenschaftlichen Bearbeitung erschlossen worden war. Erste umfassende Untersuchungen mit dieser Droge wurden in Heidelberg von Beringer durchgeführt (7). Nach der zufälligen Entdeckung des LSD 25 durch Albert Hofmann im Jahr 1943 (8) wurde bevorzugt mit dieser neuen Substanz experimentiert. Versuche mit LSD 25 fanden in vielen Kliniken und Forschungszentren in Europa und in den USA statt. Auch LSD 25 wurde, wie vorher das Haschisch, in der Psychiatrie nicht nur zu Forschungszwecken benutzt, sondern auch in die Behandlung eingebracht. Es wurden sowohl schwere klinische Krankheitsbilder behandelt, z.B. Autismus bei Kindern (9), wie auch mittels bereits in den 50er-Jahren entwickelter durch Pharmazeutika gestützter psychotherapeutischer Techniken
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alle denkbaren Formen von Entwicklungsund Charakterstörungen und Neurosen (10, 11). Diese rege Tätigkeit fand ein abruptes Ende als 1966 Sandoz, die Herstellerfirma, sowohl des LSD 25 wie auch des Psilocybin, die Abgabe dieser Stoffe aussetze und 1967 der Einsatz von halluzinogenen Stoffen unter strenge Kontrolle gestellt wurde. Dennoch kommt es immer wieder zu Bestrebungen im wissenschaftlichen Milieu, diese Tradition wieder aufzugreifen. Das Schicksal des LSD illustriert ein generelles Problem. Es scheint im Allgemeinen nicht zu gelingen, psychoaktive Stoffe im experimentellen oder therapeutischen Raum zu behalten. Früher oder später gelangen sie in die Populärkultur. Dann werden Kontrollmechanismen in Gang gesetzt, die auch auf die klinische Verwendung restriktiv rückwirken.
„Freizeitgebrauch“ – das Konzept der „recreational drugs“ Bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts blieb in Europa die Gruppe derer, die lebensstilgebundenen Rausch- und Suchtmittelkonsum über den Konsum von Alkohol, Tabak und Kaffee hinaus betrieben, in ihrer Struktur relativ unverändert und zahlenmäßig überschaubar, wenn es auch in bestimmten Perioden zu einer wellenförmigen Zunahme des Morphium- (10erJahre) und Kokaingebrauches (20er-Jahre) kam. Schon in den 10er- und 20er-Jahren hatten Beobachter dieser Szene ihre Inhabitanten folgendermaßen beschrieben: „Man raucht in der Welt der Intellektuellen, der Schriftsteller, der Studenten, des Theaters, der Konzerte, der Artisten, der Ateliers und der Müßiggänger, vor allem aber in der Halbwelt ... Zusammengefasst, die Frauen, als Maitressen oder als Liebende, verführen auch zur Leidenschaft des Opiumrauchens.“ (12 bezüglich des Opiumkonsums). Ganz ähnlich stellte H.W. Maier in seiner 1926 (13) erschienenen Monographie zum Kokainismus die Klientel des Kokains dar. Zu diesem Personen-
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kreis kamen noch nach den beiden Weltkriegen jene Fälle, die während des Krieges mit Morphium behandelt worden waren und eine überdauernde Sucht entwickelt hatten und eine bestimmte Anzahl von Ärzten und anderen Angehörigen der Heil- und Pflegeberufe, die ihren relativ leichten Zugang zu den Stoffen ausnützten und so in eine Abhängigkeit gerieten. In der ersten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb diese epidemiologische Verteilung im Wesentlichen unverändert. In den bohemistischen Zentren wurden Drogen gebraucht, so etwa im „Existenzialistenmilieu“ oder im Jazzmilieu, es gab die Kriegsmorphinisten und das Abhängigkeitsproblem der medizinischen Berufe. Insgesamt wurde im Europäischen Raum angenommen, dass auch noch nach dem 2. Weltkrieg rund 80% aller Abhängigen ihr Leiden aufgrund unsachgemäßer oder leichtsinniger ärztlicher Verordnung erworben hatten. Eine gewisse Veränderung ergab sich lediglich in der Art der Substanzen; nach dem Zweiten Weltkrieg spielte nämlich, wenn man der medizinischen Fachliteratur trauen kann, das Morphium im außermedizinischen Gebrauch nur mehr eine untergeordnete Rolle, während zunehmend die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelten synthetischen Analgetika Heptadon und Pethidin missbraucht wurden. Beachtung von Seiten der internationalen (Kontroll-)Behörden fand dieses Phänomen zuerst in den frühen 50er-Jahren. Es wurde als neues Problem geortet, das erneut die Verantwortlichkeit des Ärztestandes hinsichtlich der Entwicklung des Suchtproblems ins Zentrum rückte (14, 15). Kokain war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zu bekommen und wurde durch die ebenfalls während des Krieges aktuell gewordenen Amphetamine ersetzt. Eine tiefgreifende und folgenschwere Änderung hinsichtlich der gesellschaftlichen Gebrauchsmuster ergab sich dann in den 60er-Jahren. Ganz allgemein stieg an der Wende der 50er- zu den 60er-Jahren in Europa der Gebrauch psychoaktiver
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
Stoffe stark an. Es wurde vermehrt Alkohol getrunken, die neu entwickelten Tranquilizer fanden Eingang in die außermedizinischen Gebrauchsmuster, in der Psychiatrie erwachte, wie vorhin ausgeführt, erneut das Interesse am Drogenexperiment und stieg die Neigung, sich der Wirkung psychoaktiver Stoffe als Heilmittel zu bedienen, generell stark an. Im außermedizinischen Feld begann das Konzept des Drogengebrauches als Komponente eines hedonistisch motivierten Lebensstils (Playboy-Philosophie) in der Mittelschicht Verbreitung zu finden. Dadurch wurde der Kreis der Personen, die psychoaktive Substanzen als „Freizeitdrogen“ einsetzten, über die früher beschriebenen Drogenszenen hinaus ungemein erweitert. Im Kontext dieser allgemeinen Drogeneuphorie, der weitverbreiteten Tendenz sich „mittels der Chemie ein besseres, zumindest angenehmeres Leben zu verschaffen“, kam es im europäischen Westen zu einer starken Zunahme der Jugendlichen und jungen Erwachsenen innerhalb der drogengebrauchenden Population – offenkundig als Ausdruck separatistischer Tendenzen innerhalb der damals neuen sozialen Struktur der „jugendlichen Teilkultur“ oder „Teenagerkultur“ – und damit zur Anlage der Entwicklung jener Struktur der Drogenszene, wie wir sie heute kennen. Über die hedonistische Motivation hinaus wurde dem Drogengebrauch in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, zusätzlich wie früher zur Zeit der Romantik und des Surrealismus, erneut subversive politische Relevanz zugeschrieben. Der Umstand, dass intellektuelle Subkulturen, wie z.B. die holländischen „Provos“, ihren Widerstand nicht mehr ausschließlich in symbolischer Form durch ihre Werke zum Ausdruck brachten, sondern konkret in das tagespolitische Geschehen einzugreifen versuchten, und die neue „sakramentale“ Bedeutung, die der Drogengebrauch in diesem Kontext gewann, lösten in der Gemeinschaft Unsicherheit, Angst und den Ruf nach ver-
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schärfter Kontrolle aus. Diese gesellschaftliche Reaktion wurde noch dadurch verstärkt, dass naturgemäß der völlig unkontrollierte und naive Umgang mit stark wirksamen Halluzinogenen dazu führte, dass ein deutlich merkbarer Anteil der zumeist jungen Drogengebraucher averse Reaktionen erlebte und psychiatrischer Hilfe bedurfte. Diese neuen Entwicklungen verschleierten die Erkenntnis des Umstandes, dass daneben auch in den 60er-Jahren die Entwicklung des Drogengebrauches den bereits vertrauten Mustern folgte. Die retrospektive Betrachtung zeigt, dass im Drogengebrauch der kleinste gemeinsame Nenner alter (z.B. der traditionellen Boheme) und bestimmter Anteile neuer ästhetischer Teilkulturen (z.B. Jugendkultur) zu liegen scheint. Diese Gemeinsamkeit zeigt sich auch darin, dass die ästhetischen Produkte in engen Kontext zum Umgang mit psychoaktiven Stoffen gerückt werden und Protagonisten des Pop-Milieus sowohl zu Helden der Jugendkultur wie auch der Drogenkultur werden können.
Kontrolle des Freizeitverhaltens Seit in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Gebrauch verschiedener psychoaktiver Substanzen in der westlichen Kultur mehr und mehr Verbreitung fand, bestehen zunehmende Tendenzen, diese Sitte einzuschränken. Zum Teil sind diese Tendenzen sicherlich ebenfalls von der Abwehr des „Fremden“ motiviert. Archaische religiöse Vorurteile und säkulare, zuweilen wissenschaftlich verbrämte Argumente haben sich vermischt und sind schließlich, verbunden mit ökonomischen Interessen, in den aktuellen „Krieg gegen Drogen“ gemündet. Kulturhistoriker späterer Zeiten werden vielleicht in der Drogenkontrolle ein entscheidendes Charakteristikum des 20. Jahrhunderts erkennen. Nachdem in verschiedenen Ländern bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verschiedene Kontrollmechanismen in Gang gesetzt worden waren,
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wurde innerhalb der Völkergemeinschaft die Internationalisierung der Kontrollmaßnahmen zu einem zentralen Anliegen. Die Internationale Kontrolle richtete sich zunächst gegen das Opium. Das erste entsprechende Vertragswerk war das Abkommen von Schanghai, 1909. 1911 wurde in Den Haag die Kontrolle des Opiumanbaus und -gebrauches entschieden. Nach der Konstituierung des Völkerbundes im Jahre 1920 wurden von diesem die entsprechenden Agenden übernommen. Als erster Schritt wurde ein Beirat für Fragen bezüglich Opium und anderer Drogen eingerichtet. 1925 kam es zum ersten Übereinkommen von Genf. Es wurde nunmehr ein permanentes zentrales Kontrollbüro eingerichtet. Coca und Cannabis wurden in die Liste der zu kontrollierenden Stoffe aufgenommen. Die Unterzeichner verpflichteten sich den Vertrag umzusetzen. Ein zweites Übereinkommen wurde 1931 getroffen. Dabei wurde striktere Kontrolle verfügt. Alle Unterzeichnerländer wurden verpflichtet, ihren Bedarf an den kontrollierten Substanzen im Vorhinein abzuschätzen. Die Produktion sollte den Bedarf decken, aber möglichst nicht überschreiten. Dem Heroin gegenüber wurde die strengste Kontrolle verfügt: Alle illegalen Ex- und Importe sollten sofort vernichtet oder sonst unwirksam gemacht werden. Insgesamt wurde angeordnet, dass alle Schritte, vom Anbau der Pflanze bis zur Verwendung des Produktes überwacht werden sollten. 1961 wurde dann innerhalb der Funktion der Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes die Einzige Suchtgiftkonvention beschlossen. In ihr wurden die Kontrollbestimmungen des Zweiten Abkommens von 1931 bekräftigt. Als neue Aufgabe imponierte die Bekämpfung des Gebrauches in den Ursprungsländern. Der legale Status der Substanzen wurde neu definiert. Als Suchtgifte definiert sind alle Zubereitungsformen der Hanfdrogen (Cannabis, Cannabisharz/Haschisch, Marihuana, Ganja etc.), Mohnstroh (z.B. Kapseln des Schlafmohns),
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Opium, Morphium und alle halb- oder ganz synthetischen Abkömmlinge und Agonisten des Morphins (z.B.: Heroin, Fentanyl, Methadon, Dolantin etc.), Kokablätter und Kokain, Heroin und Cannabis wurden erneut als Substanzen ohne medizinische Bedeutung klassifiziert, in den Anhang IV gereiht und damit den strengsten Kontrollbestimmungen unterworfen. 1971 wurde in Wien die Konvention über psychotrope Substanzen beschlossen. Sie stellt eine Ergänzung der Einzigen Suchtgiftkonvention dar. Die Kontrolle wurde auf eine Vielzahl psychoaktiver Substanzgruppen ausgedehnt. Damit trug die internationale Kontrolle der veränderten Epidemiologie des Rauschmittelkonsums Rechnung. Als psychotrope Stoffe definiert sind jene Stoffe, die ohne Suchtgifte im Sinne der Einzigen Suchtgiftkonvention 1961 zu sein, die Fähigkeit besitzen, einen Zustand der Abhängigkeit und eine Anregung oder Dämpfung des Zentralnervensystems, die zu Halluzinationen oder Störungen der motorischen Funktionen, des Denkens, des Verhaltens, der Wahrnehmung oder der Stimmung führt, hervorzurufen und die aufgrund dieser Wirkungen missbräuchlich verwendet werden. Die Substanzen, die dieser Definition entsprechend den Kontrollbestimmungen der Psychotropen-Übereinkunft aus dem Jahr 1971 unterworfen sind, werden in den Anhängen I–IV dieser Konvention aufgelistet. Im Wesentlichen handelt es sich um die Stoffgruppen der Halluzinogene, der zentralen Stimulanzien vom Amphetamintyp sowie um Tranquilizer (insbesondere Benzodiazepine), Sedativa und Hypnotika. 1988 wurde das bislang letzte internationale Kontrollabkommen, die „Convention against Illicit Trafficking in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances“ – wieder in Wien – verabschiedet. Es verfügt eine scharfe Kontrolle gegenüber dem illegalen Handel und der Folgekriminalität und der Geldwäsche und brachte eine Erweiterung der Befugnisse der kontrollierenden Strukturen und Organe mit sich. Das neue Abkommen schließt auch die Kontrolle von Vorläuferstoffen ein. Darun-
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
ter verstehen wir Substanzen, die Schlüsselfunktionen in der unerlaubten Herstellung und damit auch für das Inverkehrbringen von Suchtgiften oder psychotropen Stoffen haben. Als Beispiele können der Essigsäureanhydrid für die Herstellung des Heroin aus Morphium, oder Ephedrin als Basissubstanz für die Herstellung von Amphetaminen gelten. Als Vorläuferstoffe gelten auch Zubereitungen dieser Stoffe, außer wenn sie in Form von Arzneimitteln oder in einer Zubereitung auf den Markt gebracht werden, aus der sie nur schwer zu lösen sind. Auch die Vorläuferstoffe werden auf einer Liste erfasst, die jeweils aktualisiert wird. Derzeit sind folgende Substanzen aufgeführt: Ephedrin, Ergometrin, Ergotamin, Lysergsäure, 1-phenyl2-propanon, Pseudoephedrin, N-acetylanthranilsäure, 3,4-methylendioxyphenylpropan-2-on, Isosafrol (cis und trans), Piperonal, Safrol, Essigsäureanhydrid, Anthranilsäure, Phenylessigsäure, Piperidin, Aceton, Äthyläther, Methyläthylketon, Toluol, Kaliumpermanganat, Schwefelsäure und Salzsäure sowie – ausgenommen die Salze der Schwefel- und der Salzsäure – die Salze dieser Stoffe, soweit ihr Bestehen möglich ist. Die Kontrolle der Vorläufersubstanzen gewann neues Gewicht durch die neue Bedeutung synthetischer Drogen in den Szenen der Jugendkultur und den damit verbundenen Problemen. Die Problematik der synthetischen Drogen hat auch zu einer neuen Form der internationalen Kontrollbemühungen geführt: dem „Early warning system“. In diesem System werden Substanzen, die neu auf dem Markt sind, rasch erfasst, zentral gemeldet und einer Überprüfung zugeführt, die eine Bewertung der medizinischen Brauchbarkeit der Substanz und des Konsumrisikos einschließt. Diese Überprüfung obliegt der Drogenüberwachungsbehörde in Lissabon, die auf Basis der entsprechenden Ergebnisse Kontrollvorschläge entwickelt.
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Drogen in der Kultur – Drogenkultur Der Gebrauch der Drogen, seine Wirkungen und Auswirkungen, sind in der Welt der kulturellen Produkte repräsentiert. Sowohl in inhaltlicher Hinsicht, wie auch hinsichtlich bestimmter theoretischer Diskurse. Dass sich unter schöpferischen Menschen Drogengebraucher befinden, und dass sich dieses Verhalten in ihrer Produktion niederschlägt, wurde erstmals in der romantischen Periode deutlich. In jener Zeit war neben Alkohol Opium das Rauschgift, dessen Gebrauch in der frühen Bohème größte Bedeutung zukam. Durch sehr verschiedenartige Vertreter der romantischen und spätromantischen Schule – Gautier, Nerval, Dumas und Baudelaire – wurde der Gebrauch von Hanfdrogen an die Öffentlichkeit gebracht und dadurch das Spektrum der innerhalb der Boheme gebräuchlichen Drogen um das Haschisch erweitert. In der Epoche der Dekadenz trat schließlich noch der Äther hinzu (z.B. Jean Lorrain; Guy de Maupassant). Dabei muss berücksichtigt werden, dass sicher in einer Reihe der bekannten Fälle die Drogen auch ärztlich verordnet wurden (Baudelaire, Poe, Coleridge, de Quincey ...). Weiters sind diese Träger berühmter Namen lediglich als exemplarische Drogenkonsumenten anzusehen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Umgang mit den Giften sich auf die Gruppe kreativer Persönlichkeiten beschränkte. Wir verfügen jedoch über kein ausreichend gesichertes dokumentarisches Material über die tatsächliche Verbreitung, die der außermedizinische Gebrauch von Hanf- und Mohndrogen im späten 19. Jahrhundert gefunden hat. Eins ist jedoch sicher: Haschisch war nicht nur in den bohemistischen Kreisen thematisiert, sondern auch in populären Zeitschriften, in Kolportagegeschichten und in populärwissenschaftlichen Darstellungen. Über die epidemieartige Verbreitung, die kurzfristig der Äthergebrauch in bestimmten englischen Regionen gefunden hatte, liegen hingegen gut dokumentierte wissenschaftliche Untersuchungen vor.
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Zu Opium, Cannabis und Äther trat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch der Gebrauch des Kokain bzw. Koka-hältiger Zubereitungen hinzu. Im Gefolge schwärmerischer Aufsätze über die Wirkungen der Kokapflanze von Seiten anerkannter und repräsentativer Autoren, wie z.B. des italienischen Mediziners und Anthropologen Paolo Mantegazza, scheint das Kauen von Kokablättern in bestimmten europäischen Regionen als Genussmittel kurzfristig Verbreitung gefunden zu haben. Mehr Bedeutung gewannen kokabzw. kokainhältige Zubereitungen auf der Basis von Weinen oder von Milch. Am bekanntesten wurde ein Kokawein, den der Pariser Apotheker Mariani herstellte. Den von diesem Produzenten veröffentlichten Jahrbüchern lässt sich entnehmen, wie illustre der Kundenkreis dieses Produkts beschaffen war. Um die Zeit des Ersten Weltkrieges und in der Zwischenkriegszeit nahm dann offenkundig in Europa der Gebrauch von Haschisch in allen Bevölkerungsgruppen ab, während es zur Zunahme des Kokaingebrauches kam. In den künstlerischen Gruppierungen des Expressionismus, des Dadaismus und des Surrealismus und des Grand Jeu fanden auch weiterhin Drogenexperimente in Verfolgung der Tradition des 19. Jahrhunderts statt (16). In dieser Zeit kam es dann auch dazu, dass prominente Angehörige dieser künstlerischen Bewegungen süchtig wurden, an ihrer Sucht litten oder auch an ihr zugrunde gingen. So interessant die biographischen Zusammenhänge aus anekdotischen Gründen auch sein mögen, ist es für die sozialhistorische und anthropologische Interpretation allerdings nicht von vordringlichem Interesse aufzudecken, ob und welche Personen jemals Zugang zu Drogen hatten. Wichtig ist es vielmehr, ob diese individuellen oder kollektiven Gebrauchsrituale ihren Niederschlag in inhaltlicher oder formaler Hinsicht gefunden haben und ob damit der Drogengebrauch zu einem Inhalt innerhalb des kulturellen Themenkataloges und zu einem Mitgestalter unseres sinnlichen Erlebensraums werden konnte.
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Diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Viele der erwähnten Schriftsteller, Dichter und bildenden Künstler stellten ihren Drogengebrauch in der ihnen eigenen Technik dar und boten lebhafte Schilderungen der jeweiligen drogengebrauchenden Gruppierungen. Insofern haben die illegalen Rauschmittel bereits traditionell ihren festen Platz in unserer kulturellen Produktion und Symbolwelt. Und insofern bedurfte es nicht der gewaltigen Zunahme dieser Repräsentanz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um zu erkennen, dass auch in der europäischen Kultur nicht nur eine Droge ihren Niederschlag gefunden hat. Heute ist die Anzahl der Lieder und der Texte in denen das Drogenthema offen oder manieristischverschlüsselt behandelt wird, nicht mehr zu überschauen (17). Mehr als dreitausend Spielfilme befassen sich zentral oder marginal mit dem Drogenthema (18, 19). Fernsehserien können auf diesen Inhalt ebenfalls nicht mehr verzichten. In den Biografien der Pop-Stars wird offen über ihre Drogengewohnheiten berichtet. Umso skurriler wirkt es, wenn im Kontext der Drogenprävention immer noch behauptet wird, alle andern psychoaktiven Substanzen als der Alkohol seien „kulturfremd.“ Das aktuelle Ausmaß des Gebrauches einer Droge sagt nichts darüber aus, ob sie einen kulturellen Inhalt repräsentiert oder nicht. Auch das Amerika der Alkohol-Prohibitionszeit gehörte noch der Alkoholkultur an. Die Prohibition war lediglich eine bestimmte Gestalt des kulturellen Umganges mit der Substanz. Die aktuelle Prohibition des Gebrauches anderer Stoffe ist nicht anders zu bewerten. Andererseits stellt die kulturelle Immanenz beziehungsweise Repräsentanz einer Droge einen vielleicht wesentlichen unterschwelligen Motivationshintergrund dafür dar, dass es noch niemals gelungen zu sein scheint, ein Gebrauchsverbot völlig durchzusetzen. Zur kulturellen Immanenz der Drogen gehören auch jene mannigfaltigen Versuche, positive Auswirkungen kontrollierter Drogenexperimente für den außermedizinischen Bereich zu erarbeiten. Zu
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
ihnen sind vorrangig Bemühungen zu zählen, die Bedeutung des Drogengebrauches für den kreativen Prozess zu erarbeiten (16). Diese reichen zurück in die Romantik. In dieser frühen Zeit wurden die entsprechenden Versuche über Ästhetik und Poetik von den Künstlern selbst verfasst. Sie waren dementsprechend auch zumeist Selbstreflexionen nach stattgehabten Drogenexperimenten. Diese Tradition lebt bis in die Mitte des 20. Jahrhundert fort. Die Fragestellung verblieb jedoch nicht ausschließlich in den Händen der selbst Kunst Schaffenden, sondern wurde von Forschern aus den Bereichen Psychopathologie, Psychopharmakologie und -physiologie sowie Psychologie und Tiefenpsychologie aufgegriffen, wobei die entsprechenden Bemühungen ebenfalls durch die Entdeckung des LSD 25 gefördert wurden. Die letzten theoretisch intendierten Experimente dieser Art fanden denn auch in den späten 60er- und den 70er-Jahren unter dem Eindruck der Möglichkeiten, die LSD und andere Halluzinogene zu eröffnen schienen und wohl auch der psychedelischen Kunst, statt (20). Von wissenschaftlicher Seite wird als Ergebnis dieser Untersuchungen ein direkt positiver Einfluss der verschiedenen Drogen auf den schöpferischen Prozess im Allgemeinen negiert, wobei zu sagen ist, dass auch die Aussagen der Künstler selbst zu diesem Zusammenhang wesentlich kritischer geworden sind als sie es noch in den zwanziger Jahren waren und sie heute generell eher an die frühen, ebenfalls äußerst kritischen, Ausführungen Baudelaires anschließen.
Der drogenpolitische Diskurs Die Auseinandersetzung um den Drogengebrauch findet zwischen zwei verschiedenen Interpretationen der Auswirkungen dieser Sitte auf den menschlichen Organismus und Geist statt. Auf der einen Seite befinden sich die Befürworter des Gebrauches: sie meinen, dass die Effekte der Drogen grundsätzlich neutral zu bewerten sind und dass Drogen eventuell auch dem
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individuellen Potenzial förderlich sein können. Von eventuellen schädlichen Auswirkungen des Konsums werden nach diesem Verständnis nur solche Personen betroffen, die eine individuelle oder soziale Prädisposition dafür aufweisen. Diese Interpretation entspricht im Großen und Ganzen jener, die im 19. Jahrhundert in Europa und mit Einschränkungen auch in den USA dominierte und im Zeitraum von den mittleren 50er- bis zu den mittleren 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Kontext der Entwicklung neuer wirksamer psychoaktiver Stoffe – wenn auch in abgeschwächter Form und mit veränderten kulturellen Besetzungen – wieder in Erscheinung trat. Sie ist charakteristisch für Gesellschaften mit hoher Toleranz gegenüber dem Drogengebrauch. Auf der andern Seite befinden sich jene Institutionen und Personen, von denen die Auffassung vertreten wird, dass Drogengebrauch auf jeden Fall die individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten beeinträchtige und die Gemeinschaft schädige. Für die Vertreter dieser Einstellung repräsentieren negative Auswirkungen des Drogengebrauches die Regel und nicht die Ausnahme; das Risiko gilt ihnen als unabhängig von einer besonderen individuellen Vulnerabilität. Dieser Interpretationsmodus ist charakteristisch für prohibitive Kulturen. Er dominiert derzeit, wobei seine Kristallisationsorte in verschiedenen Regionen der Völkergemeinschaft und in verschiedenen Motivationen zu finden sind. Er steuert, da die Kontrolle des Gebrauches psychoaktiver Stoffe zu einem vorrangigen Anliegen der Organe dieser Völkergemeinschaft geworden ist, den aktuellen „Krieg gegen Drogen“. Beiden Einstellungen ist gemeinsam, dass sie ahistorisch sind und die realen Risken des Drogengebrauches verzerren. Die permissive Einstellung ist oftmals naiv, sie übersieht eventuell die durchaus vorhandenen und bekannten Risken und üblen Effekte, die von der prohibitionistischen Einstellung zwar erkannt, aber dramatisiert und übertrieben werden. Diese Art der Auseinandersetzung verhindert es, dass eine vernünftige und realisierbare
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Drogenpolitik verwirklicht wird. Diese beklagenswerte Situation hat viele Ursachen. Sie ist eine Folge davon, dass einerseits die Perioden verschiedener Zugänge und Interpretationen zeitlich gerade so weit auseinander liegen, dass es nicht ausreichend viele einflussreiche Persönlichkeiten gibt, die über eine genügende Erinnerung an die verflossene Periode verfügen und daher die aktuell ablaufende Diskussion durch das Einbringen ihres als „Zeitzeugen“ erworbenen Wissens kompetent relativieren könnten und dass andererseits die Diskussionen mit derartigem Eifer und wilder Wut angstbestimmt geführt werden, dass jeweils die Erinnerung an andere Formen der Problemlösung entweder aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verbannt oder zumindest so verzerrt oder verleumdet wird, dass sie für die inhaltliche Auseinandersetzung an Wert verliert. Dazu kommt dann noch, dass Informationen und Bewertungen aus den verschiedensten Kulturkreisen mit äußerst differentem historischem Erfahrungshintergrund hinsichtlich des Umganges mit spezifischen psychoaktiven Stoffen so behandelt werden, als ob sie allgemein gültig wären. Gerade daran wird dann deutlich, dass eine Drogenpolitik, die global ausgerichtet ist und dabei die anthropologische und kulturhistorische Dimension des Drogengebrauches unberücksichtigt lässt, einen wesentlichen Realitätsbezug verfehlt und wahrscheinlich immer wieder zum Scheitern verurteilt ist.
Das Problem der „Überschussrepression“ Sigmund Freud ortete als einen wesentlichen Grund für das „Unbehagen in der Kultur“, dass der Einzelne regelmäßig in Konflikt mit den Normen- und Regelsystemen seiner Kultur kommen müsse. Die Repräsentanten der kulturimmanenten Kontrolle könnten zu einem Abbau dieser Spannung dadurch beitragen, dass die Forderungen an den Einzelnen, die das Zusammenleben ermöglichen sollen, auf
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einem verträglichen Niveau gehalten werden. Viel Leid entstehe durch unnötige zumindest dysfunktionale Unterdrückung. Herbert Marcuse sprach in diesem Sinn von „Überschussrepression“. Im Kontext der Drogenkontrolle imponiert die durch die Einzige Suchtgiftkonvention festgeschriebene legale Position des Heroin und des Cannabis als ein Stück „Überschusskontrolle“. Und wie so oft bei überschießenden Reaktionen, bewirkt dieser Kontrollanspruch kontraproduktive Verhältnisse. Erst dadurch, dass diesen Substanzen jegliche medizinische Brauchbarkeit abgesprochen wurde, wurde der Raum für gesellschaftspolitische Überlegungen über den Umgang mit den Stoffen ermöglicht. Sie wurden der medizinischen Kontrolle entzogen und damit in ein Kontrollvakuum gestoßen. Da sie als medizinisch wertlose Stoffe nur mehr außermedizinisch gebraucht werden konnten, wurde um sie ein Diskurs entwickelt, der auf fragwürdigen Positionen aufbaut. Grundsätzlich bestand und besteht kein logischer Grund dafür, Substanzen, deren medizinischer Gebrauch tradiert ist, aus dem Arzneimittelschatz auszugliedern. Solange sie in diesem geführt werden, gelten für ihren Gebrauch die Regeln der medizinischen Kontrolle, die logisch begründbar und auch weitgehend anerkannt sind. Dementsprechend besteht z.B. keine allgemeine „Legalisierungsdebatte“ um den Gebrauch der Opiate oder um den Gebrauch der Tranquilizer. Wenn von „Legalisierung“ gesprochen wird, geht es um die Festschreibung eines außermedizinischen Status von Heroin und Cannabis als „Freizeitdrogen“ bzw. als Genussmittel. Daraus wird klar, dass die Absprengung des Heroin von seiner helfenden, medizinisch nützlichen Funktion, die die Grundlage der verschärften Kontrolle repräsentiert, gleichzeitig den Ausgangspunkt dafür darstellt, dass ein paradoxer gesellschaftspolitischer Zustand gefordert wird, in dem das Heroin geringeren Kontrollen unterliegt als alle anderen Opiate, die den Regeln der medizinische Kontrolle unterworfen sind. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei
Drogenkulturen: Konsum und Kontrolle
den Hanfdrogen, wenn auch bei diesen Substanzen der Genussmittelaspekt sowohl hinsichtlich der pharmakologischen Wirkung wie auch hinsichtlich des Gebrauchs traditionell stärker ausgeprägt ist. Das heißt jedoch mit anderen Worten, dass das neu erwachte Interesse an der medizinischen Brauchbarkeit der Hanfdrogen nichts am gesellschaftspolitischen Diskurs ändern würde. Wenn Cannabis wieder als medizinisch brauchbar erkannt und neu klassifiziert wird (der Weg, der 2001 von Großbritannien eingeschlagen wurde), bedeutet das nicht gleichzeitig das Ende des gesellschaftspolitischen Diskurses und der Legalisierungsdebatte. Cannabis ist dann eine medizinisch kontrollierte Substanz und steht dem Freizeit- und Lebensstilgebundenen Gebrauch ebenso wenig zur Verfügung wie andere Arzneimittel. Wie schon oben ausgeführt, bezieht sich die Legalisierungsforderung auf den außermedizinischen Gebrauch. Die weite Verbreitung, die Cannabis als Freizeitdroge im westlichen Kulturkreis in den letzten Jahrzehnten gefunden hat, lässt annehmen, dass durch die Positionierung des Cannabis als Arzneimittel die Bedürfnisse der aktuellen Cannabiskonsumenten nicht befriedigt werden, an deren Situation sich grundsätzlich nichts ändert. Sie werden weiter als Missbraucher gelten, wenngleich auch die Sanktionen, die der zweckentfremdete Gebrauch eines Arzneimittels nach sich zieht, wohl nicht das aktuell bestehende Ausmaß erreichen dürften, das auf der Hanfprohibition gründet, die zusätzliche Repression einschließt. Für den medizinischen Umgang mit den Substanzen allerdings wäre die Umreihung in den Anhängen der Einzigen Suchtgiftkonvention bzw. die ersatzlose Streichung des Anhangs 4, wünschenswert, wenn nicht sogar eine grundsätzliche Voraussetzung.
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Literatur 1. Austin G (1982) Die europäische Drogenkrise des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Völger G, von Welck K (1982) Rausch und Realität. Reinbek 2. Crowley A (1922) Diary of a Drug Fiend. London. 3. King G (1973) The Secret Ritual of the O.T.O. New York 4. Moreau Le Tour J (1845) Sur l’Hashish ou l’alienation mentale. Paris 5. Benjamin W (1972) Über Haschisch. Frankfurt 6. Bernatzik W, Vogl AE (1891) Lehrbuch der Arzneimittellehre, 2.Aufl, Wien 7. Beringer K (1927) Der Mescalinrausch. Berlin 8. Hofmann A (1979) LSD – Mein Sorgenkind. Stuttgart 9. Simmons JQ, St. J. Leiken OI, Lovaas B, Schaeffer, Perloff B (1966) Modification of Autistic Behavior with LSD 25. Am J Psychiat 122 (11): 1201–1211 10. Leuner H (1962) Die experimentelle Psychose. Berlin 11. Caldwell WV (1969) LSD-Psychotherapy. New York 12. Gamel R (1912) Chiqueurs, Mangeurs, Buveurs et Fumeurs d’Opium. Montpellier 13. Maier HW (1926) Der Kokainismus. Leipzig 14. Lalanne P (1953) Les stupefiants synthetiques. Cahiers Laennec Jg 13, No 2 15. Wolff PO (1949) Les derives de la Pethidine et de la Metadone. 2–207 a 219, Nr. 13. Bulletin der WHO 16. Springer A, Reflexionen zur Anthropologie und Kulturgeschichte der psychoaktiven Stoffe 17. Springer A (1975) Jugendkultur, Rockmusik und Drogenmissbrauch. Öst Inst f Jugendkunde. report nr. 5, Wien 18. Starks M (1983) Cocaine Fiends and Reefer Madness. New York 19. Springer A (1982) Drogenfilme und Antidrogenfilme I/II. Wr Z f Suchtforschg 5 (3): 23–31, 5 (4): 35–52 20. Hartmann HP (1971) Malerei aus Bereichen des Unbewussten. Merck Index 1931, Stuttgart
Opiate aus heutiger Sicht Sabine Haas Die Opiate zählen in der Öffentlichkeit spätestens seit den 1960er-Jahren als die wichtigsten illegalen Drogen hinsichtlich des Problemkonsums und die Opiat- bzw. Heroinabhängigkeit als „Prototyp“ der Drogenabhängigkeit. Das „moderne Drogenproblem“ begann in Österreich Mitte der 1960er-Jahre, als vor allem junge Menschen anfingen, Haschisch, rauscherzeugende Medikamente, LSD und bald auch Opium zu konsumieren. 1970 wurde der harte Kern auf schätzungsweise 10.000 Drogenkonsumierende geschätzt, von denen die Mehrzahl auf Cannabis und Halluzinogene beschränkt war und Opium und betäubende Medikamente ablehnte. Daneben existierte eher abgegrenzt eine „Fixerszene“ von geschätzten 500 Opiatsüchtigen. Im Laufe der 1970er-Jahre kam es zu einem laufenden Anstieg der Drogenkonsumierenden. Anfang der 1980er-Jahre gab es bereits 5000 polizeibekannte Heroinkonsumierende, wobei die tatsächliche Zahl unter Einbezug der Dunkelziffer auf 8000 bis 10.000 geschätzt wurde (1). Mitte bis Ende der 1990er-Jahre wurde die Zahl der Personen mit problematischem Opiatkonsum auf rund 15.000 bis 20.000 Personen geschätzt (2). Aktuelle Schätzungen kommen zum Schluss, dass heute eine Prävalenzrate von 20.000 bis maximal 30.000 Personen mit problematischem Opiatkonsum für Gesamtösterreich plausibel ist (3). Diese quantitative Entwicklung relativiert sich aber, wenn sie in Bezug zu qualitativen Veränderungen gesetzt wird. In Österreich ist seit längerem unter den Personen mit problematischem Drogenge-
brauch der polytoxikomane Konsum (worunter Mehrfach- sowie Mischkonsum1 gefasst wird) vorherrschend, der sich bei Drogenabhängigen häufiger als der Konsum nur einer Substanz findet. Während aber in früheren Jahrzehnten der Schwerpunkt dabei eindeutig auf den Opiaten lag, die häufig mit Alkohol und/oder Medikamenten gemischt wurden, ist seit mehreren Jahren eine Verbreiterung des Substanzspektrums und ein Trend zum Konsum von aufputschenden Substanzen (insbesondere von Kokain) zu verzeichnen. Die Gründe dafür dürften in der besseren Verfügbarkeit und im gesunkenen Preis von Substanzen wie Kokain oder Amphetaminen liegen. Der Trend zu aufputschenden Substanzen schlägt sich aber nicht in einer Ablöse von Opiaten sondern in einer qualitativ sinkenden Bedeutung der Opiate nieder. Das heißt zum einen, dass Opiate weiterhin konsumiert werden – auch wenn sie ihre dominante Rolle im Rahmen des polytoxikomanen Konsums zunehmend verlieren. Es bedeutet andererseits aber auch, dass in die Schätzungen zum problematischen Opiatkonsum zunehmend nicht vorrangig reine Opiatkonsumierende eingehen, sondern generell Problemkonsumierende mit
1 Unter dem Begriff „Mehrfachkonsum“ versteht man den Gebrauch mehrerer Substanzen, die entweder abwechselnd oder gleichzeitig konsumiert werden. Der (mehr oder weniger) zeitgleiche Gebrauch unterschiedlicher Substanzen wird auch als „Mischkonsum“ bezeichnet.
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polytoxikomanen Konsummustern erfasst werden. Eine entsprechende Entwicklung ist auch auf europäischer Ebene zu verzeichnen. „In der Vergangenheit bedeutete problematischer Drogenkonsum in vielen Ländern vor allem Konsum von Heroin, inzwischen nehmen jedoch der polyvalente Drogenkonsum und der Konsum von Stimulantien immer mehr zu.“ (4). Entsprechend gibt es Hinweise, dass der Heroinkonsum in vielen Ländern relativ konstant ist und die Inzidenz (das heißt neue Fälle von Heroinkonsum) im Vergleich zu den 1990erJahren eher sinkt. Dies trifft allerdings nicht auf jene Länder und Regionen – wie beispielsweise die neuen EU-Mitgliedsländer – zu, die in der Vergangenheit eine geringe Prävalenz von Opiatkonsum und Opiatabhängigkeit hatten und derzeit oft noch eine Zunahme verzeichnen. In den „alten“ EU-Mitgliedsländern gibt es hingegen teilweise deutliche Trends weg von Opiaten. So ist in Spanien die Zahl der geschätzten problematischen Opiatkonsumierenden zurückgegangen, parallel aber ein Anstieg von kokainbedingten Drogenproblemen zu beobachten. Deutschland und Niederlande berichten wiederum von einer steigenden Zahl von Crack-Kokainkonsumierenden unter den problematischen Konsumentinnen und Konsumenten (4). Im letzten Jahrzehnt stechen in Österreich – bei gleichbleibend hohem Niveau des polytoxikomanen Konsums – vor allem die oben bereits ausgeführten Veränderungen in Hinblick auf die bevorzugten Substanzen ins Auge. Zunächst hat Kokain nicht zuletzt auf Grund des Preisverfalls Eingang in die Straßendrogenszene gefunden, wo es zum Teil injiziert und oft zusammen mit Heroin („Speedballs“) konsumiert wird. Zum anderen steigt auch die Relevanz von Amphetaminen – vor allem bei jüngeren Konsumierenden. Daten aus verschiedenen Studien sowie Einrichtungen der Drogenhilfe belegen diese Entwicklung. Eine zweite interessante Entwicklung im Zusammenhang mit Opiatabhängigkeit
S. Haas
sind Veränderungen hinsichtlich der Art der konsumierten Opioide. Während langer Zeit war in der Drogenszene Opiatabhängigkeit in hohem Ausmaß als Heroinabhängigkeit charakterisiert. Dies hat sich in den letzten Jahren in Folge einer hohen Verfügbarkeit von Morphin am Schwarzmarkt stark gewandelt. Es handelt sich dabei häufig um retardiertes Morphin, das im Rahmen der Substitutions- und/ oder Schmerztherapie zum Einsatz kommt. Es wurde immer wieder aus einzelnen österreichischen Regionen berichtet, dass sich deutlich weniger Heroin am Markt findet und von den (Opiat-)Abhängigen vorrangig Morphin konsumiert wird. Allerdings ist dies keine kontinuierliche Entwicklung, da zuletzt auch wieder von einer verstärkten Verfügbarkeit von Heroin berichtet wurde. Es scheint sich hierbei um eine komplexe Wechselwirkung von Drogenangebot und Szenepräferenzen zu handeln, die einem laufenden Wandel unterworfen ist. Aus anderen europäischen Ländern gibt es wenig Informationen zu Veränderungen hinsichtlich der Art der konsumierten Opiate. Es wurde aber aus einigen Ländern, wie z.B. der Tschechischen Republik, Großbritannien und Finnland über die Verfügbarkeit von Buprenorphin – einem ebenfalls in der Substitutionsbehandlung Verwendung findenden Opiat – berichtet (4). Auch Hinweise über die missbräuchliche Verwendung von Methadon gibt es bereits seit vielen Jahren und aktuell beispielweise aus Dänemark und Norwegen. Dies bestätigt die These, dass die Frage des Angebots und der Verfügbarkeit eine wichtige Rolle spielt. Retardiertes Morphin war bisher nur in Österreich in breiterem Einsatz in der Suchttherapie, während in anderen Ländern die Substitutionsbehandlung oft ausschließlich mit Methadon bzw. mit Buprenorphin erfolgt. Die verfügbaren Daten und Informationen deuten darauf hin, dass trotz Kontrollmaßnahmen eine Verfügbarkeit dieser für den medizinischen Einsatz vorgesehenen Substanzen am illegalen Markt nicht ausgeschlossen werden kann. Entsprechend gibt es eine
Opiate aus heutiger Sicht
gewisse Wechselwirkung zwischen therapeutischem Angebot und missbräuchlicher Verwendung von Substanzen. Der Konsum von Opiaten und vor allem von Heroin wurde lange mit dem Bild des „Junkies“, der an der Spritze hängt, assoziiert. Tatsächlich wurden über lange Jahre vor allem Opiate intravenös konsumiert. Im Zuge der Verbreiterung des Substanzspektrums trifft dies aber zunehmend auch für andere Substanzen zu, wobei auch beim intravenösen Konsum oft mehrere Substanzen gemischt werden. Dies bestätigt sich in einer in Zusammenarbeit zwischen der Sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle „Ganslwirt“ und dem Klinischen Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik der Universität Wien durchgeführten Studie zur Reinheit der konsumierten Substanzen. Bei einer Analyse der Rückstände in 753 getauschten Spritzen wurden in den meisten Proben vielfältige Kombinationen unterschiedlicher Substanzen – ebenso wie viele Verunreinigungen und unerwünschte Beimengungen – festgestellt. Heroin war beispielsweise zu 58 Prozent mit Kokain, zu 52 Prozent mit Koffein, zu 41 Prozent mit Noscapin, zu 40 Prozent mit Papaverin, zu 32 Prozent mit Codein und zu 18 Prozent mit Noscapin und Papaverin vermischt (5). In den letzten Jahren gab es immer wieder Hinweise, dass sich in manchen Bereichen auch nicht intravenöse Einnahmeformen von Opiaten etablieren. So berichtete der Verein Wiener Sozialprojekte (6) dass sich in Wien in einer lokalen Szene das sonst eher unübliche Folienrauchen (von Heroin sowie Speedballs) etabliert habe. Auch der IFES-Bericht über das Jahr 2003 liefert interessante Ergebnisse zur Art des Konsums (7). Insgesamt liegen für das Jahr 2003 Informationen von 981 Personen vor. 42 Prozent dieser Personen geben an, eine oder mehrere Drogen in den letzten 30 Tagen vor Betreuungsbeginn intravenös konsumiert zu haben. Überraschend ist, dass als häufigste Applikationsform von Heroin „nasal“ genannt wird (47 % der 451 Personen mit Heroinkonsum in den letzten 30 Tagen vor Betreuungsbeginn). Intrave-
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nösen Heroinkonsum geben 42 Prozent an, Heroin zu rauchen zehn Prozent und orale Heroineinnahme ein Prozent. Hier wären weitere Analysen notwendig, um zu eruieren, ob der nasale Konsum in erster Linie als Einstieg in den Heroingebrauch dient und später ein Umstieg auf intravenöse Applikation erfolgt, oder ob es Personen gibt, die Heroin ausschließlich sniffen. Bei Kokain (n = 349) liegt der Anteil der Personen mit intravenösem Konsum mit 57 Prozent vor jenem der nasalen Applikation (40%). Trotz der oben ausgeführten Verbreiterung des Substanzspektrums und des Trends zu aufputschenden Substanzen sind die Opiate vor allem hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen des Drogenkonsums noch immer von besonderer Relevanz. Dies gilt insbesondere für Überdosierungen und suchtgiftbezogene Todesfälle. Die entsprechende Zahl stieg von 1989 (47 Fälle) bis 1996 (195 Fälle) stark an. Seitdem schwankt sie zwischen 117 (1998) und 167 (2000) Fällen, wobei sie zuletzt (2003) bei 163 Todesfällen lag. In den letzten Jahren zeigte sich ein starkes Überwiegen der Mischintoxikationen unter Beteiligung von Opiaten (2003: 71% aller Intoxikationen). Zählt man jene Intoxikationen, die ausschließlich auf Opiate zurückzuführen waren (25% aller Intoxikationen) hinzu, so waren im Jahr 2003 bei 96 Prozent aller direkt suchtgiftbezogenen Todesfälle Opiate beteiligt (8). Der Anteil der Mischintoxikationen unter Beteiligung von Opiaten bei den direkt an den Folgen des Drogenkonsums verstorbenen Personen ist über die Jahre angestiegen und hat sich nun auf sehr hohem Niveau stabilisiert (1991 37%, 2003 71%). Auch Alkohol und psychoaktive Medikamente sind häufig beteiligt. Eine Analyse der 163 Intoxikationen im Jahr 2003 nach den beteiligten Substanzen zeigt, dass bei 39 Prozent ausschließlich illegale Drogen (allein oder in Kombination) festgestellt wurden. Zusätzlich zu illegalen Drogen wurden in 18 Prozent der Fälle auch Alkohol, in 30 Prozent der Fälle auch psychoaktive Medikamente und in 12 Prozent beides
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– sowohl Alkohol als auch psychoaktive Medikamente – nachgewiesen. Kokain wurde bei 30 Prozent der Fälle nachgewiesen (2000: 29%, 2001: 25%, 2002: 35%), es handelt sich jedoch nur in drei Fällen um eine reine Kokainintoxikation (8). Die Analyse der Todesfälle bestätigt damit zum einen die Dominanz von polytoxikomanen Konsummustern, zeigt aber auch die große Relevanz der Opiate in Hinblick auf die Mortalität. Dies steht im Einklang mit den Daten in anderen europäischen Ländern. „Bei den meisten ,drogenbedingten‘ Todesfällen, die auf illegale, in der EU gemeldete Substanzen zurückzuführen sind, spielen Opiate eine Rolle, obwohl in zahlreichen Fällen auch andere Substanzen bei der toxikologischen Untersuchung nachgewiesen wurden. Weiters wurde erhoben, dass die Mortalität unter Opiatkonsumierenden bis zu zwanzig Mal höher ist als die in der gleichen Altersgruppe der Allgemeinbevölkerung. Interessant in Bezug auf die Epidemiologie der Drogen- bzw. Opiatabhängigkeit sind auch Daten zum Geschlechts- und Altersgefüge. Frauen sind unter den problematisch Konsumierenden unterproportional vertreten. Ihr Anteil sinkt vor allem mit steigendem Alter und Schweregrad der Drogenproblematik. Beim problematischen Konsum ist im Jugendalter das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen, mit zunehmendem Alter überwiegt der Anteil der Männer. Unter den suchtgiftbezogenen Todesfällen finden sich nur mehr 15 bis 20 Prozent Frauen, wobei es auch hier in den jüngsten Altersgruppen einen weit höheren Frauenteil gibt. Diese allgemeinen Aussagen treffen auch spezifisch für die Opiatabhängigkeit zu, da sich eine vergleichbare Altersstruktur ebenso bei den in Substitutionsbehandlung befindlichen Klientinnen und Klienten findet. Bezüglich des Alters wurde im letzten Jahrzehnt über einen steigenden Anteil von älteren Drogenabhängigen in der etablierten Drogenszene berichtet. So ist der Anteil der über 30-jährigen Klientinnen und Klienten der Wiener niederschwelli-
S. Haas
gen Einrichtung „Ganslwirt“ im Laufe des zehnjährigen Bestehens von 28 Prozent (1991) auf 60 Prozent (2000) gestiegen (9). Der Wiener Spitalsverbindungsdienst CONTACT betreut immer mehr ältere Drogenabhängige und sieht diese Gruppe weiter im Steigen begriffen. In Niederösterreich (NÖ) ist die Inanspruchnahme der Beratungsstellen durch ältere Drogenkonsumenten gestiegen. Auch das Alter der Drogenopfer ist über die Jahre gestiegen. Während 1991 das Durchschnittsalter der direkt an den Folgen des Drogenkonsums verstorbenen Personen bei 27,7 Jahren lag, betrug der Altersmittelwert dieser Gruppe im Jahr 2001 31,3 Jahre, im Jahr 2003 sank er allerdings wieder auf 29,5 Jahre. Auch hier ist anzunehmen, dass diese Entwicklung auch spezifisch für Opiatabhängige bzw. für polytoxikomane Konsumentinnen und Konsumenten mit Opiatkonsum zutrifft. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Opiate in Österreich traditionell eine große Bedeutung im Zusammenhang mit problematischem Konsum und Drogenabhängigkeit haben. Dies gilt auch weiterhin, allerdings haben sie im Zuge der Verbreiterung des Substanzspektrums und der steigenden Relevanz von aufputschenden Substanzen ihre dominante Rolle verloren. Innerhalb der Opiate wurde Heroin als „Leitsubstanz“ in den letzten Jahren um andere Opiate – vor allem Morphin – ergänzt bzw. zumindest teilweise ersetzt. Diese Entwicklung unterliegt aber einem stetigen Wandel. Bezüglich der gesundheitlichen Folgen und dabei insbesondere der Überdosierungen und Todesfälle sind die Opiate weiterhin von großer Bedeutung, da sie an fast allen tödlich verlaufenden Intoxikationen beteiligt sind. Die Opiate sollten daher trotz der aktuellen Trends, die das Augenmerk verstärkt auf andere Substanz(gruppen) lenken, keinesfalls vernachlässigt werden. Es ist aber wichtig, die starke Verbreitung von polytoxikomanen Gebrauchsmustern zu berücksichtigen und daher die Opiatabhängigkeit in eine umfassende Sichtweise einzubetten.
Opiate aus heutiger Sicht
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Abhängigkeit aus psychologischer Sicht Josef W. Egger Allgemeine Aspekte Die Kulturgeschichte der Drogen zeigt auf, dass zu jeder Zeit, in unterschiedlichen Kulturen und auf unterschiedliche Weise Drogen benutzt oder mit ihnen experimentiert wurde (1). Als dominierender Beweggrund wird immer wieder ein Bedürfnis des Menschen nach dem Erleben einer „anderen“ als der wahrgenommenen Welt, insbesondere auch die Sehnsucht nach einer „besseren“ oder „heilen Welt“ genannt. Plausibel ist auch die Annahme, dass im gesundheitsschädlichen Gebrauch von Drogen eine Sehnsucht zum Ausdruck kommt, aversiv erlebte äußere Anforderungen oder unlösbar erscheinende innere Konflikte bzw. Belastungen durch das Einverleiben von psychotropen Substanzen gleichsam auflösen zu wollen. In unserem Sprachgebrauch ist „abhängig“ weitgehend gleichbedeutend mit „süchtig“ und damit „krank“. Allerdings kann fast jedes menschliche Handeln oder Ding Gegenstand einer Sucht werden. Damit wird plausibel, dass „süchtig werden“, „krank werden nach“ oder „sich abhängig machen von“ zum Wesen des Menschen gehört und die Fähigkeit zum Abhängigsein eine Voraussetzung für die Existenz der Menschheit darstellt. Wir sind lebenslänglich auf den Halt an irgendetwas angewiesen. Bei „Haltlosigkeit“ sprechen wir deswegen auch nicht von „Unabhängigkeit“ oder „Selbstständigkeit“ (1). Abhängigkeit an sich ist dem menschlichen Sein inhärent. Die „Sehnsucht“ nach lustvollen Gefühlen, nach Zufriedenheit oder Glück ist Teil des menschlichen Le-
bens. Wir suchen – bewusst oder unbewusst, offen oder versteckt – hedonistisches Erleben (etwa über Anerkennung, Erfolg oder Liebe) und streben im Allgemeinen danach, aversive Stimmungen zu vermeiden. Ein Problem entsteht daraus, wenn diese Suche – entkoppelt vom eigenen, inneren Antrieb – sich verselbstständigt und einen dysfunktionalen (oftmals substanzgebundenen) Charakter bekommt. Bei der Drogenabhängigkeit sind es chemische Mittel, wie beispielsweise illegale Drogen, Medikamente, Alkohol oder Nikotin, die eingesetzt werden, um die wahrgenommene Realität zu „verschönen“, zu korrigieren oder zu verdrängen. Aber auch (neue) Techniken, wie das Internet-Surfen können – in einem weitgehend unterschätztem Ausmaß – zu Abhängigkeiten und Missbrauch führen. Die naturgemäß konflikthafte Auseinandersetzung zwischen den eigenen Bedürfnissen und den äußeren Anforderungen (den realen Lebensbedingungen) tritt hier zugunsten eines Lebens der Surrogate zurück. Aus kulturhistorischer Perspektive lässt sich zeigen, dass immer dann solche Surrogate („Drogen“) keine dramatischen Zerstörungen persönlicher oder sozialer Gegebenheiten mit sich brachten, wenn Regeln – und damit allgemeingültige Beschränkungen – für den Gebrauch erarbeitet und deren Einhaltung eingefordert werden konnten. Über Generationen hat sich so eine entsprechende Tradition für den (kontrollierten) Konsum aufgebaut. Solche Rituale sind gesellschaftlich eingebettet und lassen sich beispielsweise beim Konsum von Kaffee oder Tee, beim Genuss-
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J. W. Egger
rauchen oder beim kontrollierten Alkoholkonsum nachweisen (Letzteres ist in unserer Gesellschaft offensichtlich nicht zufriedenstellend gelungen). Psychoaktive Substanzen werden für den Einzelnen und die Gesellschaft dann zur Gefahr, wenn sie nicht in die Kultur integriert sind, wenn sie ohne rituelle oder erprobte institutionelle Absicherung konsumiert werden. Bei Indianern war über Jahrhunderte der Rauschmittelkonsum üblich, allerdings in einer streng ritualisierten Form, ohne dass dieser Drogenkonsum zu einer Zerstörung individueller oder sozialer Strukturen geführt hat. Es war das „Feuerwasser“ des weißen Mannes, welches in kürzester Zeit das soziale Gefüge der amerikanischen Ureinwohner zerstören konnte. Für den Umgang mit Alkohol hatten sie keine effizienten Normen zur Verfügung.
Die Sehnsucht des Menschen nach einer anderen, schöneren Welt ist zwar einfühlbar, das Ziel dieses Begehrens aber nicht wirklich realisierbar. Es gibt aufgrund der spezifischen Architektur der menschlichen Psyche keinen anhaltenden Zustand von „Glück“. Was erreichbar ist, sind Glücksmomente, vorübergehende Phasen von deutlich positiv erlebten Stimmungen. Die Illusion einer heilen Welt verbirgt in sich das unauflösbare Problem der Gleichzeitigkeit von Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Einerseits geht es um den Lustgewinn (Freiheit, Unabhängigkeit), andererseits um den Wunsch nach Dazugehören (Anpassung, Sicherheit). Ein Mensch,
der diese Spannung nicht zu ertragen lernt, ist in der Gefahr, von einem Mittel/Surrogat abhängig zu werden, das ihn wenigstens für den Moment dem an sich nicht erreichbaren Ziel näher zu bringen scheint. Die daraus erwachsende Abhängigkeit stellt sich psychologisch als eine missglückte Problemlösung dar. Diese Abhängigkeit von einem (beliebigen) Mittel kann zunächst etwas Normales sein. In ihrer Übersteigerung führt sie jedoch in die Sackgasse, wie beispielsweise zur Spielsucht, Kaufsucht oder Arbeitswut (workaholic) ... Was wir tatsächlich als „abhängig“ etikettieren, wird allerdings stark durch aktuell gültige gesellschaftliche Werte bestimmt. Es gibt eine Menge Abhängigkeiten in unserem Leben, die als solche nur schwer zu entdecken sind, weil sie die Anpassung an unser soziales System fördern: Ein Arbeitssüchtiger kann unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen als völlig angepasst und erwünscht erscheinen und wird mit einer beruflichen Karriere belohnt. Unter andersartigen gesellschaftlichen Bedingungen – zum Beispiel bei florierender Arbeitslosigkeit – wird er wegen seiner Gier nach Überstunden, Zweit- oder Drittjob bald negativ auffällig und sozial stigmatisiert (1). Innerhalb einer Gesellschaft bestimmen primär kulturelle Wertungen das Ausmaß des Gebrauchs oder Missbrauchs von legalen und illegalen Substanzen (2). Nicht die Verfügbarkeit einzelner Drogen generiert
a) Substanzgebundene Abhängigkeit von legalen Mitteln: Alkohol (in Österreich ca. 330.000 Alkoholkranke, weitere 900.000 alkoholsuchtgefährdete Erwachsene und Jugendliche), Nikotin (in Österreich rauchen ca. 2.000.000 Erwachsene täglich Tabakwaren), Coffein, Teein, Schnüffelstoffe, verordnete Medikamente b) Substanzgebundene Abhängigkeit von illegalen Mitteln: Opiate (alle Formen, ausgenommen verordnete Schmerzmittel, Methadon), Kokain, Cannabisprodukte, Halluzinogene, synthetische Drogen, nicht verordnete Medikamente c) Formen von Abhängigkeit, die nicht substanzgebunden sind (Beispiele): Esssucht, Kaufsucht, Spielsucht, Fernsehsucht, Video/Computerarbeit/Computerspielsucht, süchtiges Verhalten im Sport, Arbeitssucht, Sexualkontakt-Sucht ...
Abhängigkeit aus psychologischer Sicht
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Tabelle 1. Zur mehrdimensionalen „Entschlüsselung“ von Belastungen (belastende Gestimmtheiten und ihre „Botschaften“) Aversiv erlebte äußere Anforderungen oder innere Gestimmtheiten (Lebensbedingungen, life events, Frustrationen, Missempfindungen ...)
können wahrgenommen werden als: – etwas Übles, Negatives Abzustellendes, Auszumerzendes, Unerwünschtes, Böses ... – zum Leben gehörend, etwas Natürliches, sich nicht gänzlich vermeiden lassende Aspekte des menschlichen Seins – als Indikatoren, die einen aktuellen Zustand zu erkennen helfen und Veränderungen provozieren oder notwendig erscheinen lassen
das Problem „Sucht“ – wenngleich diese als Risikofaktor erkannt ist – sondern vielmehr die Art und Weise bzw. die Lebensumstände, in denen Menschen diese Substanzen konsumieren. Tabuisierung und Ritualisierung sind Steuerungselemente für den Umgang mit psychotropen Substanzen. Viel wäre damit gewonnen, wenn sich die Erkenntnis in ein persönlich verantwortetes Handeln umsetzen ließe, wonach ein Problem, eine Schwierigkeit, eine Krise, eine Belastung oder einfach Schmerz und Unwohlsein nicht nur Böses bedeutet, das es abzustellen gilt und das unter allen Umständen verhindert werden muss, sondern dass auch Unangenehmes zum Leben gehört (3, Tabelle 1). Ein Leben ohne schmerzhafte Erfahrungen, ohne Dysregulationen und Beschwerden ist nicht vorstellbar, wir benötigen daher eine ausreichende Frustrationstoleranz und Kompetenz im Umgang mit Stressoren. Häufig wird übersehen, dass auch in den aversiven Aspekten des Lebens (z.B. in persönlichen Krisen oder Beschwerden) wichtige Informationen über unsere Wirklichkeit enthalten sind, dass diese also auch einen Signalcharakter haben können. „Dies zu verstehen und daraus Problemlösungen abzuleiten, das ist unsere Aufgabe, nicht aber die Betäubung“ kann als Motto sowohl für die Prävention wie für die Behandlung von Abhängigkeiten und Süchten gelten.
Ätiopathogenetische Aspekte Die Forschungsbemühungen der letzten Jahrzehnte haben deutlich gemacht, dass
es sich bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung des Missbrauchverhaltens um sehr komplexe Prozesse handelt, bei welchen physiologische, kognitiv-emotionale und soziale Aspekte wirksam sind. Um dem Phänomen „Sucht“ gerecht zu werden, bedarf es also eines Erklärungsmodells, welches die biologischen, psychologischen und ökosozialen Aspekte nicht nur zu benennen, sondern diese auch zu integrieren vermag. Das weithin anerkannte „Ursachenbündel“ der Abhängigkeit setzt sich zusammen aus der spezifischen Art der Droge, den spezifischen Eigenschaften des konsumierenden Individuums und den Besonderheiten des sozialen Feldes (4). Die verfügbaren Daten weisen darauf hin, dass ursächliche, auslösende oder begünstigende sowie aufrechterhaltende Faktoren auf allen vorhin genannten Dimensionen in einem komplexen Wechselwirkungsgefüge ihre Wirksamkeit entfalten (Abb. 1). Die Gründe für die Entwicklung von Abhängigkeit und Sucht liegen also nie in einem Umstand allein. Sie müssen als Ergebnis der Interaktion individueller Eigenschaften, aktueller Situation und Suchtmittel gesehen werden. Demzufolge ist von einem multifaktoriellen Ursachenkomplex der Entstehung von Abhängigkeit und Sucht auszugehen. Auf der Persönlichkeitsebene konnten bisher keine typischen Merkmale gesichert werden, die bspw. für die Entwicklung einer Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen oder einer Toxikomanie verantwortlich gemacht werden könnten. Wohl aber gibt es eine Reihe von begünstigenden Bedingungen („Risikobedingungen“), die in Wechsel-
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PERSON genetische Faktoren, prämorbide Persönlichkeitsmerkmale, biomedizinische Faktoren, prägende kindliche Lebenswelt, Erwartungshaltungen
UMWELT allgemeinkulturelle Faktoren: aversiv erlebte Leistungs- und Konkurrenzsituation; Mangel an Alternativen oder Zukunftsperspektiven; Konsumorientierung; mangelnde Wertorientierung ... subkulturelle Faktoren (sozialer Nahraum): belastende familiäre Situation oder Partnerschaftsprobleme; Belastungen in Schule, Ausbildung, Beruf oder Freizeit; überfordernde Konflikte; Mangel an Beziehungen bzw. an sozialen Ressourcen ...
DROGE Art und Verfügbarkeit, Dosis, Dauer der Konsumation, Griffnähe
Abb. 1. Faktorenbereiche für die Entstehung der Drogenabhängigkeit (5)
wirkung mit Faktoren auf anderen Ebenen wirksam werden, d.h. Erklärungswert erhalten. Auf der ökosozialen Ebene sind solche relevanten Faktoren z.B. die Verfügbarkeit der jeweiligen Substanzen oder die Wirkung von sozialen Modellen für Gebrauch oder Missbrauch (6). Ein ausreichend empirisch bestätigtes Ursachenmodell zur Drogenabhängigkeit oder zum schädlichen Gebrauch von Drogen liegt allerdings noch nicht vor. Daher ist es zur Zeit auch nicht möglich, die oftmals eingeforderte „ursächliche Therapie“ von Abhängigkeit durchzuführen. (Dieses
Manko wird – wie auch in anderen Bereichen üblich – mit ideologischen Überzeugungen gefüllt.) Soll eine Suchtprävention wirksam sein, so kann diese nicht nur auf einer individuellen Ebene (am Süchtigen) ansetzen, sondern muss auch das gesamte Spektrum der soziokulturellen Rahmenbedingungen miteinbeziehen. Konkrete Präventionsmaßnahmen sind dabei frühzeitig, langfristig und kontinuierlich zu setzen. Für eine effektive Prävention ist im Übrigen von den wenigen harten Tatsachen auszugehen, die wir zur Zeit besitzen.
Eine Gesellschaft zeigt um so weniger massenhaftes Auftreten von Abhängigkeit (6), – je geringer der Pro-Kopf-Verbrauch der jeweiligen Droge und je eindeutiger die Gelegenheiten des Drogenkonsums definiert sind; – je mehr sie eine Erziehung im Umgang mit Drogen bzw. mit Medikamenten fördert, die in der Selbstkontrolle dieser Bedürfnisse mündet, und – je eindeutiger die Produktion und der Handel dieser Substanzen kontrolliert werden.
Abhängigkeit aus psychologischer Sicht
Diagnostische Aspekte Beim Substanzmissbrauch wird aktuell von „schädlichem Gebrauch“ und „Abhängigkeit“ unterschieden, wenngleich beide Bezeichnungen eine missbräuchliche Verwendung von psychoaktiven Substanzen umschreiben. Es handelt sich um Stoffe, die hauptsächlich über zentralnervöse Mechanismen auf den Organismus einwirken und dort das subjektive Wohlbefinden verändern in einer Weise, dass eine fortgesetzte Konsumation gefördert oder wahrscheinlicher wird, um diesen subjektiv erwünschten Zustand aufrecht zu erhalten: alkoholische Getränke, Tabakwaren (Nikotin), bestimmte Medikamentengruppen, illegale Drogen und bestimmte Lösungsmittel (Schnüffelstoffe) (siehe Tabelle 2). Der Begriff Substanzmissbrauch umschreibt alle gesundheitsschädlichen Formen des Konsums. Betrachtet man die Symptomatik der unterschiedlichen Formen des Substanzmissbrauchs, so scheint es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu geben. Gemeinsam ist allen Gruppen aber doch die psychische Abhängigkeit und in den meisten Fällen auch eine physische Abhängigkeit, die sich durch den fortdauernden Konsum entwickelt hat, während auf der Störungsebene die körperlichen, emotionalen und sozialen Störungen deutlich variieren können. Für die Klassifikation eines Abhängigkeitssyndroms gehen sowohl DSM-IV als auch ICD-10 von ähnlichen Syndromen aus. So müssen für jede Substanz getrennt
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aus einer Liste von sieben bzw. acht Symptomen zumindest drei erfüllt werden. Schwächere Ausprägungsgrade des Missbrauchverhaltens werden im ICD-10 als „schädlicher Gebrauch“ und im DSM-IV als „Missbrauch psychotroper Substanzen“ bezeichnet, bei welchen zwar körperliche und psychische Folgeschäden gegeben sein müssen, nicht aber eine psychische und/oder körperliche Abhängigkeit (siehe Tabelle 3). Jeder der im Bereich des Substanzmissbrauchs praktisch tätig ist, weiß um die Schwierigkeiten einer Klassifikation des schädlichen Gebrauchs oder der Abhängigkeit in der klinischen Praxis. Hilfreich sind gut beobachtbare Indikatoren an der Person (Einstichstellen, Alkoholfahne, Körperpflege ...), hinderlich die Tendenz der Betroffenen zur Verleugnung der Fakten oder zu erwartenden Folgen durch den Bruch von rechtlichen Normen (Tabelle 4). Unabhängig von allen ideologischen Sichtweisen und Überlegungen ist auf der Basis von nüchternen Daten der Missbrauch aller psychoaktiven Substanzen mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden. Unser Umgang mit diesen Substanzen ist bei weitem nicht rational, d.h. er wird nicht vom jeweiligen Risikopotential bestimmt (vergleiche die Handhabung von Alkohol und Tabak gegenüber Haschisch).
Therapeutische Aspekte Generelle Überlegungen zur Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeit
Tabelle 2. Merkmale eines Substanzmissbrauchs (6) Einengung des Verhaltensrepertoires auf die Ausführung eines regelmäßigen Konsummusters Zunehmende Bedeutung der Substanzeinnahme im Verhältnis zu anderen Verhaltensweisen, trotz damit verbundener negativer Konsequenzen Entwicklung einer Toleranz Auftreten von Entzugssymptomen nach kurzen Abhängigkeitsperioden Konsum von psychoaktiven Substanzen, um den Entzug zu vermeiden Entwicklung eines Zwangs zum Substanzgebrauch, damit verbunden „craving“ (unstillbare Gier, die Substanz einzunehmen) und die Unfähigkeit, die Einnahme zu kontrollieren Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass das genannte Syndrom nach Phasen der Abstinenz sich sofort voll entwickelt, wenn es zu einem ersten Rückfall kommt
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J. W. Egger
Tabelle 3. Diagnostische Leitlinien für die Klassifizierung der Störungen durch psychoaktive Substanzen (illegale Drogen und Medikamente) nach DSM-IV und ICD-10 (6) Missbrauch DSM
schädlicher Gebrauch ICD
1. zumindest eines der 1. Konsumverhalten, folgenden Symptome das zu einer trifft zu: Gesundheitsschädigung führt (körperliche – fortgesetzter und psychische Konsum, der zu Störungen Versagen bei wichtigen Verpfichtungen führt (z.B. in der Arbeit, Schule); – fortgesetzter Konsum in gefährlichen Situationen (z.B. Straßenverkehr); – juristische Probleme aufgrund fortgesetzten Konsums; – fortgesetzter Konsum trotz Kenntnis der sozialen Probleme, die dadurch verursacht/ verstärkt werden
2. Auftreten der Symptome innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten
2. –
3. Es besteht keine Abhängigkeit
3. Es besteht kein Abhängigkeitssyndrom
von psychotropen Substanzen fassen das entsprechende Verhalten – aus der Beobachterperspektive gesehen – auch als zerstörerische Fehlhaltung oder als Selbsttötung auf Raten auf. Die soziale Umwelt grenzt sich davon ab und etikettiert den
Abhängigkeit DSM
Abhängigkeitssyndrom ICD
1. zumindest 3 der folgenden Kriterien treffen zu:
1. zumindest 3 der folgenden Kriterien treffen zu:
– Toleranz; – Entzug; – Einnahme der Substanz zur Bekämpfung von Entzugssymptomen, – Konsum häufig in größeren Mengen als beabsichtigt; – Wunsch oder erfolglose Versuche zur Abstinenz bzw. Kontrolle der Substanz; – hoher Zeitaufwand für die Beschaffung (z.B. Diebstahl); – Einschränkung sozialer, beruflicher oder Freizeitaktivitäten aufgrund des Substanzmissbrauchs; – fortgesetzter Missbrauch trotz Kenntnis der Folgeprobleme
– Toleranz; körperliches Entzugssyndrom; – Substanzgebrauch mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern; – verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums; – starker Wunsch, bestimmte Substanzen zu konsumieren; – Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit psychoaktiven Substanzen; – fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen; – anhaltender Substanzkonsum trotz eindeutiger körperlicher und psychischer Folgen
2. Auftreten der Symp- 2. Auftreten der tome über einen ZeitSymptome in den letzraum von 12 Monaten ten 12 Monaten
Abhängigen als „unverantwortliches Subjekt“ oder „haltlosen Kerl“. Niemand ist aber so sehr gewohnt, von anderen als gut oder schlecht bewertet zu werden, wie der abhängig gewordene Mensch. Für die Therapie ist es daher wichtig, solche Wertun-
Abhängigkeit aus psychologischer Sicht
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Tabelle 4. Ansatzpunkte für die Diagnostik eines Substanzmissbrauchs (6) – – – – –
Beobachtung der äußeren Symptomatik Klinisches Interview Befragung von Angehörigen Fragebogen und Tests sowie Chemisch-toxikologische Analysen (z.B. Urinproben für illegale Drogen und Medikamente, Blutalkoholkonzentration, Atemluftanalyse für Alkohol und Nikotin, Haaranalyse, bestimmte Leberparameter)
gen möglichst zu verweigern und statt dessen dem Patienten eine Basis zu vermitteln, die es ihm möglich macht, sein Selbstbild zwischen den zu beobachtenden drei Extremen „Selbstzerfleischung“, „Überheblichkeit“ und „Selbstmitleid“ zu normalisieren. Es gilt für ihn, Schritt für Schritt zu erkennen und zu tolerieren, dass Schmerz, Schlaflosigkeit, Angst, Einsamkeit oder Verlust inhärente Phänomene des Lebens sind. Es ist für den Betroffenen oftmals eine enorme Hürde, einzusehen und zu akzeptieren, dass es auch für ihn und in seinem Leben notwendig ist, zu wählen und damit verzichten zu müssen, und dass kein Mensch alles haben und leben kann: Freiheit und Sicherheit zugleich, Unabhängigkeit/Erwachsensein und Geborgenheit/Kindsein gleichzeitig sind nicht zu verwirklichen (1). Die konkrete Form der Behandlung von drogenabhängigen Menschen wird verständlicherweise durch die dahinter liegenden theoretischen Konzepte über die Natur der Abhängigkeit und die Ursachen der Entstehung von Sucht bestimmt. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Interventionsstrategien unterscheiden: a) eine medizinisch-psychotherapeutische Richtung, die von einer primär psychischen Störung ausgeht, deren Hilfsangebot auf die Behandlung dieser Störung und weiterführend auf eine Anpassung der Abhängigen an gesellschaftlich vorgegebene Regeln abzielt und b) eine sozial-liberale Strategie, die versucht, den Drogenabhängigen seine Abweichung leben zu lassen – darunter fällt beispielsweise die Behandlungsvariante der Substitutionstherapie (7).
Ist erst einmal eine krankhafte Abhängigkeit von chemischen Mitteln etabliert, die als Sucht definiert werden muss, dann gibt es nach dem heutigen Stand unseres Wissens und unseres Könnens keine zufriedenstellenden therapeutischen Lösungen. Alle Versprechungen haben sich bisher als überzogen erwiesen. Ganz sicher wäre es verfehlt anzunehmen, dass dieses Problem auf individueller Ebene zu bewältigen wäre. Letztendlich wird es eine Frage unserer Konvention sein, was wir auf den unterschiedlichen Einflussebenen dagegen unternehmen wollen: Welche kulturellen, gesellschaftlichen, familiären oder subkulturellen Einstellungen und Lebensbedingungen müssen geändert werden, dass die Konsumation bestimmter Stoffe weniger wahrscheinlich wird oder adäquater erfolgt? Welche gesetzlichen Regelungen sind zur Limitierung des Missbrauchs förderlich oder notwendig? Welche ärztlichen, psychotherapeutischen oder sonstigen helferischen Tätigkeiten sind sinnvoll oder notwendig, um dem Betroffenen beizustehen? Alles in allem wird wohl eine langfristig angelegte Erziehung zum adäquaten Umgang mit psychoaktiven Substanzen notwendig sein – und wie wir annehmen müssen: mit weiter bestehendem „Restrisiko“ von Abhängigkeiten (1). Die schlechten Heilungsaussichten für Abhängige sind inzwischen auch außerhalb des Fachkollegiums einigermaßen bekannt. Wie Dörner und Plog (1) ausführen, spiegelt sich in unseren Aggressionen oder Schuldgefühlen Abhängigen gegenüber auch unsere Ohnmacht, die diese Menschen offenkundig werden lassen. Einen Patienten mit Herzinfarkt können wir viel besser annehmen, obwohl auch er durch eine Lebensführungsschuld seine Krank-
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heit begünstigt haben mag und obwohl auch in diesem Fall die therapeutische Einflussnahme auf die zugrunde liegenden psychischen Störungen bestimmt keine leichte Arbeit ist. Aber die Misserfolge bei der Therapie von Abhängigen sind trotzdem handgreiflicher. Die therapeutische Arbeit mit Abhängigen oder Suchtkranken verlangt deswegen vom behandelnden Therapeuten einen besonderen Einsatz. In der langjährigen Entwicklung der Abhängigkeit haben sich Abwehrhaltung und Vermeidungsreaktionen aufgebaut, was sich auch darin äußert, dass der Betroffene sein Verhalten verharmlost oder sogar leugnet, Verantwortung dafür gekonnt auf den Partner und die Umwelt projiziert oder nach technischer bzw. fremder Hilfe schreit und sich erst dann behandlungswillig zeigt, wenn eine ausreichende Krankheitseinsicht erwächst. Da es sich in der therapeutischen Situation um einen Modellfall einer zwischenmenschlichen Beziehung handelt, ergeben sich nicht nur Konflikte für den Patienten, sondern auch für den Therapeuten, die diesen zwingen, sein Therapiekonzept laufend kritisch zu beleuchten und, wenn möglich, in einer Supervision auch zu kontrollieren (8). Für jede psychologisch orientierte Behandlung von Abhängigen gilt, dass das „Loch“, welches entsteht, wenn das suchterzeugende Mittel nicht mehr zur Verfügung steht, das bisher als schneller Problemlöser eingesetzt worden war, vom Betroffenen als solches toleriert werden muss. An diesem Punkt können nun Patient und Therapeut gemeinsam Möglichkeiten erarbeiten, besser damit umgehen zu können (vgl. 9). Einerseits bleibt ein Rückfall die Sache des Patienten und nicht die des Therapeuten. Andererseits soll die neu erworbene Selbstachtung, die Fähigkeit, ohne entsprechende chemische Krücke leben zu können, auch mitgeteilt werden – den Mitpatienten, dem Lebenspartner, den Verwandten oder auch den Arbeitskollegen, um das Erreichte öffentlich zu machen. Die Rückfallquote wird auch dadurch gesenkt, dass von therapeutischer Seite der
J. W. Egger
Patient so früh wie möglich in eine ambulante Nachsorge (auch in Selbsthilfegruppen) vermittelt wird, damit der Kontakt zu dieser Einrichtung schon stabil ist, wenn der Patient aus der stationären Behandlung entlassen wird. Bei der ambulanten Therapie müssen entsprechende therapeutische Kontakte über eine längere Zeit bestehen bleiben, auch wenn die zeitlichen Intervalle zwischen den Therapiesitzungen nun wesentlich größer sein können (8, 11). Farrely (10) fasst den Status quo der Therapien pointiert zusammen: „Es kehrt niemand ungeschlagen heim, wer sich auf das Feld der Therapien mit Abhängigen wagt. Behandlungsversuche bei schwer Abhängigen erscheinen oft so, als ob man sich mit einem Teelöffel durch ewiges Eis kratzen müsste“.
Schlussfolgerung Art und Ausmaß der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen sind ein persönliches, gesundheitspolitisches und soziokulturelles Problem. Wenngleich es zum Wesen eines Menschen gehört, „abhängig“ zu sein, wird das Erscheinungsbild einer Abhängigkeit wesentlich durch die jeweilige Kultivierung (Ritualisierung) geprägt. Die aktuellen Formen der substanzgebundenen Abhängigkeiten sind zwar diagnostisch erfasst, aber für ihre spezifische Behandlung stehen uns noch keine ausreichend effizienten Hilfen zur Verfügung. Das Augenmerk muss sich deshalb besonders auf die präventiven Möglichkeiten richten und damit insbesondere auf eine Art von Erziehung zum adäquaten Umgang mit psychotropen Substanzen. Viel Potenz scheint in der therapeutisch notwendigen Erkenntnis zu liegen, dass – mit welcher Chemie auch immer – die Sehnsucht nach einer anderen, schöneren Welt auf Dauer nicht in Erfüllung geht. Zum Leben gehören auch Unwohlsein und Leid als natürliche Phänomene, mit denen wir zunehmend umzugehen verlernen. Psychotrope Substanzen fungieren deshalb als chemische Surrogate der Daseinsbewältigung.
Abhängigkeit aus psychologischer Sicht
Literatur 1. Dörner D, Plog U (1978) Irren ist menschlich. Psychiatrie-Verlag, Wunstorf 2. Uchtenhagen A (1998) Zur Geschichte der Behandlung Drogenabhängiger in Europa. Wiener Zeitschrift für Suchtforschung 2/3: 93–99 3. Pieringer W, Egger J (1989) Der psychosomatisch Kranke und sein Lebensstil – therapeutische Perspektiven. In: Luban-Plozza B (Hrsg) Der psychosomatische Zugang – Chance für Patient und Arzt. Forum Galenus, Mannheim, 19: 41–49 4. Bühringer G, Küfner H (1997) Mißbrauch und Abhängigkeit von illegalen Drogen und Medikamenten. In: Hahlweg K, Ehlers A (Hrsg) Enzyklopädie der Psychologie. D/II/2 Psychische Störungen und ihre Behandlung. Hogrefe, Göttingen 5. Scheerer S (1995) Special: Sucht. Rowohlt, Hamburg
31 6. Bühringer G (1996) Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen. In: Margraf J (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 2. Springer, Berlin, S. 215–243 7. Lienbacher R, Egger JW (2001) Opioidsubstitution – Die Wirkung eines Ersatzdrogenprogramms für opioidabhängige Menschen. Psychologische Medizin 1: 3–13 8. Feselmaier S, Marx R (1986) Die psychologische Betreuung von Suchtkranken. In: Egger JW, Eisenhardt U, Innerhofer P (Hrsg) Angewandte Psychologie. Praxisfelder einer Wissenschaft. Literas, Wien, S. 34–46. 9. Egger J (1989) Arzneimittelabhängigkeit aus psychotherapeutischer Perspektive. Die Heilkunst 102: 178–190 10. Farrely F, Brandsma JM (1986) Provokative Therapie. Springer, Berlin, S. 217 11. Gölz J (1999) Der drogenabhängige Patient. Urban & Fischer, München
Abhängigkeit im Experiment Gerald Zernig, Jose A. Crespo, Petra Stöckl, Katja Sturm, Juliane Schneider und Alois Saria Zusammenfassung In diesem Kapitel wird beschrieben, wie das Abhängigkeitsrisiko („Suchtrisiko“) einer Substanz bestimmt werden kann und wie neue pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsstrategien bei den Krankheitsbildern „Abhängigkeitssyndrom“ und „Schädlicher Gebrauch“ getestet werden können. An einem Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor wird klar, dass unser Körper und unser Unbewusstes viel mehr über die Anziehungskraft eines Suchtmittels wissen als wir in Worte fassen können. Die experimentelle Suchtforschung zeigt zunehmend, dass für die Entscheidung zum Suchtmittelkonsum neben dem unmittelbaren pharmakologischen Effekt der Droge die Erinnerung an frühere Drogenerfahrungen bedeutsam ist. Damit gewinnt die Veränderung der Erinnerung an Intoxikationserlebnisse – seit jeher eine Domäne der Psychotherapie – mehr an Bedeutung, auch für mögliche pharmakotherapeutische Interventionen.
Einleitung Schädlicher Gebrauch von Substanzen und Abhängigkeitssyndrome sind sehr häufig. So kommen bis zu 40% der Patienten einer allgemeinmedizinischen Praxis wegen alkoholinduzierter Beschwerden zum Arzt (1). Abhängigkeitserkrankungen sind im Erscheinungsbild sehr heterogen: Vergegenwärtigen Sie sich beispielsweise eine
benzodiazepinabhängige Hausfrau und einen heroinabhängigen Junkie. Es gibt keine umfassende und allgemein anerkannte pathophysiologische oder psychopathologische Erklärung dafür, warum manche Individuen bestimmte Suchtmittel missbrauchen, warum viele Individuen Suchtmittel missbrauchen ohne abhängig zu werden und warum manche Individuen abhängig werden. In diesem Erklärungsvakuum machen sich leider oft überkommene und ideologisch überfrachtete Erklärungsversuche breit. Der Begriff „Suchtrisiko“ („Suchtpotenzial“, „abuse liability“) verdeutlicht diese Situation: Obwohl er häufig gebraucht wird, gibt es keine medizinische Definition, wie sie im Gegensatz dazu für Begriffe wie „Abhängigkeit“ und „Schädlicher Gebrauch“ („Missbrauch“, „Abuse“) sehr wohl existiert (2). Wir dürfen hier unsere Definition für „Suchtrisiko“ vorstellen: Das Suchtrisiko (besser: das Abhängigkeitsrisiko) einer Substanz ist proportional zu ihrer: 1. Prävalenz (Welcher Anteil der Bevölkerung konsumiert die Substanz?) 2. Soziale Beeinträchtigung (Wie sehr wird der Konsument an der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Rollen gehindert?) 3. Toxizität (Welche körperlichen/psychologischen Schäden verursacht die Substanz?) Zwillingsforschungsstudien haben gezeigt, dass der erbliche Anteil, der ein Hinweis für einen oder mehrere molekular fassbare Defekte ist, maximal 50% – und zwar für die Alkoholabhängigkeit – beträgt (3): ein „Unentschieden“ in der „nature-ver-
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sus-nurture“-(„Natur-gegen-Kultur“-)Debatte. Oder – positiv formuliert: Es gibt eine erblich bedingte Vulnerabilität bzw. Disposition für Abhängigkeitserkrankungen und damit molekular-funktionell erfassbare Defekte. Die individuelle Ausprägung der Abhängigkeitserkrankung wird jedoch mindestens ebenso stark durch die Lebensgeschichte, die Erfahrungen des Patienten mitbedingt. Für andere Abhängigkeitserkrankungen (Kokain, Heroin) liegt der hereditäre Anteil übrigens noch niedriger als 50% (3). Das heißt, dass bei der Abklärung der Ursachen für den Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit besonders auf den individuellen Patienten eingegangen werden muss, um die Therapie genau auf die Bedürfnisse des Patienten abstimmen zu können. Leider können die Gründe für den Suchtmittelkonsum vom Patienten oft nicht einsichtig angegeben werden (Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor, siehe unten). Im ärztlichen Gespräch sollten wir daher respektieren, dass der abhängige Patient uns vieles über sein Verhältnis zum Suchtmittel wirklich nicht angeben kann, weil es ihm selber nicht bewusst ist – und nicht, weil er uns belügen will (was oft unser Verdacht ist). Eben weil der Patient oft nicht in der Lage ist, ausreichend über sein Verhältnis zum Suchtmittel zu sprechen, sollten wir genauso auf nicht-verbale Äußerungen des Patienten (z.B. Gestik, Mimik, Sprachrhythmus, Stimmmodulation) achten, durch die er uns wichtige Hinweise für die weitere Therapie gibt. Das Verhaltenslabor bietet nun die Möglichkeit, verbales und nicht-verbales Verhalten zu untersuchen und den für den klinischen Verlauf entscheidenden Parameter, die tatsächliche Drogeneinnahme (4), unter kontrollierten Bedingungen zu bestimmen. Verbales und nicht-verbales Verhalten können miteinander verglichen werden. Das Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor (siehe unten) zeigt, dass Probanden sich in ihren Handlungen ganz eindeutig für ein Suchtmittel – als i.m. Injektion verabreicht – entscheiden kön-
G. Zernig et al.
nen, ohne gleichzeitig angeben zu können, ob sich in den Injektionen, für die sie sich entscheiden – und für die sie sogar Arbeit leisten – überhaupt dieses Suchtmittel befindet. Wir können über unsere Beweggründe also viel weniger in Worte fassen, als unser Körper bzw. unser Unbewusstes über diese Beweggründe wissen. Anders formuliert: Die Macht des Unbewussten, des Präverbalen, des Nicht-Verbalen, über unser Verhalten ist beträchtlich. Der operante Konditionierer, der experimentelle Psychologe begegnet hier dem Psychoanalytiker/Psychotherapeuten. Insgesamt ist verblüffend, wie gleichförmig und vorhersagbar nicht nur tierisches, sondern auch menschliches Verhalten unter kontrollierten Versuchsbedingungen wird. Wir meinen, dass darin, in dieser für den Menschen unangenehmen, für manche entwürdigenden Erkenntnis ein Großteil des Widerstandes begründet ist, den einige Kollegen der Verhaltensforschung entgegenbringen. Interessant ist auch, wie menschliches und tierisches Verhalten unter kontrollierten Bedingungen einander gleichen, auch eine für manche Menschen als beunruhigend und entwürdigend empfundene Erkenntnis. Uns fällt dabei der Widerstand ein, den Darwins Befunde erregt hatten: Viele seiner Zeitgenossen verwehrten sich dagegen, gemeinsame Vorfahren mit Affen zu haben, oder, in gekränktem Missverständnis seiner Lehren, „von den Affen abzustammen“. Trotz aller weltanschaulicher Kämpfe um den Krankheitswert der Abhängigkeit und um die Behandlungswürdigkeit des Suchtmittel-Konsumenten sind folgende drei verhaltensexperimentelle Ansätze für die Bestimmung des Abhängigkeitsrisikos einer Substanz so wichtig geworden, dass beispielsweise die US-amerikanische Regierung neu synthetisierte Substanzen, die möglicherweise mit einem Abhängigkeitsrisiko belastet sein könnten (z.B. neue Opioidanalgetika oder neue Ketamin-Analoga), allen drei Tests unterziehen lässt, z.B. (5):
Abhängigkeit im Experiment
1. Selbstverabreichung („self-administration“) 2. Substanzdiskriminierung („drug discrimination“) 3. Entzugsreversierung („reversal of withdrawal“)
Selbstverabreichungsexperimente In Selbstverabreichungsexperimenten („self-administration“) wird untersucht, ob eine Substanz (ein bekanntes Suchtmittel oder ein neu synthetisiertes Medikament) das Verhalten zu kontrollieren imstande ist, d.h. wie stark die „Anziehungskraft“, „Macht“ des Suchtmittels für abhängige, schädlich gebrauchende („missbrauchende“), gelegentlich gebrauchende oder gesunde Menschen oder Versuchstiere ist. Die „Anziehungskraft“ wird operationalisiert und damit quantifizierbar gemacht als Verstärkungseffekt, d.h. als Arbeit, die ein freiwilliger Proband (siehe das Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor unten) oder ein Versuchstier für das Suchtmittel zu leisten bereit ist. Deshalb wird im Selbstverabreichungsexperiment dem Versuchstier oder dem freiwilligen Probanden die Möglichkeit gegeben, für den Erhalt eines Suchtmittels eine bestimmte Arbeit zu verrichten: So drückt beispielsweise eine Ratte in einer „Skinner box“ – eine Versuchskammer, benannt nach dem Forscher Burrhus Frederic Skinner (6) – einen Hebel für die intravenöse Injektion des Suchtmittels. Wir kennen übrigens alle Skinner boxes für Menschen: die sogenannten „Glücksspiel“-Automaten, die in Casinos tagtäglich mit großem Erfolg – Erfolg für den Automatenbesitzer! – eingesetzt werden (7). Die für den Suchtmittelerhalt nötige Arbeit leistet der Proband manchmal auch am Fahrradergometer oder die zu leistende Arbeit wird in einem Geldwert ausgedrückt, den der Proband für das zu erhaltende Suchtmittel zu zahlen bereit ist. Es kann auch sein, dass der Proband aufgefordert wird, zwischen dem Suchtmittel und einem bestimmten Geldbetrag zu wählen.
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Nun könnte man einwenden, dass das Drücken eines Hebels nicht dem physiologischen Verhaltensrepertoire einer Ratte entspricht. Es werden auch deshalb Selbstverabreichungs-Ansätze verwendet, in denen ganz einfach nur die Geschwindigkeit bestimmt wird, mit der ein Versuchstier zu einem Platz läuft, an dem es ein Suchtmittel (oder Futter als physiologischen Verstärker) erhält (8–10, 34). Da das Tier sich aktiv auf die Stelle hinbewegt, wo es das Suchtmittel (oder Futter) erhält, gilt auch dieser Versuchsansatz als Selbstverabreichungsexperiment. Je attraktiver das angebotene Suchtmittel (oder Futter) für das Versuchstier ist (d.h. je höher dessen Verstärkungseffekt ist), desto schneller wird das Versuchstier zu diesem Platz laufen. Beispielsweise läuft eine Ratte für die intravenöse Injektion des Opioids Remifentanil im Durchschnitt schneller als 1 Meter pro 10 Sekunden, während sie für dieselbe Distanz im Durchschnitt mehr als 50 Sekunden benötigt, wenn die Injektion einer physiologischen Kochsalzlösung (also des Lösungsmittels alleine) im Zielbereich wartet – oder überhaupt nicht gewillt ist, dafür den Laufsteg zu durchqueren (10). Jeder, der selbst zu Hause einen Hund oder eine Katze hält, weiß aus eigener Fütter-Erfahrung, welch hohe Augenscheinvalidität („face validity“) diesen Versuchsansatz auszeichnet. Selbstverabreichungsexperimente machen es möglich, den Verstärkungseffekt einer Substanz – und dessen Beeinflussung durch Pharmaka – in Zahlenwerten auszudrücken (Abbildung 1). Die Augenscheinvalidität des Selbstverabreichungsexperimentes ist insgesamt hoch, d.h. es ist sehr plausibel, dass eine Substanz ein Abhängigkeitsrisiko besitzt, wenn ein Proband – Mensch wie Tier – bereit ist, für den Erhalt dieser Substanz Arbeit zu leisten (11–14). Deshalb sind Selbstverabreichungsexperimente der meistgewählte Versuchsansatz, um das Abhängigkeitsrisiko einer Substanz zu quantifizieren. Man muss dabei beachten, dass die Interpretation der Daten nicht trivial ist: Zum Beispiel beeinflusst die Akkumulation der Substanz während der
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G. Zernig et al.
#16
1.Bestimmung
12
Antworten pro 2-h-Sitzung
10 8
Kokain
2.Bestimmung
6 4 2
NaCl
0 0
0.032
0.1
0.32
1.0
3.2
MDMA [mg/kg pro Injektion] Abb. 1. Selbstverabreichungsexperiment („self-administration“): Verstärkungseffekt von Kokain und 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA; „Ecstasy“). Einer männlichen Long-Evans-Ratte (#16) wurde in zweistündigen Sitzungen die Möglichkeit geboten, sich durch einmaliges Hebeldrücken eine intravenöse Injektion physiologischer Kochsalzlösung (offenes Dreieck), von Kokain (0,75 mg/ kg, gefüllte Raute) oder verschiedene Dosen von MDMA (gefüllte Quadrate und Kreise) zu verabreichen (Verstärkungsschema: FR 1 TO 150 s). Auf der X-Achse sind die MDMA-Dosen dargestellt, auf der Y-Achse die Anzahl der Hebeldrücke pro 2-h-Sitzung. Die Dosiswirkungskurve von MDMA wurde in einem Abstand von etwa drei Wochen erneut bestimmt: Die dünne Linie und die gefüllten Quadrate stellen die erste Dosiswirkungskurvenbestimmung dar, die dicke Linie und die gefüllten Kreise die zweite Bestimmung. Man sieht, dass die Ratte bereit ist, in zwei Stunden für Kokain fast 8mal den Hebel zu drücken, während sie für physiologische Kochsalzlösung den Hebel weniger als 2mal drückt (Mittelwert und Standardabweichung des Mittelwerts aus 3–6 Wiederholungen). Damit verstärkt Kokain eindeutig das Verhalten des Versuchstiers, ist also Verstärker. MDMA führt zu einer dosisabhängigen Erhöhung der Hebeldrück-Frequenz mit maximalen Antwortraten bei 0,32 bis 1 mg/kg. Auch MDMA ist damit als Verstärker wirksam. Bei höheren MDMA-Dosen nehmen die Antwortraten wieder ab, höchstwahrscheinlich aufgrund der MDMA-Akkumulation während der zweistündigen Sitzung. In dieser Abbildung sieht man auch, dass der Verstärkungseffekt von MDMA bei der zweiten Bestimmung der Dosiswirkungskurve etwas abgenommen hat (kleineres Maximum, Verschiebung der maximal wirksamen MDMA-Dosis von 0,32 auf 1 mg/kg). Nachgezeichnet aus (11)
experimentellen Sitzung und Substanzeffekte auf den Bewegungsapparat die Antwortraten und damit den scheinbaren Verstärkungseffekt. Auch Verstärkungsschemata, d.h. der „Preis“ der Substanz, also die Art, wie die Arbeit des Probanden mit dem Substanzstimulus verknüpft ist (Muss der Proband ein Mal, zehn Mal, hundert Mal den Hebel drücken? Bekommt er die Droge in bestimmten Zeitabständen, wenn er nur ein Minimum an Arbeit leistet?) bestimmen den Absolutwert des Verstärkungseffektes. Es ist also schlichtweg falsch, die gemessene Arbeitsleistung dem Verstärkungseffekt (und damit dem Suchtrisiko) einer Substanz gleichzusetzen (siehe [15] und die im selben Heft erschienene wissenschaftliche Debatte). Die einfache
Gleichung „höherer Verstärkungseffektwert – höheres Abhängigkeitsrisiko“ gilt leider nicht.
Verstärkungseffekt als wesentliche Determinante des Abhängigkeitsrisikos einer Substanz Aus den oben genannten Gründen ist es nicht gelungen, mit Hilfe von absoluten Verstärkungseffekt-Werten eine rein quantitative Abhängigkeitsrisiko-Rangliste der verschiedenen Suchtmittel-Substanzklassen zu erstellen. Eine qualitative Verstärkungseffekt-Rangliste der Suchtmittel kann jedoch postuliert werden. Diese Rangliste wird angeführt von Substanzen,
Abhängigkeit im Experiment
die unter stark unterschiedlichen Versuchsbedingungen (z.B. verschiedene Verstärkungsschemata wie Progressive Ratio, Fixes und Variables Intervall, Fixe und Variable Ratio mit zum Teil sehr hohen Antworterfordernissen, also zum Teil sehr hohem „Preis“ des Suchtmittels, oder Verstärkungsschemata 2. Ordnung) regelmäßig als Verstärker wirksam sind. Diese Rangliste des Verstärkungseffektes lautet nach Henningfield und Benowitz [zitiert in (16)]: 1. Kokain (und andere Psychostimulanzien, d.h. Dopamin-Freisetzer, wie Amphetamin) 2. Heroin (und andere Opioide) 3. Alkohol (und andere GABA-A-Rezeptor-Modulatoren wie Benzodiazepine, Barbiturate) 4. Nikotin (ein Agonist an nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren) 5. Koffein (ein A2-Adrenozeptor-Antagonist) und Marihuana (ein CB1-Cannabinoidrezeptor-Agonist) und Halluzinogene wie LSD oder Meskalin (partielle Agonisten am 5HT2-Rezeptor) Henningfield and Benowitz haben übrigens für das Gesamt-Abhängigkeitsrisiko (für die beiden Wissenschafter zusammengesetzt zu gleichen Teilen aus Verstärkungseffekt, Entzugsstärke, Toleranzentwicklung, Abhängigkeit und Intoxikationsstärke, vergleichen Sie bitte unsere Definition des Abhängigkeitsrisikos weiter oben) folgende Rangliste angegeben: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Heroin Alkohol Kokain Nikotin Koffein Marihuana
Die Verstärkungseffekt-Rangliste und die Abhängigkeitsrisiko-Rangliste ähneln einander stark. Der Verstärkungseffekt ist tatsächlich eine wesentliche Determinante des Abhängigkeitsrisikos einer Substanz.
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Substanzdiskriminierungsexperimente In Substanzdiskriminierungssexperimenten („drug discrimination“) wird festgestellt, ob sich eine neue Substanz – z.B. ein neu synthetisiertes Schmerzmittel – wie ein bekanntes Suchtmittel anfühlt. Durch die elegante Versuchsanordnung kann diese „Frage“ auch von Tieren „beantwortet“ werden. Fühlt sich die zu untersuchende Substanz so an wie ein bekanntes Suchtmittel, besteht Abhängigkeitsrisiko (5; 17). Ein Beispiel für den experimentellen Ansatz, mit dem das Versuchstier zum „Sprechen“ verlockt wird, und zwar auf die Frage: „Fühlt sich das Medikament so an wie Alkohol?“ ist in Abbildung 2 dargestellt (18): An geraden Tagen erhielt ein japanischer Rhesusaffe (Macaca fascicularis) über eine Magensonde Alkohol (d.h. wässrige Ethanol-Lösung, mit der eine Dosis von 1 g/kg = 1000 mg/kg Ethanol verabreicht wurde), eine Stunde später wurden ihm zwei Hebel vorgesetzt und er wurde nur dann mit „Zuckerl“ („Bonbon“, präzise: kleine Getreideschrotkügelchen mit Bananengeschmack) belohnt, wenn er den linken Hebel drückte. An ungeraden Tagen erhielt der Affe Wasser allein (als Leerwert, „Placebo“) und wurde nur dann mit Zuckerl belohnt, wenn er den rechten Hebel drückt. Dieses Training wurde so lange fortgesetzt, bis der Affe nach Alkohol zu mindestens 90% den linken und nach Wasser zu mindestens 90% den rechten Hebel drückte. Am Testtag wurde die Testsubstanz verabreicht. Alkohol ist ein GABA-A-Rezeptor-Modulator. In unserem Beispiel wurden Alkohol selbst, andere GABA-A-Rezeptor-Modulatoren wie das Benzodiazepin Midazolam oder das Barbiturat Pentobarbital, der direkte GABAA-Rezeptor-Agonist Muscimol oder der mu-Opioidrezeptor-Agonist Morphin verabreicht und jeder Hebeldruck – sowohl auf den linken als auch den rechten Hebel – mit Bananengeschmack-Zuckerl belohnt. Drückte der Rhesusaffe am Testtag überwiegend den linken Hebel, so fühlte er sich ziemlich so „wie mit Alkohol im Körper“,
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G. Zernig et al.
% Antworten auf Ethanol-Hebel
100
EtOH 1000Training
80
Pentobarbital
60
Ethanol
Midazolam
40 20 0
H2 O
Morphin 1 i.m. kein Effekt Muscimol 0.3 i.m. kein Effekt
1 10 100 Dosis [mg/kg, intragastrisch]
1000
Abb. 2. Substanzdiskriminierung („drug discrimination“): Alkohol (Ethanol) vermittelt subjektive Effekte (interozeptive Stimuli) wie andere GABA-A-Modulatoren aber nicht wie direkte GABA-AAgonisten oder wie Opioide. Die X-Achse zeigt die verabreichte Dosis der Pharmaka, die Y-Achse stellt die Prozent der Antworten auf demjenigen Hebel dar, der in der Trainingsphase mit Alkohol assoziiert war (Mittelwert ± Standardabweichung des Mittelwertes von vier japanischen Rhesusaffen, macaca fascicularis). Linker Teil der Abbildung: Trainingsphase; Antworten auf dem Alkohol-assoziierten Hebel (gefüllter Kreis; Trainingsdosis 1000 mg/kg Ethanol; „EtOH 1000-Training“) oder dem Wasser-assoziierten Hebel (offener Kreis). Rechter Teil der Abbildung: Testphase; Dosiswirkungskurven für Midazolam (gefüllte Quadrate), Pentobarbital (offene Dreiecke, gestrichelte Linie) und Alkohol (Ethanol; gefüllte Kreise, dicke Linie). Weitere Details im Text
drückte er am Testtag überwiegend den rechten Hebel, so fühlte er sich ziemlich so „wie mit Wasser im Körper“ oder „wie mit etwas anderem als Alkohol im Körper“. Abbildung 2 zeigt die „Testkurve“ für Alkohol (Ethanol) selbst und macht deutlich, dass beide GABA-A-Rezeptor-Modulatoren, sowohl Midazolam als auch Pentobarbital, in Bezug auf die subjektiven Effekte Alkohol vollständig gleichen – in den höchsten getesten Dosen, die etwa 300-fach niedriger lagen als die Dosis für Alkohol selbst. In der Sprache der operanten Konditionierer heißt das: Die Versuchstiere generalisierten vollständig vom interozeptiven Stimulus des Ethanols auf den interozeptiven Stimulus von Midazolam oder Pentobarbital. Noch anders ausgedrückt: Barbiturate und Benzodiazepine können recht gut an Stelle von Alkohol eingesetzt werden (Ersatzkonsum). Der Befund, dass Midazolam oder Pentobarbital „Alkoholgefühl“ bei Dosen erzeugen kann, die etwa 300-fach niedriger liegen als die Dosis für Alkohol selbst, zeigt, was für ein unspezifisches, „schlechtes“, „pharmakologisch dreckiges“ Suchtmittel Alkohol ist – man braucht unglaublich ho-
he Dosen, um einen psychotropen Effekt zu erreichen, und kauft sich damit eine Schädigung vieler anderer Organsysteme ein (2, 19). In dem Zusammenhang hilft es auch sich vor Augen zu halten, dass 1 Promille Alkohol, also ein psychotrop wirksamer Blutalkoholspiegel 22 mM (millimolar, Millimol pro Liter) entspricht (2). Das ist eine Konzentration, die etwa 10-fach über der von Calcium im Blut und 4-fach über der von Kalium im Blut, also mehrfach über dem von physiologisch notwendigen Elektrolyten im Blut liegt. Effektive Konzentrationen von anderen Suchtmitteln wie Opioiden oder Marihuana liegen im nanomolaren Bereich (also millionenfach niedriger). Zu beachten ist auch wie hoch die Trennschärfe des Substanzdiskriminierungs-Versuchsansatzes ist (Abbildung 2): Während beide GABA-A-Rezeptor-Modulatoren sehr wohl in der Lage sind, ein „Alkoholgefühl“ auszulösen (Alkohol [Ethanol] ist ebenfalls ein Modulator am Chloridkanal-GABA-A-Rezeptor-Komplex) gelingt dies Muscimol, einem direkten GABA-A-Rezeptor-Agonisten selbst in der höchstmöglich testbaren Dosis über-
Abhängigkeit im Experiment
haupt nicht: Das Verhalten spiegelt vollständig die molekulare Pharmakologie der Substanzen wider.
Entzugsumkehrexperimente In Entzugsumkehrexperimenten („reversal of withdrawal“) wird untersucht, ob ein unter Suchtrisiko-Verdacht stehendes neu synthetisiertes Medikament Entzugssymptome eines bekannten Suchtmittels beseitigt. Tut dies das neue Medikament, besteht Abhängigkeitsrisiko. Diese Experimente sind nur sinnvoll, wenn bekannt ist, (i) welcher chemischen Klasse die zu untersuchende Substanz angehört und (ii) ob und welche Entzugssymptome diese chemische Klasse auslöst. Am bekanntesten und am besten messbar sind wohl die Entzugssymptome für Opioide. Wir möchten auf diese Versuche nicht näher eingehen und verweisen Sie auf weiterführende Literatur (12, 20, 21).
Welche Fragen können im Verhaltenslabor beantwortet werden? Auf der Suche nach Therapien ist es im Verhaltenslabor möglich herauszufinden • mit welchen Pharmaka • und mit welchen nicht-pharmakologischen (psychotherapeutischen) Interventionen die „Macht“ des Suchtmittels über das Verhalten abgeschwächt werden kann Unter kontrollierten Verhaltenslaborbedingungen ist es auch möglich herauszufinden • welche neurochemischen/elektrophysiologischen/genetischen Vorgänge den Substanzkonsum begleiten (Beispiele: Welche Neurotransmitter werden in welcher Hirnregion in Erwartung des Substanzkonsums freigesetzt? Welche Neurotransmitter werden während des Substanzkonsums freigesetzt? Welche immediate early genes werden bei Kokainkonsum aktiviert?)
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• welche pathophysiologischen Konsequenzen einmaliger und wiederholter Suchtmittelkonsum hat (Beispiele: Was passiert mit serotonergen Neuronen bei einmaligem „Ecstasy“-Konsum? Wie groß ist das Ausmaß der 5HT-NeuronenSchädigung nach wiederholter „Ecstasy“-Einnahme?) • wie Suchtmittel in sehr hohen Dosen wirken (Beispiele: Bei welcher Kokaindosis sind direkte kardiotoxische Effekte zu befürchten? Ist der atemdepressive Effekt von Opioiden stärker, wenn der Organismus nicht auf die Opioidgabe vorbereitet ist?)
Neuere Entwicklungen in der Suchtforschung Die experimentelle Suchtforschung zeigt zunehmend, dass für die Entscheidung zum Suchtmittelkonsum neben dem unmittelbaren pharmakologischen Effekt der Droge die Erinnerung an frühere Drogenerfahrungen bedeutsam ist. So bestimmt die genaue Einstellung eines bestimmten Drogenspiegels (Titration) nicht das Selbstverabreichungsverhalten des Versuchstiers (10). Das Konzept des „Spiegeltrinkens“ gilt für die meisten Drogenkonsumsituationen also klar nicht (22). Der Vergleich der zuletzt erfahrenen und neurochemisch eindeutig nachzuweisenden Drogenwirkung mit früheren – neurochemisch ebenfalls eindeutig definierten – Drogenwirkungen bestimmt die Motivation des Versuchstieres, erneut Arbeit für den Erhalt des Suchtmittels zu leisten (23). Suchtmittel-assoziierte Stimuli lösen massive neurochemische Antworten in denselben Hirnregionen aus, die durch das Suchtmittel selbst aktiviert werden– jedoch erst, wenn das Versuchstier gelernt hat, diese Stimuli mit der direkten pharmakologischen Wirkung des Suchtmittels zu verknüpfen (24, 25, 34). Es konnte auch gezeigt werden, dass Suchtmittelkonsum (26) – wie anderes erlerntes Verhalten (27) – einem Gedächtnis-Konsolidierungs-Prozess unterliegt, der erstaunlich leicht und
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gezielt unterbrochen werden kann. Damit wird die gezielte Beeinflussung der Erinnerung an frühere Intoxikationserlebnisse („Suchterinnerung“ oder, unpräziser, „Suchtgedächtnis“) zunehmend als Behandlungsstrategie denkbar. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Veränderung von Erinnerungen seit jeher Domäne der Psychotherapie war, einer nichtpharmakologischen Behandlungsstrategie, die zum Beispiel bei der Behandlung der Depression (major depression) gleich erfolgreich ist wie Pharmakotherapie (28–30). Wir dürfen mit Spannung neben einer Verbesserung der derzeitigen psychotherapeutischen Interventionen die Entwicklung von Medikamenten erwarten, die gezielt die Suchterinnerung und deren Auswirkungen auf erneuten Suchtmittelkonsum verändern. Mit dem zunehmenden Interesse an Lern- und Erinnerungsprozessen, die den Suchtmittelkonsum wesentlich mitbeeinflussen, rücken Hirnareale wie der präfrontale Cortex oder der Mandelkern (Amygdala) (31), die Erinnerungen mit unmittelbaren Bedürfnissen abgleichen und zusammen mit dem Nucleus accumbens und anderen striatalen Regionen in zielgerichtetes Verhalten umsetzen (32, 34), zunehmend in das Blickfeld der Suchtforscher.
Ein Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor: Unser Körper weiß viel mehr als wir in Worte fassen können Dieses Kapitel schließt mit einem Beispiel aus dem Humanverhaltenslabor, in dem mit Methoden des operanten Konditionierens (einer „Skinner box“ für Menschen) bewiesen wurde, dass unser Verhalten unserer eigenen sprachlichen Erfassung dieses Verhaltens weit vorausgeht. Fünf Probanden, die in der Vergangenheit täglich i.v. Heroin gespritzt hatten und auch in den letzten zwei Wochen vor Studienbeginn Heroin konsumiert hatten (aber nicht physisch von Opioiden abhän-
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gig waren) wurden im Humanverhaltenslabor stationär aufgenommen und dafür bezahlt, sich von Montag bis Freitag eine Stunde vor ein Kästchen mit Hebeln und Lichtern zu setzen (33). Den Probanden stand es frei, einen Hebel zu drücken, um sich durch jeweils 3000 Hebeldrücke intramuskuläre Injektionen zu verdienen (in einem sekundären [FR 30 (FR 100:s)]-Verstärkungsschema). Die Probanden wussten, dass sich in der Spritze entweder Placebo oder ein Opioid befinden würde. Der tatsächliche Inhalt der Injektionen war weder dem Experimentator noch dem Probanden bekannt (doppelblinde Versuchsbedingungen) und wurde jede Woche gewechselt. Die Probanden wurden nach Verabreichung der Injektionen – sie konnten sich mehrere Injektionen innerhalb der einstündigen Sitzung verdienen – auch Folgendes gefragt: • „Spüren Sie das Medikament? (Do you feel the medicine)?“ • „Finden Sie das Medikament angenehm? (Do you like the medicine?)“ Die Probanden mussten auch angeben, mit welcher Substanz die Injektion am ehesten vergleich bar war: Heroin, Kokain, Marihuana, Valium®, Alkohol, Tabak, LSD etc. In der Spritze befanden sich entweder physiologische Kochsalzlösung oder folgende Mengen an Morphin-Sulfat: 3,75 mg, 7,5 mg, 15 mg oder 30 mg. Unter den doppelblinden Versuchsbedingungen hatten die Probanden fünf Tage (von Montag bis Freitag) Gelegenheit, sich dieselbe – unbekannte – Substanz zu „verdienen“. Ihr Körper hatte also ausreichend Gelegenheit, Erfahrung zu sammeln mit dem, was sich – oder was sich nicht – in der Spritze befand. An den letzten zwei Versuchstagen drückten die Probanden für 3,75 mg Morphin im Schnitt 3,7-mal pro Sekunde (!) den Hebel, während sie für physiologische Kochsalzlösung gar nicht mehr arbeiteten. Für 30 mg Morphin betrug die durchschnittliche Hebeldrückrate 4,5 pro Sekunde. Das heißt, dass die Probanden schon für die niedrigste angebotene Morphindosis fast maximal schnell
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100 90 Hebeldrücken
80 % Maximaleffekt
70 Spüren
60 50 40 30
Mögen
20 10 0 0
10
20
30
Morphin-Sulfat [mg] Abb. 3. Diskrepanz zwischen Verstärkungseffekt und benennbaren Effekten von Morphin im Humanverhaltensexperiment. Auf der X-Achse ist die unter Doppelblindbedingungen injizierte Morphinmenge angegeben, die sich die Probanden mit 3000 Hebeldrücken „verdienen“ konnten. Auf der Y-Achse sind folgende Effekte als Prozent des Maximaleffektes angegeben: „Hebeldrücken“, d.h. wie oft die Probanden im operanten Konditionierungsexperiment einen Hebel drückten, um eine Injektion zu erhalten (maximale Hebeldrückrate = 4,7 pro Sekunde); „Spüren“, d.h. in wieviel Prozent der Sitzungen die Probanden auf die Frage „Spüren Sie das Medikament?“ mit „Ja“ antworteten; „Mögen“, d.h. in wieviel Prozent der Sitzungen die Probanden auf die Frage „Mögen Sie das Medikament?“ mit „Ja“ antworteten. Die Werte sind die vereinten Werte der letzten zwei Versuchstage (Donnerstag, Freitag) von insgesamt fünf Versuchstagen, an denen die Versuchsbedingungen konstant gehalten wurden (d.h. die gleiche aber sowohl dem Experimentator als auch dem Probanden unbekannte Substanz befand sich in der i.m.-Spritze, die sich der Proband „verdienen“ konnte)
arbeiteten, dass also schon die geringste angebotene Morphindosis einen fast maximalen Verstärkungseffekt zeigte (bitte erinnern Sie sich, dass die Probanden für Placebo an den letzten zwei Versuchstagen nie den Hebel drückten). Was haben diese Probanden, die mit fast maximaler Geschwindigkeit „Akkordarbeit“ für Injektionen leisteten, deren Inhalt ihnen unbekannt war, auf die Frage „Spüren Sie das Medikament?“ geantwortet? In 57% der experimentellen Sitzungen (d.h. in 4 von 7): NEIN. Unglaublich! Da saßen vier Probanden vor einem Hebel, drückten fast vier Mal pro Sekunde auf diesen Hebel (versuchen Sie einmal, diese Geschwindigkeit nachzumachen!), um Injektionen einer Flüssigkeit zu erhalten, in denen zwei Probanden niemals eine Substanz spürten! Um es präziser zu formulieren: Diesen beiden Probanden ist es nicht
gelungen, die Morphinwirkung, die ihr Verhalten eindeutig beeinflusst hat, in Worte zu fassen. Wenn wir annehmen, dass diese beiden Probanden denVersuchsleiter nicht absichtlich täuschen wollten, heißt das, dass diese beiden Probanden die Morphinwirkung sehr wohl unbewusst gespürt haben, dass die Wirkung dieser Morphindosis aber nicht ausgereicht hat, um bewusst – und damit in Worte fassbar – zu werden. Trotzdem war aber die Morphindosis ausreichend, um das (präverbale) Verhalten der beiden Probanden messbar zu kontrollieren. Wie verhielten sich denn die beiden anderen der insgesamt vier Probanden? Ein Proband spürte einmal das Morphin, einmal kein Medikament und nur ein Proband spürte an beiden Versuchstagen, regelmäßig das Morphin. Die Körper dieser Probanden hatten also eine Entscheidung getroffen, von der ihr Bewusstsein keine
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Ahnung hatte. Noch weiter klaffen Verhalten und Benennen-Können bei „Ist Ihnen das Medikament angenehm? (Do you like the medicine?)“ auseinander. Abbildung 3 fasst diese Ergebnisse zusammen: Die Dosiswirkungskurve für das operante Verhalten (die Hebeldrückfrequenz als Maß des Verstärkungseffektes) liegt links von den Dosiswirkungskurven für das Benennen-Können der Morphinwirkung. Danksagung Diese Publikation wurde vom Österreichischen Forschungsförderungsfonds (FWFProjekt 16394-B05) und vom Verein für Experimentelle Psychiatrie, Psychotherapie und Pharmakologie (VEPPP) gefördert. Literatur 1. O’Connor PG (2000) Allgemeinpraxis. In: Zernig G, Saria A, Kurz M, O’Malley SO (Hrsg) Handbuch Alkoholismus. Verlag der Universitätsklinik Innsbruck, S. 195–202 2. Zernig G, Saria A, Kurz M, O’Malley SS (2000) Handbuch Alkoholismus. Verlag der Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck 3. KrishnanSarin S (2000) Vererbung. In: Zernig G, Saria A, Kurz M, O’Malley SO (Hrsg) Handbuch Alkoholismus. Verlag der Universitätsklinik Innsbruck, Innsbruck, S. 343–354 4. BaierManwell L, Fleming M (2000) Schädlicher Alkoholkonsum. In: Zernig G, Saria A, Kurz M, O’Malley SO (Hrsg) Handbuch Alkoholismus. Verlag der Universitätsklinik Innsbruck, Innsbruck, S. 363–368 5. France CP, Gerak LR, Rwolett JK, Woolverton WL, Winger G, Woods JH (1996) Progress report from the testing program for stimulant and depressant drugs. NIDA Res Monogr 6. Skinner BF (1953) Science and the human behaviour. Macmillan Publishing Co, New York 7. Zernig G, Saria A (1999) Neurochemische und verhaltensexperimentelle Grundlagen von „Glücksspiel“-Abhängigkeiten und anderen Abhängigkeitserkrankungen. In: Prunnlechner R, Hinterhuber H (Hrsg) Das Glücksspiel – eine Sucht? VIP-Verlag, Innsbruck, S. 109–125y
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Abhängigkeit in der Adoleszenz Karl Steinberger Einleitung In unserer Gesellschaft kommt es oft schon im Jugendalter zum Konsum von Sucht auslösenden Substanzen wie Alkohol und Nikotin (ca. 90%). Bis zu 40% probieren auch andere psychotrope Substanzen wie Cannabis, seltener auch Weckamine, Halluzinogene und Opiate (1). Ein Teil dieser Jugendlichen entwickelt eine Abhängigkeit. Wie auch bei anderen psychischen Störungen geht die Kinderund Jugendpsychiatrie bei der Sucht von einem bio-psycho-sozialen Störungsmodell aus. Dies erfordert eine differenzierte Diagnostik auf Vorliegen psychischer und emotionaler Störungen, eine klinische Beurteilung der kognitiven und emotionalen Entwicklungsstufe, der sozialen Reife und eine Einschätzung der psychosozialen Umgebung. All diese Faktoren stehen in Beziehung zueinander und zu den jeweils substanzspezifischen Einflüssen. Es ist notwendig zwischen einmaligem oder gelegentlichem Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit zu unterscheiden, um so einerseits vor zu invasiven therapeutischen Schritten zu schützen und andererseits notwendige Maßnahmen nicht zu unterlassen (2, 3).
Risikofaktoren Die Einnahme von Substanzen mit Suchtpotenzial führt nicht automatisch zur Abhängigkeit, daher erscheint es wichtig die Faktoren zu kennen, die den Übergang vom Gebrauch zum Missbrauch und zur Abhängigkeit begünstigen oder ihn ver-
hindern. Wir sind weit davon entfernt uns auf ein kohärentes Modell der Entstehung und des Verlaufs von Sucht stützen zu können. Einen begünstigenden Faktor zur Sucht stellt sicher das Jugendalter dar. Auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen müssen eine Reihe von Entwicklungsaufgaben im Spannungsfeld rasch ablaufender psychischer und physischer Veränderungen in einem gegebenen familiären und sozialem Umfeld erfolgreich bewältigt werden. In diesem Lebensabschnitt definiert sich die eigene Person für sich und die anderen neu und es wird ihre Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit erlebt (Identität). Neue soziale Beziehungen werden unter anderem durch Hinwendung zu den Peers und zu Leitfiguren ausprobiert (Identifikation). Die Entwicklung von Eigenständigkeit im Spannungsfeld zwischen Bindung und Ablösung von den Eltern wird vorangetrieben – oft verbunden mit sozialem Protest und Reibung an den Eltern (Individualität). Die Öffnung gegenüber anderen Bezugspersonen mit der Integration von Sexualität soll gelingen (Intimität). Selbstreflexion und Kritikfähigkeit zur eigenen Person mit Destabilisierung durch Selbstunter- und Überschätzung entstehen (Selbstwert). Die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Anerkennung (Selbstbehauptung) ist zu bewältigen (Tabelle 1). Diese Entwicklungsschritte verlaufen phasenhaft und in ihrer Intensität auch in einem krisenhaftem Ausmaß (Rollenkonfusion, narzisstische Krisen, Ablösungs- und Beziehungskrisen). Deviantes Verhalten ist häufig und stellt, wenn nur vorüberge-
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K. Steinberger
Tabelle 1. Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen Identität Identifikation Intimität Individualität Selbstwert Selbstbehauptung
hend, ein entwicklungsspezifisches Phänomen dar. Ebenfalls für die Lebensphase spezifisch sind eine verstärkte Neugierde und ein erhöhtes Risikoverhalten, besonders dann, wenn die Folgen erst weit in der Zukunft zu erwarten sind. Dies führt zum Experimentieren mit Kontrollverlust, zur Beschäftigung mit „Grenzerfahrungen“ und „Bewusstseinserweiterung“ und erhöht damit die Bereitschaft mit Illegalität und Drogen in Kontakt zu kommen, ohne dass daraus zunächst zwingend der Beginn einer Suchtentwicklung abzuleiten ist (4, 5). Allgemein scheinen ungünstige Umgebungsfaktoren in Kombination mit individuellen Faktoren, wie Krisensituationen bei sonst normaler Entwicklung, häufiger aber unbehandelte psychische Störungen, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ein Probieren in einen Substanzmissbrauch übergeht und zur Sucht führt. Ein früher Beginn des regelmäßigen Drogenkonsums, bei noch wenig gereiften Adoleszenten, stellt ein erhöhtes Risiko für thera-
peutisch schwer beeinflussbares Suchtverhalten dar (Tabelle 2). Als schützende Faktoren werden die soziale Unterstützung durch Peers, gute Schulleistungen, eine gute Bindung an die Eltern und deren emotionale und praktische Unterstützung, ein hoher Selbstwert und eine hohe soziale Kompetenz gesehen. Die Interaktion zwischen Genen und Umwelt und die in diesem Lebensabschnitt auf neuronal-synaptischer Ebene stattfindenden Veränderungen in ihrer Bedeutung für die Entstehung von Sucht sind nicht ausreichend geklärt (6). Um die Risikofaktoren zu minimieren, muss an erster Stelle die Prävention stehen, die vor allem die sozialen Bedürfnisse gefährdeter Jugendlicher erreichen muss. Dabei sind gesellschaftliche Faktoren wie dem Lebens- und Entwicklungsalter gerechte Lebensbedingungen, soziale Armut, mangelnde Bildungschancen, Jugendarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, unbehandelte seelische Störungen und auch die Verfügbarkeit von abhängigkeitserzeugenden Substanzen zu berücksichtigen. Unreflektierte und unsachliche Aufklärungsmaßnahmen können das Interesse an Suchtmitteln sogar erhöhen und so gegenteilige Wirkung erzielen.
Klinisches Bild Bei in Drogeneinrichtungen betreuten Jugendlichen findet sich oft Missbrauch und/
Tabelle 2. Erhöhtes Risiko für Substanzabhängigkeit Ungünstige Umgebungsfaktoren
Transitorische Krisen in der Adoleszenzenz
Psychische Störungen
Elterlicher Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch der Peers
Depressivität mangelnde Entmutigungstoleranz mangelnde Versuchungstoleranz mangelnde Kontaktbindung
depressive Episoden Angststörungen
Schwache Bindungen Emotionale Vernachlässigung Verwahrlosung Rigider Erziehungsstil Missbrauch, Misshandlung
wenig Selbstvertrauen mangelnde schulische Leistungen Aggression, Impulsivität
prae-, psychotische Störungen narzisstische und borderline Persönlichkeitsentwicklung Hyperkinetische Störungen Störungen des Sozialverhaltens
Abhängigkeit in der Adoleszenz
oder Abhängigkeit von mehreren Substanzen. Opiate erzeugen, abhängig von der Einnahmeart und der Geschwindigkeit der Verteilung im Körper, einen rasch aber kurzfristig schmerzstillenden, euphorisierenden und gedämpften Zustand („weich“), wenden das Erleben auf eine angenehm erlebte Introspektion und dämpfen unangenehme Gefühle. Dies führt, gerade wenn Jugendliche sich selbst hilflos ausgeliefert im Spannungsfeld seelischer Anforderungen und Lösungsmöglichkeiten erleben, zur deutlichen Spannungsreduktion und so scheinbar zu einem Ausweg oder zu einer Abwechslung und in der Folge zu einer Überbetonung dieses Zustandes. Die in diesem Alter noch gut zu kompensierenden körperlichen Entzugserscheinungen und ein oft noch dezent auftretendes Craving erzeugen bei den Jugendlichen und auch bei den Therapeuten die falsche Hoffnung einer „nicht so stark“ ausgeprägten Abhängigkeit. Das schleichend zunehmende Craving, die stärker werdenden Entzugserscheinungen, die Illegalität der Beschaffung, die Notwendigkeit des finanziellen Aufwandes und die „Soziotoxizität“ des Beschaffungsumfeldes führen aber bereits zu einer massiven Überforderung der Jugendlichen. Es kommt zu einem Stillstand und auch zu einer Akzelleration einzelner psychosozialer Entwicklungsschritte. Eine dysharmonische Entwicklung erleichtert die Spaltung der Bezugswelten („double – worlder“), ermöglicht eine Identifikation als „Junkie“, führt zu abhängigen oder nur kurzfristig haltenden Bindungen, einem zurückgezogenem oder oppositionell – eruptiv erscheinendem Verhalten und zur Störung des Sozialverhaltens. Viele Jugendliche suchen erstmals und nur punktuell Hilfe, wenn sie die Folgen der Sucht nur mehr mühsam verheimlichen können (Leistungsabfall, Arbeitsausfälle, illegale Handlungen, somatische Komplikationen), oder sie sich demütigenden Situationen (Prostitution, Gewalt) gegenüber sehen, oder durch eigene Erkrankung, Erkrankung oder Tod von Bekannten aufgeschreckt werden. Oft steht dann die Opiat-
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sucht bereits für eine Vielzahl von Problemen und Defiziten, die mit dem Begriff „Sucht“ scheinbar einen Namen und eine „Stofflichkeit“ bekommt. Die Vielschichtigkeit des Bildes und seiner Entstehungsbedingungen auf die Begriffe „Störung durch Opioide“, „Abhängigkeitssyndrom“, „schädlicher Gebrauch“ oder „Störung durch multiplen Substanzgebrauch“ im Jugendalter zu reduzieren, erscheint tatsächlich nicht gerechtfertigt. Es bedarf daher immer einer mehrdimensionalen kinder- und jugendpsychiatrischen Abklärung und Intervention.
Diagnostik Kinder- und Jugendpsychiatrische Diagnostik schließt immer den Patienten, die Familie und die soziale Situation mit ein. Dazu ist es notwendig, dem oft misstrauischen oder ängstlichen Patienten, sowohl die notwendigen therapeutischen Maßnahmen als auch die eigene Rolle und Haltung und die Pflicht zur Verschwiegenheit sorgfältig und für ihn verständlich zu erklären und gegebenenfalls ihre Abfolge und Geschwindigkeit mit ihm abzustimmen. Die oft nur kurzen Zeiten der Bereitschaft zur Veränderung müssen zumindest zum Aufbau einer Bindung und zur Information genutzt werden. Ziel muss es sein, eine entwicklungsspezifische Beurteilung der kognitiven, emotionalen, somatischen und sozialen Reife (inklusive Sexualität, Risikoverhalten) zu erreichen, darüber hinaus spezifische Informationen über das Suchtverhalten (Substanzen, Beginn, Art, Dauer, Intensität, situativer Zusammenhang), die Haltung des Patienten zur Sucht, die Finanzierung sowie die bisher erfolgten mit und ohne professionelle Hilfe erfolgten Entzüge. Die Verwendung toxikologischer Tests ist sowohl im Laufe der Abklärung als auch während der Therapie notwendig. Besonders ist auf komorbide Störungen und ihr zeitlicher Bezug zur Suchtentwicklung zu achten, ob diese bereits davor
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K. Steinberger
oder im Verlauf der Erkrankung aufgetreten sind. Ob eine Komorbidität drogenassoziiert ist oder nicht, ist, solange keine Drogenfreiheit erreicht werden kann, schwierig bis unmöglich zu beurteilen. Eine genaue Anamnese bezüglich familiärer Belastungen, familiärer Beziehungen und der Lebenssituation des Jugendlichen, gegebenenfalls nach Einwilligung auch das Einholen von Informationen aus der weiteren sozialen Umgebung (Schule, Jugendamt, Jugendgericht) ist notwendig. Eine neurologische, internistische, gegebenenfalls auch gynäkologische Abklärung ist notwendig. Eine diagnostische Einschätzung sollte zusammenfassend das Wesentliche der zur Vorstellung führenden Probleme formulieren und eine multiaxiale kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik umfassen. Bestehende Risikofaktoren und prädisponierende Faktoren und die eingetre-
tenen psychosozialen Folgen des Opioidgebrauchs sollten erhoben werden. Psychosoziale Ressourcen und Bedürfnisse des Patienten und auch des familiären Umfelds sollten erfasst sein (8, 9).
Therapie Auf Basis der multidimensionalen Diagnose soll eine therapeutische Empfehlung erarbeitet und mit den Jugendlichen und den obsorgenden Bezugspersonen besprochen werden. Der Komplexität des Störungsbildes entsprechend muss eine Behandlung, möglichst auf die dysfunktionalen Bereiche abgestimmt sein. Sie soll so intensiv sein und so lange dauern, dass Veränderungen stattfinden können. Das therapeutische Angebot soll auf Basis eines klar kommunizierten Behandlungsvertrags, ko-
KOOPERATION IN DER JUGENDPSYCHIATRISCHEN DROGENARBEIT
INITIAL USER
SOCIAL USER
HABITUAL USER
ABUSER
COMPULSIVE ABUSER
JUGENDPSYCHIATRIE Klinische Betreuung SOZIALPÄDAGOGIK (Wohnen, Sozialtherapie) E. Berger 2002
Abb. 1
DROGENZENTRUM (Drogentherapie, Wohnen)
Abhängigkeit in der Adoleszenz
ordiniert und kontinuierlich sein und nicht durch häufige institutionelle Unterbrechungen und Wechsel gefährdet werden. Die Erfahrung zeigt, dass gerade beim Übergang von einer therapeutischen Institution in eine andere, Therapieabbrüche häufig sind. Die Familie muss in ein Konzept eingebunden sein und ein Substanzmissbrauch anderer Familienmitgliedern muss bearbeitet werden. Wenn es notwendig ist, muss auch die Jugendwohlfahrt einbezogen werden. Ein integrativer jugendpsychiatrischer Ansatz unter Einbeziehung drogenspezifischer Angebote erscheint am Besten geeignet den Bedürfnissen der meist in mehreren Dimensionen erkrankten Jugendlichen gerecht zu werden (Abb. 1). Das explizite Ziel stellt dabei die Drogenfreiheit dar. „Harm reduction“ (Verhindern von Infektionen, kriminellen Handlungen, Gewalt) kann ein Zwischenschritt sein. Die Evidenz klinischer Studien bezüglich medikamentöser Therapien an Jugendlichen ist noch niedrig, das therapeutische Vorgehen muss daher überwiegend aus Untersuchungen an Erwachsenen und aus klinischen Erfahrungsberichten an Jugendlichen abgeleitet werden. Im Prinzip gelten die für die Erwachsenentherapie angewandten Richtlinien bezüglich medikamentöser Behandlung von Entzugssymptomen, Harnkontrollen, Zeitregelungen u.a., die auf die Bedürfnisse Jugendlicher unter Einbeziehung der Familie abgestimmt sein müssen. Buprenorphin erscheint aufgrund der Einnahmeform, Pharmakokinetik und -dynamik ein für Jugendliche geeignetes Opioid für die Entzugsbehandlung und für die Überbrückung bis zu Entzugsbehandlung zu sein (11). Die Indikation zur Therapie muss im Einzelfall unter Bedacht auf Komorbidität und Entwicklungsstufe überprüft werden und soll auf Basis einer kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchung erfolgen. Ein möglicher Wechsel im Konsum von suchtauslösenden Substanzen im Laufe der Therapie oder danach ist häufig und muss bedacht werden. Ein stabiles Bindungsangebot in Einzel-
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therapie ist erforderlich. Familientherapeutische Angebote, die bei Substanzabhängigkeit nachgewiesen erfolgreich sind, sollen zur Bearbeitung suchtspezifischer Probleme und möglicher dysfunktionaler Kommunikation in der Familie gemacht werden. Gruppentherapie kann sinnvoll sein, wird aber auch gegenteilig diskutiert (12). Ziel der psychosozialen Interventionen ist das Erhalten und Wiedererlangen eines Funktionsniveaus, das eine Weiterentwicklung im Ausbildungs- und Berufsbereich (Aufbaukurse, Arbeitsmarktservice) und die selbstständige Gestaltung von Freizeit und sozialer Aktivitäten und das Erhalten oder Schaffen von Wohnmöglichkeiten außerhalb des Suchtmilieus ermöglicht. Bei guten psychosozialen Rahmenbedingungen und Ressourcen des Patienten und der Familie kann eine ambulante Entzugsbehandlung und Psychotherapie erfolgen. Stationäre Behandlungen zum Entzug und zur Behandlung komorbider Störungen sollen auf einer den Bedürfnissen von Jugendlichen gerechten jugendpsychiatrischen Einheit, mit Anbindung an ambulante und teilstationäre Angebote erfolgen. Das Angebot sucht- und altersspezifischer Langzeit-Rehabilitationseinrichtungen ist für Jugendliche mit wenig sozialen Beziehungen außerhalb der Drogenszene und mit deutlichen psychosozialen Defiziten und einer hohen Rückfallshäufigkeit sinnvoll. Meist erscheint eine kontinuierliche Betreuung zur Abstimmung der Vielzahl an therapeutisch- und psychosozial notwendigen Schritten über mehrere Jahre erforderlich, um den Krankheitsverlauf mit seinen Höhen und Tiefen zu stabilisieren bzw. zu stoppen und die sozialen und somatischen Folgen zu minimieren (8). Literatur 1. Weinberg N, Naimah Z, Rahdert E, Collvier JD, Glanz MD (1998) Adolescent Substance Abuse: A Review of the Past 10 Years. Journal of the American Academie of Child and Adolescent Psychiatry 37 (3): 252–261
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Pharmakologie psychotroper Substanzen Eckhard Beubler Begriffe Psychotrope Substanzen sind solche, durch deren Einnahme im weitesten Sinne psychische Vorgänge, Prozesse und Abläufe verändert werden. Der Begriff ersetzt auf neutrale Art die ehemals emotional stark besetzten Begriffe Rauschgift, Suchtgift oder -mittel und bezieht sich auch nicht auf Legalität oder Illegalität. Auch die Nomenklatur der Begriffe, die heute verwendet werden, um psychische Störungen durch psychotrope Substanzen zu beschreiben, hat sich gemäß der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO geändert, und im Folgenden sollen die wichtigsten Begriffe kurz definiert werden (nach 1). Akute Intoxikation: Der Begriff bezeichnet ein vorübergehendes Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz, das mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktionen, der Wahrnehmung, des Affekts und des Verhaltens einhergeht. Er ersetzt vor allem den Begriff „Rausch“. Schädlicher Gebrauch: Der Begriff bezeichnet ein Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu einer nachweisbaren Gesundheitsschädigung führt. Er ersetzt vor allem den Begriff „Missbrauch“. Abhängigkeitssyndrom: Der Begriff bezeichnet eine Gruppe körperlicher, verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder Substanzklasse für die betroffene Person zu dem typischen Problemmuster der Abhängigkeit führt. Entscheidende Charakteristika sind:
– der starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, das Mittel zu konsumieren – die verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums – das Auftreten eines körperlichen Entzugssyndroms bei Beendigung oder Reduktion des Konsums – Toleranzentwicklung – die fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Konsums dieses Mittels. Das Abhängigkeitssyndrom kann durch eine spezifische, psychotrope Substanz, eine Substanzgruppe oder auch Substanzen unterschiedlich wirksamer psychotroper Wirkungen hervorgerufen werden. Dieser Begriff ersetzt die früher verwendeten Begriffe „Sucht“, „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“. Das Entzugssyndrom ist ein Kriterium des Abhängigkeitssyndroms und umfasst einen variablen Symptomenkomplex nach dem Entzug einer Substanz, die wiederholt oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wurde. Beginn und Verlauf des Entzugssyndroms sind zeitlich begrenzt und abhängig von der Art der Substanz sowie von der Dosis, die unmittelbar vor dem Absetzen verwendet wurde. Substanzinduzierte psychotische Störungen: Diese Störungsbilder treten während oder unmittelbar nach dem Substanzgebrauch auf und sind durch Halluzinationen (akustisch > optisch), Personenverkennung, Wahn oder Beziehungsideen gekennzeichnet. Psychomotorische Störungen wie Erregung und Stupor sowie Angst
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bis Ekstase können auftreten. Zugleich mit der Einführung der genannten Begriffe werden Begriffe wie „Sucht“ und „Missbrauch“ durch den übergeordneten Begriff „Substanzstörungen“ ersetzt. Dies alles mit dem Ziel, die alt hergebrachten moralischen oder religiösen Betrachtungsweisen in der Klassifikation zugunsten wissenschaftlicher Gesichtspunkte zu reduzieren, sodass eine neutrale Klassifikation psychotroper Substanzen und der durch sie bedingten Störungen entstanden ist. Die WHO hat diese Begriffe ferner eingeführt, um den Kliniker und Diagnostiker dazu zu zwingen, spezifisch den konkreten Schaden zu benennen, im Sinne von Auswirkungen auf die Gesundheit und nicht nur auf die sozialen Folgen.
Biologische Angriffspunkte psychotroper Substanzen Alle psychotrop wirksamen Substanzen führen zu einer Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin im limbischen System, welches eng mit Bereichen wie Emotionalität, Sexualität, Lust- und Unlustempfindungen sowie auch mit Nahrungsaufnahme verbunden ist (2). Dopamin wird aus den Endigungen der Nervenzellen freigesetzt und interagiert in der Folge mit unterschiedlichen Dopamin-Rezeptoren. Nach seiner Freisetzung wird Dopamin aus dem synaptischen Spalt durch einen aktiven Transportmechanismus wieder in das Nervenende aufgenommen. Bei wiederholter Aktivierung des Dopaminsystems durch psychotrop wirksame Substanzen kommt es zu Sensibilisierungs- und Konditionierungsvorgängen, die an der Entwicklung der psychischen Abhängigkeit und des „Cravings“ beteiligt sind. Dopamin produziert bei diesen Vorgängen nicht direkt Glücksgefühle oder Euphorie, sondern steigert die Aufmerksamkeit für andere Reize. Verknüpft man vorher neutrale Stimuli mit der Wirkung einer Droge, so erhöht sich deren Anreizcharakter. Das führt soweit, dass zur Erreichung derselben Wirkung unter bestimmten situativen Be-
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dingungen höhere Dosen an Droge gebraucht werden als ohne diese, d.h. dass diese Situationen die Toleranz fördern. Dieser Effekt kann sehr lange anhalten und erklärt auch das Phänomen, dass es trotz vermeintlich erfolgreichem Entzug selbst nach jahrelanger Drogenabstinenz wieder zu situativ ausgelösten Rückfällen kommen kann. An der Entwicklung einer Abhängigkeit, d.h. beim Übergang vom kontrollierbaren zum zwanghaften Konsum einer bestimmten Substanz, sind neben Dopamin auch andere neuronale Transmitter wie Glutamat bzw. Gammaaminobuttersäure (GABA) beteiligt. Für Interessierte sei noch erwähnt, dass die Veränderung erregender und hemmender synaptischer Übertragungsvorgänge durch psychotrope Substanzen sich rasch in der Veränderung der Expression von Genen, den sogenannten immidiate early genes (IEG), niederschlägt, z.B. c-fos und c-jun. Daneben gibt es konstitutiv exprimierte Transkriptionsfaktoren, wie CREB (cyclic AMP responsive element binding protein). Dieses spielt vermutlich eine wichtige Rolle bei der Substanz-induzierten neuronalen Plastizität. CREB gilt als Schlüsselmolekül, das Nervenzellen in die Lage versetzt, kurze Umgebungsstimuli in lange Änderungen der Hirnfunktionen umzuformen (2). Wenn diese komplizierten Zusammenhänge auch für die Therapie und Betreuung abhängiger Personen nicht ausschlaggebend sind, zeigen sie doch sehr deutlich, dass Abhängigkeit primär eine pathophysiologische Veränderung mit zum Teil sehr bekannten biochemischen, molekularbiologischen Substraten ist und nicht eine Eigenschaft einer Person, die heute noch gerne mit subversiv bis kriminell gleichgesetzt wird.
Opiate Die Opiate sind die psychotropen Substanzen, für die dieses Buch konzipiert wurde. Spricht man im Zusammenhang von Substanzstörungen von Opiaten, so
Pharmakologie psychotroper Substanzen
spricht man eigentlich von Heroin, da 90% aller Opiatabhängigen Heroin verwenden. Die Opiatabhängigkeit stellt das klassische Modell einer Substanzstörung dar, und viele Erkenntnisse, die Substanzstörungen betreffen, beziehen sich auf die Opiate. Schon die Merkmale des Abhängigkeitssyndroms mit „Craving“, Toleranz und Entzugssyndrom wurden am Beispiel der Opiatabhängigkeit entwickelt. Viele Vorstellungen die Opiate betreffend sind jedoch falsch, und das ganze Thema ist in hohem Maße von Vorurteilen und Emotionen kontaminiert. Es ist keine Frage, dass Opiatabhängigkeit bei wiederholter Verabreichung rasch entstehen kann. So kann sich eine Abhängigkeit bei vierstündlicher Injektion von Morphin oder Heroin innerhalb von 24 Stunden entwickeln. Bereits nach dieser Zeit können bei Absetzen Entzugserscheinungen auftreten. Nach Langzeitverwendung ist der Entzug von Opiaten wesentlich harmloser als der von Sedativa/Hypnotika. Alkohol, Schlafmittel und Tranquillantien können ein dramatisches Entzugssyndrom verursachen, gekennzeichnet durch Krämpfe und mit möglichem tödlichem Ausgang. Opiatentzug ist sicherlich sehr unangenehm, aber in der Regel nicht lebensbedrohlich. Auch die physischen Konsequenzen der Langzeitanwendung von Opiaten sind verglichen mit denen des Alkohols als gering einzuschätzen. Menschen, die jahrelang täglich Opiate einnehmen, können durchaus gesund sein, vorausgesetzt sie berücksichtigen die Regeln der Hygiene und der Ernährung. Es gibt zahlreiche dokumentierte Fälle von Opiatabhängigen, die ein hohes Alter erreicht haben und bis zu ihrem Ableben gesund waren. Es gibt sogar Heroinabhängige, die behaupten, gegen Verkühlungen oder andere Infektionen des Atmungstraktes geschützt zu sein, solange sie regelmäßig ihre Droge konsumieren. Jedenfalls können Menschen, die problemlosen Zugang zu Opiaten haben, unter Umständen völlig unauffällig regelmäßig Opiate konsumieren. Letztlich ist die Opiatabhängigkeit die einzige Substanzstörung, bei der man durch medizinisch
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kontrollierte Substitution den Patienten unterstützen kann, ohne seine Gesundheit weiter zu gefährden. Epidemiologie. Exakte Zahlen zur Verbreitung der Opiatabhängigkeit stehen nicht zur Verfügung. Unter Verwendung verschiedener Quellen und Parameter kommt man zu der Erkenntnis, dass nach jahrelanger gleichbleibender Verwendung von Opiaten es in den letzten Jahren zu einem sprunghaften Anstieg gekommen ist. Vorsichtige Schätzungen erlauben es zu behaupten, dass es in Österreich etwa 20.000, in der Schweiz etwa 50.000 bis 100.000 und in Deutschland etwa 100.000 bis 150.000 Opiatabhängige gibt. Aus diesen Zahlen lässt sich jedenfalls ableiten, dass für die Versorgung dieser Opiatabhängigen jährlich mehrere Tonnen Heroin in diesen drei Ländern allein verteilt werden müssen und diese Verteilung für die dahinter stehenden Organisationen einen unglaublich hohen Gewinn mit sich bringt. Vertreter. Zu den Opiaten gehören Rohopium und die darin vorkommenden Alkaloide Morphin und Codein, halbsynthetische Morphinderivate wie Heroin und synthetische Morphinderivate wie einige starke Analgetika und Hustenmittel. Der wichtigste und für den Opiatverwender interessanteste Vertreter der Opiate ist das Diacetylmorphin, das Heroin. Heroin wird im Körper sehr rasch zu Morphin deacetyliert, die Zeit reicht jedoch aus, das Morphinmolekül schneller durch die Blut-HirnSchranke zu schleusen und so einen raschen Wirkungseintritt zu garantieren. Das gilt nur für die intravenöse Gabe. Subkutan appliziert, ist auch für Süchtige kein Unterschied zwischen Heroin und Morphin festzustellen. Heroin ist also wegen des raschen Wirkungseintritts die begehrtere Droge, andere Gründe gibt es nicht, Heroin dem Morphin vorzuziehen. Andere zur Schmerztherapie verwendete Opiate spielen für Substanzstörungen nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten davon sind, wie Heroin, reine µ-Rezeptoragonisten, und
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die wichtigsten Vertreter sind Tramadol, Dihydrocodein, Pethidin, Piritramid, Oxycodon, Hydromorphon, Methadon, Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Remifentanil. Wie bereits erwähnt, spielen diese Substanzen für Opiatabhängige nur eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme mag das Sufentanil sein, das von medizinischem Personal, zumindest in den USA, in hohem Maße missbraucht wird. Die sogenannten Agonisten-Antagonisten wie Pentazocin, Nubain und Buprenorphin werden von Opiatabhängigen kaum verwendet, da die antagonistische Komponente ein Entzugssyndrom auslösen kann. Pharmakologie. Die Opioide vermitteln ihre pharmakologischen Wirkungen über Opioidrezeptoren, den µ-, κ- und δ-Rezeptor bzw. deren Subtypen. Diese Rezeptoren sind vor allem im ZNS, aber auch in der Peripherie weit verbreitet und letztlich für die hemmenden und erregenden Wirkungen der Opioide verantwortlich. Bis jetzt ist es nicht gelungen, Substanzen zu entwickeln, die analgetisch wirken, ohne gleichzeitig atemdepressiv bzw. euphorisierend zu wirken. Neben der Beeinflussung der Opioidrezeptoren sind auch dopaminerge und andere Neurotransmittersysteme bei der Vermittlung der Effekte der Opioide beteiligt. Vor allem werden Neurone im mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystem aktiviert, ein System, über welches auch Kokain oder Alkohol ihre Wirkungen vermitteln. Über Opioidrezeptoren werden letztlich auch GABA-freisetzende Interneurone gehemmt, sodass die GABA-Ausschüttung an dopaminergen Synapsen reduziert wird und sich dadurch deren Entladungsfrequenz erhöht. Akute Wirkung. Die wichtigsten, pharmakologisch genützten Wirkungen der Opiate sind die analgetische, die antitussive und die antidiarrhoische Wirkung. Opiate wirken ferner sedierend, hypnotisch, narkotisch, anxiolytisch und eventuell antidepressiv, Wirkungen, die bei bestimmten Krankheitsbildern als Begleiterscheinung durchaus akzeptabel sind. Zu den uner-
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wünschten Wirkungen gehören die Euphorie, gelegentlich auch Dysphorie, das Erbrechen, die Atemdepression, die Pupillenverengung und die Erhöhung des Tonus von Hohlorganen. Opiate führen ferner zu Störungen der Temperaturregulation und des Blutdrucks sowie zu neuroendokrinen Veränderungen. Ein Phänomen akuter Opioidwirkungen ist der Zusammenhang zwischen Anflutgeschwindigkeit ins ZNS und Wirkungsintensität. So sind Atemdepression, Euphorie und eine eventuell auftretende Thoraxrigidität direkt proportional der Anflutgeschwindigkeit ins ZNS. Das hat zur Folge, dass einerseits nur die rasche intravenöse Injektion eine gefährliche Atemdepression herbeiführt und andererseits Opiatabhängige trotzdem Heroin bevorzugen, das rascher durch die Blut-Hirn-Schranke geht als irgendein anderes Opiat. Chronische Wirkung. Ein Phänomen der chronischen Wirkung der Opiatagonisten ist die Toleranzentwicklung. Opiatdosen, die bei chronischer Verwendung problemlos vertragen werden, würden beim OpiatNaiven unweigerlich zu einem tödlichen Atemstillstand führen. Die Ursache für die Toleranzentwicklung ist eine Adaptation der Opiatbindungsstellen an die dauernde Anwesenheit eines Opiatagonisten. Opiate können sich hier gegenseitig ersetzen und man spricht vom Phänomen der Kreuztoleranz. Der Grad der erreichbaren Toleranz ist bei Morphin sehr hoch und kann eine 100-fache Dosissteigerung erfordern. Bei der oralen Schmerztherapie mit Morphin wird in Einzelfällen die tausendfache Dosis der oralen Einzelgabe verabreicht. Es sei hier bemerkt, dass es kein zweites Arzneimittel gibt, bei dem derartige Dosissteigerungen vom Organismus toleriert werden. Die Opiat-Toleranz unterscheidet sich von der Sedativa/Hypnotika-Toleranz noch durch das Phänomen, dass sich bei den Sedativa/Hypnotika die Toleranz gegenüber der aktiven Dosis schneller entwickelt als die gegenüber der letalen Dosis. Das heißt, bei diesen kann es im Zustand der Toleranz schon durch eine ge-
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Tabelle 1. Wirkungen der Opioide und Opioidintoxikation (nach 5) Wirkungen der Opioide
Opioidintoxikation
Analgesie Euphorie Anxiolyse Sedierung Atemdepression Antitussiver Effekt Pupillenverengung Übelkeit und Erbrechen Tonussteigerung der glatten Muskulatur Störung der Temperaturregulation Blutdruckabfall
Gewünscht bei normaler Dosierung Euphorie Antriebsminderung Lethargie Somnolenz Unerwünscht bei Überdosierung Schock Koma Atemlähmung Miosis Hyperreflexie Zyanose und pulmonale Störungen
ringe Überdosierung zum Tod des Patienten kommen. Bei den Opiaten entwickelt sich die Toleranz gegenüber der tödlichen Dosis etwa gleichermaßen wie die gegenüber der wirksamen Dosis und macht diese Substanzen daher sicherer als die Sedativa/Hypnotika. Wenn Heroinabhängige dennoch an einer Überdosis sterben („Goldener Schuss“), so geschieht dies vor allem nach längerer Opiatabstinenz oder mit besonders reinem Heroin. Von der Toleranzentwicklung der Opiate ausgenommen sind die Wirkungen Obstipation und Miosis (siehe Tabelle 1).
Vital bedrohliche Intoxikationen sind in erster Linie auf den wechselnden Reinheitsgrad der zugeführten Drogen, eine verminderte oder fehlende Toleranz bei Erstkonsumenten, nach längerer Abstinenz sowie bei Mischintoxikationen zu erwarten. Zur Therapie der bedrohlichen Intoxikation gilt als Mittel der Wahl Naloxon (0,5 bis 1,0 mg intravenös). Dabei ist zu beachten, dass Naloxon nur kurz wirksam ist und die meisten Opiate eine wesentlich längere Wirkungsdauer haben, die Gabe daher wiederholt werden muss. Kann die Atmung binnen kurzer Zeit nicht wieder hergestellt werden, kann angenommen werden, dass keine Opiat-Überdosierung vorliegt oder dass eine Intoxikation mit Buprenorphin vorliegt, das sehr stark an den Rezeptor gebunden ist und von Naloxon nicht verdrängt werden kann.
Überdosierung. Bei der Überdosierung eines Opiats steht im Vordergrund die klassische Trias Koma, Atemlähmung und Miosis. Weiters kommt es zu Hypothermie, Hyporeflexie und Zyanose. Neurologische Störungen wie Ataxien, Neuritiden, Myopathien, Parkinson-Symptome etc. sind oft durch zahllose Fremdbeimengungen zum Heroin auf dem Schwarzmarkt bedingt. Begünstigt werden Intoxikationen durch bereits vorliegende Kardiomyopathien, Bronchitiden und Leberschäden. Die Atemdepression ist charakterisiert durch eine Herabsetzung der Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber dem Kohlendioxidgehalt im Blut. Als Folge einer Hypoxoämie kann sich ein nonkardiales Lungenödem und eine Aspirationspneumonie entwickeln. Auch Rhabdomyolyse mit der Folge eines Nierenversagens wurde berichtet.
Gesundheitliche Auswirkungen. Chronischer Gebrauch von Heroin führt zu einer Reihe medizinischer und sozial bedingter Komplikationen. Gesundheitliche Schäden entstehen dabei nicht durch die Substanz selbst sondern durch die anfällige intravenöse Verabreichungsform. Es kommt zu bakteriellen Infektionen, Abszessen, Leber-, Nieren- und Gelenkserkrankungen. Durch Injektion schlecht löslicher Heroinzubereitungen kann es zu Embolien kommen, und der nach wie vor übliche Austausch des Injektionsbestecks unter den Heroinabhängigen trägt die Gefahr der Infektion mit HIV, Hepatitis B
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und Hepatitis C mit sich. So sind etwa 80% der Heroin-Abhängigen Hepatitis C-positiv. Die sozialen Komplikationen ergeben sich durch den Zwang zur Heroinbeschaffung, die nur auf illegalem Wege möglich ist und deren Finanzierung bald nur mehr mit Einbruch, Rezeptfälschung, Prostitution und vor allem durch Einstieg in das Dealergeschäft erfolgt. Wie schon erwähnt, können Personen, die über längere Zeit Zugang zu sauberen, unverschnittenen, wohldosierten Opiatgaben haben, unter Umständen ein völlig unauffälliges Leben führen.
machen den Zustand schier unerträglich. Auftretende Herzschwäche lässt sich nicht mit Herzmitteln verbessern. Nach etwa einer Woche verschwinden die Symptome. In seltenen Fällen können persistierende Entzugserscheinungen noch Monate nach dem Absetzen von Heroin beobachtet werden. Zur Behandlung dieses Phänomens sollen keine Opiate gegeben werden, sondern starke Psychopharmaka. Die Therapie des Entzugs wird in anderen Kapiteln dieses Buches besprochen.
Abhängigkeit. Bewertet man den Zustand der Opiatabhängigkeit nach Intensität des „Cravings“, so besteht kein Unterschied zum „Craving“ nach Alkohol unter Alkoholikern und es wird als weniger stark als das „Craving“ nach Zigaretten bei starken Rauchern bezeichnet. Wie schon erwähnt, sind die gesundheitlichen Konsequenzen der Langzeiteinnahme von Opiaten wesentlich geringer als die bei Alkohol oder Zigarettenrauch. Es besteht kein Zweifel, dass ein starker Impuls zur Aufrechterhaltung einer Heroinabhängigkeit die Angst vor dem Entzugssyndrom ist.
Kokain
Entzug. Der spontane Entzug verläuft, in Abhängigkeit von der verwendeten Substanz, mit unterschiedlicher Intensität. Das Entzugssyndrom nach Absetzen von Heroin beginnt etwa 4 Stunden nach der letzten Gabe mit dem Verlangen nach der Droge und einer gewissen Ängstlichkeit. Nach etwa 8 Stunden werden Gähnen, laufende Nase, Tränenfluss, Niesen, Schwitzen und Juckreiz verspürt. Bis etwa 12 Stunden nehmen die genannten Symptome zu, dazu kommen weite Pupillen, Muskelzuckungen, Muskel- und Knochenschmerzen. Das Bild verstärkt sich bis etwa 24 Stunden, begleitet von Hypertonie, Fieber, Tachykardie, Tachypnoe und Übelkeit. In der Zeit bis etwa 36 Stunden nach der letzten Gabe verstärken sich alle genannten Symptome, Muskelkrämpfe, Diarrhöe und Erbrechen, spontane Ejakulation und Orgasmus, Hypoglykämie und Schock
Kokain ist ein sehr schönes Beispiel für die Beobachtung, dass eine Droge in ihrer natürlichen Form gut verträglich für den Konsumenten aufgenommen werden kann, während der isolierte Inhaltsstoff wesentlich schwieriger zu handhaben ist und bei einem Teil der Verwender zu großen Problemen führt. Die Indianer Südamerikas hatten selten Probleme mit Kokablättern, sie haben diese genommen, wenn sie für die Arbeit oder das Sozialleben nötig waren, und haben sie nicht genommen, wenn das nicht der Fall war. Schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeitssyndrome hat es dabei nie gegeben. Kokainisten hingegen – Personen die täglich mehrmals Kokain schnupfen oder injizieren – entwickeln sehr wohl ein nicht ungefährliches Abhängigkeitssyndrom. Epidemiologie. Konnte früher Kokain nur in einem engen geographischen Rahmen verwendet werden, hat die Extraktion des Wirkstoffes es möglich gemacht, dass Kokain heute weltweit konsumiert wird. Unter Verwendung des vorhandenen Zahlenmaterials lässt sich vorsichtig abschätzen, dass in Deutschland etwa einige hunderttausend und in der Schweiz zwanzigbis vierzigtausend Kokainkonsumenten zu finden sind. Die Zahl hat jedenfalls in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen, und auch für Österreich ist ein entsprechender Zuwachs anzunehmen.
Pharmakologie psychotroper Substanzen
Substanz. Kokain wird aus den Blättern des südamerikanischen Kokastrauches gewonnen. Diese enthalten etwa 0,5% Kokain. Nach Herstellung einer Paste mit einem Gehalt von etwa 80% wird ein lösliches Kokainsalz, Kokainhydrochlorid, hergestellt, das mit verschiedenen Stoffen verdünnt wird. In dieser Form wird Kokain geschnupft bzw. auch injiziert. In der Form von „crack“ bzw. „free base“ ist Kokain auch rauchbar. Crack wird aus Kokainhydrochlorid mit Bikarbonat hergestellt und „free base“ durch Extraktion mit Äther. Während die Wirkung beim Schnupfen von Kokainhydrochlorid erst nach einigen Minuten eintritt, erfolgt der Wirkungseintritt nach Rauchen der freien Base in weniger als 10 Sekunden. Da auch für Kokain gilt, dass die Intensität der erreichbaren Euphorie direkt proportional der Anflutgeschwindigkeit ist, übertrifft das Erlebnis mit „crack“ oder „free base“ bei weitem jenes mit Schnupfen von Kokainhydrochlorid. Pharmakologie. Der Wirkungsmechanismus von Kokain ist nicht restlos geklärt. Im Vordergrund steht heute die Hemmung des Dopaminrücktransports in das präsynaptische Nervenende. Bei längerem Gebrauch von Kokain nimmt die Zahl der postsynaptischen Dopaminrezeptoren ab und die Effektivität der Wiederaufnahmehemmung nimmt zu. Neben der Wirkung auf Dopamin wird auch die Wiederaufnahme anderer Neurotransmitter wie Serotonin und Noradrenalin gehemmt. Akute Wirkung. Der Wirkungseintritt von Kokain ist bei Rauchen der freien Base nach etwa 10 Sekunden zu erwarten und hält etwa 2–5 Minuten an, nach Injektion setzt die Wirkung nach etwa 30 Sekunden ein, die maximale Wirkung wird nach etwa 5 Minuten erreicht und hält für etwa 30 Minuten an. Bei der verbreitetsten Applikationsart, dem Aufschnupfen von Kokain, setzt die Wirkung nach etwa 6–10 Minuten ein und hält ca. 45 bis 90 Minuten an. Es kommt während dieser Wirkungszeit zu Euphorie, einem Gefühl gesteigerter Ener-
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gie, Hypervigilanz, einer erhöhten Selbsteinschätzung und einem Gefühl gesteigerter Wahrnehmung. Puls und Blutdruck sind leicht erhöht, Appetit und Schlafbedürfnis sind vermindert. Die Pupillen sind erweitert. Auffallend sind ferner Blässe und Exophthalmus. Die erwünschte stimulierende Wirkung hält allerdings nur kurze Zeit an, während des sogenannten „crash“ kommt es zu ausgeprägter Irritierbarkeit, Unruhe und massivem Verlangen nach erneuter Einnahme. Eine erneute Applikation führt aber nicht zu dem gleichen „high“, wohl aber zu einem noch ausgeprägteren „crash“. Da Kokain also dem Verwender ein so gutes Gefühl, aber nur für eine sehr kurze Zeit vermittelt und das Gefühl danach sehr unangenehm ist, kommt es vor, dass Kokain immer wieder verwendet wird, um das ursprüngliche Gefühl zu erzeugen. Chronische Wirkung. Bei Langzeiteinnahme von Kokain kommt es einerseits zu psychiatrischen und andererseits zu medizinischen Störungen. Häufige psychiatrische Folgen sind neben dem „Craving“ affektive Störungen, Angststörungen und in schweren Fällen psychotische Störungen mit paranoiden Vorstellungen, Stereotypien und Halluzinationen. Wenngleich es am Anfang einer Kokainzufuhr zur Steigerung der sexuellen Erregbarkeit kommen kann, ist die Langzeitanwendung von einem Verlust des Interesses an sexuellen Aktivitäten geprägt. Die begleitenden Schlafstörungen führen in vielen Fällen zum Gebrauch sedierender Substanzen. Zu den medizinischen Folgen gehören vor allem neurovaskuläre Erkrankungen, Anfallserkrankungen wie epileptische Anfälle, kardiale Störungen, Bewegungsstörungen, Kopfschmerzen und in schweren Fällen Rhabdomyolyse und Hyperthermie. Überdosierung. Eine Kokainintoxikation geht mit einer Reihe von Symptomen einher, wie Tachykardie oder Bradykardie, Pupillenerweiterung, erhöhtem oder erniedrigtem Blutdruck, Schwitzen oder Schüttelfrost, Übelkeit und/oder Erbrechen, psychomotorischer Agitiertheit oder
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Verlangsamung, flacher Atmung oder kardialer Arrhythmie, Verwirrung, Anfällen, Dyskinesien, Dystonie oder Koma. Zusätzlich können Wahrnehmungsstörungen auftreten. Gesundheitliche Auswirkungen. Bei Langzeiteinnahme von Kokain bei entsprechender Frequenz bzw. Dosierung manifestieren sich die vorher genannten medizinischen Folgen wie vermehrte neurovaskuläre Erkrankungen, Anfallserkrankungen, kardiale Störungen und Störungen von Leber und Lunge. Entzug. Nach Absetzen von Kokain tritt ein Abstinenzsyndrom auf, das in drei Phasen verläuft. Direkt nach dem Absetzen von Kokain kommt es zu dem genannten Crash mit Anhedonia, Depression, Schlaflosigkeit, Angst und Irritierbarkeit. In der zweiten Phase normalisieren sich der Schlaf und die anderen Symptome der Crash-Phase, Depressionen können jedoch verstärkt auftreten, und der Wunsch nach einer neuerlichen Einnahme nimmt zu. Die dritte Phase dauert mehrere Wochen und ist eine mildere Version der zweiten Phase. Das Verlangen nach neuerlicher Applikation tritt vor allem unter bestimmten, konditionierten Umständen auf.
Amphetamin Amphetamin und seine Abkömmlinge sind zentrale Stimulantien, die in ihrer Wirkung dem Kokain sehr ähnlich sind, von Usern jedoch von diesem unterschieden werden können. Zu den amphetaminartigen Stimulantien gehören neben Amphetamin das Methamphetamin, Fenetyllin, das Norpseudoephedrin, das Methylphenitat und das Amphetaminil. Amphetamine entfalten ihre Wirkungen durch indirekte Freisetzung von Noradrenalin, Serotonin und vor allem Dopamin, welches wahrscheinlich für die erhöhte psychomotorische Aktivität verantwortlich ist. Diese Substanzen wurden als Appetitzügler verwendet sowie von Studenten, Sportlern, Fernfahrern und Kampffliegern, um die Müdigkeit zu überwinden.
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Amphetamine sind toxischer als Kokain und können große Probleme mit sich bringen. Sie sind auch viel länger wirksam. Kokain wird vergleichsweise sehr rasch metabolisiert und damit auch entgiftet, sodass Überdosierungen selten vorkommen, nicht so bei Amphetamin. Neben den gewünschten stimulierenden Wirkungen kommt es zu Blutdruckanstieg, Pulsbeschleunigung, leichter Abnahme des Tonus der glatten Muskulatur der Bronchien, zu Temperaturerhöhung sowie zu motorischer Unruhe. Chronische Anwendung führt zu Abmagerung, Nierenschäden und Neuropathien. Die Toleranz in Bezug auf Appetithemmung nimmt relativ schnell ab, auch die peripheren Wirkungen z.B. auf den Blutdruck lassen nach. Aus diesem Grunde kann die Dosis ständig gesteigert werden. Auch gegen die euphorisierende Wirkung von Amphetamin entwickelt sich Toleranz. Dieser Umstand kann zu exzessiven Dosiserhöhungen führen. Der Amphetamin-Abhängige zeigt ein Gefühl physischer Stärke und großer geistiger Leistungsfähigkeit. Nach Absetzen der Droge folgt ein langer Schlaf, aus dem er missgelaunt, depressiv und hungrig aufwacht. In schweren Fällen kann eine transiente paranoide Psychose beobachtet werden. Trotz z.T. ausgeprägter Toleranzentwicklung gegenüber Amphetamin gibt es kein dramatisches Entzugssyndrom. Einige der Akutwirkung entgegengesetzte Symptome wie Schlafbedürfnis, Heißhunger, Angst und Gereiztheit können auftreten.
Ecstasy Ecstasy ist 3,4-Methylen-Dioxy-Met-Amphetamin (MDMA), das strukturelle Ähnlichkeiten zu Amphetamin wie auch zu der Gruppe der Halluzinogene hat. Auch in der pharmakologischen Wirkung liegt es zwischen diesen Gruppen. Ecstasy, MDA und MDE (3,4-Methylendioxymetamphetamin), in der Szene als „ADAM“ und „EVE“ bezeichnet, werden in einer Gruppe, die als „Entaktogene“ bezeichnet wird, zusammengefasst.
Pharmakologie psychotroper Substanzen
MDMA und seine Verwandten besitzen eine hohe Affinität zum Serotonintransporter und hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt. Die Wiederaufnahme von Noradrenalin und von Dopamin wird mit etwas geringerer Intensität ebenfalls gehemmt. Weiters hemmt MDMA effektiv die Monoaminoxydase Typ A (MAO-A), ein wichtiges Enzym für den Abbau von Serotonin. Darüber hinaus hat MDMA eine Affinität zu den M1- und M2-Muskarinrezeptoren und zum H1-Histaminrezeptor. Zu den subjektiven Effekten von MDMA gehört ein vermehrtes Kommunikationsbedürfnis, ein Gefühl der Intimität und Enthemmung. Hunger, Durst und Müdigkeit werden unterdrückt, und als bekannter Ecstasy-Effekt passiert es, dass bei stundenlangem Tanzen sehr viel Flüssigkeit verloren wird. Weitere Folgen des MDMA-Konsums können Tachykardien, Bluthochdruck, Hitze- und Kältewallungen, Übelkeit und Erbrechen, Mydriasis, Nystagmus, Mundtrockenheit, Gangunsicherheit, Hyperreflexie, Muskelsteifigkeit, Tremor und Parästhesien sein (serotonerges Syndrom). In schweren Fällen kann es zu epileptischen Anfällen, Rhabdomyolyse mit akutem Nierenversagen, Apoplexie durch Ischämie oder Hirnblutung, Angina pectoris oder Herzinfarkt kommen. Bei schwerer Überdosierung kann als Todesursache eine disseminierte intravasale Gerinnung auftreten. Als Nachwirkungen bzw. Absetzeffekte zeigen sich Erschöpfung, Müdigkeit, Motivationslosigkeit, Störungen der Konzentration und des Schlafes sowie depressive Verstimmungen. Im Tierversuch werden neurotoxische Veränderungen beobachtet. Ein Entzugssyndrom im eigentlichen Sinne ist nicht bekannt.
Halluzinogene Die wichtigsten Halluzinogene sind LSD (Lysergsäurediethylamid), DOM (2,5-Dimethoxy-4-Methyl-Amphetamin), Mescalin, Psilocybin und Phencyclidin (PCP). Sie sollen hier vollständigkeitshalber erwähnt
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werden. Phänomene wie Abhängigkeitsentwicklung oder Entzugssyndrom treten bei diesen Substanzen nicht auf. Meistens wird mit diesen nur experimentiert und der Konsum nach wenigen Versuchen wieder eingestellt. Gesundheitliche Schäden sind weniger auf die Substanzen zurückzuführen als auf unglückliche Begleitumstände im Zusammenhang mit der halluzinogenen Wirkung. Schriften, die sich mit der Anwendung halluzinogener Substanzen beschäftigen, raten daher dem User, solche Substanzen nur in Anwesenheit drogenfreier Personen zu versuchen.
Cannabis Cannabis resp. Hanf ist eine sehr alte Kulturpflanze, deren Samen als Nahrungsmittel und zur Ölgewinnung und deren Pflanze zur Fasergewinnung diente bzw. immer noch dient. Während Cannabis in anderen Ländern seit Jahrhunderten als Droge von Bedeutung war, entwickelte sich diese Pflanze in westlichen Industrieländern erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Kultobjekt, ausgehend von der Hippiekultur des amerikanischen Westens. Es gilt heute als erwiesen, dass die gesundheitlichen Schäden von Tabak und Alkohol diejenigen von Cannabis bei weitem übertreffen. Dennoch existiert eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Einschätzung der gesundheitlichen Folgen des Cannabiskonsums und der Beurteilung durch den Gesetzgeber. Etwa 90–95% der Cannabiskonsumenten sind Probierer bzw. einem zeitweisen oder gelegentlichen Gebrauch zuzuordnen. Ein ganz kleiner Teil ist als gewohnheitsmäßiger Freizeitkonsument und noch seltener als gewohnheitsmäßiger Dauerkonsument einzustufen. Eine Substanzabhängigkeit wie vorher definiert ist nur bei 2 bis höchstens 4% der Konsumenten zu beobachten und liegt auch damit weit unter Alkohol bzw. Tabak. Die strikten Cannabisgegner sehen in Cannabis eine gefährliche Einstiegsdroge zu sogenannten härteren Drogen, ein Zusammenhang, der in dieser Geradlinigkeit wis-
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senschaftlich nicht haltbar ist, und die Befürworter versuchen aus der Tatsache, dass es körpereigene Cannabinoide gibt, die Substanz euphorisch zu verharmlosen. Bei der jetzigen Gesetzeslage sind Jugendliche jedenfalls gut beraten, einen großen Bogen um diese Droge zu machen, nicht so sehr wegen möglicher gesundheitlicher Schädigungen bzw. der sehr seltenen Abhängigkeitsentwicklung, sondern wegen der Folgen einer jederzeit möglichen Aufdeckung und deren Folgen für die berufliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung. Epidemiologie. Nach Schätzungen liegt die Zahl der Cannabiskonsumenten in Deutschland bei etwa 2,5% der Bevölkerung, wobei ein Viertel davon regelmäßig Cannabis einnehmen. Verschiedene Untersuchungen über die Konsumhäufigkeit von Cannabis von Jugendlichen ergaben, dass etwa 10–30% mindestens einmal Cannabis konsumiert haben, die Hälfte davon berichteten über einen regelmäßigen Konsum. Die Hilfe von Beratungs- und Behandlungsstellen wird im Vergleich zu Alkohol- oder Opioid-Konsumenten von Cannabis-Konsumenten nur selten in Anspruch genommen. Solche Personen weisen oft Mehrfachabhängigkeiten auf und haben Cannabis über mehr als 10 Jahre eingenommen. Inhaltsstoff und Zubereitungsformen. Konsumiert werden hauptsächlich Haschisch (das Harz), Marihuana (Blüten und Blätter der Cannabispflanze) und selten Haschischöl. Marihuana enthält ca. 2–5% Tetrahydrocannabinol (THC), das gepresste Harz etwa 3–10% und Haschischöl etwa 50% THC. Die am meisten verbreitete Konsumform ist das Rauchen pur oder mit Tabak vermischt. Cannabis wird jedoch auch seltener oral in verschiedenen Süßspeisen eingenommen, wobei in diesem Fall der Wirkungseintritt verzögert ist. Pharmakologie. Nach dem Rauchen von Cannabisprodukten wird in etwa 5–10 Minuten der maximale Blutspiegel erreicht, das High-Gefühl tritt etwa nach 15 bis 30
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Minuten auf und kann 2 bis 6 Stunden anhalten. Bei oraler Aufnahme dauert es etwa 30 bis 120 Minuten zum Wirkungseintritt. Der Hauptwirkstoff, das ∆-9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist, wie auch die anderen Cannabinoide, gut fettlöslich und wird erst beim Abbau in der Leber zu wasserlöslichen, nierengängigen Metaboliten umgebaut. Die Halbwertszeit von THC im Körper beträgt ca. 52 Stunden, sodass es nach einmaligem Konsum THC noch einige Tage, bei chronischem Gebrauch sogar mehrere Wochen im Harn nachweisbar ist. THC hemmt das intrazelluläre Enzymat Adenylatzyklase sowie spannungsgesteuerte Kalziumkanäle und führt zu einer Erhöhung der Leitfähigkeit bestimmter Kaliumionenkanäle und damit zu einer Abnahme der neuronalen Erregbarkeit. Über welche Mechanismen THC das körpereigene Belohnungssystem aktiviert, ist aber derzeit noch unbekannt. Cannabis bewirkt eine Verstärkung der Stimmung in Abhängigkeit der Ausgangslage. Das geht von inhaltslosem Glücksempfinden und Euphorie bis zu Angst und Panikzuständen. Kennzeichnend sind vor allem Lachsalven, Tränenausbrüche und Wortspiele. Erst hohe Dosen bewirken ein paranoid-halluzinatorisches Syndrom, sowie Auto- oder Fremdaggression. Der Rausch vergeht ohne Kater. Die Erinnerung an die Vorgänge während des Rausches bleibt erhalten. Somatische Veränderungen sind im akuten Fall, abgesehen von Koordinationsstörungen, nicht sehr charakteristisch. Chronische Wirkung. Bei Cannabiskonsum ist die Konjunktivitis das auffallendste Symptom. Chronische Aufnahme führt weiters zu Abmagerung und schlechter physischer Verfassung. Bei Cannabis gibt es ein nur mildes Abhängigkeitssyndrom und kein Entzugssyndrom. Es gibt auch keine Toleranz, doch führt die manchmal auftretende psychische Abhängigkeit zu häufigeren Aufnahmen. Hat man früher von sozialer Insuffizienz bzw. vom „amotivationalen Syndrom“ nach chronischem Cannabiskonsum gesprochen, gibt es für
Pharmakologie psychotroper Substanzen
diese Begriffe bis heute keine wissenschaftliche Bestätigung. Im Gegensatz dazu haben Studien gezeigt, dass bestimmte Cannabiskonsumenten im Vergleich zu Nichtkonsumenten bessere kognitive Leistungen hervorbringen können. Gesundheitliche Auswirkungen. Bei akutem Cannabiskonsum kommt es zur Steigerung der Pulsfrequenz und des Blutdrucks, es kann jedoch auch zu einer Blutdrucksenkung mit Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit sowie zu Mundtrockenheit und Reizhusten kommen. Die Toxizität von Cannabis ist so gering, dass bis heute kein Todesfall durch Cannabiskonsum bekannt wurde. Die Herzkreislaufwirkungen nehmen beim chronischen Konsum ab, bei Prädisponierten können Angina pectoris Anfälle sowie wegen des Rauchens toxische Lungenschäden bis hin zum Bronchialkarzinom auftreten. Abhängigkeit. Wie schon angedeutet, entwickelt sich keine ausgeprägte körperliche Abhängigkeit und auch keine richtige Toleranz. Auch nach chronischem oder sehr intensivem Konsum tritt bei Absetzen kein Entzugssyndrom auf. Dennoch kann es nach dem Absetzen der Droge einige Tage lang zu Reizbarkeit, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Tremor und Anstieg der Körpertemperatur kommen. Insgesamt erscheint das Abhängigkeitspotential von Cannabis am geringsten von allen epidemiologisch relevanten psychotropen Substanzen (6).
Tabak Tabak gilt neben Kaffee und Alkohol als die weltweit am häufigsten verwendete legale Droge und zugleich als einer der bedeutendsten Risikofaktoren für die Entstehung chronischer Erkrankungen. Epidemiologie. In Österreich rauchten 2000 41% der Männer und 28% der Frauen (7). Besonders hoch ist der Anteil an Rauchern bei den Männern in den unteren Gesellschaftsschichten, bei den Frauen ist ein so deutlicher Unterschied nicht er-
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kennbar. Es wird erwartet, dass in den kommenden Jahren der Zigarettenkonsum in wohlhabenden Staaten langsam abnehmen und in den Ländern der dritten Welt langsam ansteigen wird. Inhaltsstoffe. Man unterscheidet zwischen Hauptstrom- und Nebenstromrauch, wobei ersterer beim Ziehen der Zigarette entsteht und vom Raucher eingeatmet wird und letzterer in den Zugpausen in die Umgebungsluft abgegeben wird. Beide Raucharten enthalten eine Gas- und eine Partikelphase. In der Gasphase des Hauptstromrauches, die 95% dieses Rauches ausmacht, wurden bis jetzt etwa 500 verschiedene Verbindungen identifiziert, von denen einige zwar gewichtsmäßig überwiegend, aber toxikologisch unbedeutend sind. Die größte Anzahl an Verbindungen aber liegen gewichtsmäßig im µg-Bereich und sind dennoch toxisch bzw. gentoxisch. Die Partikelphase des Hauptstromrauches macht nur einen Gewichtsanteil von etwa 5% aus, enthält aber mehr als 2500 Verbindungen, zu denen auch das Nikotin gehört. Sie enthält den Großteil des toxischen und kanzerogenen Potenzials des gesamten Tabakrauches. Es gilt heute als gesichert, dass Nikotin mit einem Gehalt zwischen 100–3000 µg/pro Zigarette die Substanz ist, deretwegen, entgegen allen Bedenken, geraucht wird. Nach einer Entwicklung ab den 50er-Jahren, nach der in den Zigaretten sowohl Nikotin als auch Kondensat ständig reduziert wurde, bleibt seit den 70er-Jahren der Nikotingehalt etwa gleich, während der Kondensatgehalt weiter sinkt, um das Krankheitsrisiko zu vermindern. Pharmakologie. Wie Acetylcholin depolarisiert Nikotin die postsynaptische Membran in den sympathischen und parasympathischen Ganglien und an der motorischen Endplatte. Wie die meisten Alkaloide ist es in kleinen Dosen erregend und in großen Dosen hemmend. Die Depolarisierung postsynaptischer Neuronen führt in der Folge zur Freisetzung einer Reihe von Neurotransmittern wie Dopamin, Noradrenalin, Acetylcholin, Vasopressin, Serotonin
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Tabelle 2: Neurotransmitter-vermittelte Wirkungen des Nikotins Neurotransmitter
Wirkungen
Dopamin Noradrenalin Acetylcholin Vasopressin Serotonin Betaendorphin
Lustempfinden, Appetithemmung Arousal, Appetithemmung Arousal, Wahrnehmungssteigerung Gedächtnissteigerung Stimmungsverbesserung, Appetithemmung Angst-, Stress- und Schmerzminderung
und Betaendorphin, sodass die Gesamtwirkung von Nikotin sehr schwer vorauszusagen ist (siehe Tabelle 2) (3). Akute Wirkung des Nikotins. Im Vordergrund der akuten Nikotinwirkungen stehen Herz-Kreislauf-Wirkungen, Wirkungen auf den Stoffwechsel und den Hormonhaushalt. Über die Freisetzung von Noradrenalin bzw. Adrenalin aus dem sympathischen Nervensystem kommt es zum Anstieg der Herzfrequenz, des Blutdrucks, der Kontraktion des Herzmuskels, des kardialen Auswurfsvolumens und zur Konstriktion der Koronargefäße. Vasopressin führt zur Konstriktion der Hautgefäße und damit zur Minderdurchblutung und Abkühlung der Haut. Dieser Effekt ist schon nach einem Zug aus einer Zigarette messbar. Über Steigerung des Stoffwechsels einerseits und Appetithemmung andererseits kommt es zu geringeren Körpergewichten bei Rauchern im Vergleich zu Nichtrauchern. Über Freisetzung von Hormonen aus Hypophyse und Nebennieren werden weiters eine Reihe physiologischer Funktionen beeinflusst.
liegt bei etwa 60 mg Nikotin. Eine spezifische Behandlung ist nicht bekannt, zur symptomatischen Behandlung werden Benzodiazepine oder andere muskelrelaxierende Substanzen verabreicht.
Chronische Wirkung. Bei chronischer Zufuhr von Nikotin kommt es im Prinzip zu den gleichen Sensationen wie bei der akuten Zufuhr, es entwickelt sich jedoch eine Toleranz die zu einer starken Einschränkung der Wirksamkeit von Nikotin auf die genannten Parameter führt.
Gesundheitliche Auswirkungen. Wenngleich die Schadwirkung des Zigarettenrauches durch Abnahme von Rauchinhaltsstoffen in den letzten 30 Jahren abgenommen hat, ist das Zigarettenrauchen nach wie vor die wichtigste Ursache für Lungenkrebs und erhöht das gesamte Krebsrisiko gegenüber dem Nichtraucher um das zwei bis mehrfache. Zigarettenrauchen ist der wichtigste Risikofaktor für koronare Herzerkrankungen und steigert durch Verschlechterung der rheologischen Eigenschaften des Blutes das Thromboserisiko. Es begünstigt die Entwicklung der Arteriosklerose ebenso wie die Entstehung akuter Gefäßverschlüsse. Zigarettenrauchen vermindert in Abhängigkeit von der Rauchfrequenz die Lungenfunktion und ist die Hauptursache für die chronisch-obstruktive Ventilationsstörung der Lunge (COLD) und die häufigste Ursache für die Entstehung eines Lungenemphysems. Kohlenmonoxyd im Zigarettenrauch blockiert durch seine hohe Affinität zum Hämoglobineisen bis zu 15% des Hämoglobins, das deswegen für den Sauerstoffantransport bzw. CO2-Abtransport ausfällt. Die Konsequenzen dieses Phänomens sind noch nicht genau bekannt.
Überdosierung. Hohe Dosen von Nikotin führen zu Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerz, Hitzegefühl, Schweißausbruch, Schwindel und Durchfall. Der Tod tritt durch Lähmung der Atemmuskulatur ein. Die tödliche Dosis nach oraler Aufnahme
Abhängigkeit. Entgegen früherer Vorstellungen unterscheidet sich die Tabakabhängigkeit nicht grundsätzlich von anderen stoffbezogenen Abhängigkeiten und erfüllt die Kriterien, die unter dem Begriff Abhängigkeitssyndrom (Seite 43) genannt
Pharmakologie psychotroper Substanzen
wurden. Tabakabhängigkeit führt jedoch nicht zum Verfall der Persönlichkeit und nur selten zum Verlust des Arbeitsplatzes. Wie stark die Abhängigkeit von Tabakrauch sein kann, wird durch die Beobachtung illustriert, dass rauchende Kokainisten es leichter finden, das Kokain aufzugeben als die Zigaretten (4). Hauptverantwortlich für die Tabakabhängigkeit ist offensichtlich das Nikotin, wenngleich die begleitenden sensorischen Faktoren für den Raucher fast ebenso wichtig sind wie die zentralen Wirkungen des Nikotins. Wie bei anderen psychotropen Substanzen kommt es beim Tabakrauchen zu psychischer und physischer Abhängigkeit. Noch Monate nach dem physischen Entzug kann ein unbezähmbares Rauchverlangen („Craving“) eintreten, wenn bestimmte Begleitumstände es provozieren. Entzug. In Zusammenhang mit der Dauer der Tabakabhängigkeit und der Intensität können beim Entzug folgende Symptome auftreten (4): – dysphorische oder depressive Stimmung – Schlaflosigkeit – Reizbarkeit – Enttäuschung oder Ärger – Angstgefühl – Konzentrationsschwierigkeiten – Ruhelosigkeit – verminderte Herzfrequenz – gesteigerter Appetit und Gewichtszunahme. Die genannten Entzugserscheinungen treten innerhalb von 24 Stunden nach dem Entzug auf und erreichen ihren Höhepunkt innerhalb der ersten Woche. Nach drei bis vier Wochen klingen die Symptome nach und nach ab.
Alkohol Die Kürze des folgenden Absatzes über das am meisten verbreitete Genuss-, Rauschund Suchtmittel Alkohol soll nicht über die gesellschaftliche, sozioökonomische
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und gesundheitspolitische Dimension dieses Problems hinwegtäuschen. Gemessen an den anderen in diesem Buch besprochenen Süchten übertrifft der Alkoholismus alle anderen Suchtkrankheiten bei weitem, dennoch ist diese Krankheit nicht Thema dieses Buches, zumal es gerade beim Alkohol kaum Möglichkeiten einer pharmakologischen Behandlung gibt. Die Lebenserwartung Alkoholabhängiger ist fast 20 Jahre geringer als die einer Kontrollgruppe. Nahezu 80% aller tödlichen Delikte stehen im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, 25% der tödlichen Verkehrsunfälle stehen mit Alkohol in Verbindung, Gewaltdelikte innerhalb der Familie, Kindesmisshandlungen, Arbeitsunfälle und Arbeitsausfälle sind im hohem Maße mit Alkohol in Verbindung. Der durch Alkohol verursachte volkswirtschaftliche Schaden in Österreich pro Jahr beträgt ca. 1,5 Milliarden Euro. Wenngleich Cannabis häufig als die Einstiegsdroge für sogenannte „harte“ Drogen apostrophiert wird, haben die meisten Jugendlichen, die zu irgendwelchen Drogen greifen, bereits vorher Kontakt mit Alkohol bzw. mit Nikotin. Des Weiteren sei auf Standardwerke über den Alkoholismus verwiesen, vor allem auf die Bücher von G. Zernig (8), M. Soyka (9) und W. Feuerlein (10).
Literatur 1. Litchen HU, Argandona M (2000) Diagnostische Klassifikation der Substanzstörungen. In: Uchtenhagen A, Zieglgänsberger W (Hrsg) Suchtmedizin. Urban & Fischer, München Jena, S. 23–27 2. Zieglgänsberger W (2000) Belohnungssysteme. In: Uchtenhagen A, Zieglgänsberger W (Hrsg) Suchtmedizin. Urban & Fischer, München Jena, S. 27–29 3. Wenowitz NL (1995) Acute biological effects of nicotine and its metabolites. In: Clarke PBS, Trick UIK, Adelkofer F, Thurau K (eds) Effects of nicotine on biological systems II. Birkhäuser, Basel Boston Berlin 4. Obitz K (2000) Tabakabhängigkeit. In: Uchtenhagen A, Zieglgänsberger W (Hrsg) Suchtmedizin. Urban & Fischer, München Jena, S. 53–56
64 5. Breuss UW, Soyka M (1999) Opiate. In: Backmund M (Hrsg) Sucht-Therapie, Grundlagen, Klinik, Standards. Leitfaden für Praxis und Fortbildung. Ecomed Verlagsgesellschaft, Landsberg, S. III-7, 1–7 6. Krausz M, Lamberth M (2000) Cannabis. In: Uchtenhagen A, Zieglgänsberger W (Hrsg) Suchtmedizin. Urban & Fischer, München Jena, S. 77–82
E. Beubler 7. Fonds Gesundes Österreich 2001 8. Zernig G, Saria A, Kurz M, O’Malley SS (2000) Handbuch Alkoholimus. Verlag der Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck 9. Soyka M (1995) Die Alkoholkrankheit – Diagnose und Therapie. Chapman & Hall, Weinheim 10. Feuerlein W, Kuefner H, Soyka M (1998) Alkoholismus – Missbrauch und Abhängigkeit. Thieme, Stuttgart
Heroinmythologie und Heroinkontrolle Alfred Springer Einleitung: Die soziale Konstruktion der Drogenkontrolle In der medizinhistorischen Literatur kann man nur wenige Referenztexte finden, in denen versucht wird, die besondere Position, in die das Acetylmorphin drogenpolitisch geraten ist, und den Prozess, der zu dieser Sonderposition führte, darzustellen und zu interpretieren. Als Ausgangspunkt unserer kritischen Überlegungen dient ein in diesem Kontext 1974 erschienener Artikel über die Entstehung der amerikanischen Suchtgiftgesetzgebung. Sein Autor, A. Saper, kam darin zum Schluss, dass die Drogenpolitik der letzten 80 Jahre überwiegend auf Mythen, Fantasien und historischem Zufall aufgebaut sei. Nur bisweilen sei auch die Vernunft zum Zug gekommen (1). Es gilt nunmehr, diesen Prozess nachzuvollziehen und die Spuren der Mythologisierung in der aktuellen Situation aufzuspüren. Am geeignetsten scheint dazu das Studium der Heroinprohibition. In mancher Hinsicht können Heroinkontrolle und die anderen Formen der Drogenkontrolle nicht scharf voneinander abgegrenzt werden. Die Heroinkontrolle repräsentiert den Gipfel aller Kontroll- und Prohibitionstendenzen, die sich zusammenschlossen, um jene Droge zu bekämpfen, der das Schicksal zugewiesen wurde, als die übelste und gefährlichste von allen klassifiziert zu werden.
Der Mechanismus der Drogenkontrolle – die Entwicklung der Internationalen Kontrolle der Narkotika Die Opium-Konferenz, die 1912 in Den Haag zusammentrat, formulierte eine Konvention hinsichtlich der Unterdrückung des Missbrauchs von Opium und anderer Drogen. Alle Teilnehmer sagten zu, die Produktion und den Gebrauch des Rohopiums zu beschränken. 1933 trat die „Convention for Limiting the Manufacture and Regulating the Distribution of Narcotic Drugs“ (bekannt als die „Narcotic Limitation Convention aus 1931“) in Kraft, nachdem sie der U.S. Senate bereits 1932 ratifiziert hatte. 63 Nationen traten diesem Abkommen bei. Die Genfer Konferenz von 1936 etablierte die internationale Zusammenarbeit hinsichtlich der strafrechtlichen und sicherheitspolitischen Anteile der Unterdrückung des illegalen Drogenhandels. Dieses Übereinkommen erforderte die Anpassung bereits bestehender nationaler Gesetze an die Vorschläge der Gruppe. Bis 1943 geschah diese Anpassung in 12 Nationen. 1946 übernahmen dann die Vereinten Nationen die Funktionen und Gewalten, die vordem vom Völkerbund ausgeübt worden waren. Ein Narkotika-Komitee wurde konstituiert. Der historische Hintergrund der Heroinkontrolle Der erste spezifische Vorschlag bezüglich der Kontrolle des Heroin im internationalen Kontext wurde 1923 vom Völkerbund-
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Subkommittee für Gesundheit und Opium vorgebracht: „In view of the fact that a question is being raised as to the possibility of prohibiting the manufacture of heroin ... the mixed Sub-Committee, composed of technical experts, agrees, having regard to the small therapeutic value and the harmful effects of diacetyl-morphine (Heroin), to advocate the prohibition of its manufacture.“ Heroin als Problemdroge Heroin wurde zunächst aufgrund der Entwicklung in drei Ländern als Problemdroge identifiziert. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kam es in China, Ägypten und den USA zu einem rapiden Anstieg des Heroinmissbrauchs. Von diesen drei Ländern wurden sowohl nationale Initiativen in Gang gesetzt, das Problem im eigenen Land in den Griff zu bekommen, wie auch internationale Kooperation im Kampf gegen den Heroinmissbrauch gefordert. Diese internationale Kooperation sollte, wenn es nach den Vorstellungen der drei betroffenen Länder gegangen wäre, bereits in den 30er-Jahren zu einer ähnlichen internationalen Gesetzeslage führen, wie sie heute in Kraft ist. Diese Forderungen stießen allerdings zunächst politisch im europäischen Raum auf wenig Gegenliebe. In Europa bestanden zu jener Zeit Probleme mit anderen Opiaten und vor allem mit Kokain. Weiters standen wirtschaftliche Bedenken entgegen. Heute scheint es schwierig, jene Gedankengänge nachzuvollziehen, die dazu führten, dass man dem internationalen Suchtproblem ausgerechnet mit einem Verbot des Heroins begegnen wollte. In China war etwa von 1920 an das Rauchen von Heroin in der Form von „roten Pillen“ zu einem zusätzlichen Problem zu der weitverbreiteten Sitte des Opiumrauchens geworden. Man berichtete, dass bereits 1906 ca. 20% der erwachsenen chinesischen Bevölkerung Opium rauchten und dass damals etwa 40 Millionen Chinesen opiumsüchtig waren. Zusätzlich exportierten England, Frankreich, Deutschland und die
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Schweiz große Mengen von Morphium und Heroin nach China. Der zunehmende Heroinmissbrauch in diesem Land war dementsprechend weniger besonderen „Eigenschaften der Substanz Heroin zuzuschreiben als dem Wirtschaftsimperialismus jener Zeit“ (2, 3). In Ägypten wiederum kam es in den späten zwanziger Jahren zu einer rapiden Zunahme des Heroinmissbrauchs, die durch die Aktivitäten des Herrn Russel Pascha bald internationale Aufmerksamkeit und Besorgnis hervorrief und letztlich dazu führte, dass innerhalb des Völkerbundes Heroin als besondere Problemdroge Behandlung fand. Man schätzte in Ägypten Ende der zwanziger Jahre die Zahl der Süchtigen auf rund 500.000 bei einer Gesamtpopulation von etwa 40 Millionen. Von dieser süchtigen Population wieder sollen rund 50% heroinabhängig gewesen sein. Bereits damals herrschte jedoch weitgehend Unklarheit darüber, warum gerade in Ägypten und damals gerade der Heroingebrauch derart epidemische Ausmaße annehmen konnte. Als Grund wurde vermutet, dass eventuell die fälschliche Verwendung der Substanz als potenzförderndes Mittel diese Situation hervorgerufen habe. Dann wäre allerdings das Heroinproblem im Ägypten der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre das Resultat einer Verschränkung zwischen falscher Wirkungszuschreibung und historischem Zufall gewesen (4, 5, 6, 7). Die Entwicklung des Heroinmissbrauchs und der Heroinkontrolle in den USA wurde bereits mehrfach in gut zugänglichen Untersuchungen dargestellt. (1, 8, 9, 10). Als Klassiker dieses Themas gilt Lindesmith. Gleich eingangs soll außerdem festgehalten werden, dass in den USA in der Zwischenkriegszeit insofern eine besondere Situation bestand, als einerseits die USA das Land waren, in dem der Opiatgebrauch explodierte und andererseits einschränkende Maßnahmen, die sich gegen diesen Gebrauch richteten, bereits relativ weit fortgeschritten waren, als die Kampagne gegen das Heroin ihren Höhepunkt erreichte (11). Die besondere
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
Kontrolllage in den USA war allerdings die Kehrseite davon, dass in keinem anderen Land vergleichbar viel Opium und Opiate gebraucht wurden. Lewin, 1929, zeigte auf, dass zunächst der Opiumgebrauch in den Bundesstaaten anstieg, in denen Alkoholprohibition eingeführt wurde. In Albany z.B. wuchs um 1900 die Bevölkerung um 59%. Der Opiumgebrauch hingegen stieg in diesem Bundesstaat um 900% an, der des Morphiums um 1100%. 1921 wurde angegeben, dass die USA zwölfmal mehr Opium verbrauchten als irgendein anderes Volk der Welt. Jedes Jahr wurden 750.000 Pfund Opium eingeführt, der medizinische Bedarf betrug aber nicht mehr als 70.000 Pfund. Und schließlich betrug der Zuwachs jener, die wegen der Überschreitung des Opiumgesetzes in den Jahren 1918 bis 1921 inhaftiert wurden, 789%.
Die Heroinmythologie Die Untersuchung der amerikanischen Situation jener Zeit ist der einzige Weg zu einem Verständnis der Entwicklung der Heroinprohibition und der Explikation der Genese der Heroinmythologie. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die Argumente, die damals gegen Heroin vorgebracht wurden, zu analysieren, ihre Glaubwürdigkeit herauszuarbeiten und den Stellenwert, den sie bis heute haben, zu bestimmen. Trebach, 1982, beschreibt, dass die Dämonisierung von Heroin in den USA während des Ersten Weltkriegs einsetzte und in verschiedenen gesellschaftlichen Lagern Verbreitung fand. Die Ebenen der Dämonisierung von Heroin in den USA Eine Veränderung in der Einstellung zur medizinischen Verwendung des Heroin Etwa ab 1916 äußerten mehr und mehr Ärzte Bedenken hinsichtlich der Anwendung des Heroin. 1919 wurde von einem Expertenkomitee des Schatzmeisters festgestellt, dass der medizinische Bedarf an Heroin unwesentlich sei und dass es durch
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andere Opioide, die weniger riskant seien und weniger häufig zur Sucht führen, ersetzbar sei. 1920 nahm dann das Delegiertenhaus der Amerikanischen Ärztlichen Gesellschaft eine Resolution an, die besagte, dass Heroin aus allen medizinischen Zubereitungen entfernt werden solle, dass es nicht angewendet, verschrieben und abgegeben werden solle und dass der Import, die Herstellung und der Verkauf von Heroin in den Vereinigten Staaten verboten werden solle. Gleichzeitig wurde ein neues Expertengremium innerhalb der Ärztlichen Gesellschaft gegründet, das sich zur Hälfte aus Personen zusammensetzte, die einen äußerst restriktiven Standpunkt vertraten. Dabei handelte es sich um Dr. Thomas R. Blair and Dr. Alfred P. Prentice, die offenkundig nicht nur die Droge selbst, sondern auch ihre Opfer nicht leiden konnten. Sie sprachen sich gegen ambulante Behandlung aus, forderten hingegen abrupte Entzüge und Haftstrafen für Abhängige. Dr. Blair forderte die Ärzteschaft auf, sich den Polizeistandpunkt anzueignen und meinte, dass die Gesetze gegen die Suchtgifte den Ärzten helfen könnten, sich „von der Last der Behandlung Abhängiger zu befreien“. Am 29. Dezember 1923 verbot dann der Generalsarzt der amerikanischen Armee den Gebrauch des Heroin für die Armee und gab die Anweisung, dass die Lager zu vernichten seien. Im Februar 1924 konnte er dann berichten, dass der erhoffte Erfolg eingetreten sei. Politische Pressure groups: die Prohibitionisten 1918 wurde eine außenpolitische Vereinigung (Foreign Police Association) gegründet, die die Gründung und die Prinzipien des Völkerbundes unterstützen sollte. Dieser politische Körper beteiligte sich am Kampf gegen das Heroin. 1924 wurde von ihm ein Pamphlet namens „Der Fall Heroin“ (A Case Against Heroin) veröffentlicht, das aus einem Hearing, das am 3. 4. 1924 stattfand, hervorging. Diese
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Veranstaltung lässt sich als Hauptquelle der Heroin-Mythologie vom USA-Typ orten. Sie diente der inhaltlichen Gestaltung einer legislativen Maßnahme, die darauf abzielte, den Import von Rohopium für die Heroinherstellung zu verbieten. Im Rahmen dieses Hearings verliehen Experten aus der Medizin, der Rechtsprechung, der Gesundheits- und Sozialpolitik, des Gefängniswesens etc. ihrer Einschätzung des Heroinproblems Ausdruck. Von diesen Experten wurden eine ganze Reihe von wilden Spekulationen und fehlerhaften Einschätzungen von Heroin vorgetragen. Diese Aussagen wurden vom Komitee gegen den Opiumhandel der „Foreign Policy Association“ in der obgenannten Broschüre in die Öffentlichkeit gebracht. Der Titelseite dieser Broschüre ist folgende Einschätzung von Heroin zu entnehmen: 1. Heroin ist in der medizinischen Praxis nicht notwendig 2. Heroin zerstört jeglichen Sinn moralischer Verantwortlichkeit 3. Heroin ist die Droge der Kriminellen 4. Heroin rekrutiert sich aus dem Heer von Jugendlichen 5. Heroin kann nur durch internationales Handeln eliminiert werden. Abgesichert waren diese Feststellungen und Vorschläge durch Expertenaussagen, unter denen sich unter anderem folgende Wirkungszuschreibungen an das Heroin finden: – Heroin zerstört das Verantwortungsgefühl und den Herdentrieb. – Heroin verwandelt ein menschliches Wesen in einen „unmoralischen Wilden“. Ebenfalls 1924 starteten entsprechende Aktivitäten auf Kongressebene. Am 3. April fand eine Sitzung statt, die dem Zweck diente, die Grundlage für die gesetzliche Festschreibung zu erarbeiten, dass importiertes Rohopium nicht zu Heroin verarbeitet werden dürfe. Anlässlich dieser Sitzung traten 5 Experten auf, die erneut die bereits vorhin
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beschriebenen Wirkungszuschreibungen vornahmen. Zusätzlich wurden noch andere Behauptungen geäußert: – Heroingebrauch führt zum Wahnsinn. – Heroin vereinigt die Wirkungen des Kokains und Morphiums in sich. „Es ruft eine Erregung wie Kokain hervor und auch die sedierende Aktion von Morphin“ (so behauptet vom Vertreter der AMA, Dr. Ch. Richardson). Derselbe Autor meinte auch, dass das Heroin durch jedes andere Morphin ersetzt werden könne, denn das Einzige, das am Heroin hervorsteche, sei, dass es „mehr Vergnügen mache, es zu nehmen“. Schließlich wurde geäußert, dass außerdem weniger als 1% der Heroinabhängigen die Substanz als Arzneimittel verordnet bekommen hätte. Daher sei die Heroinfrage keine medizinische, da „die Heroinsüchtigen dem Laster und dem Verbrechen entspringen“. Folgerichtig wurde gefordert: „Die ganze Gesellschaft muss sich selbst vor dem Einfluss des Bösen schützen und es gibt kein größeres Übel als das Heroin“ (Dr. Hubbard, Gesundheitsbüro, New York City). Ein interessanter Nebenaspekt dieses Treffens des Repräsentantenhauses besteht darin, dass eine schriftliche Aussage aus Österreich vorgelegt wurde. Dr. KnafflLenz, ein Wiener Arzt, hatte geschrieben, dass „Heroin unvergleichlich giftiger sei als Morphium“ und dass „die therapeutische Dosis kaum geringer sei als die toxische Dosis“. Es bedarf wohl keiner weiteren Belege dafür, dass in diesem Verfahren gegen das Heroin Mythen entstanden und in Umlauf gebracht wurden und dass die Substanz selbst dämonisiert wurde. Trebach weist darauf hin, dass nahezu jedes Faktum, das gegen das Heroin unter Eid bezeugt wurde, jeder empirischen Grundlage entbehrte. Aber alle diese Fehlinterpretationen wurden ohne jede Diskussion akzeptiert. In der Folge verabschiedete der US-Kongress die entsprechenden Gesetze im Juni 1924.
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
Die legislative Entwicklung Die legislative Entwicklung wurde vom „Krieg gegen die Drogen“ begleitet, der auf den Straßen und in den Medien wütete. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen fanden zahllose Kampagnen gegen Suchtgifte, besonders aber gegen das Heroin, statt. Die Einstellung, die diese Kampagnen steuerte, verrät sich in den Slogans, die zum Einsatz kamen. So verlautete etwa eine Rundfunksendung: „... Drogenabhängigkeit ist ansteckender und schlechter zu behandeln als die Lepra. Die Drogenabhängigen sind die hauptsächlichen Überträger der Krankheiten der Laster ... Mit dieser Frage ist der Fortgang der Zivilisation, das Schicksal der Welt und die Zukunft der menschlichen Rasse verbunden.“ Autoren, die der Dämonisierung entgegentraten, kamen nicht zum Zug. Der bedeutendste von diesen war vielleicht Kolb (12, 12a). Er vertrat einen Standpunkt, der dem vorhin dargestellten, dominierenden, in vielem entgegengesetzt war. Vor allem meinte er, dass nicht der Heroingebrauch die Süchtigen zu Verbrechern mache, sondern dass Gewohnheitsverbrecher aufgrund ihrer psychopathischen Anlage stärker zum Missbrauch von Suchtgiften tendieren als Normale. Mit geziemender Vorsicht wies er darauf hin, dass möglicherweise das Heroin Gewaltdelikte verhindere. Die Substanz mache aus „gewalttätigen Trunkenbolden nüchterne, feige, angriffsunlustige Nichtstuer und Tagediebe“, es gebe keine „Heroin-Helden“. Eventuell als Ausdruck dieses Effektes habe in der „Heroinstadt“ New York in den Jahren 1912 bis 1923 die Häufigkeit der Totschlagdelikte leicht fallende Tendenz gezeigt, während es in der „Morphinstadt“ Chicago im selben Zeitraum zu einer deutlichen Zunahme dieser Delikte gekommen sei. Von den Experten, die die Prohibition vorantrieben, wurden weder psychologische Faktoren auf Seiten der Heroingebraucher akzeptiert, noch wurde die Phänomenologie der Sucht im Kontext der sozio-kulturellen und historischen Bedingun-
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gen interpretiert. Dadurch war es möglich, die Auswirkungen der restriktiven Gesetzeslage auf die Entwicklung der Heroinproblematik zu übersehen und die Substanz selbst für jene Verhältnisse verantwortlich zu machen, die eindeutig auf die Kontrollsituation zurückzuführen waren. Es entstand damit eine substanz-zentrierte Interpretationsweise, der bestimmte Verfechter repressiver Maßnahmen – aber auch Heroinabhängige selbst – bis heute anhängen, in der soziale bzw. gesellschaftliche Bedingungen des Konsums außer Acht gelassen werden, der Kausalzusammenhang zwischen Drogeneinnahme und -effekt, Gesellschaft und individuellen Schäden verdreht und sozial bedingte und pharmakologisch bedingte Schäden des Heroinkonsums in unzulässiger Weise vermengt werden. Die Substanz, die 1924 unter dem Namen „Heroin“ verurteilt wurde, war eigentlich eine Fiktion, ein mythischer Stoff, eine wahre Büchse der Pandora. Sie hat mit dem realen Stoff Diazetylmorphin nicht allzu viel gemein. Der endgültige Schritt allerdings hinsichtlich der Kriminalisierung des Heroin in den USA fand 1956 statt, als der Narcotic Drug Control Act in Kraft trat. Der Kongress erklärte darin Heroin zur Konterbande, der kein medizinischer Nutzen zukomme. Der medizinische Gebrauch wurde folgerichtig verboten. Dadurch wurde in den USA Heroin gänzlich illegal. Es konnte nunmehr ohne Entschädigung eingezogen werden. Immer noch wurde aber zwischen Drogenbesitz, Drogenverkauf und Drogenverkauf an Minderjährige diskriminiert. Diese amerikanische Gesetzeslage bereitete den Weg für die Sonderstellung, die dem Heroin in der Einzigen Suchtgiftkonvention 1961 zugeordnet wurde. Mit diesem internationalen Vertragswerk wurde schließlich der amerikanische Traum Wirklichkeit; die internationale Suchtgiftkontrolle wurde nach der amerikanischen Vorstellung gestaltet. Allerdings wurde in den USA auch später noch die Heroinkontrolle verschärft. Im „Federal Comprehensive Drug Abuse Pre-
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vention and Control Act of 1970“ wurde Heroin als Schedule-I-Substanz klassifiziert, wodurch erneut bestätigt wurde, dass es für das Heroin keinen akzeptierten medizinischen Gebrauch in der Behandlung in den USA gebe. Auch diese Zuordnung befand sich in Übereinstimmung mit der Klassifizierung innerhalb der Einzigen Suchtgiftkonvention und definiert den offiziellen legalen und medizinischen Status der Substanz – nicht nur in Amerika.
Heroin in Europa Während, wie vorhin gesagt, die Geschichte des Heroinproblems in den USA bereits mehrfach bearbeitet wurde und heute als gut bekannt gelten kann, ist die historische Aufarbeitung der diesbezüglichen europäischen Verhältnisse noch ausständig. Sie kann auch hier nur skizzenhaft nachgezeichnet werden. Aufgrund der sozialpolitischen Situation, insbesondere der Art und Weise, wie der Suchtgiftgebrauch reguliert wurde und welche Daten darüber angelegt wurden, kann der tatsächliche Umfang des Gebrauches und Missbrauches von Diazetylmorphin in der Zwischenkriegszeit nicht mit ausreichender Sicherheit retrospektiv erfasst werden. Zu dieser Schwierigkeit äußerte sich Bonhoeffer bereits 1925 (13), und Redlich (1931) (14) vertrat überhaupt den Standpunkt, dass es bei der Lage der Dinge keine verlässliche Suchtstatistik geben könne. Nun sind wir andererseits auch heute trotz aller entwickelten Kontroll- und Datensysteme hinsichtlich der Epidemiologie des Suchtgiftgebrauchs immer noch auf Schätzungen und Dunkelfeldannahmen angewiesen. Dementsprechend sollten wir uns nicht von der Schwäche des vorliegenden Datenmaterials abschrecken lassen, die Situation der Zwischenkriegszeit zu erfassen und die damaligen europäischen Verhältnisse als eine Art Modell für eine Epoche, in der Heroin medizinisch verordnet werden konnte und in der es gleichzeitig als Schwarzmarktdroge interessant zu werden begann, zu verwenden. In dieser Mo-
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dellsituation scheint es möglich, den Stellenwert von Diazetylmorphin als – wie man heute meint – besonders begehrenswerter und begehrter Suchtdroge relativ unbeeinflusst von anderen intervenierenden Variablen zu erfassen. Wir sind in der retrospektiven Erfassung der Suchtproblematik in der Zwischenkriegszeit auf klinische Daten, medizinische Indikatoren der Auffälligkeit angewiesen. Andere wissenschaftliche Datenquellen lassen sich für die Beantwortung der vorhin definierten Fragestellung nicht systematisch heranziehen. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Sekundäranalyse der medizinischen Literatur der Jahre 1920–1955. Als Quelle dienten vor allem das Zentralblatt für Neurologie und Psychiatrie, das Abstrakta der interessanten Zeitschriftenartikel aus allen europäischen Ländern und in begrenztem Umfang auch aus den USA zum Abdruck brachte, weiters psychiatrisch-neurologische, gerichtspsychiatrische, rechtsmedizinische und kriminologische Periodika, Monographien, Lehr- und Handbücher. Ergänzend wurde darüber hinaus auch in der außerwissenschaftlichen Literatur nach Texten Ausschau gehalten, denen Informationen über Heroingebrauch und Heroinismus entnommen werden konnten. Ergebnisse der Literaturanalyse 1920–1945 Im untersuchten Zeitraum lassen sich nur ganz wenige Untersuchungen in der uns zugänglichen Fachliteratur finden, in denen Heroin und/oder Heroinmissbrauch und der darauf einsetzende soziale Respons zentral behandelt werden. Abgesehen von einzelnen Falldarstellungen in der Schweizer und der Französischen Literatur ließen sich im deutschen Sprachraum drei entsprechende Aufsätze aus den Jahren 1926, 1931 und 1934 finden. Darüber hinaus existieren vereinzelte Hinweise auf Heroinabhängigkeit in jenen Untersuchungen, die den Stand des Morphinismus in den entsprechenden Jahren
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
zur Darstellung brachten. Nimmt man jene Texte als Indikatoren für die Verbreitung der Heroinabhängigkeit und diese wieder als Indikator für die Verbreitung des außermedizinischen Gebrauchs der Substanz, dann ergibt sich der Schluss, dass das Diazetylmorphin innerhalb des Morphinismus in nahezu allen europäischen Ländern eine nur untergeordnete Rolle spielte. Der Heroingebrauch stieg in diesen Ländern in jenen Jahren nicht analog zum allgemeinen Morphingebrauch an, in denen eine Zunahme des Morphinismus erkennbar wurde und er scheint auch nicht zugenommen zu haben, als sich in Europas Metropolen Zentralen für den Schmuggel nach Ägypten und in die USA etablierten. Von lokalhistorischem Interesse ist es, dass Wien in dieser Hinsicht eine besonders bedeutende Position eingenommen haben soll. In Polizeiberichten, Sittengeschichten etc. lassen sich Berichte über den illegalen Handel mit Opiaten und speziell auch mit Heroin finden. Zentren sollen neben Wien und Marseille interessanterweise auch Ungarn und die Tschechoslowakei gewesen sein. Ein Aspekt, den die Berichte aus den Behandlungsstätten beleuchten, ist von besonderem Interesse. Es wurde recht einhellig festgestellt, dass sich eine gewisse Veränderung in der morphinistischen Klientel ergeben hatte; der iatrogene Anteil war geringer geworden und der Großteil der Morphinisten hatte die Droge als Genussmittel gebraucht. Diese Motivverschiebung und die soziale und psychische Struktur, die an dieser neuen Klientel beschrieben wurde, ließ sie den amerikanischen Heroinisten vergleichbar erscheinen. Dennoch wurde in Ländern wie Deutschland, Österreich und Ungarn offenkundig auch von dieser Gruppe weiterhin das Morphium bevorzugt. Zumindest wurde die Gelegenheit nicht wahrgenommen, das Heroin über die zahlreich vorhandenen illegalen Kanäle zu erhalten. Die kleine Gruppe der Heroinisten, die damals in Deutschland existierte, ist allerdings innerhalb dieser neuen Klientel zu finden, wie aus dem einzigen Aufsatz her-
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vorgeht, der die diesbezüglichen Verhältnisse in der medizinischen Fachliteratur dokumentierte. Dabei handelt es sich um einen Aufsatz des Hamburger Quarantänearztes Arnold Kohfahl, der 1926 erschien (15). Dieser Autor berichtete über Eindrücke, die er im Krankenhaus Eppendorf hatte sammeln können. Außerdem hatte er Einblick in das Material nehmen können, das die Hamburger Polizeibehörde über den unerlaubten Verkehr mit Rauschgiften angelegt hatte. Wohl aus letzterer Quelle stammt die Information darüber, dass Heroin als „Eetsch“ meistens von sich herumtreibenden Seeleuten angeboten werde und dass 60% der im Jahr 1924 deshalb wegen Rauschgifthandels verhafteten Personen Ausländer gewesen seien. Als Konsumenten wurden „meist arbeitsscheue Individuen beiderlei Geschlechts, außerdem die Halbwelt“ identifiziert. Kohfahl schrieb: „Wir finden Heroinisten unter den Prostituierten, die sich durch den Heroingenuss in die für ihr Gewerbe nötige Gleichgültigkeit hineinzuversetzen suchen. Alkoholisten kommen in den Gasthäusern, ev. durch Bekannte zum Heroin; ferner findet man Heroinisten unter Artisten zweiten Ranges, Berufsmusikern, Kellnern, kurz, unter all den Berufen, die in Nachtlokalen ihr Brot verdienen. Vor allem aber sind es die Seeleute, die das Hauptkontingent an Heroinsüchtigen stellen und die dadurch, dass sie von Hafen zu Hafen ziehen, für die Weiterverbreitung der Heroinsucht eine verhängnisvolle Rolle spielen“. Durch diese Darstellung wird Kohfahls Text zu einer wichtigen Quelle, da er der Einzige ist, dem innerhalb der medizinischen Literatur Angaben über das Bestehen einer Heroinisten-Subkultur entnommen werden können, wenn sich diese scheinbar auch nicht wesenhaft von jener Gruppe unterschied, die in anderen zeitgenössischen Darstellungen als KokainSubkultur Darstellung fand. Hinsichtlich der hospitalisierten Fälle, die der Autor beobachtete, bestehen leider keine gleichwertigen Aussagen. Wir erfahren lediglich, dass die in Friedrichsberg be-
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obachteten Patienten den durch Heroin hervorgerufenen Zustand als „großes Wohlbehagen“ schilderten, dass sie angaben, das Heroin „belebe die Nerven“, „mache angenehm müde und schläfrig“, „man denke an nichts“. An wie vielen Patienten er seine Beobachtungen machte, welche Auffälligkeiten sie boten, welches psychopathologische Bild und soziologische Profil sie boten, darüber erfahren wir aus dieser Arbeit nichts. Dementsprechend liegt der Verdacht nahe, dass es sich nur um recht wenig Fälle gehandelt hat. Insgesamt lieferte er in seinem Bericht über die Hamburger Drogenszene mehr Informationen über New York als über Hamburg. Wie gering die klinische Erfahrung mit dem Heroinismus in Deutschland offenkundig tatsächlich war, lässt sich auch daraus schließen, dass Stringaris 1934 aus der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik in Heidelberg einen Aufsatz „Zur Frage des Heroinismus und seiner Verbreitung“ veröffentlichte, in dem er die deutsche Situation nicht einmal erwähnte (16). Vielmehr gab er die Erfahrungen wieder, die er in Athen an 30 Fällen gewinnen hatte können. In Griechenland war es Ende der 20er-Jahre zu einem merklichen Anstieg des Heroingebrauchs gekommen. Außermedizinische Literaturquellen Es ist nicht gelungen, für den deutschsprachigen Raum literarische Texte aufzustöbern, die eventuell Informationen über eine Verbreitung des Heroinismus oder über eine eventuell bestehende HeroinSubkultur in der Zwischenkriegszeit beinhalten würden. Wird in der deutschsprachigen Belletristik oder in Zeitschriftenartikeln aus jener Zeit Drogengebrauch und Sucht geschildert, dann geschieht dies fast ausschließlich anhand des Morphinismus und des Kokainismus. Zu diesen Süchten gibt es eine Fülle von Texten, die so bekannte Autoren als Verfasser aufweisen wie Ernst Weiss oder Max Brod. Daneben lassen sich Kuriosa
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auffinden, wie ein Theaterstück namens „Morphium“, das von einem Wiener Autor mit dem Ziel der Abschreckung verfasst worden war und deshalb erwähnenswert ist, weil der Buchausgabe kein Geringerer als Wagner-Jauregg ein Geleitwort mit auf den Weg schickte (17). Aus Frankreich gibt es Zeugnisse für Heroingebrauch, vor allem für das Milieu des Surrealismus und der parasurrealistischen Gruppierung „Le Grand Jeu“. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Drieu la Rochelle’s Roman „Das Irrlicht“, in dem der Autor das Schicksal seines früheren Freundes, Jaques Rigaut, auf kritische Weise verarbeitet (18). Einen Einblick in das Milieu des „Grand jeu“ gibt Roger Vaillant in seinem autobiographisch getönten Roman „La fete“ (19). Über Vaillant schrieb Claude Roy 1967, dass dieser eine jahrelange methodische Erfahrung mit der Droge hinter sich gebracht habe, bevor er sich der kommunistischen Bewegung anschloss (20). Weiters ist eine der Heldinnen von Salvadore Dali’s Roman „Verborgene Gesichter“ heroinabhängig (21). Ein bemerkenswertes Dokument der französischen Situation repräsentiert der Roman „Le Vin e Tire“ von Robert Desnos (22). Eine spezielle Position nimmt Antonin Artaud ein. Einerseits ist seinem Briefwechsel zu entnehmen, dass er sich zum Heroinkonsum bekannte und die Heroinprohibition heftig bekämpfte. Andererseits meinte Gaston Ferdiere, der Arzt von Antonin Artaud, dass der Dichter wie viele andere Künstler und Surrealisten auch, gelegentlich Drogen genommen habe, aber nicht süchtig gewesen sei (23). Heroin in Frankreich Diese literarischen Zeugnisse spiegeln wider, dass Frankreich in der europäischen Problemlage eine Ausnahme gebildet zu haben scheint. In diesem Land trat Anfang der 30er-Jahre eine Veränderung der Drogenszene ein. Es kam gleichzeitig zu einer starken Verringerung des Angebo-
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
tes der traditionell gebrauchten Drogen Kokain und Opium und zu einem massiven Angebot von Heroin auf dem illegalen Markt. Es waren neue Routen des Schwarzmarktes entstanden: ein Landweg, der vom nahen Osten ausgehend über Istanbul, Belgrad, Sofia und Wien nach Paris führte und ein Seeweg, die berühmte gewordene French Connection, die ebenfalls im nahen Osten ihren Ausgang nehmend über Istanbul, Beirut, Smyrna, Triest oder Genua nach Marseille führte (23a). Damals soll es in Frankreich als Endstation vor der Verteilung in weitere Länder – vorzugsweise die USA – dazu gekommen sein, dass die Drogenkonsumenten das Heroin für alle anderen Substanzen substituierten. Zunächst trat die neue Konsumsitte in Gestalt des Heroinschnupfens in Erscheinung. Diese Technik erlaubte es den Kokainisten, leichter auf die neu verbreitete Substanz umzusteigen. Es sollen aber auch zuvor injizierende Morphinisten die Sitte des Schnupfens aufgegriffen haben. Als allerdings das Angebot wieder nachließ und der Preis stieg wurde nunmehr Heroin injiziert – und erstmals wird auch intravenöser Gebrauch der Droge in Europa beschrieben. Auch die Drogenszene selbst soll sich, im Sinne einer „Demokratisierung“ verändert haben. Zunehmend fanden sich in ihr Vertreter aller sozialen Schichten und als Folge davon sollen sich die ursprünglichen Morphinisten aus dem gehobenen Milieu auch mehr und mehr aus der Szene entfernt haben. Auch dies geht aus den literarischen Quellen hervor. Es wird deutlich, dass ein bestimmter Anteil der französischen Boheme in der Zwischenkriegszeit auch Heroin gebrauchte. Die bevorzugte Form des Drogengebrauchs allerdings scheint – abgesehen vom Kokaingebrauch – in diesen Kreisen das Opiumrauchen geblieben zu sein. Der Held des „Irrlichts“ ist gerade aufgrund seiner Konsumsitte auch unter den Drogengebrauchern ein Fremder. Der bereits erwähnte Roman „Le Vin est tire ...“ des surrealistischen Schriftstellers Robert
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Desnos, der selbst als Drogenkonsument bekannt war, dokumentiert diese neue gesellschaftliche Situation in anschaulicher Weise. Diese Heroinepisode in Frankreich hielt allerdings nicht lange an. Mit 1939 verändert sich die Sachlage. Zum einen griffen verschärfte Gesetze in Frankreich selbst, zum andern führte die politische Lage in Europa dazu, dass Grenzen geschlossen wurden und daher Transporte, die lange Routen nutzten, nicht mehr möglich waren. Die Depots leerten sich und in Frankreich wie in anderen europäischen Ländern stieg die Bedeutung der synthetischen Opiate auch für den außermedizinischen Gebrauch (23). Als weiterer erwähnenswerter internationaler Kreis, in dem Heroin genommen wurde, ist der Zirkel um A. Crowley auszumachen, den dieser in seinem „Diary of a drug addict“ beschrieb (24). Crowley muss deshalb erwähnt werden, weil er mit seiner Person und seiner speziellen „satanistischen“ Spiritualität ein Element der Drogentradition in der Populärkultur repräsentiert. Schließlich scheint sein Portrait auch auf dem Cover des „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“-Albums der Beatles auf.
Kontrolle und Mythologie 1923 bis 1931 Als das Völkerbundkomitee 1923 seine erste Attacke gegen Heroin ritt, kann es zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich über amerikanische Informationen bezüglich der besonderen Schädlichkeit der Substanz verfügt haben. Wie wir gesehen haben, wiesen die europäischen Quellen zu dieser Zeit darauf hin, dass im eigenen geopolitischen Raum dem Heroin innerhalb des wachsenden Morphinismusproblems nur geringe Bedeutung zukam. Bei dem Stand der Verbreitung des Heroinismus und des faktischen Wissens darum in Europa, wie er 1931 bestand, nimmt es Wunder, dass in diesem Jahr anlässlich der Genfer Konventions-Konferenz ein europäisches Gutach-
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tergremium auftrat, das zur Frage der Heroinprohibition eine eindeutig repressive Position bezog. Diesem Gremium gehörten Experten aus Deutschland, England, Österreich und Frankreich an. Bedenkt man, wie gering der Erfahrungshintergrund dieses Gutachtens gewesen sein muss, dann ist es wohl gerechtfertigt, es als ein frühes europäisches Beispiel für mythologisches und dämonisierendes Denken bezüglich des Heroins zu bezeichnen. Als österreichischer Experte fungierte Knaffl-Lenz, der bei derartigen Anlässen offenkundig immer wieder in Erscheinung trat, obwohl er sonst in der österreichischen Literatur unauffindbar ist. Für Deutschland trat Wolff auf, der in Deutschland als Initiator und Bearbeiter einer Rundfrage über den Morphinismus und seine Behandlung in Deutschland in Erscheinung trat, aus der hervorging, dass dem Heroin und dem Heroinismus kein besonderer Stellenwert zuerkannt wurde und dass bezüglich dieser Gestalt des Morphinismus im damaligen Deutschland nur wenig Erfahrung bestand (4). Im Gutachten des Europäischen Expertengremiums hingegen wurde der Eindruck erweckt, dass die Experten über reichlich Erfahrung verfügen müssten. Es wurde darin darauf hingewiesen, dass die medizinische Nützlichkeit des Heroins bei weitem nicht seine soziale Schädlichkeit aufwiege, dass es bei Süchtigen besonders beliebt sei und dass es den Schwarzmarkt mit Opiaten aufrecht erhalte. Weiters wurde behauptet, Heroin sei besonders suchterzeugend und führe zu einer rascher progredienten und schwerer heilbaren Sucht als alle anderen Suchtgifte. Die plötzliche Entziehung, sonst die Behandlung der Wahl, könne im Fall des Heroinentzugs zu Krämpfen, ja selbst zum Tod durch Atemstillstand führen. Auch führe die Heroinsucht mehr als der Morphinismus zu einer degenerativen Veränderung der Persönlichkeiten: die psycho-physische Rekonvaleszenz verlaufe schwieriger als beim Morphinismus und es komme in der Regel zum Rückfall. Für Deutschland wies P. Wolff noch zusätzlich darauf hin, dass im Arzneiver-
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ordnungsbuch der Deutschen Arzneimittelkommission der Standpunkt vertreten werde, das Diazetylmorphin sei überflüssig und solle nicht mehr verordnet werden. Der österreichische Delegierte, Polizeidirektor Dr. Schultz, forderte die völlige Unterdrückung der Heroinproduktion.
Die Auswirkungen der amerikanischen Heroin-Mythologie auf die europäische Einstellung in der Zwischenkriegszeit Die Dämonisierung der Substanz, die seit den zwanziger Jahren betrieben wurde, beeinflusste offenkundig die reale Erkenntnis. Sie konnte dort umso wirksamer werden, wo die Erfahrungen über tatsächliche Auswirkungen des Heroins und der Heroinsucht recht gering waren. Dort konnte die Dämonisierung eventuell der realen Erfahrung zuvorkommen bzw. sie ersetzen. Das Europäische Expertenkomitee, das 1931 in Genf sein Gutachten über Heroin vortrug, konnte, wie der medizinhistorische Rückblick zeigt, sicherlich auf keine extensive Eigenerfahrung zurückgreifen und erstellte sein Gutachten zwangsläufig auf Basis der Generalisierung von Einzelbeobachtungen und unter Bezugnahme auf die Berichte aus Ägypten, China und den USA. Es übernahm offenbar kritiklos die dämonisierenden und prohibitiv intendierten Aussagen aus dem amerikanischen Schrifttum bzw. wohl auch aus dem Diskurs, der in international zusammengesetzten Gremien ablief. Die Autoren, die ihm angehörten, verabsäumten, andere, differenziertere Standpunkte in ihre Überlegungen einzubeziehen. Dabei waren etwa die Kolb’schen Aufsätze gut zugänglich. Sie waren, wie sich Kohfahls erwähntem Aufsatz entnehmen lässt, auch im Deutschen Sprachraum rezipiert worden. Sie verabsäumten auch zu erkennen, dass die amerikanische Situation des Heroingebrauchs innerhalb der zunehmenden Prohibitionsstrategie gewachsen war und nur in diesem gesellschaftspolitischen Kontext verstanden werden konnte. Dadurch muss-
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
te in letzter Konsequenz verkannt werden, dass die Ausweitung der amerikanischen Kontroll- und Prohibitionspolitik auf die Mitgliedstaaten des Völkerbundes wohl kaum dazu führen konnte, dass in den betroffenen Ländern das Heroinproblem eingeschränkt würde, sondern dass vielmehr die Internationalisierung der amerikanischen Respons-Strategie zu einer Internationalisierung jener Gestalt des Problems führen musste, die in den USA entstanden war. Wie weit die Beeinträchtigung der realen Erkenntnisse und selbst des bis dato gesicherten Wissens gehen konnte, lässt sich dem 1939 erschienenen Lehrbuch für Gerichtliche und Soziale Medizin von Müller und Walcher entnehmen (25). In ihm findet sich folgende Textstelle: „... Unter das Opiumgesetz fallen nicht nur Abkömmlinge des Opiums, z.B. das Morphin, sondern auch Stoffe, die chemisch nicht vom Opium hergeleitet werden, aber trotzdem von Rauschsüchtigen chronisch genossen werden, z.B. das Kokain und das Heroin.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte offenkundig selbst bei manchen Vertretern der medizinischen Wissenschaft das Heroin bereits seine Identität als Morphinderivat eingebüßt und war zu einer mythischen Substanz unbekannter Herkunft geworden. Man würde jedoch einer Fehleinschätzung verfallen, würde man die Heroinmythologie als ausschließlich aus den USA importiertes Gedankengut verstehen. Auch europäische Experten trugen ihren Teil zur Dämonisierung des Heroins bei. So meinte etwa Lewin, dass der Heroin-Entzug deshalb gefährlicher sei als der Morphin-Entzug, weil er kardiale Störungen verursache, die nur durch Morphingabe und nicht durch Heroinzufuhr beseitigt werden könnten (26). Und Europa blieb nicht von der Auffassung verschont, dass Morphium nach 30-maliger, Heroin aber nach 7-maliger Injektion zur Sucht führe. Diese ängstliche Vorstellung findet sich zum Beispiel bei Eichholtz in Laubenthalers Standardwerk „Sucht und Missbrauch“ (5).
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Andererseits schloss sich aber Europa zunächst der Prohibition nicht an. Im Widerspruch zu den amerikanischen Bestrebungen wurde Heroin produziert und vertraten europäische medizinische Experten den Standpunkt, dass das Heroin ein wichtiges Arzneimittel sei. De Ridder zitiert ausführlich den Beitrag des Französischen Delegierten zur vorhin ausführlich referierten Konferenz von 1931, der sich als vehementer Befürworter der medizinischen Verwendung der Substanz erwies. Ein interessantes Faktum, bedenkt man, dass Frankreich unter allen europäischen Ländern sich in jener Zeit noch am ehesten einer „Heroinepidemie“ ausgesetzt sah.
Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erneut von einer Zunahme der Süchtigkeit gesprochen. Lemke veröffentlichte 1950 einen Überblick über die ersten Nachkriegsjahre (27). Obwohl eine zahlenmäßige Zunahme der Süchtigen festzustellen war, – mehr Heroin wurde deshalb offenkundig nicht gebraucht. Zumindest stellte Lemke fest: „Wir erlebten oft, dass die Süchtigen beleidigt waren, wenn wir sie nach Morphiummissbrauch fragten, während sie die Einnahme anderer Opiumderivate ohne Zögern zugaben. Dolantin und Eukodal waren die am häufigsten gebrauchten Mittel, daneben in unregelmäßiger Folge Dilaudid, Dicodid, Pantopon, Paracodin ...“ 1955 veröffentlichte dann Dobroschke eine klinische Statistik bezüglich des Suchtproblems der Nachkriegszeit (28). Er machte folgende interessante Beobachtung: „Während bis zum Jahre 1948 die Morphingruppe noch durchaus vorherrscht, rückt 1949 vorübergehend das Phanodorm ... in den Vordergrund, es wird in den nächsten Jahren vom Polamidon abgelöst, das zunehmend in Mode kam, weil es ursprünglich nicht als Suchtmittel galt ...“ In der Folge beschrieb der Autor dann den
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Typ der aktuellen Polytoxikomanie. Heroin findet auch in dieser Beschreibung der Phänomenologie der Polytoxikomanie in der Nachkriegszeit nicht einmal Erwähnung. Langelüddeke gab 1959 diese Beobachtung in seinem „Lehrbuch der Gerichtlichen Psychiatrie“ wieder (29). Er schrieb auch: „... Unter ihnen (Opiumpräparate, d. Verf.) nahm früher das Heroin eine hervorragende Stellung als Suchtmittel ein; es wurde gern intravenös gespritzt. Jetzt ist es praktisch verschwunden; es war in Amerika sehr verbreitet und spielte früher in den Hafenvierteln in Hamburg eine gewisse Rolle.“ Dennoch führte das Bestreben nach einer Internationalisierung der Kontrolle des Suchtgiftproblems schließlich Anfang der 60er-Jahre zur Einzigen Suchtgiftkonvention, in der die Ausnahmestellung, die in den USA schon 1924 für das Heroin gefordert worden war, nunmehr als international verbindliches Recht festgeschrieben wurde. Damit wurde die internationale Karriere der Heroin-Mythologie, die in den USA ihren Ausgang genommen hatte, in den Rang einer Rechtsgrundlage gehoben und es wurde die dämonisierende Kontrolle der „bösen“ Substanz als Akt von hohem Symbolwert auf internationalem Niveau installiert. W.P. von Wartburg bemerkte dazu kritisch, dass die westliche Region die Klassifikation und das Schema der Einzigen Suchtgiftkonvention ohne jegliche Überprüfung der zugrunde liegenden Annahmen übernommen habe. Auch für die europäischen Unterzeichner der Einzigen Suchtgiftkonvention wurde der mythische Charakter der Substanz verbindlich. In klinischer Hinsicht war es wohl auch Anfang der 60er-Jahre nicht zu rechtfertigen, dem Heroin eine Sonderstellung als besonders gefährliches Opiat zuzuordnen. Andererseits war in vielen Ländern in der Zwischenzeit der illegale Handel mit Suchtgiften tatsächlich zu einem spürbaren gesellschaftspolitischen Problem geworden. Heroin nahm in dieser Hin-
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sicht eine bevorzugte Position ein. Es wurde zur Zeit der Fassung dieses Vertragswerkes jedoch erneut verabsäumt, den aktuellen Stand der Verbreitung der Heroinproduktion und des Heroingebrauchs im soziokulturellen Kontext zu verstehen, insbesondere die Bedeutung der Illegalisierung und medizinischen Ächtung der Substanz für den Schwarzmarkt und den außermedizinischen Gebrauch zu analysieren. Forschungsbedarf in diesem drogenpolitischen Bereich hätte es gerade zu dieser Zeit ausreichend gegeben. Schließlich entwickelte sich gerade in den späten 60erJahren die neue Drogenwelle, in der der außermedizinische Heroingebrauch nunmehr auch in Europa zu einer nicht mehr übersehbaren Realität mit tragischen Konsequenzen wurde und selbst in Großbritannien, das bislang traditionell eigene Wege gegangen war, dazu führte, dass mehr und mehr die Vorstellungen der internationalen Heroinkontrolle übernommen wurden (30, 31, 32, 33). In den meisten Unterzeichnerstaaten reduzierte sich innerhalb der medizinischen Praxis der Gebrauch des Heroin nach der Implementierung der Einzigen Suchtgiftkonvention. Aktuell ist der medizinische Gebrauch des Heroin in Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Island, Malta, Kanada und in beschränktem Ausmaß auch in der Schweiz zugelassen. Wurden 1962 noch in Frankreich 2,7 kg legalen Heroins medizinisch genutzt und betrug diese Menge noch 39 kg in Großbritannien und 8,5 kg in Belgien im Jahre 1963, ging die medizinische Anwendung in den 90er-Jahren noch weiter zurück. So wird etwa in Belgien geschätzt, dass die Menge, die für medizinische Zwecke gebraucht wird, zwischen 1,0 und 1,5 kg liegen dürfte.
Schlussfolgerungen Eine kritische Analyse der zugänglichen Literatur zur Epidemiologie und klinischen Bedeutung der Heroinabhängigkeit in der
Heroinmythologie und Heroinkontrolle
Epoche, in der die Heroinprohibition Gestalt annahm, lässt erkennen, dass sich Sapers eingangs erwähnte These hinsichtlich des Realitätsbezugs der Drogenpolitik bestätigen lässt (34, 35). Dieser spezielle Anteil unserer politischen Erfahrungswelt baut tatsächlich wenig auf Evidenz und viel auf Dämonisierung auf. Zunächst mündete im 20. Jahrhundert ein Gemisch aus moralischen, religiösen, sozialen und politischen Vorstellungen und konsumentenschützerischen Bestrebungen in einen Kreuzzug gegen Opiate und Opiatgebrauch. Anfangs scheint dieser Kampf gegen bestimmte kulturelle Fortschritte, wie die Entwicklung und die Zugänglichkeit von Opiaten und die Entdeckung der Injektionsspritze sowie gegen soziale Entwicklungen im Sinne von Veränderungen in den Gebrauchsmustern und den Verbraucherpopulationen gerichtet gewesen zu sein. Großen und weitgehend unterschätzten Einfluss dürfte in den USA auch die Verflechtung von ideologischen Einflüssen auf die Alkoholprohibition und von Kontrollstrategien gegen den Gebrauch von Opiaten ausgeübt haben. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann dann der „Krieg gegen Drogen“, der auch heute noch keineswegs als geschlagen gelten kann. Und wie jeder Krieg setzte er eine bestimmte Propaganda und eine bestimmte Rhetorik in Gang. In dieser Propagandaschlacht wurde dem Heroin die Position des absoluten Schurken zugewiesen. Die Rhetorik erwies sich als wirksam. Heroin wurde erfolgreich dämonisiert – und, wie nicht anders erwartbar, auf der Gegenseite (als „Szenedroge“) idealisiert. Dort, wo ein differenziertes Verständnis von Drogengebrauch als einem komplexen Phänomen vorliegt, das von Umwelt, Individuum und Droge gleichermaßen beeinflusst zu denken ist, besteht heute weitgehend Konsens darüber, dass das soziokulturelle Umfeld und damit auch alle Bereiche des sozialen Respons weitgehend Gestalt und Struktur des sozialen Phänomens „Gebrauch psychoaktiver Substanzen“ beeinflussen. Die besondere Be-
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achtung, die das Diazetylmorphin innerhalb der Suchtgiftgesetzgebung und auch unter den Opiatgebrauchern selbst heute findet, fußte auf einem moralischen Kreuzzug und entwickelte sich jenseits der pharmakologischen Realität aus einem Wechselspiel zwischen Dämonisierung, Mythisierung und militantem Kontrollanspruch. Unter Einbuße des Realitätsbezugs schaukelte sich dieses System im Sinne eines positiven Feedback-Mechanismus auf. Dieser Prozess setzte bald nach der Darstellung der Substanz ein und verläuft bis heute recht unverändert. Die (drogen)politische Wissenschaft steht vor der Aufgabe, sich der Frage zu stellen, wie sinnvoll es ist, ein bestimmtes Opiumderivat aus der Fülle verwandter Stoffe herauszugreifen und zu ächten. Auch wäre zu hinterfragen, ob der Ruf nach der totalen Kontrolle, der schließlich in der Einzigen Suchtgiftkonvention Erfüllung fand, zum Zeitpunkt der Konstruktion dieses internationalen Vertragswerkes noch aktuell war oder lediglich einer verspäteten Reaktion auf historische Zufälligkeiten entsprach und überdauernde Mythenbildung einleitete. In diesem Kontext müssen auch provokante Fragen und Untersuchungen über kontraproduktive Effekte der Kontrolle gestattet sein. Inwieweit hat die Dämonisierung des Diazetylmorphins den legendären Ruf der Substanz in der Drogenszene geradezu bewirkt? Inwieweit bekräftigt und fixiert die unermüdliche Verfolgung diesen Ruf? Dämonisierung ist schließlich nichts anderes als eine besondere Spielart der Idealisierung. Einzelne Experten in den USA fordern schon seit den 70er-Jahren eine Rücknahme der Prohibition. Wir haben mit Saper, einem dieser Autoren begonnen und schließen mit einer Wunschvorstellung eines anderen Autors aus den USA: „Wenn wir zurückblicken, sehen wir, dass eine Reihe kleiner Geschehnisse: einige Briefe eines Episcopal-Bischofs an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, einige fünf zu vier-Abstimmungen im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, die in die verkehrte Richtung gingen, die missglückte
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Auswahl von zwei der vier Mitglieder eines Komitees der Amerikanischen Ärztevereinigung den Gang der Geschichte beeinflusst haben. Wir können nur hoffen, dass die Darstellung der Fehler der Vergangenheit uns zu Weisheit in der Zukunft führen wird.“ Literatur 1. Saper A (1974) The making of policy trough myth, fantasy and historical accident: The making of Americas Narcotic Laws. Br J Addict 69: 181–193 2. Tandler J (1935) Volk in China. Thalia, Wien 3. Bellanger JL (1965) Die Jagd nach dem Drachen. Urania, Leipzig 4. Wolff P (1931) Über die Bewertung von Diacetylmorphin (Heroin) bei der Genfer Konventionskonferenz und über die Sucht in Ägypten. D Med WSchr, 11. Sept., 1590–1592; 1634–1637 5. Eichholtz F (1964) Pharmakologie und Toxikologie der wichtigsten Genußmittel und Suchtgifte. In: Laubenthal F (Hrsg) Sucht und Missbrauch. Thieme, Stuttgart 6. Brunngraber R (1951) Heroin. Roman der Rauschgifte. Volksbuchverlag, Wien 7. Glaser H (1959) Gifte. Helfer und Dämonen. Volksbuchverlag, Wien 8. Musto DF (1973) The American Disease. Yale Univ. Press, New Haven and London 8a Kramer JC (1972) A Brief History of Heroin Addiction in America. In: Smith DE, Gay GR (eds) Heroin in Perspective. Prentice Hall, Englewood Cliffs 9. Lindesmith AR (1968) Addiction and Opiates. Aldine, Chicago 10. Trebach AS (1982) The Heroin Solution. Yale Univ. Press, New Haven and London 11. Courtwright DT (1982) Dark Paradise. Opiate Addiction in America before 1940. Harvard Univ. Press, Cambridge 12. Kolb L, DU Mez AC (1924) The prevalence and trend of drug addiction in the United States and factors influencing it. Publ Health Rep 39: 11–79 12a Kolb L (1925) Drug addiction and its relation to crime. Mental Hygiene 9: 74 13. Bonhoeffer K, Ilberg G (1926) Über Verbreitung und Bekämpfung des Morphinismus und Kokainismus. Zschr f Psychiat 83: 228–249 14. Redlich F (1931) Grundsätzliches zur Suchtenstatistik. D Med WSchr 22: 928–929 15. Kohfahl A (1926) Über Heroinmissbrauch. Z f d ges gerichtl Med 8: 81–90
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Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte Alfred Springer In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Tendenz, das Spektrum der opiatgestützten Behandlung Opiatabhängiger um die ärztliche Abgabe des Diazetylmorphin (DAM) selbst an eine bestimmte Teilpopulation der Heroinabhängigen zu erweitern (1, 2, 3, 4, 5). Die besondere Positionierung des DAM in der Suchtmittelbekämpfung und der Umstand, dass die Substanz als Folge der Klassifizierung in der Einzigen Suchtgiftkonvention von 1962 in den meisten Ländern aus dem Arzneimittelschatz gestrichen worden war, machte es notwendig, dem erneuten medizinischen Einsatz der Substanz klinische Studien vorauszuschicken, um die heroingestützte Behandlung als neues Behandlungskonzept evidenzgestützt einführen zu können. Als erstes Land wagte sich die Schweiz an diese Aufgabe (6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, Uchtenhagen, diverse Artikel von 1994–1998; Rihs-Middel, 1997; 1999). Es folgten die Niederlande (14, 15, 16, 17) und Kanada (18). In Deutschland (19, 20) und in Spanien (21) sind entsprechende Experimente im Jahre 2003 etabliert worden. Für Australien wurde ein vergleichbares Projekt entworfen, jedoch aufgrund der politischen Verhältnisse bislang nicht implementiert (22, 23). In England wurde die ärztliche Verschreibung von Heroin an Opiatabhängige nie völlig sistiert. Dementsprechend verfügen wir aus diesem Land in einzigartiger Weise über Ergebnisse des Routineeinsatzes dieser Behandlungsmethode (24, 25, 26, 27, 28).
Die neue Entwicklung kann sich auf den Europäischen Drogenaktionsplan (29) berufen. Unter den sechs Hauptzielen, die in dieser internationalen Zielvorgabe für die Periode 2000 bis 2005 genannt wurden, fanden sich drei Ziele, mit denen die Erweiterung des Angebots schadensreduzierender Maßnahmen allgemein und insbesondere auch die spezifische Verbreiterung des Substitutionsangebotes in Einklang stehen: – Hauptziel 2: Die Auswirkungen drogenbedingter Krankheiten und die Anzahl der Drogentoten sollen in den nächsten 5 Jahren verringert werden. – Hauptziel 3: Erhebliche Steigerung der Anzahl erfolgreich behandelter Drogenabhängiger. – Hauptziel 5: Erhebliche Verringerung der Anzahl der Drogenstraftaten in den nächsten 5 Jahren. Charakteristika der experimentellen heroingestützten Behandlung: – Versuche mit der heroingestützten Behandlung beruhen auf einem Ungenügen hinsichtlich der Effizienz der oralen Substitutionsbehandlung. Auch in jenen Ländern, in denen das Substitutionsprogramm anscheinend gut ausgebaut war, wurde erkennbar, dass das Angebot der Substitutionsbehandlung mit Methadon allein nicht ausreicht, relevante Segmente der Opiatabhängigen in Behandlung zu bringen. Als Zielgruppe des Angebots der heroingestützten Behandlung gilt das kleine Segment von schwer und chronisch
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Heroinabhängigen, bei denen sich bereits mehrmals andere Behandlungen, einschließlich mindestens zweier Substitutionsversuche, als wirkungslos erwiesen haben. In den verschiedenen Ländern, in denen Heroinverschreibungsexperimente durchgeführt wurden, werden oder in Planung befindlich sind, sind die diesbezüglichen Einschlusskriterien in die Untersuchung sehr ähnlich. In der Schweiz ging man davon aus, dass diese Klientel weniger als 5% der Gesamtgruppe der Abhängigen ausmacht. In England werden derzeit etwa 450 Heroinabhängige – entsprechend 0,5% aller behandelten Heroinabhängigen – mit injizierbarem Heroin behandelt und man nimmt nicht an, dass sich diese Zahl in der näheren Zukunft signifikant erhöhen wird. Da gerade diese Segmente gleichzeitig diejenigen Abhängigen einschließen, die einerseits die injizierende Einnahme bevorzugen, darüber hinaus aber auch allgemein zu Verhalten mit hohem Risiko neigen, repräsentieren die Heroinversuche hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrunds eine Strategie im Konzept der Schadensbegrenzung. – Die Behandlung befindet sich noch im experimentellen Stadium. Man kann heute noch nicht davon sprechen, dass eine „Standardmethode“ entwickelt wurde. – Die Versuche mit der heroingestützten Behandlung sind ein drogenpolitischer Kompromiss. Aufgrund der Klassifizierung des Heroins als Schedule-4-Substanz in der Einzigen Suchtgiftkonvention und der populären Mythologie, die sich um die Substanz entwickelt hat, löst die Planung der entsprechenden Projekte regelmäßig drogenpolitische Kontroversen aus und benötigt die Umsetzung der Planung der Unterstützung durch politische Machthaber. Abgesehen von England, wo eine unvergleichbare Situation besteht, bestanden in allen Ländern, in denen heute Projekte zur heroingestützten Behandlung abgeschlossen sind oder gerade durchge-
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führt werden, lange Vorlaufzeiten, in denen die politische Willensbildung betrieben werden konnte. Wie stark die drogenpolitische Bedeutung der Projekte ist, zeigt sich daran, in welch unüblich starkem Ausmaß sich die politischen Entscheidungsträger identifizieren und engagieren. Dieses Engagement ist im Argumentarium des Schweizer Bundesrates für die heroingestützte Behandlung ebenso dokumentiert wie im Aktionsplan „Drogen und Sucht“ der Deutschen Bundesregierung. Ohne diese Haltung der Entscheidungsträger sind die Projekte nicht implementierbar, wie das Beispiel Australien zeigt. In diesem Land wurde die Notwendigkeit, ein heroinverschreibungsprogramm zu entwickeln, auf Expertenseite geortet und von diesen Experten ein entsprechender Entwurf erstellt. Lokale und/oder regionale Behörden ließen Bereitschaft zur Durchführung der Programme erkennen. Die Durchführung scheitert aber am Widerspruch übergeordneter politischer Instanzen. Wird die heroingestützte Behandlung implementiert, dient sie Zielvorstellungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Handlungs- und Aufgabenspektrums: – Gesundheitspolitische Zielvorstellungen: Diese entstammen dem Bereich der Sozialmedizin und sind eng mit dem Konzept der Schadensbegrenzung verbunden. Es geht darum, Opiatabhängige, die von den gebräuchlichen Behandlungsangeboten nicht Gebrauch machen wollen oder können, oder bereits mehrere erfolglose Therapieversuche hinter sich gebracht haben, in Behandlung zu bringen und darin zu halten den Beigebrauch von in der Szene gekauften Suchtmitteln zu beschränken. Dadurch soll deren individuelle gesundheitliche Lage gebessert werden, zum andern soll damit aber auch den Aufgaben der Infektionsprophylaxe entsprochen werden.
Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte
– Sicherheits- und ordnungspolitische Zielvorstellungen: Gelingt es, Personen, die dem harten Kern der lokalen Drogenszenen zuzuordnen sind, in Behandlung zu bringen, wird die Bedeutung dieser Szene und damit auch des illegalen Drogenmarktes geschwächt. Da damit auch eventuell verbunden ist, dass bisweilen störende szeneübliche Verhaltensweisen weniger in Erscheinung treten, wird ein sicherheits- und ordnungspolitisches Ziel erreicht. Aus diesem Grund entstehen durchaus zunächst eventuell unerwartete Allianzen zwischen Ärzten und Sozialarbeitern als Vertretern der Schadensbegrenzung und lokalen Sicherheitsorganen. Diese Verhältnisse wurden zum Beispiel im Merseyside-Projekt von John Marks deutlich und sind regelmäßig im drogenpolitischen Diskurs in England bis in die jüngste Vergangenheit zu beobachten. Prinzipiell ist diese Vorstellung im traditionellen „Britischen System“ verankert, wo man von „kompetitiver Verschreibung“ sprach. Das hohe Kontrollniveau, das in den Therapieversuchen besteht, ist ebenfalls drogenpolitisch motiviert. Es resultiert aus der Position des Heroin in der Einzigen Suchtgiftkonvention und der daraus abgeleiteten Kontrollverpflichtung der Unterzeichnerstaaten dieses internationalen Vertragswerks. Es ist nicht durch besondere Eigenarten der Substanz Heroin zu begründen. – Pädagogisch-präventive Zielvorstellungen: In der Schweiz wurde der Slogan „Von ,Heroinschick‘ zu ‚Heroinsick‘“ entwickelt. Es besteht die Vorstellung, dass die Attraktivität des Heroingebrauchs für junge Menschen dadurch reduziert wird, dass die Opiatabhängigen nicht mehr in einer „heroischen“ Szene ihre Droge gebrauchen, sondern, als krank definiert, die Substanz als Arzneimittel verordnet bekommen.
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Überblick über die internationalen Ergebnisse hinsichtlich der Zielvorgaben der Studien Obwohl die bislang durchgeführten Untersuchungen wissenschaftlich verschiedenartig konzeptualisiert und stilisiert wurden, ergaben sich bisher, unabhängig vom Design, in der Begleitforschung recht einheitliche Ergebnisse (30, 31, 32, 33, 34, 35). Soziale Verträglichkeit. Sowohl aus den Studien, die über bereits abgeschlossene Therapieversuche berichten (England, Schweiz, Niederlande), wie auch aus Berichten über Machbarkeitsstudien (Deutschland, Australien, Kanada) geht hervor, dass die heroingestützte Behandlung Opiatabhängiger „durchführbar“ ist und nach entsprechender Vorarbeit gut sozial verträglich zu sein scheint (36). Ethische Bewertung. In ethischer Hinsicht werden Heroinverschreibungsprojekte, die unter kontrollierten und standardisierten Bedingungen implementiert werden als unbedenklich eingestuft. Die Projekte, die wir überblicken, wurden in nationalen, regionalen und/oder akademischen Ethikkommissionen begutachtet und akzeptiert. Moralische Bedenken werden seitens kirchlicher Organisationen und seitens abstinenzorientierter Verbände (zum Beispiel der Heilsarmee in Australien) mehr oder weniger erfolgreich geltend gemacht. Auch die Bedenken, die seitens der Internationalen Kontrollbehörde geltend gemacht werden, sind nicht medizinischer, sondern moralischer und legistischer Art. Wie auch andere Interventionen aus dem Repertoire der Schadensreduktion sind auch die Heroinprojekte mit den Vorstellungen der praktischen „Alltagsethik“ (37) besser in Einklang zu bringen als mit fundamentalistischen Vorstellungen (38, 39). Therapeutische Effizienz. Dort wo Erfahrungen über Therapieverläufe vorliegen (England, Schweiz, Niederlande), wird die ärztliche Heroinverschreibung als sichere und praktikable Methode bezeichnet, wenn in der Betreuung Opiatabhängiger Therapieversagen oder bestimmte Ent-
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wicklungen beobachtbar werden, die eine Alternative zur oralen methadongestützten Behandlung beziehungsweise eine Erweiterung des Angebotes innerhalb eines bereits etablierten Systems arzneimittelgestützter Behandlung der Opiatabhängigkeit allgemein erforderlich erscheinen lassen. Es ist möglich den Heroingebrauch hinsichtlich Dosis und Verlangen zu stabilisieren. Haupteffekte. Als die beiden hauptsächlichen Erfolge der heroingestützten Behandlung wird in den Berichten über die Studien in der Schweiz und in den Niederlanden verbucht, dass die Heroinverschreibung es bewirke, dass bisher unzugängliche Opiatabhängige in ein therapeutisches Setting gebracht werden können und dass sich hinsichtlich der Haltekraft bei dieser Klientel die HeroinverschreibungsProgramme den anderen Substitutionsprogrammen gegenüber als überlegen erweisen. Rehabilitation. Es wird dargestellt, dass die heroingestützte Behandlung dazu beitragen kann, die sozialen, medizinischen und geistig-seelischen Bedingungen heroinabhängiger Personen günstig zu beeinflussen. Bei den Teilnehmern an den Versuchen nehmen während der Laufzeit der Studie die Kontakte zur Drogenszene in signifikanter Weise ab, ebenso die delinquenten Aktivitäten (40) (Kilias, 1998). Die Heroinvergabe wurde von Uchtenhagen aufgrund dieser Ergebnisse als eine außerordentlich erfolgreiche Einzelmaßnahme im Bereich der Kriminalitätsprävention bei Drogenabhängigen bezeichnet. Katamnestische Untersuchungen über einen Zeitraum von 6 Jahren, die in der Schweiz durchgeführt wurden, erbrachten das Ergebnis, dass die günstigen Entwicklungen die Zeit der konkreten Teilnahme an dem Projekt überdauerten. In den Niederlanden wurde die Beobachtung gemacht, dass der Zustand derjenigen Patienten, denen in der naturalistischen Follow-Up-Phase kein Heroin mehr verordnet wurde, sich signifikant verschlechterte.
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Dieses Ergebnis zeigt den stabilisierenden Effekt der Verlagerung der Abgabe in den medizinischen Handlungsbereich besonders deutlich. Diese Entwicklung ist ja nicht auf irgendwelche pharmakologischen Hintergründe zurückzuführen, sondern entspricht einer Reaktion auf die Versuchsbedingungen. Da von den Autoren der Studie beschrieben wurde, dass die Verschlechterung vor allem in der Häufigkeit der Szenekontakte und in erhöhtem Beikonsum von Kokain bestand, liegt die Interpretation nahe, dass in einer Situation, in der das Verlangen der Patienten von der medizinischen Versorgung nicht mehr befriedigt wird, die Bedeutung der Drogenszene als versorgender Institution wieder zunimmt. Diversifizierte Abgabe. Es wird deutlich, dass die Bedeutung der Heroinabgabe sich nicht auf die injizierende Gebrauchsform beschränkt und dementsprechend auch ein Angebot für nicht injizierende Abhängige repräsentiert. In den heroingestützten Behandlungsprogrammen kommen zwar überwiegend injizierbare, daneben aber auch in der Mehrzahl der Versuche oral einzunehmende oder zur Inhalation bestimmte Zubereitungen des DAM zur Anwendung. In den Niederlanden war die Untersuchung der Wirksamkeit inhalierter Zubereitungen ein primäres Untersuchungsziel; in Spanien werden im Katalonischen Projekt Herointabletten verschrieben; in der Schweiz kommen neben Injektionslösungen mehrere Zubereitungen zur Anwendung: retardiert wirkende Tabletten, Aerosole zur Inhalation; in England verschrieb John Marks „Heroin-Reefer“ (26, 41, 42). Innerhalb der nicht-injizierenden Gebrauchsformen vermittelt die beste Bioverfügbarkeit die Inhalation („chasing the dragon“). Die geringste Bioverfügbarkeit ließ sich beim Rauchen imprägnierter Zigaretten nachweisen, weshalb in den Schweizer Versuchen diejenigen Patienten, die Reefer verschrieben bekamen, scheinbar auf sehr hohe Dosen eingestellt wurden. Tab-
Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte
letten mit Retardwirkung werden von den Patienten angenommen, obwohl auch bei diesem Konsummuster eine relativ geringe Bioverfügbarkeit beobachtet werden konnte (43). Hinsichtlich der Akzeptanz imprägnierter Zigaretten bestehen allerdings Diskrepanzen, die weiterer Forschung zum Anlass dienen sollten. Es ist unklar, wieso die präparierten Zigaretten im Merseyside-Projekt von John Marks von den Patienten gerne angenommen wurden, während sie in den Schweizer Versuchen auf Ablehnung stießen. Auf jeden Fall besteht aber Evidenz dafür, dass nicht-injizierbare Zubereitungen für die Anwendung in heroingestützten Behandlungen durchaus ausreichend wirksam sind und dementsprechend eine reale Möglichkeit besteht, dass Heroinabhängige in entsprechend strukturierten Programmen, die die dafür notwendigen Bedingungen bereitstellen, auf risikoärmeren Gebrauch ihrer Substanz umsteigen. Effekt auf Beikonsum. Die heroingestützte Behandlung erwies sich in der Schweiz als sehr wirksames Mittel, um den illegalen Beikonsum von illegalem Straßenheroin praktisch auszuschalten und denjenigen von Kokain stark zu senken (44) (Moldovanyi; 2000). Es wurde aber auch festgestellt, dass in manchen Fällen die heroingestützte Behandlung über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich durchgeführt werden muss, um das hohe Risiko der entsprechenden Klientel erneut in außermedizinischen Gebrauch zu verfallen, einzuschränken. In den Niederlanden wurde die Beobachtung gemacht, dass nach der projektgebundenen Beendigung der Heroinverschreibung auch diejenigen Klienten, die unter der Heroinbehandlung eine positive Entwicklung gezeigt hatten, rasch (innerhalb der ersten zwei Monate nach der Beendigung) wieder in ihre alten Verhaltens- und (Bei-)Gebrauchsmuster zurückfielen. Best Practice – Best Control? In der aktuellen Situation ist es noch nicht möglich, Einrichtungen zu identifizieren, die als Beispiele für „gute Praxis“ herangezogen
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werden können. Derzeit kann man lediglich in jenen Ländern, in denen die Experimentierphase bereits abgeschlossen ist und die heroingestützte Behandlung als Routinemethode innerhalb des Betreuungsangebotes für Opiatabhängige angeboten wird, Modelle abgrenzen, die sich aufgrund des verschiedenen Umfangs der Kontrollmaßnahmen unterscheiden. Während in England, wo diese Art der Behandlung eine gewisse traditionelle Verankerung aufweist, immer noch vorwiegend professionelle Standards beachtet werden müssen und ein Lizenzverfahren für praktizierende Ärzte besteht, wurde in der Schweiz ein umfassendes und in allen Bereichen kontrolliertes institutionalisiertes System aufgebaut, das mit einer Fülle von Richtlinien und Empfehlungen streng durchreguliert ist (45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52). Die extremen Kontrollbedingungen, unter denen die heroingestützte Behandlung abläuft, resultieren aus der in der Einzigen Suchtgiftkonvention festgeschriebenen Verpflichtung, entsprechend den Kontrollregeln für Schedule-4-Substanzen die Heroinabgabe auf dem möglichen Mindestmaß zu halten und möglichst jegliche Diversion der Substanz zu vermeiden. In England wurden Bemühungen in Gang gesetzt, einen Standard für Substitutionstherapie im Allgemeinen zu entwickeln und den Platz der heroingestützten Behandlung im Spektrum der Substitutionsangebote zu definieren. In den diesbezüglich ergangenen Richtlinien, die im Mai 2003 von der National Treatment Agency herausgegeben wurden, wird ein Bezug zur Kontrollsituation in den Ländern hergestellt, in denen Heroinprojekte durchgeführt wurden oder werden. Es scheint ein Trend zu bestehen, das traditionelle „Britische System“, das auf der Kompetenz und Verantwortlichkeit lizenzierter Facheinrichtungen und lizenzierter Ärzte aufbaut, in jene Richtung zu verändern, die auf dem Kontinent von den Experimenten zur heroingestützten Behandlung vorgezeichnet ist (53, 54, 55).
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Zukunftsperspektiven Die heroingestützte Behandlung wird im Allgemeinen als zweitrangige Option für chronisch schwer Opiatabhängige angesehen, die nicht als Alternative zu den bekannten Behandlungsangeboten verstanden werden sollte, sondern lediglich als eine zusätzliche Komponente (56) (Radewangen, 1998). Gefordert wird (57) (Verster, 2001) daher immer noch, dass – Heroinprojekte nur bei entsprechender Dimension des Problems und nach ausreichender Analyse des Problems eingeführt werden; – in der Region, in der ein Heroinprojekt verwirklicht wird, andere gut ausgebaute Behandlungsangebote bestehen – für die neue Option realistische Begründungen und Zielvorstellungen formuliert werden. Derzeit werden also weder ein Ausbau der Heroinverschreibung noch die Entwicklung größerer Programme, die im Sinne Hartholls (58) einem präventiv-schadensreduzierenden Ansatz verpflichtet sind, ernsthaft diskutiert. Offenkundig, um eine weitere Ausbreitung des Einsatzes des Heroin zu beschränken, wird für die weitere Diversifizierung des Substitutionsangebotes die Entwicklung und Evaluation zusätzlicher Substanzen für die Unterstützungsbehandlung eingefordert. Auch in den neuen englischen Richtlinien wird dem Ausbau und der Optimierung anderer Substitutionsvorhaben Priorität vor der Heroinverschreibung zugeordnet (59, 60, 61). Dabei muss jedoch bedacht werden, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden. Noch verfügen wir lediglich über Erfahrungsberichte aus England, der Schweiz und aus den Niederlanden. In Kürze wird jedoch die Situation bestehen, dass neben diesen Erfahrungen auch noch die Ergebnisse der Therapieexperimente aus Deutschland, Spanien, Kanada, eventuell auch aus Australien, vorliegen werden. Da die beiden primären Erfolge, die bisher beschrieben wurden (die Haltekraft
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der Programme und ihre Attraktivität für eine definierte, sonst schwer zugängliche, Klientel), einem trivialen Zusammenhang entsprechen, ist zu erwarten, dass die Erfolgsmeldungen bestätigt und reproduziert werden. Falls in der Zukunft einmal positive Bewertungen der heroingestützten Behandlung aus 6–7 Ländern vorliegen sollten, ist anzunehmen, dass der Behandlung mehr Bedeutung zugeordnet wird als bisher und dass die Forderung erhoben wird, sie auf breiterer Basis einzuführen. Falls weitere Länder dem Beispiel jener Länder folgen, in denen experimentelle Heroinverschreibung gestartet wurde und wenn dann immer mehr Heroinprojekte implementiert werden und immer wieder vergleichbar positive Ergebnisse kolportiert werden, müssen zwangsläufig Überlegungen angestellt werden, wie die heroingestützte Behandlung aus einer experimentellen Behandlung zu einem Routineangebot umgestaltet werden kann. Es ist anzunehmen, dass dann im internationalen Raum eine ähnliche Situation entsteht, wie sie in der Schweiz bereits vorliegt. Dort gilt die heroingestützte Behandlung bereits als Standardmethode. Und Autoren wie Vontobel & Dobler-Mikola (62) stellten bereits vor einigen Jahren Überlegungen darüber an, welche weiteren Gruppen von Patienten in das Konzept aufgenommen werden sollten. Es ist dementsprechend notwendig, sich bereits heute Gedanken darüber zu machen, welches Szenario erforderlich ist, um in einer derart veränderten Situation adäquat reagieren zu können. Schon von der Externen Expertenkommission (1998) wurde gefordert, dass für die Behandlungsversuche ein adäquater gesetzlicher Rahmen gefunden werden müsse. Diese Forderung ist heute noch aufrecht und gewinnt in einer Situation, in der es nicht mehr um Experimente, sondern um die Etablierung einer standardisierten Methode geht, zusätzliche Bedeutung. Als zentrale Fragen für die Planung des zukünftigen Einsatzes des DAM in der opiatgestützten Behandlung Opiatabhängiger imponieren daher:
Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte
– die Registrierung der Substanz als Arzneimittel und – die Position der Internationalen Suchtmittelkontrolle. Prinzipiell ist der Frage nachzugehen, ob nicht die einzelnen Länder, die eine Einführung der ärztlichen Verschreibung des DAM erwägen, ohnehin, ohne jede weitere Prozedur, frühere Entscheidungen wieder rückgängig machen und das DAM wieder in ihren Arzneimittelschatz aufnehmen könnten. Schließlich resultiert die Verbannung des DAM aus dem Arzneimittelschrank – um De Ridder (1999) (63) zu zitieren – aus politischen, nicht aus medizinischen Erwägungen. Dieser Umstand wurde 1985 erneut deutlich, als in den USA eine medizinische Initiative entstand, Heroin wieder als Arzneimittel einzuführen, die allerdings durch den amerikanischen Kongress abgelehnt wurde. Die Planer der Schweizer Studie waren zunächst offenbar der Meinung, dass die nationale Reklassifizierung ohne großen Aufwand vor sich gehen können müsste. In ihrer Begründung der Wahl der Methode der Kohortenstudie vertraten sie den Standpunkt, dass sich die Durchführung einer klinischen Studie analog einer Zulassungsprüfung erübrige, da die Substanz in der britischen Pharmakopöe aufgeführt ist und in der Schweiz vor der Änderung des Arzneimittelgesetzes 1951 in der Pharmakopöe als Arzneimittel aufgelistet war. In England war es zum Beispiel im September 2003 möglich, erneut das Heroin als Arzneimittel zu behandeln und seine Abgabe in kardiologischen Notsituationen zu erleichtern. Die Sinnhaftigkeit der Vorgangsweise, die Registrierung der Substanz zunächst über die Zulassung zur Substitution zu betreiben, kann angezweifelt werden. Mit einer „denormalisierten“ Substanz kann es eigentlich keinen normalisierten beziehungsweise normalisierenden Umgang geben. Dieser Umstand tritt vor allem in jenen Problemen zutage, die die Beendigung der experimentellen Behandlung und die Weiterführung der Heroinabgabe als me-
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dizinische Maßnahme betreffen. Sinnvoller wäre es allemal, dem DAM wieder den Rang zuzuordnen, der ihm gebührt – ein Opiat unter anderen zu sein. Dann erst sollte seine Funktionalität innerhalb von Unterstützungs- und Reduktionsprogrammen diskutiert und definiert werden. In diesem Kontext kommt eventuellen Initiativen der Arzneimittelindustrie Bedeutung zu. Da die weitere Durchführung teurer klinischer Studien eigentlich keinen Sinn mehr gibt und kaum mehr zu rechtfertigen ist, wäre ein Antrag auf europaweite Zulassung der Substanz als Arzneimittel und insbesondere auch für die Verwendung innerhalb der opiatgestützten Behandlung eine zweckmäßige Vorgangsweise. Dies allerdings bedürfte einer Revision und Novellierung der Einzigen Suchtgiftkonvention. Obwohl die medizinische Verwendung des Heroin in diesem Vertragswerk nicht explizit verboten ist, führt die Klassifizierung als Schedule-4-Substanz dazu, dass dem medizinischen Gebrauch mit Reserve begegnet wird und dass die Produktion der Substanz äußerst eingeschränkt ist. Die UN-Kontrollbehörde ist regelmäßig im Dilemma, einerseits die Experimente zulassen zu müssen und die notwendigen Substanzmengen zur Verfügung zu stellen, andererseits aber auch gegen die Projekte Einwände vorzubringen, um ihrer Rolle gerecht zu werden, die Einhaltung der internationalen Verträge zu kontrollieren (INCB Reports 1997–1999 [64, 65, 66]). Die aktuelle Brauchbarkeit der Klassifizierung des Heroin in der Einzigen Suchgiftkonvention sollte dementsprechend auf jeden Fall hinterfragt werden. Die Gefährlichkeitszuschreibungen und Einschätzungen, die 1961 dazu führten, dass der medizinische und therapeutische Wert der Substanz als „extrem eingeschränkt“ erklärt wurde, wurden, abgesehen von der unwissenschaftlichen Basis auf der diese Klassifizierung ruhte, in einer Zeit getroffen, in der die Gesundheitspolitik einem heute nicht mehr gültigen Prinzip verhaftet war. In der Zwischenzeit trat ein Paradigmenwandel ein, der mehrere gesundheitspolitisch relevante Di-
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mensionen betrifft. Der Gesundheitsbegriff wurde in der WHO-Definition erweitert und dadurch der Handlungsraum der Medizin verbreitert. In den neuen Aufgabenbereichen kommen der Gesundheitsförderung und der präventiven Schadensminimierung vorrangige Bedeutung zu. Handlungsaufträge in diesen Feldern bringen die Notwendigkeit einer Neubewertung der Substanz Heroin und ihres sozialmedizinischen Einsatzes mit sich. Insofern ist eine Revision der in der Einzigen Suchtgiftkonvention bezogenen Position bezüglich der medizinischen Brauchbarkeit des Diazetylmorphin („extremely limited medical or therapeutical value“) dringend erforderlich. Es ist abzuklären, ob sie in der veränderten Situation der medizinischen Aufgabenbereiche noch zweckmäßig ist und aufrechterhalten werden soll. Auch internationale Verträge entsprechen jeweils vorliegenden historischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen. Ergeben sich im Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gravierende Veränderungen, müssen die internationalen Regelwerke an die neuen Bedingungen angepasst werden. Aufgrund der ihr in der Ersten Suchtgiftkonvention im Artikel 3 zugeordneten Funktion kommt der Weltgesundheitsbehörde in diesem Kontext die Rolle zu, den Revisionsprozess einzuleiten. Ihre Funktion besteht darin, die Zuordnung der Substanzen zu den diversen Kontrollniveaus vorzuschlagen; ihr käme es dementsprechend auch zu, das Heroin aus der verschärften Kontrolle des Schedule-4 zu lösen und die Kontrollsituation, die wie bei den anderen Opiaten aus der Verankerung als Schedule-1-Substanz resultiert, als ausreichend zu erklären. Da, wie oben ausgeführt, die neue Bewertung des Heroin und seiner medizinischen Verwendbarkeit unter anderem auch aus dem von der Weltgesundheitsbehörde eingeleiteten Paradigmenwandel resultiert, scheint es nur logisch, dass diese Behörde in diesem Sinne aktiv wird. Erst der grundsätzlich normalisierte Umgang nach Registrierung der Substanz
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könnte es ermöglichen, in der Zukunft die heroingestützte Behandlung als „normale“ Behandlung innerhalb eines diversifizierten Substitutionsprogramms in differenzierter Weise zu betreiben. Dies wurde bereits von der Externen Expertenkommission zu den Schweizer Versuchen festgestellt, wenn sie meinten, dass „in Anbetracht des hochgradig kontrollierten Systems der Heroinverschreibung und der hohen Kosten seiner Abgabe die Heroinverschreibung auch bei nachgewiesener Wirksamkeit wahrscheinlich nur für eine Minderheit der Heroinsüchtigen geeignet und verfügbar sein wird“. Wenn eine Erweiterung der Substitutionsangebote geplant wird, um bislang unzugängliche injizierende Gebraucher in das Behandlungsnetz einzugliedern, ist es daher sinnvoll, nicht von einem „Projekt zur Heroinverschreibung“ auszugehen, sondern eine Erweiterung und Optimierung der Substitutionsbehandlung im Sinne eines mehrdimensional diversifizierten Substitutionsangebots unter entsprechender Begleitforschung in die Wege zu leiten. Optimierung bedeutet in diesem Sinn ein Programm zu entwickeln, das nicht nur hinsichtlich der angebotenenen Substanzen, sondern auch hinsichtlich der Einnahmeform diversifiziert und an die Verhältnisse in der Szene angepasst ist. Auch wenn Heroin verfügbar ist, ist es vernünftig, eine Fokussierung auf diese Substanz zu vermeiden. Es sollte der Eindruck vermieden werden, dass die Heroinverschreibung ein „magic bullet“ ist, das imstande ist, die Probleme des außermedizinischen Suchtmittelgebrauchs zu lösen. Nach allem, was bisher zum Thema der Heroinverschreibung veröffentlicht wurde, würde eine derartige Hoffnung enttäuscht. Da es um eine gesundheitspolitische Maßnahme geht, die die Optimierung des Behandlungsangebots für Opiatabhängige anstrebt, sollte vielmehr von einer weiteren Diversifizierung der Substitutionsangebote gesprochen werden, die sowohl das Angebot an Substitutionsmitteln als auch verschiedene Einnahmeformen um-
Heroingestützte Behandlung: drogenpolitische Aspekte
schließt. Innerhalb dieses erweiterten Angebots könnte – oder sollte – eingedenk der aktuellen internationalen Entwicklung dann auch das Heroin seinen Platz haben. Als entscheidende noch zu bearbeitende Fragen imponieren heute, nach den Ergebnissen der kontrollierten Heroinabgabe im internationalen Raum: Welcher Rang kommt einem Heroin-Versorgungsprojekt innerhalb eines mehrdimensional diversifizierten Substitutionsangebots zu? Ist es notwendig ein Heroinprojekt zu entwickeln oder reicht es aus, ein diversifiziertes Projekt mit der Verordnung bereits verschreibbarer injizierbarer, beziehungsweise je nach Szenepräferenz konsumierbarer, Opiate anzubieten (67)? Würden diese beiden Optionen von der gleichen Population in Anspruch genommen oder differenzieren sich die infrage kommenden Patientenpopulationen entsprechend einem Bedürfnis nach einer als spezifisch erkannten Heroinwirkung(68)? Literatur 1. Bellmann GU, Jellinek C, Westermann B (Hrsg) (1998) Mehr als abhängig? Versuche mit Methadon und Heroin. Weinheim, Beltz 2. Bammer G (1997) Heroin Prescription – A comparison of the English, Swiss, Dutch and Australian situations. In: Bammer, G (Hrsg) International Perspectives on the Prescription of Heroin to Dependent Users: A collection of papers from the United Kingdom, Switzerland, the Netherlands and Australia. Australian Institute of Criminology, January 3. Bammer G, Dobler-Mikola A, Fleming PM, Strang J, Uchtenhagen A (1999) The Heroin Prescribing Debate, Integrating Science and Policies. Science 21: 284 4. Krausz M, Uchtenhagen A, van den Brink W (1999) Medizinisch indizierte Heroinverschreibung in der Behandlung Drogenabhängiger. Klinische Versuche und Stand der Forschung in Europa. In: Sucht 45, Nr. 3, S.171–186 5. Westermann B, Bellmann GU, Jellinek Ch (Hrsg) (1999) Heroinverschreibung. Weinheim, Beltz 6. Uchtenhagen A (1994) Diversifizierte Verschreibung von Betäubungsmitteln an Heroinabhängige: Grundlagen, Versuchsplan, Begleitforschung. Schweizerische Rundschau für Medizin Praxis (34): 931–936
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II. Begleiterkrankungen
Psychiatrische Komorbidität Toni Berthel Begriffsklärung Neben der Sucht, somatischen und sozialen Problemstellungen befinden sich unter den Patienten, die wir in Arztpraxen und in Suchthilfeeinrichtungen behandeln, eine große Zahl von Menschen mit ausgeprägten psychischen Störungen. Man spricht hier auch von Komorbidität, Dualdiagnosen oder Doppeldiagnosen. Der Begriff der Komorbidität ist im Verlauf der letzten zwanzig Jahre durch die Veränderung der Klassifikation psychischer Erkrankungen häufiger geworden. Psychische Störungen werden nicht mehr nach ätiologischen Gesichtspunkten, sondern nach deskriptiven Kriterien eingeteilt. Alle behandlungsbedürftigen psychischen Störungen werden ohne kausale Verknüpfung oder Erkrankungshierarchien beschrieben und sollen so eine bessere Grundlage für die Verlaufsdokumentation
und die Therapieplanung liefern. Dadurch können mehrere Störungen neben- und nacheinander beschrieben werden. Das Komorbiditätsprinzip ist ein wesentliches Element der deskriptiven Psychopathologie. Diese Abkehr von hierarchischer Diagnostik hin zu Deskription aller bedeutsamen Symptome erweitert den diagnostischen und therapeutischen Zugang außerordentlich. Die Diagnose auf mehreren Achsen (Symptom, Persönlichkeit, Verlauf, etc.) wird als Multiaxialität bezeichnet. Damit wir diese grosse Zahl von Patienten adäquat behandeln können, müssen komorbide Störungen erkannt und diagnostiziert werden und die Prinzipien der Behandlung müssen bekannt sein. Das Erkennen von mit Substanzkonsum einhergehenden psychiatrischen Störungsbildern ist anspruchsvoll und besondere Erfahrung und Kenntnisse sind Vorausset-
Tabelle 1. Schwierigkeiten der Diagnostik von komorbiden Störungen 1. Psychische Befindlichkeiten werden durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen beeinflusst. Eine saubere Erfassung der psychischen Phänomene ist dadurch erschwert. 2. Psychische Störungen können durch akuten oder chronischen Konsum von psychoaktiven Substanzen ausgelöst werden. 3. Vorbestehende psychische Störungen können durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen beeinflusst werden. 4. Die psychische Entwicklung wird durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen in der Adoleszenz beeinträchtigt oder gar verhindert. 5. Verschiedene psychische Störungsbilder werden erst nach Stabilisierung der sozialen und der somatischen Situation sichtbar. 6. Immer wiederkehrende Entzugserscheinungen z.B. bei chronischem Benzodiazepinkonsum können psychiatrische Störungsbilder imitieren (z.B. emotionale Instabilität, Frustrationsintoleranz, Gereiztheit etc.). 7. Agieren als wichtiges psychisches Phänomen muss als solches erkannt und beurteilt werden können.
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T. Berthel
Von Komorbidität, Dualdiagnosen oder Doppeldiagnosen spricht man, wenn gleichzeitig, nebeneinander oder nacheinander zwei oder mehrere Erkrankungen diagnostiziert werden. In der Suchtmedizin liegt neben einer Störung durch den Gebrauch psychotroper Substanzen eine weitere Diagnose aus dem Gebiet der psychiatrischen Erkrankungen vor.
zung. Dabei sind verschiedene Aspekte wichtig (siehe Tabelle 1).
Epidemiologie Die Lebenszeitprävalenz von komorbiden psychischen Störungen ist gegenüber der Rate in der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht (2–3 ×). Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von klinischen Studien, die sich mit dem Thema der psychiatrischen Komorbidität bei Substanzabhängigen befassen. Die Bandbreite der ermittelten Prävalenzraten von komorbiden psychischen Störungen ist groß (siehe Tabelle 2). In einer Metaanalyse (1), in der die Komorbidität bei Opiatabhängigen untersucht wurde, wurden bei 47–97% eine komorbide psychische Störung diagnostiziert. In verschiedenen Untersuchungen (1, 2, 3) wurden die Diagnosehäufigkeiten erhoben. Als Ursache für diese großen Prävalenzunterschiede können die unterschiedlichen Ansätze in der Gewichtung psychi-
Tabelle 2. Prävalenzraten von Komorbidität bei Substanzabhängigen (n. ICD-10) F0 Organische Störungen F2 Schizophrenien F3 Affektive Störungen F4 Angststörungen F5 Essstörungen F6 Persönlichkeitsstörungen
1–6% 7–25% 7–74% 5–46% 2,7–10% 25–90%
scher Phänomene, die unterschiedliche Tradition in der Behandlung und Beurteilung von Suchtphänomenen und damit einhergehende psychische Auffälligkeiten, die unterschiedlich verwendeten diagnostischen Instrumente und die unterschiedlichen Patientenkollektive angenommen werden. Es ist heute allgemein anerkannt, dass sich Sucht aus dem Zusammenwirken von Droge/Drogenwirkung, Persönlichkeit und Umwelteinflüssen entwickelt. Es gibt verschiedene Ansätze, wie die Entwicklung von komorbiden Störungsbildern erklärt werden kann (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3. Mögliche Zusammenhänge zwischen Abhängigkeitserkrankungen und anderen psychiatrischen Krankheiten (4) 1. Die zwei Erkrankungen treten unabhängig und zufälligerweise beim gleichen Patienten auf. 2. Die Substanzabhängigkeit löst eine psychiatrische Erkrankung aus. 3. Die psychiatrische Erkrankung erhöht das Risiko, an einer stofflichen Abhängigkeit zu erkranken. 4. Die stoffliche Abhängigkeit kann als ein Selbstheilungsversuch bei vorliegender psychiatrischer Erkrankung verstanden werden. 5. Die psychiatrische Erkrankung und die stoffliche Abhängigkeit beeinflussen sich gegenseitig im Sinne einer positiven Rückkoppelung. 6. Ein dritter, gemeinsamer Faktor prädestiniert sowohl zu einer psychiatrischen Erkrankung wie auch zur stofflichen Abhängigkeit. 7. Die Doppeldiagnose stellt ein eigenständiges Erkrankungsbild dar, innerhalb dessen nicht zwischen stofflicher Abhängigkeit und psychiatrischer Erkrankung differenziert werden kann.
Psychiatrische Komorbidität
Traumatisierung, Persönlichkeitsentwicklung, Persönlichkeitsstörung In allen Untersuchungen fällt die große Zahl von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen auf. Die Persönlichkeit sowie Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich auf dem Boden a) biophysikalischer Gegebenheiten, b) von den im Verlaufe der seelischen Entwicklung erfahrenen Umwelteinflüssen und c) damit einhergehenden Förderungen oder Traumen sowie d) des Prozesses der Adoleszenz mit Individuation und Sozialisation. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zeigen eingeschränkte Möglichkeiten sich an sich verändernde Gegebenheiten anzupassen. Sie können emotionale Belastungen nicht optimal verarbeiten, häufig finden wir diffuse Ängste, Aggressionsdurchbrüche, Zwangssymptome, selbstverstümmelnde Verhaltensweisen, tiefe Gefühle innerer Leere, Ängste vor dem Alleinsein und zeitweise kurzfristige psychotische Dekompensation. Besonders die mit der Persönlichkeitsstörung einhergehenden Beziehungsstörungen und die dabei beobachteten Beziehungsmuster mit Idealisierung und Entwertung des Gegenübers erschweren die Behandlung der Suchtproblematik und die Integration oder Reintegration dieser Menschen in gesellschaftliche Strukturen. Das heißt, die Behandlung gestaltet sich als sehr schwierig, nicht allein wegen der Suchtproblematik, sondern auch wegen den mit den Persönlichkeitsstörungen einhergehenden Verhaltensweisen. Besonders störend sind dabei die emotionale Instabilität, das Agieren, und der psychologische Mechanismus der Spaltung. Bei vielen dieser Menschen mit Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen finden wir in der Lebensgeschichte eine große Zahl von seelischen und körperlichen Traumatisierungen oder auch emotionaler Vernachlässigung. Kernberg (5) spricht nach psychoanalytischer Theorie bei Menschen in einer solchen Entwicklungsverfassung von einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Van der Kolk (6)
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beurteilt den Zustand nach multipler lang dauernder Traumatisierung als posttraumatisches Stress-Disorder (PTSD). Neuere Untersuchungsmethoden (Neuroradiologie, -biologie, -psychologie) zeigen direkte Zusammenhänge zwischen Trauma, Hirnentwicklung und der Fähigkeit Reize adäquat zu verarbeiten. Wiederum andere (7) diskutieren die gezeigten Symptome als Ausdruck wechselnder Aktivierung von Teilstrukturen des Gehirns, die einen lebensgeschichtlich begründeten Bezug (also auch Auswirkungen von Traumatisierung) zum Gegenwartserleben aufweisen. Unabhängig von den theoretischen Erklärungsmodellen zeigen diese Menschen im Kontakt und der Beziehung zu Mitmenschen und damit auch zu uns professionellen Helfern immer wiederkehrende ähnliche Verhaltensweisen. Sie idealisieren und entwerten uns, zeigen chronisches Misstrauen, sind einerseits freundlich zuvorkommend, euphorisch unterwürfig, dann wieder beschimpfend, klagsam, jammernd, sie spielen verschiedene involvierte Helfer gegeneinander aus und inszenieren einen Beziehungsabbruch. Die Behandlung von Substanzabhängigen mit einer zusätzlichen Persönlichkeitsstörung ist so häufig durch Behandlungsabbrüche, Enttäuschung, Wut, Ohnmacht und Versagen begleitet.
Stellenwert der psychoaktiven Substanzen und ihre Wirkung auf Menschen mit psychischen Störungen Psychoaktive Substanzen helfen häufig, unerträgliche seelische und körperliche Zustände erträglicher zu erleben. Heroin hilft dem schizophrenen Menschen schmerzhaft erlebte Zustände zu lindern, Unruhe zu besänftigen, bedrohlich erlebte Stimmen zu dämpfen. Kokain hebt den Depressiven aus einem Tief, lässt narzisstische Persönlichkeiten Gefühle eigener Nichtigkeit in Grandiosität aufblähen. Haschisch kann entspannen, Alkohol hilft, Hemmungen abzubauen. Ecstasy lässt die
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Beziehung zum Du leichter werden. Kurzzeitig ist die Welt wieder in Ordnung. Die moderne Psychiatrie bietet gute Medikamente an, die Prozesse bei schizophrenen wie depressiven Menschen beeinflussen. Alle diese Medikamente zeigen jedoch mehr oder weniger Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, innere Unruhe, Gefühle des Wattig-eingepackt-Seins usw. Die Gefühle des Andersseins, die Anhedonie gehen auch mit diesen Medikamenten nicht weg, ja werden häufig erst recht schmerzhaft erlebt und der Wunsch nach Sinngebung, sicheren Beziehungen und erfüllter Lebensgestaltung sind mit unseren Medikamenten nicht erreichbar. Heroin, Kokain oder Benzodiazepine lindern auch bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen unangenehme Symptome. Ängste werden weniger bedrohlich erlebt, Stimmungszusammenbrüche können aufgefangen werden, das fragile Selbstwertgefühl kann stabilisiert werden, innere Unruhe gedämpft, Spannungen und Aggressionen abgebaut, Erinnerungen ausgeschaltet werden. Wenn wir all die unangenehmen Symptome betrachten, denen Menschen mit Schizophrenien, Persönlichkeitsstörungen oder post-traumatischem Stress disorder ausgesetzt sind, ist es nicht verwunderlich, dass sie zu Substanzen greifen, die, wenn auch nur kurzzeitig, Linderung versprechen. Eine Suchtentwicklung kann die Folge sein. Wird die Droge abgesetzt, treten in der Regel andere Symptome in den Vordergrund. Wir sehen dann Ängste, Gefühle des BeobachtetWerdens, Stimmungszusammenbrüche, innere Leere, vermehrte Wut, Schlafstö-
Tabelle 4. Umfassende Abklärung als Basis für die Diagnostik und Behandlung 1. Präsentiersymptom 2. Persönlichkeit 3. Psychodynamische Zusammenhänge 4. Somatische Situation 5. Soziale Situation 6. Familiensituation 7. Adoleszentärer Entwicklungsstand 8. Persönliche soziale Ressourcen
T. Berthel Tabelle 5. Mittel der Erstellung einer psychiatrischen Diagnose 1. Saubere klinisch-psychiatrische Abklärung 2. Verlaufsbeobachtungen 3. Erhebung der Lebensgeschichte (besondere Ereignisse, Traumatisierung, Vernachlässigung, Ressourcen) 4. Adoleszentärer Entwicklungsstand, Entwicklungsbedingungen und dadurch Erkennung verschütteter Entwicklungspotenziale 5. Einsatz standardisierter Abklärungsinstrumente
rungen und manchmal Verwirrung. Es bestehen also enge Zusammenhänge zwischen unangenehm erlebten Symptomen, zugrunde liegender Persönlichkeitsstörung und gesuchter Drogenwirkung.
Abklärung Eine umfassende Abklärung ist die Basis jeder Beurteilung und jeder individuellen Behandlungsplanung. Gleichzeitig verhindert eine breite Abklärung eine allfällige Stigmatisierung. Eine Abklärung sollte alle relevanten Lebensbereiche umfassen. Tabelle 4 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Punkte. Diese Abklärung ist Teil eines interdisziplinären Abklärungsprozederes und damit die Basis für eine umfassende Diagnostik (siehe Tabelle 5).
Behandlung Die Behandlung von Patienten mit komorbiden Störungen findet in einem interdisziplinären Feld statt. Dabei kommen klinisch-psychiatrische, psychologisch-psychotherapeutische, sozialarbeiterisch-sozialpädagogische und medizinisch-pflegerische Instrumente zum Einsatz. Aus dem bisher Dargelegten ist klar, dass diese Menge der verschiedenen Problemstellungen nach einer interdisziplinären Interventionsstrategie verlangt. Damit eine Behandlung möglich ist, müssen die verschie-
Psychiatrische Komorbidität
denen, in diesem Feld Tätigen, zusammenarbeiten. Eine gute Koordination zwischen den verschiedenen Involvierten ist Voraussetzung für die Behandlung. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht eine umfassende Behandlung und ist die Basis für eine Gesundung komorbider Patienten (8). Damit eine Behandlung bei Menschen mit komorbiden Störungen erfolgreich ist, sollten verschiedene Grundvoraussetzungen erfüllt sein, a) Vermittlung von Sicherheit durch lang dauernde Substitution, Überlebenshilfe und lang dauernde willkürfreie Beziehung, b) Behandlung unangenehmer Symptome mit den entsprechenden Medikamenten, c) Gestaltung der persönlichen Nischen durch eine am ehesten supportive Behandlung, d) Gewährleistung der notwendigen sozialen Unterstützung und Förderung sowie e) eine ausreichende Vernetzung des Helfersystems. Medikamentös können Patienten mit komorbiden Störungen einerseits auf der Ebene der Sucht und des Suchtgeschehens (Substitution, Anti-Cravingsubstanzen etc.) und anderseits durch den Versuch der Beeinflussung der vielfältigen Psychopathologie (Ängste, Depressionen, Verwirrungen, paranoide Symptome etc.) behandelt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Substanzabhängigen mit komorbiden Störungen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Eine solche Zusammenarbeit ist häufig mit Konflikten im Helferfeld verbunden. Das Erkennen von die Beziehung belastenden Mechanismen, die in einem interdisziplinären Helferfeld wirksam werden, ist notwendig. Diese Schwierigkeiten dürfen nicht dazu führen, dass erfolgversprechende Methoden zur Betreuung und Behandlung nicht eingesetzt werden. Die Definition der eigenen Aufgabe, das Kennen der Schnittstellen zwischen den ver-
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schiedenen Helfern, eine ausreichende Kommunikation und die Festlegung der Hierarchie der zu lösenden Aufgaben sind eine Möglichkeit, sich anbahnende Konflikte zu erkennen und zu lösen. Das Zusammenwirken verschiedener Interventionsansätze und -instrumente ist die Basis für ein erfolgreiches Arbeiten in komplexen Problemfeldern. Auch diese Arbeit will gelernt und bezahlt sein. Literatur 1. Frei A, Rehm J (2002) Die Prävalenz psychischer Komorbidität unter Opiatabhängigen. Eine Metaanalyse bisheriger Studien. Psychiat 29: 258–262 2. Steffen T, Berthel T, Zimmer A, Gutzwiller F, Uchtenhagen A (2000) Die Entwicklung der psychischen Gesundheit in der heroingestützten Behandlung – Ergebnisse aus der schweizerischen Studie PROVE. Suchttherapie 1: 27–33 3. Regier DA, Farmer ME, Rae DS, Locke BZ, Keith SJ, Judd LL, Goodwin FK (1990) Comorbidity of mental disorders with alcohol and other drug abuse. Results from the Epidemiologic Catchment Area (ECA) Study. JAMA 264 (19): 2511–2518 4. Bachmann KM, Moggi F, Wittig R, Donati R, Brodbeck J, Hirsbrunner HP (1996) Doppeldiagnosepatienten (Schizophrenie und Sucht). In: Böker W, Brenner HD (Hrsg) Behandlung schizophrener Psychosen, Enke, Stuttgart, S. 257–269 5. Kernberg OF (1996) Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. Klett-Cotta, Stuttgart 6. Van der Kolk B (2000) Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Junfermann Verlag, Paderborn 7. Deneke FW (1999) Psychische Struktur und Gehirn. Schattauer Verlagsgesellschaft, Stuttgart 8. Berthel T (2002) Interdisziplinäre Zusammenarbeit bei Suchterkrankungen – Voraussetzungen für eine erfolgreiche und befriedigende Arbeit. Abhängigkeiten 1: 20–28
Agieren und Mitagieren in der Behandlung von Substanzabhängigen Toni Berthel Einleitung In den letzten Jahrzehnten wurden in der Abklärung, Beurteilung und der Behandlung von Substanzabhängigen erfreuliche Fortschritte gemacht. Die differenzierte Erfassung körperlicher und psychischer Leiden hat die Interventionen nachhaltig verändert und verbessert. Heroinabhängige konnten mit der Substitution erfolgreich behandelt werden. Verschiedene Substitutionsmöglichkeiten (Methadon, Heroin, Buprenorphin, Morphin etc.), die Spritzenabgabe, kontrollierte Injektionsmöglichkeiten, eine differenzierte Überlebenshilfe lassen unsere Patienten überleben. Es geht ihnen körperlich und seelisch besser. Starben früher jährlich regelmäßig mehr als 1% der Heroinabhängigen, überleben heute die meisten. Das Überwinden der Sucht gelingt jedoch nicht allen. Dies führt dazu, dass wir mit Menschen konfrontiert sind, die einerseits an chronischen Substanzstörungen leiden, anderseits eine Vielzahl von zusätzlichen Problemen zeigen. Im Zentrum steht immer mehr die Behandlung und Betreuung von Menschen mit chronischen psychischen und körperlichen Leiden und vielfältigen sozialen Problemstellungen. In der Regel verfügen diese Menschen über wenig persönliche und soziale Ressourcen. Dadurch findet die Behandlung in einem interdisziplinären Feld statt, in dem unterschiedlichste Berufskategorien zusammenarbeiten. Diese Gegebenheiten beeinflussen unsere Arbeit und müssen in unseren Interventionsstrategien berücksichtigt werden.
Persönlichkeitsentwicklung, Persönlichkeitsstörung, Traumatisierung In allen wissenschaftlichen Untersuchungen fällt die große Zahl von Menschen auf, die zusätzlich zur Sucht an einer ausgeprägten Persönlichkeitsstörung leiden (1, 2, 3). Die Persönlichkeit sowie Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich auf dem Boden – biophysikalischer Gegebenheiten, – von den im Verlaufe der seelischen Entwicklung erfahrenen Umwelteinflüssen und – damit einher gehenden Förderungen oder Traumen sowie – des Prozesses der Adoleszenz mit Individuation und Sozialisation. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zeigen eingeschränkte Möglichkeiten sich an sich verändernde Gegebenheiten anzupassen. Sie können emotionale Belastungen nicht optimal verarbeiten und häufig finden wir diffuse Ängste, Aggressionsdurchbrüche, Zwangssymptome, selbstverstümmelnde Verhaltensweisen, tiefe Gefühle innerer Leere, Ängste vor dem Alleinsein und zeitweise kurzfristige psychotische Dekompensation. Besonders die mit der Persönlichkeitsstörung einhergehenden Beziehungsstörungen und die dabei beobachteten Beziehungsmuster mit Idealisierung und Entwertung des Gegenübers erschweren die Behandlung der Suchtproblematik und die Integration oder Reintegration dieser Menschen in gesellschaftliche Strukturen. Das heißt, die Be-
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Tabelle 1. Schwierigkeiten der Diagnostik von komorbiden Störungen 1. Psychische Befindlichkeiten werden durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen beeinflusst. Eine saubere Erfassung der psychischen Phänomene ist dadurch erschwert. 2. Psychische Störungen können durch akuten oder chronischen Konsum von psychoaktiven Substanzen ausgelöst werden. 3. Vorbestehende psychische Störungen können durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen beeinflusst werden. 4. Die psychische Entwicklung wird durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen in der Adoleszenz beeinträchtigt oder gar verhindert. 5. Verschiedene psychische Störungsbilder werden erst nach Stabilisierung der sozialen und der somatischen Situation sichtbar. 6. Immer wiederkehrende Entzugserscheinungen z.B. bei chronischem Benzodiazepinkonsum können psychiatrische Störungsbilder imitieren (z.B. emotionale Instabilität, Frustrationsintoleranz, Gereiztheit etc.). 7. Agieren als wichtiges psychisches Phänomen muss als solches erkannt und beurteilt werden können.
handlung gestaltet sich als sehr schwierig, nicht allein wegen der Suchtproblematik, sondern auch wegen der mit der Persönlichkeitsstörung einher gehenden Verhaltensweisen. Besonders störend sind dabei die emotionale Instabilität, das Agieren, und der psychologische Mechanismus der Spaltung. Bei vielen dieser Menschen mit Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen finden wir in der Lebensgeschichte eine große Zahl von seelischen und körperlichen Traumatisierungen oder auch emotionale Vernachlässigung. Kernberg (4) spricht nach psychoanalytischer Theorie bei Menschen in einer solchen Entwicklungsverfassung von einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Van der Kolk (5) beurteilt den Zustand nach multipler, lang dauernder Traumatisierung als Posttraumatische Stress Disorder (PTSD). Neuere Untersuchungsmethoden (Neuroradiologie, -biologie, -psychologie) zeigen direkte Zusammenhänge zwischen Trauma, Hirnentwicklung und der Fähigkeit, Reize adäquat zu verarbeiten. Wiederum andere (6) diskutieren die gezeigten Symptome als Ausdruck wechselnder Aktivierung von Teilstrukturen des Gehirns, die einen lebensgeschichtlich begründeten Bezug (also auch Auswirkungen von Traumatisierung) zum Gegenwartserleben aufweisen. Unabhängig von den theoretischen Erklärungsmodellen zeigen diese Menschen
viele Zeichen emotionaler Instabilität mit Stimmungszusammenbrüchen, fragilem Selbstbild, Suizidphantasien und -versuchen, Aggressionsdurchbrüchen und Ängsten. Besonders im Kontakt zu Mitmenschen und damit auch zu uns professionellen Helfern sehen wir immer wiederkehrende ähnliche Verhaltensweisen, die die Beziehung belasten. Sie idealisieren und entwerten uns, zeigen chronisches Misstrauen, sind einerseits freundlich zuvorkommend, euphorisch unterwürfig, dann wieder beschimpfend, klagsam, jammernd. Sie spielen verschiedene involvierte Helfer gegeneinander aus und inszenieren einen Beziehungsabbruch. Die Behandlung von Substanzabhängigen mit einer zusätzlichen Persönlichkeitsstörung ist so häufig durch Behandlungsabbrüche, Enttäuschung, Wut, Ohnmacht und Versagen begleitet. Menschen mit einer solchen Entwicklungsverfassung sind nicht fähig, Gegensätzlichkeiten wie „Gut“ und „Böse“ mitTabelle 2. Prävalenzraten von Komorbidität bei Substanzabhängigen (n. ICD-10) F0 Organische Störungen F2 Schizophrenien F3 Affektive Störungen F4 Angststörungen F5 Essstörungen F6 Persönlichkeitsstörungen
1–6% 7–25% 7–74% 5–46% 2,7–10% 25–90%
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Tabelle 3. Mögliche Zusammenhänge zwischen Abhängigkeitserkrankungen und anderen psychiatrischen Krankheiten (8) 1. Die zwei Erkrankungen treten unabhängig und zufälligerweise beim gleichen Patienten auf. 2. Die Substanzabhängigkeit löst eine psychiatrische Erkrankung aus. 3. Die psychiatrische Erkrankung erhöht das Risiko, an einer stofflichen Abhängigkeit zu erkranken. 4. Die stoffliche Abhängigkeit kann als ein Selbstheilungsversuch bei vorliegender psychiatrischer Erkrankung verstanden werden. 5. Die psychiatrische Erkrankung und die stoffliche Abhängigkeit beeinflussen sich gegenseitig im Sinne einer positiven Rückkoppelung. 6. Ein dritter, gemeinsamer Faktor prädestiniert sowohl zu einer psychiatrischen Erkrankung wie auch zur stofflichen Abhängigkeit. 7. Die Doppeldiagnose stellt ein eigenständiges Erkrankungsbild dar, innerhalb dessen nicht zwischen stofflicher Abhängigkeit und psychiatrischer Erkrankung differenziert werden kann.
einander zu integrieren und in differenzierter Abstufung zu handhaben. Diese Menschen lösen beim professionellen Helfer wie bei den Mitmenschen äußerst widersprüchliche Gefühle aus. Nach tiefenpsychologischer Theorie sind bei diesen Menschen die Vorstellungen über sich selber wie über die wichtigen Bezugspersonen diffus geblieben. Dies führt zu einem kindlich, unreifen Umgang mit sich, dem vis-à-vis, den auftretenden Gefühlen. Wir sprechen auch von unintegrierten Persönlichkeitsanteilen, die durch den psychologischen Mechanismus der Spaltung voneinander getrennt gehalten werden müssen. Unangenehme, Angst machende Gefühle werden in die Umgebung projiziert. Wir Helfer werden zur Projektionsfläche. Und weil diese Menschen auch alte, früher erlebte Traumen und problematische Interaktionsmuster zwanghaft reinszenieren, versuchen sie dabei die Mitarbeiter in den involvierten Hilfseinrichtungen oder die Mitmenschen als fiktive Mitspieler in ihrem Lebensdrama einzusetzen und in abwechselnden Rollen als Freund oder Feind zu verstricken. Dabei kommt es zum Versuch, die Mitarbeiter gegeneinander auszuspielen, zu entwerten etc. Wenn in solchen Situationen Klarheit und Konsequenz vorgelebt wird, brechen häufig Aggressionen, Wut, Trauer oder Angst durch. D.h. das geschwächte Ich kann aufkommende Gefühle nicht mehr neutralisieren und diese Affekte brechen durch. Es kommt zu Wut, die Mitarbeiter werden entwertet und allgemeine Frustration macht sich breit.
Auch bei den Helfern werden Gefühle ausgelöst. Häufig fällt es uns schwer, die notwendige professionelle Distanz aufrecht zu halten oder Gefühle von Wut, Trauer, Enttäuschung aber auch von Mitleid zu kontrollieren. Hier werden eine gute Strukturierung der Behandlung, ein klares Setting und ausreichend Zeit für Reflexion und Austausch unter den involvierten Helfern besonders wichtig.
Agieren als zentraler Mechanismus Diese beschriebenen Phänomene können über den Mechanismus des Agierens erklärt und verstanden werden. Besonders in interdisziplinären und interprofessionellen Feldern zeigen sich die Auswirkungen dieses Agierens immer wieder deutlich. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren.
Beispiel Agieren „Hr. C., 35-jährig, Heroinkonsum mit 16 Jahren. Keine Ausbildung, kaum Beziehungen außerhalb der Szene, lebt in einer betreuten Wohnung. Seit vielen Jahren im Methadonprogramm im Drogenambulatorium, dort regelmäßige Gespräche mit dem leitenden Psychiater, gleichzeitig soziale Unterstützung im Sozialamt, auch hier regelmäßige Gespräche. Die verschiedenen Helfer sind über die Aktivitäten des jeweils Anderen informiert. Beim
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Psychiater wird immer wieder über die inkompetente Sozialarbeiterin im Sozialamt geschimpft. In den psychiatrischen Gesprächen wird vorwiegend über Geld und Geldverwaltung gesprochen. Bei der Sozialarbeiterin schildert der Herr C. v.a. seine seelischen Probleme, redet über seine Ängste, Stimmungszusammenbrüche, Schwierigkeiten mit dem Methadon usw. Die Sozialarbeiterin nimmt diese Themen auf und spricht mit ihm über seine psychischen Schwierigkeiten. Nach mehreren Monaten empfiehlt sie Herrn C. eine Behandlung an der Psychiatrischen Poliklinik. Ein Gespräch bei einem Assistenzarzt an der Poliklinik wird vereinbart.“ Hier sehen wir ein klassisches Beispiel wie Helfer gegeneinander ausgespielt werden. Die beiden erfahrenen Helfer (Psychiater und Sozialarbeiterin) werden verführt, über Themen zu reden, die nicht in ihren eigentlichen Aufgabenbereich gehören. Der Eine mischt sich in die Aufgaben des Anderen ein. Diese Einmischung wird durch den Anderen als Übergriff erlebt. Die Beziehung der beiden Helfer verschlechtert sich. Gegenseitige Vorwürfe und Anschuldigungen stehen im Vordergrund. Herr C. wird zum agierenden, unbeteiligten „Opfer“ zweier konkurrierender, mitagierender Helfer. Beispiel Idealisierung – Entwertung Herr A., 37-jährig, Heroinabhängigkeit seit dem 17. Lebensjahr. Verschiedene stationäre und ambulante Entzugs- und Rehabilitationsversuche. Immer wieder Rückfälle. HIV-pos, Hepatits B und C positiv. Rezidivierend Abszesse. Seit 15 Jahren im Methadonprogramm. Immer wiederkehrende Schlägereien, Gewaltausbrüche, Konflikte mit anderen Abhängigen, versch. Verurteilungen wegen Drogendelikten. Psychiatrische Diagnose: emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.31). Aufnahme ins Heroinprogramm. Rasche körperliche und psychische Stabilisierung. Idealisierung des Behandlungsteams, des Arztes: „Ich hatte noch nie eine solch gute Behandlung wie bei euch.“ Verehrt eine
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Krankenschwester: „Du bist wie eine Mutter zu mir. Eine solche gute Mutter habe ich mir immer gewünscht.“ Nachdem die gleiche Krankenschwester Herrn A. wegen zu spät Kommens zur Abgabe die Heroindosis, wie im gemeinsam vereinbarten Behandlungsvertrag unterschrieben, verweigert, rastet er aus. Beschimpft die Krankenschwester aufs Schlimmste: „Was fällt dir ein, du Drecknutte. Warte bis ich dich außerhalb der Abgabe erwische.“ Und er läuft nach lautem Zuschlagen der Türe davon. Am nächsten Tag steht er weinend in der Abgabe, möchte dass wir seinen Ausbruch entschuldigen. Auf den Einwand, wir ließen es nicht zu, dass er in dieser Art mit uns und unseren Mitarbeitern umgehe, wird er verzweifelt. Er könne nichts für seine Ausbrüche. Sein Vater habe ihn geschlagen. Die Mitarbeiterin verlangt, dass wir Herrn A. aus dem Programm ausschliessen. An diesem Beispiel zeigt sich der Mechanismus der Idealisierung und Entwertung deutlich. Eindrücklich auch wie sich das Verhalten in Sekundenbruchteilen ändert und er vom anhänglich-zutraulichen, idealisierenden „Kind“ zum entwertenden, lauten, bedrohlichen Mann wird. Solche Verhaltensweisen belasten die Mitarbeiter außerordentlich. Gleichzeitig kommt es zu immer wiederkehrenden Abbrüchen der Beziehung sowohl zu Lebenspartnern aber auch zu Fachleuten aus der Sucht- und Sozialhilfe. Man spricht neben Agieren und Spalten auch von der Reinszenierung von früheren Erfahrungen.
Ausgewählte Agierfelder in der Behandlung von Substanzabhängigen In der Beziehung zu Substanzabhängigen, insbesondere in der Behandlung und Substitution, sind verschiedene Aspekte, die zu Agierfeldern werden können, zu berücksichtigen. Zu unterscheiden sind dabei a) die direkte Wirkung der Droge, b) die durch die Droge vermittelte „Welt“ mit ihren Beziehungsmustern, c) die durch den Drogenkonsum mögliche Gestaltung der
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Beziehung zur Mitwelt und damit auch zum Arzt und Therapeuten. Die direkte Wirkung der Droge Jeder Drogenkonsument sucht in der Droge eine spezifische Wirkung. Dazu gehören je nach Situation Wohlbefinden, Euphorie, Gefühle von Geborgenheit, Grandiosität, Ruhe, Wärme. Die Substanz kann zum Beziehungsersatz werden. Sätze wie: „Unter der Droge fliege ich davon. Ich fühle mich eins mit der Welt“, „Hier fühle ich mich aufgehoben“, werden von vielen Patienten geäußert und unterstreichen die tiefen Gefühle, die durch die Droge abgedeckt werden können. Mit der Substitution besetzen wir Transmittoren im Gehirn, wir verhindern Entzugserscheinungen, wir reduzieren das Craving. Doch die vorher in der Regel gesuchte Wirkung wird durch das Substitutionsmittel nur unzureichend abgedeckt. Der Konsum von Substanzen, die diese oder eine ähnliche Wirkung zeigen, ist deshalb häufig. Die durch die Droge vermittelte „Welt“ mit ihren Beziehungsmustern Die Droge vermittelt eine bestimmte Art des in Beziehung Tretens mit Anderen. Im Besonderen die Drogenszene und alle mit ihr einhergehenden Gegebenheiten geben ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die Droge bietet eine Welt, die den Süchtigen nicht immer befriedigt, die er aber doch immer wieder selbst mitgestalten kann. Der Süchtige erlebt sich in der Szene so als jemand, der aktiv ist und einen Einfluss auf die Umgebung hat. Gleichzeitig kann er, der häufig viele Traumatisierungen erlebt hat, durch die Zufuhr psychoaktiver Substanzen seine eigene Befindlichkeit selbstständig, ohne auf andere angewiesen zu sein, ohne Angst vor Willkür, ohne Angst vor Verletzung, verbessern. Gleichwohl ist die Szene im Besitz des Stoffes und damit der Befriedigung spendenden Nahrung. Damit muss man sich, um an den Stoff zu kommen, den Forderungen der Szene unterwerfen. Einerseits wird die Szene also
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Lebens- und Gestaltungsraum, anderseits ein Ort der Unterwerfung unter ihre Regeln und Hierarchien. Eigene Identitätsverunsicherungen können durch die Gruppenund Szene-Identität aufgefangen werden. Alles was nicht sein darf, nicht selbst beeinflusst werden kann, wird projiziert. Projektion stabilisiert, ist eine Überlebensstrategie und -möglichkeit. Die Behandlung und besonders die Substitution ist für den Heroinabhängigen ein wichtiger Schritt zur Integration in die Gesellschaft. Er muss dabei jedoch auf einen großen Teil seiner bisherigen Lebenswirklichkeiten verzichten. Dadurch nehmen wir ihm auch einen großen Teil seiner bisherigen Identität und Identifikationsmöglichkeiten. Wer einen solchen Wechsel ohne Rebellion und Rückfall über sich ergehen lässt, unterwirft sich der Macht eines Anderen; in unserem Fall der Macht der nährenden und substitutierenden Hand des Arztes und Therapeuten. Agieren wird hier also die Möglichkeit, erlebte Ohnmacht und Gefühle des Ausgeliefertseins an den mächtigen Arzt, Sozialarbeiter oder Therapeuten zu verleugnen und durch eigenes, selbstständiges Handeln eine vermeintliche, eigene Autonomie zu behalten. Drogenkonsum als Möglichkeit der Gestaltung der Beziehung zur Mitwelt In der Behandlung und Substitution von Substanzabhängigen wiederholen sich die Muster der Lebensgeschichte, die der Patient vorgängig erlebt und gelebt hat. In der Beziehung zum Helfer werden viele Aspekte der vorher gelebten Objektbeziehungen unbewusst wieder inszeniert. Situationen der Zuneigung, Verfolgung, Flucht, sadistische und masochistische Umgangsmechanismen wiederholen sich teilweise zwanghaft. Als Ärzte, Sozialarbeiter oder Therapeuten sind wir, wenn auch mit anderem Ansatz, so doch mit ähnlichem Ziel, immer Teil des Ordnungsprinzips. Das heißt, wir repräsentieren eine Lebenswirklichkeit, die außerhalb der Drogenszene angesiedelt ist. Durch die Zugehörigkeit zur Nicht-
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Szene sind wir Teil der Normalität und Legalität. Wir Helfer sind „gespaltene“ Figuren. Immer Verfolger im Namen der Legalität und Helfer im Namen der Rehabilitation auf dem Weg zur Normalität. Beide sind wir Teile ein und desselben Objektes, Institution der staatlichen Macht. Für unsere Patienten werden wir einerseits gesuchte Helfer auf dem Weg aus der Sucht, anderseits sind wir Teil einer Angst machenden und verfolgenden Welt. In dieser Ambivalenz sind wir einmal Helfer, einmal externalisierte, kontrollierende Verfolger. Viele im Widerstreit stehende Persönlichkeitsanteile können so von unseren Patienten auf die Welt außerhalb, das heisst auch auf uns projiziert werden. Zwischen Droge und Substitutionsmittel, der Szene sowie unserer Helfer- und Kontrollfunktion eröffnet sich ein Feld spannungsgeladener Verhältnisse (Zuwendung versus Kontrolle, Verzicht auf den Konsum versus Verhinderung des Konsums). Dieses Feld bietet eine Unmenge von Agiermöglichkeiten.
Stellenwert der psychoaktiven Substanzen und ihre Wirkung auf Menschen mit psychischen Störungen Psychoaktive Substanzen helfen häufig, unerträgliche seelische und körperliche Zustände erträglicher zu erleben. Heroin hilft dem schizophrenen Menschen schmerzhaft erlebte Zustände zu lindern, Unruhe zu besänftigen, bedrohlich erlebte Stimmen zu dämpfen. Kokain hebt den Depressiven aus einem Tief, lässt narzisstische Persönlichkeiten Gefühle eigener Nichtigkeit in Grandiosität aufblähen. Haschisch kann entspannen, Alkohol hilft, Hemmungen abzubauen. Ecstasy lässt die Beziehung zum Du leichter werden. Kurzzeitig ist die Welt wieder in Ordnung. Die moderne Psychiatrie bietet gute Medikamente an, die Prozesse bei schizophrenen wie depressiven Menschen beeinflussen. Alle diese Medikamente zeigen jedoch mehr oder weniger Nebenwirkungen
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wie Gewichtszunahme, innere Unruhe, Gefühle des Wattig-eingepackt-Seins oder ähnliche Symptome. Die Gefühle des Andersseins, die Anhedonie gehen auch mit diesen Medikamenten nicht weg, ja werden häufig erst recht schmerzhaft erlebt und der Wunsch nach Sinngebung, sicheren Beziehungen und erfüllter Lebensgestaltung sind mit unseren Medikamenten nicht erreichbar. Heroin, Kokain und Benzodiazepine lindern auch bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen unangenehme Symptome. Ängste werden weniger bedrohlich erlebt, Stimmungszusammenbrüche können aufgefangen werden, das fragile Selbstwertgefühl kann stabilisiert werden, innere Unruhe gedämpft, Spannungen und Aggressionen abgebaut, Erinnerungen ausgeschaltet werden. Wenn wir alle die unangenehmen Symptome betrachten, denen Menschen mit Schizophrenien, Persönlichkeitsstörungen oder posttraumatischem Stress Disorder ausgesetzt sind, ist es nicht erstaunlich, dass sie zu Substanzen greifen, die, wenn auch nur kurzzeitig, Linderung versprechen. Eine Suchtentwicklung kann die Folge sein. Wird die Droge abgesetzt, treten in der Regel andere Symptome in den Vordergrund. Wir sehen dann Ängste, Gefühle des BeobachtetWerdens, Stimmungszusammenbrüche, innere Leere, vermehrte Wut, Schlafstörungen und manchmal Verwirrung. Es bestehen also enge Zusammenhänge zwischen unangenehm erlebten Symptomen, zugrunde liegender Persönlichkeitsstörung und gesuchter Drogenwirkung. Unter diesen Gesichtspunkten erhält auch der Beikonsum eine andere Bedeutung. Einerseits hilft er innere Spannungen, Ängste, Verunsicherung abzubauen, anderseits ist er eine Möglichkeit, unbewusste Konflikte auszuagieren.
Grundvoraussetzungen für die Behandlung von Menschen mit erhöhtem Agierpotenzial Menschen mit eingeschränkten körperlichen, seelischen oder sozialen Ressourcen
Agieren und Mitagieren in der Behandlung von Substanzabhängigen
und erhöhtem Agierpotenzial sind in der Regel in ein breit gefächertes Hilfesystem eingebunden. Helfer mit klinisch-psychiatrischem, psychologisch-psychotherapeutischem, sozialarbeiterisch-sozialpädagogischem und medizinisch-pflegerischem Hintergrund sind in die Behandlung und Betreuung involviert. Die Vielfalt der Problemstellungen verlangt nach interdisziplinären und -professionellen Behandlungsansätzen. Damit eine Behandlung erfolgversprechend ist müssen alle Involvierten zusammenarbeiten. Eine gute Koordination ist die Voraussetzung, damit eine umfassende Behandlung möglich wird und so die Basis für eine Gesundung von Menschen mit komorbiden Störungen gelegt werden kann (7). Damit eine Behandlung bei Menschen mit erhöhtem Agierpotenzial und eingeschränkten Ressourcen erfolgreich ist, sollten verschiedene Grundvoraussetzungen erfüllt sein: – Vermittlung von Sicherheit durch lang dauernde Substitution, Überlebenshilfe und professionelle, willkürfreie Beziehung, – Behandlung unangenehmer Symptome mit den entsprechenden Medikamenten, – Gestaltung der persönlichen Nische durch eine am ehesten supportive Behandlung, – Gewährleistung der notwendigen sozialen Unterstützung und Förderung sowie – eine ausreichende Vernetzung des Helfersystems. Dort, wo möglich, soll versucht werden, die Sucht, das Suchtgeschehen und die vielfältige Psychopathologie medikamentös zu behandeln. (Substitution, AntiCraving-Substanzen, Medikamente gegen Ängste, depressive, paranoide Symptome). Medikamente können neben der direkten Wirkung auch eine Beziehungsfunktion erhalten, die im Gegensatz zur persönlichen Beziehung weniger ausschließlich und damit weniger konfliktträchtig ist. Medikamente können auch zu einem steuerbaren Agierinstrument werden, das richtig „dosiert“ eingesetzt, einen konstruktiven
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Charakter erhält. Irrationale, virulente, noch nicht verstandene Konflikte können in ein weniger gefährliches, verhandelbares und damit gestaltbares Feld verschoben werden. Eine besondere Bedeutung kommt der Gestaltung der Beziehung zwischen professionellem Helfer und Klient zu. Wie in anderen Beziehungen auch, benötigt der Aufbau von Vertrauen Zeit. Bevor wir mit einer Behandlung beginnen, müssen sich unsere Patienten oder Klienten bei uns „andocken“. Hier sind soziale Hilfe, Substitution oder Behandlung von unangenehmen Symptomen eine Hilfe, um eine Beziehung aufzubauen und Vertrauen zu schaffen. Ein sorgfältiger Umgang mit Nähe und Distanz hilft unkontrollierbare Verstrickungen zu verhindern. Das Wissen über Reinszenierungen lässt Verführungssituationen erkennen und hilft somit, unseren Bemühungen, eine professionelle Position einzunehmen. In der Gestaltung der Beziehung geht es um das Verhindern von Grenzverletzungen und Abwertungen (sowohl zwischen uns und unseren Klienten als auch umgekehrt). Dabei sind wir immer in eine Vielzahl von Spannungsfeldern eingebunden. (Fürsorge – Autonomie, Kontrolle – Selbstverantwortung, Zuneigung – Abneigung, Unterstützung – Entwertung, Mitleid – Ablehnung etc.) Nicht nur die Beziehung zu unseren Klienten ist anspruchsvoll, auch die Zusammenarbeit unter all den involvierten Helfern kann konfliktträchtig sein. Das Erkennen von Mechanismen, die die Beziehung belasten, die in einem interdisziplinären Helferfeld wirksam werden, ist notwendig. Diese Schwierigkeiten dürfen nicht dazu führen, dass erfolgversprechende Methoden zur Betreuung und Behandlung nicht eingesetzt werden. Die Definition der eigenen Aufgabe, das Kennen der Schnittstellen zwischen den verschiedenen Helfern, eine ausreichende und verständliche Kommunikation und das Festlegen der Hierarchie der zu lösenden Aufgaben sind Möglichkeiten, sich anbahnende Konflikte zu erkennen und zu lösen. Das Zusammenwirken verschiedener Interven-
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tionsansätze und -instrumente ist die Basis für ein erfolgreiches Arbeiten in komplexen Problemfeldern. 4.
Literatur 1. Frei A, Rehm J (2002) Die Prävalenz psychischer Komorbidität unter Opiatabhängigen. Eine Metaanalyse bisheriger Studien. Psychiat Praxis 29: 258–262 2. Steffen T, Berthel T, Zimmer A, Gutzwiller F, Uchtenhagen A (2000) Die Entwicklung der psychischen Gesundheit in der heroingestützten Behandlung – Ergebnisse aus der schweizerischen Studie PROVE. Suchttherapie 1: 27–33 3. Regier DA, Farmer ME, Rae DS, Locke BZ, Keith SJ, Judd LL, Goodwin FK (1990)
5.
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Comorbidity of mental disorders with alcohol and other drug abuse. Results from the Epidemiologic Catchment Area (ECA) Study. JAMA 264: 2511–2518 Kernberg OF (1996) Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. Klett-Cotta, Stuttgart Van der Kolk B (2000) Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Junfermann Verlag, Paderborn Deneke FW (1999) Psychische Struktur und Gehirn. Schattauer Verlagsgesellschaft, Stuttgart Berthel T (2002) Interdisziplinäre Zusammenarbeit bei Suchterkrankungen – Voraussetzungen für eine erfolgreiche und befriedigende Arbeit. Abhängigkeiten 1: 20–28 Moggi F (2002) Doppeldiagnosen: Komorbidität psychischer Störungen und Sucht. Huber, Bern
Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C Hans Haltmayer Die Infektion mit Hepatitisviren ist mit Abstand die häufigste Begleiterkrankung bei Drogenkonsumenten. Das höchste Risiko geht dabei vom intravenösen Konsumverhalten aus. Programme, in denen die Abgabe von sterilen Injektionsutensilien, wie Spritze, Kanüle, Wasser, Ascorbinsäure, etc. gefördert wurden, brachten Erfolge im Bereich der Reduktion von HIV NeuInfektionen. Wenig Erfolg zeigten diese Maßnahmen bei der Reduktion der Hepatitis B und Hepatitis C. Für Hepatitis B finden wir bei der Risikogruppe der intravenös Drogengebrauchenden (intravenous drug users = IVDU) Prävalenzzahlen von 48% bis 59% (1, 2), für Hepatitis C bis zu 80,3% (2).
Hepatitis A Übertragungsweg: Die Übertragung des Hepatitis A Virus (HAV) erfolgt überwiegend fäko-oral. Außerhalb des Körpers kann das Virus bis zu vier Wochen infektiös bleiben (in Lebensmitteln, Wasser, etc.). Die parenterale Übertragung ist selten, während der Virämiephase aber prinzipiell möglich. Es erfolgt keine Übertragung über die Muttermilch. Eine vertikale Übertragung von der Mutter auf das Kind während der Schwangerschaft ist aus der Literatur nicht bekannt. Klinik und Verlauf: Die Inkubationszeit beträgt im Mittel 4 Wochen. Die typische klinische Symptomatik besteht aus einem Ikterus („Gelbsucht“) sowie Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Bis zu 90%
der Infektionen verlaufen allerdings subklinisch, mit so unspezifischen Symptomen wie allgemeinem Krankheitsgefühl, Muskelschmerzen, Appetitlosigkeit und subfebrilen Temperaturen. In der Regel ist eine Hepatitis A Infektion selbstlimitierend und heilt nach 3–6 Monaten vollständig aus. Es sind aber auch fulminante, mit hoher Letalitätsrate verbundene Verläufe möglich. Patienten mit schon bestehender chronischer Hepatitis C haben ein erhöhtes Risiko eine fulminante Verlaufsform zu entwickeln (3). Vor dem Hintergrund dieser Tatsache ist eine aktive Schutzimpfung für alle Drogenkonsumenten dringend anzuraten. Diagnostik: Die Diagnose wird über Nachweis von anti-HAV-IgM-Antikörper gesichert. Diese finden sich bereits 2 Wochen nach erfolgter Infektion. Zum Beweis einer abgelaufenen Hepatitis A wird die Bestimmung des anti-HAV-IgG-Antikörper herangezogen. Dieser bleibt lebenslang bestehen. Therapie: Die Therapie erfolgt ausschließlich symptomatisch. Impfung: Es existiert eine wirksame Schutzimpfung. Beim Erwachsenen wird sie intramuskulär in den Oberarm verabreicht. Impfschema: Bei monovalenter Impfung (nur gegen Hepatitis A): 0–6(–12) Monate. Bei der Kombinationsimpfung (A+B): 0–1–6 Monate. Der Impfschutz beträgt nach abgeschlossener Grundimmunisierung 10 Jahre.
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Suchtmedizinische Relevanz: Patienten mit einer chronischen Hepatitis C haben ein erhöhtes Risiko für eine fulminante, mit hoher Letalität verbundene Verlaufsform der Hepatitis A (3). Die Ansprechrate auf die aktive Schutzimpfung gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ist deutlich verringert. Eine Kombinationsimpfung (A/B) ist aufgrund der besseren Immunantwort zu empfehlen.
Hepatitis B Übertragungswege: Das Hepatitis B Virus (HBV) wird parenteral übertragen. Viren lassen sich aber auch im Speichel, Ejakulat und Vaginalsekret nachweisen. Die Übertragbarkeit durch ungeschützten Geschlechtsverkehr spielt dabei eine bedeutsame Rolle, so dass die Hepatitis B den sexually transmitted diseases (STD) zugerechnet wird. Die Prävalenz der HBVInfektion ist weltweit gesehen starken Schwankungen unterworfen. In westlichen, industrialisierten Ländern beträgt die Prävalenz weniger als 1%. In Russland, Südeuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika steigt sie auf 20–55% um in einigen Regionen Afrikas und Südostasiens über 90% zu erreichen. In Ländern mit niedriger Prävalenz (weniger als ein Prozent) erfolgt die Übertragung hauptsächlich über parenterale oder sexuelle Exposition. In Regionen mit hoher Prävalenz erfolgt die Übertragung vorwiegend perinatal von der Mutter auf das Neugeborene, oder im frühkindlichen Alter. Hepatitis B stellt weltweit betrachtet die häufigste Ursache für Leberzirrhose und Leberkarzinom dar. Unter Drogenkonsumenten in Österreich und Deutschland finden sich Durchseuchungsraten, wie sie sonst nur aus unterentwickelten Ländern bekannt sind. Die Zahlen reichen von 48% bis 60% (1, 2, 4, 5). Klinik und Verlauf: Die Inkubationszeit beträgt im Mittel 2 Monate (1–6 Monate). Die typische klinische Symptomatik besteht aus einem Ikterus („Gelbsucht“) sowie Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Das Auftreten eines Ikterus als Leit-
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symptom ist altersabhängig. Bei Erwachsenen kommt es in 30–50% der Fälle zum Ikterus, bei Kindern unter 5 Jahren nur in etwa 10%. Wie bei der Hepatitis A-Infektion, gibt es auch subklinische Verläufe, mit Allgemeinsymptomen wie Krankheitsgefühl, Muskelschmerzen, Appetitlosigkeit und subfebriler Temperatur. 95% der Infektionen verlaufen akut und heilen innerhalb von 6 Monaten aus. 5% der Infektionen gehen in eine chronische Verlaufsform über. Dabei persitiert neben den Entzündungszeichen (Transaminasen) auch das Hbs-Antigen länger als 6 Monate. Bezüglich der Chronifizierungsrate besteht eine deutliche Altersabhängigkeit. Diese beträgt vor dem ersten Lebensjahr 100%. Chronische Verlaufsform: Der Verlauf einer chronischen Hepatitis B ist eine sehr komplexe Thematik, deren genaue Erörterung hier zu weit führen würde. In diesem Zusammenhang sei auf hepatologische Fachpublikationen verwiesen. Im Prinzip können zwei Verlaufsformen unterschieden werden: • Chronische Hepatitis B mit hoher Virusreplikation: Hier findet sich neben einem positivem HBe-Ag auch ein hoher Virustiter (> 100.000 copies/ml) im Blut. In der Regel geht diese Form mit deutlichen entzündlichen Veränderungen in der Leber einher. Die Transaminasen sind meistens erhöht. Bei Vorliegen dieser Form ist in der Regel ein Behandlungsbedarf gegeben. • Chronische Hepatitis B mit niedriger Virusreplikation: Hier ist kein HBe-Ag im Serum nachzuweisen und die Viruslast ist entweder niedrig (< 100.000 copies/ml) oder es findet sich überhaupt keine HBV-DNA im Blut. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um eine milde Verlaufsform, regelmäßige Kontrollen sind allerdings erforderlich (Transaminasen, Hbe-Antigen, HBV-DNA). Diagnostik: Der wichtigste serologische Parameter ist das Hbs-Antigen. Es ist sowohl in der akuten wie in der chronischen
Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C
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Tabelle 1. Typische serologische Befundkonstellationen bei Hepatitis B Infektion Marker HBsAg Anti-HBs-Ak Anti-HBc-Ak Anti-HBc-IgM-Ak HBeAg Anti-HBe-Ak HBV-DNA
Inkubation
Akute Hep.B
Chron.Hep.B HBeAg-pos.
Chron.Hep.B HbeAg-neg.
St.p.Hep.B
+ – – – – – ++(+)
+ – + + + – +++
+ – + –(+) + – +++
+ – + – – + +
– + + – – –(+) –
HBsAg: Hepatitis Bs-Antigen. Teil der Oberfläche (engl. surface) des Hepatitis B Virus. Anti-HBs-Ak: Antikörper gegen das HBs-Antigen. HBcAg: Hepatitis Bc-Antigen. Teil des Kerns (engl. core) des Hepatitis B Virus. Anti-HBc-Ak: Antikörper gegen das HBc-Antigen. Anti-HBc-IgM-Ak: Ebenfalls Antikörper gegen das HBc-Antigen. Aber eine bestimmte Subklasse von Antikörpern, nämlich IgM, auch als Frühantikörper bezeichnet. HbeAg: Hepatitis Be-Antigen. Entsteht bei der Virusvermehrung. Anti-Hbe-Ak: Antikörper gegen das HBe-Antigen. HBV-DNA: Hepatitis B Virus – Desoxyribonukleinsäure (engl. Deoxyribonucleic Acid), Erbsubstanz des Virus. St.p.Hep.B: Status post Hepatitis B. Abgelaufene und ausgeheilte Hepatitis B.
Phase nachweisbar. Anti-Hbc Antikörper sind sowohl in der akuten (IgM-Typ) als auch in der chronischen Phase (IgG-Typ) nachweisbar. Hbe-Antigen ist ein Marker der zum Nachweis für aktive virale Replikation dient. Er kennzeichnet die akute Phase einer Erstinfektion und die chronische Hepatitis B mit hoher Virusreplikation. Die serologische Diagnose einer Hepatitis B kann sehr komlex und schwierig sein und sollte in solchen Fällen spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben. Einen Überblick über die häufigsten Befundkonstellationen bietet Tabelle 1. Therapie: Prinzipiell stehen zwei unterschiedliche Behandlungsregime zur Verfügung. Interferon und Nukleosidanaloga. Die Indikationsstellung sowie die Wahl des richtigen Therapieregimes kann mitunter sehr schwierig sein und sollte jedenfalls nur von Spezialisten vorgenommen werden. • Pegyliertes Interferon α (PegIntron®, Pegasys®): Interferon hat eine immunmodulierende Wirkung. In niedrigen Dosen wirkt es dabei immunstimulierend, in hohen Dosen immunsupressiv. Weiters hemmt es die Virusreplikation.
Bei der Behandlung der chronischen Hepatitis B macht man sich die immunstimulierende Wirkung zunutze, was zu massiven Erhöhungen der Transaminasen führen kann. Einen Normalisierung erfolgt oft erst nach Beendigung der Therapie. Dosierung und Behandlungsdauer: Die Behandlung sollte über 12 Monate, in einer Dosierung wie bei der chron. Hepatitis C geführt werden. Bei fortgeschrittener Zirrhose ist Interferon relativ kontraindiziert. In diesen Fällen müssen Lamuvidine und Adefovir eingesetzt werden. • Lamuvidine (Zeffix®), Adefovir (Hepsera®): Nukleosidanaloge werden in das Virus (Genom) eingebaut und hemmen so die Virusreplikation. Das Problem liegt darin, dass die Wirkung so spezifisch sein muss, dass von dieser Replikationshemmung ausschließlich VirusDNS und nicht körpereigene DNS betroffen ist. Die Ansprechrate ist hoch, allerdings auch die Rezidivrate nach Absetzen der Therapie. Auch das Auftreten von Mutanten und damit verbundene Resistenzen verkomplizieren die Be-
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handlung. Die Vorteile sind eine sehr gute Verträglichkeit und die orale Verabreichung. Dosierung und Behandlungsdauer: Lamuvidine 100 mg täglich, Adefovir 10 mg täglich, jeweils über 1 Jahr. Impfung: Es existiert eine wirksame aktive Schutzimpfung, die beim Erwachsenen intramuskulär in den Oberarm verabreicht wird. Impfschema: Bei monovalenter Impfung (nur Hepatitis B): 0–1–6(–12) Monate. Bei der Kombinationsimpfung (A+B): 0–1–6 Monate. Bei der Kombinationsimpfung ist eine bessere Immunantwort zu erwarten. 6 Wochen nach der letzten Teilimpfung ist eine Impferfolgskontrolle empfehlenswert. Die quantitative anti HBs-Antikörper Bestimmung gibt darüber Aufschluss, wann eine Auffrischung zu erfolgen hat. Bei einem Wert von weniger als 10 mU/dl kann nicht von einem ausreichenden Impfschutz ausgegangen werden. Eine sofortige Auffrischung (Boosterung) sollte vorgenommen werden. Im Allgemeinen beträgt der Impfschutz nach abgeschlossener Grundimmunisierung 5 Jahre. Suchtmedizinische Relevanz: Angesichts der hohen Prävalenzzahlen ist drogenkonsumierenden Patienten (v.a. IVDUs) eine aktive Schutzimpfung dringend zu empfehlen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei bestehender Hepatitis C eine Hepatitis B-Koinfektion den Verlauf der Hepatitis C-Erkrankung negativ beeinflusst (6). Aufgrund einer immunmodulatorischen Wirkung der Opioide, Mangelernährung und chron. Erkrankungen (Hepatitis C, HIV) ist die Ansprechrate auf die aktive Schutzimpfung gegenüber der Durchschnittsbevölkerung mit 20–30% NonResponder-Rate deutlich verringert (7). Eine quantitative anti HBs-Antikörper Bestimmung sollte daher unbedingt durchgeführt werden. Die Kombinationsimpfung (A/B) ist der monovalenten Impfung aufgrund einer besseren Immunantwort vorzuziehen (8).
H. Haltmayer
Hepatitis C Hepatitis C ist jene Erkrankung, von der Drogenkonsumenten (IVDU) bei weitem am häufigsten betroffen sind. Während die Prävalenz in der österr. Durchschnittsbevölkerung bei 0,7% liegt, finden wir für IVDUs Werte von bis zu 80,3% (2). In der ersten Auflage wurden bezüglich der Gruppe von aktiv Drogenkonsumierenden noch die weitreichenden Behandlungseinschränkungen in damals geltenden Konsensusberichten beklagt, deren Zugang zur antiviralen Behandlung dadurch beträchtlich erschwert war. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik und positive Ergebnisse aus Studien mit substituierten Drogengebrauchern (9) bewirkten einen Umdenkprozess und die Stigmatisierung und Ausgrenzung dieser Patientengruppe konnte aufgeweicht werden. Inzwischen wird in relevanten Konsensusberichten die antiretrovirale Behandlung von Drogengebrauchern unter stabiler Substitutionsbehandlung empfohlen (10, 11). Übertragungswege: Der weitaus häufigste Übertragungsweg der Hepatitis C Viren (HCV) verläuft parenteral. Blutprodukte: Das Risiko, sich durch eine Bluttransfusion zu infizieren, ist durch die zur Verfügung stehenden Diagnosemöglichkeiten in den letzten Jahren deutlich geringer geworden. Es liegt heute für HIV bei 1 : 1,5 Millionen, für Hepatitis B bei 1 : 500.000 und für Hepatitis C bei 1 : 400.000. Akzidentelle Nadelstichverletzungen: Hier liegt das Infektionsrisiko bei ca. 3%. Die Angaben schwanken für HCV zwischen 0,3 bis 10%, für HBV zwischen 6–30% und werden für HIV mit 0,4% angegeben. Ärztliche Infektion: Fälle von Infektionen im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen, endoskopischen Untersuchungen, Dialysen, Akupunktur- oder Zahnbehandlungen werden in der Literatur immer wie-
Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C
der beschrieben. Es handelte sich dabei um Einzelfälle, in denen gegebene Hygienevorschriften nicht eingehalten wurden. Intravenöser Drogenkonsum: Diese Konsumform stellt den Hauptübertragungsweg dar und ist für den überwiegenden Teil der Neuinfektionen ursächlich. Über Kontamination mit infektiösem Blut sind alle Utensilien, die bei der intravenösen Applikation verwendet werden, potenzielle Infektionsquellen. Dabei beschränkt sich das Infektionsrisiko nicht nur auf Spritzen und Kanülen. Das Übertragungsrisiko ist dann am geringsten, wenn stets frische Injektionsutensilien verwendet und nicht mit anderen Personen geteilt werden. Piercen, Tätowieren: Hierbei ist besondere Vorsicht geboten. Es ist strengstens auf das Verwenden von Einmalgeräten bzw. auf eine ausreichende Desinfektion zu achten. Auch das übliche, gegenseitige Tauschen von Piercings beinhaltet ein Übertragungsrisiko. Durch mechanische Irritation kann es über Verletzung der (Schleim-)Haut zur Infektion kommen. Geburt: Das Übertragungsrisiko ist abhängig von der Virusbelastung der Mutter. Das Risiko liegt bei etwa 3–5%. Bei gleichzeitig bestehender HIV-Infektion ist es höher. Problematisch sind protrahierte Geburtsverläufe und große Kinder. Ein Dammriss bzw. Verletzungen im Geburtskanal erhöhen dabei das Infektionsrisiko. In solchen Fällen ist ein Kaiserschnitt zu erwägen. Generell birgt ein natürlicher Geburtsverlauf ein geringeres Infektionsrisiko als eine Entbindung per Kaiserschnitt. Ein Infektionsrisiko über die Muttermilch ist nach derzeitigem Wissen nicht gegeben. Vorsicht ist bei hoher Virusbelastung der Mutter und bei entzündlicher Veränderung der Brust geboten. Sexuell: Der sexuelle Übertragungsweg spielt bei HCV eine sehr geringe Rolle. Die Verwendung eines Kondoms zur HCVInfektionsprophylaxe wird nicht generell empfohlen. Ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht während der Zyklusblutung oder bei gleichzeitigem Bestehen von sexuell
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übertragbaren Erkrankungen oder entzündlichen Veränderungen. Haushaltskontakte: HCV wird nach heutigem Wissensstand ausschließlich durch Blut übertragen. Überall dort, wo Blutkontakt möglich ist, steigt das Infektionsrisiko. Demnach sollte das gemeinsame Verwenden von Zahnbürsten, Nassrasierern, Rasierapparaten, etc. vermieden werden. Unbekannt: Retrospektive Risikoanamnesen ergaben in 10–40% der Fälle unbekannte Infektionsquellen. NICHT übertragbar ist Hepatitis C durch Nahrungsmittel oder Wasser, gemeinsames Benützen von Essbesteck, Händeschütteln, Küssen, Husten oder Nießen, Toilettensitze oder Oralsex (außer es kommt dabei zu Blutkontakt). Klinik und Verlauf: Die Inkubationszeit beträgt im Mittel 2 Monate (1–6 Monate). Die Infektion verläuft in bis zu dreiviertel der Fälle stumm und bleibt so meist unerkannt. Eine akute Infektion mit den klassischen klinischen Zeichen wie Ikterus, tritt nur in etwa 15–20% auf. Der Krankheitsverlauf ist dann meist mild, mit unspezifischer Symptomatik wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit und allgemeinem Krankheitsgefühl. Die Transaminasen liegen meist bei < 1000 U/l. In 15–50% der Fälle gelingt es dem Körper das Hepatitis C Virus vollständig zu eliminieren. Heilt die Erkrankung nach 6 Monaten nicht von alleine aus, spricht man von einer chronischen Hepatitis C. 50–85% der Infektionen nehmen diesen chronischen Verlauf (12). Dabei entwickelt sich bei etwa 2–20% innerhalb von 20–30 Jahren eine Zirrhose. 2–5% dieser Patienten entwickeln pro Jahr eine dekompensierte Leberzirrhose und 4–15% ein Leberzellkarzinom. Prognostisch ungünstige Faktoren sind höheres Alter zum Zeitpunkt der Infektion, männliches Geschlecht, Übergewicht und Alkoholkonsum. Eine gleichzeitige Hepatitis B Infektion wirkt sich ebenfalls prognostisch ungünstig aus (6). Die Höhe der Transaminasen lässt keinen verlässlichen Rückschluss auf das Aus-
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H. Haltmayer
Tabelle 2. Serologische Diagnostik bei positivem anti-HCV-Antikörper anti-HCV-Ak
HCV-RNA
GPT
+
+
Normbereich
+
+
erhöht
+ +
– –
Normbereich erhöht
Maßnahmen Regelmäßige Kontrolle auf GPT-Erhöhung, Behandlungsindikation prüfen Regelmäßige GPT-Kontrolle. Wiederholte GPT-Erhöhung bedeutet Indikation zur antiviralen Therapie Abgeheilte Hepatitis C Abklärung bzgl. anderer Lebererkrankungen
Anti-HCV-Ak: Antikörper gegen das Hepatitis C Virus HCV-RNA: Hepatitis C Virus – Ribonukleinsäure (engl. Ribonucleic Acid), Erbsubstanz des Virus. GPT: Glutamat-Oxalacetat-Transaminase
maß der Leberentzündung zu. Ein genaues Bild über das Ausmaß von Entzündung, Fibrose bzw. Zirrhose liefert nur die Leberpunktion mit histologischer Abklärung. Eine Leberbiopsie wird allerdings nicht generell empfohlen. Patienten mit Zirrhose haben ein erhöhtes Risiko ein LeberzellKarzinom zu entwickeln. Diagnostik: Die Diagnose einer chronischen Hepatitis C erfordert primär den Nachweis von Antikörper gegen das Hepatitis C Virus (Anti-HCV). Auf einen positiven Antikörpertest hat der qualitative Nachweis von Hepatitis C Virus (HCVRNA) im Serum zu erfolgen. Folgt auf einen positiven HCV-Antikörper-Nachweis ein negativer Virusnachweis (HCV-RNA), sollte letzterer im Abstand von etwa drei Monaten zweimal wiederholt werden. So können falsch negative Befunde vermieden werden. Die Bestimmung des HCV-Genotyps (Subtyp) sowie die quantitative Bestimmung der Viruslast (HCV-RNA) sind in der Routinediagnostik nicht von Bedeutung, sie sind allerdings entscheidend bei der Therapiewahl. Wichtige Befundkonstellationen zeigt Tabelle 2. Therapie: Seit bekannt ist, dass es auch bei Transaminasen innerhalb des Normbereichs zu fortschreitender Fibrosierung der Leber kommen kann und die Behandlungsergebnisse mit denen bei erhöhten Transaminasen vergleichbar sind, sollte bei
allen Patienten mit chronischer Hepatitis C eine Behandlung in Erwägung gezogen werden (13). Für die Indikationsstellung zur antiviralen Therapie ist neben dem somatisch-internistischen Aspekt auch eine differenzierte, möglichst umfassende Abklärung der psychosozialen Situation von Patienten erforderlich. Sämtliche diagnostischen und therapeutischen Schritte haben selbstverständlich mit Einwilligung und in Abstimmung mit dem Patienten zu erfolgen. Tabelle 3 bietet einen Überblick der erforderlichen Basisuntersuchung vor Therapiebeginn und fasst die absoluten und relativen Kontraindikationen zusammen. Die Therapie der Wahl stellt bei der chronischen Hepatitis C die Kombinationstherapie mit Interferon alfa und dem Nukleosid-Analogon Ribavirin dar. Ein wesentlicher Fortschritt in der antiviralen Therapie war die Entwicklung von pegylierten (PEG) Interferon (IFN)-alpha Präparaten, PEG IFN alfa2b (PegIntron®) und PEG IFN alfa2a (Pegasys®). Diese besitzen eine längere Halbwertszeit und ermöglichen so eine Injektionsfrequenz von 1× wöchentlich. Die Dauerheilungsraten liegen bei Genotyp 1 zwischen 42 und 52%. Bei HCVGenotyp 2 oder 3 ist in über 76% bis 88% mit einer Virusausheilung zu rechnen (14, 15, 16). Einzelne Studien weisen noch höhere Heilungsraten aus. PEG Interferon alfa2a und PEG Interferon alfa2b unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit kaum.
Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C
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Tabelle 3. Checkliste für die Einleitung einer antiviralen Therapie Basis-Untersuchungen
Kontraindikationen-absolut
Kontraindikationen-relativ
Blutbild, inkl. Differentialblutbild, Thrombozyten Niere (Kreatinin, BUN) Leber (GOT, GPT, Gamma-GT) Cholinesterase, alkalische Phosphatase Blutgerinnung (PTZ, NT) Eisen, Ferritin Schilddrüse (TSH) Elektrophorese, Immun-Globuline Alpha1-Fetoprotein Blutzucker Elektrolyte (Na, K, Ca) C-reaktives Protein (CRP) Autoantikörper (ANA, SMA) Klinische Untersuchung Oberbauch-Sonographie Schwangerschafts-Test
Autoimmun-Hepatitis Unbehandelte Hyperthyreose Leberzirrhose (Child C) Malignom Systemische Autoimmunerkrankung Ungeklärte Anämie Hämoglobin < 10g/dl Leukozyten < 4.000/µl Thrombozyten < 100.000/µl
Symptomatische koronare Herzkrankheit Psoriasis, Neurodermitis Asthma bronchiale Epilepsie (anamnestisch) Depression Alkoholismus unkontrollierter Drogenkonsum bevorstehende Operation Obdachlosigkeit Hämoglobin: Bei Männern: < 13g/dl Bei Frauen: < 12g/dl
BUN: Blut-Harn-Stickstoff (engl. Blood Urea Nitrogen) GOT: Glutamat-Pyruvat-Transaminase GPT: Glutamat-Oxalacetat-Transaminase GGT: Gamma-Glutamyl-Transferase PTZ: Quickwert (Prothrombinzeit) NT: Normotest Na: Natrium K: Kalium Ca: Kalzium ANA: Antinukleäre-Antikörper SMA: Anti-(glatt-)muskuläre-Antikörper (engl. Smooth Muscle Antibody) TSH: Thyroidea Stimulating Hormone HCV-RNA: Hepatitis C Virus – Ribonukleinsäure (engl. Ribonucleic Acid), Erbsubstanz des Virus. Child C: Child-Pough Klassifikation der Leberzirrhose (Child C = geringe Leberfunktion)
Der Algorithmus zur Therapiewahl ist in Abbildung 1 dargestellt. Die Dosierungsrichtlinien sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Kontroll-Intervalle: (Tabelle 5) Kontrollen sind nach 2 und 4 Wochen und in der Folge alle 6 Wochen erforderlich. Die laborchemischen Parameter können der Tabelle 5 entnommen werden. Zu beachten sind vor allem hämatologische Effekte wie Leukopenie, Thrombopenie (IFN alpha-Nebenwirkungen) sowie ein Abfall des Hämoglobins (Ribavirin-Nebenwirkungen). Gegebenenfalls ist eine Reduktion der Ribavirin- oder Interferondosis erforderlich.
Weitere Nebenwirkungen sind Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Nausea, Depressionen, Haarausfall, Schilddrüsendysfunktionen sowie Appetit- und Gewichtsverlust. Typische Nebenwirkungen des IFN sind Müdigkeit und grippeähnliche Symptome, wie z.B. Gelenksschmerzen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Fieberschübe und Schüttelfrost. Sie treten v.a. am Beginn der Behandlung auf und bessern sich im Laufe der ersten Wochen. Durch die Gabe von Paracetamol können diese Nebenwirkungen abgemildert werden. Bei Hinweisen auf eine depressive Symptomatik im Vorfeld der Behandlung,
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H. Haltmayer
GPT normal
Therapie möglich
PEG-IFN/ 0,8 g Ribavarin/24 Wochen
Genotyp 2/3 GPT erhöht Genotyp 1
PEG-IFN/ 1–1,2 g Ribavarin/12 Wochen Genotyp 4 frühes Ansprechen
Fortsetzung für insgesamt 48 Wochen
ja
nein
Stopp
Abbildung 1. Algorithmus zur Therapie der chronischen Hepatitis C GPT: Glutamat-Oxalacetat-Transaminase PEG-IFN: pegyliertes (PEG) Interferon (IFN) Tabelle 4. Dosierungsrichtlinie für die Kombinationstherapie von Peginterferon alpha2b (PegIntron®) bzw. alpha2a (Pegasys®) + Ribavirin (Rebetol®, Copegus®) (17) PegIntron® Pegasys®
1,5 µg/kg/Woche 180 µg/Woche Ribavirin (Rebetol® 200 mg Kps.) (Copegus® 200 mg Tbl.)
Genotyp 1,4 Genotyp 2,3
KG > 75kg: 1200 mg/Tag KG < 75kg: 1000 mg/Tag 800 mg/Tag
sollte spätestens 2 Wochen vor Therapiebeginn eine antidepressive Medikation einsetzen (Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin oder Mirtazepin). Bei Patienten mit Genotyp 2,3 ist nach 24 Wochen ein Virusnachweis erforderlich. Bei Patienten mit Genotyp 1,4 wird der Behandlungserfolg bereits nach 12 Wochen überprüft. Ist nach 12 Wochen die HCVRNA im Serum nicht negativ oder nicht um zumindest 99% abgefallen, so ist ein Fortsetzen der Behandlung nicht sinnvoll, da ein Ansprechen im selben Behandlungs-
zyklus nicht mehr zu erwarten ist (18). Nach dem Absetzen kommt es durch die Immunstimulation zu einem starken Anstieg der Leberfunktionsparameter. Eine Normalisierung ist innerhalb der folgenden 6 Monate zu erwarten. Bei negativer HCVRNA wird die Kombinationstherapie bis zur 48. Woche fortgesetzt. In der 48. und 72. Woche wird jeweils wieder ein Virusnachweis vorgenommen. Ist jeweils keine HCVRNA nachweisbar, gilt der Patient nach momentanem Stand des Wissens als dauerhaft geheilt („sustained virologic response“).
Prophylaxe und Therapie der Hepatitis A, B und C
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Tabelle 5. Checkliste für die Therapiephase und Nachkontrolle Woche BB (Diff.) GPT W2 W4 W6 W 12 W 18 W 24 W 30 W 36 W 42 W 48 W 72
✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓
✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓
GGT
GOT
Krea.
BUN
NA
K
TSH
✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓
✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓
✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓ ✓
✓ ✓
✓ ✓
✓ ✓
✓ ✓
HCV-RNA
✓
✓
✓
✓
✓
✓
✓ ✓
✓ ✓
BB (Diff.): (Differntial-)Blutbild GPT: Glutamat-Oxalacetat-Transaminase GGT: Gamma-Glutamyl-Transferase GOT: Glutamat-Pyruvat-Transaminase Krea.: Kreatinin BUN: Blut-Harn-Stickstoff (engl. Blood Urea Nitrogen) Na: Natrium K: Kalium TSH: Thyroidea stimulating hormone HCV-RNA: Hepatitis C Virus – Ribonukleinsäure (engl. Ribonucleic Acid), Erbsubstanz des Virus.
HIV/HCV-Koinfektion HIV-infizierte Patienten mit HCV-Koinfektion haben eine raschere Progression der Lebererkrankung und eine höhere leberassoziierte Mortalität als HCV-Monoinfizierte. Sie zeigen eine höhere HC-Viruslast und haben ein größeres Risiko, eine Leberzirrhose zu entwickeln (19, 20). Bei der Diagnostik ist zu beachten, dass in 5–9% der Patienten der anti-HCV-Ak trotz Vorkommen von HCV-RNA im Blut negativ sein kann. Es sollte also in jedem Fall ein Virusnachweis erfolgen. Immunkompetente Patienten (CD4Zellzahl > 200/µl) werden wie HCV-Monoinfizierte therapiert, mit dem Unterschied, dass die Behandlung bei allen Genotypen über 48 Wochen geführt wird. Auf Arzneimittel-Interaktionen zwischen HAART (Highly Active Anti-Retroviral Therapy) und antiretroviraler Therapie der Hepatitis C ist zu achten. Impfung: Eine Impfung steht zurzeit nicht zur Verfügung. Suchtmedizinische Relevanz: Die Behand-
lung von Drogengebrauchern mit chron. Hepatitis C ist unter einer stabilen Substitutionsbehandlung möglich und sinnvoll (9, 10, 11). Eine gute Kooperation und Kommunikation zwischen Suchtmedizinern und Gastroenterologen bzw. eine Behandlung durch auf beide Disziplinen spezialisierte Ärzte ist im Zusammenhang mit chronischer Hepatitis C und Drogenkonsum besonders wichtig und zu empfehlen. Natürlich bieten auch Zentren, die über Gastroenterologen und Suchtmediziner verfügen, die Voraussetzung für eine erfolgreiche antivirale Behandlung. Die Ansprechraten und Ausheilungsraten bei substituierten Patienten sind denen einer nicht-substituierten Patientengruppe vergleichbar (9).
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Das A-B-C der postexpositionellen Prophylaxe Brigitte Schmied Die Empfehlungen zur postexpositionellen Prophylaxe (PEP) nach HIV-Exposition beruhen auf Kenntnissen der Pathogenese der HIV-Infektion, allgemeinen Therapiestudien und tierexperimentellen Untersuchungen. Empfehlungen zur PEP basieren nicht auf prospektiven randomisierten Studien zur Wirksamkeit der PEP, da solche aus ethischen Gründen nicht durchführbar sind. Eine retrospektive Fallstudie zur postexpositionellen Prophylaxe zeigte 1997 erstmalig einen statistisch gesicherten Vorteil einer Prophylaxe gegenüber der Nichtbehandlung. In dieser Fallkontrollstudie konnte eine Risikoverringerung um annähernd 80% durch eine, mit Zidovudine durchgeführte, Prophylaxe nachgewiesen werden. Dennoch kann die Wirksamkeit der Pep, aufgrund nachweislichen Versagens in dokumentierten Einzelfällen, nicht garantiert werden. Aufgrund einer Wirksamkeit der Pep nach Verletzungen, transkutaner und transmucosaler Exposition ist anzunehmen, dass eine Prophylaxe auch nach HIVExposition durch Sexualkontakt wirksam sein kann. Jede postexpositionelle Prophylaxe sollte nur unter fachspezifischer Überwachung und genauer Dokumentation des Vorgehens und der Ergebnisse durchgeführt werden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass keines der antiretroviralen Medikamente für diese spezielle Indikation zugelassen ist. HIV-exponierte Personen sollten schrift-
lich erklären, dass sie mit der prophylaktischen Therapie einverstanden sind und über Nutzen und Risiko und die Möglichkeit des Prophylaxeversagens informiert wurden. Exponierte Personen sollten auch bezüglich folgender Vorsichtsmaßnahmen informiert werden: – bis 12 Monate nach Exposition kein Blut spenden – bis zum Vorliegen eines aussagekräftigen HIV-Tests (3 Monate nach Exposition bzw. nach Beendigung der PEP) Safer Sex einhalten
Infektionsrisiko Die Wahrscheinlichkeit der HIV-Übertragung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Je höher die Virusmenge ist, desto höher ist das Risiko der Ansteckung. Weitere Faktoren sind die Virulenz des Erregers, die Immunabwehr des Betroffenen, Art und Dauer der Exposition. Die statistische Wahrscheinlichkeit liegt für die unterschiedlichen Übertragungswege in vergleichbarer Größenordnung zwischen 1 pro 100 Kontakten und 1 Infektion pro 1000 Kontakten post expositionem. Nur die Übertragung von der Mutter auf das Neugeborene ohne Prophylaxe ist deutlich häufiger mit etwa 15%. Zur Einschätzung des Infektionsrisikos und zur Abklärung einer möglichen Resistenz des HI Viruses sollten die folgenden Faktoren beachtet werden: Art des übertragenen Materials Blut, Samenflüssigkeit und Vaginalsekret
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B. Schmied
Tabelle 1. Expositionsrisiko in Relation zum mittleren Risiko Art der Exposition
Expositionsrisiko in Relation zu mittlerem Risiko
Sehr tiefe Stich- und Schnittverletzungen Sichtbare frische Blutspuren auf dem verletzenden Instrument Verletzende Kanüle oder Nadel war zuvor in einer Vene oder Arterie platziert Indexperson hat hohe Viruslast Exposition von Schleimhaut Exposition von entzündlich veränderten Hautpartien
16:1 5:1
haben die höchste Viruskonzentration bei HIV-Infizierten. In anderen Körperflüssigkeiten ist HIV in deutlich niedrigeren Konzentrationen vorhanden, sodass eine Übertragung zwar denkbar aber nicht beschrieben ist. HIV wird nicht über Tröpfcheninfektion übertragen.
5:1 6:1 10:1 10:1
ter den in Tabelle 1 genannten Bedingungen. Serokonversionen nach SchleimhautKontamination, Kontakt mit offenen Wunden oder nicht intakter Haut sind beschrieben. Das durchschnittliche Risiko bei Schleimhautexposition und entzündlichen Hautpartien liegt um 0,03%.
Viruskonzentration (VK) Die Menge des Virus ist wohl der bedeutendste Faktor bei der Abschätzung der Infektionsgefahr und der Übertragungswahrscheinlichkeit. Die VK in Gewebe und Körperflüssigkeiten ist abhängig von der Virusvermehrung. Diese ist im Stadium der akuten HIVInfektion und bei fortgeschrittenem Immunmangelsyndrom und/oder nicht antiretroviral supprimierter Virämie am höchsten. (Erhöhung des Übertragungsrisikos bis auf das 17-fache!) Art der Exposition Berufliche HIV Übertragungen sind bisher nur durch Blut- oder Viruskonzentrat erfolgt und zwar bei Stich- und Schnittverletzungen. Vermutlich sind Verletzungen mit Hohlraumnadeln gefährlicher als mit chirurgischen Nadeln. Durchschnittliches Risiko einer HIV Infektion nach perkutaner Exposition mit Blut von HIV Infizierten liegt – nach den bisher vorliegenden Daten – bei 0,3%. Ein höheres Infektionsrisiko im individuellen Fall besteht nach Analyse der Verletzungs- und Expositionsarten un-
Dauer der Exposition Grundsätzlich gilt je länger die Verweildauer infektiöser Flüssigkeit auf Wunden, geschädigter Haut oder Schleimhäuten desto höher wird die Wahrscheinlichkeit der Übertragung. Mögliche Nebenwirkungen einer PEP Häufig kommt es, vor allem in den ersten Behandlungstagen, zum Auftreten von reversiblen, gastrointestinalen Nebenwirkungen. Beim Einsatz von Proteaseinhibitoren sind eine erhöhte Insulin-Resistenz und eine Erhöhung der Blutfettspiegel beschrieben sowie Nierensand/Nierensteine bei Einnahme von Indinavir. Hyperprolaktinämie und Galaktorrhoe trat in seltenen Einzelfällen auf. Medikamente, die zwar sehr seltene, aber nicht immer reversible Nebenwirkungen verursachen können (Nevirapin, Abacavir), sollten nur in gut begründeten Fällen verwendet werden. Das A-B-C der Postexpositionellen Prophylaxe Nach jeder HIV Exposition sollten zu-
Das A-B-C der postexpositionellen Prophylaxe
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nächst die folgenden Sofortmaßnahmen unverzüglich eingeleitet werden:
oder notfalls mit Leitungswasser verdünnt zur antiseptischen Augenspülung eingesetzt werden.
A Abspülen: Lokale Maßnahmen (Blutfluss fördern, Reinigung, Desinfektion) B Beurteilung des Infektionsrisikos: Indikationstellung C Chemoprophylaxe: Initiierung der PEP Anschließend: erste serologische Testuntersuchungen bezüglich HIV sowie Hepatitis B und C und Unfalldokumentation A Abspülen – lokale Maßnahmen Stichverletzung Bei geringem Blutfluss, kann dieser durch Kompression und gleichzeitiges Auspressen des Gefäßes oberhalb der Stichverletzung verstärkt werden. Abbinden und Quetschen im Einstichbereich kann eine Erregerverschleppung in tiefere Gewebeschichten begünstigen und sollte vermieden werden. Anschließend Spülung und danach Tupfer mit viruzidem Antiseptikum benetzen, über der Stichverletzung fixieren durch weitere Applikation des Antiseptikums Feuchthalten. Schnittverletzung Gegebenenfalls Blutfluss durch Spreizen der Wunde verstärken, danach antiseptische Spülung mit viruzidem Antiseptikum (> 1 Min.) und danach mit Antiseptikum getränkten Tupfer fixieren und gegebenenfalls erneut tränken (0,5–1 h). Hautexposition bei geschädigter oder entzündlich veränderter Haut Entfernen des potenziell infektiösen Materials mit einem Antiseptikum-getränktem Tupfer. (Jodophorhältiges Antiseptikum, z.B. Betaisodona, wenn nicht vorhanden Hautantiseptikum auf Äthanolbasis.) Kontamination des Auges Reichliches Ausspülen des Auges mit Wasser oder Kochsalzlösung oder 2,5%iger wässriger PVP-Jodlösung, oder anderem augenverträglichem Antiseptikum, Nachspülen mit Wasser. Falls diese Lösung nicht griffbereit verfügbar ist kann BetaisodonaLösung 1:1 mit sterilem Aqua destillata
Aufnahme in die Mundhöhle Sofort möglichst vollständiges Ausspeien des aufgenommenen Materials, danach mehrfaches Ausspülen der Mundhöhle mit 80%igem unvergälltem Äthanol. B Beurteilung des Infektionsrisikos: Indikationsstellung Das Abschätzen des Infektionsrisikos ist notwendige Voraussetzung für eine rationale Entscheidung, d.h. für einen kalkulierten Einsatz der medikamentösen Prophylaxe. Durchschnittliches Risiko einer HIVInfektion nach perkutaner Exposition mit Blut von HIV Infizierten liegt – nach den bisher vorliegenden Daten – bei 0,3%. Das durchschnittliche Risiko bei Schleimhautexposition und entzündlicher Hautpartien liegt um 0,03%. Bei der Einschätzung des konkreten Infektionsrisikos und zur Entscheidung welche Prophylaxe am wirksamsten sein kann, dienen folgende Fragen: Wann fand die Kontamination statt? Wie schwerwiegend ist die Kontamination? Stichverletzung mit Hohlraumnadel? Ist das verletzende Instrument mit Blut kontaminiert? Inspektion vorliegender Verletzungen im Hinblick auf tiefe und gegebenenfalls eröffnete Blutgefäße Schleimhautkontakt? Von welcher Indexperson stammt das Material? Ist die Indexperson nachweislich infiziert oder wie wahrscheinlich ist eine HIVInfektion? – Anamnese In welchem Stadium der HIV-Erkrankung befindet sich die Indexperson? Wie hoch ist die Virämie der Indexperson? Wird die Indexperson behandelt und wenn ja, mit welcher Art von Medikamenten? Wo ist die Indexperson in Betreuung? Ist ein Rückschluss auf bestehende Resistenzen zu ziehen?
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B. Schmied
Tabelle 2. Indikation zur HIV-PEP bei beruflicher HIV-Exposition (1) – Perkutane Verletzung mit Injektionsnadel oder anderer Hohlraumnadel (Körperflüssigkeit mit hoher Viruskonzentration: Blut, Liquor, Punktatmaterial, Organmaterial, Viruskulturmaterial) • Tiefe Verletzung (z.B. Schnittverletzung), sichtbares Blut • Nadel nach intravenöser Injektion • Indexpatient hat AIDS oder eine hohe HI-Viruskonzentration • Oberflächliche Verletzung (z.B. mit chirurgischer Nadel) – Perkutaner Kontakt mit anderen Körperflüssigkeiten als Blut (wie Urin oder Speichel) – Kontakt zu Schleimhaut oder verletzter/geschädigter Haut mit Flüssigkeiten mit hoher Viruskonzentration – Kontakt von intakter Haut mit Blut (auch bei hoher Viruskonzentration) – Haut- oder Schleimhautkontakt mit Körperflüssigkeiten wie Urin und Speichel
Empfehlen Empfehlen Empfehlen Empfehlen Anbieten Nicht empfehlen Anbieten Nicht empfehlen Nicht empfehlen
(1) Österr.-Deutsche Richtlinien zur Postexpositionellen Prophylaxe
Gibt es eine genotypische und/oder phenotypische Resistenzbestimmung? Die Beantwortung dieser Fragen dient zur Risikoeinschätzung und zur Entscheidung hinsichtlich Zusammensetzung der Prophylaxe. Es darf aber zu keiner Verzögerung der Initiierung der PEP durch fehlende Informationen kommen. Gegebenenfalls PEP beginnen, anschließend weitere Informationen einholen. Nicht jeder berufliche Risikokontakt führt zu einer HIV Übertragung. Bei unbekanntem Serostatus der Indexperson soll die Empfehlung zur HIV PEP zurückhaltend gehandhabt werden. Gegebenenfalls kann vorläufig eine HIV PEP begonnen werden bis zum Einlangen der Befunde der Indexperson. (Aufklärung und Einwilligung erforderlich!) Eine HIV PEP sollte in jedem Fall bei Kontakt mit erhöhtem Infektionsrisiko mit HIV-infizierten Indexpersonen empfohlen werden. Eine HIV PEP wird angeboten bei Schleimhaut- oder Hautkontakt bei Hautekzem, frischer Wunde oder bei sichtbaren Verletzungen. Nach Expositionen mit einem sehr viel geringerem Infektionsrisiko als im Durchschnitt (oberflächliche Verletzung mit nur minimal übertragener Blutmenge) ist eine Prophylaxe nicht empfohlen, kann in
diesen Fällen aber auf ausdrücklichen Wunsch der exponierten Person durchgeführt werden. Eine HIV PEP sollte nicht empfohlen werden bei allen fraglichen HIV Expositionen ohne bzw. mit geringem Risiko wie z.B. Kontakt von infektiösem Material mit intakter Haut. Zeitpunkt des Beginns einer HIV PEP Im Idealfall sollte die PEP innerhalb von 1–2 Std. begonnen werden. Bei einem Beginn zumindest innerhalb der ersten 24 Stunden sind die besten Chancen auf eine erfolgreiche PEP zu erwarten. Über eine Durchführung zw. 24–72 h im Einzelfall kann unter Berücksichtigung der Exposition entschieden werden. Liegen mehr als 72 Stunden zwischen Exposition und PEP-Beginn ist, nach derzeitigem Kenntnisstand eine PEP nicht empfohlen. Ein engmaschiges Monitoring (Beachtung der klinischen Symptome der akuten HIV-Infektion, HIV-PCR 2 Wochen nach Exposition, Antikörperteste in zweiwöchigem Abstand zwischen Woche 4 und 12) sollte unbedingt durchgeführt werden. Nur Ausnahmefälle wie nachweisliche Transfusion virushaltigen Materials rechtfertigen auch einen späteren Beginn.
Das A-B-C der postexpositionellen Prophylaxe
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Tabelle 3. Standard - Kombinationen zur HIV-PEP* Standard – Kombinationen zur HIV-PEP Zidovudin + Lamivudin entweder als Combivir® (2 × 300/150 mg) oder als Retrovir® (2 × 250 mg) plus Epivir® (2 × 150 mg oder 1 × 300 mg)
Kombiniert mit
Nelfinavir (Viracept® 2 × 1250 mg) oder Indinavir (Crixivan® 3 × 800 mg) oder Lopinavir/rit (Kaletra®, 2 × 400/100 mg) oder Efavirenz® (Sustiva®/ Stocrin® 1 × 600 mg)
* Efavirenz in der Schwangerschaft kontraindiziert! Bei Schwangerschaft evtl. nur Zidovudin und Lamivudin
Standardprophylaxe und Modifikation Die Standardprophylaxe besteht derzeit aus einer Kombination von 2 reversen Transkriptasehemmern (RTI) und einem Proteaseinhibitor (PI). Als Kombinationspartner zu den diversen NRTIs kann auch ein nichtreverser Transkriptase-Inhibitor (NNRTI) gewählt werden. Zidovudin sollte unter Berücksichtigung der einzigen bisherigen Prophylaxeergebnisse ein fixer Kombinationspartner sein, sofern nicht aufgrund einer entsprechenden Vorbehandlung der Indexperson eine Zidovudin Resistenz angenommen werden muss. Die derzeit zur Verfügung stehenden antiretroviralen Medikamente sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Die im Einzelfall zu verabreichende Kombination sollte sich zusätzlich an dem aktuellen Stand von Therapieempfehlungen orientieren. (Z.B. Deutsch-Österreichische Konsensusempfehlungen zur antiretroviralen Therapie). Kenntnisse über Neben- oder Wechselwirkungen oder ev. zu erwartende Spätfolgen sind zu beachten. Die Frage nach möglichen Resistenzen soll die Erstbehandlung nicht hinauszögern – mit der Prophylaxe soll unmittelbar begonnen werden. Bei Auswahl und Kombination der Schemata sollte immer Art und Dauer der Vorbehandlung der Indexperson berück-
sichtigt werden. Nach Möglichkeit sind Medikamente zu bevorzugen, gegen die bei der Indexperson keine Resistenz besteht (genotypische oder phenotypische Resistenzbestimmung). Eine Resistenz ist – bei nicht vorliegenden Resistenztestergebnissen – anzunehmen, wenn trotz Behandlung eine hohe Viruslast nachweisbar ist. Aus diesen Gründen sollte die HIV PEP immer in Zusammenarbeit mit einem Schwerpunktzentrum für HIV Therapie erfolgen bzw. dort erfolgen. Behandlungsdauer Die Prophylaxe sollte 4 Wochen lang durchgeführt werden. In Ausnahmefällen wie späterem Prophylaxebeginn (> 36 Stunden) in Situationen mit hohem Infektionsrisiko kann eine Prophylaxedauer von mehr als 28 Tagen sinnvoll sein. HIV PEP bei Schwangerschaft und Stillen Ist von der HIV Exposition eine Frau in gebärfähigem Alter betroffen, die keine sichere Kontrazeption durchgeführt hat, sollte eine PEP bei entsprechender Indikation begonnen werden, sofort aber auch ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden. Die Gabe antiretroviraler Substanzen ist während aller Abschnitte der Schwangerschaft kritisch abzuwägen. Die einge-
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B. Schmied
Tabelle 4. Dosierung und wesentliche unerwünschte Wirkung (auch bei Schwangerschaft) von antiretroviralen Medikamenten, die prinzipiell für eine PEP zur Verfügung stehen Substanzname
Handelsname
Dosierung
mg/ NebenEinh. wirkungen
Anweisungen
Zidovudin (ZDV) Lamivudin (3TC) Zidovudin+ Lamivudin Stavudin (d4T) Didanosin (ddI) Tenofovir Lopinavir/R Nelfinavir (NFV) Indinavir (IDV) Amprenavir (APV) Saquinavir (SQV) Ritonavir (RTV) Efavirenz (EFV) Nevirapin (NVP)
Retrovir®
2 × 1 Kps.
250
Weiternehmen
Epivir® Combivir®
2 × 1 Tbl. 1 × 1 Tbl. 2 × 1 Tbl.
150 300 450
Zerit®
2 × 1 Kps. (ca) 40
Videx® Viread® Kaletra® Viracept®
1 × 1 Tbl. (ca) 250 400 1 × 1 Tbl. 300 CPK, Pankreatitis 2 × 2 Tbl. 200/50 Übelkeit 2 × 5 Kps. 250 Diarrhoe
Absetzen Weiternehmen Sympt. Therapie, weiter
Crixivan®
3 × 2 Kps.
400
Nierensteine
2–3 l Flüssigkeit/d
Agenerase®
2 × 6 Kps.
150
Fortovase®
3 × 6 Kps.
200
Exanthem, Diarrhoe Diarrhoe
Absetzen Sympt. Therapie, weiter Sympt. Therapie, weiter
Norvir®
X
100
Diarrhoe
Sympt. Therapie, weiter
Sustiva®/ Stocrin® Viramune®
1 × 3 Kps. 1 × 1 Kps. . .\
200 600 200
Schwindel, ggf. Dosis über 3 Std. Albträume verteilen (abends!) Allerg. Exanthem, Absetzen tox. Hepatitis
Kopfschmerzen, Übelkeit selten
Keine
wie bei Zidovudin Weiternehmen Periphere Absetzen Neuropathie Selten Pankreatitis Absetzen
(ca.) = körpergewichtsabhängige Dosierungsvorschriften beachten X = Ritonavir im Rahmen der PEP vorzugsweise zur Boosterung anderer PIs, nicht als einzigen PI einsetzen (schlechte Verträglichkeit) . .\ = Nevirapin wird mit einer einschleichenden Dosierung verabreicht: 1 × 1 Tablette (200mg) täglich für die ersten 14 Tage. Nevirapin sollte zur PEP nur ausnahmsweise und in Form einer Kurzzeitprophylaxe (1–2 Dosen) eingesetzt werden.
hende Beratung über Nutzen/Risiko und NW ist bei Schwangeren besonders wichtig. Eine in HIV-Fragen erfahrene Person zur Schwangerenberatung sollte hinzugezogen werden. Soweit untersucht, könnten alle antiretroviralen Medikamente in relevantem Umfang auch in der Muttermilch nachgewiesen werden. Bei postexponentieller Kombinationstherapie und gleichzeitigem Stillen ist deshalb auch eine Stillpause mit Abstillen in Erwägung zu ziehen. Unerwünschte Interaktionen Alle Proteaseinhibitoren sowie Nicht-nukleoside Reverse Transkriptase Inhibitoren
können aufgrund ihrer Metabolisierung über das Zytochrom P450 Wechselwirkungen und Interaktionen mit einer Vielzahl anderer Medikamente und Substanzen aufweisen. Daher ist bei einer postexpositionellen Gabe dieser Substanzen auf eine möglichst vollständige Medikamentenanamnese zu achten und die Betroffenen darauf hinzuweisen, dass während der gesamten Dauer der PEP die Einnahme anderer Medikamente zuvor mit dem die Prophylaxe überwachenden Arzt besprochen werden muss. Proteaseinhibitoren sollten z.B. nicht gleichzeitig mit Antihistaminika – wie Terfenadin (Triludan®), Astemizol (Hismanal®) – Hypno-
Das A-B-C der postexpositionellen Prophylaxe
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Tabelle 5. Untersuchungen des Betroffenen Zeitpunkt
HIV-Ak
HIV-PCR
Hepatitis B/C
BB, Chemie, Harn
Baseline 2 Wochen 4 Wochen 3 Monate 6 Monate 12 Monate
+
+* +* +*
HCV PCR *+ AK HCV PCR* +Ak +AK +AK +AK
+ + +
+ + + +
* = optional
tika wie Triazolam (Halcion®) und Midazolam (Dormicum®) – sowie dem motilitätssteigernden Cisaprid (Prepulsid®) oder dem Tuberkulostatikum Rifampicin (Rifoldin®), gerinnungshemmenden Medikamenten (Macoumar®) und Kontrazeptiva verabreicht werden.
Laborkontrollen Untersuchung der HIV exponierten Person HIV und Hepatitisserologie zum Zeitpunkt der Exposition zum Ausschluss einer bereits vorbestehenden Infektion. Begleitend zur HIV PEP sollten regelmäßige Kontrollen weiterer Laborwerte wie Blutbild, Transaminasen, Gamma-GT,
Kreatinin, Harnsäure und Blutzucker sowie der Blutfettwert unmittelbar nach der Exposition und nach einer Woche bzw. nach zwei Wochen und nach Ende der Therapie durchgeführt werden (Tabelle 6). Besteht das Risiko einer Hep. B Virusexposition? Wenn ja – bei Umgeimpften umgehendes Einleiten einer aktiven und passiven Hepatitis B Immunisierung. Hinsichtlich Hepatitis C ist derzeit von den gastroenterologischen Fachgesellschaften keine Prophylaxe empfohlen. Kommt es nach Beendigung der PEP zum Auftreten von Symptomen im Sinne eines retroviralen Syndroms, so sind entsprechende serologische Untersuchungen (vor allem HIV-PCR) jederzeit zu veranlassen.
Tabelle 6
Stich- oder Schnittverletzung
Kontamination von geschädigter Haut, Auge oder Mundhöhle
Blutfluss fördern durch Druck auf das umliegende Gewebe (≥ 1 Minute)
Intensive Spülung mit nächstmöglich Geeignetem: Wasser oder Kochsalz, ggf. PVP-Jodlösung
Intensive antiseptische Spülung bzw. Anlegen eines antiseptischen Wirkstoffdepots Ggf. systemische, medikamentöse Postexpositionsprophylaxe Unfalldokumentation Erster HIV-Antikörper-Test, Hepatitis-Serologie Für Anfragen im Notfall steht die Immunambulanz des OWS täglich von 0–24 Uhr unter Telefon +43-1/91060/42710 zur Verfügung
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Untersuchung der Indexperson Einverständnis zur Durchführung eines HIV-Tests und der Hepatitis Serologie sollte eingeholt und dann die Untersuchung durchgeführt werden (HIV-Antikörper und Hepatitis Serologie, B und C). In jedem Fall ist eine genaue Untersuchung und Anamnese der Indexperson wünschenswert. (Tabelle 6). Wenn die HIV-Infektion der Indexperson gesichert ist, und seit mehreren Monaten keine Kontrolle durchgeführt wurde, sollte eine neue Bestimmung der CD4-Zahl
B. Schmied
und des aktuellen Viralloads inkl. Resistenzbestimmung durchgeführt werden. Ist die Indexperson gesichert HIV-infiziert, ist anamnestisch zu erfragen ob eine antiretrovirale Therapie und wenn ja welche dzt. eingenommen wird bzw. welche Medikamente in den Monaten/Jahren zuvor eingenommen wurden, um bis zum Einlangen der Resistenztestergebnisse bereits die am ehesten wirksame Therapie einleiten zu können. Steht der Patient in einer HIV Spezialabteilung in Betreuung oder bei einem niedergelassenen Hausarzt, sind diese zu nennen um mit ihnen in Kontakt zu treten.
Antiretrovirale Therapie Brigitte Schmied Einleitung Die Verfügbarkeit und Anwendung von wirksamen antiretroviralen Kombinationstherapien sind fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Mittlerweile wurden über 20 antiretrovirale Substanzen in vier Medikamentenklassen zugelassen; eine fast unübersehbare Vielzahl von Kombinationen ist denkbar. Dies darf nicht darüber hinweg täuschen, dass nur eine kleine Zahl dieser Kombinationen sinnvoll ist. Die Infektion ist dadurch besser behandelbar, die Behandlung ist jedoch noch schwieriger geworden. Indikationsstellung, Auswahl der individuell am besten geeigneten Therapie, Schulung und Beratung des Patienten und Therapiemonitoring erfordern ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung im Umgang mit HIV-infizierten Patienten. Diese Therapieleitlinie bewertet die Indikation und Auswahl der ersten Therapiekombination. Grundlagen Die Hemmung der Virusreplikation durch eine antiretrovirale Therapie verhindert die Krankheitsprogression, führt zur Rückbildung HIV-bedingter Symptome und zu einer klinisch relevanten Immunrekonstitution (1–4). Die Prognose HIV-infizierter Patienten hat sich hierdurch dramatisch verbessert (5). Gerade die bessere Wirksamkeit der heute verfügbaren antiretroviralen Kombinationstherapien sowie die Nebenwirkungen dieser Therapien hat jedoch die Diskussion über den idealen Zeitpunkt des Beginns der Therapie der HIV-
Infektion erneut angefacht. Die Dauer einer einmal begonnenen Therapie hat sich wegen der guten Wirksamkeit und der immer unwahrscheinlicher erscheinenden Möglichkeit einer Eradikation des Virus deutlich verlängert. Der „ideale“ Zeitpunkt für den Therapiebeginn ist bisher durch keine randomisierte Studie definiert worden, und dies wird sich auch in der nahen Zukunft kaum ändern. Es gibt gute Argumente sowohl für einen möglichst frühen Therapiebeginn als auch für einen möglichst späten, ohne dass für eine der beiden Haltungen eine Evidenz-basierte Empfehlung möglich ist. Argumente für einen frühen Therapiebeginn sind: – HIV ist eine Infektionskrankheit, und eine antiinfektiöse Therapie wird üblicherweise so früh wie möglich eingeleitet; – bei lange anhaltender Replikation des HIV könnte für das Immunsystem ein „point-of-no-return“ überschritten werden, von dem aus eine Wiederherstellung des Immunsystems nicht mehr möglich ist; – eine lange anhaltende Replikation führt aufgrund des Selektionsdruckes des Immunsystems zu Virusmutationen, so dass eine Vielzahl von Quasispezies und Fluchtmutationen entsteht, deren Hemmung durch antivirale Therapie und Immunantwort möglicherweise schwieriger ist; – Senkung des Transmissionsrisikos; – es könnte sein, dass bestimmte schwerwiegende klinische Komplikationen der
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HIV-Infektion (z.B. HIV-assoziiertes Lymphom, Zervix- oder Analkarzinom) bei einem frühen Therapiebeginn mit geringerer Wahrscheinlichkeit auftreten. Argumente für einen späten Therapiebeginn sind: – Einnahmefehler bei der antiretroviralen Kombinationstherapie sind wahrscheinlich und können zu einer Unwirksamkeit späterer Therapien führen; – die tägliche Medikamenteneinnahme bedeutet eine deutliche körperliche und psychische Belastung, insbesondere bei asymptomatischen Patienten, bei denen sie zu einem stärkeren Krankheitsgefühl und einer deutlichen Minderung der Lebensqualität führen kann; – eine klinische Besserung und Immunrekonstitution kann auch noch bei Therapiebeginn in einem weit fortgeschrittenen Stadium der HIV-Erkrankung beobachtet werden; – im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten ist bei der HIV-Infektion derzeit weder eine Eradikation des Erregers möglich, noch durch eine Therapie eine diese überdauernde Kontrolle der Virusreplikation induzierbar. Einigkeit besteht über das Ziel, das Auftreten einer symptomatischen HIV-Infektion so lange wie möglich zu verhindern sowie darüber, eine Therapie zu beginnen, bevor erhebliche Schäden des Immunsystems eingetreten sind. Allgemeine Therapieprinzipien Das Ziel einer initialen antiretroviralen Therapie ist deshalb, die Viruslast unter die derzeitige Quantifikationsgrenze von 20–50 HIV-RNA-Kopien/ml abzusenken. Eine unzureichende Senkung der Viruslast unter Therapie führt rasch zur Selektion von resistenten Virusmutanten bzw. zum virologischen Therapieversagen mit daraus resultierender Gefahr einer klinischen Progression. Eine weitestgehende Hemmung der Virusreplikation verlängert die
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Therapiewirkung und bewirkt daher eine lang anhaltende Risikoreduktion. Dies erfordert eine hohe antivirale Aktivität der eingesetzten Medikamenten-Kombination (6, 7). Als Ursache, häufig jedoch auch als Konsequenz einer fehlenden Replikationshemmung, kann eine Resistenz des HIV gegen die entsprechenden Substanzen auftreten (8). Bei Indikationsstellung einer antiretroviralen Therapie muss eine Abwägung möglicher Vor- und Nachteile im Dialog zwischen spezialisiertem Arzt und gut informiertem Patienten vorgenommen werden. Eine vorschriftsmäßige und regelmäßige Einnahme der Medikation ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer antiretroviralen Therapie (9, 10). Behandlungsindikationen Symptomatische Patienten Die antiretrovirale Therapie verlangsamt die Progression der HIV-Erkrankung (Fortschreiten in die klinischen Stadien B bzw. C der CDC-Klassifikation) eindrücklich, unabhängig von Immunstatus und Viruslast. Auch HIV-assoziierte Symptome und Manifestationen können durch eine antiretrovirale Therapie positiv beeinflusst werden. Deshalb ist hier eine Behandlungsindikation gegeben. Asymptomatische Patienten Asymptomatische Patienten mit CD4± Zellen < 200/µl (15%) im Blut haben unabhängig vom Ausmaß der Virusreplikation ein deutlich erhöhtes Risiko für eine immunologische und klinische Progression, das durch eine antiretrovirale Therapie vermindert werden kann (11, 12). Eine Behandlung für diese Patienten ist deshalb sinnvoll und klar indiziert. Liegen die CD4-Lymphozyten im Bereich zwischen 200 und 350 CD4+/µl bzw. im Bereich von unter 15–20% Anteil der CD4-Lymphozyten an den Gesamtlymphozyten sollte die Höhe der Viruslast bei der Therapieentscheidung miteinbezogen werden.
Antiretrovirale Therapie
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Tabelle 1. Antiretrovirale Stoffklassen, Substanzen und Dosierungen Substanz bzw. Substanzgruppe
Wichtigste Nebenwirkungen
DiätVorschrift
Dosis1 Darreichungsform
Reverse Transkriptase Inhibitoren – Nukleosidanaloga hepatische Steatose, selten Laktatazidose, Lipodystrophiesyndrom7 2 × 300 mg Tabletten à 300 mg Saft
Abacavir Handelsname: Ziagen®
HypersensitivitätsSyndrom
Didanosin Handelsname: Videx®
Pankreatitis, Neuropathie, Lipoatrophie
Emtricitabin Handelsname: Emtriva®
Kopfschmerz, Anämie
1 × 200 mg Kapseln à 200 mg Saft 10 mg/ml
Lamivudin Handelsname: Epivir®
Kopfschmerz
1 × 300 mg oder 2 × 150 mg Tabletten à 300 mg oder 150 mg Lösung
Stavudin Handelsname: Zerit®
Neuropathie, Pankreatitis, Lipoatrophie
> 60 kg KG: 2 × 40 mg < 60 kg KG: 2 × 30 mg Kapseln à 40 mg oder 30 mg
Zidovudin Handelsname: Retrovir®
Neutropenie, Anämie, Myopathie, Lipoatrophie (geringer)
2 × 250 mg Kapseln à 250 mg, Saft
Kombinationspräparat: Lamivudin+Zidovudin Handelsname: Combivir®
Kopfschmerz, Neutropenie, Anämie, Myopathie
2 × (150 mg + 300 mg) Tabletten à (150 mg/300 mg)
Kombinationspräparat: Lamivudin + Zidovudin + Abacavir Handelsname: Trizivir®
Kopfschmerz, Neutropenie, Anämie, Myopathie, HypersensitivitätsSyndrom
2 × 150 mg + 2 × 300 mg Tabletten à 2 × 300 mg (150 mg/300 mg/ 300 mg)
Nüchtern einnehmen
> 60 kg KG: 1 × 400 mg < 60 kg KG: 1 × 250 mg oder 2 × 125 mg Kapseln à 400 mg, 250 mg oder 125 mg Pulver
Kombinationspräparat: Lamivudin+Abacavir Handelsname: Kivexa®
1 × 300 mg + 1 × 600 mg Tabletten à (300 mg/600 mg)
Kombinationspräparat: Tenofovir+Emtricitabin Handelsname: Truvada®
1 × 300 mg + 1 × 200 mg Tabletten à 300 mg/200 mg
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Tabelle 1 (Fortsetzung) Substanz bzw. Substanzgruppe
Wichtigste Nebenwirkungen
DiätVorschrift
Dosis1 Darreichungsform
Reverse Transkriptase Inhibitoren – Nukleotidanaloga 1 × 245 mg Tabletten à 300 mg
Tenofovir Handelsname: Viread®
Gastrointestinale Beschwerden (Durchfall, Übelkeit), selten Nierenfunktionsstörungen
Protease- Inhibitoren2 (PI)
Glukoseintoleranz, Fettstoffwechselstörungen, Lipodystrophiesyndrom,7 gastrointestinale Beschwerden
Fosamprenavir Handelsname: Telzir® (USA: Lexiva®)
Diarrhoe
Atazanavir Handelsname: Reyataz®
Hyperbilirubinämie, Diarrhoe, Kopfschmerzen
Mit Mahlzeit einnehmen
1 × 400 mg in Kombi. mit Ritonavir Atazanavir: 1 × 300 mg Ritonavir: 1 × 100 mg Kapseln à 100, 150 oder 200 mg
Indinavir Handelsname: Crixivan®
Nephrolithiasis, Hyperbilirubinämie, trockene Haut und Schleimhäute, Onychodystrophie
Nüchtern bzw. fettreduziert einnehmen
3 × 800 mg In Kombi. mit Ritonavir Indinavir: 2 × 400 mg Ritonavir: 2 × 100 mg Kapseln à 400 mg
Lopinavir + Ritonavir Handelsname: Kaletra®
Fettstoffwechselstörungen, Übelkeit, Diarrhoe
Mit Mahlzeit einnehmen
2 × 400 mg + 2 × 100 mg Kapseln à (133 mg/33 mg) Tabletten à 200 mg/50 mg Lösung
Nelfinavir Handelsname: Viracept®
Diarrhoe, Übelkeit
Nicht nüchtern einnehmen
2 × 1250 mg Tabletten à 250 mg Pulver
Ritonavir Handelsname: Norvir®
Diarrhoe, Übelkeit, Hypertriglyzeridämie
Saquinavir Handelsname: Invirase ® 3
Diarrhoe, Übelkeit (meist mild)
2 × 1400 mg in Kombi. mit Ritonavir Fosamprenavir: 1 × 1400 mg Ritonavir: 1 × 200 mg oder Fosamprenavir: 2 × 700 mg Ritonavir: 2 × 100 mg Tabletten à 700 mg
Üblicherweise nur zur Boosterung verwendet: 2 × 100 mg – 2 × 200 mg Saft: 2 × 1,3 ml Kapseln à 100 mg Saft Mit protein/ fettreicher Kost einnehmen
In Kombination mit Ritonavir: Saquinavir: 2 × 1000 mg Ritonavir: 2 × 100 mg Tabletten à 500 mg
Antiretrovirale Therapie
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Tabelle 1 (Fortsetzung) Substanz bzw. Substanzgruppe
Wichtigste Nebenwirkungen
DiätVorschrift
Dosis1 Darreichungsform
Reverse Transkriptase Inhibitoren – Nichtnukleosidisch (NNRTI) Delavirdin Handelsname: Rescriptor®
Arzneireaktionen Arzneiexanthem
3 × 400 mg Tabletten à 200 mg
Efavirenz 5 Handelsname: Sustiva®, Stocrin®
Psychotrope NW; Arzneiexanthem
1 × 600 mg Kapseln à 200 mg Tabletten à 600 mg
Nevirapin 4 Handelsname: Viramune®
Arzneiexanthem, Hepatotoxizität
2 × 200 mg 14 Tage 1 × 200 mg, dann 2 × 200 mg Tabletten à 200 mg
Fusionsinhibitoren
Arzneireaktionen
Enfuvirtid 6
Lokale Induration an der Einstichstelle
Handelsname: Fuzeon® 1 2 3
4 5 6 7
2 × 90 mg s.c. Ampullen à 90 mg
normale Nierenfunktion, Körpergewicht > 60kg; alle Proteaseinhibitoren sind Inhibitoren des Cytochrom P450, Ritonavir ist der potenteste Inhibitor, einige Isoenzyme werden durch Ritonavir auch induziert; nur in Kombination mit Ritonavir einsetzen; Eventuell Erhöhung der Lopinavir/Ritonavir-Dosis bei PI-vorbehandelten Patienten auf 533/ 133 mg bid bei Kombination mit Efavirenz oder Nevirapin. Generell müssen auf Grund der gegenseitigen Wechselwirkungen bei Kombination von NNRTIs und PIs Dosisanpassungen und ggf. ein Drug Monitoring erwogen werden. unterschiedliche Handelsnamen in Deutschland und Österreich; bisher nicht für die Initialtherapie zugelassen die Pathogenese des Lipodystrophiesyndroms ist noch nicht vollständig geklärt.
Weitere Indikationen Ein Teil der Patienten entwickelt kurz nach der HIV-Infektion und zeitnah gefolgt oder begleitet von der Serokonversion das sogenannte akute retrovirale Syndrom. Es ist gekennzeichnet durch konstitutionelle Symptome, morbilliformes Exanthem, Lymphknotenschwellungen und hohe HIV-RNA-Werte (13). Nach bisher vorliegenden Erfahrungen kann durch eine frühzeitig, vor oder während der Serokonversion einsetzende Kombinationstherapie bei einem Teil der Patienten eine in immunologischen Funktionstests erfassbare Verbesserung der zellvermittelten Immunkontrolle des HIV erreicht werden. Neueste Daten haben jedoch gezeigt, dass ein klinischer Nutzen und eine bedeutsame Verbesserung von Surrogatpara-
metern in den ersten Jahren der Therapie hierdurch nicht erreicht wird (14, 15, 16). Angesichts der unklaren Langzeiteffekte einer derartigen Frühtherapie sollte eine Behandlung, sofern sie vom Patienten nach entsprechender Aufklärung gewünscht wird, wenn immer möglich im Rahmen von klinischen Studien oder standardisierten Behandlungsprogrammen geschehen, um diese offene Frage zu klären. Initiale Therapieregime Bei der Auswahl der initialen Medikamentenkombinationen sind außer Viruslast und Krankheitsstadium weitere Faktoren wie besondere Lebensweise, Komorbidität, und andere notwendige Therapien zu berücksichtigen. Für eine wirksame Initialtherapie stehen eine Reihe von Optionen
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Tabelle 2. Therapieindikationen und -empfehlungen Klinisch
CD4+Lymphozyten/µl
HIV-assoziierte Symptome und Erkrankungen (CDC: C, B) Asymptomatische Patienten (CDC: A) Akutes retrovirales Syndrom
Alle Werte < 200 200–350 350–500 > 500 Alle Werte
zur Verfügung. Diese Optionen sind im Einzelnen: – Kombination eines – in der Regel geboosteten – Proteaseinhibitors (PI) mit zwei nukleosidanalogen Reverse Transkriptase Inhibitoren (NRTI) – Kombination eines nicht nukleosidanalogen Reverse Transkriptase Inhibitors (NNRTI) mit zwei NRTI – Kombination von drei NRTI Kombinationen mit Proteaseinhibitoren Die Kombinationen mit Proteaseinhibitoren haben die antiretrovirale Kombinationstherapie begründet. Die Wirksamkeit von Kombinationen mit geboosteten Proteaseinhibitoren ist höher als beim Einsatz ungeboosteter Substanzen, hierdurch ist das Risiko der Resistenzentwicklung niedriger (17). Nachteile der gegenwärtig verfügbaren PIs beruhen in erster Linie auf Nebenwirkungen und Medikamenteninteraktionen. Metabolische Störungen wie Fettstoffwechselstörungen, Insulinresistenz und Diabetes werden unter PI-Kombinationen häufiger als unter anderen Kombinationen beobachtet. Die bei den meisten PIs ungünstige Pharmakokinetik, die eine große Zahl von Tabletten in engen Zeitintervallen erforderlich macht, wird durch die heute übliche PI-Boosterung mit Ritonavir in der Regel aufgehoben. Die Hemmung des Cytochrom P450 Isoenzyms 3A4 (CYP3A4) (in der Regel durch Gabe einer niedrigen Dosis Ritonavir, sog. Boosterung) verbessert die Pharmakokinetik der meisten Proteaseinhibitoren eindeutig und macht eine zweimal tägliche
HIV-RNA/ml (RT-PCR) Alle Werte Alle Werte > 50.000–100.000 Kopien < 50.000 Kopien Alle Werte Alle Werte
oder gar einmal tägliche Therapie möglich (18, 19, 20). Kombinationen mit NNRTIs Für NNRTIs in 3-fach Kombinationstherapie liegen Daten mehrerer Vergleichsstudien mit Efavirenz + 2 NRTI vs. einem ungeboosteten Proteaseinhibitor + 2 NRTI (25) vor (21, 22, 23). In mehreren weiteren randomisierten Studien mit Einsatz von Efavirenz wurden sehr hohe Raten an Virussuppression auch über einen Zeitraum von zwei Jahren gezeigt. Mit diesen Studien wurden die Kombinationen von Efavirenz mit Lamivudin plus Zidovudin, Stavudin oder Tenofovir als besonders wirksam identifiziert. Zur Kombination von zwei Nukleosidanaloga und Nevirapin in der Initialtherapie liegen Daten einer kontrollierten Studie vor, die zeigen, dass der Einsatz dieser Kombination zu ähnlichen Ergebnissen führt wie der Einsatz von 2 NRTIs und Indinavir (24). In einer direkten Vergleichsstudie der beiden Substanzen Efavirenz und Nevirapin wurde eine vergleichbare Wirksamkeit gezeigt (22, 23). Vorteile der NNRTI-Kombinationen sind die einfache Einnahme und eine niedrige Tablettenzahl (Nevirapin wird zweimal täglich mit einer Tablette, Efavirenz einmal täglich mit einer Kapsel dosiert) sowie eine günstige Pharmakokinetik. Efavirenz und Nevirapin werden ebenfalls über das Cytochrom-p450-System metabolisiert, Interaktionen mit anderen Medikamenten sind deshalb auch hier vorhanden. Bei einer geplanten Therapieänderung
Antiretrovirale Therapie
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oder -unterbrechung sollten die langen Halbwertszeiten der NNRTI – Spiegel bleiben nach Absetzen bis zu zwei Wochen nachweisbar – und die durch sie ausgelöste Enzyminduktion berücksichtigt werden. Beim Absetzen einer NNRTI-haltigen Kombination muss dieser Tatsache Rechnung getragen werden, um das Risiko einer Resistenzentwicklung zu verringern. Dafür bieten sich zwei Strategien an: 1) bei länger im Voraus planbaren Therapieunterbrechungen kann der NNRTI zunächst gegen einen Protease-Inhibitor ausgetauscht werden. Nach ca. 2 Wochen kann die Therapie dann durch gleichzeitiges Absetzen aller Medikamente unterbrochen werden. 2) nach Absetzen des NNRTI sollten die übrigen Medikamente noch sieben Tage weiter gegeben werden (25). Kombinationen von drei Nukleosidanaloga Zu 3-fach NRTI-Kombinationen liegen mehrere Studien mit einer Beobachtungszeit von 48 Wochen vor (Trizivir – Zidovudin + Lamivudin + Abacavir) (26, 27). Die Langzeitdaten und die schlechteren Ergebnisse bei hoher Plasmavirämie (> 100.000 HIV-RNA-Kopien/ml) sprechen für eine geringere Aktivität als bei Kombinationen zweier Substanzklassen. In der Kombination von Tenofovir, Lamivudin und Abacavir sowie Tenofovir, Lamivudin und Didanosin hat sich eine unbefriedigende Wirksamkeit gezeigt, die nach
Daten zur in-vitro Synergie nicht erwartet worden waren (35, 36). Auch für andere Dreifach-Nukleosidanaloga-Kombinationen konnte keine Gleichwertigkeit zu Mehrklassenregimes gezeigt werden (24, 28). Initiale Therapie Unter den verschiedenen möglichen Initialkombinationen haben sich insbesondere Kombinationen aus zwei Nukleosidanaloga + einem NNRTI oder + einem geboosteten Proteaseinhibitor als besonders wirksam erwiesen. Verschiedene mögliche Kombinationen unterscheiden sich im Nebenwirkungsspektrum. Kombinationen mit dem NNRTI Efavirenz sollten bei Frauen im gebärfähigen Alter nur nach Ausschluss eines Kinderwunsches und Aufklärung der Frau über mögliche teratogene Effekte eingesetzt werden. Das Konzept der Anhebung (Boosterung) der Plasmaspiegel von Proteaseinhibitoren durch Zugabe von Ritonavir in subtherapeutischer Dosis („Babydose“) hat sich im klinischen Alltag etabliert und wird mittlerweile auch bei der Zulassung berücksichtigt. Die Zugabe von Ritonavir zu (Fos-)Amprenavir, Atazanavir, Saquinavir und Indinavir führt zu einem Anstieg der Talspiegel (minimale Plasmakonzentration im Dosierungsintervall) und einer Verlängerung der Halbwertszeit bei moderatem oder geringfügigem Anstieg der maximal erzielten Konzentration (Spitzenspiegel) (29).
Tabelle 3. Basiskombinationen und Kombinationspartner für die Initialtherapie13
Empfohlene Kombinationen
Nukleosidanaloga
Proteaseinhibitor oder NNRTI oder dritter NRTI
Zidovudin + Lamivudin Zidovudin + Emtricitabin Tenofovir + Lamivudin od. Emtricitabin Abacavir + Lamivudin od. Emtricitabin Stavudin + Lamivudin od. Emtricitabin Didanosin + Lamivudin od. Emtricitabin
Lopinavir + Ritonavir
Efavirenz5 Nevirapin4 Saquinavir/r FosAmprenavir/r + Indinavir/r7
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B. Schmied
Tabelle 3 (Fortsetzung) Nukleosidanaloga
Proteaseinhibitor oder NNRTI oder dritter NRTI
Zidovudin + Didanosin3
Nelfinavir6 Atazanavir ±/r13 Indinavir1, 3 FosAmprenavir8 Delavirdin9 Ritonavir3 Abacavir9 + Tenofovir9
Stavudin + Didanosin3 Tenofovir + Didanosin12 Zidovudin + Lamivudin od. Emtricitabin Eindeutig abzulehnen
1
2 NRTI oder eine Kombination von drei Nukleosid/tid-Analoga ohne Thymdinanalogon Kombination ohne PI-Booster wie Ritonavir + Saquinavir11 Zidovudin + Stavudin10 Jeder + Kombinationspartner
Klinische Endpunktstudien mit Indinavir und Ritonavir (Evidenzgrundlage I) nur für Patienten mit CD4+ < 200/µl, bzw. mit CD4 < 100/µl, ansonsten Evidenz II für beide. 2 für Tenofovir + Emtricitabin und Abacavir + Lamivudin stehen einmal täglich dosierbare Kombinationspräparate (Truvada®/Kivexa®) zur Verfügung, die im Vergleich zu dem Zidovudin + Lamivudin-Kombinationspräparat Combivir® sowohl eine bessere antivirale Wirksamkeit als auch – abgesehen von der zu Behandlungsbeginn mit Abacavir möglichen Unverträglichkeitsreaktion – eine bessere Verträglichkeit aufweisen 3 Nachteile hinsichtlich der Verträglichkeit auf Grund erhöhter Toxizität sollte Nevirapin bei Männern mit CD4-Zellzahlen 4 > 450/µl und bei Frauen mit Zellzahlen > 250/µl nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden 5 Kombinationen mit Efavirenz sollten bei Frauen im gebärfähigen Alter nur nach Ausschluss eines Kinderwunsches und Aufklärung der Frau über mögliche teratogene Effekte eingesetzt werden 6 da bei Schwangeren bislang wenig Erfahrungen mit geboosteten PIs vorliegen und von den NNRTIs nur Nevirapin bei Frauen mit < 250CD4-Zellen eingesetzt werden sollte, bleibt die Verwendung von Nelfinavir bei Schwangeren eine empfehlenswerte Option (B-Rating) Untersuchungen zu Ritonavir/Indinavir in der Dosierung von 100/800mg 2 × täglich wiesen eine gute virologische Wirksamkeit, aber hohe Rate an 7 Nebenwirkungen durch Nephrotoxizität auf. Erste Studien in niedrigen Dosierungen von Ritonavir/Indinavir 100/400mg 2 × täglich weisen auf gute virologische Wirksamkeit bei deutlich verbessertem Toxizitätsprofil hin 8 Nachteile bei der Applikation (große Tablettenzahl) 9 es liegen wenig Daten vor zur Therapie von Patienten mit fortgeschrittenem Immundefekt (CD4 < 100/mm3) 10 kompetitive Phosphorylierung 11 rasche Resistenzentwicklung 12 Medikamenteninteraktion kann zu Beeinträchtigung der Wirksamkeit führen 13 Atazanavir ist bislang in Europa nur für die Therapie bei antiretroviral vorbehandelten Patienten zugelassen. Lediglich in den USA gibt es auch eine erweiterte Zulassung für Therapie-naive Patienten. In Therapiestudien war ungeboostetes Atazanavir virologisch vergleichbar wirksam zu Nelfinavir und Efavirenz (39). Geboostetes Atazanavir erscheint wie andere geboostete Proteasehemmer hinsichtlich der Wirksamkeit und Resistenzentwicklung vielversprechender. Es liegen jedoch noch keine Daten bei Therapie-naiven Patienten mit dieser Kombination vor. Bei Unverträglichkeit der klassischen geboosteten PIs kann eine Umstellung auf ATV/r eine sinnvolle Option darstellen.
Antiretrovirale Therapie
Verlaufskontrollen, Monitoring der Therapie, Therapieerfolg und -versagen Die wichtigsten Laborparameter für die Verlaufsbeurteilung einer HIV-Infektion sind die quantitative Bestimmung der CD4+-Lymphozyten und der HIV-RNA. Sie sollten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und anschließend in ca. 2–3-monatigen Abständen bestimmt werden, und zwar mit dem jeweils sensitivsten erhältlichen Test. Einleitung und Umstellungen einer Therapie sind Indikationen für kurzfristigere Kontrollen. Bei Patienten unter Therapie, deren HIV-RNA unterhalb der Nachweisgrenze (z.Zt. 20–50 Genomkopien/ml) liegt, sollte die Viruslast ca. alle 2–3 Monate kontrolliert werden.
Therapieerfolg und -versagen Ein Therapieerfolg kann frühestens nach 4 Wochen, oft erst nach drei Monaten und in Einzelfällen erst nach 6 Monaten beurteilt werden. Das Absinken der HIV-Replikation unter die Nachweisgrenze ist als Therapieerfolg zu werten. Ein geringerer Abfall der HIV-RNA als 1 log10 nach 4 Wochen oder das Ausbleiben des Abfalls unter die Nachweisgrenze innerhalb von maximal 6 Monaten ist ein ungenügender Therapieerfolg und sollte Anlass sein, additive oder alternative Therapieregime zu erwägen. Ein ungenügender Therapieerfolg oder ein Therapieversagen können beruhen auf der verminderten Absorption oder beschleunigten Metabolisierung einer Wirksubstanz, auf Medikamentenwechselwirkungen, einer vorbestehenden oder sich entwickelnden Resistenz und/ oder einer mangelhaften Therapietreue bei dem Patienten. Eine relevante Einbuße der Wirksamkeit liegt wahrscheinlich vor, wenn die HIV-RNA über den Nadir des Abfalls ansteigt; von einem sekundären Versagen der Therapie ist auszugehen, wenn die HIV-RNA wieder auf einen Wert ansteigt, der nur noch 1 log10 unterhalb des Ausgangswertes liegt. Bei einem durch Kontrolluntersuchung bestätigten Wiederanstieg der Viruslast in einen niedrig posi-
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tiven Bereich (bis ca. 1000 HIV-RNA-Kopien/ml) sollte dringend eine Reevaluierung und gegebenenfalls Intensivierung oder Umstellung der Therapie erfolgen. Zur Reevaluierung sind eine Resistenztestung und/oder eine Plasmaspiegelkontrolle sinnvoll (s.u.). Hinweise auf eine ungenügende Wirksamkeit sind ferner ein signifikanter Abfall der CD4+-Lymphozyten (s.o.) sowie eine weitere klinische Progression. Resistenztestung Resistenz von HIV gegen antiretrovirale Substanzen wurde schon bald nach der Verfügbarkeit erster Medikamente beobachtet (30) und Auswirkungen der Resistenz auf den klinischen Verlauf der HIVInfektion wurden bereits früh nachgewiesen (31, 32). Auch für die moderne Kombinationstherapie existieren zahlreiche retrospektive Studien, die einen Zusammenhang zwischen Resistenz und nachfolgendem Therapieversagen belegen (33). Weiterhin wurden in den letzten Jahren auch Ergebnisse randomisierter, prospektiver Studien publiziert, die in ihrer Mehrzahl ein deutlich besseres Therapieansprechen für die nach Kenntnis des Resistenzstatus behandelten Patienten zeigen (34–40). Dies führte zur Implementierung der Resistenztestung in europäische und internationale Richtlinien zur antiretroviralen Therapie (41, 42). Resistenztestungen sind zur Therapiesteuerung nach erstem oder späterem Therapieversagen erforderlich. Dabei sollte die Resistenzbestimmung unter noch laufender Therapie erfolgen. Vor Therapiebeginn, insbesondere bei kürzlich erfolgter Infektion, ist eine Testung bei Verdacht auf Infektion mit einem resistenten Virus zu empfehlen. Epidemiologische Untersuchungen zur Transmission resistenter Viren bei neu infizierten Patienten zeigen derzeit eine etwa 11%ige Prävalenz von Primärresistenzen. Dies lässt eine generelle Resistenztestung vor Einleitung der ersten Therapie als sinnvoll erscheinen (43, 44, 45, 46, 47). Genotypische und phänotypische HIV-Resistenztests sind vom Ansatz
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und ihrer Aussage komplementär. Während phänotypische Tests die Empfindlichkeit eines Virus direkt messen, werden bei genotypischen Tests resistenzassoziierte Mutationen nachgewiesen. Medikamentenspiegelbestimmung Mehrere Studien haben eine Korrelation zwischen der Plasmakonzentration von Proteaseinhibitoren und deren antiviraler Wirksamkeit nachgewiesen (48, 49). Obwohl der Nutzen des therapeutischen Drug-Monitorings noch nicht vollständig abgeschätzt werden kann, kann die Bestimmung der Plasmaspiegel in bestimmten klinischen Situationen hilfreich sein (50–52). Zur Abklärung eines unbefriedigenden Therapieerfolgs ist in der Regel die Plasmaspiegelbestimmung in Kombination mit einer genotypischen Resistenztestung sinnvoll. Jede Entscheidung über eine Dosismodifikation muss die hohe Variabilität der intraindividuellen Plasmaspiegel zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgrund von Nahrungseffekten, Krankheitsstadium und Adhärenz berücksichtigen. Für die Beurteilung der Wirksamkeit ist der Talspiegel der wichtigste Parameter, während für die Einschätzung des Toxizitätspozentials der Gesamtverlauf der Medikamentenspiegel betrachtet werden muss. Interaktionen Durch die zunehmende Zahl verfügbarer antiretroviraler Substanzen, die zunehmende Zahl von Medikamenten, die im Rahmen des Nebenwirkungsmanagements eingesetzt werden und die zunehmende Datenlage über Interaktionen, u.a. auch mit Nahrungsmitteln sowie legalen und illegalen Drogen, haben die Kenntnisse zu Interaktionsmöglichkeiten inzwischen ein Ausmaß an Komplexität und Vielschichtigkeit erreicht, das eine tabellarische Darstellbarkeit mittlerweile sprengt und eine genaue Wiedergabe und Vorhersage der entsprechenden Interaktionen im einzelnen Patienten schwierig macht.
B. Schmied
Hohe interindividuelle Variabilität und die vielfachen Medikamentenwechselwirkungen zwischen Proteaseinhibitoren und NNRTI unterstreichen die klinische Wichtigkeit des therapeutischen Drug-Monitorings bei entsprechenden antiretroviralen Kombinationen. Es existieren diverse Internet-basierte Interaktionsdatenbanken (z.B. www.hivdruginteractions.org, www.ifi-interaktionshotline.de), die Hilfestellungen bei der Abschätzung des Interaktionspotenzials von Kombinationen und Komedikationen geben können. Hingewiesen sei auch auf die ausführlichen Interaktionstabellen in den US-amerikanischen Therapieleitlinien (z.B. unter http://aidsinfo.nih.gov/guidelines/). Neben der Beachtung der Dosierungsund Interaktionsangaben in den Medikamenten-Fachinformationen der Herstellerfirmen wird daher empfohlen, bei unbefriedigendem Ansprechen auf eine ART (möglicherweise aufgrund einer durch Interaktionen verursachten Absenkung der Plasmaspiegel), bei vermutlich Medikamentenspiegel-assoziierten Nebenwirkungen (möglicherweise aufgrund einer durch Interaktionen verursachten Anhebung der Plasmaspiegel) und/oder beim Einsatz von für Interaktionen bekannte Substanzen (etwa Johanniskrautpräparate bei PI- oder NNRTI-haltiger Therapie), die Plasmaspiegel bestimmen zu lassen und gegebenenfalls die Medikamentendosierungen anzupassen. Therapiewechsel und -unterbrechung Änderungen der Therapie können aufgrund von Unwirksamkeit und Nebenwirkungen notwendig werden. Das bei einem Therapieversagen auszuwählende Alternativregime sollte einen Wechsel möglichst aller nicht mehr aktiven Substanzen beinhalten sowie den Einsatz einer neuen Substanzklasse. Deshalb sollte die Auswahl der neuen Kombination auf Grundlage der Ergebnisse einer Resistenztestung erfolgen. Insbesondere Entscheidungen über Zweit- und spätere Kombinations-
Antiretrovirale Therapie
therapien erfordern Spezialkenntnisse und sollten nur von besonders erfahrenen und geschulten Ärzten getroffen werden. Eine Umstellung einer wirksamen Therapie bei Patienten mit schweren Nebenwirkungen ist selbstverständlich möglich. Dies ist die einzige klinische Situation, in der zum Austausch nur eines Medikamentes auch ohne Resistenztestung geraten werden kann. Bei notwendigen Therapieunterbrechungen sind alle Substanzen gleichzeitig abzusetzen, sofern es sich um eine NNRTI-freie Kombination handelt. Beim Absetzen einer NNRTI-haltigen Kombination muss den langen Halbwertszeiten der NNRTI – Spiegel bleiben nach Absetzen bis zu zwei Wochen nachweisbar – und der durch sie ausgelösten Enzyminduktion Rechnung getragen werden, um das Risiko einer Resistenzentwicklung zu verringern. Dafür bieten sich zwei Strategien an: 1) bei länger im Voraus planbaren Therapieunterbrechungen kann der NNRTI zunächst gegen einen Protease-Inhibitor ausgetauscht werden. Nach ca. 2 Wochen kann die Therapie dann durch gleichzeitiges Absetzen aller Medikamente unterbrochen werden. 2) nach Absetzen des NNRTI sollten die übrigen Medikamente noch sieben Tage weiter gegeben werden. Therapiepausen Unterbrechungen der Therapie können bei Unverträglichkeiten, Kurz- und Langzeitnebenwirkungen notwendig werden. Je häufiger eine Therapie unterbrochen wird, desto größer ist das Risiko einer Resistenzentwicklung, insbesondere bei Kombinationen mit Medikamenten unterschiedlicher Halbwertzeit und bei vorbestehenden Resistenzen. Insofern sind Therapiestrategien mit vorgegebenen kurzen Intervallen zwischen Medikamentengabe und Medikamentenpause heute abzulehnen. Sie erfüllen nicht den erhofften Nutzen und bergen die beschriebenen Gefahren (53–56). Bei einer Therapieunterbrechung oder -pause ist in der Regel mit einem raschen Wiederanstieg der Viruslast zu rechnen, welcher vermutlich auch eine Erhöhung
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der Infektiosität bedeutet. Darüber sollte der Patient aufgeklärt werden. Therapiepausen sollten nicht ohne schwerwiegende Gründe bei Patienten eingesetzt werden, deren Immundefekt (CD4 < 200/µl) zu Beginn der Behandlung weit fortgeschritten war oder die initial eine hohe Viruslast geboten haben (> 500.000 Kopien/ml). Hier ist mit einer raschen und nachhaltigen Verschlechterung der immunologischen Situation unter STI zu rechnen. Literatur 1. Mellors JW, Munoz A, Giorgi JV et al (1997) Plasma viral load and CD4+ lymphocytes as prognostic markers of HIV-1 infection. Ann Intern Med 126: 946–54 2. Cameron DW, Heath-Chiozzi M, Danner S et al (1998) Randomized placebo-controlled trial of ritonavir in advanced HIV-1 disease. The Advanced HIV Disease Ritonavir Study Group. Lancet 351: 543–9 3. Hammer SM, Squires KE, Hughes MD et al (1997) A controlled trial of two nucleoside analogues plus indinavir in persons with human immunodeficiency virus infection and CD4 cell counts of 200 per cubic millimetre or less. AIDS Clinical Trials Group 320 Study Team. N Engl J Med 337: 725–33 4. Palella FJ Jr, Delaney KM, Moorman AC et al (1998) Declining morbidity and mortality among patients with advanced human immunodeficiency virus infection. HIV Outpatient Study Investigators. N Engl J Med 338: 853–60 5. Egger M, May M, Chene G, Phillips AN, Ledergerber B, Dabis F, Costagliola D, d’Arminio Monforte A, de Wolf F, Reiss P, Lundgren JD, Justice AC, Staszewski S, Leport C, Hogg RS, Sabin CA, Gill MJ, Salzberger B, Sterne JA (2002) Prognosis of HIV-1-infected patients starting highly active antiretroviral therapy: a collaborative analysis of prospective studies. Lancet 360: 119–29 6. Raboud JM, Montaner JS, Conway B et al (1998) Suppression of plasma viral load below 20 copies/ml is required to achieve a long-term response to therapy. AIDS 12: 1619–24 7. Kempf DJ, Rode RA, Xu Y et al (1998) The duration of viral suppression during protease inhibitor therapy for HIV-1 infection is predicted by plasma HIV-1 RNA at the nadir. AIDS 12: F9–F14
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Kardiologische und pulmologische Komplikationen bei Opiatabhängigkeit Susanne Reiter Einleitung Eine Kurzfassung von „kardiologischen Komplikationen bei Opiatabhängigkeit“ würde lauten: „es gibt – nahezu – keine“. Natürliche Opiumalkaloide (Morphin – z.B. Compensan, Kapanol, Mundidol-) und Opioide (wie Buprenorphin – z.B. Subutex) haben in ihrem kardiovaskulärem Nebenwirkungsprofil ausschließlich Blutdrucksenkung und Orthostase. Bei jahrelanger Opioidtherapie von Schmerzpatienten kommt es zu keinen relevanten kardiologischen Komplikationen. Die Praxis der Drogentherapie zeigt allerdings dennoch eine Reihe wesentlicher kardiologischer Komplikationen bei Opiatabhängigen. Sie werden durch den „Beikonsum“, vor allem durch Kokain, das direkte kardiovaskuläre Schädigungen hervorrufen kann oder im Rahmen der Drogenapplikation z.B. durch unsterile Injektion verunreinigter Substanzen mit Einbringung von Krankheitserregern oder Fremdkörpern verursacht. Somit sind aus kardiologischer Sicht Maßnahmen zu fordern, die diese Rahmenbedingungen für die Applikation positiv verändern, etwa auch die politisch umstrittene Schaffung von Konsumräumen. Tabelle 1. Schädigung durch direkte Wirkung Hypertone Krise Angina pectoris, Myocardinfarkt Cerebrale Blutung Aortendissektion
Tabelle 2. Schädigung durch indirekte Wirkung Endocarditis Sepsis Abszesse Pulmonalembolie Periphere Thrombosen Pneumothorax Pneumomediastinum
Direkte Schädigung Kardiovaskuläre (Herz-Kreislauf) Komplikationen durch Kokain Kokainassoziierte kardiovaskuläre Ereignisse umfassen Angina pectoris, Myokardinfarkt, Kardiomyopathie und plötzlichen Herztod durch Rhythmusstörungen. An cerebrovaskulären Erkrankungen sind cerebraler Insult (Gehirnschlag) und Hirnblutung etwa durch Ruptur eines Aneurysmas oder einer anderen Gefäßmissbildung im Rahmen einer hypertonen Entgleisung durch Kokain zu erwähnen. Diskutiert wird auch eine amphetaminbedingte nekrotisierende Vaskulitis, die ebenfalls zu intracerebraler Blutung führen kann. Kokain ist ein hochpotentes Sympatikomimetikum. Es blockiert die Wiederaufnahme von Norepinephrin durch das praeganglionäre Neuron, was zu einer exzessiven Anreicherung dieses Neurotransmitters an den Rezeptoren des postganglionären Neurons führt. Kokain ist – wenigstens in den USA – die häufigste Droge, deren Gebrauch zu einer Untersuchung in einer Notfallaufnahme oder einem Drogenbehandlungszentrum
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Tabelle 3. Kardinalsymptome Thoraxschmerz Herzklopfen; Herzrasen Heftige Kopfschmerzen (ev. Hyperthermie, Muskelschmerzen, cerebrale Krämpfe)
führt und es stellt die häufigste drogenbezogene Todesursache dar. In Europa liegt die Zahl derzeit bei 10% kokainbedingter Todesfälle, wobei eine Dunkelziffer nicht erfassten Drogenkonsums durchaus anzunehmen ist. In US-amerikanischen Untersuchungen haben Haaranalysen eine 3–5fache Zahl gegenüber anamnestisch angegebenem bzw. durch Blut oder Harnuntersuchung nachgewiesenem Kokainkonsum ergeben. Beobachtungen beim Spritzentausch in einer niederschwelligen Drogeneinrichtung in Wien zeigen, dass durchaus auch ältere, „prima vista“ nicht als Abhängige von illegalen Drogen imponierende Menschen, Drogen konsumieren. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Personengruppe im Falle einer stationären Aufnahme wegen akuten Thoraxschmerzes einen vorher erfolgten Kokainkonsum angeben würde. Bei sehr jungen Menschen wird wohl eher an eine solche Ursache gedacht werden.
Kokainassoziierter Thoraxschmerz Kokaingebrauch steht in nachgewiesener Verbindung mit myokardialer Ischämie und Myokardinfarkt. Das Risiko eines Myokardinfarktes steigt bei Personen, die kein anderes Risiko haben um das 24-fache während der ersten 60 min. nach Kokaingebrauch. Irrelevant dafür sind die Dosis, der Konsumationsweg und die Häufigkeit des Gebrauchs. Myokardinfarkte wurden sowohl bei Dosierungen zwischen 200 bis 2000 mg, als auch bei Erst- und Langzeitkonsumenten beobachtet. Nach US-amerikanischen Studien sind knapp 25% der Myocardinfarkte bei jungen Menschen (18–45 Jahre) auf Kokainkonsum zurückzuführen. Personen, die nach Kokainkonsum über
Thoraxschmerz klagen sollten daher umgehend an eine Notfallaufnahme oder kardiologische Abteilung überwiesen werden. Etwa 6% dieser Patienten weisen eine Enzymauslenkung (CK-MB) auf. Bei Bestimmung des sensitiveren Troponin wird sich diese Zahl noch erhöhen. Die Koronarangiographie zeigt bei ca. 50% dieser Infarktpatienten völlig unauffällige Koronararterien ohne atherosklerotische Veränderungen. Thoraxschmerz nach Kokaingebrauch ist in einem hohen Prozentsatz mit infarkttypischen Veränderungen im Elektrokardiogramm assoziiert (bis zum Erreichen eines Thrombolysekriteriums), ohne dass tatsächlich ein akuter Myokardinfarkt vorliegt. Ursächlich dafür ist der niedrige Altersdurchschnitt der Patienten. Ein Großteil gesunder junger Menschen zeigt STAbnormitäten, die aber nicht ischämiebedingt sind. Die Infarktdiagnostik mittels EKG ist somit bei Verdacht oder Nachweis von Kokainkonsum erschwert. Fallbeispiel: Ein 20-jähriger Mann wird mit massivem Thoraxschmerz in die Notfallaufnahme eingeliefert. Im EKG zeigt sich ein akuter Vorderwand-Myokardinfarkt. Es erfolgt thrombolytische Therapie mit r-TPA . Eine spätere Koronarangiographie zeigt trotz typischem Enzym- und EKG-Verlaufes völlig unauffällige Herzkranzgefäße. Erst danach gibt der Patient an, vor Auftreten des Thoraxschmerzes Kokain konsumiert zu haben. Ursächlich für den Infarkt sind somit ein Koronarspasmus und/ oder eine Koronarembolie anzunehmen.
Mechanismus der Myokardischämie Kokain erhöht den Sauerstoffverbrauch des Herzens bei gleichzeitiger Verminde-
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Tabelle 4. Maßnahmen bei Kokain-assoziiertem Thoraxschmerz (nach den Empfehlungen der American Heart Association) Unverzügliche Einweisung in eine Notfallaufnahme und sofortiger Therapiebeginn mit: Maßnahme
Erläuterung
1) Sauerstoffgabe 2) Aspirin (200 mg) 3) Nitroglycerin (2 Hübe Nitrospray sublingual) 4) Benzodiazepine (Valium®/Gewacalm®) 1 Amp. 10 mg langsam i.v. 5) Verapamil (Isoptin®) 1 Ampulle langsam i.v. 6) Urapidil
Bei Sauerstoffmangel Verminderung weiterer Thrombozytenaggregation Verminderung von Hypertension und Koronargefäßkonstriktion zur Sedierung und dadurch indirekt Reduktion der Herzfrequenz und des Blutdruckes Keinesfalls ohne EKG-Kontrolle und Reanimationsbereitschaft! (α-Sympatholytikum, zentral wirksam, z.B. Ebrantil) bei weiterhin hohem Blutdruck Nur wenn trotz oben angeführter Therapie keine Besserung eintritt und/oder angiographisch ein Thrombus nachgewiesen werden kann (und eine PTCA nicht möglich oder erfolgreich ist). Kontraindiziert ist eine Lysetherapie bei anhaltend erhöhtem Blutdruck Propanolol ist ein Alpha- und Betablocker, der die kokainbedingte Vasokonstriktion der Koronararterien verstärken kann
7) Eventuell Thrombolyse
Kontraindiziert ist die Gabe von Propanolol (Inderal®). Andere Betablocker sind mit Vorsicht einzusetzen.
rung des Angebotes. Die Herzfrequenz, der Blutdruck und die Kontraktilität des linken Ventrikels werden gesteigert, gleichzeitig führt eine Vasokonstriktion der Koronararterien zu vermindertem Blutfluss. Bei atherosklerotisch veränderten Koronarien tritt dieser Effekt in den betroffenen Gefäßabschnitten verstärkt auf. Somit weisen Patienten mit bestehender Koronarer Herzkrankheit (KHK) und Kokainkonsum ein deutlich erhöhtes Ischämierisiko auf. Die Vasokonstriktion wird nicht nur durch Kokain, sondern auch durch seine
Metaboliten bewirkt. Dadurch kann es auch noch einige Stunden nach der Einnahme zu akuter Ischämie kommen bzw. können rezidivierende Episoden auftreten. Als weiterer kokainbedingter Faktor, der zu Minderdurchblutung führt, ist Thrombusbildung durch Thrombozytenaktivierung und -aggregation nachgewiesen. Nachgewiesen ist, dass die Kombination von Nikotin und Kokain zu deutlich erhöhtem Blutdruck, Steigerung der Herzfrequenz und Koronargefäßvasokonstriktion
Tabelle 5. Maßnahmen bei kokainassoziierten Palpitationen/Tachycardien Maßnahme
Erläuterung
Sedierung durch verbale Äußerung
Objektivierung der Tachykardie/ Arrhythmie. Häufig handelt es sich um subjektive Veränderung, die dann keine medikamentöse Therapie erfordern. Wenn Tachykardie/Arrhythmie objektivierbar ist.
Notarzt verständigen Sedierung durch Benzodiazepine (Valium®/Gewacalm®) 1 Amp. 10 mg langsam i.v. Calciumantagonist Verapamil (Isoptin®) 1 Ampulle langsam i.v. Stationäre Aufnahme und Monitoring
Keinesfalls ohne EKG-Kontrolle und Reanimationsbereitschaft!
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Tabelle 6. Maßnahmen bei kokainassoziiertem anhaltendem Kopfschmerz Sedierung durch Benzodiazepine (Valium®/Gewacalm®) 1 Amp. 10 mg langsam i.v. Blutdrucksenkung mit Nitroglycerin (2 Hübe Nitrospray sublingual) Stationäre Aufnahme. (Schädel-Computertomographie) Kontraindiziert ist Aspirin wegen einer eventuellen Hirnblutung
(ausgepägter als bei der jeweiligen Einzelsubstanz) führt. Eine Intoxikation in Kombination mit Alkohol führt häufiger zu Todesfällen als die Intoxikation mit der jeweiligen Einzelsubstanz. Ursächlich dafür ist der Metabolismus von Kokain in Anwesenheit von Äthanol, der zur Bildung des toxischen Cocaethylen in der Leber führt. Eher gering ist die Anzahl nachgewiesener Linkshypertrophie und Linksherzversagen oder Herzinsuffizienz durch kokainbedingte dilatative Kardiomyopathie sowie Rhythmusstörungen. Als weitere Ursache persistierenden Thoraxschmerzes müssen eine Aortendissektion, Pneumothorax , Pneumomediastinum und Pulmonalembolie ausgeschlossen werden. In einer recenten US amerikanischen Untersuchung aus San Francisco fand sich in 37% der Fälle ein Zusammenhang zwischen Aortendissektion und Kokainkonsum, wobei die Dissektionssymptome im Mittel 12 Stunden nach dem Konsum auftraten. Wenngleich diese Zahlen auf Europa sicher nicht übertragbar sind (die Mehrzahl der Betroffenen waren afroamerikanische Crackkonsumenten) sollte bei heftigem Thoraxschmerz eine Dissektion unbedingt ausgeschlossen werden (transösophageales Echo, Spiral CT). Bei heftigem anhaltendem Kopfschmerz nach Kokainkonsum muss immer an eine intracerebrale Blutung gedacht werden. Unklar ist, warum der Gebrauch von Kokain mit oder ohne Kombination anderer Substanzen nur gelegentlich zu oben angeführten Komplikationen führt. „Ältere“ Konsumenten, die auch nur über geringe kardiovaskuläre Symptome berichten sollten in Hinsicht auf Vorliegen einer korona-
ren Herzerkrankung untersucht und entsprechend über ihr deutlich erhöhtes Risiko aufgeklärt werden. Indirekte Schädigung Die intravenöse Applikation von Substanzen jeglicher Art birgt auch unter „sterilen“ Bedingungen immer ein gewisses Infektionsrisiko. Die Konsumbedingungen von Abhängigen illegaler Drogen bewirken eine massive Erhöhung dieses Risikos. Trotz Aufklärung über Hygiene, erleichtertem Zugang zu Desinfektionsmitteln und sterilen Spritzen und Kanülen erfolgt Injektion „illegaler“ Drogen hauptsächlich an Orten, die zu Infektionen jeglicher Art prädestinieren. Trotz des Angebotes von sterilem Wasser und Ascorbinsäure wird immer noch Wasser aus Toiletten und Zitronensaft zum Auflösen von Drogen benutzt. Die Einrichtung von Konsumräumen mit der Möglichkeit mitgebrachte Substanzen unter hygienisch einwandfreien Bedingungen zu konsumieren, könnte das Infektionsrisiko für die Abhängigen deutlich reduzieren. Eine Infektion erfolgt durch Einbringen von bakteriell, viral oder mykotisch kontaminierten Substanzen, sowohl bei paravenöser Applikation ins Gewebe, als auch bei intravenöser Injektion ins Kreislaufsystem. Endokarditis Bakterielle Infektionen führen neben der lokalen Bildung von Phlegmonen und Abszessen zu den gefürchtetsten Komplikationen des i.v. Drogenkonsums: Endocarditis und septische/embolische Abszesse in Gehirn und anderen Organen (zumeist Milz). Im Falle der Endokarditis bildet sich eine sogenannte „Vegetation“, die aus Blut-
Kardiologische und pulmologische Komplikationen bei Opiatabhängigkeit
plättchen, Fibrin, Mikroorganismen und Entzündungszellen besteht. Zumeist lagern sich diese Vegetationen an die Herzklappen an, es kann aber auch zu einer Ansiedelung an die Herzwände oder Sehnenfäden kommen. Die Lokalisation der Endokarditis ist relativ substanzspezifisch. Während lange Zeit die Tricuspidalendokarditis als typisch für Drogenabhängige galt, ist international und auch in unseren Beobachtungen im Raum Wien eine deutliche Zunahme von Linksherzendokarditis mit Infektion der Mitral- und Aortenklappe zu beobachten. Nach Einbringen von Keimen in die Blutbahn durch intravenöse Injektion ist etwa bei Heroinkonsum vorwiegend die Tricuspidalklappe im rechten Herzen befallen. Die deutliche Zunahme der linksventrikulären Endokarditiden korreliert mit der Zunahme des Kokainkonsums. Kokainkonsum ist ein deutlich erhöhter Risikofaktor für den Erwerb einer Endokarditis. Die Ursache dafür ist derzeit unbekannt. Es wird aber angenommen, dass die kokainbedingte Steigerung von Blutdruck und Herzfrequenz eine Schädigung des Klappenapparates oder der Gefäßwände bewirkt, die Bakterien die Ansiedelung erleichtert. Weiters wird Kokain – wie auch Heroin – ein immunsuppressiver Effekt zugeschrieben, der die Infektionsabwehr schwächt. Neben der intravenösen Keimeinbringung sollte auch die Möglichkeit einer Infektion über die Zähne nicht außer Acht gelassen werden. In der niederschwelligen, sozialmedizinischen Drogeneinrichtung „Ganslwirt“ beobachten wir bei der Mehrheit der Drogenkonsumenten ausgeprägte Karies und teilweise katastrophalen Zahnstatus. Es sollte also auch bei Konsumenten, die ihre Drogen „snieffen“ oder rauchen und entsprechende Symptome aufweisen eine diesbezügliche Abklärung erfolgen – insbesondere bei Kokainkonsum. Fallbeispiel: Ein 35-jähriger Mann wird wegen hohen Fiebers, verbunden mit Husten (grünlichem Auswurf), Erbrechen und Diarrhöe
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stationär aufgenommen. Anamnestisch werden langjähriger polytoxikomaner Konsum von Heroin, Kokain und Alkohol eine chronische Hepatitis C und B erhoben. Status praesens: Lunge: klingende Rasselgeräusche links; Herz: rhythmische Herzaktion, keine pathologischen Geräusche; Blutdruck: 120/ 60 mmHg; geringgradige Unterschenkelödeme beidseits; EKG: Sinusrhythmus, 100/min., Rechtsschenkelblock. Die Laborbefunde zeigen deutlich erhöhte Entzündungsparameter, die Blutkultur in der Folge Staphylokkokus aureus; Lungenröntgen: Infiltrate links. Verlauf: 4 Tage nach der Aufnahme akuter Thoraxschmerz und Linksdekompensation. Im EKG-Zeichen eines akuten VorderwandMyokardinfarktes; im Herz-Echo findet sich neben einer ausgedehnten Wandbewegungsstörung des Septums und der Herzspitze, je eine große flottierende Vegetation an der Aortenklappe, an der Mitralklappe und an der Tricuspidalklappe. Lediglich die Pulmonalklappe ist unauffällig. Diagnosen: Staphylokkokus aureus-Sepsis, Endokarditis der Aorten-, Mitral- und Tricuspidalklappe mit septischer Embolisation in die Koronar- und Lungengefäße mit akutem VW-Myokardinfarkt, Vorderwand-kardiale Dekompensation und akutes Nierenversagen. Unter achtwöchiger antibiotischer Therapie kam es zur Rückbildung der linksventrikulären Vegetationen. Die Tricuspidalklappenvegetationen blieben bestehen. Von einer operativen Sanierung wurde wegen des vermutlich schlechten „outcomes“ Abstand genommen. Ca. 3 Wochen nach der Entlassung erfolgte die neuerliche Aufnahme wegen eines Status febrilis, und erneut eine wochenlange parenterale Antibiotikatherapie.
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Tabelle 7. Klinische Kriterien der Endokarditis (auszugsweise nach Duke) Hauptkriterien 1) pos Blutkultur 2) neu diagnostizierte Klappeninsuffizienz 3) positives Herzecho
Erläuterung Zunahme oder Veränderung eines Herzgeräusches alleine ist nicht ausreichend Vegetationen sind erkennbar. 98% Spezifität für Vegetationen. Ein neg. transösophageales Echo hat einen negativ praediktiven Wert von 92%.
NEBENKRITERIEN: 1) Drogenabhängigkeit 2) Fieber
Temp. über 38°C
Klinische Symptomatik Das häufigste (aber nicht immer vorhandene) Symptom ist Fieber; zumeist verbunden mit Appetitlosigkeit, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und Krankheitsgefühl. Seltener treten Petechien der Haut und Schleimhäute, Hämorrhagien unter Finger- und Zehennägeln sowie Splenomegalie auf. Eventuell kann es zum Auftreten von Herzgeräuschen kommen. Laborveränderungen: positive Entzündungsparameter mit Leukozytose; Anämie, erhöhtem C-reaktivem Protein und Blutsenkungs-Geschwindigkeit. Elektrokardiogramm: Veränderungen mit neu aufgetretenem AV- oder Schenkelblock können v.a. bei Aortenendokarditis auf perivalvuläre Abszesse hinweisen; häufige Keime in der Blutkultur: Stapylokokkus aureus, Streptokokkus viridans, Streptokkokus bovis., zunehmend auch Pilze. Komplikationen der Endokarditis Kardial: Akutes Herzversagen, zumeist durch Klappendysfunktion, v.a. bei Aortenendocarditis. Bildung von Klappenringund Myocardabszessen. Akuter Myocardinfarkt durch embolischen Verschluss der Coronargefäße (durch abgerissene Anteile der Vegetation) Neurologisch: Cerebraler Insult. Bis zu 65% der embolischen Ereignisse erfolgen im Zentralnervensystem. Cerebraler Abszess Mykotisches Aneurysma mit Sympto-
men wie Kopfschmerz und meningealen Reizzustandes aber auch plötzlicher Ruptur mit intracerebraler Blutung. Systemisch: Embolie in Milz, Niere oder Leber Milzabszess. Therapie der Endokarditis Die Therapie hat stationär zu erfolgen. Sie besteht in einer kulturgerechten, zunächst parenteralen dann weiterführend oralen antibiotischen bzw antimykotischen Chemotherapie. Eine Antikoagulation (Heparin, Marcoumar) ist kontraindiziert, da sie zu einem erhöhten cerebralen Blutungsrisiko ohne entsprechende Reduktion der Embolisationsgefahr führt. In speziellen Fällen kann sie allerdings dennoch indiziert sein. Die Gabe von Aspirin als Embolisationsschutz ist derzeit in Diskussion. Bei Klappendestruktion mit Funktionsstörung, zumeist in Form einer Insuffizienz, ist eine operative Sanierung zu erwägen. Bei aktuell Drogenabhängigen ist die Operationsindikation sehr kritisch zu stellen. Eine chirurgisch sanierte Herzklappe bleibt postoperativ in fast allen Fällen (Ausnahme: Abtragung einer frei flottierenden Vegetation bei funktionell und morphologisch unveränderter Klappe) eine „kranke Klappe“ mit erhöhter Anfälligkeit und dem Erfordernis einer Nachsorge. Eine künstliche Herzklappe erfordert dauerhafte Antikoagulation und auch bei Bioprothesen sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen nötig. Abhängigen Patienten gelingt es trotz entsprechender Aufklärung
Kardiologische und pulmologische Komplikationen bei Opiatabhängigkeit
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Tabelle 8. Symptome einer Pulmonalembolie Tachykardie Thoraxschmerzen Pleuraschmerzen Husten Hämoptysen (Bluthusten) Rasselgeräusche (oft trotz massiver Dyspnoe unauffälliger Auskultationsbefund) Entfaltungsknistern (oft trotz massiver Dyspnoe unauffälliger Auskultationsbefund) Hämoptysen (Bluthusten) Fieber
und guter Motivation leider oftmals nicht, die Kontrollen dauerhaft einzuhalten. Somit erfolgt ein Klappenersatz nur bei vitaler Indikation, die sich allerdings etwa bei akuter Aortenklappenendokarditis sehr rasch entwickeln kann. Prophylaxe der Endokarditis – Maßnahmen der „Harm- und Risk Reduction“, wie z.B. Aufklärung und Information zu hygienischem i.v. Konsumverhalten, Abgabe steriler Injektionsutensilien (sog. Spritzentauschprogramme) und Errichtung von Konsumräumen. – Aufzeigen und Anleitung von alternativen, risikoärmeren Konsumformen, wie „Sneefen“ oder Folienrauchen. – Qualitativer und quantitativer Ausbau der oralen Drogenersatztherapie um das Ausmaß des i.v. (Bei)Konsums zu verringern. – Verbesserung der Zahnhygiene. Bei Verdacht auf Endokarditis sollte möglichst rasch eine echokardiographische Kontrolle erfolgen. Nur durch frühzeitigen Einsatz therapeutischer Maßnahmen kann eine schwerwiegende Klappendestruktion verhindert werden. Pulmonalembolie Intravenös Drogenabhängige setzen je nach konsumierter Substanz bis zu mehr als 10 i.v. Injektionen pro Tag. Daraus ergibt sich im Laufe der Zeit zunehmend das Problem der erfolgreichen Venenpunktion. Durch Thrombose, Phlebitis und in der Folge Verödung peripherer Venen, v.a. im Bereich der Unterarme, sind intravenös
Drogenabhängige dazu gezwungen, neue Möglichkeiten zur intravenösen Applikation zu suchen. Häufig werden dann ungeeignete und gefährliche Wege beschritten. Neben der eher seltenen Injektion unter die Zunge, wird immer häufiger in die großen Venen der Leisten- und Halsregion (V. femoralis, V. jugularis) injiziert. Gelegentlich kommt es dabei auch zur Injektion in arterielle Gefäße. Vor allem beim Benutzen von Venen mit einem großen Gefäß-Querschnitt erhöht sich das Risiko einer Pulmonalembolie (PE) beträchtlich. Bei plötzlichem Auftreten von Thoraxschmerz und Atemnot muss daher auch eine Pulmonalembolie ausgeschlossen werden. Klinik Die klassische Trias der Pulmonalembolie ist: • unerklärliche akute Atemnot • Tachypnoe (Atemfrequenz > 20 Atemzüge/Minute) • Präkordiale Schmerzen Weitere Symptome sind in Tabelle 8 angeführt. Es muss allerdings in Betracht geTabelle 9. Differentialdiagnosen der akuten Pulmonalembolie Akuter Myokardinfarkt Pneumonie Herzinsuffizienz Asthma und COPD Intrathorakaler Tumor Pleuritis Rippenfraktur Pneumothorax Muskelschmerzen
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Tabelle 10. Empfohlenes Vorgehen bei Verdacht auf Pulmonalembolie Sauerstoffgabe 1 Amp. Lovenox 80 mg oder 5000 IE Fragmin s.c./oder 5000 IE unfraktioniertes Heparin i.v. Notarzt rufen
zogen werden, dass eine nicht unwesentliche Anzahl an Pulmonalembolien ohne jegliche Symptomatik verläuft.
Diagnostik Zumeist ist die sichere Diagnose allein aus der Symptomatik und den klinischen Zeichen nicht eindeutig zu stellen. Nur die Kombination von Klinik, Labor und bildgebenden Verfahren ermöglicht eine Pulmonalembolie mit ausreichender Sicherheit zu diagnostizieren oder auszuschließen. Da es jederzeit zu akuter massiver Verschlechterung bis zur Reanimationspflichtigkeit kommen kann, sollte diese Abklärung nur unter stationären Bedingungen erfolgen. Hier soll daher nur eine kurze Aufstellung der stationären Maßnahmen angeführt werden. Labortests: Blutgasanalyse, D-Dimer; vor Beginn einer Antikoagulation mit Marcoumar Thrombophiliescreening indiziert Elektrokardiogramm: dessen Wert liegt vor allem im Ausschluss anderer differentialdiagnostischer akuter Erkrankungen (Myokardinfarkt, Angina pectoris). Nur bei massiver PE zeigt sich die klassische rechtsventrikuläre Belastung. Spiral-Computertomographie (Spiral-CT) des Thorax: auch kleine periphere Embolien können damit nachgewiesen werden Thoraxröntgen: falls CT primär nicht erreichbar zum Ausschluss differentialdiagnostischer Erkrankungen, wie Pneumothorax, Rippenfraktur, maligne Erkrankung, Herzinsuffizienz Herzecho: bei massiver PE Rechtsherzsbelastungszeichen, mit paradoxem Septum, Rechtsherzdilatation und pulmonale Hypertonie Doppler/duplex des Becken- und der unteren Extremitätenvenen in der Folge zur weiteren Abklärung und eventuell lokalen Therapie (Kompressionsverband bei tiefer Beinvenenthrombose) Perfusionszintigraphie: Ein negativer Befund reicht zum Ausschluss einer PE aus. Ein positiver Befund weist eine hohe Sensitivität für das Vorliegen einer PE auf.
Eine Pulmonalisangiographie wird derzeit nur bei massiver Symptomatik und negativem CT/Szintigraphie angestrebt werden
Therapie der Pulmonalembolie Soforttherapie durch den erstversorgenden Arzt noch vor der Krankenhausaufnahme und weiterer Diagnostik: Sauerstoffgabe und sofortiger Beginn einer Antikoagulation sofern keine absolute Kontraindikation besteht. Am besten mit niedermolekularen Heparinen, etwa Enoxaparin 1 mg/kg Körpergewicht zweimal täglich oder Dalteparin 100 I.E./kg Körpergewicht zweimal täglich. (Alternativ: 5000 IE unfraktioniertes Heparin i.v. als Bolus.) Nach Diagnosesicherung im Krankenhaus ist eine Lysetherapie nur bei Schocksymptomatik bei massiver PE indiziert. Überlappend nach Abnahme der Thrombophiliediagnostik Beginn einer Antikoagulation mit Marcoumar/Sintron. Bei Drogenabhängigen ist gegenüber anderen Patienten dabei aufgrund der Notwendigkeit regelmäßiger Gerinnungskontrollen sicher noch mehr Aufklärungsund Motivationsarbeit zu leisten. Bei überlebter massiver Pulmonalembolie muss auch bei vermuteten schweren Complianceproblemen eine sorgfältigste Risikoabwägung zwischen Blutungsrisiko und eventuell tödlicher Rezidivembolie durchgeführt werden. Zusammenfassend sind zunehmend kardiovaskuläre Probleme, die mittelbar oder unmittelbar mit Drogenkonsum zusammenhängen, zu beobachten. Vor allem Notärzte und Ärzte in der Erstversorgung sollten darauf sensibilisiert sein und versuchen, durch eine gezielte Anamnese entsprechenden Konsum zu erheben. Im Rahmen eines präventiven, gesundheitserhaltenden Ansatzes, sollten Information
Kardiologische und pulmologische Komplikationen bei Opiatabhängigkeit
über mögliche gesundheitliche Folgen und sichere Alternativen zu riskantem intravenösem Konsumverhalten sowohl an manifest Drogenabhängige, als auch an Gelegenheitskonsumenten vermittelt werden.
Literatur 1. Cardiovascular Complications of Cocain use by Richard Lange MD and David Hillis MD. The New Engl Journ of Med (vol. 345: 351–358), 2/01
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Chirurgische Komplikationen Gabriele Hastermann Komplikationen durch iv. Drogenabusus stellen ein weites Spektrum an durchwegs sehr ernst zu nehmenden Erkrankungen dar. So manche von ihnen sind durch alleinige chirurgische Therapie heilbar. In den meisten Fällen ist jedoch intensives interdisziplinäres therapeutisches Management unabdingbar. Chirurgische Komplikationen iv. drogenabhängiger Patienten werden grundsätzlich durch die bakterielle Infektion und/oder Thrombose des punktierten Blutgefäßes bei unsachgemäßer intravenöser Applikation verursacht. Prädisponierende Faktoren: 1. gestörte Immunantwort: chronische Erkrankungen, Impfstatus, 2. herabgesetzte körperliche Reserve = Ernährungszustand, reduzierter muskulärer Trainingszustand 3. vorsätzliche Verletzungen 4. vermehrte Zufallsverletzungen 5. eventuell vernachlässigte körperliche Hygiene ad 1) Chronische Infektionen mit Hepatitis C und/oder B sowie HIV sind wohl häufige, auch meist bekannte Verursacher gestörter Immunsysteme. Die weitaus zahlreicheren Infektionen mit Sexual Transmitted Diseases (STDs) sind jedoch nicht zu vernachlässigen. Gerade wegen der oft chronischen Hautläsionen wie Condylome, wiederholte oberflächliche Eiterpustel oder verletzungsbedingte Fissuren und Strikturen im Analbereich wird eine Verschlechterung in Richtung Abszess im Genital- und Analbereich vom Patienten wenig bis kaum wahrgenommen. Analcarcinome,
die sich lange unbemerkt entwickeln, führen auf diesem Weg in die Katastrophe der inkurablen Situation. ad 2) Bakterielle lokale Infekte führen, wie allseits bekannt, nicht zwingend zu ausgedehnten Weichteilnekrosen. Streptokokkeninfektionen in vernarbtem Unterhautgewebe, aber auch in atropher, oft minder durchbluteter Muskulatur, sind jedoch meist nur durch ausgedehnte Weichteilexcision bzw. Nekrosektomie zu beherrschen. Kosmetisch und funktionell problematische Ergebnisse benötigen daher einen deutlichen Mehraufwand an plastisch-chirurgischer Technik und der nachfolgenden physikalischen Rehabilitation. Diese sollte bei den meist jungen Patienten aus soziomedizinischen und sozioökonomischen Gründen so rasch wie möglich einsetzen. Die zusätzliche Ernährungssubstitution ist im Gegensatz zur sogenannten Normalbevölkerung unbedingt zum raschen Behandlungserfolg anzuraten. ad 3) Schnittverletzungen in suizidaler Absicht, Prellungen mit ausgedehnten Blutergüssen, Brandwunden durch Eigen -oder Fremdverschulden sind häufige Merkmale i.v. drogenabhängiger Patienten in der chirurgischen Praxis. Die daraus resultierenden Komplikationen bedürfen keiner weiteren Erläuterung, sind jedoch immer wieder „nur“ Zufallsbefund neben weit gravierenderen Befunden bei z.B. Retroperitonealabszessen. Da diese Verletzungen selten frisch sind, beschränkt sich die chirurgische Be-
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G. Hastermann
handlung auf die Sekundärversorgung im Sinne der chronischen Wundbehandlung mit Wundausschneidung, Alginat- und Hydrokolloidverbänden oder VAC-Therapie (Vacuum Assistent Closure Therapy). Auf Details dieser Behandlungsstrategien inklusive bakteriologischer Abstrichentnahme wird im Weiteren eingegangen. ad 4) Wie bereits erwähnt sind Brandwunden sowie ausgedehnte contusionsbedingte Hämatome keine Seltenheit und werden meist als Zweitbefund erhoben. Umso mehr muss bei der Erstuntersuchung der gesamten Hautoberfläche Aufmerksamkeit gewidmet werden, da die Patienten sich der oft zahlreichen „Nebenverletzungen“ nicht bewusst sind oder bagatellisieren und diese daher gar nicht angeben. ad 5) Der Hygienestatus dieser speziellen Patientengruppe ist höchst unterschiedlich und soll daher nicht verallgemeinert werden. Tatsache bleibt jedoch, dass viele der an chirurgischen Ambulanzen vorstellig werdenden Drogensüchtigen oft aus primär sozialen Ursachen mangelnde körperliche Hygiene aufweisen. Der Drogenabusus per se stellt noch keinen ausreichenden Grund zur Vernachlässigung der eigenen Sauberkeit dar. Diese Annahme begründet
sich aus dem Verhalten vor allem junger Patienten während eines stationären Aufenthaltes. Dabei wird die Möglichkeit zur Hygiene dankbar angenommen und genau eingehalten. Ob mangelnde Hygiene alleine zur Ausbreitung einer Phlegmone et al. beiträgt, mag dahin gestellt bleiben. Tatsache ist, dass Superinfektionen durch ihr Erregerspektrum die Ausbildung von tiefen Abszessen und Sepsis begünstigen (1). Pathomorphologie, Ausbreitungsweg und der damit verbundene Schweregrad der Komplikation sowie die Therapie werden im Folgenden unterschieden. • Oberflächliche Haut-, Subcutan und Weichteilinfektion, oberflächliche Thrombophlebitis Phlegmone: Superinfizierte subcutane Hämatome an den Prädilektionsstellen werden durch z.B. hämolysierende Streptokokken rasch zu ausgedehnten Phlegmonen. Die gewebszerstörende Wirkung bakterieller Toxine sowie die rasche Ausbreitung über Lymphgefäße vor allem an den Extremitäten führen zu rascher Ödembildung und reaktiver Hyperämie. Die Klinik ist mit Fieber, Schwellung, Rötung und Schmerz nicht zu übersehen. Die Patienten weisen zusätzlich vor allem cubital meist eine deutliche Schonhaltung mit Streckdefizit auf.
Tabelle 1 Prädilektionsstelle
Komplikation
Cubitalvene
Phlegmone, Abszess, Armvenenthrombose Retroperitonealabszess,
Therapie
Inzision , Ruhigstellung Heparinisierung, Bandage Leiste Antibiotika möglichst nach Antibiogramm, chirurgische Sanierung Beckenvenenthrombose Heparinisierung, Bandage Aneurysma spurium Gefäßchirurgische Sanierung Fußrückenvene Phlegmone, Abszess, Antibiotika mit breitem Spektrum, Ruhigstellung, Thromboseprophylaxe! Weichteilnekrose Nekrosektomie, konsekutive Spalthautdeckung Raynaud-Symptomatik Gefäßaktive Therapie Vena jugularis Phlegmone, Abszess, Lokal und System.Therapie Sepsis + + Blutkultur und Antibiogramm Endocarditis + Herzecho zur Kontrolle Narbenkeloid Kosmetische Chirurgie Vene perimamillär(selten) Phlegmone Lokal Antiphlogistika, Abszess sparsame Excision
Chirurgische Komplikationen
Therapie: rasche iv.Antibiotikagabe (Penicilline und Cephalosporine meist ausreichend), eventuell Zugsalbe auf die Einstichstelle (Leukichtan®), Ruhigstellung der Extremität. Den Verband täglich wechseln und im Weiteren eventuelle Stichinzision bei Einschmelzung und regelmäßig mit Betaisodona® spülen. Die Hospitalisierung im Initialstadium stellt keinen Luxus dar und vereinfacht klinische als auch Laborkontrollen. Die notwendige Inzision zum richtigen Zeitpunkt und sämtliche allgemeinmedizinischen Maßnahmen wie ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Elektrolytausgleich, eventuelle Gerinnungssubstitution sind hier jederzeit möglich. Im Hinblick auf die oft schwierige soziale Situation der Patienten ist der Spitalsaufenthalt für wenige Tage der primär ambulanten Versorgung vorzuziehen (siehe Komplikationen). • Tiefe Gewebsnekrose Massive Gewebsnekrosen vor allem in Muskellogen des Oberschenkels sind keine Seltenheit. Das Einbringen hochpathogener anaerober Keime durch unsachgemäße im. Injektion führen zu dieser schwerwiegenden Komplikation. Diagnostik: Lokal meist nur mäßig gerötet, leiden die Patienten unter massiven bewegungseinschränkenden Schmerzen in der betroffenen Muskelpartie. Neurologische periphere Ausfälle sind oft das Leitsymptom und der Anlass für den Arztbesuch oder die stationäre Aufnahme. Die neurologische Symptomatik ist vor allem Folgeerscheinung des Compartmentsyndroms in der betroffenen Extremität. Dieses wird durch die massive Schwellung verursacht (einerseits durch den Abszess, aber auch durch umgebendes Ödem). Als Nebenbefund zeigen sich manchmal punktförmige, schmerzhafte Hautnekrosen an lividen Fingern und Zehen. Diese sind durch Vasospasmen verursacht. Die damit verbundene kritische Ischämie an den unteren Extremitäten (speziell der Zehen) sind nicht nur bei direkter Applikation in das arterielle System zu erwarten. Mit der einfachen Taschen Doppler-Sonde kann hier rasch und unblutig die Diagnose die-
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ser Raynaud- Symptomatik gestellt werden. Therapie: unter Breitbandantibiotikagabe sofortige Nekrosektomie der befallenen Gewebsbezirke. Dies gestaltet sich an den Akren erfahrungsgemäß schwierig und ist nicht immer ohne Funktionsausfall einzelner Muskelpartien durchzuführen. Ausreichende Belüftung und Drainage eventueller Abszesshöhlen vor allem im tiefen Oberschenkelbereich sind zu beachten. Häufig ist man bei der Erstoperation zur Einlage PVP-Jod (Betaisodona®) getränkter Tücher gezwungen. Diese werden im Weiteren nach eindeutiger Abgrenzung der zerstörten Gewebsbezirke durch eine VAC-Therapie ersetzt. Dabei wird ein grobporiger, steriler Schwamm in die Wundhöhle eingelegt und mit einem luftdichten Folienverband abgedichtet. Über ein Schlauchsystem wird nun Sog auf die Wunde ausgeübt. (Üblicherweise bis zu 150 mmHg.) Dieser fortlaufende Sog führt zur Anregung der Selbstreinigung und vor allem der Granulation im gesamten Wundbereich. Vorteile sind die längeren Verbandswechselintervalle (bis zu 3 Tagen), verminderte Geruchsbelästigung und raschere Wundheilung. Nachteile sind hohe Kosten, Leben mit dem Akku-betriebenen Gerät und eventuell fehlende Expertise der jeweiligen Behandler. Grundsätzlich ist eine VAC-Therapie im Weiteren auch ambulant durchzuführen. Bei Drogenabhängigen ist jedoch dringend davon abzuraten. (Die ambulante VACTherapie wird zwar von den Krankenkassen bezahlt, ist aber auch im Selbstbehalt teuer. Außerdem muss der Patient die VAC-Pumpe mit sich führen; dies erfordert ein hohes Maß an Compliance.) Die Feuchte Wundbehandlung mit Alginaten (Produkten aus Braunalgen, die Wundsekret aufsaugen), Kochsalzgelen und/oder Hydrokolloidverbänden ( hydrophobe Kunststoffpolymere mit quellfähigen hydrophilen Partikeln – schützen die Wunde vor Austrocknung) ist heute die Alternative für die früher geübte rein austrocknende und desinfizierende Therapie. Allerdings ist bei dieser sehr schonen-
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den Form der Wundtherapie eine regelmäßige bakteriologische Kontrolle mittels Wundabstrich (vor allem vom Wundrand) nötig. Die Antibiotikatherapie sollte möglichst nach Antibiogramm erfolgen um die rasche Wirksamkeit zu gewährleisten. (Das teuerste und breiteste Antibiotikum ist nicht immer das wirksamste.) Die Spalthautdeckung mit körpereigenem Spalthautnetz (Mesh) steht bei ausgedehnten Hautdefekten zur Verfügung. Die Behandlung der Vasospasmen wird mit Prostaglandinen als Infusion durchgeführt. Eine weitere Gefäßabklärung mittels Duplexsonographie, Dopplerindex und eventueller Magnetresonanz-Angiographie ist bei rezidivierender Symptomatik angezeigt. Major-Amputationen sind selten notwendig. Lediglich die verhängnisvolle Kombination ausgedehnte Nekrose durch Liegeschaden bei stundenlanger Bewusstlosigkeit plus Vasospasmus plus vorgeschädigtes Gefäßsystem führt zur Indikation der akuten Amputation am Oberarm, Oberschenkel oder Unterschenkel. Allerdings lassen sich Bewegungsdefizite nach Ausheilung großer Abszessareale auch durch plastisch-chirurgische Maßnahmen und intensive physikalische Therapie nicht immer vermeiden. • Psoasabszess Ausgangspunkt für diese spezielle Lokalisation sind tiefe Abszesse nach Leistenpunktion. (Anmerkung die retroperitoneal perforierte Appendizitis darf auch bei Drogensüchtigen mit relevanter Symptomatik und glaubhaft fehlender Leistenpunktion nicht außer Acht gelassen werden.) Diagnostik: Symptomatisch ist die fehlende bzw. extrem schmerzhafte Hüftbeugung im Liegen mit gestrecktem Bein. Massiv erhöhte Entzündungsparameter und ein pathologischer CT-Befund selbst ohne Kontrastmittel bestätigen die Diagnose. Das Erregerspektrum besteht in den meisten Fällen aus Staphylococcus aurens, Bacteroides fragilis und Escherichia coli (2). Therapie: Bei der chirurgischen Sanierung der Leiste mit Darstellung der Gefäße und
G. Hastermann
Drainage sämtlicher Abszesslogen muss immer an eine nach cranial reichende Abszedierung in Richtung des Musculus psoas der gleichen Seite gedacht werden. Die Revision unter das Leistenband in Richtung Retroperitoneum ist obligat, besonders dann – wenn keine präoperative Diagnostik mit MRI oder CT zur Verfügung steht. Die retroperitoneale Abszedierung steht als schwere Leistenkomplikation im Vordergrund, ausreichende Eröffnung und großlumige Drainage über mehrere Tage sind immer nötig. Nur in seltenen Fällen gelingt es mittels CT-gezielter Drainage ausreichend zu therapieren. Die neurologische Symptomatik bildet sich bei suffizienter chirurgischer Therapie rasch zurück. Persistierende neurologische Ausfälle lassen mit ziemlicher Sicherheit auf nicht sanierte Abszesslogen schließen. Spätestens jetzt muss die radiologische Diagnostik mit MRI oder CT einsetzen. Einfach durchzuführende klinische Tests sind u.a. das Anheben des Beines im Liegen, um die N.obturatorius- und N.femoralis-Funktion zu überprüfen. Allgemeinmedizinische Maßnahmen sind sofortige (vor Operationsbeginn!) intravenöse Breitbandantibiotikagabe, Kontrolle der Gerinnungs- und Nierenfunktion sowie dementsprechende Infusionstherapie und Flüssigkeitsbilanzierung. Die Einschwemmung bakterieller Toxine im Rahmen der chirurgischen Eröffnung des Retroperitoneums kann rasch zur allgemeinen Sepsis und damit zum Intensivaufenthalt dieser Patienten führen. Die bakterielle Endocarditis ist zwar nicht nur Folge solch ausgeprägter septischer Prozesse. Im Anschluss an chirurgische Maßnahmen darf der Ausschluss einer solchen mittels Herzecho-Untersuchung nicht außer acht gelassen werden. Die Prognose ist bei rascher Diagnosestellung und konsequenter Therapie in der Regel die komplette Wiederherstellung. • Arterielle und/oder venöse Komplikationen in der Leiste Läsionen der Art. femoralis oder Vena femoralis sind Raritäten (3). Die im Rahmen
Chirurgische Komplikationen
einer Abszessrevision der Leiste diagnostizierte Oberschenkel- oder Beckenvenenthrombose sollte keinesfalls operativ versorgt werden. Heparinisierung (niedermolekular) und Kompressionsverband sind ausreichend. Punktionsaneurysmata (spindelförmige Erweiterungen der Leistenschlagader) der A. femoralis communis sind äußerst selten, ausschließlich bei Langzeitdrogensüchtigen zu finden und müssen vom Gefäßchirurgen saniert werden. Problematisch ist hier die Implantation von PTFE-Gefäßprothesen im potenziell infizierten Op-Gebiet. (Anmerkung: Silberbeschichtete Prothesen werden bereits mit Erfolg in der septischen Gefäßchirurgie verwendet.) • Primär hämatogene Bakteriämie mit konsekutiver Sepsis, metastatisch pyämische Abszesse innerer Organe. Nicht jede umschriebene Cubitalphlegmone führt zwingend zur letalen Sepsis. Das Potenzial dazu darf jedoch niemals außer Acht gelassen werden. Hochpathogene Erreger, fortgeschrittene Reduktion der Immunabwehr bei langjährigem Abusus sind u.a. für die primär hämatogene Bakteriämie verantwortlich. Diagnostik: Fieberhafte Zustände sind in unkomplizierten Fällen von isolierten oberflächlichen Abszessen keine Seltenheit. Deutlich reduzierter Allgemeinzustand, septische Fieberzacken mit Maxima 38–39°C über mehrere Tage auch ohne sichtbare Eintrittspforte eventueller Erreger, Nachweis mittels Blutkulturausstrich und Gram-Färbung sind jedoch nahezu sichere Hinweise auf metastatisch pyämische Abszesse innerer Organe, floride Endocarditis oder allgemeine Sepsis. DIC (Disseminierte intravasculäre Coagulopathie) gilt als gefürchtete Komplikation des septischen Schocks. Nicht immer verläuft das toxische Geschehen fulminant und klinisch unübersehbar. Multiple Organabszesse zeigen anfangs oft nur geringe Klinik und werden erst im Stadium des Organversagens oder der Sepsis symptomatisch. Therapie: Der Übergang zum Multiorganversagen ist außerhalb des Spitals kaum
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suffizient zu therapieren. Kurzfristige Laborkontrollen, intravenöse Breitbandantibiotikagabe, maschinelle Beatmung und maschinelle Blutwäsche sind der Intensivstation vorbehalten. Die Prognose ist vom raschen Einsatz der Intensivbetreuung und dem Stadium diverser Begleiterkrankungen bei fortgeschrittenem Drogenkonsum abhängig. • Endokarditis Die bakterielle Endokarditis einer oder mehrerer Herzklappen stellt eine schwer fassbare ernste Komplikation iv. Drogensüchtiger dar. Diagnostik: Wiederholte Fieberschübe langjährig Drogenkranker sind leider oft das einzige Symptom gefährlicher Begleiterkrankungen. Da sich klinisch, wie bereits beschrieben, frühzeitig kaum sichere Hinweise auf eine Klappenschädigung bzw. bakterielle Auflagerungen finden, sind Herzecho und regelmäßige Labor (BSG, Leukocyten, CRP) und EKG-Kontrollen unverzichtbar. Positive Blutkulturen erleichtern sowohl Diagnose als auch therapeutisches Management. In den meisten Fällen stellt Staphylococcus aureus den Haupterreger dar, aber auch Pseudomonas und Streptococcen werden häufig isoliert. Meticillin resistente (MRSA) Staphylococcen treten bei diesen Patienten nicht vermehrt auf. Therapie: Spitalseinsweisung ist unerlässlich (Therapie siehe oben), die weitere ambulante Betreuung erfordert ein hohes Maß an Mitarbeit des Patienten bezüglich oraler Antibiotikatherapie über Wochen, Labor und kardiologische Kontrollen. Die Prognose ist deutlich vom jeweiligen Klappenbefall abhängig. Isolierter Rechtsherzbefall zeigt wesentlich bessere Heilungschancen als Linksherz- oder kombinierte Klappenerkrankungen (4). Operativer Herzklappenersatz ist selten nötig. Thromboembolische Komplikationen wie Lungeninfarkte mit konsekutivem Lungenabszess oder cerebrale Insulte mit konsekutiver Meningoenzephalitis sind seltene, allerdings potenziell häufige Todesursachen (5). • Seltene Komplikationen
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In der Literatur finden sich zahlreiche Kasuistiken mit seltenen, jedoch oft tödlich verlaufenden Komplikationen. (Anm. d. Autorin: der folgende Beitrag versteht sich als Hinweis für derart „ausgefallene“ Erkrankungen). Candida Endocarditis: nekrotische, ausgedehnte Klappenvegetationen mit Myocardabszessen, die der konservativen Therapie kaum zugängig sind. Klappenoperationen und Dauerprophylaxe sind die Folge (6). Kokain-assoziierte Milzinfarkte: multiple, abszedierte Milzinfarkte als Focus für metastatisch pyämische Abszesse in Herz, Niere, Hirnhäuten u.a. werden als extrem selten beschrieben, sind jedoch bei langjährigem Kokainabusus eine weitere Ursache für die letale Sepsis (7). Spondylodiszitis und Epiduralabszess: das gesamte septische Erregerspektrum inklusive Candida albicans et al. verursachen diese gefürchtete, weil extrem langwierig auszuheilende Komplikation im Bereich des Rückenmarks. Meist führt erst die tetra- oder paraplegische Lähmung des Patienten zur Diagnosesicherung mittels Spinalpunktion. Die MRT (Magnetresonanztomographie) stellt eine wesentliche Erleichterung in der Diagnostik dar (8). Mykotisches Aortenaneurysma: manifeste Psoasabszesse können mit Iliacal- oder Aortenaneurysmen vergesellschaftet sein. Durch die CT-Diagnostik als Gold Standard beim Psoas-Abszess werden diese jedoch rasch entdeckt und können der Therapie = Operation vor der Ruptur, zugeführt werden. Unklare nach retroperitoneal ausstrahlende, anhaltende Bauchschmerzen, stattgehabte Salmonelleninfektionen, fallweise belastungsabhängige Beinschmerzen (Claudicatiobeschwerden) bei Drogensüchtigen über 40 Jahre führen wohl kaum in jedem Fall zur Computer-
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tomographie. Gerade deshalb ist ein suffizienter (am nüchternen Patienten) Abdomen-Ultraschall als billige und einfach durchzuführende, ambulante Untersuchung bei den erwähnten Beschwerden anzuraten. Die Prognose im Rupturstadium ist erwartungsgemäß auch bei sofortiger optimaler gefäßchirurgischer Versorgung extrem schlecht. Der rechtzeitige Transport an ein Zentrum gelingt nur selten.
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Geburtshilfliche Komplikationen Inge Frech Einleitung Wir erleben eine stetige Zunahme der Substanzabhängigkeit, wobei ein Drittel der betroffenen Personen Frauen im gebärfähigen Alter sind. Während auch die legalen Drogen eine große Gefahr darstellen, ist die Geburtshilfe in zunehmendem Ausmaß mit den Folgen des Konsums illegaler Substanzen befasst. Wichtig ist eine möglichst frühzeitige und umfassende Betreuung der Patientinnen, die alle medizinischen und psychosozialen Bereiche betreffen soll, um eine ausreichende Stabilisierung während der Schwangerschaft zu erreichen. Dies ermöglicht eine Minimierung der schädlichen Auswirkungen auf den Feten und schafft die Voraussetzung, dass die Mutter die Obsorge für das Kind behalten kann. Nur im Rahmen eines multiprofessionellen, interdisziplinären Behandlungskonzepts können eine adäquate Substitutionstherapie und entsprechende geburtshilfliche und andere medizinische Maßnahmen durchgeführt werden.
Schwangerschaft Einige Problembereiche, die bei substanzabhängigen Schwangeren besonders häufig vorkommen: Medizinische und gesundheitliche Probleme – Infektionserkrankungen, sexuell übertragbare Erkrankungen – Abszesse, Venenentzündung, Thrombose
– Mangelernährung, Vitaminmangel Schwangerschafts- und geburtshilfliche Komplikationen – hoher Blutdruck, vorzeitige Placentalösung, vorzeitige Wehen – Frühgeburt, intrauterine Wachstumsretardierung (kleines Kind), Fehlbildungen (z.B. bei Polytoxikomanie) Psychosoziale Probleme – Entscheidung für oder gegen die Schwangerschaft – Partnerschaft und/oder Beziehung zum Kindesvater – Umgang mit eigenen Schuldgefühlen betreffend des Drogenkonsums und dessen Auswirkungen auf das Kind – Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen Soziale Probleme – Geeignete Wohnverhältnisse – Berufliche Situation, Arbeitslosigkeit – Regelung der finanziellen Situation – Konstruktive Zusammenarbeit mit Behörden unter Beachtung der damit verbundenen Ängste und/oder Vorerfahrungen – Verbleib des Kindes nach der Geburt, Sorgerecht für das Kind – Beschaffungskriminalität, Sexarbeit – Eventuell auftretende oder vorhandene forensische Probleme
Allgemeine Aspekte der Schwangerenvorsorge Die besondere Aufgabe der Schwangerenvorsorge liegt in der rechtzeitigen Diagnose und Behandlung direkter und indi-
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rekter Auswirkungen des Konsums legaler und illegaler Substanzen in der Schwangerschaft. Bei substanzabhängigen schwangeren Frauen treten zahlreiche Probleme auf, die sich manches Mal gar nicht so sehr von Problemen nicht-abhängiger Schwangerer unterscheiden. Im Gegensatz zu diesen fehlen aber Drogenabhängigen oft ein soziales Netz, eigene Ressourcen und geeignete Lösungsstrategien, um rechtzeitig helfen zu können. Daher ist Betreuung, die so früh wie möglich einsetzt und die Frau während ihrer Schwangerschaft, Geburt und im Wochenbett begleitet, von großer Bedeutung. Das betreuende Team setzt sich idealerweise aus GeburtshelferInnen, PsychiaterInnen, NeonatologInnen und SozialarbeiterInnen sowie PsychologInnen, PsychotherapeutInnen zusammen. Regelmäßige Teamtreffen ermöglichen eine Kontinuität in der Betreuung. Ein spezielles Behandlungskonzept erhöht die Compliance, ermöglicht eine intensivere Betreuung und eine tragende, empathische Arzt/PatientInnenbeziehung. Erfahrungen zeigen, dass substanzabhängige Frauen ihren Zusatzkonsum stark reduzieren, wenn sie in ein engmaschiges Behandlungskonzept eingebunden werden können. Sie sind physiologisch und emotional stabiler und haben ein besseres mütterliches und kindliches outcome im Vergleich zu nicht betreuten substanzabhängigen schwangeren Frauen. Ziel ist somit eine soziale, psychische und medizinische Stabilisierung, jedoch keine Entzugsbehandlung in der Schwangerschaft. Frühgeburt, Infektionsübertragung auf den Feten und andere Komplikationen sollen vermieden werden. Im Idealfall wird eine soziale (Re-)integration angestrebt und ermöglicht.
Medizinische und gesundheitliche Probleme Direkte Auswirkungen des Konsums Fehlbildungen, vorzeitige Placentalösung, Bluthochdruck, Präeklampsie, vorzeitige
I. Frech
Wehen, Frühgeburt, fetale Mangelernährung. Indirekte Folgen Schlechte Ernährung, Vitaminmangel, mangelnde Hygiene; Abszessbildung, Venenentzündung und Thrombose; sexuell übertragbare Erkrankungen und Infektionen, insbesondere Hepatitis B, C und HIV. Legale und illegale Substanzen und ihre Auswirkungen auf eine Schwangerschaft Nikotin 20% aller schwangeren Frauen rauchen. Die Auswirkungen reichen von fetaler Wachstumsretardierung, Spontanabort, Tabakentzugssyndrom bis zu plötzlichem Kindstod. Die Ursache für die Reifungsentwicklungsstörung dürfte direkt mit dem Kohlenmonoxid assoziiert sein. Der Konsum von zwei Päckchen Zigaretten am Tag führt zu einer 60%igen Reduktion des fetalen Blutflusses. Das Rauchverhalten während der Gravidität zu verändern oder aufzuhören, zeigt daher große Vorteile für das Kind. Es kommt zu einer Erhöhung des Geburtsgewichtes und zu einer Reduktion der Frühgeburtlichkeit. Die Therapie der Nikotinabhängigkeit umfasst neben verhaltensmodifizierender Gruppentherapie auch eine Nikotinpflasterersatztherapie. Alkohol Alkoholabhängige schwangere Frauen stellen ein hohes Risiko dar. Oft setzen sie während der Schwangerschaft ihren Alkoholkonsum fort, wodurch es beim Fetus durch die teratogene Wirkung zu schweren Fehlbildungen kommen kann. Gesundheitliche Konsequenzen für die Schwangere sind Mangelernährung, Entzündung der Bauspeicheldrüse und der Leber, Frühgeburt und Stillprobleme. Beim Fetus kann Alkohol in hohen Dosen die Entwicklung des fetalen Alkoholsyndroms verursachen. Dieses umfasst Wachstumsretardierung, Gesichtsdysmor-
Geburtshilfliche Komplikationen
phien wie Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte, Herzfehler, Funktionsstörungen des zentralnervösen Nervensystems verbunden mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Kinder weisen später massive Lernprobleme auf, assoziiert mit Aufmerksamkeitsstörungen. Wesentliches Ziel ist, alkoholabhängige Frauen zu erkennen und zu behandeln. Sie sind in einem hohen Ausmaß verängstigt und beschämt über ihre Sucht, da jede alkoholisierte Frau, umso mehr eine schwangere alkoholisierte Frau, in unserer Gesellschaft moralisch diskriminiert wird. Die Therapie umfasst Substitution mit Vitaminen, Folsäure, Mineralstoffen und Flüssigkeit. Zusätzlich sollte eine psychopharmakologische Entzugstherapie mit intensiver psychosozialer und psychotherapeutischer Betreuung durchgeführt werden. Cannabis Untersuchungen zeigen, dass die Schadwirkung eines Joints ungefähr der von 50 Zigaretten entspricht. Konsum führt zu einer deutlichen Gewichtsreduktion bei Neugeborenen. Hinweis auf Fehlbildungen gibt es in der Literatur keine. Kokain Kokain, das primär aus den Blättern der Kokapflanze stammt, interagiert mit verschiedensten Transmittersystemen im zentralen Nervensystem. Mütterliche Komplikationen durch die Kokainabhängigkeit inkludieren eine maligne Hypertonie, kardiale Ischämie, Insultgefahr bis hin zum plötzlichen Tod. In der Schwangerschaft kann es zu einem plötzlichen Blasensprung kommen sowie zu Frühgeburt, Wachstumsstörungen und zur vorzeitigen Placentalösung. Kokain passiert die Placentaschranke und führt zu einer viermal höheren Konzentration im Feten verglichen mit der Schwangeren! Es kommt gehäuft zu Missbildungen vor allem im Urogenitaltrakt und zu Schädigung der neuronalen Entwicklung. Postpartal zeigen die Kinder häufig Zeichen
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der Neurotoxizität, wie Zittrigkeit, erhöhte Irritabilität, aber auch Lethargie und vermehrtes Schlafbedürfnis. Opioide Frauen, die Opioide konsumieren, verbleiben oft im Milieu des illegalen Drogenkonsums. Betroffene leben meist in schwierigen sozialen Verhältnissen, viele sind ohne Krankenversicherung und manche sichern sich den weiteren Konsum durch Sexarbeit. Sie bedürfen besonderer professioneller Unterstützung, da die Betroffenen selbst die medizinische und psychosoziale Betreuung meist vernachlässigen oder nicht in der Lage sind, diese adäquat in Anspruch zu nehmen. Ein intravenöser Konsum erhöht zusätzlich das Infektionsrisiko. Es kann zu HIVund/oder Hepatitis-Infektion kommen, weiters zu Abszessbildung an der Einstichstelle sowie zur Herzmuskelentzündung. Die Gefahren für das Kind sind niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit mit allen begleitenden Komplikationen und das neonatale Entzugssyndrom. Opioide haben im Gegensatz zu Alkohol, Benzodiazepine und Kokain keine teratogene Wirkung. Die Standardtherapie opioidabhängiger Schwangerer stellt die medikamentöse Einstellung mit synthetischen Opioiden dar. Primäres Ziel ist Stabilisierung, Vermeiden von Rückfällen und Zusatzkonsum und den damit assoziierten Spiegelschwankungen im Blutkreislauf. Im dritten Trimenon kommt es zu einer hormonell bedingten Enzyminduktion, sodass eine Dosiserhöhung bzw. eine zweimal tägliche Dosis notwendig sein kann, um eine adäquate Einstellung zu erzielen. Methadon ist diejenige Substanz, mit der die meisten Erfahrungen vorliegen. Die Nachteile sind beträchtliche Nebenwirkungen und das zu 60–80% auftretende neonatale Entzugssyndrom (= NAS). Retardierte Morphine und Buprenorphin sind erst in den letzten Jahren im Einsatz.
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Neueste Untersuchungen weisen darauf hin, dass unter Buprenorphin ein geringer ausgeprägtes NAS zu erwarten ist. Im Gegensatz zu Methadon und Morphin ist es ein partieller Agonist/Antagonist. Die Vorteile sind ein geringeres Abhängigkeitspotential und eine kürzere neonatale Entzugsdauer. Amphetamine Amphetamine werden immer wieder als Psychostimulantien und Gewichtsregulierer verschrieben. Durch den Konsum erreicht man eine gehobene Stimmungslage und verringertes Schlafbedürfnis, was ein Absetzen dieser Substanzen erschwert. Amphetamine bewirken einen erhöhten Gefäßtonus mit Hypertonie und Tachykardie und in weiterer Folge eine fetale Mangelversorgung. Es besteht Gefahr einer frühzeitigen Placentalösung und eines geringeren Geburtsgewichts der Neugeborenen. Benzodiazepine Hier gibt es Hinweise für vermehrt auftretende Fehlbildungen im Bereich des Gesichts, besonders wenn Benzodiazepine im ersten Trimenon konsumiert wurden. Neugeborene zeigen das am längsten andauernde und intensivst ausgeprägte Entzugssyndrom. Daher gilt in der ärztlichen Verschreibung von Benzodiazepinen äußerste Zurückhaltung. Ein polytoxikomanes Konsumverhalten mit regelmäßiger Einnahme von Benzodiazepinen sollte rechtzeitig erkannt werden, um sofort reagieren zu können. Gefahren des intravenösen Konsums liegen vor allem in der physischen und psychischen Abhängigkeit, der Infektionsgefahr, wie Hepatitis B, C und HIV bzw. sexuell übertragbarer Erkrankungen. Durch Injektion verunreinigter Substanzen kommt es zu Fieber, lokaler Abszessbildung, Venenentzündungen und Thrombose. Weitere Gefahren bestehen im sozialen Abstieg verbunden mit schlechter Ernährung, mangelnder Hygiene, häufig auch Beschaffungskriminalität und Sexarbeit.
I. Frech
Entzug in der Schwangerschaft Trotz Ausbildung eines neonatalen Abstinenzsyndroms unter Substitutionstherapie ist eine Entzugsbehandlung nur in seltenen Fällen indiziert. Während der Schwangerschaft, die eine große Stresssituation darstellt, kommt es leichter zu Rückfällen. Die dadurch entstehenden Blutspiegelschwankungen sind für den Fetus schädigender als eine konstante Erhaltungstherapie. Weiters kann ein Entzug vorzeitige Wehen auslösen und somit zu einer Frühgeburt führen. Das heißt, wichtig ist Stabilisierung der Schwangeren mit Vermeidung eines Rückfalls und/oder eines Zusatzkonsums. Geburtshilfliches Betreuungskonzept Ziel ist ein möglichst frühzeitiger Beginn in der Schwangerenbetreuung. So können alle vorgesehenen Mutter Kind Pass Untersuchungen durchgeführt werden. Beim ersten Besuch in der Ambulanz werden vaginal Infektionsabstriche und alle wichtigen Laborparameter abgenommen, um rechtzeitig notwendige Therapien, wie zum Beispiel bei einer HIV Infektion, einzuleiten. Es werden regelmäßige Ultraschallkontrollen durchgeführt, um das Wachstum des Feten und die Versorgung durch die Nabelschnur mittels spezieller Doppleruntersuchungen zu kontrollieren. Gegen Ende der Schwangerschaft erfolgt zusätzlich eine Überwachung der Herztöne mittels Kardiotokogramm. Meist setzt die Wehentätigkeit von selbst ein. Falls dies bis zum errechneten Geburtstermin nicht der Fall ist, werden nach Rücksprache mit der Schwangeren die Wehen medikamentös eingeleitet, um dem erhöhten Risiko eines intrauterinen Fruchttodes vorzubeugen. Psychosoziale Problembereiche In den letzten Jahren hat ein Umdenken stattgefunden. Schwangerschaft und Erhaltungstherapie sind aufgrund der neuen Medikamente möglich geworden. Dadurch haben sich vor allem im psychosozialen Bereich einige neue Probleme ent-
Geburtshilfliche Komplikationen
wickelt. Auf diese möchte ich hier eingehen, unter besonderer Berücksichtigung spezieller Aspekte der Kommunikation. Zu Beginn gilt es die geplante und gewünschte Schwangerschaft getrennt von der ungeplanten, oft auch ungewollten Schwangerschaft zu betrachten. Die ungeplante Schwangerschaft Frauen unter Substitutionstherapie und noch mehr von illegalen Substanzen abhängige Frauen haben meist eine sehr unregelmäßige Menstruation und häufig anovulatorische Zyklen. So sind Schwangerschaften selten und wenn, dann werden Frauen oft überrascht. Ungeplante Schwangerschaften werden zudem meist später erkannt, da ein unregelmäßiger Zyklus und das Ausbleiben der Regelblutung nichts Ungewöhnliches darstellen. Wird die Schwangerschaft vor der vollendeten zwölften Schwangerschaftswoche diagnostiziert, so ist eine Schwangerschaftskonfliktberatung unter Beachtung aller medizinischen und psychosozialen Begleitfaktoren wichtig. Häufig steht bewusst oder unbewusst ein Wunsch nach Lebensveränderung im Hintergrund. Es gibt eigene Zukunftswünsche, aber auch Pläne und Hoffnungen bezüglich des erwarteten Kindes. Begleitende Gespräche sind wichtig, um Ängste, Erwartungen und Bedürfnisse der Frauen kennen zu lernen und sie ihrer Situation entsprechend beraten zu können. Familiäre Verhältnisse sind häufig kompliziert, Partnerschaften ungeklärt und soziale Situationen schwierig. Trotzdem sind Schwangerschaftsabbrüche eher selten. Einerseits weil die Schwangerschaft oft erst nach der zwölften Woche erkannt wird, andererseits weil sich viele Frauen eine Veränderung ihrer Lebenssituation erhoffen und einen Ausstieg aus der Szene wünschen. Mit der Schwangerschaft verbinden substanzabhängige Frauen die Hoffnung, Kraft für die Bewältigung ihrer Sucht zu gewinnen, verbunden mit der Chance auf ein neues, besseres Leben. Dies setzt Kräfte und Motivation frei,
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kann aber auch eine massive Überforderung bedeuten. Suchtabhängige haben aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur eine geringe Frustrationstoleranz und selbst bei großer Motivation kann es durch schwierige Bedingungen rasch zu Überforderung und zu einem Rückfall kommen. Entscheidet sich die Frau für das Austragen der Schwangerschaft, kommt es, wie auch für jede andere Frau, zu einer völlig neuen Lebenssituation mit neuen Aufgaben und Herausforderungen. Dies stellt im Rahmen einer normativen Lebenskrise eine emotionale Stresssituation dar. Die geplante Schwangerschaft In den letzten Jahren kommt eine neue Patientinnengruppe hinzu, nämlich jene Frauen, die dauerhaft in Substitutionstherapie sind, gezielt einen Kinderwunsch haben und eine Schwangerschaft anstreben. Hier sind soziale Rahmenbedingungen meist besser. Die Frauen leben in einer fixen Partnerschaft. Beratung und Begleitung sind wichtig, um die Stabilität zu erhalten und Überlastung und Krisensituationen rechtzeitig zu erkennen. Partnerschaft Häufig finden wir instabile, rasch wechselnde Partnerschaften. Oft besteht die Partnerschaft erst kurze Zeit, bei Mehrgebärenden finden wir immer wieder verschiedene Kindesväter. Erschwerend ist die Tatsache, dass auch die Partner häufig substanzabhängig sind oder im günstigeren Fall bereits in einem Substitutionsprogramm aufgenommen wurden. Es stellt sich die Frage, wie sehr der Partner die Verantwortung einer Vaterund Partnerrolle übernehmen kann oder will bzw. welche anderen sozialen Ressourcen und/oder familiäre Unterstützung der Frau zur Verfügung stehen. Soziale Probleme Häufig finden wir schwierige berufliche Situationen, oft eine abgebroche Ausbildung oder Arbeitslosigkeit. Frauen wohnen bei ihren Eltern, in Wohngemein-
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schaften oder unzureichenden Wohnverhältnissen. Ein geplanter oder möglicher Wechsel aus der Drogenszene ist verbunden mit Angst vor Isolation und Verlust von „Freundschaften“. Zusätzlich Schwierigkeiten bilden Zusammenarbeit mit Behörden und Ämtern. Meist sind zahlreiche, zeitaufwändige Wege zu erledigen, oft bestehen negative Vorerfahrungen. Werdende Mütter bzw. Eltern äußern immer wieder Ängste, ob sie das Sorgerecht für ihr Kind erhalten werden und später behalten können. Manches Mal haben wir auch mit aktuell auftretenden oder bestehenden forensischen Problemen zu tun, entstanden durch Beschaffungskriminalität und/oder Sexarbeit. All diese Aspekte müssen in der psychosozialen Betreuung berücksichtigt und in der Kommunikation beachtet werden. Kommunikations- und Schwangerschaftsvorsorge Die bei dieser PatientInnengruppe bekannt hohe psychiatrische Komorbidität (hohe Angstsymptomatik, geringes Selbstwertgefühl, Neigung zu Depressivität) verbunden mit schwierigen sozialen Verhältnissen ist erschwerend für eine empathische Arzt/Patientinnenbetreuung und muss beachtet werden. Begleitende psychosoziale Maßnahmen sind wesentliche Voraussetzungen, um eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen zu können. Eine besondere Herausforderung stellt die Kommunikation dar. Wesentlich ist eine empathische Haltung. Ein Setting mit klaren Strukturen ist notwendig, an das sich idealerweise sowohl betreuendes Personal als auch Patientinnen halten. Viele Frauen haben Erfahrung mit grenzüberschreitenden Situationen, haben Missbrauch entweder selbst erlebt oder leben aktuell in gewalttätiger Umgebung. Ziel ist daher eine empathische Arzt/ Patientinnenbeziehung, um Vertrauen und eine möglichst große Compliance zu erreichen. Es ist wichtig, dass Kontrolltermine
I. Frech
eingehalten werden, und die medikamentöse sowie nicht-medikamentöse Therapie auch in schwierigen Situationen nicht abgebrochen wird. Durch regelmäßigen Kontakt können aktuelle Sorgen und Ängste eher angesprochen werden. Aber nicht nur Ängste sind ein wichtiges Thema, sondern in ganz besonderem Ausmaß auch Scham und Schuldgefühle. Die Schwangeren machen sich oft Vorwürfe, ihrem Kind nicht die besten Voraussetzungen zu bieten und es mit gesundheitlichen Problemen zu belasten. Im Rahmen der Aufklärungsgespräche muss daher umfassend und verständlich Information bezüglich Schwangerschaft und Geburt, aber auch über Gefahren und Auswirkungen eines Zusatzkonsums bzw. eines plötzlichen Entzugs vermittelt werden. Die Frauen sollen Möglichkeit haben eigene Fragen, Phantasien oder Ängste zu thematisieren. Das heißt Aufklärung und Information sind wichtig, um Ängste zu minimieren und um möglichst große Kontinuität und Sicherheit in einer schwierigen Lebensphase zu vermitteln. Dies gewinnt besonders kurz vor der Geburt und peripartal an Bedeutung. Geburt Die Geburt stellt eine besondere Herausforderung an das geburtshilfliche Team dar. Grundsätzlich ist eine vaginale Entbindung möglich und bei Wunsch der Frau auch anzustreben. Kontraindikation stellt lediglich eine HIV Infektion dar, ansonsten gelten dieselben medizinischen Regeln wie bei anderen Schwangeren. Sinnvoll ist eine großzügige Schmerztherapie, bei Wunsch eine Periduralanästhesie (= „Kreuzstich“). Durch die Substitutionstherapie sind die Herztöne des Kindes meist eingeschränkt, die unter der Geburt durch ein Kardiotokogramm (CTG) überwacht werden. Hier gilt besondere Achtsamkeit und bei Bedarf eine großzügige Indikation zum Kaiserschnitt.
Geburtshilfliche Komplikationen
Wie bei jeder anderen Gebärenden sind eine kontinuierliche Begleitung während der Geburt durch eine nahe Bezugsperson und das geburtshilfliche Team wichtig. Wochenbett Die postpartale Phase ist eine besonders sensible Phase im Leben jeder Frau. Sie fordert eine große emotionale Anpassungsleistung an die neue Situation und an die unbekannte Rolle als Mutter. Insofern ist die Weiterführung der Erhaltungstherapie bedeutend. Diese Zeit sollte nicht durch zusätzliche Belastungen wie eine Entzugsbehandlung erschwert werden. Stillen kann und soll der Frau ermöglicht werden, da eine Substitutionstherapie keine Kontraindikation darstellt und Stillen die frühe Mutter-Kind-Beziehung fördert. Eine Kontraindikation besteht im Falle einer mütterlichen HIV Infektion, Hepatitis C je nach Virusbelastung sowie Zusatzkonsum von Kokain oder Amphetaminen. Häufig haben die Frauen massive Versagensängste, die Erwartungen und Anforderungen als Mutter nicht zu erfüllen. Dazu haben sie Schuldgefühle ihrem Kind gegenüber, insbesondere wenn dieses Entzugssymptome hat. Es sollte Müttern ermöglicht werden, während der Behandlungsdauer des NAS gemeinsam mit ihrem Kind zu bleiben. Je nach Befinden des Kindes ist ein großzügiger stationärer Aufenthalt sinnvoll. Dies ermöglicht eine psychosoziale Begleitung der Frau und eine Förderung der MutterKind-Interaktion mit dem Ziel der Stabilisierung und einer möglichst geplanten und organisierten Entlassung. Die Entbindung sollte bevorzugt an einem Zentrum stattfinden, wo Geburtshelfer, Neonatologen und Psychiater integrativ zusammenarbeiten und die Frau im Rahmen eines multiprofessionellen Teams interdisziplinär betreuen können. Das Neugeborene und das neonatale Abstinenzsyndrom (= NAS) Das Neonatale Abstinenzsyndrom nach
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antenataler Drogenexposition gilt seit ungefähr 30 Jahren als eigenständiges Krankheitsbild und hat in den letzten Jahren mit zunehmender Verbreitung des Drogenkonsums an Bedeutung gewonnen. Es erscheint nicht nur nach Opioidkonsum, sondern auch nach Konsum anderer Substanzen, wie Barbiturate, Benzodiazepine, aber auch Neuroleptika und Antidepressiva. Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial gefährden den Fetus und das Neugeborene vorwiegend durch intrauterine Abhängigkeitsentwicklung, fetalen Entzug, sowie durch Entzugskomplikationen der Schwangeren. Aggravierende Faktoren sind Ko-Konsum anderer Drogen, sozioökonomischer Status und Mangelernährung. Die deutlich erhöhte Inzidenz viraler Infektionen und sexuell übertragbarer Erkrankungen (STD) durch vertikale Übertragung stellen weitere Risikofaktoren für das Kind dar. Das vertikale Übertragungsrisiko für Hepatitis B liegt zwischen 80–90%, für Hepatitis C zwischen 5% und 50% und für HIV zwischen 23 und 25%. Daher wird eine postnatale aktive und passive Immunisierung gegen Hepatitis B vorgenommen. Bei HIV Infektion der Mutter gibt es ein spezielles Konzept antenataler und postnataler antiviraler Therapie. Wichtig ist außerdem, dass die Schwangere vor Beginn der Wehentätigkeit per Kaiserschnitt entbunden wird, so dass die Transmissionsrate weiter gesenkt wird. Ferner wichtig in der Neonatalperiode sind vor allem Probleme durch Infektionen, Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung und Mikrozephalie. Kinder substanzabhängiger Mütter tragen auch ein erhöhtes Risiko für das Atemnotsyndrom. Probleme des Neugeborenen nach intrauteriner Drogenexposition Frühgeburtlichkeit Wachstumsretardierung Zentralnervöse Erkrankungen Atemnotsyndrom
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Herzrhythmusstörungen Infektionen Still- und Ernährungsprobleme Im Vordergrund für das Neugeborene steht jedoch das NAS. Dieses ist ein vielfältig, klinisches Erkrankungsbild. Die Symptome reichen von Übererregbarkeit, Tremor, erhöhtem Muskeltonus oder Krampfanfälle über gastrointestinale, vegetative Symptome bis hin zu schrillem Schreien, Trinkschwäche, Schwitzen. Die Beurteilung des NAS erfolgt nach dem Finnigan Score, die vom ersten Lebenstag an durchgeführt wird. Neonatales Entzugssyndrom/NAS (nach Finnigan et al., 1992) Zentralnervöse Störungen – Schrilles Schreien – Schlafphase nach Füttern – Verstärkter Moro Reflex – Erhöhter Muskeltonus/Tremor – Krampfanfälle – Hautabschürfungen Metabolische/Vasomotorische/ Respiratorische Störungen – Schwitzen/Fieber – Gähnen – Marmorierte Haut – Verstopfte Nase/Niesen – Nasenflügeln/Tachypnoe Gastrointestinale Störungen – Übermäßiges Saugen – Trinkschwäche – Erbrechen/Diarrhoe Die Inzidenz des neonatalen Opiatentzugs wird mit 50% bis 95% angegeben. Die ersten Symptome treten zwischen 24 und 72 Stunden nach der Geburt auf. Die Intensität und das Auftreten sind abhängig von der Substanz, welcher der Fetus exponiert war.
I. Frech
Es besteht nach neuesten Erkenntnissen kein Zusammenhang zwischen Dosierung der Substitutionstherapie und Intensität der Symptomatik. Die Diagnose des NAS basiert auf Kenntnis mütterlicher Drogenanamnese, kindlicher Klinik und toxikologischer Substanzbestimmung. Die Standardtherapie des NAS besteht in der Verabreichung von Morphinpräparaten mit strenger Indikationsstellung nach dem Finnigan Score. Im Falle einer mütterlichen Politoxikomanie oder dem Konsum von Benzodiazepinen, sollte Phenobarbital entsprechend dosiert werden.
Zusammenfassung Ein interdisziplinäres, multiprofessionelles Behandlungsmodell für substanzabhängige Schwangere sollte folgende Abteilungen integrieren: Psychiatrie, Geburtshilfe, Neonatologie, Psychosoziale Dienste, Kinderneurologie. Da die Schwangerschaft und die peripartale Zeit für jede Frau eine psychoemotionale Ausnahmesituation im Sinne einer normativen Entwicklungskrise darstellen und gerade substanzabhängige Schwangere auf Stress und Überforderung mit vermehrtem Substanzkonsum reagieren, ist eine kontinuierliche Betreuung unumgänglich. Ziel ist es, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit die Frau in der Schwangerschaft zu begleiten, Zusatzkonsum und/ oder Therapieabbruch und die damit verbundenen Gefahren für Mutter und Kind zu minimieren. Bei intensiver Betreuung und ohne zusätzliche Risiken sind die geburtshilflichen Ergebnisse gut. So können die Voraussetzungen für Stabilisierung und Erhaltung einer stabilen Umgebung für die neue Familie geschaffen werden.
III. Behandlungsstrategien
Schadensmindernde Aspekte – „Harm Reduction“ Hans Haltmayer Noch bis in die späten 80er-Jahre war auch das österreichische Drogenhilfssystem vom Abstinenzpostulat bestimmt. Das Erreichen von dauerhafter Abstinenz war das erklärte Ziel. Die körperliche Entzugsbehandlung mit anschließender stationärer Entwöhnungsbehandlung galt als Königsweg in der Drogentherapie. Sozialpädagogische und psychotherapeutische Modelle bildeten die therapeutische Grundlage. Das Behandlungsmodell basierte auf der Annahme, dass sich eine Ausstiegsmotivation erst aufgrund einer an Intensität zunehmenden und in der Folge unerträglich werdenden Ausweglosigkeit entwickelt („Leidensdrucktheorie“). Unterstützende Interventionen erfolgten nur in Zusammenhang mit der Äußerung von Abstinenzabsicht und bestanden zunächst aus einer eingehenden Prüfung der Ernsthaftigkeit („Motivationsprüfung“). Substanzabhängige, die an dieser Vorgabe scheiterten, rutschten durch das solcherart grob gewebte Netz des Hilfesystems. Diese eindimensionale Ausrichtung war Ausdruck eines gesellschaftlichen Wertesystems, das den Konsum illegaler Drogen dämonisiert und die Abhängigen an den Rand der Gesellschaft drängt. Die Hilfsangebote waren nicht ausreichend an allgemeinen Grundwerten der Gesellschaft und in anderem Kontext selbstverständlichen sozialmedizinischen Paradigmen (z.B. Palliativmedizin) orientiert, um ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, eine sozialmedizinische Grundversorgung zu gewährleisten sowie abhängigkeitsbedingte Folge- und Begleiterkrankungen zu verhindern und zwar unabhängig vom Vor-
handensein eines Willens oder der Fähigkeit zur Abstinenz.
Entwicklung Der vor mehr als 10 Jahren eingeleitete und keineswegs abgeschlossene Kurswechsel in der Behandlung von Drogenabhängigen, besteht in einer Abkehr von der „Leidensdrucktheorie“ hin zu einem rationalen Umgang mit den Problemen, die sich für das Individuum und die Gesellschaft ergeben. Mehrere Faktoren waren für diesen Umbruch ausschlaggebend. Zunächst das Wissen um das „Maturing out“, das Herausreifen aus der Abhängigkeit mit zunehmendem Alter auch ohne therapeutische Intervention. Entscheidende Bedeutung ist dabei der Frage beizumessen, ob die Person die Phase der Abhängigkeit psychisch, sozial und somatisch möglichst unbeschadet überstanden hat. Die HIV-Epidemie, von der intravenös Drogenkonsumierende in den späten 80er und 90er-Jahren erfasst wurden und der mit herkömmlichen Strategien nichts entgegengesetzt werden konnte, veranlasste ebenfalls zur Suche nach neuen Interventionsstrategien. Pragmatisches, lösungsorientiertes Denken führte zur Ergänzung idealisierter und ideologisierter therapeutischer Angebote. Die geringe Reichweite des abstinenzorientierten Drogenhilfssystems, eine steigende Anzahl an Drogentodesfällen und eine zunehmende, in der Öffentlichkeit sichtbare, soziale und gesundheitliche Verelendung unterstützten den Kurswechsel in Richtung pragmatischen Handelns.
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H. Haltmayer
Begrifflichkeit Ausgehend vom Begriff „Drug-related Harm“, der als „Drogenassoziierte Leiden“ übersetzt werden kann und die negativen sozialen, psychischen und körperlichen Folgen der Drogenabhängigkeit umfasst, bezeichnet Harm Reduction die Maßnahmen, die der Ausbildung bzw. dem Fortbestehen dieser negativen Folgen entgegenwirken sollen.
Ziele Das Konzept geht davon aus, dass ein fortgesetzter Konsum große Risiken für Erkrankungen auf der somatischen und psychischen Ebene sowie Probleme auf der sozialen Ebene mit sich bringt. Unter den Begriff der Schadensminimierung fallen Maßnahmen, die diese Risiken senken bzw. manifestes Leiden lindern, ohne dass sie unmittelbar bzw. unbedingt zur Substanzfreiheit beitragen müssen oder diese als Voraussetzung für den Beginn der Maßnahmen festlegen. Eine langfristige Zielsetzung schadensminimierender Maßnahmen liegt auch in der Motivierung von Substanzabhängigen zu weiterführenden Maßnahmen, wie z.B. Substitutionsbe-
handlung, Entzugs- oder Entwöhnungsbehandlung. Schadensminimierung darf dabei aber nicht als Feigenblatt für ein aufrechterhaltenes Abstinenzpostulat missbraucht werden, sozusagen als Fegefeuer vor der Erlösung durch Abstinenz. Harm Reduction basiert auf einem akzeptanzorientierten Zugang zu Drogenkonsum, der neben der Drogenfreiheit gleichwertige Zielalternativen, wie psycho-soziale Stabilisierung durch Substitution (ohne Abstinenzanspruch!) oder risikobewussten, kontrollierten Drogenkonsum vorsieht. Harm Reduction und Abstinenzorientierung können sowohl sich ergänzende, im Sinne einer Interventionskette ineinander greifende Maßnahmen, als auch gleichwertige, nebeneinander stehende Zielalternativen darstellen.
Anwendung Harm und Risk Reduction bilden zwei von vier Achsen jeder verantwortungsvollen Drogenpolitik (Abb. 1). War der Begriff Harm Reduction ursprünglich nur auf die Ausgabe von sterilem Injektionsmaterial bezogen, so kommt mittlerweile ein differenziertes Angebot an Maßnahmen, die sich je nach Zielgruppe
Supply Reduction Reduktion des der Angebotes
Risk Reduction Reduktion des Risikos
Harm Reduction Reduktion des Schadens
Demand Reduction Reduktion der des Nachfrage Nachfrage
Abb. 1. Verantwortungsvolle Drogenpolitik
Schadensmindernde Aspekte – „Harm Reduction“
beträchtlich voneinander unterscheiden können, zur Anwendung. Ausgangspunkt von Harm- und Risk Reduction Maßnahmen ist stets die Annahme, dass die Konsumenten zum Konsum entschlossen sind. Erstes Ziel ist somit nicht sie davon abzubringen, dazu wäre es ja ohnehin zu spät, sondern Informationen und Möglichkeiten zum risikoarmen Konsum zu bieten und so die sozialen und gesundheitlichen Risiken zu reduzieren. Ausgerichtet sind die Maßnahmen dabei stets auf Vermeidung von Schaden und Leid beim Einzelnen. Kritiker dieses Ansatzes, die meist einen repressiven, auf Strafverfolgung ausgerichteten Kurs befürworten (Supply Reduction), übersehen dabei auch den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch vermehrte Kriminalisierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und steigende Erkrankungszahlen entsteht. Wenn schon die Einsicht in jene Selbstverständlichkeit fehlt, dass Repression und Verfolgung völlig ungeeignete Mittel im Umgang mit Krankheit darstellen, so müsste doch wenigstens das Kostenargument überzeugen. Harm Reduction kommt häufig dort zur Anwendung, wo rein kurative Ansätze scheitern. Ein gar nicht neues Prinzip, dass in der Sozialmedizin schon lange seinen Niederschlag gefunden hat. Etwa in der Palliativmedizin, wo die Linderung von Beschwerden und die Erhaltung von Lebensqualität im Zentrum therapeutischer Überlegungen steht. Oder bei der Diabetikerund Hypertoniker-Schulung, wo es vordringlich darum geht, Umgang und Leben mit der Erkrankung zu erlernen. Die Haltequote im therapeutischen Setting soll so gefördert und die therapeutische Effizienz erhöht werden. Nicht das theoretisch Machbare, sondern das beim individuellen Patienten Mögliche, soll therapeutisch umgesetzt werden.
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– Abgabe von sterilen Spritzen, Kanülen und Injektionsutensilien (Wasser, Ascorbinsäure, Alkoholtupfer, Aufkochgefäß, Filter) – Niedrigschwellige Drogeneinrichtungen mit lebenspraktischer Hilfe (Waschen, Duschen, Essen) und sozialarbeiterischer Betreuung – Kostenlose Gesundheitsvorsorge und medizinische Basisversorgung – Kostenlose Hepatitisschutzimpfung – Substitutionsbehandlung mit rascher Eintrittsmöglichkeit und Akzeptanz von Beikonsum (Kokain, Benzodiazepine) – Einrichtungen zur chemischen Analyse von Straßendrogen (Verunreinigungen, Überdosierungen) – Krisenübernachtung und Notschlafstellen für Obdachlose – Betreute Wohnprojekte mit mittel- und langfristigen Wohnmöglichkeiten – Sozialökonomische Beschäftigungsbetriebe und Arbeitsvermittlungsprojekte – Einrichtung von Konsumräumen – Spezielle Betreuungsprojekte für Beschaffungsprostituierte – Förderung von Selbstorganisation (Empowerment).
Safer Use – die Königsdisziplin der Harm- und Risk Reduction Das zentrale Ziel in der Safer Use-Beratung ist immer die Verminderung des Risikos beim Drogenkonsum. Die Beratung soll nicht nur während der regelmäßigen Konsumphase erfolgen, sondern auch während abstinenter Perioden und in Phasen der Stabilisierung (z.B. Substitutionsbehandlung). Gerade im Rahmen eines Rückfalls wird oftmals ein besonders risikoreiches Konsumverhalten praktiziert. Die Safer Use Beratung sollte drei große Themenbereiche umfassen – die Substanz, die Applikationsform und das Setting (Tabelle 1).
Angebote Harm Reduction Maßnahmen setzen auf sozialer, somatischer und psychischer Ebene an:
Der intravenöse Drogenkonsum Die risikoreichste Konsumform stellt die intravenöse Verabreichung von Sub-
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H. Haltmayer
Tabelle 1. Themen von Safer-use-Beratung Substanz
Wirkungsweise der konsumierten Substanzen Erwünschte und unerwünschte Wirkungen Interaktionen mit anderen (psychoaktiven) Substanzen Risiko und Symptome einer Intoxikation
Applikationsform
Aufzeigen und besprechen von Alternativen zur intravenösen Konsumform (z.B. Rauchen, Sneefen) Information zu hygienischem i.v. Konsumverhalten Besprechen und üben von risikoreduzierenden Maßnahmen bei i.v. Konsum Zugang zu sterilen Injektionsutensilien (Spritzentausch-Einrichtungen)
Setting
Hygienische Bedingungen und stressfreies Milieu (z.B. Wohnung oder Konsumraum) Gemeinschaftlicher Konsum mit Hilfe im Notfall
stanzen dar. Um effektive Safer-Use-Beratung durchführen zu können, ist die genaue Kenntnis der Konsumtechnik erforderlich. Hier kann es durchaus nützlich sein, sich den Ablauf der Zubereitung und der Injektion von Substanzen vom Abhängigen selbst schildern zu lassen und so den Drogenkonsumenten als „Experten“ seiner selbst in die Beratung miteinzubeziehen. Erst dadurch wird ein Einblick in die Konsumrealität und das Konsumverhalten der betreffenden Person und eine individuelle Beratung ermöglicht. Außerdem erhöht die interaktive Form der Beratung die Akzeptanz. Zubereitung einer Injektionslösung am Beispiel von Heroin: Heroin wird als Pulver gehandelt. Die für den Konsum gedachte Menge wird in einem Esslöffel oder im konkaven Ende einer auf den „Kopf“ gestellten Getränkedose mit einer geringen Menge Wasser versetzt und in Lösung gebracht. Ein Säuerungsmittel (im besten Fall Ascorbinsäure) wird beigegeben, um die Löslichkeit zu erhöhen. Zur Vervollständigung des Vorganges wird die Lösung erwärmt („aufgekocht“). Dies erfolgt mittels eines Feuerzeuges, dessen Flamme unter den Löffel gehalten wird. Bei Verwendung einer Getränkedose wird diese an der Seite aufgeschnitten. So entsteht eine Art „Kocher“, bei dem das Innere der Dose die Brennkammer bildet (befeuert mit Alkoholtupfer, etc). Ist die feste Substanz in
Lösung gegangen, wird die Flüssigkeit mit der Injektionsspritze (ohne Kanüle) durch einen Zellulosefilter (z.B. Teilstück eines Zigarettenfilters) aufgezogen. Zubereitung und Injektion bergen eine Vielzahl von Gesundheitsrisiken in sich, die mit den Konsumenten im Detail besprochen werden müssen. Harm- und Risk Reduction für die Praxis Substanzen Risiko: Ein Risiko ergibt sich aus der unterschiedlichen Qualität der konsumierten Substanz hinsichtlich Konzentration und Ausmaß an Beimengung unbekannter Substanzen. Im Schwarzhandel fehlt jede Form der Qualitätskontrolle und Untersuchungen haben gezeigt, dass das Ausmaß an Beimengungen beträchtlich ist. Es finden sich Schmerzmittel (Paracetamol), Lokalanästhetika (Lidocain), Antidepressiva (Doxepin), Antibiotika (Trimethoprim), Koffein oder Lactose (Milchzucker). Risikoreduktion: Zuverlässige Qualitätsbestimmung ist nur im Rahmen einer laborchemischen Untersuchung möglich. Einen Hinweise auf die Konzentration („Reinheitsgrad“) gibt die Löslichkeit. Reines Heroin löst sich in Wasser ohne Zugabe von Säuerungsmittel. Im Prinzip gilt: Je weniger Heroin enthalten ist, desto mehr Säure ist zur Lösung erforderlich. Farbe und Geschmack sind keine sicheren Indikatoren,
Schadensmindernde Aspekte – „Harm Reduction“
da sie durch Beimengungen verändert werden können. Beimengungen lassen sich in der Praxis kaum identifizieren. Zum Schutz vor Überdosierungen bei unbekannter Konzentration sollte die intravenös applizierte Lösung auf Etappen gespritzt werden. Die Konzentration wird sozusagen über die Wirksamkeit „erspürt“, indem zunächst nur ein Teil der Lösung injiziert wird. Guten Schutz bieten alternative Konsumformen wie die nasale Applikation („Sneefen“, „Sniffen“) und die inhalative Applikation (Folienrauchen). Das Sneefen sollte ebenfalls in Etappen erfolgen, beim Folienrauchen ist die etappenweise Aufnahme durch die Technik vorgegeben (mehrere Lungenzüge). Spritzen und Kanülen Risiko: In Verwendung stehen hauptsächlich 2ml Einwegspritzen aus Kunststoff und von der Spritze getrennte Kanülen. Für die Injektion von aufgelösten Tabletten (Benzodiazepine, Morphintabletten) werden üblicherweise 5 ml oder 10 ml Spritzen verwendet. Das höchste Risiko beinhaltet sicherlich das gemeinschaftliche Verwenden von Spritzen und Kanülen. Trotz aller Aufklärungsmaßnahmen und Möglichkeiten zum kostenlosen Tausch, findet „syringe and needle sharing“ statt. Besonders problematisch ist die Situation in Gefängnissen, wo intravenöser Konsum tägliche Praxis ist, die Behörde aber die Ausgabe von Einmalspritzen und Kanülen blockiert. Risikoreduktion: Absolute Sicherheit bietet die ausschließliche einmalige Verwendung von Einwegspritzen und Kanülen. Aufkochgefäße (Löffel, Dosen) Risiko: Häufig werden Aufkochgefäße gemeinsam verwendet, was die Übertragung von Krankheitserregern begünstigt. Über die unbemerkt erfolgte virale oder bakterielle Kontamination (über Hände oder gebrauchte Kanülen) des Aufkochgefäßes kann also auch bei strikter Verwendung von sterilen Einwegspritzen und Kanülen eine Infektion erfolgen. Auch mangelhaf-
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te Reinigung bzw. Desinfektion bei ausschließlicher Eigenverwendung stellen ein Gesundheitsrisiko dar (bakterielle Infektion, Pilzinfektion). Risikoreduktion: Nur die ausschließliche Verwendung von eigenen Aufkochgefäßen schließt die Übertragung von Infektionserkrankungen aus. Bei Spritzenabgabestellen sind sterile Cups erhältlich, die bei Einmalverwendung größtmögliche Sicherheit bieten. Andernfalls sollte eine gründliche Reinigung mit Wasser sowie eine Desinfektion mit Alkoholtupfer unmittelbar vor dem Gebrauch erfolgen. Säuerungsmittel Risiko: Die Verwendung von Essig oder Zitronensaft zur Säuerung, kann zu starker Reizung und Entzündung der Venenwand führen. Der Körper kann auch mit einer pyrogenen Reaktion (Fieber, Schüttelfrost) reagieren. Risikoreduktion: Ascorbinsäure (Vitamin C) beinhaltet bei sparsamer Verwendung (Messerspitze) das geringste Risiko. Es ist in Apotheken und bei Spritzenabgabestellen erhältlich. In höherer Konzentration führt sie aber zur Reizung der Venenwand, was Entzündungen (Thrombophlebitis) und die Bildung von Blutgerinnseln (Thromben) zur Folge haben kann. Wasser Risiko: Das Auflösen von kristallinem Heroin, Kokain oder von psychotropen Substanzen in Tablettenform (Morphin, Benzodiazepine) erfolgt mit Wasser. Schon bei Verwendung von frischem Leitungswasser ist die Keimbelastung hoch. Je geringer die Anreicherung mit Sauerstoff, desto höher das Risiko einer Infektion mit Bakterien, Viren oder Pilzen. Abgestandenes bzw. aus unhygienischer Umgebung entnommenes Wasser (Toilette) birgt ein hohes Infektionsrisiko. Risikoreduktion: Größtmögliche Sicherheit bietet die Verwendung von steril verpacktem destilliertem Wasser oder physiologischer Kochsalzlösung (0,9% NaCl).
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Letztere ist in Apotheken erhältlich, Ersteres wird bei Spritzenabgabestellen auch in kleinen Einheiten (10 ml) abgegeben. Die zweitbeste Lösung liegt in der Verwendung von frischem Leitungswasser. Filter Risiko: Bei der Verwendung von Zigarettenfiltern gelangen kleinste Filterteile in die Injektionslösung und über die Blutbahn in die Lunge (Mikroembolie). Über einen Zeitraum von vielen Monaten bis Jahren kann dies zu einer beträchtlichen Verminderung der Lungenfunktion und einer Rechtsherzbelastung führen, verschlechtert noch durch das Einschwemmen von Partikeln, die von der groben Gitterstruktur der Filter nicht abgefangen wurden. Beim Filtrieren der Injektionslösung bleibt ein Bruchteil der konsumierten Substanz im Filter zurück. Ein Umstand, der vor allem Abhängige mit geringen finanziellen Mitteln zum Sammeln und Wiederverwenden, teils eigener, teils fremder (!) gebrauchter Filter bringt. Diese werden dabei in Wasser erwärmt um die Substanzrückstände in Lösung zu bringen – ein Vorgehen, das mit einem sehr hohen Infektionsrisiko verbunden ist. Risikoreduktion: Industriell gefertigte Filter werden an manchen Spritzenausgabestellen angeboten. Ihre Gitterstruktur ist feiner und es bilden sich keine verwertbaren Substanzrückstände. Filter sollen keinesfalls öfter als einmal verwendet werden! Hände Risiko: Selbst bei Einhaltung aller „Safer Use-Regeln“ bleibt das Infektionsrisiko hoch, wenn keine ausreichende Reinigung der Hände vor und nach dem intravenösen Konsum erfolgt. So selbstverständlich dieser Vorgang bei äußerer Betrachtung auch erscheinen mag, so wenig Anwendung findet er in der Praxis. Mit Schmutz, Blut und Wundsekreten benetzte Hände
H. Haltmayer
sind besonders in der Straßenszene eine Realität. Risikoreduktion: Im Idealfall sollte vor und nach dem Konsum eine Reinigung der Hände mit einer desinfizierenden Seife durchgeführt werden. Dabei wäre auch darauf zu achten, dass der Schmutz unter den Fingernägeln entfernt wird. Findet der Konsum im Wohnungsverband statt, besteht dazu prinzipiell die Möglichkeit. Beim Konsum im öffentlichen Raum fehlt diese Gelegenheit aber weitgehend. Öffentliche Toilettenanlagen bieten aber zumindest Fließwasser.
Konsumräume In Konsumräumen können mitgebrachte Drogen unter hygienischen Bedingungen und in stressfreier Atmosphäre konsumiert werden. Dies kann unter sozialarbeiterischer oder medizinischer Aufsicht erfolgen. In Verbindung mit einer Beratungsstelle besteht außerdem die Möglichkeit für Beratung, ärztliche Behandlung, psychosoziale Betreuung, oder Krisenintervention. In einigen Ländern Europas (Deutschland, Holland, Schweiz, Großbritannien) zählen Konsumräume seit langem zum unverzichtbaren Inventar drogenpolitischer Maßnahmen. Leider gibt es in Österreich bislang noch kein einziges in dieser Form betriebenes Projekt. Was macht nun Konsumräume so unverzichtbar? Es ist die Realität der Lebensund Konsumwelt von intravenös Drogenabhängigen. Drogenkonsum findet unter unhygienischen Bedingungen in öffentlichen Park- und Toilettenanlagen, in Hausfluren oder Telefonzellen statt und es fehlt in diesen Situationen an sterilen Spritzen und Kanülen, keimfreiem Wasser und einem Aufbereitungsplatz, der hygienische Minimalstandards bietet. Substanzen werden in unsterilen Behältnissen und mit Krankheitserregern (Viren, Bakterien, Pilzen) kontaminiertem Wasser aufgelöst, Injektionsutensilien nach dem Öffnen der sterilen Verpackung auf dem Boden (Wiese, Hausflur, Toilette) abgelegt. Aus
Schadensmindernde Aspekte – „Harm Reduction“
171
Tabelle 2. Ziele von Konsumräumen 1. Verhinderung von viralen Neuinfektionen wie etwa HIV, HAV, HBV, HCV 2. Vermeidung von weiteren Infektionserkrankungen und gesundheitlichen Folgeschäden wie Embolien, bakterielle Dermatosen, Endokarditiden oder Thrombosen 3. Vermeidung von akuten Intoxikationen und deren Folgewirkungen 4. Fördern und Verbreiten von Wissen und Handlungskompetenzen zu risikoarmen Konsummustern und zur Infektionsvermeidung (Safer-Use-Techniken) 5. Kontaktfelderweiterung über Kontaktaufbau zu Personen, die vom Drogenhilfssystem noch nicht erreicht worden sind
Furcht vor Entdeckung werden nicht einsehbare oder versperrbare Örtlichkeiten gewählt. Daraus ergeben sich eine Reihe von Risiken mit unter Umständen tödlichen Folgen. – Bakterielle (Phlegmone, Abszess, Endokarditis, Sepsis), virale (HIV, Hepatitis A, Hepatitis B, Hepatitis C) sowie mykotische Infektionen mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit der substanzabhängigen Personen – Tödliche Überdosierungen, da die Opfer im Falle einer Intoxikation unentdeckt bleiben und somit lebensrettende Sofortmaßnahmen oft zu spät kommen. Aus der Perspektive eines schadensminimierenden Ansatzes stellt es einen logischen, konsequenten nächsten Schritt dar, nach der Bereitstellung von sterilen Injektionsutensilien auch die hygienisch einwandfreie Benutzung zu ermöglichen und in Form eines Konsumraumes zur Verfügung zu stellen (Tabelle 2). Schlussfolgerung Harm Reduction als Gedanke und Methode hat in den letzten 10 Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen und stellt mittlerweile ein unverzichtbares Element
jeder verantwortungsbewussten Drogenpolitik dar. „Safer-use-Beratung“ gilt dabei als zentrales Element, das in jeder Langzeitbetreuung von Drogenkonsumenten einen fixen Platz einnehmen sollte. Schadensminimierung und Abstinenzorientierung sind gleichwertig nebeneinander stehende Zielalternativen. Sie sind nicht durch einander ersetzbar und haben beide ihre Berechtigung im Drogenhilfssystem.
Literatur 1. Gölz J (1999) (Hrsg) Der drogenabhängige Patient. Urban & Fischer, München 2. Haltmayer H, Schmid R (2000) Untersuchungen über den i.v. Konsum „harter“ Drogen durch Spritzentests. Abschlussbericht des Projektes Nr. 1572, gefördert vom medizinisch-wissenschaftlichen Fonds des Bürgermeisters der Stadt Wien 3. Heudtlass J-H, Stöver H (Hrsg) (2000) Risiko mindern beim Drogengebrauch. Fachhochschulverlag, Frankfurt am Main 4. Schneider W (2000) Elendsverwaltung und Sorgenfaltenpädagogik. Zur Entwicklungsgeschichte akzeptanzorientierter Drogenarbeit. Wiener Zeitschrift für Suchtforschung (1): 13–18 5. Uchtenhagen A, Ziegelgänsberger W (Hrsg) (2000) Suchtmedizin. Urban & Fischer, München
Aspekte der Apotheker Margita Einfalt, Hans Jakesz, Silvia Köhler-Barta und Max Wellan
Die österreichischen Apotheker sind zu Arzneimittelexperten ausgebildet und haben in dieser Position naturgemäß auch eine zentrale Rolle bei allen Fragen einer Substanzabhängigkeit.
Prävention von Arzneimittelmissbrauch Viele Menschen erwarten heute vom Arzneimittel nicht nur Heilung von Krankheiten sondern zunehmend auch eine Lösung von Problemen, mit denen sie nicht fertig werden. Das kann zwangsläufig zu Arzneimittelmissbrauch führen. Betroffen davon sind zunehmend Jugendliche. Oft werden schon im Kindesalter Mechanismen eingelernt, die später zu einer Arzneimittelabhängigkeit führen können. Es beginnt mit Missbrauch von Medikamenten und endet sehr häufig beim Konsum von illegalen Drogen. Daher müssen bereits Kinder und Jugendliche den richtigen und vernünftigen Umgang mit Arzneimitteln lernen. In den Apotheken ist seit Jahren zu bemerken, dass zunehmend Schülerinnen und Schüler zu Medikamenten greifen, offensichtlich weil sie glauben, so mit den Anforderungen der Schule leichter fertig zu werden. Von den Eltern lernen sie, dass man heute funktionieren muss, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden, und überfordern sich damit selbst. Der gelernte Ausweg: Arzneimittel. Dabei ist es gar nicht so relevant welche Art von Arzneimitteln eingenommen wird. Auch „harmlose“ pflanzliche oder homöopathische Arzneimittel können eine frühe Prä-
gung zu Arzneimittelmissbrauch auslösen. Angesichts der täglichen Erfahrungen haben die Apotheker die Notwendigkeit erkannt, sich intensiv mit dieser Problematik zu beschäftigen. Das erfordert einen hohen Beratungsaufwand. Da naturgemäß Schüler und Jugendliche die Apotheken nicht allzu häufig frequentieren, werden Initiativen einerseits in den Schulen gesetzt und andererseits Schulklassen im Rahmen des Unterrichtes in Apotheken eingeladen. Österreichweit wurde von der Österreichischen Apothekerkammer in Zusammenarbeit mit dem Unterrichtsministerium die Broschüre „Arzneimittel vernünftig anwenden“ herausgebracht. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist das Salzburger Projekt „Apotheker gegen Arzneimittelmissbrauch“. Dabei haben sich der Landeshauptmann von Salzburg Dr. Franz Schausberger gemeinsam mit den Salzburger Apothekerinnen und Apothekern mittels Plakaten und Broschüren direkt an die Jugendlichen gewandt. Im Rahmen dieser Initiative wurde auch der Schulapotheker installiert. Darüber hinaus gibt es in ganz Österreich Apotheker – so genannte Feature Teacher –, die zum Schulunterricht oder Projektarbeiten abgerufen werden können.
Erkennen von Abhängigkeiten Ein gar nicht so seltener Fall im Apothekenalltag: Eine Mutter bringt aufgeregt eine Tablette in die Apotheke mit den Worten: „Das habe ich bei meinem Kind gefunden. Ist das ein Rauschgift?“. Es besteht
174
heute die Möglichkeit in den Apotheken bei begründetem Verdacht „gefundene“ Tabletten testen zu lassen. Das geschieht einerseits mit einem Arzneimittelschnellerkennungsgang, mit einem Schnelltest auf Drogen im Apothekenlabor oder andererseits durch das Laboratorium der Österreichischen Apothekerkammer. So kann im Zweifelsfall abgeklärt werden, ob es sich um ein harmloses Medikament oder ein Suchtmittel handelt. Jedenfalls ist in solchen Situationen – speziell bei Eltern/ Kind Verhältnissen – äußerst behutsam vorzugehen und diverse Beratungsstellen bieten dann eine psychologische Unterstützung an. Außerdem können die Apotheker in Beratungsgesprächen Hilfestellungen liefern, weiterführende Einrichtungen vermitteln und dem Patienten helfen eine Abhängigkeitsgefährdung selbst zu erkennen.
Hygiene-Betreuung von Suchtkranken Es ist heute für viele Suchtkranke schon selbstverständlich geworden, Einmal-Spritzen und Einmal-Nadeln in den Apotheken abzuholen. Diese rasche und flächendeckende Versorgung der „Szene“ mit sterilem Injektionsbesteck durch die Apotheken hat z.B. in Wien wesentlich dazu beigetragen, schwere Begleiterkrankungen wie Hepatitis und AIDS einzudämmen. Mitunter gelingt es auch, Suchtkranke bei dieser Gelegenheit zu einem persönlichen und vertraulichen Beratungsgespräch zu animieren und seine Hilfe zu einem Entwöhnungsprogramm anzubieten. Wenn gleich auch die Erfolge dieses Bemühens nicht allzu häufig sind, lässt sich auf diese Weise doch der Grundstein zu einem Vertrauensverhältnis legen.
Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke Die österreichischen Apotheker haben immer schon die Substitutionsmittel als Arzneimittel gesehen sowie die Suchtkranken
M. Einfalt et al.
als Kunden/Patienten und daher beim Substitutionsprogramm von Anfang an aktiv mitgearbeitet. Die Hauptaufgabe der Apotheker im Rahmen der Therapie von Suchtkranken liegt in der Abgabe der Substitutionsmittel. Im Gegensatz zu Österreich ist in vielen anderen europäischen Ländern versucht worden, diesen Bereich aus den Apotheken fernzuhalten. Erst in letzter Zeit engagieren sich die Apotheker der meisten europäischen Länder auf diesem Gebiet.
Der Substitutionspatient in der Apotheke Grundsätzlich ist der Substitutionspatient ein Patient wie jeder andere auch. Dennoch erfordert seine Betreuung für die Apotheke, speziell im städtischen Problembereichen, einen wesentlich größeren organisatorischen Aufwand. Magistrale Zubereitung von Methadon-Lösungen u.ä., Handling angebrochener Packungen, Einhaltung exakter Termine etc. Die bürokratischen Regelungen sind oft mühsam, wenngleich sie klare Verhältnisse und Abgrenzungen garantieren. Der Umgang mit Substitutionspatienten ist nicht immer einfach. Es entstehen des Öfteren Spannungen durch die zum Teil tagtägliche Betreuung, andererseits sind die Phantasien der Drogensüchtigen grenzenlos, wenn es darum geht schneller oder zu anderen Zeiten u.ä. an das Medikament heranzukommen. Ein großes Maß an psychologischem Einfühlungsvermögen ist dabei der einzige Garant für ein friktionsfreies Apotheker-/Patient-Verhältnis. Wenn es allerdings nach einer gewissen Zeit gelungen ist, Vorurteile („Sheriff-Funktion“) des Patienten abzubauen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, wird der Apotheker zu einer wichtigen Ansprechperson des Süchtigen, was mitunter bis zur Alltagseelsorge reicht. Die Apotheker fühlen sich allerdings mit ihren Problemen oft allein gelassen. Zwar gibt es Fortbildungsveranstaltungen seitens der Apothekerkammer, aber eine ver-
Aspekte der Apotheker
besserte Kommunikation mit Ärzten und Amtsärzten in einem Betreuungsnetzwerk, würde die Qualität der Betreuung verbessern. Schulungen über den Umgang mit Substitutionspatienten wären ebenfalls sehr wichtig.
Praxis der Substitutionstherapie in der Apotheke Die kontinuierlich steigende Zahl der Patienten, die in Substitutionstherapie stehen, stellt auch erhöhte Anforderungen an die Apotheken. Damit sie diese so gut wie möglich im Sinne des Therapiekonzeptes erfüllen können, muss das Expertendreieck Arzt – Amtsarzt – Apotheker bestmöglich harmonisiert werden. In der Folge sollen wichtigste Problemfelder der verschieden Ebenen der Substitutionstherapie aus der Sicht des Apothekers dargestellt werden und mögliche Lösungsmöglichkeiten gesucht werden.
175
Die Verschreibung ist in diesen Fällen durch den Vermerk „Notfall“ zu kennzeichnen. Die Verordnung des Suchtgiftes ist vom verschreibenden Arzt oder Tierarzt, die Abgabe des Suchtgiftes von der Apotheke zu dokumentieren. Die Dokumentation hat in geeigneter Form zu erfolgen (empfohlen ist eine Kopie des Rezeptes). Die Dokumentation ist drei Jahre, nach dem Ausstellungsdatum des Rezeptes geordnet, aufzubewahren.
GKK BtrKK A
B
GW Mitglieds-Nr. VAEB
1 Erwerbstätig Arbeitslos Selbstversichert
BVA (öff. Bed.) . . gew. Wirtsch.
5
7 Kriegshinterbliebene(r)
Pensionist(in)
Bauern
Aussteller/in – bitte zutreffendes Feld ankreuzen!
Familienname(n) Patient/in
Vorname(n)
Musterpatient
Max
Versicherungsnummer
1234 01 01 50
Anschrift
In diesem Abschnitt werden kurz die • Suchtgifteinzelverschreibung • Suchtgiftdauerverschreibung • häufige Fehler oder Fehlerquellen und • Lösungsansätze/-vorschläge behandelt. Suchtgift-Einzelverschreibung (§ 18 SV) Für die zur einmaligen Abgabe, grundsätzlich für die Schmerztherapie bestimmten Verschreibungen ist – wenn auf Kosten eines sozialen Krankenversicherungsträgers verrechnet wird – ein Rezeptformular der sozialen Krankenversicherung zu verwenden. Andere sowie Tierärzte haben die Verschreibung auf einem Privatrezept vorzunehmen. In jedem Fall hat der Arzt durch Aufkleben der roten Suchtgiftvignette für die Suchtgift-Einzelverschreibung auf der Vorderseite des Rezeptes dieses als Suchtgift-Einzelverschreibung zu kennzeichnen. „Nur im Notfall ist die Verschreibung von Suchtgift ausnahmsweise auch ohne Aufkleben der Suchtgiftvignette zulässig.
1100 Wien, Apothekerplatz 1 Versicherte/r (nur auszufüllen, wenn Patient ein Angehöriger ist)
Beschäftigt bei (Dienstgeber/in, Dienstort) Taxe
Gültig: 14 Tage ab Verordnung Datum: Rp.
HYDAL RET KPS 16MG OP 1 à 30 ST
IND sechzehn mg OP eins à dreissig Stück lt. Rücksprache 2 x 1 002792 Rezeptgebühr
Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Stempel der Apotheke/Hausapotheke 12/10. 11. 1. 2005
Formale Probleme
Abb. 1
Dr. Daniel Muster
Stempel und Unterschrift der Ärztin/des Arztes Arztstempel bei Rezeptgebührenbefreiung
Stempel
Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
176
M. Einfalt et al.
GKK BtrKK A
B
GW Mitglieds-Nr. VAEB
1 Erwerbstätig Arbeitslos Selbstversichert
BVA (öff. Bed.) . . gew. Wirtsch.
5
GKK BtrKK A
7 Kriegshinterbliebene(r)
Pensionist(in)
Mitglieds-Nr.
VAEB
1 Erwerbstätig Arbeitslos Selbstversichert
BVA (öff. Bed.) . . gew. Wirtsch.
Bauern
B
GW
Vorname(n)
Musterpatient
Versicherungsnummer
1234 01 01 50
Max
Anschrift
7 Kriegshinterbliebene(r)
Bauern
Aussteller/in – bitte zutreffendes Feld ankreuzen!
Familienname(n) Patient/in
5 Pensionist(in)
Aussteller/in – bitte zutreffendes Feld ankreuzen!
Familienname(n) Patient/in
Vorname(n)
Musterpatient
Versicherungsnummer
1234 01 01 50
Max
Anschrift
1100 Wien, Apothekerplatz 1 Versicherte/r
1100 Wien, Apothekerplatz 1 Versicherte/r
(nur auszufüllen, wenn Patient ein Angehöriger ist)
Beschäftigt bei (Dienstgeber/in, Dienstort)
Beschäftigt bei (Dienstgeber/in, Dienstort) Taxe
Gültig: 14 Tage ab Verordnung Datum: Rp.
Taxe
Gültig: 14 Tage ab Verordnung Datum: Rp.
TRANSTEC TRANSD.PFL 35MCG OP 2 á 5 ST Sig. = ½-0-0-0, S. alle 3 Tage Plasterwechsel, zur Schmerztherapie DIAGN.=IND
DURGOGESIC DEP PFL 25MCG/H OP 1 á 5 ST, funfundzwanzig mcg/h, OP eins, á fünf Stück 72 Std Plasterwechsel DIAGN.=IND
002791
Rezeptgebühr
002798
zwei OP á fünf Stück fünfunddreißig mcg
Rezeptgebühr
Dr. Daniel Muster
Dr. Daniel Muster
Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Dr. Daniel Muster
Stempel und Unterschrift der Ärztin/des Arztes Arztstempel bei Rezeptgebührenbefreiung
Stempel
Stempel der Apotheke/Hausapotheke 12/10. 11. 1. 2005
12/10. 11. 1. 2005
Stempel der Apotheke/Hausapotheke
Dr. Daniel Muster Stempel und Unterschrift der Ärztin/des Arztes Arztstempel bei Rezeptgebührenbefreiung
Stempel
Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Abb. 2
Abb. 3
Für Verschreibungen im Rahmen der Substitutionsbehandlung dürfen Einzelverschreibungen nur in schriftlich zu begründenden Ausnahmefällen für längstens drei Tage verwendet werden.
therapie mit einer oder zwei Kleinpackungen das Auslangen zu finden wäre. • Es wird keine Packungsgröße angegeben
Fehlerquellen • Es treffen Rezepte ohne schriftliche Begründung in der Apotheke ein (Beispiele für Begründungen: „Einstellungsphase“, „Zur Überbrückung“) • Es werden zu große Packungsgrößen verordnet, obwohl für die Dreitages-
Suchtgiftdauerverschreibung (§ 21 SV) Für Suchtkranke, die im Rahmen der Substitutionsbehandlung SG-hältige Arzneimittel benötigen, hat die Verschreibung auf dem Formblatt für die Substitutionsverschreibung zu erfolgen, das durch Markierung der Rubrik „Substitutions-Dauerverschreibung“ sowie durch das Aufkleben
Aspekte der Apotheker
Abb. 4
der lila-blauen Suchtgiftvignette für die Suchtgift-Dauerverschreibung auf der Vorderseite des Formblattes zu kennzeichnen ist. Der Arzt hat den Beginn der Geltungsdauer, für den ein vor Ablauf des nächstfolgenden Monats liegender Tag vorzusehen ist, auf der Substitutions-Dauerverschreibung zu vermerken (also z.B. Ausstellungsdatum 2. 4. 2006, gültig vom 30. 5. 2006 bis 29. 6. 2006). (Das Suchtmittelmerkblatt und eine genaue Arbeitstabelle sind erhältlich bei: Österreichische Apotheker-VerlagsgesellschaftmbH, Spitalgasse 31, 1094 Wien, Tel. 01/402 35 88.) Generelle Verschreibungsvorschriften von SG-hältigen Arzneimitteln Allgemeine Formvorschriften: SG-hältige Arzneimittel dürfen grundsätzlich nur auf den Formblättern für die
177
Substitutionsverschreibung verordnet werden. Die folgenden Angaben sind auf das Rezeptformular aufzubringen: • Vor- und Zuname des Patienten • Geburtsdatum und Anschrift des Patienten • Ausstellungsdatum • Das verordnete SG-hältige Arzneimittel a) Bei magistralen Zubereitungen, die genaue Rezeptur, die Bezeichnung und Menge der Bestandteile, die Darreichungsform; pro anzufertigender Arznei ist nur ein von der SV erfasster Stoff zulässig, dessen Menge ziffernmäßig und wörtlich in eindeutiger Form anzugeben ist. b) Bei Arzneispezialitäten ist deren Handelsbezeichnung, die Packungsgröße und die Anzahl der verschriebenen Packungen auch wörtlich anzugeben. • Genaue Gebrauchsanweisung • Eigenhändige Unterschrift (Vor- und Zuname), Stempel des ausstellenden Arztes • „praescriptio indicata“ nur mehr für Verschreibungen durch Tierärzte notwendig • Kennzeichnung „Zur Substitutionsbehandlung“ („Zur Schmerzbehandlung“ nicht mehr notwendig) • Nur die Unterschrift des Arztes ist handschriftlich zu fertigen. Alle anderen Angaben können entweder per Hand oder Schreibmaschine oder automationsunterstützt (Computer) verfasst werden. Häufige Fehler • Die Suchtmitteldauerrezepte müssen nach dem Ausstellen dem jeweiligen Amtsarzt des zuständigen Bezirksgesundheitsamtes zur Vidierung vorgelegt werden. Sie sollten dabei auch auf ihre formal richtige Ausstellung überprüft werden. • Die maximale Ausstellungsdauer beträgt 31 Tage, für retardierte Morphinprodukte empfiehlt sich die Ausstellung für 30 Tage, zumal sich die Abgabe der
178
M. Einfalt et al.
GKK BtrKK A
B
Zur Vorlage in der Apotheke
Zutreffendes Feld markieren: SubstitutionsEINZELverschreibung
VAEB
BVA (öff. Bed.) . . gew. Wirtsch.
SUBSTITUTIONSVERSCHREIBUNG
Mitglieds-Nr.
SubstitutionsDAUERverschreibung
dem Amtsarzt ➛vorzulegen
1 Erwerbstätig Arbeitslos Selbstversichert
Gültig nach Vidierung durch den Amtsarzt für einen Monat 3
Arbeitslos
5 Pensionist(in)
7 Kriegshinterbliebene(r)
(Siehe Rückseite, Hinweise Punkt A.3.) von
24 10 05
bis
insgesamt
20 11 05 Tag
Monat
28
Jahr
mal
entsprcht insgesamt
14
OP/Monat
Bauern Validierung durch den Amtsazt
Aussteller/in – bitte zutreffendes Feld ankreuzen!
Familienname(n) Patient/in
Musterpatient
Vorname(n)
Max
Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Versicherungsnummer
1234 01 01 78 Stempel
Dr. Daniel Muster
gebührenfrei lt- Nauchweis
Anschrift
1100 Wien, Apothekerplatz 1 Datum und Unterschrift
Arztstempel bei Rezeptgebührenfreiheit Tag Mon.
Versicherte/r (nur auszufüllen, wenn Patient ein Angehöriger ist) Tag
Monat
Abgabebestätigung (Signum)
14.
Jahr
15.
Stempel Beschäftigt bei (Dienstgeber/in, Dienstort)
16. Ausstellungsdatum
17.
20 10 05 Stempel der Apotheke
zur Substitutionstherapie Subutex Sublingualtabletten 8 mg (acht Milligramm) III OP (drei) á XXVIII (zwanzigacht) S.: 24 mg Buprenorphin Tägliche Dosierung und Abgabemodus
Taxnummer
Rezept-Nr.
pro Tag. in toto ab amtsärztlicher Vidierung auszuhändigen (Verpflichtung in Serbien)
Anzahl d. Rp.-Geb.
Tag Mon.
Abgabebestätigung (Signum)
18.
1.
19.
2.
20.
3. 4.
3 x 28 exp.
21. 22.
5.
23.
6.
24.
7.
25.
8.
26.
9.
27.
10.
28.
11.
29.
12.
30.
13.
31.
Hinweis siehe Rückseite!
Abb. 5
Tabletten mit den Packungen der Arzneimittel ausgehen muss. • Die genaue Berechnung der Verschreibungsdauer (einige Monate haben 30 und einige 31 Tage). Dies ist deshalb von praktischer Bedeutung, da sich auf Grund der Packungsgröße von beispielsweise retardierten Morphinen nur eine dreißigtägige Verordnung sinnvoll erscheint, um nicht in den Folgemonaten in eine totale Unübersichtlichkeit zu kommen.
• Oft wird auch vergessen, die tägliche Dosierung anzugeben. • Manchmal fehlt der Stempel des verschreibenden Arztes oder dessen Unterschrift (Vor- und Zuname). • Rezepte werden nicht fortlaufend ausgestellt. Fehlende Tage oder auch Überschneidungen kommen in der Praxis gelegentlich vor. IND-Vermerk, Ausstellungsdatum und Unterschrift können und dürfen von den
Aspekte der Apotheker
GKK BtrKK A
B
179
Zur Vorlage in der Apotheke
Zutreffendes Feld markieren: SubstitutionsEINZELverschreibung
VAEB
dem Amtsarzt ➛vorzulegen
1 Erwerbstätig Arbeitslos Selbstversichert
BVA (öff. Bed.) . . gew. Wirtsch.
SUBSTITUTIONSVERSCHREIBUNG
Mitglieds-Nr.
SubstitutionsDAUERverschreibung
Gültig nach Vidierung durch den Amtsarzt für einen Monat 3
Arbeitslos
5 Pensionist(in)
7 Kriegshinterbliebene(r)
(Siehe Rückseite, Hinweise Punkt A.3.) von
15 10 05
bis
insgesamt
03 11 05 Tag
Monat
Jahr
30
entsprcht insgesamt
mal
3
OP/Monat
Bauern
MA 12
Validierung durch den Amtsazt
Aussteller/in – bitte zutreffendes Feld ankreuzen!
Familienname(n) Patient/in
Vorname(n)
Musterpatient
Max
Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Versicherungsnummer
1234 01 01 78 Stempel
Dr. Daniel Muster Dr. Daniel Muster Musterstr. 68/7-8 1100 Wien
Anschrift
1100 Wien, Apothekerplatz 1 Datum und Unterschrift
Arztstempel bei Rezeptgebührenfreiheit Tag Mon.
Versicherte/r (nur auszufüllen, wenn Patient ein Angehöriger ist) Tag
Monat
Abgabebestätigung (Signum)
14.
Jahr
15.
Stempel Beschäftigt bei (Dienstgeber/in, Dienstort)
16. Ausstellungsdatum
17.
13 10 05
Substitol ret. Kpsl. 200 (zweihundert) mg OPI III (drei) 30 (dreißig) Stück Bezirksgesundheitsamt-OE 10 Wien
Zur Substitution
Tägliche Dosierung und Abgabemodus
Stempel der Apotheke Tag Mon.
Abgabebestätigung (Signum)
18.
1.
19.
2.
20.
3.
21.
4.
22.
5.
23.
6.
24.
7.
25.
8.
26.
9.
27.
10.
28.
11.
29.
12.
30.
13.
31.
S.: tgl. 600 (sechshundert) mg Substitol oral
Taxnummer
tgl. in der Apotheke einnehmen Rezept-Nr.
Anzahl d. Rp.-Geb.
Hinweis siehe Rückseite!
Abb. 6
Apothekern nicht ergänzt oder hinzugefügt werden. Der Stempel sollte natürlich vorhanden sein. Lösungsansätze • Rezeptur auflegen: Musterrezepte sollten in keiner Suchtgift-verschreibenden Arztpraxis fehlen. • Bei Unklarheiten bei der Rezeptverschreibung sollte der Arzt den Apotheker als kollegialen Ansprechpartner zu Rate ziehen.
Somit kann der Arzt formalen Problemen im Vorhinein schon aus dem Wege gehen. • Prinzipiell wünschenswert wäre der Aufbau eines komplexen Netzwerkes zwischen Arzt und Apotheker. Somit könnte die Qualität der Betreuung verbessert und die Kontrolle engmaschiger werden.
180
M. Einfalt et al.
Verhältnis Apotheker – Patient Der Umgang mit Substitutionspatienten ist schwierig, besonders für Frauen (ca. 70% der Apotheker sind Frauen). Es entstehen des Öfteren Spannungen, die zumeist aus der Verweigerung eines Wunsches resultieren. Grundsätzlich muss der Substitutionspatient das Gefühl haben, in der Apotheke akzeptiert zu werden und auch tatsächlich als Patient angesehen zu werden. Naturgemäß muss er sich an die vorgeschriebenen Regeln halten, um einen reibungslosen Ablauf in der Apotheke nicht zu behindern. So sollte jeder Suchtpatient bei der Aufnahme in der Apotheke ein Merkblatt für die Substitutionstherapie ausgehändigt bekommen und dieses sollte mit ihm besprochen werden. In diesem wird Folgendes festgelegt: • Datum und Abgabenmodalitäten der Dauerverschreibung müssen genau eingehalten werden. Ausnahmen gibt es generell nur mit ärztlicher Bestätigung des verschreibenden Arztes und Vidierung des Amtsarztes. • Vidierte Dauerverschreibungen müssen so rechtzeitig gebracht werden, dass der
Apotheker in der Lage ist, das Arzneimittel herzurichten. • Der Apothekerbetrieb darf nicht gestört werden. • Der Bezug der Substitutionsmittel muss innerhalb der Öffnungszeiten der Apotheke erfolgen. Außerhalb der Dienstzeiten dürfen weder Rezepte angenommen noch Substitutionsmittel abgegeben werden. Dieses Merkblatt könnte man im weitesten Sinne mit einem Substitutionsvertrag zwischen dem niedergelassenen Arzt und dem Substitutionspatienten vergleichen. Die Aufgabe des Apothekers bei der Substitutionstherapie sollte nicht nur in der genauen Herstellung der Methadondosen oder das Vorbereiten der Tabletten und natürlich die Einhaltung der vorgeschriebenen Abgabenmodalitäten bestehen, sondern man sollte für die Patienten auch eine Anlaufstelle zur Problemlösung sein. Berthold meinte einmal: „Jeder, der mit Süchtigen zu tun hat, hat das Helfersyndrom und ist dadurch erpressbar.“ Er hat im Prinzip mit dieser Aussage Recht. Allerdings kann der Apotheker dieses Risiko deutlich einschränken, wenn es von Anfang an klare Spielregeln gibt und dem
MERKBLATT FÜR DIE SUBSTITUTIONSTHERAPIE Sie sind auf Grund Ihrer Drogenabhängigkeit ins Substitutionsprogramm aufgenommen worden. Wir möchten Sie bei der Therapie und beim Entzug gerne unterstützen. Aus organisatorischen Gründen müssen wir aber auf die Einhaltung folgender Punke bestehen: Datum und Abgabemodalitäten der Dauerverschreibung müssen genau eingehalten werden. Ausnahmen gibt es generell nur mit amtsärztlicher Bestätigung. (Zuvor verschreibenden Arzt um Änderung ersuchen.) Bringen Sie bitte neue, vom Amtsarzt bereits bestätigte Dauerverschreibungen rechtzeitig, damit wir sie vorbereiten können. Wir bitten Sie, den Betriebsablauf, die wartenden Kunden oder das Apothekenpersonal nicht zu stören. Die Apotheke öffnet und schließt pünktlich. Richten Sie Ihren Bezug der Substitutionsmittel daher so ein, dass er innerhalb der Öffnungszeiten erfolgen kann. Außerhalb der Dienst-Zeiten dürfen weder Rezepte angenommen noch Substitutionsmittel abgegeben werden. Öffnungszeiten: Mo bis Fr 8:00–18:00 Uhr durchgehend Sa 8:00–12:00 Uhr
Aspekte der Apotheker
Suchtkranken bewusst ist, dass der Apotheker keinen Millimeter von den gesetzlichen Rahmenbedingungen abweicht. Direkte Probleme • Die nicht-korrekte Einnahme der vorgeschriebenen Dosis. (Versuche, den Apotheker abzulenken – den Phantasien sind keine Grenzen gesetzt). In solchen Fällen versucht man mit dem Patienten ein klärendes Gespräch zu führen. Sollte dies nicht zum Erfolg führen, so müssen verschreibender Arzt und Amtsarzt informiert werden. • Extrawünsche, die manche Patienten an den Tag legen. Es kommen dann fadenscheinige Ausreden, um früher an die Medikamente zu gelangen. In solchen Fällen versucht man auch zuerst mit einem Gespräch die Situation zu klären. Teilweise kommt es natürlich zu einem Machtkampf, wer die besseren Argumente hat. Solche Patienten lieben dieses Kräftemessen, sie sind wie Kinder, die ihre Grenzen ausloten wollen. Kann man dem Patienten nicht mit vernünftigen Argumenten beikommen, so verständigt man den verschreibenden Arzt und Amtsarzt vor dem Patienten. Zumeist lösen sich die Probleme zu diesem Zeitpunkt. • Schwierig wird die Situation für den Apotheker auch, wenn ein Substitutionspatient nach Spritzen und Nadeln verlangt. Wie soll er sich verhalten? Darf er abgeben oder nicht, wenn der verschreibende Arzt nicht erreichbar ist? Besteht ein Intensiv-Kontakt zwischen Arzt und Apotheker, sind diese Probleme aus dem Weg geräumt. • Ein noch schwerwiegenderes Problem stellen gefälschte Rezepte dar. Diese werden größtenteils nicht in der Stammapotheke eingelöst, da die Angst zu groß ist, dabei erwischt und aus dem Substitutions-Programm entlassen zu werden. Es werden daher andere Apotheken aufgesucht, die teilweise sogar in anderen Bezirken liegen.
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Der Versuch der Einlösung erfolgt dann zumeist • zu Stoßzeiten in der Apotheke, in der Hoffnung, der Apotheker übersieht etwas oder merkt es nicht. • wenn der verschreibende Arzt keine Ordination mehr hat, wo der Apotheker eventuell Rücksprache halten könnte. • im Rahmen der Nachtdienste Lösungsansatz • Empfehlenswert wäre die Verwendung einheitlicher Privatrezeptformulare mit Wasserzeichen, oder entwertete Kassenrezepte. • Bei Verschreibungen von Zusatzmedikamenten gegen Nebenwirkungen sollte der Arzt den Apotheker darüber informieren. Man sollte auch dafür sorgen, dass der Patient all seine Rezepte in seiner „Stammapotheke“ einlöst. Dadurch wird die Kontrolle engmaschiger und Veränderungen und Unregelmäßigkeiten werden vom Apotheker schneller erkannt. Indirekte Probleme • Manchmal ist eine vorzeitige Mitgabe des Substitutionsmittels erforderlich auf Grund von Amtswegen, wie Ladungen oder aus beruflichen Gründen. Zumeist verabsäumen die Patienten, sich rechtzeitig um eine Änderung der verordneten Abholzeit zu kümmern. Es kann aber auch sein, dass ein Ereignis wirklich so kurzzeitig eintritt, dass zumeist die Zeit für vorgeschriebenes, korrektes Vorgehen fehlt. Dann muss von Seiten der Apotheke telefoniert, fotokopiert und gefaxt werden, was natürlich einen erheblichen Zeitaufwand bedeutet. • Urlaub von Arzt oder Patient Manchmal kommt es vor, dass der Patient vergisst, dass sein betreuender Arzt auf Urlaub ist, oder aber der Arzt vergaß seinen Patienten von seiner Abwesenheit zu informieren. Um seine neue Dauerverschreibung zu erhalten,
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muss der Patient dann zur Urlaubsvertretung, wobei mitunter keine genaue Vertretung angegeben ist. Wenn die Vertretung in Bezug auf Substitutionspatienten unterrichtet wurde, stellt dies kein Problem dar. Kritischer wird die Situation erst dann, wenn der vertretende Arzt nicht informiert wurde. Der Patient steht dann in der Apotheke und ist verzweifelt, von wo er seine neue Dauerverschreibung erhalten soll, da sich die Urlaubsvertretung weigert, ihm eine auszustellen. Oft kann dann der Apotheker durch „Konferenzschaltung“ mit Amtsarzt und vertretendem Arzt erreichen, dass es doch zu einer Übernahme des Substitutionspatienten kommt. Lösungsvorschläge • Genaue Aufklärung des Patienten durch den verschreibenden Arzt, wie es zu einer Änderung des Abgabenmodus oder der Dosierung kommen kann. Der Weg ist der gleiche wie bei einer Neuausstellung eines Rezeptes: zuerst Arzt, dann Amtsarzt, dann Apotheker. Der Patient sollte vom Arzt auch informiert werden, was getan werden muss, wenn der Patient ins Ausland verreisen möchte. • Auch der Abgabemodus sollte von Zeit zu Zeit mit dem Patienten besprochen und überprüft werden, ob er noch zeitgemäß ist.
Verhältnis Apotheker – Arzt Einige Probleme werden schon bei dem bisher Dargestellten erwähnt. Es gibt aber darüber hinaus einige Spezifika in der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker. Die Spannungsfelder, die im Rahmen der Substitutionstherapie zwischen Arzt und Apotheker entstehen, rühren zumeist von äußeren Einflüssen wie Zeitmangel, Hektik und vom Fehlverhalten einzelner Personen der Betreuungskette her. So z.B. fühlen sich die Apotheker in manchen Situationen mit ihren Problemen
M. Einfalt et al.
in der Substitutionstherapie von den Ärzten allein gelassen. • Einer der Hauptgründe dafür ist sicher der Zeitmangel. Es ist verständlich, dass ein Arzt, der sein Wartezimmer voll hat, sich nicht stundenlang mit seinen Substitutionspatienten beschäftigen kann. So kommt es zur Abwälzung mancher Probleme auf den Apotheker, so z.B. die eingangs besprochenen unvollständigen Verschreibungen. Oder es werden kurzfristige Entscheidungen den Apothekern überlassen, die teilweise in einen Balanceakt ausarten. • Oft ist es schwierig in kurzer Zeit den Arzt zu erreichen. Inwieweit hat der Apotheker dann Entscheidungsfreiheit? Lösungsansätze • Rücksprachebereitschaft erhöhen in unklaren Situationen von beiden Seiten. (Monatsberichte von Apotheker an Arzt und umgekehrt, Neuerungen gibt Arzt Apotheker bekannt usw.) Es muss ein gutes Zusammenspiel zwischen Arzt, Amtsarzt und Apotheker herrschen, um sich von den Patienten nicht gegenseitig ausspielen zu lassen. Oft erfährt der Apotheker zu wenig über die Hintergründe der Therapie der individuellen Patienten. Es müsste auch ausreichender Aufklärung bezüglich der Wirkungen, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen geben, seitens der Ärzte und Apotheker gegenüber den Patienten. In der Substitutionstherapie fehlt oft die Patientenschulung, vor allem für die Apotheker, die in anderen Bereichen oft üblich sind. • Arbeitserleichterung für den Arzt seitens der Apotheke: so z.B. faxt man frühere Mitgabe vom verschreibenden Arzt an den Amtsarzt, wenn Patient nicht rechtzeitig zum Amtsarzt konnte. Nachfolgender Zettel für die frühere Mitgabe einer Substitutionsdosis sollte in der Arztpraxis nicht fehlen. Dieser
Aspekte der Apotheker
würde auch eine Arbeitserleichterung für manche Ärzte bringen, da diese dann nicht ganze Romane schreiben müssten, die sehr zeitaufwändig sind. • Monatlicher Informationsaustausch Arzt – Amtsarzt – Apotheker.
Zusammenfassung Es kann Zweifel bestehen, dass die Apotheker eine wichtige Aufgabe in der Betreuung von Suchtkranken haben und oftmals der direkteste Ansprechpartner des Patienten sind. Um diese Dienstleistung aber effizienter zu machen, sollte es zwingend zu einem professionellen Gedankenaustausch zwischen Arzt, Amtsarzt, Apotheker und Exekutive kommen. Nur so ist
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es möglich, gemeinsam erfolgreicher den Sicherheitsanforderungen nachzukommen und eine effizientere Therapie durchzuführen. Das Erlass- und gesetzeskonforme Handeln im Sinne des Patienten ist Voraussetzung, jedoch kann manchmal eine „gemeinsame Gratwanderung“, wenn es notwendig und richtig ist, in der Auslegung der Vorschriften nicht verhindert werden. Daher sollte man den Apotheker für den Notfall mit einer gewissen Entscheidungsbefugnis ausstatten. Im Mittelpunkt muss letztlich der Patient stehen. Die Zielsetzung allen Bestrebens sollte sein, dass für jeden einzelnen Patienten therapeutisch sinnvolle Ziele definiert werden, die überprüft werden bzw. in der Folge auch verändert werden müssen.
Substitutionstherapie Wolfgang Werner Im Kontext der Behandlung von Drogenabhängigkeit versteht man unter Substitutionstherapie die legalisierte (also geregelte und kontrollierte) ärztliche Verordnung von Opioiden an Opioidabhängige. Ein solches Behandlungskonzept wurde erstmals in Kanada Ende der 50er-Jahre von Halliday (1) und später auch in den USA 1965 von Nyswander und Dole (2) unter Verwendung von Methadon als verordneter Substanz publiziert und praktisch durchgeführt. In Österreich wurde der legale Rahmen 1987 durch das 1998 novellierte Suchtmittelgesetz geschaffen. Behandlungskonzepte für Substanzabhängige, die eine Verordnung gerade jener Substanzen beinhalten, von denen die Betroffenen abhängig sind, wurden anfangs von vielen, auch von Fachleuten, abgelehnt. Neben ideologischen Gründen für diese Ablehnung („Abstinenz-Dogma“) gab es auch eine Reihe von sachlicheren Bedenken. Zumindest zwei dieser Sorgen sind auch heute ernst zu nehmen: • Die „billige“ Substitutionsbehandlung könnte aufwändigere, ursachenorientierte Behandlungsansätze (z.B. stationäre Langzeittherapien, langfristige Behandlungen mit psychotherapeutischen Zielsetzungen) „vom Markt“ verdrängen. Gerade in Zeiten zunehmenden Kostendrucks, auch in unserem Gesundheitswesen, ist diese Sorge wohl nicht von der Hand zu weisen. Die Erfahrung, zumindest der letzten Jahrzehnte, zeigt jedoch, dass dies nicht notwendigerweise so sein muss: Trotz Einführung der
Substitutionsbehandlung wurde das Angebot an stationären und abstinenzorientierten Behandlungseinrichtungen ausgebaut und wird auch zur Gänze in Anspruch genommen (s.u. „Einige Zahlen ...“). Heute stellen die verschiedenen Behandlungsansätze einander ergänzende Angebote dar, die alle benötigt werden: weil unsere Patienten in ihrer Geschichte, ihrer Persönlichkeit, ihren Fähigkeiten und ihren Störungen sehr unterschiedlich sind und daher auch nicht alle gleich behandelt werden können, aber auch weil die einzelnen Patienten in den verschiedenen Phasen ihrer Erkrankung jeweils verschiedene Angebote brauchen. Es handelt sich also nicht um konkurrierende Behandlungstechniken für ein und dieselbe „Krankheit“, sondern eben um einander ergänzende Techniken für verschiedene Personen, Situationen und Probleme. Es ist eine Sache des politischen Willens ob die ganze Palette möglicher Angebote zur Verfügung steht, oder nur einzelne Behandlungsmöglichkeiten für nur einen Teil der Abhängigen. • Die Risken der Substitutionsbehandlung könnten den möglichen Nutzen übertreffen. Wie jede Behandlungstechnik hat auch die Substitutionsbehandlung ihre Risken. Eine Fülle wissenschaftlicher Forschungsarbeiten aus den letzten Jahrzehnten (die jedenfalls zur methadongestützten Substitutionsbehandlung vorliegen, z.B. 3, 4, 5) zeigt jedoch, dass die Substitutionsbehandlung – bei an-
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gemessener Qualität der Durchführung – eine sichere Behandlungsform der Opioidabhängigkeit ist: Eine größere Zahl der Abhängigen kann für eine Behandlung gewonnen und für längere Zeiträume in einem Behandlungssetting gehalten werden, der Konsum illegalisierter Drogen kann reduziert, die HIVInfektionsgefahr gesenkt, erhebliche Erfolge bezüglich der Verbesserung des körperlichen und psychischen Gesundheitszustandes können erzielt werden und die Lebensqualität der Patienten (und ihrer Angehörigen) kann deutlich verbessert werden. Auch eine Abnahme der Delinquenz ist eindeutig nachweisbar. Diese Aufzählung der Erfolge von Substitutionsbehandlungen, mit wissenschaftlichen Methoden und weltweit in vielen Ländern nachgewiesen, macht zweierlei deutlich: • Es ist eine unzulässige Vereinfachung, den Erfolg einer Behandlung Abhängiger ausschließlich am Substanzkonsum zu messen: Mortalität zu senken, Lebensqualität und Gesundheitszustand zu verbessern und soziale Integration zu fördern sind primäre Behandlungsziele – Erfolge diesbezüglich sind nicht nur aus ärztlicher Sicht erwünscht, sondern auch aus sozialpolitischer und nicht zuletzt aus humanistischer Sicht. • Klar ist aber auch, dass die Verschreibung eines Substitutionsmittels allein an der Abhängigkeit selbst zunächst einmal nichts ändert. Die Substitutionstherapie kann aber stabilisierende, vorbereitende oder unterstützende Funktion für eine andere, ursachengerichtete Behandlung haben, die sich eine Überwindung der Abhängigkeit selbst zum Ziel gesetzt hat. Der Erfolg jeder Behandlung muss an den Zielen, die damit verfolgt werden, gemessen werden. Diese müssen realistisch und angemessen gewählt werden. Klarheit über die jeweils aktuelle Zielsetzung – auch wenn sich diese im Lauf der Jahre wiederholt ändern kann – und kontinuier-
W. Werner
licher Gedankenaustausch darüber mit den Patienten, ist daher von großer Bedeutung in der praktischen Durchführung jeder Drogenbehandlung (s.u. „Einige grundsätzliche Überlegungen ...“ und „Zur praktischen Durchführung ...“).
Einige Zahlen zum problematischen Opioidgebrauch1 in Österreich Zahlen zur Prävalenz (Anteil der Bevölkerung, der zu einem bestimmten Zeitpunkt Opioide problematisch konsumiert) können natürlich nur als Schätzungen angegeben werden. In diese Schätzungen fließen aber Zahlen aus unterschiedlichsten Bereichen ein (epidemiologische Studien, Anzahl von Rettungseinsätzen, Anzahl stationärer Aufnahmen oder ambulanter Kontakte unter entsprechenden Diagnosen oder auch Zahlen aus dem Polizei- und Justizbereich, etc.) und sie lassen v.a. Trends und Entwicklungen wohl recht zuverlässig erkennen. In einer jüngeren Studie halten Uhl und Seidler (6) eine aktuelle Prävalenz von ca. 20.000 problematischen Opioidkonsumenten in Österreich für plausibel, wobei keine Zahl zwischen 9000 und 36.000 ausgeschlossen werden könne. Diese Prävalenz für Opioidkonsumenten scheint sich in Österreich in den letzten Jahren stabilisiert zu haben, die Tendenz wird derzeit insgesamt als eher abnehmend eingeschätzt. Die Zahl2 der Substitutionspatienten ist hoch wie nie; die Tendenz ist weiter steigend. In Wien stehen wesentlich mehr Substanzabhängige in Substitutionsbehandlung als in allen anderen Bundesländern zusammen. In Wien erhalten derzeit (Mai 2005) etwa 27% der 5551 Substituierten 1 Der Begriff umfasst hier „Abhängige“ (nach ICD-10) und „problematische Konsumenten“, die Drogen gebrauchen um inneren Problemen oder Konflikten zu begegnen 2 Zahlen in Graphik und Text aus Daten des „Fonds soziales Wien“
Substitutionstherapie
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der letzten 12 Monate in einer psychiatrischen Behandlung befunden hatte. Die Mortalität unter Menschen mit „problematischem Drogenkonsum“ ist nach verschiedenen Studien durchwegs bis zu über 20-mal höher (8, 9) als in gleichaltrigen Gruppen der Allgemeinbevölkerung. Die Ursachen dafür sind neben Infektionskrankheiten v.a. Überdosierungen, Suizide und Unfälle.
Abbildung 1
Einige grundsätzliche Überlegungen zur Behandlung Drogenabhängiger
Methadon, 56% orale Morphine, 16% Buprenorphin und ca. 1% andere Substanzen. Trotz dieser Zunahme der Substitutionsbehandlungen wurden die Angebote für stationäre Entzugsbehandlungen und stationäre Langzeittherapien nicht reduziert. Die Angebote werden auch weiterhin in Anspruch genommen, die Auslastung ist hoch. Substitutionsbehandlung und abstinenzorientierte Ansätze werden in Wien also tatsächlich als einander ergänzende Angebote praktiziert (s. Einleitung). Zahlen zur Situation bezüglich Infektionskrankheiten (7) im Hinblick auf die Übertragungsgefahr beim i.v.-Konsum von großer Relevanz – liegen nicht systematisch vor. Die vorhandenen Daten aus einzelnen Einrichtungen sprechen für eine stabile HIV-Prävalenzrate auf niedrigem Niveau (2% bis 8%), während sich die Prävalenzrate für Hepatitis auf deutlich höherem Niveau bewegt (Hepatitis C: bis max. 51%, Hepatitis B: bis max. 34%). Tuberkuloseinfektionen stellen in Österreich bzgl. drogenassoziierter Begleiterkrankungen weiterhin kaum ein Problem dar. Hingegen gibt es zunehmend Belege dafür, dass psychiatrische Komorbidität tatsächlich ein wesentliches Problem von Substanzabhängigen ist. So weisen in der Langzeittherapiestation Mödling (API) 82% der Neuaufnahmen eines Jahres zumindest eine Persönlichkeitsstörung auf; die Wiener BADO berichtet, dass sich ein Fünftel der erfassten Klienten innerhalb
Wie in der Einleitung erwähnt, ist die Vereinbarung von angemessenen Behandlungszielen mit den Patienten vor Beginn jeder Behandlung von großer praktischer Bedeutung. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, einmal vereinbarte Ziele unbedingt zu erreichen, sondern auf Klarheit und das offene Gespräch zwischen Arzt und Patient darüber, was zum jeweiligen Zeitpunkt wohl realistischerweise erreichbar ist. Enttäuschungen infolge illusionären Erwartungen sowohl auf ärztlicher als auch auf Patientenseite stellen eine häufige Belastung dar, die auch zum Scheitern von Behandlungsversuchen führen kann. Zur Belastung der Beziehung zwischen Arzt und Patienten führt dabei meist folgendes Phänomen: auf beiden Seiten besteht die Neigung, weniger über einen konkreten Irrtum, als jeweils eher diffus „vom anderen“ enttäuscht zu sein (von dem man sich z.B. hintergangen oder abgelehnt fühlt) oder auch, sich auf allgemeine Weise „schuldig“ oder „unfähig“ zu fühlen. Supervision, Balintgruppen oder Gespräche mit Kollegen können hierbei dem Arzt helfen, für die Patienten ist das taktvolle aber offene Gespräch auch über solche Gefühle der Enttäuschung und Entwertung wichtig. An der Vereinbarung von Zielen sollten beide Seiten, nach dem Prinzip des „informed consent“ aktiv mitarbeiten: eine Entzugsbehandlung mit einem Patienten, der zum aktuellen Zeitpunkt den Drogenkon-
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sum gar nicht beenden will, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Wo keine Veränderungsbereitschaft bezüglich des Drogenkonsums besteht, mag es doch Veränderungswünsche in anderen Bereichen geben, wie z.B. hinsichtlich Gesundheitssituation, Beziehungen, Wohnsituation, berufliche Situation, etc. Nicht „ideale Zustände“ sollen gesucht werden, sondern Machbares konkret umgesetzt. Der Arzt sollte dabei eine möglichst neutrale Haltung einnehmen und bestehende Veränderungswünsche aufgreifen ohne selbst Ansprüche bezüglich der Ziele zu stellen. Das soll natürlich nicht heißen, dass der Arzt alles zu tun hat, was der Patient will; aber zunächst geht es darum, sachlich und umfassend über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, ihre Risken und Nebenwirkungen zu informieren – erst dann kann sich der Patient entscheiden und „einverstanden“ sein. Dazu gehört auch, die Möglichkeiten und Grenzen der Angebote des jeweiligen Arztes zu besprechen, seine Bedingungen und Voraussetzungen für eine Behandlung – die „Regeln“ – sollten möglichst deutlich klargestellt, und ein Einverständnis des Patienten auch darüber erzielt werden. Ebenfalls in der Einleitung erwähnt wurde, dass „Drogenabhängigkeit“ ein Symptom sehr unterschiedlicher Personen, mit sehr unterschiedlichen Problemen ist. Keine Person und keine einzelne Einrichtung kann für alle die passende Behandlung anbieten – niemand muss alles machen (können)! Man sollte aber über Angebote anderer soweit Bescheid wissen, dass man gegebenenfalls passend zuweisen kann. Auch beim einzelnen Drogenabhängigen sind die Problemfelder meist vielfältig: neben dem Drogenproblem bestehen oft andere medizinische Probleme, somatische oder psychiatrische, häufig wird sozialarbeiterische oder psychologische Kompetenz benötigt. Eine Arbeitsweise, die sich im Umgang mit diesen komplexen Problemen Drogenabhängiger bewährt hat, ist der multidisziplinäre Ansatz. Es ist von Vorteil, auch für den Arzt in der Ordination,
W. Werner
nicht in Isolation Rezepte zu schreiben, sondern sich bewusst als Teil des Gesundheitssystems zu verstehen, und die Zusammenarbeit mit anderen Teilen zu suchen. Wenn auch gesagt wurde dass „Drogenabhängigkeit“ sehr Unterschiedliches bedeuten kann, ist die Abhängigkeit bei einem nicht geringen Teil der Patienten Symptom einer chronischen Erkrankung: dann sollte man sich vor Beginn der Behandlung darüber im Klaren sein, dass jahrelange, oft jahrzehntelange Betreuung notwendig sein wird. Die Betreuung chronisch Kranker ist in der Medizin keineswegs ungewöhnlich, und kann auch sehr befriedigend sein – vorausgesetzt man ist darauf eingestellt und erhofft nicht unrealistisch Heilung. Diese Chronizität ist übrigens einer der Hauptgründe, warum in Wien die Substitutionsbehandlung zu einem gewichtigen Teil in die Hände des Hausarztes gelegt ist, der die für diese Menschen wichtige Kontinuität oft besser gewährleisten kann als Institutionen mit ihrer oft hohen Fluktuation des Personals.
Zur praktischen Durchführung der Substitutionsbehandlung Behandlungsziele Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, ist es von wesentlicher praktischer Bedeutung klare Behandlungsziele in beiderseitigem Einverständnis zu vereinbaren. Welche konkreten Ziele einer Behandlung Drogenabhängiger sind nun überhaupt denkbar? Einerseits gibt es grundlegende Voraussetzungen für die Behandlung selbst, unabhängig davon für welche Therapie man sich entscheidet. Dazu zählt z.B. die Arbeit an der Arzt-Patienten-Beziehung: ein gewisses Vertrauensverhältnis, die Möglichkeit, offen über Probleme, Sorgen und Ängste zu sprechen, erhöht die Erfolgschancen für alles Weitere beträchtlich. Natürlich ist es auch erforderlich, den Patienten überhaupt für ein Betreuungs- oder Behandlungsverhältnis zu gewinnen und ihn dann auch darin zu halten. Maßnah-
Substitutionstherapie
men, die solchen Zielen dienen, haben hohe Priorität und sind daher selbst Ziele jeder Behandlung. Auf einer solchen Basis kann man unterschiedlichste Teilziele verfolgen; die folgende Auflistung versucht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) das Spektrum zu skizzieren (10): • Unterstützung des Patienten, gesund zu bleiben, bis Drogenfreiheit erreichbar ist • Reduktion des Gebrauchs illegaler oder nicht-verschriebener Drogen • Behandlung von Folgen und Komplikationen des Drogengebrauchs • Reduktion von mit Drogenmissbrauch verbundenen Gefahren, insbesondere bzgl. HIV-, Hepatitis- oder anderer Infektionen durch i.v.-Konsum und gemeinsamen Gebrauch von Utensilien („harm-reduction“, „Schadensminderung“) • Reduktion der Dauer von Episoden des Drogenmissbrauchs • Reduktion der Rückfallsgefahr • Reduktion der Notwendigkeit krimineller Aktivitäten zur Drogenbeschaffung • Reduktion des Risikos der Verteilung verschriebener Substanzen am Schwarzmarkt • Stabilisierung des Patienten, wenn angebracht durch Substitutionsbehandlung • Verbesserung des allgemeinen persönlichen, sozialen und familiären Funktionsniveaus Es ist wichtig das Spektrum möglicher Ziele in seiner ganzen Breite im Kopf zu behalten: viel zu oft wird sowohl von Patienten als auch von Ärzten und Therapeuten nur ein Ziel überlegt: „aufhören“ (mit dem Drogenkonsum). Mit einem derart verkürztem Zielkatalog fällt es natürlich oft schwer, realistisch zu bleiben! Meist ist es auch hilfreich kurz-, mittelund langfristige Ziele klar zu unterscheiden: so kann beispielsweise auch bei einer Substitutionsbehandlung die Abstinenz als mittel- oder langfristiges Ziel durchaus relevant bleiben, während auf kurze Sicht
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Stabilisierung oder der Abschluss einer Lehre oder Schulausbildung im Vordergrund stehen. Obwohl Patienten häufig nach Entzugsprogrammen fragen, ist für viele die Substitutionsbehandlung viel geeigneter. Hauptziel sollte jedenfalls immer die optimale Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes des Patienten sein. „Assessment“: klinische Untersuchung, Einschätzung und Beurteilung Um beurteilen zu können, welche Behandlungsziele für den individuellen Patienten angemessen und realistisch sind, muss man sich zunächst ein möglichst treffendes „Bild“ von dem Menschen, seiner Lebenssituation und seiner Krankengeschichte machen. Dazu ist in einem ausführlichen Erstgespräch, das ausreichend Zeit benötigt, die Erhebung der Vorgeschichte (Anamnese) erforderlich. Die Anamnese kann man in vier Teilbereiche gliedern: • Die Drogenanamnese soll Aufschluss darüber geben, welche Drogen (auch legale), seit wann, in welchem Ausmaß (Menge, Häufigkeit), wie (injiziert, geschluckt, inhaliert oder geschnupft) konsumiert werden und ob Entzugssymptome (und wenn ja, welche) aufgetreten sind; Beschaffung (ev. Prostitution, Kriminalität ...), Risikobereitschaft (z.B. Verwendung von Injektionsbesteck gemeinsam mit anderen) und die Häufigkeit von Überdosierungen sollten abgeschätzt werden; drogenkonsumfreie Perioden, ihre Dauer sowie Anlässe/Auslöser für Rückfälle und frühere Therapieversuche (ambulant oder stationär) sind zu erfragen; besonders wichtig ist auch die möglichst exakte Erhebung des aktuellen Drogenkonsums in den letzten Tagen und Wochen. • Ein genaues Erfassen der Krankheitsanamnese (körperlicher und psychiatrischer Erkrankungen) ist selbstverständlich erforderlich; explizit gefragt werden sollte nach Komplikationen des Drogengebrauchs (Abszesse, Thrombosen, Vi-
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rus-Infektionen, etc.) und nach psychiatrischen Symptomen; auch nach aktuellen Kontakten zu anderen Ärzten oder Behandlungseinrichtungen sollte man sich erkundigen. • Eine relativ genaue Sozialanamnese ist zur Beurteilung von Ressourcen (im sozialen Umfeld oder institutionell, z.B. Bewährungshelfer), Fähigkeiten (Ausbildungsstand, Berufstätigkeit) und aktuellen Problemen (Schulden, Kinder, laufende Gerichtsverfahren, u.ä.) meist unerlässlich. Genaueres Nachfragen die Notwendigkeiten des Alltags betreffend (Schlafplätze, Ernährung, Freundeskreis, Drogenbeschaffung, etc.) ist auch deshalb erforderlich, damit man sich ein realistisches, plastisches Bild von der Lebensweise und der persönlichen Situation des betreffenden Menschen machen kann. Auch bei Angehörigen ethnischer Minderheiten aus anderen Kulturkreisen sind solche u.ä. Fragen notwendig für ein gewisses Verständnis ihrer Lebenssituation und Lebensweise. Für den Gesprächsverlauf ergibt sich oft der Vorteil, dass Patienten im Allgemeinen dankbar sind für Interesse, das ihren tatsächlichen Alltagssorgen, ihrem Lebensstil und ihrer Kultur entgegengebracht wird. • Das Erheben der Lebensgeschichte ist zur Beurteilung der aktuellen Situation unmittelbar meist weniger relevant, unter dem Eindruck aktueller Erlebnisse und drängender Probleme oft auch gar nicht gut möglich. Ein klares Bild über die Entwicklung in der Vergangenheit ergibt sich meist erst nach vielen Gesprächen im Laufe der Zeit. Im Zuge der Anamneseerhebung sollte man sich über zwei weitere wichtige Aspekte einen Eindruck verschaffen: • Die „Motivation“, das Ausmaß der Veränderungsbereitschaft ist oft nicht leicht abzuschätzen. Patienten kommen aus unterschiedlichsten Gründen: wegen Krisen unterschiedlichster Art, weil sie allgemein Rat oder Informationen suchen, oder wegen konkreter psychiatri-
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scher oder somatischer Probleme; weil sie von besorgten Familienmitgliedern oder Partnern gebracht werden oder weil sie selbst „genug“ haben, „etwas ändern“ wollen, etc. Keiner dieser Gründe ist „schlechter“ als der andere, ein gewisses Maß an „Außenmotivation“ ist bei jedem Veränderungswunsch (nicht nur im Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit) zu finden. Die Ergebnisse von Therapien, die durch Gerichte „erzwungen“ wurden können genauso gut sein wie „freiwillig“ begonnene (11). Es ist aber meist hilfreich, sich die Frage zu stellen, warum der Patient gerade heute kommt, und nicht schon letzte Woche oder voriges Jahr. • Das Gespräch sollte als wichtigen Bestandteil immer auch Elemente enthalten, die der Schadensminimierung („harm-reduction“) dienen. Der Informationsstand von Patienten bezüglich dieser Themen ist immer wieder erstaunlich gering. Auch wenn ja oft „jetzt alles anders“ werden soll, ist jede Gelegenheit zu nutzen diesen Informationsstand zu verbessern. Natürlich sollte dabei kein „oberlehrerhafter“ Ton angeschlagen, sondern mit Takt, aber durchaus direkt auch über „heikle Themen“ gesprochen werden. Patienten sind oft froh, über ihre (häufig sehr wohl vorhandenen) Sorgen und Ängste diesbezüglich vertraulich mit einem Professionisten sprechen zu können, und dankbar für jede kompetente Information (s. dazu auch das Kapitel somatische Komorbidität). Um den Drogenkonsum nachzuweisen, sollte jedenfalls vor Beginn einer Substitutionsbehandlung eine Harnuntersuchung zum Nachweis von Drogen erfolgen. Diese ist aber immer im Lichte des klinischen Eindrucks zu interpretieren und ersetzt diesen nie – sowohl falsch positive wie auch falsch negative Ergebnisse kommen vor. Eine Beurteilung des psychopathologischen Zustandes ist aus zweierlei Gründen wichtig: Einerseits bestehen oft andere psychiatrische Probleme parallel zum Dro-
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genmissbrauch (s. Kapitel psychiatrische Komorbidität bei Substanzabhängigkeit), was insbesondere im Hinblick auf ein ev. erhöhtes Suizidrisiko von Bedeutung ist. Andererseits können verwendete Drogen psychiatrische Probleme verursachen (z.B. Halluzinationen oder Paranoia unter Kokaingebrauch, Angst oder Depression im Entzug). Beurteilt werden sollten zumindest: – das allgemeine Verhalten (Unruhe, Ängstlichkeit, Irritierbarkeit, ...) – Auffälligkeiten im Denken, Verwirrtheit, Bewusstseinslage – Hinweise auf Halluzinationen, Wahnideen, paranoiden Einstellungen – Stimmung, emotionaler Kontakt im Gespräch
Herstellen einer tragfähigen Arzt-Patienten-Beziehung durchgeführt werden: Die Ergebnisse solcher Untersuchungen mit ihren weitreichenden Konsequenzen können Krisen auslösen, die mehr schaden als nutzen, wenn sie nicht in einem funktionierenden Behandlungssetting aufgefangen werden können. Ist ein solches etabliert, sollten sie aber unbedingt durchgeführt werden und können ein wesentliches Element schadensminimierender Aufklärungsarbeit bilden: Informationen anhand von Ergebnissen, die Patienten persönlich betreffen, sind wesentlich wirkungsvoller als allgemein „Dahingesagte“. Es wird auch eher der Arzt ernst genommen, der engagiert konkrete Schritte unternimmt als der, der „nur redet“.
Eine genauere körperliche Untersuchung ist bei aktuellen somatischen Beschwerden natürlich unerlässlich. Aber auch sonst können dabei wichtige Eindrücke zum Risikoverhalten (z.B. Einstichstellen in der Leistengegend) und Allgemeinzustand des Patienten gewonnen werden, oder Angaben des Patienten überprüft werden. Auf Sachlichkeit und Takt ist bei der körperlichen Untersuchung selbstverständlich besonders zu achten.
Aus den Gesprächen und Untersuchungen ergibt sich ein mehr oder weniger klares Bild vom Patienten und seiner Situation für den Arzt, aus dem sich therapeutische Alternativen ableiten lassen.
Laboruntersuchungen zur Abklärung von Beschwerden sollten „nach den Regeln der Kunst“, wie bei anderen Patienten auch, erfolgen. Untersuchungen im Hinblick auf schwerwiegende Infektionskrankheiten (Hepatitis, HIV) sollten erst nach
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Abb. 2
Therapeutische Alternativen Wird eine Substitutionsbehandlung überlegt, ist wohl zunächst eine Abgrenzung von anderen therapeutischen Möglichkeiten erforderlich. Die Fragen die dabei zu klären sind, lassen sich vielleicht durch einen Entscheidungsbaum veranschaulichen: Zunächst ist wohl zu entscheiden, ob Abstinenz als kurzfristiges Ziel realistisch ist und in Frage kommt. Wenn ja, gehen
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alle folgenden Überlegungen in Richtung Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen; andernfalls wird v.a. das Ziel, dem Patienten ein adäquates Betreuungs- und Behandlungssetting anzubieten, im Vordergrund stehen. Soll eine Entzugsbehandlung erfolgen, ist zu überlegen, ob diese besser ambulant oder stationär stattfindet. Wird ein Entzug derzeit nicht gewünscht oder erscheint unrealistisch, bietet sich eine Substitutionsbehandlung als Betreuungs- und Behandlungssetting an. Lehnt der Patient dies ab, sind andere (angemessene) Anliegen des Patienten natürlich trotzdem zu behandeln, und kann eine allgemeine Beratung über Möglichkeiten der Drogenbehandlung und Themen der Schadensminimierung erfolgen. Wünscht der Patient eine Substitution, sind zunächst die Ziele der Behandlung zu klären – diese können sich ja sehr weitgehend unterscheiden. Entsprechend unterschiedliche Bedeutung haben Begleitmaßnahmen wie Kontrollen bzgl. Beikonsum, (psychotherapeutische) Betreuungsangebote, etc. Unter anderem davon wird es abhängen, ob man die Substitutionsbehandlung besser in einer Ordination oder in einer spezialisierten Drogeneinrichtung durchführt. Indikationsstellung Die Indikationsstellung für eine bestimmte Behandlung der Opioidabhängigkeit ist kaum wissenschaftlich begründbar. Abstinenzorientierte Behandlungsansätze gelten zwar meist als „Mittel der ersten Wahl“ – dies ist aber eher Ausdruck gesellschaftlich-politischen Wollens, weniger Ergebnis von Forschung oder Empirie: Für die meisten, zu einem gegebenen Zeitpunkt (!)3 Abhängigen, kommt Abstinenz dzt. nicht in Frage, oder führt zu Scheitern und Rückfall, mit dem schwerwiegenden Risiko einer tödlichen Überdosierung (12). Substitutionsbehandlungen sind natürlich auch nicht frei von Risken. Sie ändern auch unmittelbar nichts an der Abhängigkeit. Insbesondere methadongestützte Be-
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handlungen sind aber jedenfalls wissenschaftlich gut untersucht, ihre Wirksamkeit, v.a. im Hinblick auf somatische Morbidität und Mortalität vielfach erwiesen. Kaum wissenschaftlich zu belegen sind dagegen Prädiktionsparameter: Weder vorausgegangene, vergebliche Entzugsversuche, noch das Alter, das Vorhandensein von Job oder Wohnung oder sonst irgendeines Kriteriums können als wissenschaftlich fundierte Gründe für die Indikationsstellung herangezogen werden (13). Methadon erst zu verordnen, wenn eine Anzahl gescheiterter Entzugsversuche nachgewiesen werden kann, oder nach irgendwelchen anderen, generellen einschränkenden Kriterien, ist nicht wissenschaftlich begründbar und kann gefährlich sein (14). Weder „Polytoxikomanie“ noch Alkoholkonsum stellen eine Kontraindikation für Substitutionsbehandlungen dar. Im Gegenteil: kombiniert Abhängige bedürfen gerade wegen ihres erhöhten Risikos (z.B. Leberzirrhose bei Opioid- und Alkoholabhängigkeit) einer kontinuierlichen Behandlung. Die Indikationsstellung bleibt also letztlich ärztlicher Intuition und Erfahrung überlassen. Folgende Kriterien müssen zur Substitutionsbehandlung aber wohl in jedem Fall erfüllt sein: • Eine angemessene Untersuchung hat stattgefunden (s.o. „assessment“) • Es besteht Opioidabhängigkeit (F11.2 nach ICD-10) Die Diagnose wird im Wesentlichen mittels Anamnese und klinischer Untersuchung und Beurteilung gestellt. Die Abnahme einer Harnprobe wird zu Bestätigungs- und Dokumentationszwecken empfohlen, ersetzt aber nicht das 3 Früher oder später, nach mehreren „Anläufen“, beenden viele Abhängige den Drogenkonsum sehr wohl erfolgreich, oder reduzieren ihn zumindest auf ein Ausmaß und in einer Form, die gesundheitlich, sozial und psychisch besser verträglich ist – als ursachengerichtete Behandlungen sind daher abstinenzorientierte Ansätze für den einzelnen Abhängigen auf längere Sicht von größter Bedeutung.
Substitutionstherapie
„assessment“. Angaben des Patienten können durch Gespräche mit Angehörigen bestätigt und ergänzt werden. • Die Abhängigkeit ist nicht besser durch abstinenzorientierte Behandlungsansätze zu behandeln. Möglichkeit, Zumutbarkeit, Chancen und Risken einer Entzugsbehandlung sind vor Beginn einer Substitutionsbehandlung abzuwägen (s.o. „therapeutische Alternativen“). • Der Patient wurde umfassend informiert und ist einverstanden mit der Behandlung. Information und Einverständnis umfassen, neben Risken und Nebenwirkungen v.a. andere Möglichkeiten der Behandlung und sollten in geeigneter Form dokumentiert werden. Für diese Dokumentation ungeeignet sind Vordrucke, mit Auflistungen von Nebenwirkungen und Risken, die vom Patienten unterschrieben werden. Es empfiehlt sich mit jedem Patienten individuelle Therapieziele genau zu besprechen und zu dokumentieren (s.u. „Behandlungsvertrag“). Diese Ziele sind immer wieder zu überprüfen und in späteren Gesprächen kann der Behandlungserfolg daran gemessen werden. • Für Substitutionsbehandlungen von Personen unter 20 und für Substitutionen mit anderen Substanzen als Methadon sind in Umsetzung von Bestimmungen des Suchtmittelgesetzes in den verschiedenen Bundesländern besondere Verordnungen erlassen worden. In Wien war in diesen Fällen z.B. eine Begutachtung und schriftliche Indikationsstellung durch bestimmte Fachambulanzen erforderlich; die Fertigstellung einer Neuregelung wird für das kommende Jahr erwartet. Die Indikation zur Substitutionsbehandlung sollte rasch gestellt werden können. Die Zeit vor einer Behandlungsaufnahme ist für Patienten häufig eine Zeit des Umbruchs oder der Krise, damit besonders risikoreich und oft voller gefährlicher Ambivalenzen. Andererseits erhöht eine sorgfältige Indikation Sicherheit und Qualität der Behandlung und benötigen auch Aufbau
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eines „Arbeitsbündnisses“ und Besprechen des Setting ausreichend Zeit. Indikationsprozeduren und Abklärungen müssen in einem vernünftigen Verhältnis zum zu erwartenden Gewinn für die Behandlung stehen. Behandlungsvertrag Kommt man nach diesen Vorarbeiten und -überlegungen zum Schluss, dass eine Substitutionsbehandlung gewünscht und sinnvoll sei, ist es oft günstig noch vor Beginn der eigentlichen Behandlung, getroffene Vereinbarungen und Bedingungen sowie manche Information (z.B. über Nebenwirkungen und Alternativen) und Zielvereinbarungen in schriftlicher Form festzuhalten. Vereinbarungen geraten im Lauf der Monate und Jahre leicht in Vergessenheit oder verlieren an Klarheit – übrigens sowohl für Patienten als auch für den Arzt. Klare Strukturen und Transparenz von Rechten und Pflichten sind (nicht ausschließlich, aber besonders) im Umgang mit Drogenabhängigen hilfreich. Im ambulanten Setting sind die Möglichkeiten zur Strukturierung ohnehin sehr begrenzt. Ein schriftlicher Behandlungsvertrag kann die Verbindlichkeit von Vereinbarungen (für beide Seiten) betonen und so Struktur darstellen. Die Ziele die mit einer Substitutionsbehandlung verfolgt werden, haben auch Auswirkungen auf diese Vereinbarungen: Ist die Substitution als überbrückende Maßnahme gedacht, z.B. bei einem jungen Menschen mit kurzer Drogenkarriere, um seinen Schul- oder Lehrabschluss zu ermöglichen, werden vielleicht regelmäßige Harnkontrollen zum Ausschluss eines Tranquilizer-Missbrauchs (der den Lernerfolg beeinträchtigen kann) verlangt, oder Bestätigungen über den Schulbesuch. Geht es hingegen um die Unterstützung eines chronisch Kranken, der neben einer langjährigen Drogenkarriere auch schwerwiegende körperliche oder psychiatrische Probleme hat, sind Harnkontrollen wenig, andere Vereinbarungen (wie regelmäßige Untersuchungen, oder die Inanspruchnah-
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me psychiatrischer Behandlung) aber sehr wohl hilfreich. Wahl des Substitutionsmittels Auch auf die Wahl des Substitutionsmittels haben die Ziele Einfluss, die mit der Behandlung verfolgt werden: Je wichtiger Kontrollaspekte sind, desto eher wird man zu Substanzen greifen, die in RoutineHarnkontrollen von illegalen Opioiden unterscheidbar sind (Methadon, Buprenorphin, Tramadol). Je höher man die Missbrauchsgefahr einschätzt, desto eher wird man „verführerische“ Substanzen mit höherem Schwarzmarktwert (retardiertes Morphin) vermeiden, oder zumindest auf strengere Handhabung von Einnahmeverordnungen und Mitgaberegelungen achten. Weitere Faktoren, die bei dieser Entscheidung eine Rolle spielen, sind: aktuell konsumierte Opioide, Höhe der Dosierung und Dauer der Abhängigkeit von diesen Opioiden, Vorerfahrungen des Patienten mit Substitutionsmitteln aus früheren Substitutionsbehandlungen, und schließlich die Attraktivität der in Erwägung gezogenen Substanz für den Patienten. Grundsätzlich ist jedes Opioid zur Substitution geeignet. Es sollten aber primär Substanzen gewählt werden, die nur einmal täglich eingenommen werden müssen, deren Wirkung also lange genug anhält, so dass nicht Teile des Tagesbedarfs dem Patienten mitgegeben werden müssen (was oft eine Versuchung zur missbräuchlichen Verwendung darstellt). Als Mittel der ersten Wahl für Dauersubstitutionen gilt Methadon. In Österreich stehen dzt. folgende Substanzen zur Verfügung: • Methadon: Seit der Erstanwendung in den 50er-Jahren liegen umfangreiche klinische Erfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen vor. Verwendet wird meist das Razemat (die Mischung aus links- und rechtsdrehender Form); in Deutschland wird v.a. die reine linksdrehende Form (Polamidon), welche niedrigere Dosierungen erfor-
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dert, verwendet. Die Verabreichung erfolgt in flüssiger Form, mit Sirup o.ä. vermengt, was die missbräuchliche Verwendung erschweren und den Geschmack verbessern soll. Methadon ist ein synthetischer OpioidAgonist mit einer Halbwertszeit von 24–36 Stunden. Eine einmal-tägliche Einnahmeverordnung ist daher möglich, nur sehr selten (v.a. wenn gleichzeitig bestimmte Medikamente zur Behandlung der Tuberkulose oder einer HIV-Infektion eingenommen werden müssen) wird Methadon so rasch abgebaut, dass es zweimal täglich eingenommen werden muss. • Morphinhydrochlorid in flüssiger Form: Morphin, das Hauptalkaloid des Schlafmohns, in einer Zubereitung ähnlich der bei Methadon üblichen (mit Sirup o.ä. vermengt). Die Einnahme muss mehrmals täglich erfolgen. Da es selten praktikabel ist, dies in der Apotheke durchzuführen, muss meist ein Teil der Tagesdosis mitgegeben werden. Der Schwarzmarktwert (und damit die Versuchung zum missbräuchlichen Verkauf) dieser Zubereitung ist aber geringer als bei retardiertem Morphin: der Inhalt eines Fläschchens ist für den potenziellen Käufer nicht kontrollierbar und daher weniger interessant als originalverpackte Tabletten oder Kapseln. • retardiertes Morphin: Es gibt inzwischen drei Morphin-Präparate (Kapanol®, Substitol® und Compensan®, die beiden letzteren sind speziell für die Indikation Substitution zugelassen), die genauso wie Methadon, eine einmal tägliche Einnahme erlauben. Auf die Verschreibung anderer Morphinzubereitungen in Tabletten- oder Kapselform, die mehrmals täglich eingenommen werden müssen, sollte wegen der in den letzten Jahren gemachten Erfahrung häufigen Missbrauchs verzichtet werden: in Wien kam es zu breiter Verteilung am Schwarzmarkt, erleichtert durch die Notwendigkeit täglicher Mitgabe eines Teiles der Tagesdosis. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es beim
Substitutionstherapie
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i.v.-Konsum retardierten Morphines zu einem rascheren Anfluten kommt (durch Wegfall der Retardierung), wodurch viele Patienten den Eindruck gewinnen, sich einen Teil der Tagesdosis „einsparen“ zu können und für den Weiterverkauf zur Verfügung zu haben (auch wenn, pharmakologisch gesehen, die Wirkdauer verkürzt wird). Trotz der erhöhten Risken stellt retardiertes Morphin eine wichtige Alternative zu Methadon dar. • Buprenorphin wird sublingual verabreicht. Aufgrund der besonders langen Wirkdauer von ca. 72 Stunden kann es einmal täglich oder sogar nur dreimal wöchentlich eingenommen werden. Als partieller µ-Agonist und κ-Antagonist zeigt es einen sogenannten „ceiling“Effekt (ein begrenztes Wirkungsmaximum). Dieser Effekt verspricht, gemeinsam mit der sehr hohen Affinität zu Opioid-Rezeptoren (wodurch die Wirkung ev. zusätzlich eingenommener illegaler Opioide quasi blockiert wird), hohe Anwendungssicherheit, da Überdosierungen mit Atemdepression kaum möglich sind. Auch Buprenorphin ist eine wichtige Alternative zu Methadon, für das außerdem die im Vergleich zu den anderen Substanzen erhöhte Anwendungssicherheit spricht.
• Codein steht sowohl in Tablettenform als auch in flüssiger Zubereitung zur Verfügung. Es muss mehrmals täglich eingenommen werden, hat aber eher geringen Schwarzmarktwert. • Tramadol hat ebenfalls ein begrenztes Wirkungsmaximum, das noch deutlich unter dem der anderen Substanzen liegt. Zur Substitution ist es auch wegen seiner krampfschwellensenkenden Wirkung weniger geeignet und findet daher v.a. in den letzten Phasen der Reduktionsbehandlung bzw. in der Entzugsbehandlung Anwendung. • LAAM (Levo-alpha-acetyl-methadol) ist ein synthetisches Opioid mit einem methadonähnlichem Wirkungsprofil und einer sehr langen Wirkdauer von bis zu 72 Stunden, wodurch, wie bei Buprenorphin, eine 3 × wöchentliche Einnahme möglich ist. Im Gegensatz zu Buprenorphin gibt es jedoch keinen „ceiling“Effekt, daher ist das Risiko langanhaltender Überdosierungen erhöht. Es wurden auch kardiale Nebenwirkungen wie QT-Verlängerungen und Rhythmusstörungen beschrieben. Aus diesen Gründen findet es in der Substitutionsbehandlung kaum Verwendung. In Tabelle 1 sind einige häufig verwendete Produkte angeführt.
Tabelle 1 Substanz
Darreichungsform
Dosierungen
Wirkdauer
Harn1
Methadon
orale Zubereitung
nach Rezeptur
> 24 h
–
Kapseln
> 24 h
+
Kapseln
20 mg, 50 mg, 100 mg 120 mg, 200 mg
> 24 h
+
Filmtabletten
200 mg
> 24 h
+
Subutex®
Morphinpentasulphat Morphinpentasulphat Morphinhydrochlorid Buprenorphin
Sublingualtabletten
2 mg, 8 mg
~ 72 h
–
Codidol retard®
Dihydrocodein
Filmtabletten
60 mg, 90 mg, 120 mg
~ 12 h
+
Handelsname
Kapanol CSR® Substitol retard® Compensan retard®
1
Substanz ergibt in Routineharntests positive (+) oder negative (–) Resultate in der Rubrik „Opiate“
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Tabelle 2 Dosierung Substanz Methadon Morphin Buprenorphin Dihydrocodein
1. x
niedrig
mittel
hoch
Obergrenze
Kumulationsneigung
30–40 mg 100–300 mg 2–8 mg 240–360 mg
< 60 mg < 300 mg < 6 mg < 360 mg
70 mg–90 mg 400–600 mg 8–16 mg 480–840 mg
> 100 mg > 700 mg > 18 mg > 960 mg
120 mg 1000 mg 32 mg 1200 mg
hoch hoch hoch1 niedrig
1 Wegen des „ceiling“-Effekts jedoch kaum Überdosierungsgefahr
Einstellung auf das Substitutionsmittel Die Einstellungsphase der Substitutionsbehandlung ist eine kritische Zeit: Arzt und Patient kennen sich erst seit kurzem, das gegenseitige Vertrauen ist begrenzt, der Patient hat möglicherweise keine Erfahrungen mit dem Substitutionsmittel, hat auch in dieses wenig Vertrauen, und der Arzt ist ebenfalls unsicher, wie der Patient die Substanz verträgt. Zu hohe Dosierung bei geringer Toleranz kann v.a. bei Substanzen mit ausgeprägter Kumulation4 zu Überdosierungen des Substitutionsmittels führen. Zu geringe Dosierung ist aber mindestens ebenso riskant: Entzugsbeschwerden führen zu illegalem Konsum anderer Opioide mit der Gefahr der Überdosierung. Selbst bei gleichbleibender Methadondosis und gleicher Menge des zusätzlich konsumierten Opioids kann es durch die langsame Kumulation des Substitutionsmittels noch nach bis zu 4 Tagen zu Überdosierungen kommen. In England festgestellte deutlich erhöhte Mortalitätsraten in der Einstellungsphase von Methadonbehandlungen werden so erklärt. Die klinische und pharmakologische Sicherheit hängt von der Halbwertszeit und dem Dosierungsintervall (Kumulationsneigung) ab sowie von der Dosierung der verwendeten Substanz und von der aktuellen Toleranz des Patienten und seiner Compliance. Die Tabelle 2 soll eine ungefähre Vorstellung von möglichen Erstdosierungen und Dosierungsbereichen für einige häufig verwendete Substanzen geben. Sie soll nicht zu „schematischem“ Vorgehen verleiten – auch nur 40 mg Methadon können
für einen Menschen, der nicht an Opioide gewöhnt ist, gefährlich sein. Es kommt auf die Beurteilung der Bedürfnisse und Risken des individuellen Patienten an – diese können nie einer Tabelle entnommen, sondern nur im persönlichen Gespräch abgeschätzt werden. Dosierung des Substitutionsmittels Die Dosierung des Substitutionsmittels soll ausreichend hoch gewählt werden: Untersuchungen liegen vorwiegend für Methadon vor und weisen nach, dass zu geringe Dosierungen zu häufigerem illegalen Konsum und zu häufigeren Behandlungsabbrüchen führen. Was „ausreichend“ ist, sollte (natürlich in Grenzen) der Patient bestimmen dürfen: zu vermeiden ist eine Dynamik mit fixierten Rollen – der Arzt „bremst“ und der Patient „will immer mehr“; anzustreben ist eine „Zusammenarbeit“, ein Verhältnis, in dem der Patient gemeinsam mit seinem (durchaus kritischen) Arzt die Dosis festlegt. Bei ausgeprägter Opioidtoleranz (Gewöhnung des Körpers an Opioide) liegen solche „ausreichenden“ Dosierungen meist 4 Darunter versteht man die zunehmende Anreicherung einer Substanz im Körper. Dazu kommt es dann, wenn die Zeit die benötigt wird um die Substanz auszuscheiden oder abzubauen, deutlich länger ist als die Zeit von einer Einnahme zur nächsten. So führt z.B. die tägliche Einnahme der gleichen Dosis Methadon über 3–5 Tage zu zunehmend steigender Konzentration im Blut, weil Methadon 24 h nach der ersten Einnahme nicht einmal zur Hälfte abgebaut ist.
Substitutionstherapie
197
über 60 mg/d; bei geringeren Dosierungen kommt es häufiger zu Rückfällen oder Behandlungsabbrüchen. Als Obergrenze gelten ca. 120 mg/d. Bei noch höheren Dosen besteht zwar kaum die Gefahr von Nebenwirkungen oder Toxizität (ausgebildete Toleranz vorausgesetzt – ist dies nicht der Fall, besteht schon bei viel niedrigeren Dosierungen die Gefahr einer tödlichen Atemdepression), aber es sind meist auch keine positiven Effekte mehr zu erwarten. Für andere Opioide liegen zwar wenige Untersuchungen vor, obige Grundsätze gelten aber wohl sinngemäß genauso. Findet man auch mit sehr hohen Dosen nicht das Auslangen, ist zu überlegen, ob mit dem gewählten Opioid überhaupt eine befriedigende Einstellung möglich ist, oder ob nicht besser auf ein anderes umgestellt werden soll; oder auch, ob das Opioid vom Patienten überhaupt zur Gänze eingenommen wird, ob nicht andere Motive als eine unzureichende Wirkung hinter dem Wunsch nach weiterer Dosiserhöhung stehen (z.B. Weitergabe, Verkauf). Zur Umrechnung der Wirkstärke verschiedener Opioide werden häufig sogenannte „Äquivalenzdosen“ angegeben. Wie auch andere Zahlen (das gilt auch für obige Angaben zu Dosierungen) sind diese aber bestenfalls brauchbar als grobe
Richtwerte, die ungefähre Größenordnungen angeben: pharmakologische Wirkungen sind von vielerlei individuellen Faktoren bestimmt, von messbaren pharmakologischen und von subjektiven nicht-pharmakologischen Einflüssen abhängig. Die Daten für Äquivalenzdosen werden oft in Tierversuchen (z.B. mittels Selbstreizungsexperimenten) gewonnen, oder es werden eng umschriebene Wirkungen an Menschen gemessen (z.B. Analgesie in Versuchen mit Schmerzpatienten) – dabei gewonnene, noch so „exakte“ Zahlen lassen sich nicht einfach auf die klinisch relevante, komplexe Wirkung der Opioide bei Drogenabhängigen übertragen. Die folgende Tabelle beruht auf unseren klinischen Erfahrungen, in der angegebenen Schwankungsbreite liegen aber auch die meisten experimentell gewonnenen Zahlen (Tabelle 3). Umstellungen von einem Opioid auf ein anderes Die Erfahrungen in der Praxis zeigen, ausreichende Dosierung vorausgesetzt, dass Umstellungen von allen Opioiden, die unter Selbstversorgungsbedingungen vom Schwarzmarkt konsumiert wurden, auf irgendein Opioid unter Substitutionsbedin-
Tabelle 3 Substanz
Dosis
Methadon-Äquivalent
(1 g)
(40–80 mg)
Umrechnungsfaktor
Straßenheroin
kann wegen der höchst unterschiedlichen Diacetylmorphin-Konzentration eigentlich nicht angegeben werden; grob mag 1 g Straßenheroin 4–80 mg Methadon entsprechen
Morphin
es besteht eine deutliche „Richtungsabhängigkeit“: die Umstellung von Morphin auf Methadon macht selten Beschwerden, oft sind niedrigere Dosierungen möglich als hier angegeben (u.U. 10 : 1 ); die Umstellung von Methadon auf Morphin hingegen macht häufig für einige Tage deutliche Beschwerden und kann höhere Dosierungen erfordern
Dihydrocodein
bei Patienten wenig „beliebt“, wird in der Wirksamkeit oft gering eingeschätzt; unserer Erfahrung nach jedoch zur Behandlung akuter Entzugsbeschwerden oder für kurzzeitige Überbrückungen für fast alle Patienten gut geeignet
40–80 mg
100–120 mg
2 mg Buprenorphin
10 mg
10 mg
10 mg
(4–8) : 1
(10–12) : 1
1 : (5–6)
gilt v.a. für niedrigere Dosisbereiche bis ca. 60–80 mg Methadon; darüber ist oft keine befriedigende Umstellung möglich, oder es sind sehr hohe Dosierungen erforderlich
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gungen meist unkompliziert verlaufen. Nur die Einstellung von „O-Tee“-Trinkern ist manchmal langwieriger und für den Patienten beschwerlicher. Auch Umstellungen von Morphin auf andere Opioide sind meist unproblematisch, während Umstellungen von Methadon auf andere Opioide relativ häufig von vorübergehenden Beschwerden für einige Tage begleitet sind. Einstellungen auf Buprenorphin sind manchmal wegen des „ceiling“-Effekts nicht befriedigend möglich (nach langjährigem, hochdosiertem Opioidkonsum), auch die Einstellung auf Codein gelingt nicht bei allen Patienten zufriedenstellend. Der Wunsch nach Umstellungen taucht bei länger substituierten Patienten häufig auf; meist werden „Nebenwirkungen“ angegeben die sich meist auf kaum objektivierbare Symptome beziehen („Depressionen“, sexuelle Inappetenz oder Impotenz, Appetitlosigkeit und Übelkeit, u.ä.) und oft wenig glaubwürdig wirken. Die Substanzen auf die umgestellt werden soll sind häufig solche, die hohes „Prestige“ in der Szene und hohen Schwarzmarktwert haben (in Wien dzt. v.a. retardiertes Morphin). Doch die Motive für einen solchen Wunsch sind vielfältig und man sollte nicht automatisch unterstellen, dass es nur um die Aussicht auf ein Zusatzeinkommen aus Weiterverkauf geht. Es ist zu bedenken, dass auch langjährig Drogenabhängige wirklich z.B. an Depressionen im psychiatrischen Sinn leiden können, oder dass sie nicht selten in Verhältnissen leben die ganz berechtigt (und gar nicht krankhaft) Anlass zu Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit liefern. Es ist auch nicht wirklich verwunderlich wenn Drogenabhängige, die mit ihrer Situation auf irgendeine Weise unzufrieden sind, auf die Idee kommen, eine andere Substanz könnte helfen – schließlich haben sie oft über viele Jahre versucht Probleme durch Einnahme von Substanzen zu lösen oder wenigstes erträglicher zu machen. Es kann therapeutisch sinnvoll sein, die dahinterstehende Absicht aufzugreifen, mit der schließlich hoffnungsvolle Gefühle verbunden sind
W. Werner
und die immerhin eine Initiative des Patienten darstellen (er hat einen Arzt aufgesucht und will seine Situation verbessern) – auch wenn dabei natürlich die „Problemlösungsstrategie“ selbst zu reflektieren ist. Sicherheitsregeln Besonders zu Beginn der Behandlung, wenn Arzt und Patient einander noch wenig kennen, ist besondere Sorgfalt erforderlich. Grundsätzlich sollten folgende pragmatische Sicherheitsregeln befolgt werden (Abb. 3). Begleitende Maßnahmen Die Verschreibung eines Substitutionsmittels ist nur ein mehr oder weniger kleiner Teil eines „Substitutionsprogramms“. Studien zeigen, dass der Erfolg der Behandlung steigt, wenn verschiedene zusätzliche Dienste angeboten werden, wie medizinische Untersuchungen und Behandlungen, berufsfördernde Maßnahmen, sozialarbeiterische Unterstützung oder psychotherapeutische Gespräche. Die Wichtigkeit der Gesprächstherapie als Ergänzung zur medikamentösen Behandlung ist weithin akzeptiert: die Stabilisierung mit dem Medikament kann die Möglichkeit bieten, die Probleme zu ermitteln und zu behandeln, die überhaupt zum Missbrauch von Drogen geführt haben. Jedoch sind auch hier v.a. die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der einzelnen Patienten zu berücksichtigen: längst nicht jeder braucht Psychotherapie oder ist dafür geeignet, allzu weitgehende sozialarbeiterische „Unterstützung“ kann die Entwicklung von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit auch hemmen. Mitgaberegelungen Ein konfliktreiches Thema in Substitutionsbehandlungen ist die Handhabung von Mitgaben. Sowohl Mitgaben haben Risken (i.v.-Konsum, Weiterverkauf oder Weitergabe, Aufsparen und Sammeln, akzidentelle Vergiftungen von Kindern) als auch
Substitutionstherapie
1. Die Initialdosis soll nicht mehr als 30–40 mg Methadon(-Äquivalent) betragen; es sind Todesfälle nach Einnahme von geschlucktem Methadon ab 50 mg bekannt. Bei der Einstellung auf Buprenorphin ist zu beachten, dass diese Substanz auch Entzugssymptome auslösen kann (wenn nämlich ein anderes, stärker wirksames Opioid durch Buprenorphin, aufgrund seiner höheren Affinität, von den Rezeptoren verdrängt wird); es wird daher empfohlen mit einer Einstellung auf Buprenorphin erst mit dem Auftreten erster Entzugssymptome zu beginnen, und einen zeitlichen Abstand von mind. 6 Stunden (nach Heroin®-Einnahme) bzw. 24 Stunden (nach Einnahme von Methadon oder retardiertem Morphin) einzuhalten. Bei Umstellungen von Methadon oder retardiertem Morphin auf Buprenorphin sollte die Dosis zunächst reduziert werden (etwa auf 30 mg Methadonäquivalent). 2. Ist abzusehen, dass mit dieser Dosis nicht das Auslangen gefunden wird, sollte nach Möglichkeit eine zweite Teildosis verabreicht werden; davor muss die Wirkung der ersten 30 mg beobachtet werden (z.B. durch einen 2. Kontakt am selben Tag). 3. Die minimale Wartezeit zwischen zwei Teildosen oral eingenommener Opioide soll drei Stunden nicht unterschreiten; die enterale Resorption kann sich verzögern, so dass erst nach 3 h die maximale Wirkung erreicht wird (bei sublingual verabreichtem Buprenorphin wird das Wirkungsmaximum nach 90 min erreicht). 4. In den ersten Tagen ist möglichst täglicher Kontakt und Beurteilung der Wirkung durch den Arzt wünschenswert. 5. Ist dies nicht möglich, muss langsam aufdosiert werden: die Gesamt-Tagesdosis an den ersten beiden Tagen sollte 50 mg nicht übersteigen, die tägliche Dosissteigerung sollte in der Folge nicht mehr als 10 mg/d betragen; (durch eine lange Halbwertszeit kann die kumulierende Dosis die Toleranzentwicklung v.a. am 2. und 3. Tag „überholen“ und zu Überdosierungen führen). 6. Die orale Einnahme muss überwacht werden (Sichtkontrolle, z.B. in der Apotheke). 7. Bei Unterbrechungen der gesicherten Opioideinnahme (Fernbleiben) für mehr als 5 Tage darf nicht davon ausgegangen werden, dass weiterhin Toleranz besteht: eine Neueinstellung muss vorgenommen werden (ab 1.). Es ist unzulässig die Dosierung nach Angaben der Patienten über illegalen Opioidkonsum auszurichten. Bei Fernbleiben von weniger als 5 Tagen ist von einem Toleranzverlust von 20% pro gefehltem Tag auszugehen und die Dosis ev. entsprechend zu reduzieren. 8. Die Magenpassage von geschluckten Opioiden kann nach 1/2 Stunde angenommen werden; Ersatz von gesichert eingenommenen und erbrochenen Opioiden innerhalb dieser 1/2 Stunde kann nur mit Vorsicht erfolgen (nach Rücksprache mit dem Arzt). 9. Dosisänderungen im weiteren Verlauf der Substitutionsbehandlung (Erhöhungen so wie Reduktionen) sollten grundsätzlich in kleinen Schritten von max. 10% der Tagesdosis erfolgen.
Abb. 3
199
200
die Verweigerung von Mitgaben (aufgesparte Opioide werden eher verheimlicht, gefährliche Dosissprünge oder Fernbleiben für einige Tage und Konsum illegaler Opioide sind häufiger, so auch Therapieabbrüche). Der Interessenskonflikt besteht v.a. zwischen der Verpflichtung, die Verbreitung von verordneten Opioiden am Schwarzmarkt möglichst zu verhindern, und dem Bemühen, das individuelle Risiko für den Patienten möglichst zu reduzieren. Überlegungen zur Sicherheit des verschreibenden Arztes, die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften und Usancen, stehen Überlegungen zum individuellen Patienten (soziale Reintegration, berufliche Notwendigkeiten, Übernahme von Eigenverantwortung, etc.) gegenüber. Eine starre, für alle Patienten geltende Regelung ist nicht sinnvoll; folgender Vorschlag für allgemeine Richtlinien mögen der Orientierung dienen (Abb. 4). Nicht nur aus beruflichen oder häuslichen Verpflichtungen erwachsende Notwendigkeiten, auch Urlaube sind ein legi-
W. Werner
timer Grund für Mitgaben. Bezugsmöglichkeiten am Urlaubsort zu organisieren ist zwar vorzuziehen, ist aber v.a. bei Auslandsreisen häufig nicht möglich. Bei Auslandsreisen ist ein Begleitschreiben mitzugeben (für Schengen-Länder gibt es ein Formular, das am Gesundheitsamt erhältlich ist). Bei Reisen in exotischere Länder ist eine Kontaktaufnahme mit der Botschaft des Landes zur Erkundigung nach Einfuhrbestimmungen empfehlenswert: in manchen Ländern können eingeführte Opioide zu schwerwiegenden Rechtsproblemen für die Patienten führen. Harnuntersuchungen Regelmäßige Harnuntersuchungen werden im Rahmen von Substitutionsbehandlungen empfohlen. Sie können im Lauf der Behandlung verschiedenen Zwecken dienen: die Harnabgabe kann einfach Bestandteil des Behandlungsvertrags sein: dabei kann die Vertragserfüllung im Vordergrund stehen, weniger das Ergebnis. Sie können als Motivierungshilfe Verwen-
1. die Mitgaberegelung ist Aufgabe des behandelnden Arztes, der den Patienten kennt (der vidierende Amtsarzt, oder gegebenenfalls die Fachambulanz, die ursprünglich die Indikation zu Substitution stellte, können zur Beratung beigezogen werden) 2. die Mitgaberegelung ist auf den individuellen Patienten abzustimmen, muss seine soziale Situation (Berufstätigkeit, Wohnsituation, Erziehungsaufgaben, etc.), die psychische Verfassung (Stabilität/Häufigkeit von Krisen, Depressivität, etc.), die körperliche Verfassung (aktuelle Erkrankungen, etc.) und seinen Drogenkonsum (i.v.-Konsum, Häufigkeit von Rückfällen, Beikonsum, etc.) berücksichtigen 3. die Notwendigkeit von Mitgaben soll möglichst nachgewiesen werden (z.B. durch Arbeitsverträge, Stundenpläne von Kursen, u.ä.) 4. die Überlegungen zur getroffenen Entscheidung sind zu dokumentieren 5. sie müssen dem zuständigen Amtsarzt (der für die Vidierung des Dauerrezepts verantwortlich ist) auf dessen Wunsch mitgeteilt werden 6. als praktischer Beweis für Opioidabhängigkeit und Toleranz darf nie ganz auf Einnahmen unter Sicht verzichtet werden (mindestens 1 ×/Woche; z.B. ist samstags die Einnahme unter Sicht auch bei Berufstätigen praktikabel) 7. Risken von Mitgaben sind mit dem Patienten (immer wieder) zu besprechen; besondere Bedeutung hat dabei das Vermeiden von Unfällen mit Kindern.
Abb. 4
Substitutionstherapie
201
Tabelle 4 Substanz
Dauer der Nachweisbarkeit im Harn
Amphetamine Benzodiazepine Kokain (und Metaboliten) Methadon „Opiate“ (Codein, Morphin, Heroin®) Cannabinoide
24–48 Stunden 12 Stunden –7 Tage u. mehr 2–3 Tage 3–9 Tage 1–3 Tage 3 Tage –3 Wochen (testabhängig)
Die Nachweisbarkeitsdauer ist höchst variabel, die obigen Zahlen sind daher nur als grobe Richtwerte zu verstehen: sie sind abhängig vom verwendeten Test, von der Applikationsweise (i.v. < p.o.), von der Flüssigkeitszufuhr → Konzentration des Harns u.a. Nicht nachweisbar mit den üblicherweise verwendeten Routinemethoden sind Buprenorphin, Tramadol, Meprobamat
dung finden: sie können eine Möglichkeit darstellen, Erfolge bzgl. Suchtmittelkarenz „schwarz auf weiß“ sichtbar zu machen. Sie können dem Nachweis der Einnahme des Substitutionsmittels (v.a. bei Methadon) dienen, und damit ein Hinweis auf (weiterhin) bestehende Opioidtoleranz sein. Schließlich können sie auch Kontrollzwecken bzgl. Beikonsum dienen. Zu berücksichtigen ist aber, dass jede Laboruntersuchung zu interpretieren ist: vielerlei absichtlich (von Patienten) herbeigeführte, zufällige (Kreuzreaktion mit anderen Stoffen im Harn, die Einnahme von Hustenmitteln oder Mohnkuchen kann zu pos. Resultaten führen) oder irrtümliche Faktoren können die Ergebnisse der bei Routineuntersuchungen angewandten Methoden verfälschen. Es kommen sowohl falsch-positive wie auch falsch-negative Ergebnisse vor. Ein isoliertes Harnuntersuchungsergebnis sollte daher nie alleinige Grundlage einer wesentlichen Entscheidung, wie Behandlungsabbruch, sein. Die Zeitdauer, in der Substanzen im Harn nachweisbar sind, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab und kann weit variieren (Tabelle 4). Für forensische Zwecke sind Untersuchungen (ev. aus Blutoder Haarproben) in speziellen (gerichtsmedizinischen) Labors erforderlich. Man sollte jedenfalls immer genau überlegen (zunächst für sich, und dies dann auch klar mit dem Patienten besprechen) wozu Drogenharnuntersuchungen dienen sollen, und welche Konsequenzen deren Ergebnisse haben werden. Sie können
auch einfach als Anlass für Gespräche über Rückfälle und Beikonsum dienen. Harnuntersuchungen sind teuer und ersetzen nicht die klinische Abwägung und Beurteilung. Vom Patienten selbst gemachte Angaben über illegalen Konsum sind zuverlässiger und ausführlicher, sofern keine unangenehmen Sanktionen aus diesen Angaben erwachsen. Beikonsum Zusätzlich zu den verschriebenen Substanzen werden sehr häufig phasenweise, nicht selten auch andauernd andere Substanzen eingenommen. Dieser Beikonsum ist (selbst wenn andauernd) allein keine Kontraindikation zur Substitutionsbehandlung; im Gegenteil: wegen der besonderen Risken (z.B. Leberzirrhose bei Alkohol und Opioidabhängigkeit) ist ein medizinisches Behandlungssetting wichtig. Die Beurteilung der Behandlung sollte immer umfassend, unter Berücksichtigung von zumindest vier Ebenen erfolgen: – Änderungen des somatischen Zustandes – Änderungen der psychischen Verfassung – Änderungen der sozialen Situation – Änderungen im Drogenkonsumverhalten Erst wenn auf keiner dieser Ebenen Verbesserungen erreicht werden, muss die Sinnhaftigkeit der Behandlung in Frage gestellt werden (s.u.). Der Beikonsum kann aber, meist pha-
202
senweise, „außer Kontrolle“ geraten, hoch riskant erfolgen und gemeinsam mit dem verordneten Opioid lebensgefährdende Ausmaße annehmen – hier kann und soll der Arzt versuchen, Grenzen zu setzen. In stationären „Teilentzügen“ kann unter Fortsetzung der Opioidmedikation ein Entzug von Benzodiazepinen oder Alkohol erfolgen; bei manchen Patienten sind die Aussichten auf andauerndes Beenden des Beikonsums zwar gering, fast immer ist dadurch jedoch eine deutliche Besserung des Zustandsbildes für immerhin einige Monate erreichbar. Auch bei exzessivem Kokain-Beikonsum kann ein stationärer Aufenthalt zur Durchbrechung von Verhaltensmustern und zur körperlichen und psychischen Erholung sinnvoll sein. Entwöhnung vom Substitutionsmittel Hat sich der Patient über längere Zeit stabilisiert, konsumiert kaum mehr Drogen abgesehen vom Substitutionsmittel und hat auch andere Veränderungen in seinem Leben erreicht, kann ein Reduzierungsplan erstellt werden. Auch hier gilt natürlich: dies hat nur dann Aussicht auf Erfolg wenn Arzt und Patient damit einverstanden sind – ansonsten ist es besser mit der bestehenden, stabilen Dosis fortzufahren. Die Reduktionsschritte sollten klein sein und im Allgemeinen max. 10% der Tagesdosis betragen. Die Reduktion sollte langsam, über mehrere Monate erfolgen. Studien dazu zeigen, dass die Erfolge umso besser sind, je langsamer die Reduktion erfolgt (16) . Häufig ist es von Vorteil gegen Ende der Reduktion auf ein anderes Opioid umzusteigen (z.B. Buprenorphin oder Tramadol). Der Wunsch zur Beendigung der Substitutionsbehandlung kommt oft vom Patienten, und häufig kommt er viel zu früh: weder die inneren, persönlichen noch die äußeren, sozialen Entwicklungen des Patienten sind so weit fortgeschritten, dass eine Überwindung der Abhängigkeit realistisch scheint. Dann sollten seine Motive hinterfragt, seine Zukunftsvorstellungen gemeinsam überlegt und die Einschätzung
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des Arztes taktvoll aber offen mitgeteilt werden. Bleibt der Patient dabei, ist die Behandlung zu beenden – gegen seinen Wunsch ist keine Behandlung möglich. Therapieabbruch Es gibt keine therapeutische Begründung für einen Abbruch der Behandlung gegen den Wunsch des Patienten. Gewalt, Drohungen oder andere schwerwiegende Gründe können jedoch einen Behandlungsabbruch notwendig machen. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass die Handlungen, die den Therapieabbruch erzwingen, dem Arzt oft als Folge einer Krise oder psychischen Krankheit verständlich sind. Es ist auch sicher richtig, dass unfreiwillige Behandlungsabbrüche eine vitale Gefährdung für den Patienten darstellen. Wenn möglich, soll daher – die Behandlung nicht plötzlich abgebrochen werden; die Opioiddosis kann vielleicht langsam gegen Null reduziert werden – die Behandlung anderswo weitergeführt werden – eine andere Sanktionsmaßnahme erwogen werden
Schlussbemerkung Bald 50 Jahre nach den wohl ersten Versuchen mit Methadon in dieser Indikation durch Halliday in Vancouver (Kanada), gilt die Substitutionstherapie als fest etablierte Methode in der Behandlung Drogenabhängiger. Manche politische und manche ideologische Hürde (auch unter Ärzten) ist überwunden, erreichbare Erfolge wurden mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen, das Wissen darüber breitet sich langsam aus. Sie ist aber kein Allheilmittel und hat ihre Grenzen. Diese Grenzen lassen sich in zwei Richtungen erkennen: erstens ändert sich an der Abhängigkeit selbst durch Substitution zunächst nichts und zweitens können auch mit dieser Behandlung längst nicht alle Abhängigen erreicht werden. Die erste Grenze ist eine grundsätzliche, liegt sozusagen in der
Substitutionstherapie
Natur der Sache, und bedeutet keinen Nachteil für die Patienten: die Substitutionsbehandlung darf nur nicht die einzige zugängliche Therapie sein, andere Behandlungsansätze, die an der Abhängigkeit selbst ansetzen, stehen ja zur Verfügung. Die andere Grenze ist problematischer, weil diese Patienten zum Großteil auch von keinem anderen therapeutischen Ansatz erreicht werden. Im Ausland laufen Versuche durch Änderungen in den Modalitäten der Substitutionsbehandlung (Verwendung anderer Substanzen wie z.B. Heroin®, andere Applikationsformen wie inhalieren oder i.v.) diese Grenze zu erweitern. Es bleibt zu hoffen, sollten sich diese Ansätze als erfolgversprechend erweisen, dass bei ihrer Umsetzung nicht allzu große politische und ideologische Hürden zu überwinden sein werden. Man sollte wohl auf keine erfolgversprechende Möglichkeit grundsätzlich verzichten. Wichtig scheint mir nur, dass jede Behandlung (und sei es die Verschreibung „harmloser“ Schlafmittel) gut überlegt und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt erfolgt, wobei dessen Wünsche zu berücksichtigen sind, der Arzt aber auch seinen eigenen, durchaus kritischen Standpunkt einzubringen hat.
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Heroingestützte Behandlung Ambros Uchtenhagen Die Ausgangslage Erste Ansätze einer Verschreibung von Diazetylmorphin (Heroin) an Heroinabhängige gab es im frühen 20. Jahrhundert in USA; sie fielen einem weltanschaulich motivierten Puritanismus zum Opfer, welcher auch den Alkoholproblemen durch Prohibition ein Ende machen wollte (1). Die ärztliche Verschreibung von Heroin wurde hingegen traditionell seit Jahrzehnten in Großbritannien praktiziert. Im Unterschied zu USA und anderen Ländern, wo in der Folge der Haager Konvention von 1912 die ärztliche Verschreibung von Opiaten an Opiatabhängige unterbunden wurde, hat die Englische Gesetzgebung (Dangerous Drugs Act von 1920) eine Verschreibung von Morphium und Heroin durch registrierte Ärzte zugelassen. Das Rolleston Committee hat 1926 präzisiert, dass Heroinabhängige Heroin erhalten dürfen, wenn sie dadurch in der Lage sind ein nützliches Leben (useful life) zu führen. Diese Praxis wurde bis Anfangs der 60er-Jahre ohne größere Probleme geübt und 1961 durch das Brain Committee bestätigt. Dann allerdings stieg die Zahl der Heroinabhängigen stark an, und auch ihr Charakter veränderte sich. Bisher waren es vorwiegend Medizinalpersonen und Schmerzpatienten gewesen, nun begann der Drogenkonsum durch Jugendliche und Randständige. Die Heroinverschreibung hatte neu das Ziel, den Schwarzmarkt einzudämmen, aber ein Teil des verschriebenen Heroins geriet in ebendiesen Markt, da den Patienten Rezepte ausgestellt wurden, die sie in der Apotheke einlösen konnten. In der Folge
wurde 1967 eine Bewilligungspflicht für verschreibende Ärzte eingeführt, und 1968 errichtete das Gesundheitsministerium Spezial-Polikliniken vor allem in London, während Privatärzte praktisch von der Verschreibung ausgeschlossen wurden. Nach 1970 schließlich wurde die Heroinverschreibung zunehmend durch Methadonverschreibungen abgelöst, und Dauerverschreibungen durch zeitlich begrenzte mit dem Ziel der Opiatabstinenz (2, 3). In der Mitte der 80er-Jahre führte die HIV-/Aids-Epidemie zu neuem Überdenken der Substitutionsbehandlungen und ihrer Zielsetzung. Die Verminderung von riskanten Injektionspraktiken mit Spritzentausch wurde zum gesundheitspolitisch vorrangigen Ziel, unter Verzicht auf eine zeitliche Begrenzung der Substitution. In Australien kam es zu ausführlichen Machbarkeitsstudien zu einer heroingestützten Behandlung, die aber aus vorwiegend politischen Gründen nicht zu einem Verschreibungsversuch führten (4). In Großbritannien wurden hingegen Heroinverschreibungen stellenweise wieder eingeführt, z.B. in rauchbarer Form (heroin reefers) zur Vermeidung von Injektionen (5). Im Übrigen Europa führte die HIV-/ Aids-Epidemie zu einer steigenden Akzeptanz und Ausweitung von Substitutionsbehandlungen mit oralem Methadon (6). Für Abhängige, die trotz Methadon weiterhin illegales Heroin spritzten, wurde die Verschreibung von pharmazeutischem Heroin zum Thema. Wissenschaftliche Versuche begannen 1994 in der Schweiz, 1995 in Holland und 2002 in der Bundesrepublik Deutschland, ebenso in Spanien und 2005
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in Kanada. Und in Großbritannien wird ein neues Projekt erwartet, das – im Unterschied zur früher geübten Praxis – wie die anderen wissenschaftlichen Versuche im Rahmen einer umfassenden Behandlung und unter kontrollierten Bedingungen laufen soll. Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie in erster Linie Heroinabhängigen zugute kommen sollen, die erfolglos andere Behandlungen versucht haben. Der aktuelle internationale Stand Bisher hat in zwei Ländern der wissenschaftliche Versuch einer heroingestützten Behandlung zu einer regulären Erhaltungstherapie mit Verschreibung von Heroin geführt: erst in der Schweiz, dann in Holland. In Großbritannien läuft vorderhand die traditionelle Verschreibungspraxis weiter. Großbritannien In Großbritannien waren gemäß einer Umfrage 70 Ärzte berechtigt, Heroin an Abhängige zu verschreiben, und davon machten 46 Ärzte tatsächlich Gebrauch. Eine Bewilligung durch das Home Office erhalten praktisch nur auf Sucht spezialisierte Psychiater in den staatlichen Polikliniken; sie muss alle 3 Jahre erneuert werden. Eine Meldepflicht und eine zentrale Registrierung der Patienten mit Heroinverschreibung gibt es seit 1997 nicht mehr. Richtlinien für die Behandlung gibt es nur summarisch. Wie früher wird ein Rezept ausgestellt und der Patient holt die Ampullen in der Apotheke und spritzt sich zuhause ohne Aufsicht, mit Ausnahme des Behandlungsbeginns. Spritzenmaterial und Behälter für gebrauchte Spritzen werden abgegeben. In der Minderzahl erhalten die Patienten Herointabletten oder Heroinpulver zum Rauchen. Die Dosierung variiert zwischen 5 und 1’500 mg täglich. Es gibt keine verbindlichen Indikationskriterien, aber es gibt kaum Heroinverschreibungen ohne gescheiterte frühere Methadonbehandlungen und eine längere Dauer der Abhängigkeit (2, 7).
A. Uchtenhagen
Methadonverschreibungen machen in Großbritannien ein Vielfaches der Heroinverschreibungen aus (ca. 40’000 gegenüber ca. 448). Je nach Region erhalten zwischen 0% und 4.9% der geschätzten Opiatabhängigen eine Heroinverschreibung. Die Gründe liegen teils in einer ablehnenden Haltung der Ärzte, teils in der seltenen Nachfrage, aber auch in den vergleichsweise hohen Kosten und dem Mangel an Möglichkeiten für überwachte Injektionen (2, 7). Manche Patienten in Methadonbehandlung würden injizierbares Heroin vorziehen (8). Schweiz In der Schweiz gibt es 23 Polikliniken mit total 1389 Behandlungsplätzen für eine heroingestützte Behandlung; davon waren Ende 2004 1273 Plätze besetzt. Diese Polikliniken (eine davon befindet sich in einer Strafanstalt) bedürfen einer speziellen Bewilligung, die mit vielfachen Auflagen zur Betriebsführung, zur Behandlungssicherheit und zur Berichterstattung verbunden ist (9). Nach Ende des wissenschaftlichen Versuchs 1996 wurde aufgrund der positiven Erfahrungen und Resultate entschieden, die heroingestützte Behandlung weiterzuführen. Seit April 1998 konnten neue Patienten aufgenommen werden. Die Behandlung wurde zur Pflichtleistung der Krankenversicherungen erklärt. Die rechtliche Grundlage für die heroingestützte Behandlung bildet eine bis 2009 befristete Verordnung; bis dann bedarf es einer entsprechenden Anpassung des Betäubungsmittelgesetzes. Heroin ist in der injizierbaren Form als Heilmittel für die Behandlung Opiatabhängiger registriert; die Registrierung der oralen Form befindet sich in Vorbereitung. Die Indikationskriterien sind festgelegt mit: Abhängigkeitsdiagnose nach ICD-10, Minimalalter 18 Jahre, minimaler Dauer der Opiatabhängigkeit von 2 Jahren, mindestens 2 erfolglosen Therapieversuchen (drogenfreie Therapie oder Methadonsubstitution), dokumentierten gesundheitlichen und/oder sozialen Problemen im Zu-
Heroingestützte Behandlung
sammenhang mit der Abhängigkeit. De facto stieg das mittlere Alter der eintretenden Patienten innert 10 Jahren von 31 auf 35 Jahre. Die Behandlung versteht sich als eine umfassende Therapie der gesundheitlichen und sozialen Aspekte und ist auf unbestimmte Dauer angelegt (9). Die durchschnittliche Verweildauer im Therapieprogramm beträgt 3 Jahre. Zur Hauptsache wird injizierbares Heroin verschrieben; die Injektionen erfolgen unter Aufsicht in der Poliklinik. Eine Mitgabe spritzbaren Heroins ist untersagt. Eine Kombination mit oralem Methadon oder oralem Heroin (retardierte und nicht retardierte Tabletten) ist möglich und erlaubt den Verzicht auf mehrmaliges tägliches Aufsuchen der Poliklinik; orale Substitutionsmittel können nach einer Stabilisierung des Patienten mitgegeben werden. Die Qualitätssicherung umfasst derzeit unter anderem: – ein umfangreiches Handbuch zur heroingestützten Behandlung (9) – eine Meldestelle für Nebenwirkungen und unerwünschte Ereignisse – eine die Sicherheit überwachende Expertengruppe (safety assurance group) – Weiterbildungen für die Behandlungsteams aufgrund der beobachteten Probleme und neuen Erkenntnissen – einen permanenten Erfahrungsaustausch übers Internet. Niederlande 1995 startete ein randomisierter kontrollierter Versuch mit injizierbarem und inhalierbarem Heroin als Zusatz zu oralem Methadon, im Vergleich zu oralem Methadon allein. Die positiven Erfahrungen veranlassten das niederländische Parlament, 2004 einer Erhöhung der Behandlungsplätze auf 1000 in insgesamt 11–15 Städten zuzustimmen. Trotzdem gibt es derzeit lediglich ca. 300 Plätze in sechs Städten, was mit Auseinandersetzungen über die Finanzierung zusammenhängt. Eine kürzlich erfolgte Einigung soll eine Erhöhung der Zahl an Behandlungsplätzen im nächsten halben Jahr ermöglichen (10).
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Im November 2005 wurde die Registrierung von Heroin als Heilmittel beantragt; ein Entscheid wird für ca. Mitte 2006 erwartet. Neue Patienten können in die bestehenden Behandlungseinrichtungen aufgenommen werden. Die Indikationskriterien sind weitgehend unverändert: von der DSM-IV Diagnose einer Heroinabhängigkeit abgesehen, müssen Patienten im Rahmen einer Methadonbehandlung weiterhin illegal Opiate konsumieren sowie deutliche gesundheitliche und soziale Defizite aufweisen (10). Bundesrepublik Deutschland Die bislang größte randomisierte Studie einer heroingestützten Behandlung für Heroinabhängige wurde 2005 abgeschlossen. Sie richtete sich an Abhängige, die durch andere Behandlungen nicht erreicht wurden sowie an Methadonsubstituierte ohne ausreichenden Behandlungserfolg. Entsprechende Behandlungseinrichtungen wurden in sechs Städten aufgebaut und insgesamt 1’032 Patienten in das Programm aufgenommen. Der wissenschaftliche Schlussbericht wird 2006 zugänglich gemacht. Zunächst kann die Behandlung bis Mitte 2006 weitergeführt werden. Gleichzeitig laufen Bestrebungen, sie in das Regelangebot für schwer kranke Heroinabhängige zu integrieren. Heroin ist zur Registrierung als Heilmittel angemeldet. Die dafür zuständige Bundesärztekammer passt ihre Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger an die Zulassung des Diazetylmorphins als Fertigarznei an. Kanada Das nordamerikanische Forschungsprojekt North American Opiate Medication Initiative NAOMI hat nach einer fünfjährigen Vorbereitungsphase mit der Rekrutierung der ersten Patienten in Vancouver begonnen, nachdem Health Canada und die zuständigen Ethik-Kommissionen dem Projekt zugestimmt haben. Finanziert wird das Projekt durch das Canadian Institute of Health Research. 158 Heroinabängige sollen für 12 Monate Heroin verschrieben er-
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halten. Ob es auch, wie vorgesehen, in Toronto und Montréal zur Umsetzung des Vorhabens kommt, steht noch dahin; insgesamt ist eine Beteiligung von 470 Patienten geplant, die von anderen Behandlungen keine ausreichende Besserung erfahren haben. Patienten, welche Heroin erhalten, sollen nach 12 Monaten auf orales Methadon oder in ein anderes Therapieprogramm wechseln (ähnlich dem holländischen Forschungsdesign), die Kontrollgruppe erhält durchgehend orales Methadon. Die gesamte Versuchsdauer wird auf 2 Jahre veranschlagt (11). Spanien Ein randomisierter kontrollierter Versuch mit der Verschreibung oralen Heroins ist 2005 in Granada angelaufen. Ein weiterer Versuch in Barcelona steht noch in Vorbereitung. Wissenschaftliche Erkenntnisse Neuere systematische Erkenntnisse gibt es derzeit aus der Schweiz und aus den Niederlanden. Schweiz Ein erster wissenschaftlicher Bericht über die Versuchsperiode 1994–1996 erschien in Buchform; er fasste die wichtigsten Ergebnisse zusammen, und er wurde durch eine Reihe weiterer Publikationen ergänzt. Danach waren Rekrutierung, Haltequote und Compliance in der i.v. Heroingruppe besser als in der i.v. Methadon- und der i.v. Morphingruppe. Heroin hatte im Vergleich weniger Nebenwirkungen und deshalb die bessere Akzeptanz. Im Laufe der Behandlung zeigten sich signifikante Besserungen im körperlichen und psychischen Gesundheitszustand der Patienten (n = 1’035). HIVund Hepatitis-Serokonversionen gab es nur wenige in den ersten Behandlungsmonaten. Die wenigen während der Behandlung eingetretenen Schwangerschaften konnten komplikationslos ausgetragen werden (mit Ausnahme eines Spontanaborts während des Heroinentzugs). Ille-
A. Uchtenhagen
galer Heroin- und Kokainkonsum reduzierte sich signifikant, während der Alkohol- und Cannabiskonsum kaum und der Benzodiazepinkonsum nur mäßig beeinflusst wurden. Die Wohnsituation verbesserte und stabilisierte sich rasch, Arbeitslosigkeit reduzierte sich auf die Hälfte. Insbesondere ging der Anteil an Patienten mit illegalem Einkommen von 70% auf 10% zurück. Kein Todesfall durch verschriebenes Heroin wurde registriert (12, 13, 14, 15, 16). Diese Ergebnisse wurden durch ein von der WHO eingesetztes internationales Expertengremium bestätigt; bemängelt wurde allerdings, dass sich aufgrund des Kohortendesigns die spezifische Rolle des Heroins als Substitutionsmittel nicht bestimmen ließ (17). Eine umfassende 6-Jahresverlaufsanalyse aufgrund einer im Jahre 2000 durchgeführten systematischen Nachbefragung (über 80% der ersten Kohorte von 366 Patienten konnten erreicht werden) ergab Folgendes: rund die Hälfte der Ausgetretenen begab sich in eine Anschlussbehandlung. Heroin- und Kokainkonsum blieben hochsignifikant reduziert, bei den Ausgetretenen ebenso wie bei den noch in Behandlung Stehenden. Dasselbe gilt für die Reduktion des Delinquenzverhaltens. Auch die soziale Lage hat sich generell verbessert, unbefriedigend blieb allerdings die Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt (18, 19). Die Mortalität während der Behandlung (einschließlich einen Monat nach Austritt) betrug 1% pro Jahr, deutlich weniger als die Sterblichkeitsraten in anderen Substitutionsprogrammen (20). Weitere Studien konnten belegen, dass sich die positiven Befunde auch bei den 2001–2004 Eingetretenen reproduzieren lassen, dass diese also nicht einen initialen, dem innovativen Ansatz zu verdankenden vorübergehenden Effekt darstellen (21). Niederlande Die oben erwähnten randomisierten Studien (n = 549) ergaben zusammengefasst Folgendes : sowohl injizierbares wie inha-
Heroingestützte Behandlung
lierbares Heroin als Zusatz zu oralem Methadon hatten signifikant höhere Anteile an Erfolgen (Erfolg wurde detailliert definiert und operationalisiert) als orales Methadon allein. Das Absetzen des Heroins nach 12 Monaten führte bei 82% der erfolgreichen Patienten zu einer raschen Verschlechterung (22, 23). Im Unterschied zur Schweizer Studie, die auf Polizeidaten zugreifen konnte, beruhen die holländischen Ergebnisse ausschließlich auf Selbstangaben. Weitere vorwiegend pharmakologische Studien bezogen sich auf die Machbarkeit der Verschreibung und auf die Wirkung von inhalierbarem Heroin (24). Die holländischen Studien sowie eine Schweizer Teil-Studie (13) waren randomisierte kontrollierte Versuche; eine frühere randomisierte Studie stammte aus Großbritannien (25). Eine Meta-Analyse dieser Studien erachtet die Basis für eine abschließende Beurteilung noch als zu schmal (26). Auswirkungen Eine Analyse der möglichen Auswirkungen heroingestützter Behandlung fasst die Argumente, Befunde und Belege zusammen (27). Die Befürchtung, Heroinverschreibung sei nur ein erster Schritt zu einer freien Erhältlichkeit (Legalisierung) von Heroin, wurde in allen beteiligten Ländern geäußert. Die politisch und fachlich Verantwortlichen insistierten deshalb auf der klaren Unterscheidung zwischen einer therapeutisch-gesundheitspolitischen Maßnahme unter kontrollierten Bedingungen einerseits, einer Entkriminalisierung oder Legalisierung des Heroins anderseits. Heroin als verschreibbares Medikament gilt nach wie vor als ein gefährlicher Stoff beim illegalen unkontrollierten Gebrauch, wie dies auch für andere legal verschreibbare Betäubungsmittel gilt. In der Schweiz haben zwei nationale Referenda zur Drogenpolitik gezeigt, dass diese Botschaft auch verstanden wurde (1998 Ablehnung einer Legalisierungsinitiative und 1999 Ablehnung eines Verschreibungsverbots). Seit Einführung der heroingestützten
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Behandlung in der Schweiz ist die Attraktivität des Heroins als Suchtmittel für Neueinsteiger deutlich gesunken, ablesbar an sinkenden Inzidenzschätzungen und an einem kontinuierlich steigenden mittleren Alter der in Therapieeinrichtungen und bei Strafverfolgungsbehörden registrierten Heroinabhängigen. Auch die dokumentierten Todesfälle durch Heroinüberdosierung haben kontinuierlich abgenommen. Gleichzeitig ist hingegen der Konsum an Cannabis und anderen „Freizeitdrogen“ (Ecstasy, Kokain) deutlich angestiegen, wie dies auch in anderen europäischen Ländern ohne Heroinverschreibung der Fall war. Eine Migration Heroinabhängiger in Länder oder Städte, wo heroingestützte Behandlungen angeboten werden, konnte nicht beobachtet werden. Dafür sorgten unter anderem entsprechende administrative Vorschriften zur Domizilierung als Aufnahmekriterium. Die Befürchtung, dass Heroinverschreibung die Patienten auf lange Sicht in ihrer Suchtgewohnheit und wegen der mehrmaligen kontrollierten Einnahme täglich in ihrer Randständigkeit festhalte, hat sich nicht bestätigt. Im Schweizer Versuch betrug die mittlere Verweildauer 3 Jahre, und 60% der Ausgetretenen sind in eine andere Behandlung übergewechselt, davon ein gutes Drittel in eine abstinenzorientierte Behandlung. Dass sich dabei die in der heroingestützten Behandlung eingetretenen Verbesserungen aufrecht erhalten lassen, trotz früherem Scheitern in solchen Behandlungen, zeigt, dass sich eine Weichenstellung im positiven Sinne erreichen ließ. Dies gilt, wie oben erwähnt, auch für Patienten, die ohne Anschlussbehandlung ausgetreten sind. Insbesondere hat sich sowohl in der Schweizer wie in der holländischen Studie die soziale Integration der Patienten verbessert, nicht verschlechtert. Eine Abzweigung verschriebenen Heroins in den illegalen Markt war weder in der Schweiz noch in den Niederlanden zu beobachten; das Verbot der Mitgabe injizierbaren Heroins trug Wesentliches dazu bei. Andere negative Auswirkungen wie
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eine erhöhte Unfallgefährdung im Straßenverkehr unter dem Einfluss von Heroin wurden in der Schweiz durch die Vorschrift, einen vorhandenen Fahrausweis für die Dauer der heroingestützten Behandlung zu deponieren, vermindert; die seit 1997 eingeführte systematische Registrierung unerwünschter Ereignisse hielt 3 Unfallereignisse beim Motorradfahren fest, keiner davon mit tödlichem Ausgang und keiner beim Autofahren. Eine Verdrängung anderer Behandlungsformen durch die heroingestützte Behandlung war aufgrund der begrenzten Teilnehmerzahlen nirgends zu erwarten und sie war auch nicht beabsichtigt. Hingegen zeigte sich in der Schweiz im gleichen Zeitraum seit Einführung der heroingestützten Behandlung eine erhebliche Zunahme der Behandlungsplätze in Methadonbehandlungen und auch in abstinenzorientierten stationären Langzeittherapien. Eine gewisse Überkapazität und ein allgemeiner Trend von stationären zu ambulanten Behandlungsformen haben in letzter Zeit zu einer Reduktion der stationären Angebote geführt, wozu auch ein Wechsel und Unsicherheiten im Finanzierungsmodus beitrugen. Ein Verdrängungseffekt lässt sich eindeutig nicht nachweisen. Positive Auswirkungen auf das Behandlungssystem ergaben sich in der Schweiz durch eine Qualitätsverbesserung der Methadonbehandlungen sowie eine Verbesserung der Behandlungsdokumentation im Suchtbereich allgemein. Ökonomische Analysen beschäftigten sich mit den Kosten und den Einsparungen im Zusammenhang mit der heroingestützten Behandlung. Dass die Kosten höher liegen als diejenigen einer Methadonbehandlung, steht in Zusammenhang damit, dass die Heroinbehandlungsstellen 7 Tage in der Woche sowie an Feiertagen geöffnet sind und damit eine höhere Personalpräsenz verbunden ist. Die Tageskosten sind aber unterhalb derjenigen für eine abstinenzorientierte stationäre Entgiftungsoder Langzeittherapie. Die Kosten-Nutzen-Analyse des Schweizer Versuchs zeigte durchschnittliche tägliche Kosten der
A. Uchtenhagen
heroingestützten Behandlung von CHF 50.63 (ca. € 36,–) im Vergleich zu einem monetären Nutzen von CHF 95,50 (ca. € 68,–). Bei den Kosten dominieren die Personalkosten, beim Nutzen die Verminderung von Kosten der Strafverfolgung und der Spitalsbehandlungen (28). Die Daten des holländischen Versuchs wurden für eine Kosten-Utilitäts-Analyse ausgewertet. In den beiden Heroingruppen wurden Einsparungen von durchschnittlich € 1’793 pro Patientenjahr erzielt sowie zusätzliche 0.058 QUALYs (Quality Adjusted Life Years) (29). Ausblick Die bisher erzielten Ergebnisse mit den randomisierten Studien, der Kohortenstudie und der in der Schweiz etablierten Regelbehandlung weisen alle in dieselbe Richtung: Für Patienten, bei denen konventionelle Behandlungen keine ausreichende Besserung brachten, lassen sich sowohl im gesundheitlichen wie im sozialen Bereich eindeutige Verbesserungen erzielen, die auch nach Austritt aus der heroingestützten Behandlung persistieren. Andere Behandlungen wurden nicht verdrängt, und auch sonst waren bislang keine nachteiligen Auswirkungen festzustellen. Diese Erfahrungen stammen aus Ländern mit einem gut ausgebauten und qualifizierten Behandlungssystem für Heroinabhängige. In einem solchen System kann die heroingestützte Behandlung eine sinnvolle Funktion haben. Ob sich das auf andere Länder mit weniger günstigen Voraussetzungen übertragen lässt, ist daraus nicht ableitbar. Auf jeden Fall leiteten die gründliche Vorbereitung der Projekte und die intensive internationale Forschungszusammenarbeit einen Lernprozess ein, an dem sich Wissenschaft, Politik und Praxis beteiligten. Dieser interaktive Lernprozess beinhaltete ein Überdenken suchtpolitischer und therapeutischer Positionen und schuf neue empirische Grundlagen für eine Anpassung des Behandlungssystems an sich verändernde Bedürfnisse. Er darf in diesem Sinne als ein Modellfall gelten, was
Heroingestützte Behandlung
aber auch bedeutet, dass die gegenwärtige Praxis der heroingestützten Behandlung entwicklungsfähig bleiben muss. Ein Bündel von Anregungen dazu ist kürzlich erschienen (30).
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Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit Felix Tretter Grundlegendes Der Konsum von Opiaten ohne Vorliegen von Schmerzsyndromen scheint aus klinischer Sicht in kurzer Zeit zur Abhängigkeit zu führen. Der akute Effekt der Opiate liegt zunächst in der Analgesie, d.h. die Patienten berichten, dass sie in der Anfangsphase ihrer Abhängigkeitsentwicklung unter Opiaten etwas ruhiger gewesen seien als ohne Opiate, und dass sie die Welt als weniger schmerzhaft erlebt hätten. Daher kann man von einem Effekt der StressReduktion ausgehen. Dieser stimmungshebende und betäubende Effekt ist auch zugleich der Antrieb zur Sucht, d.h. zum wiederholten Konsum der Opiate. Diesem Antrieb, der auch als „Craving“ bezeichnet wird, kann zunehmend weniger Hemmung entgegengesetzt werden – der Konsum tritt somit zwangartig und automatisiert auf. Auch nach einer längeren Abstinenzperiode kann, bei Exposition gegenüber drogenbezogenen Reizen, dieses Verlangen wieder auftreten. Aus neurobiologischer Sicht spricht man in diesem Zusammenhang deshalb auch vom „Suchtgedächtnis“. Diesen Mechanismus kann man sich ähnlich einer Prägung vorstellen (1, 2). Die Neurobiologie der Adaptation des Gehirns an die Opiatzufuhr ist in Hinblick auf das Verständnis der Entzugssymptomatik und ihrer Behandlung wichtig (3, 4, 5).
Neurobiologie Die Opiate binden an Opiatrezeptoren (z.B. My-Rezeptoren), die sich auf den Nervenzellen (Neuronen) befinden. Sie bewirken
auf diese Weise bei der zugehörigen Zelle eine Hemmung der elektrischen Erregungsbereitschaft. Das erfolgt beispielsweise auch bei Neuronen, die über die hemmende Überträgersubstanz (Transmitter) GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) kommunizieren. Diese Zellen hemmen normalerweise nachgeschaltete Zellen, die beispielsweise Dopamin als Transmitter benutzen. Eine derartige Verschaltung befindet sich im Hirnstamm (ventrales tegmentales Areal). Von dort verläuft ein Faserstrang der Dopamin-haltigen Zellen in das Limbische System (Nucleus accumbens), wo bei Aktivierung der Dopamin-Neurone eine Dopaminausschüttung erfolgt (System I in Abb.1). Dies aktiviert offensichtlich weiterführende Schaltkreise, die eine Verstärkerfunktion haben, also Lusterleben erzeugen. Diese Dopaminausschüttung, die vermutlich zu einem Überwiegen des Dopamins im „Konzert der Transmitter“ im Gehirn führt, scheint den Rauschzustand zu prägen. So nimmt man an, dass die Dominanz des Dopamins in diesem System beim akuten Drogenkonsum mit einem Lustzustand einhergeht, der als angenehmes Erleben die emotionale Qualität des Rauschzustands ausmacht. Dieses System wird von psychoaktiven Substanzen wie Kokain, Ecstasy, Amphetaminen direkt aktiviert (6). Opiate und Cannabis (∆-9-Tetrahydrocannabinol, THC) aktivieren dieses System indirekt durch Hemmung der hemmend wirksamen GABA-Nervenzellen im Hirnstamm. Die Dopamin-Nervenzellen werden somit enthemmt und schütten im Nucleus accumbens Dopamin aus. Durch die hochgradige Vernetzung der Nerven-
214
F. Tretter
GROSSHIRN Striatum
II Substanzia nigra
KLEINHIRN
NA
ACH
I Nucleus Accumbens
GABANeurone
Ventrales Tegmentum THC, Opiate
Abb. 1. Systeme der Belohnung und der Sucht, schematisch dargestellt am Rattengehirn (Mediale Ansicht des Längsschnittes; nach 6)
zellen wird auch die Aktivität anderer Systeme, bei denen andere Substanzen als Neurotransmitter fungieren, wie insbesondere das Acetlycholin-System und, als sein Gegenspieler, das Noradrenalin-System beeinflusst. Bei anhaltend wiederholtem Konsum wird die Erwartung und die süchtige Verhaltensprogrammierung aufgebaut, indem das Konsumverhalten automatisiert und als triebartiges Verhalten in der Gehirnregion, in der automatisiertes Verhalten kodiert ist (Striatum und Substanzia nigra), etabliert wird (Abb. 2, hier: System II).
Das Gehirn als „neurochemisches Mobile“ Zur Verdeutlichung der kurzfristigen und langfristigen Drogeneffekte auf Gehirnprozesse kann man sich das Gehirn aus neurochemischer Sicht als ein Gefüge von verschiedenen, in ihrer Aktivität spontan oszillierenden chemischen Teilsysteme vorstellen („neurochemisches Mobile, 7“). Die Teilsysteme sind dabei durch die einzelnen Transmittersubstanzen definiert. Sie sind in einem komplexen Netzwerk miteinander gekoppelt, sodass, wenn ein System durch die Aufnahme einer Droge beeinflusst wird, mit einer gewissen Abschwächung auch die anderen Systeme in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Die Systeme, um die es sich dabei handelt, sind im Wesentlichen Noradrenalin, Acetylcholin, Dopamin, Serotonin, Glutamat und
5-HT
DA
GABA
GLU
Abb. 2. Das „neurochemische Mobile“ der Neurotransmitter im Normalzustand und im Gleichgewicht. Erl.: NA = Noradrenalin, ACH = Acetylcholin, 5-HT = Serotonin, DA = Dopamin, GABA = Gamma-Amino-Buttersäure (hemmende Wirkung auf Neurone), GLU = Glutamat (erregende Wirkung auf Neurone)
GABA. Es sind Systeme, die in der Psychiatrie für das Auftreten von psychopathologischen Störungen verantwortlich gemacht werden (7). Man kann sich dieses „neurochemische Mobile“ in Form eines Waagensystems veranschaulichen (s. Abb. 2 u. Abb. 3). Dieses Waagensystem mit fünf Waagbalken hat sechs Waagschalen. Auf der obersten Ebene stehen sich Noradrenalin und Acetylcholin gegenüber, auf den folgenden Ebenen befinden sich Dopamin und Serotonin und auf der anderen Seite Glutamat und GABA (s. Abb. 2). In diesem Bild pendeln die Waagebalken im Normalzustand leicht um ihre Gleichgewichtslage, bei Einfluss einer Droge kommen sie aber in eine Schieflage. Dies wird hier kurz erläutert.
Neurochemische Konstellation bei akutem Opiatkonsum Die Einnahme von Opiaten, die das Noradrenalin-System hemmen, erzeugt auf Organebene Funktionszustände, die einem Überwiegen des parasympathischen Nervensystems mit Acetylcholin als Transmitter ähnlich sind (cholinerger Zustand) – die Pupillen sind eng (Miosis), der Blutdruck und der Puls sind niedrig (Hypotonie, Bradykardie), die Darmfunktion ist in-
Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit
215
OPIAT-SYSTEM
OPIAT-SYSTEM
Opiate
Opiate
NA
NA
ACH
ACH
Miosis 5-HT
GABA 5-HT
DA
GLU
Euphorie
Abb. 3. Das „neurochemische Mobile“ unter akutem Einfluss von Opiaten. Es tritt eine Hemmung von Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) und Noradrenalin (NA) auf, sodass das gesamte System, was das Aktivierungsniveau betrifft, etwas „heruntergefahren“ wird. Die Spannung und die Aktivierung sinken, das DopaminSystem (DA) bekommt ein stärkeres funktionelles Gewicht (Euphorie) und das AcetylcholinSystem (ACH) entwickelt im Verhältnis zu den anderen Systemen eine leichte Dominanz (Effekt an der Peripherie: z.B. Miosis, Bradykardie, Hypotonie). Erl.: wie Abb. 2
tensiv usw. (s. Abb. 3). Bei hohen Dosierungen kommt es zur Dämpfung des Atemzentrums, dass sogar die Atemtätigkeit erlöschen kann. Das ist auch die eigentliche Todesursache bei überdosiertem Opiatkonsum.
Chronische Effekte bei Opiatkonsum Das Nervensystem passt den neurochemischen Haushalt an die anhaltende Opiatzufuhr an und erhöht die eigene Produktion der verschiedenen Überträgersubstanzen oder erhöht die Anzahl der entsprechenden Rezeptoren oder es verändert sich die Ansprechbarkeit der Signalübertragungsfunktion. Auf diese Weise wird ein neues (pathologisches) chemisches Gleichgewicht hergestellt, das aber auf Veränderungen der Opiatzufuhr empfindlich reagiert (s. Abb. 4). Es tritt somit das Phänomen der Dosissteigerung auf: Im Laufe
DA
GLU GABA
Abb. 4. Bei chronischem Einfluss von Opiaten passt sich die Gehirnchemie immer stärker daran an, sodass sich wieder ein – allerdings pathologisches – Gleichgewicht herstellt.
des chronischen Konsums wird die Dosis gesteigert, beispielsweise von etwa 2 mg Methadondosisäquivalent pro Tag auf etwa 20 mg bis 100 mg, bei Heroin sind es zunächst nur wenige mg Wirkstoff pro Tag bis 100 mg und mehr. Man spricht auch von einem „Point of no return“, an dem sich das Gehirn dann so an das Opiat gewöhnt hat, dass es lebenslang, auch nach langer Abstinenz, sehr rasch bei erneuter Exposition gegenüber Opiaten extrem stark, also in süchtiger Weise reagiert. Man spricht daher auch ganz anschaulich vom „Suchtgedächtnis“, das allmählich etabliert wird (2).
Entzugssyndrom – die Störung des künstlichen Gleichgewichts Wenn sich die Gehirnchemie auf die anhaltende Opiatzufuhr eingestellt hat, treten beim Absetzen oder bei plötzlicher Dosisminderung des Opiats oder bei Verabreichung eines Opiatantagonisten Entzugssymptome auf, die sich gewissermaßen vom Scheitel bis zur Sohle zeigen. Sie wurden in der Ära des „kalten Entzugs“ ohne Gabe von Medikamenten ermittelt: Innere Unruhe, Schlafstörungen, insbesondere Schwitzen am ganzen Körper, MagenDarm-Krämpfe, Muskelschmerzen, Gliederschmerzen, Nierenkoliken usw. vgl. Abb. 5 (s. Tabelle 1). Der gesamte Körper ist, was die Einzelfunktionen der Organe betrifft, in einem gestörten Funktionszu-
216
F. Tretter
bei Opiat-Überdosierung, binnen weniger Minuten auslösen, währenddessen er sonst erst nach mehreren Stunden der Opiatabstinenz auftritt. Allerdings ertragen die Abhängigen dies kaum. Da man auf diese Weise den Entzugszeitraum verkürzen kann, wird dieses Verfahren von einigen Anbietern unter Narkose durchgeführt (antagonisteninduzierter Opiatentzug unter Narkose; 8).
OPIAT-SYSTEM
Opiatantagonist NA
5-HT
ACH
DA
GLU GABA
Abb. 5. Das „neurochemische Mobile“ im Entzug. Durch das Wegfallen des Opiatzuflusses, etwa durch Gabe eines Opiatantagonisten, entsteht eine Schieflage der Waagebalken mit einer (theoretischen) Dominanz des Noradrenalin-Systems (NA) und des GABA-Systems. Es entsteht ein Syndrom mit Unruhe (Noradrenalin-Komponente), aber auch mit Spannungen und vor allem mit Schmerzen und Dysphorie (Schwäche des Dopamin-Systems). Die hypothetisch hohe Aktivität von GABA dämpft in weiten Bereichen die Erregungssymptomatik.
Klinik des Opiatentzugssyndroms Die Vielfalt des Opiatentzugssyndroms spiegelt die vielfältigen Effekte der Akutwirkung (s. Tabelle 1). Am häufigsten wird der Opiathunger beklagt (Abb. 6). Es ist nicht sicher, welches Symptom als besonders schwerwiegend erlebt wird und dazu führt, dass ca. 50% der Patienten im stationären Opiatentzug abbrechen (9). Die Objektivierung der Symptomatik ist schwierig. Es besteht eine Differenz zwischen Selbstbeurteilung und Fremdbeurteilung, insofern dass die Fremdbeurteilung eine Unterschätzung des Entzugsverlaufs darstellt (s. Abb. 7).
stand. Es überwiegt das Noradrenalin-System, das aber vermutlich zentral durch das hoch aktive GABA-System gedämpft wird. Der Opiatentzugszustand lässt sich auch durch Opiatantagonisten, beispielsweise als notfallmedizinische Intervention
Tabelle 1. Schema der akuten Opiatwirkungen und des Entzugssyndroms mit gegensinnigen Symptomen (10) Akute Opiatwirkungen (Acetylcholin dominiert)
Entzugssyndrom (Noradrenalin dominiert)
• • • • • • • • • • • • • •
• • • • • • • • • • • • • •
Atemdepression Analgesie Euphorie Entspannung Schlafinduktion Sedierung Anixiolyse Antiemesis Hypothermie Hypomotorik Miosis Harnretention Darmatonie Unterdrückung exokriner Drüsen (trockene Haut, Nase und Augen) • Zufriedenheit
Hyperventilation, Gähnen Hyperalgesie Dysphorie Innere Unruhe Schlaflosigkeit Hypervigilanz Angst Emesis Frösteln, Fieber, Kältezittern Hypermotorik Mydriasis Harndrang Bauchkrämpfe, Diarrhoe Hyperhidrosis, Rhinorrhoe, Niesen, Tränen • Craving
Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit
217
84,4
OPIATHUNGER RUHELOSIGKEIT
75,6
DYSPHORIE
71,1
MYDRIASIS
71,1
SCHLAFSTÖRUNGEN
64,4
SCHWITZEN
60
GLIEDERSCHMERZEN
57,8
HITZE/KÄLTE
55,6
TREMOR
51,1
NASENLAUFEN
51,1 48,9
ANOREXIE GÄHNEN
44,4
DEPRESSION
44,4
GÄNSEHAUT
40 37,8
SCHÜTTELFROST TRÄNENFLUSS
33,3
MAGENBESCHWERDEN
20 15,6
GEKRÜMMTE HALTUNG BRECHREIZ
13,3
DIARRHOE
13,3
ERBRECHEN
6,7 2,2
FIEBER 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Abb. 6. Häufigkeitsprofil der Symptome beim „kalten“ Entzug von Opiaten mit kurzer Halbwertszeit (nach Keup 1982, aus 4). Dieses Profil zeigt die typischen Opiatentzugssymptome, bei Polytoxikomanie zeigt sich ein anderes Profil (z.B.: Opiate plus Alkohol: Fingertremor, Herzrasen, Bluthochdruck)
Die Schwere des Entzugs wird im wissenschaftlichen Bereich mit Selbstbeurteilungsskalen gemessen, bei denen das gesamte psychische und körperliche Befinden abgefragt und vom Patienten auf einer mehrstufigen Skala beurteilt wird, wie beispielsweise der SOWS nach Gossop oder einer Skala nach Ladewig, die wir bei Bedarf verwenden (4, 11, 12, 13, 14 s. Tabelle 2). Die Erforschung des Opiatentzugssyndroms hat zwischen der Art des Opiats, der Dauer des Konsums, der Höhe der Dosis des letzten Monats usw. und der Schwere und Dauer des Entzugs keinen engen Zusammenhang ergeben. Daher
kann der konkrete Entzugsverlauf zu Beginn nicht so ohne weiteres vorhergesagt werden. Das begründet auch die grundlegende Empfehlung, den Opiatentzug in einer Klinik durchzuführen, vor allem weil das Craving (Opiathunger) den Erfolg des Entzugs gefährdet. Insbesondere die Gliederschmerzen, die innere Unruhe und der Opiathunger machen eine intensive psychische Betreuung im Entzug erforderlich. Bei kurz wirkenden Opiaten (z.B. Codein, Dihydrocodein mit Halbwertzeit von ca. 4 Stunden) dauert der Entzug etwa 4–5 Tage. Bei Methadon mit seiner Halbwertszeit von etwa 24 Stunden – hier ist ein kal-
218
F. Tretter
Summenscore Tabak 65
96
Heroin
60
96
Cannabis
55 50
Codein
45
Benzodiazepine
40
88 83 73
Kokain
35
67
Alkohol
30
50
LSD
25 20
Methadon
15
Stimulanzien
10
49 29 24
and. Opiate
7
5
0
0
20
-5 0
1
2
3
4
Entzugstag X axis title
Abb. 7. Verlauf der Gesamtheit der objektiv erhobenen Symptome (Fremdbeurteilung: gestrichelte Linie) und der Gesamtheit der subjektiv erhobenen Symptome (Selbstbeurteilung: durchgezogene Linie) beim Opiatentzug mit deutlich längerer subjektiver Beeinträchtigung (nach 15; Anm.: Score für Fremdbeurteilung zum Vergleich mit Faktor 10 multipliziert)
ter Entzug (kein gestuftes Herabdosieren) fast unerträglich – dauert der Entzug mit medikamentöser Stützung etwa 3–4 Wochen. Zu erwähnen ist an dieser Stelle allerdings auch, dass etwa 90% der für einen Opiatentzug stationär aufgenommenen Patienten erheblichen Beikonsum von Benzodiazepinen und anderen Substanzen ha-
40
60
80
Abb. 8. Konsumspektrum polytoxikomaner Patienten (inkl. Heroinabhängigkeit) in den letzten 4 Wochen vor Aufnahme zur stationären Entgiftung (nach 9)
ben (9, 13; vgl. Abb. 8). Daher ist in der Praxis der Entzug mit Komplikationen beim gleichzeitigen Entzug dieser Substanzen (z.B. Entzugskrampfanfälle) verbunden.
Praxis der Entzugstherapie Die integrative Entzugsbehandlung („qualifizierter Entzug“) als multidisziplinär fundierter Interventionsansatz besteht aus einem so genannten „biopsychosozialen“ Behandlungsprogramm, bei dem neben den medizinischen Aspekten – Diagnostik und Therapie körperlicher Folgeerkran-
Tabelle 2. Selbstbeurteilungsskalen für Opiatentzugssymptome – SOWS Subjective Opiate Withdrawal Scale (nach 12) 1. Ich fühle mich ängstlich 2. Ich habe anhaltendes Gähnen 3. Ich schwitze 4. Meine Augen tränen 5. Meine Nase läuft 6. Ich habe Gänsehaut 7. Ich habe Schüttelfrost 8. Ich habe Hitzegefühle 9. Ich habe Glieder- und Muskelschmerzen 10. Ich fühle mich unruhig 11. Ich fühle mich schwindlig 12. Ich habe Brechreiz 13. Ich habe Muskelziehen 14. Ich habe Bauchkrämpfe 15. Ich fühle mich, als würde ich gleich hochgehen
100
Prozent
5
01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234 01234
0= trifft nicht zu, 1 = ein wenig, 2 = mäßig, 3 = ziemlich, 4 = sehr stark (Summenscore maximal = 60)
Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit
219
Tabelle 3 Häufige Erkrankungen von Opiatabhängigen – reduzierter Allgemeinzustand – dermatologische Auffälligkeiten insbes. Abszesse – pathologischer Zahnstatus – infektiöse u. parasitäre Erkrankungen (Leber, Lunge, Herz, Knochen) – Geschlechtskrankheiten – HIV-Infektion – Verletzungen durch Traumata – gastrointestinale Störungen – cerebrale Schädigungen – psychiatrische Auffälligkeiten
kungen – und der medikamentösen Therapie (gestuftes Herabdosieren mit Methadon, ggf. gestuftes Herabdosieren von Benzodiazepinen u. dgl.) eine psychologische und sozialpädagogische Intervention erfolgt. Grundlegend ist die ausführliche körperliche, psychiatrische und apparative Untersuchung. Wichtig ist auch die Suchtanamnese, die den Beginn, die Intensität und Frequenz des Konsums der verschiedenen Substanzen biographiebezogen erfasst. Das Drogenscreening mit Urinabgabe unter Sicht vervollständigt die Diagnostik (4, 14). Die Diagnostik und Behandlung der Begleiterkrankungen während des stationären Entzugs ist ein besonders wichtiges Anliegen, ja sie ist auch die Voraussetzung für die sich im Idealfall anschließende stationäre Entwöhnungsbehandlung (s. Tabelle 3). Ziel der Entzugsbehandlung ist das komplikationslose Absetzen der Opiate und des Beikonsums (ggf. auch nur des Beikonsums) und der Aufbau einer Veränderungsmotivation, insbesondere die Motivierung zu einer Entwöhnungstherapie. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der Begriff Beikonsum zwar kategorisch richtig ist, es liegt aber in den meisten Fällen eine Abhängigkeit von den jeweiligen Substanzen vor. Es gibt folgende Entzugsstrategien: – Der „kalte Entzug“, also der Entzug ohne psychoaktiv wirksame Medikamente zur Milderung der Entzugssymptome (und insbesondere ohne Opiate), wie er
noch zur Zeit von Kolb u. Himmelsbach (4) den Begründern der Opiatentzugsforschung, z.T. in Gefängnissen durchgeführt und dokumentiert wurde. Er wird heute nur noch auf ausdrücklichen Wunsch der Patienten durchgeführt oder bei leichten Verläufen. Die Symptomminderung wird durch psychologische Führung bewirkt, die einfach als „Talk-down“-Methode bezeichnet wird. Diese Technik ist in der Regel nur bei Entzügen, die wenige Tage dauern, praktikabel. Folgende Medikamente werden gegeben (4): Antidiarrhoe-Mittel sind Kohle (z.B. Kohlekompretten 3–5 × 2 ) oder Loperamid initial 2 Kps, dann 1 Kps nach jedem ungeformten Stuhl (4–6 Kps/d), Bauchkoliken können mit einer Wärmeflasche und evtl. mit N-Butyl-Scopolamin kurzzeitig behandelt werden. Muskel- und Gelenkschmerzen sprechen auf antirheumatische Salben u. dgl. gut an. Auch Magnesium-Präparate helfen hier. Bei Unruhe werden bis zu etwa 150 mg Perazin gegeben. Diese Mittel werden auch zur Unterstützung des warmen Entzugs verwandt. – Der medikamentös gestützte Entzug ohne Opiate mit „nicht-homologen“ psychoaktiven Medikamenten ohne primäres Suchtpotenzial wird mit Medikamenten wie vor allem Clonidin (z.B. bis zu 0,600 mg/d; Cave: Herz-/Kreislaufverhältnisse), ferner wie Doxepin (z.B. 75 mg/d) oder Mirtazapin (15–30 mg) bei Schlafstörungen, Perazin bei Unruhe
220
F. Tretter
Tabelle 4. Beispiel für eine stationäre Herabdosierung mit initial 40 mg Methadon (10 mg = 1 ml Methadon Lsg. 1%) 1. Tag: 2. Tag: 3. Tag: 4. Tag: 5. Tag: 6. Tag: 7. Tag: 8. Tag: 9. Tag: 10. Tag: 11. Tag: 12. Tag: 13. Tag: 14. Tag:
30 mg–10 mg–0 mg 35 mg–0 mg–0 mg 30 mg–0 mg–0 mg 25 mg–0 mg–0 mg 20 mg–0 mg–0 mg 15 mg–0 mg–0 mg 10 mg–0 mg–0 mg 5 mg–0 mg–0 mg 5 mg–0 mg–0 mg 2,5 mg–0 mg–0 mg 2,5 mg–0 mg–0 mg 1 mg–0 mg–0 mg 1 mg–0 mg–0 mg 0 mg–0 mg–0 mg
und psychischer Labilität (z.B. 50 mg/d), oder Carbamazepin zur Beruhigung und zur Entzugskrampf-Prophylaxe (z.B. 600 mg/d) durchgeführt. Sie dienen als Ergänzung beim „homologen“ (s.u.) Entzug (vgl. 13). Diese Entzugsstrategie wird oft ebenfalls als „kalter Entzug“ bezeichnet. – Der opiatgestützte („homologe“) Entzug ist vor allem bei Opiatabhängigen, die längere Zeit mit Methadon substituiert waren, unersetzlich. Es handelt sich dabei um das gestufte Herabdosieren von Methadon (z.B. „linear“ von ca. 60 mg in 5-mg-Schritten innerhalb von 2 Wochen). Dabei wird im Einvernehmen mit Summenscore 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 0
5
10
15
20
25
30
Tag des Entzugs
Abb. 9. Entzugsverlauf bei Heroinabhängigkeit bei rascher (Punkte) und bei langsamer (Quadrate) Herabdosierung mit Methadon (11). Die Fläche unter der Kurve ist näherungsweise gleich
dem Patienten von der Ausgangsdosis Methadon im „Blindflug“, also „verdeckt“ (ohne Angabe über die Dosis) für den Patienten, in 5-mg-Schritten bis etwa 5 mg und dann ggf. in 1-mg-Schritten oder mit Reduktionspausen die Dosis reduziert (s. Tabelle 4). Methadon wird in Fruchtsaft aufgelöst verabreicht, der auch – um psychogene Entzugssymptome zu reduzieren – noch einige Tage ohne Methadon weiter gegeben wird. Es ergibt sich eine Zeitdauer von etwa 3–4 Wochen bis der Entzug beendet ist (s. Abb. 9). Dieses Verfahren hat sich inzwischen als guter klinischer Standard etabliert (4, 11, 13). – Die Ohrakupunktur ist sehr beliebt (s. Abb. 10). Die wissenschaftliche Basis dafür ist aber im Sinne von randomisierten, kontrollierten Studien nicht gegeben. – Der antagonisteninduzierte Opiatentzug unter Narkose (kurz: „Narkoseentzug“, „Turboentzug“) wurde von der Wiener Forschergruppe um Loimer, Presslich und Lenz entwickelt (8, 16, 17). Er fand unter Praxisbedingungen Anwendung (8, 16, 18). Hierbei werden etwa 50–100 mg Naltrexon/d unter einer etwa 5-stündiger Narkose zu Beginn des Entzugs verabreicht. Unter diesen Bedingungen tritt auch bei Methadon-Substituierten ein Entzugssyndrom auf, dessen Summenscore sich schon nach etwa
Entzugstherapie der Opiatabhängigkeit
221 Summenscore
Shen-men (”Tor der Götter“)
Vegetativum 1
Narkose 50
Niere
45 40
Leber
35
Lunge (Areal)
30 25 20 15
Abb. 10. Punkte für die Aurikulo-Akupunktur im Entzug
10 5 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Entzugstag
4 bis 7 Tagen, in anderen Studien nach etwa 10 Tagen auf das Normalniveau zurückgebildet hat (Abb. 11). Dieses Entzugsverfahren ist unserer Auffassung nach im Hinblick auf die Risiko-NutzenKonstellation nur für Patienten indiziert, die sich in der Methadonsubstitution befinden, die keinen Beigebrauch von Alkohol oder Benzodiazepinen haben, körperlich stabil sind und ein klares Konzept der Nachbehandlung aufweisen (19). Die Indikation sollte streng gestellt werden, um die medizinischen Komplikationen möglichst gering zu halten. Als Anschlussbehandlung bietet sich Naltrexon als Opiatrezeptorenblocker an, der bereits als Depotpräparat zur Verfügung steht. – Seit Anfang 2000 ist in Deutschland Buprenorphin zur Behandlung Drogenabhängiger, vor allem zur Substitutionsbehandlung, zugelassen. Beim Entzug zeigen sich durch gestuftes Herabdosieren von einer Ausgangsdosis von ca. 8 mg verhältnismäßig milde Verläufe (4). Hinreichend lange durchgeführte Entzugsbeschreibungen, die diesen Eindruck absichern, fehlen jedoch immer noch. Der polyvalente Konsum, also der multiple Substanzkonsum, bereitet in der Entzugsbehandlung zunehmend mehr Probleme. Es handelt sich dabei vor allem um Cannabis, Kokain, Benzodiazepine und Alkohol. Die Konsequenz für die Entzugsstrategie besteht darin, dass auch Benzodiazepine gestuft herabdosiert werden und bei Alkoholbelastung Clomethiazol verabreicht wird, eine Substanz mit Suchtpoten-
Abb. 11. Verlauf des Summenscores beim antagonisteninduzierten Opiatentzug unter Narkose (n = 19)
zial, die von Heroinabhängigen übrigens selten missbraucht wird (19).
Versorgung und Verläufe Die Entzugsbehandlung ist eingebettet in die vorgeschaltete Beratung und Substitutionstherapie und in die nachgeordnete Entwöhnungsbehandlung. Beratungsstellen bereiten die Patienten für die Entzüge vor. Überweisungen zum Entzug sind auch durch den Hausarzt möglich, ebenso wie auch eigenes Anmelden durch den Patienten akzeptiert wird. Wegen des Organisationsaufwandes von stationären Aufnahmen müssen Kliniken im Regelfall ein gewisses Minimum an Therapiemotivation voraussetzen und somit ist eine Wartezeit erforderlich – wer intoxikiert einen Entzug wünscht, ist nach Ausnüchterung oft dazu nicht mehr bereit. Die Wartezeiten in gut versorgten Regionen betragen in Deutschland etwa 1–2 Wochen und sind kaum zu unterschreiten (außer bei Notfällen). Während der Wartezeit muss sich der Patient täglich melden. Er kann so u.U. auch rascher aufgenommen werden. Für rasche Vermittlungen gibt es in München und anderen Städten die Einrichtung „Therapie sofort“. Kostenträger für die Entzugsbehandlung ist in Deutschland die Krankenkasse. Der Behandlungsprozess bei Opiatabhängigen, von der Beratung auf der Dro-
222
genszene über die Substitution und über den Entzug bis zur Entwöhnung, erstreckt sich über mehrere Jahre. In der Region München mit etwa 2 Mio Einwohnern stehen für den Drogenentzug etwa 70 Betten zur Verfügung. Es werden für MünchenStadt (1,2 Mio. Einw.) etwa 4000 Opiatabhängige geschätzt, mit etwa 1600 Klienten, die sich in der Substitutionsbehandlung befinden (20). In unserer Klinik mit 32 Betten für den qualifizierten Opiatentzug werden jährlich etwa 800 Patienten entzogen. Das Ziel der Beendigung des Entzugs erreichen nur etwa 50%. Das deckt sich mit den meisten Studien dazu (9, 13, 17). Die Weiterverlegung in eine Entwöhnungstherapie erfolgt bei etwa 60%. In etwa 20% der Fälle erfolgt ein Beigebrauchsentzug, währenddem die Substitutionsbehandlung weitergeführt wird.
Folgerungen Die Wahl der individuellen speziellen Strategie der Entzugsbehandlung bei Opiatabhängigen muss differenziert und immer auf die regional vorhandenen Versorgungsstrukturen bezogen erfolgen. Minimale Invasion ist Leitgedanke der Indikation. Technisch beeindruckende Verfahren wie der Opiatantagonisten-induzierte Entzug unter Narkose bleibt bei medizinisch verantwortungsbewusster Indikation nur einer Minderheit von wenigen Prozent monovalent konsumierenden Patienten pro Region vorbehalten. Ein großer Teil der Opiatabhängigen mit Abstinenzabsichten kann im Rahmen von Methadonprogrammen über mehrere Monate hinweg ambulant entzogen werden. Dabei wird Buprenorphin als Substitutionsmittel immer beliebter. Es wird allerdings bereits am Drogenmarkt gehandelt. Nur die hohe Zahl der mit Methadon Substituierten erschwert wegen der Eigenschaft als partieller Antagonist Entzugssymptome provozieren zu können und damit verbundenen Umstellungsproblemen den breiten Einsatz von Buprenorphin in der Entzugsbehandlung.
F. Tretter
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Begleitende psychosoziale Unterstützung in der Substitutionsbehandlung Ralf Gerlach, Heino Stöver Einleitung Substitutionstherapien für Opiatabhängige sind gesundheitsstabilisierende und lebenserhaltende Behandlungsmöglichkeiten und bieten die Chance, den Betroffenen einen Weg aus dem Szeneleben zu eröffnen, sie sozial zu (re-)integrieren, psychisch und physisch zu stabilisieren und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen (1). Jedoch befinden sich substituierte Menschen häufig, insbesondere in der Anfangsphase der Behandlung, in prekären Lebenssituationen. Im Verlauf der individuellen Drogenkonsumgeschichte sind oftmals – meist in Folge der Substanzenillegalität und damit verbunden der Kriminalisierung – die soziale und gesundheitliche Verelendung sowie vielfältige psychosoziale Problemlagen weit vorangeschritten. Auch im Prozess der sozialen und gesundheitlichen Stabilisierung aufgrund der Substitution kann es immer wieder zu Konflikten, Rückfällen und massiven Krisen kommen, z.B. durch Krankheitsausbruch oder Nebeneffekte weiterführender Behandlungen (z.B. HIV-/AIDSund Hepatitistherapie). Die pharmakologischen Wirkungen von Substitutionsmitteln verhindern eine Entzugssymptomatik und ermöglichen somit auch eine Distanzierung von der Drogenszene. Insofern können auch Angebote zur gesundheitlichen und psychosozialen Stabilisierung wahr- und angenommen werden (2). Substitutionstherapien umfassen daher idealerweise neben der medizinischen Komponente auch das Angebot einer breiten Palette an psychosozialen Un-
terstützungsmaßnahmen durch den nichtmedizinischen Teil des Drogenhilfesystems, wobei in zahlreichen Fällen die psychosoziale Unterstützung/Betreuung der Substitutionstherapie sogar voraus geht bzw. überhaupt erst im Wunsch nach Substitution resultiert (3).
Zur Begrifflichkeit In Wissenschaft und Praxis sind eine Reihe von Begrifflichkeiten entwickelt worden, um psycho-soziale Unterstützung von Menschen in Substitutionsbehandlungen zu charakterisieren. Wenn wir in der Folge von psycho-sozialer Unterstützung allgemein statt von ‚PSB‘ (psycho-sozialer ‚Begleitung‘, ‚Beratung’, ‚Betreuung‘, ‚Behandlung‘ u.v.m.) sprechen, dann geschieht dies aus dem Grund, dass die begriffliche Unschärfe aufgelöst werden soll in einem allgemeinen Konzept „psycho-sozialer Unterstützung für Substituierte“. Denn: Beratung bezieht sich meist auf einmalige oder zeitlich kurz befristete, thematisch eingegrenzte Kontakte (Kurzkontakte), Begleitung findet in der Regel unter offenen, nicht streng verbindlichen Rahmenbedingungen sowohl kurz-, mittel- und längerfristig statt, und Betreuung/Begleitbetreuung sowie Behandlung vollziehen sich mittel- bis langfristig als zeit- und arbeitsintensive Maßnahmen in verbindlich reglementierten Settings, wobei Behandlung nur von Angehörigen der Heilberufe, etwa Ärzten oder Psychotherapeuten, geleistet werden darf.
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Psychosoziale Unterstützung Unabhängig von (inter-)disziplinären, arbeitsfeld- und zielgruppenspezifischen Rahmenbedingungen steht im Zielfokus von Maßnahmen psychosozialer Unterstützung die Förderung/Ermöglichung eines menschenwürdigen, selbstständigen Lebens unter psychosozialer und gesundheitlicher Stabilisierung. Psychosoziale Unterstützungsmaßnahmen für Opiatabhängige sind eine sozialarbeiterische/-pädagogische Basisleistung innerhalb der Drogenhilfe. Sie sind scharf zu trennen von medizinisch, psychiatrisch und psychotherapeutisch notwendigen Behandlungen, die dem Zuständigkeitsbereich der entsprechenden Professionen zugeordnet werden müssen. Das Spektrum an möglichen Hilfeleistungen ist in Bezug auf Teilnehmer und Nicht-Teilnehmer an Substitutionstherapien nahezu identisch. Dies wird anhand des Folgenden, sich an der aktuellen Forschungslage und Praxisumsetzung orientierenden Kataloges an psychosozialen Hilfemöglichkeiten für Substitutionspatienten deutlich: Aktivierung/Förderung von Selbsthilfepotenzialen/-ressourcen (Coping-Strategien und Stärkung der Handlungsautonomie) im Sinne von Empowerment, Sicherung finanzieller (Basis)Versorgung (Schuldnerberatung, Abklärung sozialrechtlicher Möglichkeiten: Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe, Wohngeld, Krankenkassenleistungen inkl. Krankengeld, Rentengelder bei Erwerbsunfähigkeit, Lebensunterhalt bei Pflegebedürftigkeit), Klärung juristischer Situationen (z.B. offene Strafverfahren, drohende Inhaftierung, Fragen zu Führerschein und Fahrerlaubnis) und Entwicklung von Haftvermeidungsstrategien, Hilfe bei Arbeitsplatz- und Wohnraumbeschaffung (inkl. betreute Wohnformen), Unterstützung bei der Aufnahme schulischer und beruflicher Qualifizierungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, Tagesstrukturierung/Freizeitgestaltung, Beratung bei geplanten Inlands- und Auslandsreisen, Ausstiegshilfen (z.B. Reduzierung, Eigenkontrolle oder Aufgabe von
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„Beikonsum“), Vermittlung in stationäre (Beigebrauchs-)Entgiftung, Psychotherapie oder stationäre Abstinenztherapien, Beratung bei Partnerproblemen, SaferUse-, Safer-Sex-, Safer-Work- und Ernährungsberatung, Beratung hinsichtlich Kindererziehung und -betreuung, (therapeutische) Gruppenarbeit oder Krisenintervention in psychisch belastenden Lebenssituationen/-phasen (4). Die hier dokumentierte Vielfalt an möglichem Unterstützungsbedarf bedingt, dass Drogenhilfeeinrichtungen neben konkret eigenleistbaren Beratungs-, Begleit- oder Betreuungsaktivitäten auch einzelfallbezogen Koordinierungsleistungen im Sinne von Case Management erbringen müssen (5). Dabei werden die Angebotsnutzer entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und ihres individuellen, entwicklungsangemessenen Hilfebedarfs mit verfügbaren Hilferessourcen im (Regel-)Versorgungssystem zusammengeführt. In diesem Kontext muss betont werden, dass sowohl Einzelfallhilfe als auch Koordinierungstätigkeiten ein Abbild originärer Aufgaben und Angebote der Sozialarbeit/-pädagogik sind, die auch außerhalb der Substitution tagtäglich geleistet und von der Drogenhilfe zur Verfügung gestellt werden (müssen).
Positive und negative Effekte psychosozialer Unterstützung Nach aktuellem Forschungsstand zur Behandlung der Opiatabhängigkeit gibt es im Langzeitverlauf über 10 bis 20 Jahre keine hinreichenden Belege dafür, dass sich die Abstinenzrate durch therapeutische Maßnahmen gleich welcher Art wesentlich beeinflussen lässt (6). Zu der Fragestellung, inwieweit psychosoziale Interventionsformen einen Beitrag zur Forcierung von Ausstiegsprozessen in Richtung Abstinenz (inkl. von Substitutionsmedikamenten) leisten können, liegen noch keine fundierten Erkenntnisse vor. Überhaupt ist bisher nur spärlich erforscht worden, welchen Einfluss psycho-
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soziale Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen professioneller Hilfe auf den Behandlungsverlauf von Patienten in Substitutionsbehandlungen ausüben können. Dieses Forschungsdesiderat lässt sich darauf zurückführen, dass sich die Durchführung differenzierter Wirkungsanalysen auf Grund der Schwierigkeit der Trennung von Einflüssen psychosozialer Intervention von anderen konkurrierenden Wirkfaktoren als problematisch erweist, denn es ist nicht einmal bekannt, welche Komponenten überhaupt als Wirkfaktoren in Betracht gezogen werden können (7, 8). Unstrittig ist unter Forschern und Praktikern, dass psychosoziale Angebote eine sinnvolle Ergänzung des medizinischen Teils der Behandlung sein und sich positiv auf individuelle Behandlungsverläufe und soziale Integrationsprozesse auswirken können, insbesondere im Hinblick auf Retentionsraten, Überlebenssicherung, Reduzierung des Beigebrauchs, psychosoziale Stabilisierung und Steigerung der Lebensqualität. Die Normalisierung der Lebensbedingungen von Substitutionspatienten sollte daher im Zentrum psychosozialer Unterstützung angesiedelt sein. Eine – wie etwa in Deutschland kassenarztrechtlich verankerte – verpflichtende Teilnahme aller Patienten an psychosozialen Begleitmaßnahmen bedingt keine günstigeren Behandlungsresultate als freiwillige, eigenmotiviert initiierte Unterstützungsnutzung. Sie resultiert zudem in einer Verringerung der Haltekraft (9, 10). Darüber hinaus ist belegt, dass nicht alle Patienten generell psychosozialer Unterstützung bedürfen (3, 5, 9, 11). Zwangs- und Kontrollbedingungen (etwa „client controlling“ unter zielforcierter, zeitfenster-definierter Veränderungsintervention) prägen die Behandlungsstruktur und -kultur entscheidend mit. Unter dem Druck auf die Patienten, entweder an vorgeschriebenen Maßnahmen teilzunehmen oder von der Substitutionsbehandlung ausgeschlossen zu werden, lässt sich ein offener, kooperativer (moderierender) Unterstützungsprozess zur Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen, zur Selbstbemäch-
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tigung und Bemündigung (Empowerment) im Rahmen eines notwendigen Vertrauensverhältnisses zwischen professionell Agierenden und Patienten (gleichberechtigter Dialog) nur schwer etablieren. Neben Verweigerungs- oder purem Anpassungsverhalten wäre ein mögliches kontraproduktives Szenario, dass Hilfe statt in einer Initialisierung von Prozessen zur Normalisierung des Lebens von Substituierten in einem die Patienten entmündigenden und sie entmutigenden Normierungsdruck im Sinne sozialer Erwünschtheit mündet (2, 4). Ein Zuviel an sozialarbeiterischer/-pädagogischer Unterstützung im Sinne von Overprotection und Helfersyndrom („Beschützermentalität“), etwa hervorgerufen durch die Einstellung, die Betroffenen seien z.B. auf Grund ihrer Drogenabhängigkeit und damit assoziierten Störungsdefiziten (psychiatrische Komorbidität) stark eingeschränkt belastbar, kann die Entwicklung (oder Aufrechterhaltung) von eigenverantwortlichem und unabhängigem, mündigem Handeln (Empowerment) durchaus hemmen bzw. auch vollkommen blockieren. Aber selbst im Falle deutlich reduzierter Belastbarkeit müssen Eigenverantwortlichkeiten im Stabilisierungsprozess berücksichtigt und gefördert werden (12).
Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen In den einzelnen Ländern Europas besitzen psycho-soziale Unterstützungen als Teil der Substitutionsbehandlung unterschiedlichen Stellenwert. Während in Deutschland ein Junktim („Eine ärztlich kontrollierte Substitutionsbehandlung nur, wenn gleichzeitig eine psycho-soziale Betreuung stattfindet“) auch rechtlich verankert wurde [Betäubungsmittelverschreibungs-Verordnung (BtMVV), die Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK) zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und die BUB-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen
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(4)], ist dies in anderen Ländern nicht der Fall (z.B. Österreich). Darin spiegelt sich einerseits eine unterschiedliche Bedeutungszumessung, andererseits aber auch eine unterschiedliche Auffassung von Freiwilligkeit und Zwang in der Annahme von entsprechenden psycho-sozialen Unterstützungsangeboten wider. Während bspw. in Deutschland eine rechtliche Forderung nach ‚psycho-sozialer Betreuung‘ erhoben und zur Bedingung einer Substitutionsbehandlung gemacht wird, bleiben Widersprüchlichkeiten, was Recht und Finanzierung anbetrifft. Bei einer Privatliquidation ist ‚lediglich‘ der behandelnde Arzt für die Ermittlung des erforderlichen Bedarfs an „PSB“ zuständig, während bei einer krankenkassenfinanzierten Behandlung gemäß BUB-Richtlinien dieser Bedarf von einer psychosozialen Drogenberatungsstelle festgestellt und schriftlich bescheinigt werden muss. Der Arzt muss diese Bescheinigung seiner Dokumentation beifügen. Eine Kostenübernahme für die Substitutionsbehandlung erfolgt aber auch dann, wenn eine Beratungsstelle bescheinigt, dass kein Bedarf an psychosozialer Unterstützung besteht. Obwohl in den BÄK- und BUB-Richtlinien eine Teilnahme von Substitutionspatienten an „PSB“ quasi gefordert wird, übernimmt die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) deren Finanzierung ausdrücklich nicht. Dies scheint der zentrale Widerspruch zu sein, der die Kommunen und Bundesländer in unterschiedliche Finanzierungsmodelle zwängt. Es bestehen dabei eher ‚dynamische‘ und eher ‚statische‘ Modelle. Im dynamischen Finanzierungsmodell wächst die Zahl der ‚psycho-sozialen Betreuer‘ mit der Zahl der Substituierten, weil fall-/stundenweise abgerechnet wird. Im statischen Modell hingegen wird einmalig eine psycho-soziale Unterstützungs-Infrastruktur aufgebaut, deren Erweiterung nicht notwendigerweise an die erhöhten Zahlen von Substituierten gekoppelt sein muss, sondern durchaus Finanz-/Sparzwängen der Kommune Rechnung trägt. In Ländern, in denen Substitutionspa-
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tienten lediglich eine Teilnahme an psycho-sozialer Unterstützung empfohlen wird, besteht nicht notwendigerweise ein Parallelaufbau einer Infrastruktur für nur dieses Klientel in den Drogenberatungseinrichtungen. In diesem Modell ist die zu gewährende Unterstützung eher ein Teil des gesamten Hilfespektrums geworden, da sich die Hilfebedarfe für substituierte Drogengebraucher nur partiell von denen nicht-substituierter unterscheiden. Die „Verrechtlichung“ der psycho-sozialen Betreuung (bei gleichzeitiger NichtFinanzierung durch die GKV) in Deutschland hat dazu geführt, dass Ärzte meist aus Angst vor möglichen straf- und kassenarztrechtlichen Sanktionen sowie Nicht-Honorierung der Substitutionsbehandlung durch Kassenärztliche Vereinigungen keine ‚Ausnahmen von der Regel‘ gewähren, denn der behandelnde Arzt ist für alle die Substitution betreffenden Maßnahmen (inkl. „PSB“) verantwortlich, und nur er allein trägt ein juristisches und existenzielles Risiko. Auch einige aktuelle Leitlinien oder regional entwickelte Qualitätsstandards zur Durchführung von „PSB“ im Rahmen der Drogenhilfe suggerieren eine generelle Betreuungsnotwendigkeit (13, 14). Auch wenn weder die gesetzlichen noch kassenrechtlichen Vorschriften so starr zu interpretieren sind, als dass „PSB“ generell für jeden Substitutionspatienten durchgeführt werden muss, ist die „fordernde“ Formulierung im Recht allerdings abschreckend und ‚angstauslösend‘ genug. Möglicherweise liegen hier Gründe für begrenzte Zugänge zur Substitutionsbehandlung. Aber auch die Drogenberater verstehen‚ psycho-soziale Begleitung/Betreuung‘ als ein ‚Muss‘ der Substitutionsbehandlung und plädieren für die Beibehaltung des Junktims. Und dies, obwohl nach nationalem und internationalem Kenntnisstand nicht alle Patienten per se psycho-soziale Unterstützung benötigen: „The evidence we have reviewed … shows that there are patients who need more assistance than others to get their lives in order, and coun-
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selling should be made available to them. On the other hand, it is hard to see why stabilised patients with no major life problems should need (or be required to routinely see) a counsellor at all“ (9).
Empfehlungen für die Praxis (Idealtypische) Vier-Phasen- (1. Eingangsoder Kontaktphase; 2. Orientierungsphase; 3. Haupt- oder Stabilisierungsphase; 4. Ablösungs- oder Nachbetreuungsphase) (7) oder Drei-Phasen-Modelle (1. Klärungsphase; 2. Behandlungs- und Betreuungsphase; 3. Abschlussphase) (14) und daran orientierte Praxiskonzeptionen zur psychosozialen Begleitung suggerieren die Möglichkeit der Vorabdefinition eines quasi gesetzmäßigen, stufenweisen „Heilungsprozesses“ innerhalb einer definierten bzw. limitierten Zeitschiene, doch verkennen sie die Prozesshaftigkeit und Variabilität drogaler Entwicklungsverläufe – Drogengebrauch ist nicht durch lineare, sondern äußerst heterogene, differente drogale und biografische Entwicklungsverläufe in unterschiedlichen sozio-kulturellen Settings gekennzeichnet. Der Ausstieg aus kompulsivem Drogengebrauch und medikamentengestützter Behandlung (Substitution) stellt einen zeitintensiven und dynamischen Prozess dar, dessen Verlaufsrichtung, -intensität und „Ende“ offen sind. Ausstiegs- und Veränderungsprozesse sind trotz aufgebotener sozialarbeiterischer/pädagogischer Methodenvielfalt zur Veränderungsmotivation, der Ausarbeitung von Betreuungs-, Begleit- oder Hilfeplänen mit detaillierter Aufstellung von Zielhierarchien unter Definition von Primär-, Grob-, Teil- und Fernzielen sowie Gesprächsfrequenzen und -inhalten nicht planbar: Denn der Gebrauch und Missbrauch von (illegalisierten) Substanzen wird von Subjekten praktiziert. Der subjektive ‚Faktor Mensch’ ist jedoch nicht quantifizier- und berechenbar oder durch stufenbezogene Ablaufmuster (Stadien der Verhaltensänderung bis zur evtl. Abstinenz) standardisierbar. Menschen sind keine programmiergerecht funktionierenden
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Automaten (15). Diese kritische Haltung bedeutet natürlich nicht, dass nicht im Dialog zwischen Substituiertem und Hilfeleistendem Hilfepläne mit realistisch zu erreichenden Teilzielen erarbeitet werden sollten. Im Gegenteil: Hilfepläne können eine notwendige Visualisierung und Orientierung im Prozess der (Wieder-)Aneignung von Kontrolle und gesellschaftlicher Teilhabe darstellen. Die Zielorientierung psychosozialer Unterstützung und Betreuung kann aber nicht ein vorab phasenspezifisch definierter Interims- oder Endzustand sein, den es zu erreichen gilt (soziale Integration, berufliche Rehabilitation, psychische Stabilität, Absetzung des Substitutionsmittels, Abstinenz), sondern aus der Entwicklungsdynamik des Drogengebrauchsverhaltens begründete, selbst gestaltete Sicherung eines möglichst gesunden Überlebens, die selbsteingeleitete Ermöglichung längerer Drogenkontrollphasen, gesundheitliche und psychosoziale Stabilisierung bis hin zur (möglichen) selbsttätigen Herauslösung aus (ausschließlich) drogenbezogener (substitutiver) Lebensführung. Es verlangt von den professionellen Akteuren den Mut, subjektive (psychosoziale) Entwicklungsverläufe nicht übermäßig zu kontrollieren, sondern sie zuzulassen, beginnen zu lassen – auch mit dem Risiko des jederzeit möglichen Scheiterns (Reflexions- und Veränderungsfähigkeit im Falle sog. „Therapieresistenz“). D.h. es gilt, sich auch (methodenungebunden) auf zeitintensive Prozesse einzulassen, deren Ende (immer) ungewiss ist. Durch die moderierende, gemeinsame Gestaltung eines „offenen“ Handlungsrahmens werden Substituierte nicht mehr als passiv der (jeweiligen) Abhängigkeit ausgeliefert, sondern als Menschen, die aktiv ihr Verhalten und Handeln steuern und auch verändern können.
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Psychotherapeutische Aspekte Alfred Springer Im österreichischen Erlass zur Oralen Substitutionsbehandlung von Suchtkranken wird der Standpunkt vertreten, dass für den Behandlungserfolg dieser Methode zusätzliche Betreuungsmaßnahmen außerordentlich wichtig seien. Die alleinige Abgabe des Substitutionsmittels genüge in der Regel nicht, um die bei Drogenabhängigkeit meist vorhandene Persönlichkeitsstörung zu beeinflussen. Psychische Stabilität und soziale Reintegration seien daher in der Regel auch von der Qualität der begleitenden Betreuungsmaßnahmen abhängig. Zu diesen wieder zählen laut SMG § 11 Abs. 2 Z 3–5 auch psychotherapeutische Interventionen. Mit dieser Formulierung bezog die Gesundheitsbehörde eine eindeutige Position hinsichtlich der Interpretation der Ätiologie süchtigen Verhaltens: Sucht muss als komplexes Geschehen verstanden werden, als Ausdruck bestimmter psychosozialer Defizite. Eine diesem komplexen Charakter der Sucht adäquate Behandlung muss daher sowohl somatische (im Sinne der pharmakologischen Substitution) wie auch psychosoziale Interventionen umfassen. Diese Interpretation lässt die Auffassung zu, dass eine differenzierte Diagnostik es ermöglichen müsste, dass im Einzelfall erkannt wird, ob jeweils mehr somatische oder psychosoziale ätiologische Bedingungen vorliegen. Daraus wieder würde resultieren, dass für ein relevantes Segment der suchtkranken Population die psychosoziale Behandlung in fallgerechter Gestalt den „Königsweg“ darstellt. Substitutionsbehandlung und abstinenzorien-
tierte Therapiezugänge würden einander nicht ausschließen, sondern jeweils ihren Stellenwert für differente Klientele besitzen. Im Erlass wird in dieser Hinsicht der Auffassung Ausdruck verliehen, dass die Kombination somatischer und psychosozialer Interventionstechniken im Regelfall günstige Auswirkungen zeitigen würde. In Anbetracht unseres Wissens um die Suchtphänomene scheint diese Annahme plausibel. Es ist jedoch leider festzustellen, dass sie, anders als bezüglich der Bedeutung sozialer und rehabilitativer Hilfestellungen, hinsichtlich des Stellenwertes der Kombination von Substitution und Psychotherapie kaum auf Evidenz beruht. Zur Problematik der Effizienz dieser TherapieKombination liegen nur wenige aussagekräftige kontrollierte Studien vor. Die Annahme besteht, sie wird unter Umständen auch benutzt, wenn es gilt, die Wirksamkeit bestimmter Substitutionsmethoden anzuzweifeln (geschehen etwa in der Kritik der WHO am Schweizer Heroinprojekt), sie wurde und wird aber nicht ausreichend strukturiert mit den Methoden der Psychotherapieforschung untersucht. Analysen der Häufigkeit der psychosozialen Betreuung bei Substitutionsbehandlung lassen keine Schlüsse darauf zu, ob im allgemeinen psychosozialen Angebot auch qualifizierte psychotherapeutische Angebote eingeschlossen sind. Prinzipiell besteht in der Suchtkrankenbetreuung ein recht sorgloser Umgang mit den Definitionen der Interventionen. Oftmals werden beraterische und erzieherische Maßnahmen als „Psychotherapie“ bezeichnet.
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Die theoretische Kontroverse um die Substitution Von den Anfängen der opiatgestützten Behandlung Opiatabhängiger an, wurde häufig ein zunächst logisch wirkender Einwand gegen die offizielle und medizinisch legale Versorgung suchtkranker Personen mit sogenannten Ersatzdrogen vorgebracht. Vertreter der abstinenzorientierten Behandlung befürchteten, dass derartige Maßnahmen bei entsprechend breit gestreutem Einsatz jede andere Art der Betreuung, insbesondere aber psycho-/soziotherapeutische Ansätze und damit jede „wirkliche Therapie“, wie gerne von den Verfechtern drogenfreier Programme formuliert wird, verdrängen würden. Diese Kontroverse, die bis heute besteht und sich bisweilen in spektakulären Formulierungen äußert (z.B. „Methadon – der Kältetod des drogenpolitischen Gewissens“ [1]), baute darauf auf, dass die ersten Veröffentlichungen von Dole und Nyswander über die Ergebnisse von Methadonprogrammen einen Paradigmenwandel einzuleiten schienen (2, 3). Diese Autoren verstanden die Opiatabhängigkeit als Stoffwechselerkrankung und stellten der konservativen und geläufigen Interpretation, dass Sucht prinzipiell eine Art geistig-seelischer Störung repräsentiere, entgegen, dass die regelmäßig durchgeführte psychiatrische Untersuchung ihrer Patienten keinen Hinweis erbringen konnte, dass der bei den Klienten erhobene psychische Zustand die Durchführung einer regulären Psychotherapie rechtfertigen würde. In paradigmatischer Weise haben schon frühzeitig Lennard und seine Mitarbeiter auf diese damals revolutionär erscheinende Auffassung reagiert (4). Ihr Aufsatz, „Methadon-Illusion“ wurde bald in die deutsche Sprache übersetzt und beeinflusste die Auseinandersetzung um diese Problemstellung, wie sie im deutschsprachigen Raum geführt wurde, in entscheidender Weise. Waren ihm doch alle wesentlichen Kritikpunkte und drogenpolitischen Argumente zu entnehmen, die von den Kritikern der Methadon-Substituie-
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rung zur Verteidigung der konservativen psychiatrisch – psychotherapeutischen Position ins Treffen geführt wurden. Er repräsentiert daher bis heute ein geeignetes Medium, die Grundzüge und den einstellungsmäßigen Hintergrund dieser Art Kritik zu explizieren.
Die „Methadon-Illusion“ und die erste Generation der Substitutionsbehandlung Heute lässt die kritische Lektüre früher substitutionskritischer Texte von Lennard und Ma. (5), Schneider, Thommen (7) und Heckmann (6) erkennen und explizieren, dass die Kritik an Methadon-Programmen, bzw. die tiefe Skepsis, mit der dieser Methode von bestimmter Seite auch heute noch begegnet wird, nur zum geringen Teil auf einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Effekt der Substanz auf das Individuum und ihren tatsächlichen pharmakologischen Eigenschaften beruht, sondern vielmehr als Teil einer umfassenden Kritik an gesellschaftlichen oder kulturellen Prozessen sowie an bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen, Institutionen und Professionen zu verstehen ist. Es tut Not, diesen Sachverhalt einmal herauszustreichen. Dann wird nämlich klar, dass Behandlung im Sinne der zitierten Autoren eigentlich nicht dem erkrankten Individuum in seiner Besonderheit zuteil wird, dementsprechend auch nicht auf dessen individuelle Bedürfnislage abgestimmt werden kann. Vielmehr wird die Behandlung des Einzelnen zur Metapher für die Behandlung der Gesellschaft, sie soll helfen, einen unerwünschten gesellschaftlichen Zustand zu verhindern oder zu beseitigen. Lennard (5) und seine Mitarbeiter stellten die Tendenz zu Methadonprogrammen in einen weiten gesellschaftlichen Kontext. Diese Programme seien Teil einer zunehmenden „Innenwelt-Verschmutzung“ als Folge des allgemein üblichen Konsums psychoaktiver Substanzen. Die sozialen, psychologischen und menschlichen Konse-
Psychotherapeutische Aspekte
quenzen dieser Entwicklung beträfen alle, nicht nur die Drogensüchtigen als das „unglückliche Endprodukt“ dieses Prozesses. Der Beschluss, Methadon auf breiter Basis anzuwenden, fördere die Bereitschaft ganz generell, Drogen zur Lösung persönlicher und sozialer Probleme einzusetzen. Dadurch werde die Regulation sozialer Störfelder durch den Einsatz psychoaktiver Substanzen quasi legitimiert, wodurch wieder soziale Missstände perpetuiert würden. Die Autoren zitierten den großen schwarzen Schriftsteller James Baldwin, wenn auch ohne Quellenangabe: dieser habe einmal gesagt, nur die Kombination von Jesus und Joints habe Harlem so viele Jahre hindurch ruhig gehalten. Methadon schenke die Illusion, eine Lösung des Heroinproblems darzustellen und sei daher politisch im Sinne von populistischen Gesundheitsprogrammen nutzbar. Da es als billigstes und wirksamstes Mittel für Süchtige angepriesen und allmählich auch akzeptiert werde, sei die Methadon-Behandlung auf dem besten Wege, allen anderen therapeutischen Methoden den Rang abzulaufen. Dadurch – und das ist wohl der Kern der Lennardschen Kritik – zerstöre die Methadon-Lösung alle Bemühungen, die Hoffnung auf die Droge durch Vertrauen in den Menschen und in eine lebendigere Neuordnung des sozialen Zusammenlebens zu ersetzen. Thommen (6) wiederum schien die breitgestreute Versorgung Suchtkranker mit Methadon ein drogenpolitisch gefährliches Mittel: „Die Abgabe von Methadon an Heroin-Konsumenten von Staates wegen ist ein weiterer Schritt in der Resignation vor der wachsenden Suchtproblematik und eine offizielle Rechtfertigung des Drogeneinsatzes zur Regelung von Störungen im sozialen Leben.“ Damit erweise sich die Methadon-Lösung als besondere Form der repressiven Toleranz. Michaela Schneider (5) stellte ihrerseits in einem Aufsatz, ihre Problematisierung der Methadon-Behandlung in den Dienst der damals aktuellen Tendenz der Kritik an ärztlichem Handeln und der naturwissenschaftlichen Ausrichtung der medizini-
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schen Wissenschaft. Für sie waren Arzt und Drogenkranker – trotz ihres unterschiedlichen gesellschaftlichen Status – Exponenten einer Gesellschaft, die Drogen in zunehmendem Maß akzeptiert. Dass Ärzte dazu neigen, Methadon einzusetzen und als mögliche Lösung des Drogenproblems ihrer Patienten anzusehen, verstand sie als Folge davon, dass die Ärzte allgemein über Methadon und die Methadon-Behandlung unzureichend informiert sind, dass sie einem zu engen, naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff unterliegen und dass sie mit der Verabreichung dieser Substanz ihrem Anspruch nach Omnipotenz frönen. Durch die Abgabe von Methadon durch den Arzt werde das Rollenverhältnis Arzt/ Patient klar strukturiert, der Therapeut lasse es nicht nur zu, dass sein Patient vom verordneten Mittel abhängig werde, sondern leite gleichzeitig noch einen weiteren Abhängigkeitsprozess, nämlich den von seiner Person, die allein über den Stoff verfügen dürfe, ein. Schließlich verkörpere die Methadonabgabe für den Arzt ein hervorragendes Alibi: er könne das Gefühl entwickeln und sich darin sonnen, etwas, vielleicht sogar das Richtige, im Kampf gegen die Suchtkrankheit leisten zu können.
Die Möglichkeiten der kombinierten Behandlung Die Kritiker der Substitution wollten auch einer eventuellen Kombination von Methadon-Abgabe und psychotherapeutischer Betreuung keinen Raum geben. Ausführlich äußerte sich Thommen zu dieser Fragestellung und führte dabei vor allem pharmakologische Bedenken ins Treffen: „Methadon beeinflusst – wie die anderen Opiate – das Wahrnehmungsvermögen, es dämpft die Gefühle und engt damit die Möglichkeiten menschlicher Erfahrung und Entfaltung ein. Therapeutische Arbeit setzt aber ein volles Bewusstsein, die uneingeschränkte Wahrnehmung der Realität und der eigenen Reaktionen darauf voraus. Der teilweise Erfolg von MethadonBehandlungen hinsichtlich der persönli-
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chen Stabilisierung hängt vermutlich gerade mit der bewirkten Abstumpfung zusammen, die es dem Patienten erlaubt, Lebensumstände hinzunehmen, die er ursprünglich nicht akzeptieren konnte oder wollte.“ Es ist ein bemerkenswertes Faktum und recht typisch für die Kompetenzprobleme im Umgang mit den Suchtphänomenen, dass der Jurist Thommen derartige Reflexionen über psychotherapeutische Grundprobleme und die komplizierte Interaktion zwischen psychotherapeutischer und medikamentöser Einflussnahme anstellte und sich offenkundig sowohl in Psychotherapie wie auch Psychopharmakologie kompetent genug fühlte, die Möglichkeit, Drogensubstitution und Psychotherapie zum kombinierten Einsatz zu bringen, zu verwerfen, während hingegen profilierte psychotherapeutische Autoren, insbesondere solche, die sich mit Problemstellungen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie und der Psychologie des Narzissmus auseinander setzten und über reale Erfahrung in der Therapie Drogenabhängiger verfügten, zu den Vorkämpfern dieser Kombinationsbehandlungen zählten. Khantzian hatte zu dieser Problematik bereits 1977 Maßgebliches zu sagen gewusst (8): „... Kurz gesagt: unsere hauptsächlichen Verbündeten für Intervention und Behandlung sind immer noch die traditionellen Institutionen (Gericht, Gefängnis, Krankenhaus), Drogensubstitution (Methadon, andere psychoaktive Substanzen), und menschliche Beziehungen ... Obwohl wir und andere fortgeschrittene spezifische Hypothesen darüber entwickelt haben, auf welcher psychischen und physischen Basis Methadonprogramme wirksam werden, glaube ich, dass eine der hauptsächlichen Wohltaten der MethadonUnterstützung darin zu finden ist, dass sie eine generelle innere Kontrolle und eine innere Stützfunktion aufbaut, die dann eine andere Art menschlicher Intervention möglich macht. Methadon und in ähnlicher Art andere psychotrope Substanzen haben einen generellen Wert als Krücken und fungieren als gutartige chemische Substitute für die Substanzen, die sonst von un-
A. Springer
seren Suchtkranken benutzt werden ... Letztlich scheinen einige kurze Betrachtungen über den Gebrauch psychoaktiver Substanzen angebracht. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass in gewissem Sinn und in gewissem Ausmaß Süchtige wussten, was gut für sie ist. Hätten sie nicht Selbstmedikation betrieben, hätten sie eventuell nicht so lange gelebt, oder nicht so gut gelebt oder überhaupt nicht überlebt, wie sie letztlich doch taten. Es ist nun überraschend zu beobachten, dass in den meisten Drogenbehandlungsprogrammen psychoaktive Substanzen entweder prinzipiell verdammt oder gar nicht in Betracht gezogen werden. Ich glaube, dass es heroisch und unrealistisch ist, zu glauben, dass wir den enormen psychischen Schaden und die psychische Behinderung unter der Suchtkranke leiden, ausschließlich durch unsere psychotherapeutischen Bemühungen umkehren oder gar zur Lösung bringen können. Wir sollten imstande sein, den Gebrauch von psychotropen Substanzen als Unterstützung psychotherapeutischer Bemühungen oder auch als primäre Behandlung flexibel zu gestalten, wobei wir uns von der Einschätzung des Ausmaßes und der Art der Behinderung des Süchtigen leiten lassen sollten sowie von einer präzisen Identifikation der Zielsymptome und der affektiven Situation des Patienten ...“ In ganz ähnlicher Weise äußerten sich 1984 im Rahmen des Internationalen Symposiums „Suchtmodelle und „Behandlungsstrategien“ in Baden/Wien der Schweizer Psychiater Fuchs und der ebenfalls aus der Schweiz stammende amerikanische Psychoanalytiker Wurmser (9), die beide ihre Einstellung aus langjährigen Erfahrungen in der Arbeit mit Drogenabhängigen ableiten. Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass an der Entwicklung und Etablierung derart diskrepanter Standpunkte, wie sie in diesem Text bisher dargestellt wurden, zwei Einstellungsdimensionen entscheidend beteiligt sind: a) Das Verständnis der Suchtkrankheit; das jeweils akzeptierte Suchtmodell.
Psychotherapeutische Aspekte
b) Das Selbstverständnis des Therapeuten von seiner Aufgabe und seiner Funktion im Umgang mit den Problemen der Suchtkrankheit. Ad a) Wenn von „drogenfreier Therapie“ gesprochen wird, werden darunter im Allgemeinen die Experimente mit therapeutischen Gemeinschaften, Wohngemeinschaften etc. verstanden. Diesen Ansätzen ist zu eigen, dass sie auf dem Verständnis aufbauen, Süchtige seien nicht im strengen Sinn „krank“, sondern Opfer von Sozialisierungsdefekten; sie hätten keine Gelegenheit gehabt, adäquate Verhaltensmuster zu erwerben. Aus diesem Zugang ergibt sich für die Behandlung dieses Klientel als Methode der Wahl eine Art forcierten sozialen Lernens, eine Umerziehung, wie den Selbsterfahrungsberichten zu entnehmen ist, mit denen ich mich an anderer Stelle genauer auseinandergesetzt habe (Heckmann,1980; Springer,1984). Die Abstinenzforderung im Raum der ambulanten Therapie stützt sich auf vergleichbare Vorstellungen. Dazu kontrastiert das Verständnis bestimmter tiefenpsychologisch orientierter Autoren, dass süchtigem Verhalten Signalcharakter für tieferliegende und erhebliche psychische Störungen zukomme (Khantzian (8); Wurmser (9); als Überblicksreferat Springer (10). Aus diesem Verständniszwiespalt resultiert der für die therapeutische Praxis relevante Umstand, dass die Proponenten der Abstinenzforderung Drogengebrauch als ausschließlich hinderlich und antiemanzipatorisch einschätzen, während bestimmte Vertreter der tiefenpsychologischen Schule dem Drogengebrauch in bestimmten Fällen einen positiven, stabilisierenden Wert zuschreiben, indem sie annehmen, dass die Droge helfe, die psychische Ökonomie in einem, wenn auch fragilen, Gleichgewicht zu erhalten. Diese Autoren akzeptieren konsequenterweise, dass bestimmte Suchtkranke sich nicht spontan von ihrem drogensuchenden Verhalten distanzieren können, da sie als Folge der erzwungenen Abstinenz völlig hilflos den
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von außen, vor allem aber von innen andrängenden Reizen ausgeliefert wären. Interpretationen, wie die oben zitierte Aussage von Thommen, dass der Gebrauch von Methadon den psychotherapeutischen Zugang zum Patienten erschwere, da der Patient der Psychotherapie bei vollem Bewusstsein und uneingeschränkter Wahrnehmung der Realität und der eigenen Reaktionen darauf in Therapie stehen sollte, sind von diesem Verständnis her nicht gerade einsichtig. Ist doch das geläufige Klientel der Psychotherapie – Neurotiker, Borderline-Fälle, Psychotiker – gerade durch seinen prekären und fragilen Bezug zur Realität charakterisiert und zählt der Mensch, der für Thommen die Grundbedingungen für Psychotherapie erfüllt, demnach mit Sicherheit nicht zu den Patienten dieser Disziplin. Ad b) Ein wesentlicher Unterschied, im Zugang zum Patienten und damit auch in der Definition der therapeutisch wirksamen Mechanismen, der zwischen den Verfechtern des Prinzips der therapeutischen Gemeinschaften und den mehr oder minder tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapeuten besteht, ist Art und Ausmaß der direkten Beeinflussung und der Vorgabe von scharf umrissenen Zielvorstellungen. Wer immer sich in einer therapeutischen Wohngemeinschaft behandeln lassen möchte, muss die von außen an ihn herangebrachten Ziele akzeptieren und die Regeln, die ihm für die Erreichung dieses Zieles vorgegeben werden, befolgen. Der Therapeut weiß in gewissem Sinn immer besser, was für den Klienten gut ist, als dieser selbst. Dieser muss sich in einem mühsamen Prozess mit diesen Zielvorstellungen identifizieren, wobei die Methoden, die diesen Identifizierungsprozess begleiten und fördern sollen, nicht immer sanft erscheinen (vgl. Bossong et al (11). In ähnlichere Weise entwickelt sich das Therapeut-Patient-Verhätnis in ambulanten Abstinenzbehandlungen. Im Idealfall folgt hingegen der tiefenpsychologisch orientierte Therapeut den Vorstellungen, die Freud bereits 1912 in
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seinen „Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“ niedergelegt hat, indem er schrieb: „Aber auch hierbei sollte der Arzt sich in der Gewalt haben und weniger die eigenen Wünsche als die Eignung des Analysierten zur Richtschnur nehmen ... Drängt man sie übermäßig zur Sublimierung und schneidet ihnen die nächsten und bequemsten Triebbefriedigungen ab, so macht man ihnen das Leben meist noch schwieriger, als sie es ohnehin empfinden. Als Arzt muss man vor allem tolerant sein gegen die Schwäche des Kranken, muss sich bescheiden, auch einem nicht Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genussfähigkeit wiedergewonnen zu haben. Der erzieherische Ehrgeiz ist so wenig zweckmäßig wie der therapeutische ...“ Die vorhin zitierte Auffassung von Khantzian steht im Einklang mit diesen Freudschen Forderungen, die wieder Ausfluss der medizinischen Interpretation und der ärztlichen Haltung zum Patienten sind. Die allgemeine ärztliche Erfahrung bringt es mit sich, dass man lernt vor Symptomen zu „kapitulieren“, Symptombehandlung zu tolerieren, Defektheilungen in Kauf zu nehmen, kurz gesagt, keine Wunder wirken zu können.
Kombination von pharmakologischer Unterstützung und Sozio-/Psychotherapie Die Notwendigkeit, einen Patienten in ein pharmakologisches Unterstützungsprogramm einzuschleusen, sollte sich einerseits aus seiner Suchtkarriere, aber auch aufgrund einer exakten Persönlichkeitsdiagnostik ergeben. Wohl jeder, der in der Behandlung Suchtkranker Erfahrungen sammeln konnte, wird zur Erkenntnis gekommen sein, dass es keine allgemeingültige Behandlung gibt und dass es süchtige Individuen gibt, die aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht in der Lage sind, das übliche drogenfreie Therapieangebot anzunehmen. Sie sind nicht imstande, in einer Gruppe zu leben, die sich stark an vorge-
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gebenen Normen orientiert, halten die Konfrontation mit der Gruppe in der therapeutischen Gemeinschaft nicht aus. Besonders die Zürcher Proponenten der Suchtkrankenbehandlung (Fuchs, Zimmer) vertraten in der Frühzeit der Substitutionsbehandlung den Standpunkt, dass dieses Segment der abhängigen Klientel in den Genuss einer Drogensubstitution kommen solle. Und sei es auch nur als überbrückende Maßnahme, die die Grundlage für eine psychotherapeutische Begegnungsmöglichkeit bieten soll, indem das betreffende Individuum darin gefördert wird, seinen Defekt so weit zu korrigieren, dass es den Anforderungen einer drogenfreien Therapie besser gewachsen ist. Sicherlich ist an dieses Klientel in erster Hinsicht zu denken, möchte man die Indikation zur Drogensubstitution abgrenzen. Diese Persönlichkeitsdimension scheint ebenso bedeutsam, wenn nicht bedeutsamer, wie andere übliche Kriterien für die Zulassung zu derartigen Behandlungsprogrammen. Ein bestimmter Anteil von Suchtkranken, denen durch ein pharmakologisches Unterstützungsprogramm die Möglichkeit geboten wird, sich aus ihrer Randständigkeit zu lösen und die Sucht „legal“ innerhalb der Gemeinschaft zu leben, kann mit dieser Maßnahme das Auslangen finden, wird keiner weiteren eingreifenden psychotherapeutischen Interventionen bedürfen und/oder nicht nach ihnen verlangen. Dieses Segment entspricht jener Klientel, die ursprünglich von Dole und Nyswander unter Berücksichtigung strenger Selektions- und Zulassungskriterien erfasst wurde. Bei breitem Einsatz der Substitution allerdings ist anzunehmen, dass der größere Anteil der auf diese Weise versorgten Patienten sich auch nach der Umstellung auf eine verschreibbare Substanz äußeren und inneren Problemen ausgesetzt fühlt, die es notwendig machen, dass ihm soziotherapeutische und/oder psychotherapeutische Möglichkeiten offen stehen. Wünschenswert wäre, dass der paradox erscheinende Zustand eintritt, dass eine breit angebo-
Psychotherapeutische Aspekte
tene Substitution es ermöglicht, dass mehr Suchtkranke als bisher psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Sowohl die differenzierte Darstellung der spezifischen Problemstellungen, wie sie Suchtkranken in Methadonprogrammen erwachsen können wie auch eine entsprechend differenzierte Auflistung der psychotherapeutischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten erfordert den Entwurf einer Typologie. Diese umfasst die in der Folge genauer beschriebenen Typen der Opiatabhängigkeit. Typ 1: Suchtkranke, die bereits über einen längeren Zeitraum hinweg sozial und psychisch desintegriert gelebt haben und denen es trotz Substitution schwer fällt, nunmehr im Mainstream der Gesellschaft Fuß zu fassen, die Beschulungsmängel aufweisen, prinzipiell im sozialen Bereich Defekte aufweisen. Therapie: Wie bei der stationären Behandlung geht es in diesen Fällen darum, einen sozialen Lernprozess einzuleiten und Hilfestellungen in Richtung soziale Integration anzubieten. Es ist also notwendig, soziotherapeutische Methoden anzuwenden, bei der Sanierung der Lebensverhältnisse zu helfen, eventuell ein lerntheoretisch fundiertes Programm festgesetzter Ziele und Lernschritte einzusetzen. Diese Methode bewährt sich nach P. M. Miller (1980) besonders gut (13). Typ 2: Suchtkranke, die abgesehen von der Drogenaffinität keine merkbaren psychopathologischen Züge aufweisen und deren psychosoziale Desintegration und Depravation im Sinne von Zinberg (1975) als sekundäre Bildung, als Folge der gesellschaftlichen Stigmatisierung aufzufassen ist (14). Therapie: Substitution, sozialtherapeutische Hilfestellungen, Psychotherapie, die es ermöglicht, die Spannungen und antisozialen Tendenzen, die sich entwickelt haben, zu bearbeiten und abzubauen. Typ 3: Suchtkranke, deren Drogenmissbrauch sekundär auf einer anderen psychi-
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schen Erkrankung aufgepfropft ist, oder bei denen andere komorbide Verhältnisse vorliegen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang an die Beziehungen zwischen den manisch-depressiven Formenkreis und der Opiatabhängigkeit zu denken. Therapie: Es wird zwar in diesen Fällen zumeist der Versuch gemacht werden, die Patienten auf ein gängiges Antidepressivum einzustellen, es ist aber zu erwarten, dass die Compliance in der Einnahme dieser Substanzen schlecht sein wird und die Patienten versuchen werden, die gewohnte, als antidepressiv erlebte Wirkung der Opiate zu erleben. Auch in diesen Fällen ist zu überlegen, ob es nicht vernünftiger ist, diesem Wunsch nachzugeben, die einmal gefundene Selbstmedikation zu legitimieren, um die Entstehung einer Mischabhängigkeit oder zumindest des eher wahllosen Kombinierens verordneter Psychopharmaka und auf dem Schwarzmarkt erworbener Narkotika hintanzuhalten. Typ 4: Suchtkranke, die auf die Substitutionsbehandlung mit der Entwicklung ausgeprägter depressiver Verstimmungszustände reagieren. Aus der Literatur ist bekannt, dass ein bestimmter Anteil der Patienten auf die Methadon-Substitution depressiv reagiert, obwohl die entsprechenden Patienten diese Art der Behandlung zunächst angestrebt hatten. Was auch immer dieser Reaktion zugrunde liegt, ob es sich um eine „Entlastungsdespression“ handelt, um eine depressive Verstimmung als Folge eines Sinnverlustes und des Verlustes der gewohnten sozialen Umwelt oder um eine Destabilisierung des Ich, die durch die Zerstörung der Externalisierung bewirkt wurde; es ist klar, dass diese Personen neben der pharmakologischen Substitution einer eingehenden psychotherapeutischen Betreuung bedürfen. Typ 5: Suchtkranke, deren Sucht Ausdruck einer tiefen Störung der Entwicklung des Ich und seiner Funktionen ist. In diesen Fällen birgt forcierte Abstinenz ein hohes Risiko paradoxer Auswirkungen in sich: die Destabilisierung bereits abgelaufener
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Schritte in der Entwicklung des Ich und der Libido. Therapie: Drogensubstitution und intensive Psychotherapie. Eventuell der kombinierte Einsatz mehrerer therapeutischer Methoden im Sinne von Wurmser und Khantzian (vgl. 10). Typ 6: Es ist möglich, dass auch gut eingestellte Substituierte in Krisen ihrer legalen Sucht“ geraten, zur extremen Dosissteigerung zu tendieren beginnen, andere psychotrope Stoffe zusätzlich konsumieren. Therapie: Krisenintervention, analog der Behandlung des „Rückfalls“ bei Alkoholkranken, Detoxifikation. Dieser Versuch einer Typologie der Möglichkeiten der Kombination zwischen pharmakologischer Unterstützung und anderen therapeutischen Maßnahmen, einschließlich psychotherapeutischer Intervention, zeigt wohl deutlich genug, dass die medikamentöse Unterstützung allein nach allem, was man bisher an Erfahrungen sammeln konnte, nur in einer begrenzten Population Suchtkranker als ausreichende Behandlungsmethode angesehen werden kann, während das Gros der als Substituierte nunmehr legal Süchtigen auch weiterhin anderer therapeutischer Maßnahmen bedarf und sie in Anspruch nehmen wird, falls das entsprechende Angebot besteht. Dass dieses Angebot nur begrenzt vorhanden ist, wissen wir aus Befragungen der Psychotherapeuten. Die Bereitschaft, drogenabhängige Patienten in Psychotherapie zu nehmen, ist recht gering ausgeprägt. Von einer Konkurrenz der Methoden sollte daher nicht ausgegangen werden, allenfalls von einer sinnvollen Ergänzung. Eine sinnvoll indizierte Substitutionstherapie sollte es ermöglichen, dass auch die psychopathologisch stärker auffälligen, gruppenunfähigen und beziehungsschwachen Personen, die den anderen oben abgegrenzten Typen zuzuordnen sind, ihnen geeignete Therapieformen suchen, denen sie sich zur Bearbeitung ihrer Störungen anvertrauen können, da nach eingeleiteter Substitution diese keinen forcierten Druck
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in Richtung Abstinenz ausüben können. Auch die Psychotherapeuten sollten sich diese Situation bewusst machen. Sie könnten sich in dieser Hinsicht in ihrer Aufgabe entlastet fühlen und ihre reservierte Haltung überdenken.
Die Auseinandersetzung um „die best geeignete psychotherapeutische Methode“ Die wenigen auffindbaren Darstellungen der Psychotherapie substanzabhängiger Klienten vermitteln bisweilen den Eindruck, dass es psychotherapeutische Methoden und/oder Techniken vom Rang einer spezifizierten Sucht-Psychotherapie gibt. Dabei wird jedoch nicht ein „State of the Art“ weitergegeben, vielmehr spiegeln sich die jeweiligen Standpunkte der einzelnen Autoren und der Stand der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Hintergrundstheorien der einzelnen psychotherapeutischen Schulen wider. Dieser Falle entgehen auch Aufsätze und Überblicksreferate nicht, die in seriösen Standardwerken erscheinen. Beispielhaft sind in diesem Sinne die entsprechenden Beiträge zum Handbuch der „Suchtmedizin“ von Uchtenhagen und Zieglgänsberger, 2000 zu erwähnen. In einem Überblick über die Geschichte und die Entwicklungstendenzen der Behandlung Drogenabhängiger stellen Uchtenhagen und Schaaf fest, dass ambulante Behandlungsmethoden an Bedeutung gewinnen und dass innerhalb der psychotherapeutischen Betreuung „insbesondere die auf dem Boden amerikanischer Schulen entwickelten neueren Verfahren (Gestalttherapie, Verfahren der humanistischen Psychologie, Psychodrama, und dann vor allem verhaltenstherapeutische und systemische Ansätze) Eingang gefunden hätten (15). Dabei wird klargestellt, dass systemische Ansätze in Paar und Familientherapie das Beziehungsumfeld nutzen, um pathogene Konstellationen zu entschärfen und
Psychotherapeutische Aspekte
dass die Verhaltenstherapie Methoden anwende, welche geeignet seien, Verhaltensweisen zu „entlernen“ und durch geeignete zu ersetzen. Andere Methoden werden nicht erwähnt. Die Autoren stellen keine Reflexionen darüber an, warum gerade diese therapeutischen Zugänge dominieren. Dadurch wird die dieser Verteilung zugrundeliegende therapiepolitische Situation verschleiert. Die behavioristischen Methoden dominieren nicht so sehr deshalb, weil schlüssig bewiesen worden wäre, dass andere – vor allem tiefenpsychologisch orientierte Verfahren – sich gesichert als unwirksam erwiesen hätten, sondern weil in der aktuellen Lage die Lobbyisten der Behaviour Modification und einer bestimmten Definition der Wissenschaftlichkeit (16, 17) dominieren. Jenseits der standespolitischen Verflechtung steuert wohl auch ein drogenpolitisches Argument diese Entwicklung. Die den behavioristischen Verfahren immanenten Interpretationen und Kontrollaspekte passen besser zum in den USA prävalenten Problemverständnis als Interpretationen anderer Systeme, die Drogengebrauch nicht ausschließlich als „unerwünscht“, „inadäquat“, „entlernbar“ und durch ein „besseres“ Verhalten ersetzbar verstehen, sondern eventuell dem Drogengebrauch und selbst noch der Drogenabhängigkeit einen psychoökonomischen, stabilisierenden Wert zuerkennen. Während Uchtenhagen und Schaaf die jeweiligen Methoden nur nüchtern vorstellen und nicht bewerten, tun dies Petzold und seine Mitarbeiter in ihrem Artikel über „Psychotherapeutische Maßnahmen bei Drogenabhängigkeit“ im gleichen Handbuch umso ausführlicher, ohne dass bei dieser Bewertung etwas anderes als das Erwartete herauskäme: die eigene Methode ist die beste. Im Fall Petzolds die von ihm selbst bereits in den 60er-Jahren entworfene und seither zum Einsatz gebrachte „integrative Therapie“. Als spezifisch für die Behandlung Drogenabhängiger formulierte Therapieziele dieses Verfahrens benennt Petzold (18):
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– das Entwickeln tragfähiger Beziehungsstrukturen in supportiven Netzwerken – Bearbeitung biografischer Defizite, Traumata, Konflikte und Störungen und ihrer Auswirkungen im gegenwärtigen Leben des Klienten/Patienten – Aktivieren von Ressourcen – Aufdecken und Bearbeiten bewusster und unbewusster Problematik – Eröffnung positiver Erwartungen und Zukunftsentwürfe – Förderung von Gesundheit – „Salutogenese“ –; Förderung von Ressourcen und Potenzialen und die Bereicherung des Lebenszusammenhanges. Nun gibt es wohl keine einzige therapeutische Schule, die nicht auch ihre eigenen Zielvorgaben in diesen Vorstellungen finden würde. Die Frage, welche Schule und welches Verfahren die „prinzipiell besten“ sind, scheint auch recht müßig. Die psychotherapeutischen Überlegungen sollten sich dem Ziel der Optimierung und Individualisierung der Behandlung unterordnen und sich damit beschäftigen, welches der bestehenden Therapieangebote im Einzelfall indiziert – und darüber hinaus – zugänglich ist. Alle bekannten Verfahren der Einzeltherapie und der Gruppentherapie können zum Einsatz kommen. Die Qualifikation und die Haltung der Therapeuten sind entscheidendere Kriterien als die Schulzugehörigkeit. Es ist notwendig auf diesen Umstand hinzuweisen, um dem Vermeidungsverhalten jener Psychotherapeuten entgegenzuwirken, die, obwohl anerkannten Schulen angehörig, sich dennoch der Behandlung der Drogenabhängigen fernhalten, da sie sich nicht als „Experten“ fühlen bzw. der suchtspezifischen Fachliteratur zu entnehmen glauben, dass ihnen der Expertenstatus aberkannt wird. In diesem Kontext ist auch darauf hinzuweisen, dass in der spärlichen deutschsprachigen Literatur über ambulante Suchttherapie immer wieder tiefenpsychologisch fundierte Methoden und verhaltenstherapeutische Methoden parallel diskutiert wurden und ver-
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sucht wurde, Wege der Kooperation aufzuzeigen (19, 20). Entsprechende Ergebnisse erbrachten auch die Therapiestudien von Woody und seinen Mitarbeitern (21–26). In kontrollierten vergleichenden Untersuchungen konnten diese Autoren feststellen, dass Methadonklienten, die gleichzeitig in Psychotherapie standen, günstigere Verläufe erkennen ließen, als solche, denen lediglich Beratung ermöglicht wurde. Es wurde deutlich, dass die Psychotherapie-Patienten niedrigere Methadon-Dosen benötigten und hinsichtlich ihres psychischen Zustandes stabiler waren, so dass sie auch weniger Zusatzmedikation benötigten. In diesen Untersuchungen wurden parallel kognitiv-behavioristische Methoden und psychodynamische Methoden eingesetzt. Beide erwiesen sich als erfolgreich. Die Forderung nach fallgerecht eingesetzter Methodenvielfalt gilt prinzipiell für die psychotherapeutische Behandlung von substanzabhängigen Personen. In besonderem Maß aber für jene Patienten, die bei laufender Psychotherapie ein Opioid als ärztlich indizierte Maßnahme erhalten. Die in diesem Setting durchgeführte Behandlung beinhaltet ja nicht in gleichem Maß abhängigkeitsspezifische komplizierende Inhalte wie die Psychotherapie eines Individuums, dessen Behandlung in erzwungener Drogenabstinenz vor sich geht. Diesem Grundsatz sollte auch die Begleitbehandlung, wie sie ganz prinzipiell als flankierende Maßnahme innerhalb der Implementierung von Methadonprogrammen gefordert wird, verpflichtet sein. Auch sie sollte auf den einzelnen Patienten ausgerichtet möglich sein und nicht alle Suchtkranken, die in ein bestimmtes Programm eingeschleust werden, über einen Kamm zu scheren versuchen.
Schlussfolgerungen Der Schluss aus unseren Überlegungen kann demnach nur lauten: es ist falsch von Substitutionstherapie oder Psychotherapie als Alternativen zu sprechen, man muss da-
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von ausgehen, diese beiden Methoden als gleichberechtigt und miteinander verträgliche methodische Zugänge zu verstehen, die auf differenten Konzepten aufbauen. Wesentlich ist nur, dass sie jeweils sinnvoll und entsprechend indiziert zum Einsatz kommen. An sich ist eine analoge Vorgangsweise in anderen Bereichen der psychosozialen Versorgung und des Gesundheitssystems eine Selbstverständlichkeit. Gerade dieser Umstand weist erneut auf die Sonderstellung der Suchtkrankheit und der Suchtkrankenhilfe hin und muss als Anlass dafür dienen, diese Sonderstellung und ihre Ursprünge zu überdenken. Auch Patienten, die an anderen Krankheiten leiden, wird die Wahl gelassen, sich für eine medikamentöse Behandlung oder andere Arten der Betreuung zu entscheiden. Niemand findet im Allgemeinen etwas daran, wenn etwa ein Asthmakranker allen guten Ratschlägen zum Trotz, einmal eine psychosomatische Kur zu versuchen, hartnäckig dabei bleibt, sich ausschließlich an Ärzte zu wenden, die seine Krankheit medikamentös behandeln. Auch er wird dann diese Medikation eventuell ein Leben lang zu sich nehmen müssen, wird im gewissen Sinn von den Asthmamitteln abhängig sein. Ähnliches gilt für Ulkuskranke. Und in manchen Fällen wird eine kombinierte Behandlung indiziert und durchführbar sein. Die Konkurrenzsituation, wie sie zweifellos vorliegt, ist nicht durch die Anwendung einer Methode gegeben, beziehungsweise durch die Verabreichung einer Droge, sondern vielmehr durch den Interessenstreit konkurrenzierender Professionen und Schulen. Notwendig wäre es, die Therapieforschung in diesem Bereich zu intensivieren. Die Behandlung der Opiatabhängigen, die Substitution und Psychotherapie umfasst, sollte als eine spezielle Form der Kombinationsbehandlung definiert und strukturiert beforscht werden. Sie scheint durchaus geeignet, neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet generieren zu helfen. Das heißt, dass auch hier die Entweder-Oder-Philosophie verlassen werden muss und dass Designs
Psychotherapeutische Aspekte
entwickelt werden müssen, die nicht die gegensätzlichen Wirkungen der Arzneimittelbehandlung (der Substitution) und der Psychotherapie herausarbeiten, sondern die Wechselwirkungen und synergistischen Effekte im therapeutischen Prozess erfassen und die spezifischen Wirkungsqualitäten in diesem Prozess beschreiben. Auf jeden Fall ist es notwendig, Vorurteile und irrationale Ängste abzubauen. Es ist der unselige Einfluss ideologischer Vorstellungen auf die Behandlungstheorie und -praxis, die den Suchtkranken als Patienten in eine Sonderposition zwingt. An ihm wird der Kampf, der zwischen differenten kulturellen Einstellungsmustern tobt, sichtbar. Er wird zwangsläufig ein Opfer der Positionskämpfe zwischen Askese (Abstinenz) und Ekstase (Hedonismus, Libertinismus), Medizin (Naturwissenschaft) und Antimedizin (Sozialwissenschaft), Psychiatrie und Antipsychiatrie. An diesem Ort sollte meiner Meinung nach die Kritik an den therapeutischen Verhältnissen einsetzen. Patienten sind nicht dazu da, dass man sie dazu benutzt, an ihnen die Überlegenheit einer bestimmten Idee oder Weltsicht zu beweisen, die eigene Interpretation „menschenwürdigen Daseins“ durchzusetzen (27, 28), wie fragwürdig diese Interpretation auch immer ist, und daraus dann die Rechtfertigung dieser Sicht abzuleiten. Es ist auch ein recht fragwürdiges Unterfangen, den Wert einer Therapiemethode daran zu beurteilen, ob sie imstande ist, bestehende gesellschaftliche Einstellungen, Wertvorstellungen, Regeln, Gesetze zu bekräftigen und zu verfestigen, oder infrage zu stellen und aufzulösen (29). Es käme einem Missbrauch der Patienten und der therapeutischen Möglichkeiten gleich, würde man Erstere dazu benutzen, an ihnen Exempel zu statuieren und auf „therapeutischem“ Wege Wohlverhalten und gesetzlich definierte Verhaltensmuster erzwingen. In unserer demokratischen Ordnung kommt jedem, auch dem Suchtkranken, das Recht zu, mit der bestmöglichen und einer individuell abgestimmten Behandlung versorgt zu werden.
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Für die psychotherapeutische Einstellung in diesen Fragen kann wohl kein Berufenerer als Zeuge dienen als Sigmund Freud. Ein Zitat aus seinem 1919 erschienenen Text „Wege der psychoanalytischen Therapie“ soll diesen Aufsatz beschließen (30): „... Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an dieser Ablehnung auch heute noch fest. Wir können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die so haltlos und existenzunfähig sind, dass man bei ihnen die ärztliche Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muss ... aber dies soll jedes Mal mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens erzogen werden ...“
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Allgemeinmedizinische Aspekte Hans-Joachim Fuchs und Rolf Jens Ärzte für Allgemeinmedizin sind in Österreich Ärzte, die sechs oder mehr Jahre an einer Universität Medizin studiert und danach zumindest 30 Monate im Krankenhaus und sechs Monate in der Lehrpraxis mit 35 bis 60 Wochenstunden als Arzt in Weiterbildung gearbeitet haben. Nach Bestehen einer schriftlichen Arztprüfung erhalten sie von der Österreichischen Ärztekammer das Jus practicandi, die Berechtigung zur selbstständigen Berufsausübung als Arzt für Allgemeinmedizin in Österreich und in allen Staaten der Europäischen Union. Dies berechtigt sie grundsätzlich zur Ausübung jeglicher ärztlicher Tätigkeit nach Erwerb einschlägiger Kenntnisse und Fähigkeiten. Fast alle Allgemeinärzte erwerben Zusatzqualifikationen durch Fortbildungscurricula z.B. in Ernährungsmedizin, Arbeitsmedizin, Umweltmedizin, Sportmedizin, psychosozialer Medizin, psychosomatischer Medizin, psychotherapeutischer Medizin, Notfallmedizin, Komplementärmedizin und in Zukunft auch in Suchtmedizin; sie betreiben Literaturstudium und besuchen regelmäßig Fortbildungsvorträge und Qualitätszirkel. Auch Internetrecherchen und das Studium von „Guidelines“ werden von Allgemeinärzten zunehmend zu ihrer Fortbildung genutzt. Allgemeinärzte halten sich für ein weites Spektrum von Anfragen ihrer Patienten bereit. Ihre Klientel umfasst Menschen jeglicher Herkunft, jeden Alters, jeglichen Familienstands, Ausbildungsstands, jeglicher Berufszugehörigkeit und gesellschaftlicher Position. Die täglichen Konsultationen
mit ihren Patienten wirken als Bildungsfaktor auch reziprok, auf die Ärzte; sie bewirken eine Weitung ihres geistigen Horizonts und vertiefen ihr Verständnis für die Menschen. Umgekehrt hängen Zugänglichkeit, Akzeptanz und Verständnis, die die anfragenden Patienten bei ihren Ärzten vorfinden, vom persönlichen Entwicklungsstand der Ärzte ab. Ärztliche Fortbildung umfasst daher drei Bereiche: Ärztliche Einstellungen, medizinisches Wissen und praktische Fähigkeiten.
Die 11 Wesensmerkmale der AM als Disziplin Die Allgemeinmedizin stellt normalerweise den ersten medizinischen Kontaktpunkt im Gesundheitssystem dar und gewährleistet einen offenen und unbegrenzten Zugang für alle Nutzer und für alle Gesundheitsprobleme, unabhängig von Alter, Geschlecht oder anderen Merkmalen der betroffenen Person. 1. Sie hat keine Zugangsbeschränkungen • Die Allgemeinpraxis ist die wesentliche und erste Quelle der Versorgung • Sie deckt ein weiteres Tätigkeitsfeld, das durch die Bedürfnisse und Wünsche der Patienten bestimmt wird, ab. • Diese Sichtweise eröffnet der Disziplin ein vielfältiges Aufgabengebiet und die Möglichkeit ihres Einsatzes bei der Bewältigung individueller und gemeinschaftsbezogener Probleme.
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2. Sie nutzt die Ressourcen des Gesundheitssystems auf effiziente Weise durch Koordinierung der Betreuung, Zusammenarbeit mit anderen im Bereich der Primärversorgung tätigen Berufen, und durch das Management der Schnittstelle zu anderen Spezialgebieten, wobei sie nötigenfalls die Rolle als Interessensvertreterin von Patientenanliegen übernimmt. 3. Sie arbeitet mit einem personenbezogenen Ansatz, der auf das Individuum sowie auf dessen Familie und Lebensumfeld ausgerichtet ist. 4. Sie bedient sich eines besonderen Konsultationsprozesses, der durch effektive Kommunikation zwischen Arzt und Patient den Aufbau einer Langzeitbeziehung ermöglicht. 5. Sie ist für eine durch die Bedürfnisse des Patienten bestimmte Langzeitbetreuung verantwortlich. 6. Sie verfügt über einen spezifischen Entscheidungsfindungsprozess, der durch die Prävalenz und Inzidenz von Krankheiten in der Bevölkerung bestimmt wird. 7. Sie befasst sich gleichzeitig mit den akuten und chronischen Gesundheitsproblemen der einzelnen Patienten. 8. Sie befasst sich mit den Erkrankungen, die sich im Frühstadium ihres Auftretens in undifferenzierter Form darstellen und möglicherweise eine dringende Intervention erfordern. 9. Sie fördert Gesundheit und Wohlbefinden durch angemessene und wirksame Intervention. 10. Sie trägt eine spezifische Verantwortung für die Gesundheit der Allgemeinheit. 11. Sie beschäftigt sich mit Gesundheitsproblemen in ihren physischen, psychologischen, sozialen, kulturellen und existenziellen Dimensionen. Am Beispiel der Suchtkrankenbetreuung zeigt sich sehr deutlich, dass Ärzte durch passende Einstellungen, Vertrauensbildung, die Akzeptanz und die Kontinuität der Langzeitbetreuung in der Arzt-
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Patient-Beziehung bewirken. Ob ein Arzt zur ganzheitlichen medizinischen Betreuung von Suchtkranken befähigt ist, hängt von seiner fachlichen, menschlichen und psychosozialen Kapazität ab, die stets in Entwicklung begriffen ist. Niederschwellige Einrichtung Niedergelassene Ärzte für Allgemeinmedizin mit Direktverrechnungsverträgen mit den Krankenkassen sind vertraglich verpflichtet, alle Versicherten der sozialen Krankenversicherung, unabhängig von den verschiedenen Fragestellungen und Diagnosen zu betreuen. Es ist also nicht vertragskonform, Patienten wegen Diagnosen, wie HIV-Infektion, Hepatitis C oder Suchtkrankheit die hausärztliche Betreuung zu verweigern. Umgekehrt gilt in Österreich die freie Arztwahl durch die Versicherten. Selbstverständlich sollen alle Ärzte stets selbstkritisch ihre Kompetenz, ihre fachliche und personale Zuständigkeit für die jeweiligen Fälle überprüfen und ihren Patienten bei Bedarf auch die Inanspruchnahme anderer zuständiger niedergelassener Ärzte, Psychologen, Krankenpflegern, Psychotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten u.a. Experten sowie in schweren Krisen auch die Hospitalisierung empfehlen. Die Praxis des Allgemeinmediziners ist als niederschwellige Einrichtung wohl bekannt. In einer Allgemeinpraxis ist es üblich, am Tag der Anfrage noch einen Konsultationstermin zu bekommen. Einmal begonnene Kontakte werden oft über lange Zeit gepflegt. Das sind sehr patientenfreundliche Umstände, die von substanzabhängigen Patienten gerne in Anspruch genommen werden, wie von allen anderen Patienten auch. Hier wirkt das Setting der Allgemeinpraxis gesellschaftlich integrativ und wird somit zu einem wichtigen Element der Therapie. Die Patienten Von 179 Patienten einer Hausarztpraxis in Wien im Alter von 18 bis 53 Jahren in laufender Substitutionstherapie sind 48 weib-
Allgemeinmedizinische Aspekte
lich und 131 männlich. (Diese Relation ist konträr zur durchschnittlichen Population von Hausarztpraxen, die zu zwei Dritteln weibliche Patienten aufweisen und nur relativ wenige männliche Jugendliche und junge Erwachsene.) Sie gehören bei durchschnittlicher und nicht selten sogar überdurchschnittlicher Intelligenz und kreativer Begabung allen Bildungsschichten an, obgleich unterbrochene Ausbildungsgänge sehr häufig sind. Die Beziehungen zu ihren Herkunftsfamilien sind überdurchschnittlich häufig durch Abbrüche geprägt. Die Unterstützung durch die Eltern- und Großelterngeneration ist vielfach ungewöhnlich schütter. In den Genogrammen dominieren repetitive Muster der von Generation zu Generation immer wiederkehrenden Abwesenheit der Väter. Neben alleinstehenden Männern sind Paare und junge Familien mit Kindern, Schwangere sowie alleinerziehende Mütter vertreten. Fast allen gemein ist eine prekäre finanzielle Situation durch Überschuldung, die zu Lohnpfändung bei legaler Beschäftigung und bei einzelnen sogar zur Obdachlosigkeit geführt hat. Nicht wenige haben bereits Gefängniserfahrung hinter sich oder noch vor sich. Ihr Leben ist also in unterschiedlichster Weise mit Vernachlässigung, Demütigung, Machtmissbrauch, Eigentumskriminalität, Gewalt und Diskriminierung bedroht worden, und einige haben dies auch anderen Menschen zugefügt. Diese haben auch richterliche Auflagen zu erfüllen im Sinne von Therapie statt Strafe. Substitutionspatienten sind zumeist wache und kritische junge Patienten und wünschen sich stets eine medizinisch und psychologisch kompetente, strukturierte und freundliche ärztliche Betreuung in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens. Das National Institute of Mental Health (NIMH) hat 2005 die Ergebnisse der jüngsten Erhebung zu seelischen Erkrankungen in den USA, die National Comorbidity Survey Replication, veröffentlicht. Aus 9000 Tiefen-Interviews geht hervor, dass jeder Zweite im Laufe seines Lebens von einer seelischen Erkrankung betroffen ist; bei der Hälfte der Betroffenen setzen die
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Symptome bereits bis zum 14. Lebensjahr ein, bei drei Viertel bis zum 24. Lebensjahr. Es braucht im Durchschnitt acht Jahre, vom Einsetzen der Symptomatik bis zum Beginn einer ärztlichen Behandlung. 41% der Erkrankten erhielten in den letzten 12 Monaten eine ärztliche Behandlung. Es sind die schwersten Fälle von Depression und von Angststörungen, die zusätzlich auch eine Substanzabhängigkeit entwickeln, und es wird von den Autoren dieser Studie die ganzheitliche Behandlung der Betroffenen gefordert. Die Krankheit Bei Suchterkrankungen geht es um Verhaltensstörungen. Zunächst erscheint es allen Beteiligten ziemlich rätselhaft, aus welchen Ursachen sich ein Mensch genötigt sieht, auf die verschiedensten Auslöser in den verschiedensten Situationen mit einem uniformen, stereotypen Verhalten zu reagieren. Adipöse Menschen verspüren häufig einen Zwang zur Nahrungsaufnahme, der bei vielen die körperliche Gesundheit ernsthaft bedroht; Ähnliches lässt sich über das Zigaretten-, Zigarren- und Pfeifenrauchen sagen. Mit dem Alkoholkonsum und seinen zumeist beabsichtigten psychotropen Wirkungen kommt es bei manchen immer wieder zu Rauschzuständen, die auf mehreren Wegen akut lebensbedrohlich sein können und es auch sind. All diese Arten übermäßiger Verwendung von Nahrungs- und Genussmitteln sind grundsätzlich legal. Bei Unfällen unter Alkoholeinfluss und bei Rettungseinsätzen wegen Alkoholrausches kann es zu empfindlichen finanziellen Sanktionen durch die Leistungsrückforderungen der Versicherungen kommen. Hier wird manchmal noch das Prinzip verlassen, Suchtverhalten als Manifestation einer Suchtkrankheit zu betrachten. Opiatabhängigkeit tritt primär zumeist im Rahmen einer Polytoxikomanie auf. Es werden mehrere Substanzen im Wechsel oder gleichzeitig konsumiert, zumeist Nikotin, Cannabis, Cocain, Benzodiazepine, Amphetamine und Alkohol.
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Suchtverhalten führt bei den Betroffenen zu manchmal gefährlichen Intoxikationen mit gefährlichen Risiken bei Kontrollverlust über die Wirkstoff-Interaktionen. Bei intravenösem Konsum kommt es leicht zu bakteriellen Infektionen, Hepatitis-Bund Hepatitis-C sowie HIV-Infektionen. Die sozialen und psychologischen Hintergründe der Suchtkrankheit sind evident, psychiatrische Begleiterkrankungen (Comorbidität) sind regelmäßig zu finden. In erster Linie handelt es sich um die posttraumatische Belastungsstörung, die sich durch eine Vielzahl von Symptomen manifestiert, nämlich Niedergeschlagenheit, Selbstmordgedanken, Zurückgezogenheit, Angstzustände und Unruhezustände, die auch als Depression, als präsuizidales Syndrom, als Panikattacken, als generalisierte Angststörung, als Borderline-Störung und als chronische Psychose diagnostiziert werden. Schwere depressive Episoden betreffen 90% der hospitalisierten opiatsüchtigen Patienten. Besonders suizidgefährdet sind Patienten mit bipolarer Störung, deren Inzidenz in der Population der Opiatabhängigen gegenüber der Gesamtpopulation mit 12 Prozent um das Achtfache erhöht ist. Die familienmedizinische- bzw. Sozialanamnese ist bei den polytoxikomanen Patienten von ganz besonderem Interesse. Traumatische Missbrauchserfahrungen in Kindheit und Jugend in der Familie, in der Schule und in Partnerschaften mit älteren Drogenabhängigen sowie in der Beschaffungsprostitution und unter Haftbedingungen sind häufig zu explorieren. Alltägliche Diskriminierungserfahrungen bis hin zum Führerscheinverlust und zum Verlust des Arbeitsplatzes sowie Ungleichbehandlung bei der Arbeitsplatzvermittlung sind selbst dann kaum zu vermeiden, wenn sich die Patienten den strengen Bedingungen der Drogen-Entzugs- oder der Substitutionstherapie unterziehen. Die Diagnose Die Therapie der Suchtkrankheit in der Allgemeinpraxis erfordert zunächst eine
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strukturierte und ausgedehnte Basisdiagnostik, die durch Laboruntersuchungen die Leber- und Nierenfunktionsparameter und insbesondere auf Infektionskrankheiten (Hepatitis-Serologie, HIV-Infekt, Pneumonie etc.) abklärt und auf die individuelle Geschichte des Drogenkonsums, psychische Symptome, auch Suizidversuche und Präsuizidalität, und auf die psychosozialen Ressourcen (Familien, Partner, Freunde, Schulen, Arbeitsplätze und Psychotherapeuten) der Patienten eingeht. Wichtig sind objektive Befunde zum aktuellen Drogenkonsum: Inspektion der Einstichstellen und entsprechender Thrombophlebitiden und Abszesse bei intravenösem Konsum und der Harnbefund über Opiate, Benzodiazepine, Cocain, Methadon und Amphetamine. Schon dieses konsequente ärztliche Prozedere zu Beginn der Behandlung schafft eine Menge Vertrauen. Die Therapie Zur Wahl der passenden Therapieoptionen benötigen psychisch kranke Patienten ebenso umfangreiche und zweckdienliche Informations- und Aufklärungsgespräche wie somatisch erkrankte. Die Wahl und die Zielsetzung der Therapie, nämlich zwischen abstinenzorientierter Entzugstherapie, bei der die ärztliche Begleitung und verschiedene Arzneimittel zur Kompensation der Entzugssymptome über einen definierten Zeitraum zum Einsatz kommen oder Langzeit-Substitutionstherapie mit der Option der Dosisreduktion zu einem späteren Zeitpunkt wird gemeinsam mit dem Patienten festgelegt. Da maximal zwanzig Prozent unserer Patienten zu einer abstinenzorientierten stationären oder ambulanten Entzugstherapie geeignet sind, überwiegt die Dauersubstitutionstherapie mit dem Ziel der sozialen Integration und der persönlichen Weiterentwicklung bei weitem. Auch bei der Auswahl der Substitutionsmittel geht es um eine Verständigung zwischen Arzt und Patient. In Österreich sind drei verschiedene Substanzen zur Substitutionstherapie zugelassen:
Allgemeinmedizinische Aspekte
Methadon, nicht retardierte und retardierte Morphine und Buprenorphin. Von 179 Patienten einer Wiener Arztpraxis werden gegenwärtig 40 mit Methadon, 23 mit Buprenorphin, 40 mit flüssigem nicht retardierten Morphinum hydrocloricum und 76 mit retardierten Morphinen behandelt. Ihre jeweilige Dosierung steht in Relation zum bisherigen täglichen Opiat-Konsum. Die Neueinstellung und die Umstellung erfordern hohe Aufmerksamkeit des Arztes und kurzfristig vereinbarte Wiederbestelltermine. Bei zusätzlicher BenzodiazepinAbhängigkeit soll die Verwendung möglichst schonender Benzodiazepine (Oxazepam) und die Dosierung eingehend besprochen werden. Wegen entsprechender psychischer und neurologischer Probleme sind häufig zusätzlich auch Antidepressiva, Neuroleptika und Antiepileptika ärztlich indiziert. Detaillierte Erklärung der Vereinbarungen zu den gegenseitigen Verpflichtungen von Arzt und Patient auch in schriftlicher Fassung sowie die Rolle der vidierenden Amtsärzte sind notwendige Gesprächsthemen. Verboten ist insbesondere die Weitergabe des Substitutionsmittels an andere Personen. Die vom Gesetzgeber definierte Gültigkeitsdauer der Suchtmittel-Dauerrezepte erstreckt sich bis zu einem Monat. Der Abgabemodus der Substitutionsmittel wird im Einklang mit der Lebens- und Arbeitssituation des Patienten (z.B. tägliche Dienstzeiten, Anwesenheitsverpflichtungen in Schule, Berufsschule, Weiterbildungskursen) vereinbart und vom verschreibenden Arzt auf dem Dauerrezept bestimmt; tägliche Einnahme unter Sicht in der Apotheke oder Mitgabe der wöchentlichen Dosen. Die Patienten verpflichten sich auch zur regelmäßigen Vorlage von Untersuchungsergebnissen von Harnproben auf Drogenmetabolite nach Harnabgabe unter Sicht oder nach Verifizierung durch unmittelbare Temperaturbestimmung (genetische Probenidentifikations-Verfahren sind derzeit noch nicht im Einsatz). Wiederbestelltermine, psychosoziale Betreuung, Betreuung durch Sozialarbeiter, Psychotherapie, Paartherapie, Familientherapie, und psychiatrische
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Therapie sind ebenfalls wichtige Themen in der allgemeinmedizinischen Konsultation. Therapiekonzepte allfälliger körperlicher Krankheiten werden nach Vorliegen einschlägiger Befunde erstellt und die Kooperation mit ärztlichen Spezialisten vereinbart. Die Kooperation von Ärzten und Patienten hängt wesentlich von der ärztlichen Einstellung ab. Wohlwollende Aufmerksamkeit tut den Patienten ausgesprochen gut und ist für sie ein Ansporn, den positiven Erwartungen gerecht zu werden. Wer mit traumatisierenden Vorerfahrungen der Patienten rechnet, wird sicherlich behutsam mit jeder Form persönlicher Kritik umgehen. Es bewährt sich, sich von den eigenen Patienten erklären zu lassen, wie es dazu kam, dass eine Vereinbarung nicht eingehalten wurde. Manche Patienten genieren sich einfach zu sehr, einen Harnbefund vorzulegen, in dem ein Rückfall oder ein Beikonsum aufscheint. Der Umgang mit Rückfällen gelingt am besten, wenn seitens des Hausarztes eine offene Gesprächsatmosphäre gesichert wird. Wir können über alles reden und wir überlegen uns gemeinsam, wie es weiter geht. Diese Stärkung des partnerschaftlichen Elements ist geeignet, Selbstverantwortung zu unterstützen und das Vertrauen in der Patient-Arzt-Beziehung zu stärken. Vertrauen soll durch adäquate Kontrollen gefördert werden. Vertrauen und umsichtige klinische Kontrollen schaffen in der Tat Sicherheit für Ärzte und Patienten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit Die Komplexität der Suchtkrankheit macht oftmals eine enge Zusammenarbeit von Allgemeinärzten mit Amtsärzten, Apothekern, Psychiatern, Psychotherapeuten, Richtern, Sozialarbeitern, Betreuern des Arbeitsmarktservice und anderen zuständigen Betreuungspersonen erforderlich. Dies geschieht stets unter der Voraussetzung des ausdrücklichen Wunsches der Patienten unter strikter Wahrung der ärztlichen Verschwiegenheitsverpflichtung und des Datenschutzes.
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Hausärztliche Qualitätszirkel Die folgende Checkliste ist das beispielhafte Ergebnis zweier Qualitätszirkelsitzungen von 10–12 Teilnehmern und zwei Stunden Dauer zum Thema Qualitätskriterien in der Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen unter allgemeinärztlicher Betreuung. Folgende Parameter können/ sollten in der Kartei vermerkt werden: Drogenanamnese Konsumbeginn Eigener „Mythos“ der Abhängigkeit Bisherige Therapien (Substitutionstherapie, Entzugstherapie, Langzeittherapie) Zuletzt konsumierte Substanzen und Dosis Cravingtagebuch + Drogentagebuch Anamnese (Vorerkrankungen mit ihrem zeitlichen Auftreten: aktiv/nicht aktiv) Familienplanung/Kontrazeption/Schwangerschaften/Geburten Alimentationsforderungen und Schulden Impfungen Status Präsens Somatische Abklärung (Basis-Blute, Hepatitis A, B, C, HIV-Test, Harnuntersuchung, EKG, C/P-Röntgen etc.) Familiensituation (Eltern, Geschwister, Kinder etc.) Beziehungssituation (sexuelle Orientierung, Freunde, Partner, Arbeitskollegen, Nachbarn) Wohlbefinden: Subjektives Wohlbefinden, Wohlbefinden aus ärztlicher Sicht Arbeit Vermittlungsversuche bei Arbeitslosigkeit Arbeitszufriedenheit Ausbildungsstand (Schule, Beruf) Krankenstand Häufigkeit Begehrlichkeiten Drogen-Harnbefund Kontakt zum Amtsarzt, Psychotherapeut, Apotheker, Sozialarbeiter, Betreuende, Apotheke, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten zwischen Arzt und Patient, Grenzziehung des Arztes bei Vertrauensbruch (Verleumdung, Gewaltdrohung,
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Diebstahl, Dokumentfälschung, Konsum in der Praxis, viele berauschte Begleiter im Wartezimmer) Instabile Phasen, Beikonsum, Rückfälle Krankenschein vorhanden/abgegeben Urlaube Arzt Urlaube Patient (Auslandsaufenthalt, Bestätigung nach Schengen, evtl. Kontaktnahme mit Konsulaten und Drogenambulanzen im Ausland) Haftstrafen Abgeleistet (weswegen) Noch offen Einnahme-/Abgabemodus Psychodiagnostik Psychologische Diagnostik Psychiatrische Diagnostik (DD: Depression, Angsterkrankungen, Psychose) Psychotherapie Patientenschulung: Safer-Sex, Hygiene bei Rückfällen (Safer use), Gefahren der Überdosierung bei unregelmäßiger Einnahme, Interaktionen bei Kombination mehrerer psychotroper Substanzen. Zielvereinbarung (statt Illusionsfalle). Von Zeit zu Zeit sollten sich die Ärzte mittels Kartei-Review von der Vollständigkeit ihrer Kartei-Einträge überzeugen. Seit 1997 haben sich in Wien mehr als 250 Ärzte für Allgemeinmedizin einer ganztägigen Einschulung durch Experten in die Usancen der ärztlichen Betreuung von drogenabhängigen Patienten unterzogen. Darüber hinaus ist die Teilnahme an expertenunterstützten hausärztlichen Qualitätszirkeln Bedingung für die Verrechnung einer attraktiven Honorarposition für Gespräche mit Suchtkranken, die illegale Drogen konsumiert haben. Diese von der Ärztekammer für Wien organisierten und den Wiener Ärzten gegen Teilnahmegebühr angebotenen Qualitätszirkel waren bisher imstande, die Entwicklung der fachlichen und der psychosozialen Kapazität auch im Hinblick auf die ärztliche Zusammenarbeit sehr positiv zu beeinflussen. Es ist auch deutlich zu beobachten, dass jene Hausärzte, die dieses Angebot in höherem Maße für sich nutzen, eine wesentlich höhere persönliche Sicherheit und Zufriedenheit mit ihrer Praxis entwickeln. Im Laufe der vergangenen Jahre wurde eine sehr große Zahl re-
Allgemeinmedizinische Aspekte
levanter Themen in diesen Qualitätszirkeln besprochen. Die Allgemeinmedizin ist nicht bloß eine eigenständige ärztliche Disziplin im Fächerkanon medizinischer Sparten, sondern auch und vor allem Gegenstand einer spezifischen Grundlagenforschung. Ihre Ausübung basiert sehr wesentlich auf den von den Spezialfächern geschaffenes Wissen über Krankheiten und Syndrome. Darüber hinaus sind die tatsächlichen Vorgangsweisen in der spezifischen Diagnostik, Behandlung und Beratung, die durch Zeitmangel und oft fehlende bzw. schwer zu erwirkenden Ressourcen geprägt sind, mit ein wesentlicher Gesichtspunkt allgemeinmedizinischer Tätigkeit. Die Allgemeinmedizin ist eine akademische und wissenschaftliche Disziplin mit • eigenen Lehrinhalten, • eigener Forschung, • eigener Nachweisbasis und einer • eigenen klinischen Tätigkeit; Als klinisches Spezialgebiet ist sie auf die Primärversorgung ausgerichtet.
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Literatur 1. Fuchs H-J (2000) Qualitätssicherung in der Allgemeinmedizin und Familienmedizin. In: Fischer R, Tragl K-H (Hrsg) Qualitätssicherung in der Medizin. ÖÄK-Verlag Wien 2. Haltmayer H, Angerer K, Fuchs H-J (2002) Ärztliche Qualitätszirkel und ihre Evaluation. In: Fuchs H-J (Hrsg) Wege zur patientenorientierten Medizin. ÖÄK-Verlag, Wien 3. Hirgoyen M-F (2000) Die Masken der Niedertracht. C. H. Beck Verlag, München 4. Krausz M (2002) Psychosoziale Interventionen in der Suchttherapie: Forschungsstand und wissenschaftliche Perspektiven. In: Lederer H (Hrsg) Wirkungskreise. Dialog, Wien 5. Stewart M (1995) Patient Centered Med. Sage, Toronto 6. WHO Europe: Ein Rahmen für die fachliche und administrative Weiterentwicklung der hausärztlichen Versorgung auf allgemeinmedizinischer Grundlage in Europa. Kopenhagen 1998 7. National Institute of Mental Health (NIMH) (2005): National Comorbidity Survey Replication JAMA 2005 8. WONCA Europe: The European Definition of General Family Medicine. WONCA Europe Office, Barcelona, 2002
Opiatabhängigkeit und Schmerztherapie Wolfgang Jaksch Schmerztherapie bei opiatabhängigen Patienten stellt Therapeuten oft vor beträchtliche Probleme. Konfrontiert wird man mit diesem Problem sowohl in Form von akuten, aber auch chronischen Schmerzen. Häufige Ursachen für akute Schmerzen sind Spritzenabszesse oder Kompartmentsyndrome, die oft eine sofortige chirurgische Intervention benötigen. Natürlich stellt die Schmerztherapie auch bei anderen, geplanten und ungeplanten operativen Eingriffen bei diesen Patienten eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte dar. Chronische Schmerzen können in jeglicher Form vorkommen: Tumorschmerzen, Schmerzen des Bewegungsapparates, aber auch neuropathische Schmerzen durch Mangelernährung, vor allem Vitamin B Mangel, oder auch entzündlicher Genese als AIDS Neuropathie.
Grundlagen Bei der Schmerztherapie opiatabhängiger Patienten spielen 3 Faktoren eine wichtige Rolle: 1. Die körperliche und psychische Abhängigkeit, wobei die Substitutionsdosis oder der tägliche Opiatbedarf unbedingt als Grundlage beibehalten werden muss. 2. Eine offensichtliche Toleranz gegenüber der analgetischen Wirkung der verwendeten, aber auch gegenüber anderen Opiaten im Sinne einer Kreuztoleranz (1). 3. Die opioidinduzierte Hyperalgesie, eine
veränderte Schmerzsensibilität, die neben der pharmakologischen Toleranz einen wichtigen Teil zur abgeschwächten, bzw. nicht vorhandenen Wirkung von Opiaten bei diesen Patienten beiträgt. Es spielt also neben der pharmakologischen Toleranzentwicklung, einer Desensibilisierung, auch ein Sensibilisierungsvorgang eine wichtige Rolle (2). Diese opioidinduzierte Hyperalgesie bewirkt eine Absenkung sowohl der Schmerzschwelle, als auch der Schmerztoleranz, abhängig vom applizierten Schmerzreiz (3). Verantwortlich dafür ist, dass die Opiate nicht nur antinozizeptiv, also schmerzhemmend wirken, sondern auch pronozizeptive Prozesse aktivieren (4). Als Mechanismen werden unter anderem die Aktivierung des NMDA Rezeptors, die Steigerung der spinalen Dynorphinkonzentrationen und dadurch vermehrte Freisetzung von erregenden Neurotransmittern und der Einfluss von absteigenden aktivierenden Bahnen über den dorsolateralen Funikulus postuliert (5). Diese pronozizeptiven Mechanismen stellen den Versuch des Organismus dar, die Ausschaltung eines so wichtigen Sinnes zu kompensieren, wie es die Schmerzempfindung für die Integrität des Körpers darstellt (6). Pharmakologisch beeinflussbar ist aus heutiger Sicht nur die Sensibilisierung des NMDA Rezeptors mittels spezifischer Antagonisten wie Ketamin (7). Insgesamt ist es erstaunlich, dass bei einem biologischen Prozess, nämlich der Schmerzverarbeitung, zwei so gegensätzliche Phänomene wie Toleranz und Hyper-
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algesie gleichzeitig auftreten. Die ausgeprägte Abschwächung oder sogar Auslöschung der analgetischen Wirksamkeit von Opiaten ist die Summe aus diesen beiden Phänomenen. Da sogar schon die kurzfristige intraoperative Gabe von starken Opiaten ausreicht, um diese Hyperalgesie zu induzieren (8), betrifft dieses Phänomen nicht nur Personen, die Opiate missbrauchen oder in einem Opiatsubstitutionsprogramm sind, sondern zunehmend auch chronische Schmerzpatienten unter Therapie mit starken Opiaten, die postoperativ oft mehr als doppelt soviel Morphin benötigen, wie opioidnaive Patienten (9).
Therapie akuter Schmerzen am Beispiel postoperativer Schmerzen Probleme bei der Therapie akuter Schmerzen können entstehen durch: 1. Therapeuten mangelndes Wissen soziale Vorurteile Opiatphobie Angst, neuerlich Suchtverhalten auszulösen 2. opiatabhängiger Patient Angst, neuerlich in ein Suchtverhalten zu geraten (gilt für substituierte oder erfolgreich entzogene Patienten) mangelnde Auskunft aus Angst, keine Opiate zu erhalten Darum ist es von besonderer Wichtigkeit, schon präoperativ das Problem zu erkennen und die perioperative Phase genau zu planen. Natürlich ist es in Situationen, wie bei der chirurgischen Therapie von Spritzenabszessen oder Kompartmentsyndromen nach akzidentieller Opiatüberdosierung nicht schwierig, den problematischen Opiatgebrauch zu erkennen. Bei diesen Patienten muss möglichst genau der tägliche Opiatbedarf und Koabhängigkeiten von z.B.
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Benzodiazepinen oder zentral stimulierenden Substanzen erfragt werden. Bei geplanten Eingriffen wird oft der Opiatmissbrauch verschwiegen. Seit Heroin in einem Reinheitsgrad bis 90% verfügbar ist, kann diese Substanz auch geraucht oder „geschnupft“ werden, sodass die typischen Einstiche durch intravenösen Missbrauch fehlen und das Suchtverhalten nicht erkannt wird (10). Diese Patienten verschweigen das Suchtverhalten aus Angst davor, keine Opiate zu bekommen. Problematisch ist meist auch die Situation bei substituierten, evt. sozial wieder integrierten Patienten, die einerseits Angst vor Kontrollverlust und dem Rückfall in ein neuerliches Suchtverhalten haben, andererseits eine inadäquate Schmerztherapie befürchten. Diese Patienten müssen präoperativ genau über die Möglichkeit einer effektiven Schmerztherapie mit minimalem Risiko für einen Rückfall aufgeklärt werden. Zuletzt stellen vermehrt chronische Schmerzpatienten eine Problemgruppe dar. Obwohl der überwiegende Teil dieser Patienten auf einer konstanten Opiatdosis keinerlei psychische Abhängigkeit erkennen lässt, gibt es doch auch in dieser Patientengruppe ein oft negiertes, aber doch vorhandenes Missbrauchs- und auch Suchtverhalten (11, 12). Diese Patienten geben, wenn überhaupt, nur eine deutlich geringere, als tatsächlich verwendete tägliche Opiatdosis an und stellen den Therapeuten vor allem postoperativ wegen übermäßigem Opiatbedarfs vor große Probleme. Nach Abklärung des präoperativen Opiatge- bzw. missbrauchs muss die perioperative Substitution der Opiate sichergestellt werden, um Entzugssymptome zu vermeiden. Bei Patienten mit konstantem täglichen Bedarf, also Patienten in einem Substitutionsprogramm oder chronische Schmerzpatienten, wird die tägliche Opiatdosis, wenn möglich peroral oder transdermal, sonst aber äquianalgetisch laut Umrechnungstabellen intravenös weiter verabreicht. Deutlich schwieriger ist die Situation bei unkontrollierter Einnahme von
Opiatabhängigkeit und Schmerztherapie
Straßenheroin. Da der Reinheitsgrad stark variiert, die Angaben über die Menge durch den Patienten kaum verlässlich sind, können die Äquivalenzdosen (siehe Kapitel Substitutionstherapie) nur einen groben Anhaltspunkt liefern. Eine kontinuierliche intravenöse Morphingabe, mit der Möglichkeit der Dosissteigerung bei Auftreten von Entzugssymptomen, stellt eine Möglichkeit der Substitution dar. Auch die wiederholte Gabe von Methadon in Einzeldosierungen von 10–20 mg ist möglich. Es ist aber wichtig zu wissen, dass diese Basistherapie mit Opiaten keinerlei Analgesie vermittelt. Für das intraoperative Management sollte jegliche Form der Regionalanästhesie bevorzugt werden, insbesondere jene Verfahren, die auch zur Weiterführung der postoperativen Schmerztherapie geeignet sind. In Frage kommen vor allem die kontinuierliche Epiduralanästhesie, lumbal oder thorakal, sowie Katheterverfahren an peripheren Nerven. Auch wenn diese Verfahren sicherlich die effektivste Form des perioperativen Schmerzmanagements darstellen, verhindern sie nicht das Auftreten von Entzugssymptomen, sodass auch in diesem Fall eine Opiatsubstitution notwendig ist. Abhängig ist die Durchführung regionalanästhesiologischer Verfahren vom Einverständnis der Patienten und natürlich auch von einer intakten Blutgerinnung und Thrombozytenfunktion. Begleiterkrankungen, wie eine fortgeschrittene Hepatitis C oder septische Zustandsbilder können Kontraindikationen zur Durchführung darstellen. Sollte keine Regionalanästhesie möglich sein, muss eine balancierte Allgemeinnarkose durchgeführt werden. In diesem Fall ist wegen der oben erwähnten Toleranz und Hyperalgesie trotz perioperativer Substitution mit einem erhöhten intraoperativen Opiatbedarf zu rechnen. Es ist jedoch möglich, diesen hohen Bedarf durch die Gabe von S(+)-Ketamin deutlich einzuschränken. Dies ist einerseits möglich durch wiederholte Gabe von Boli in der Größe von 0,5 mg/kg Körpergewicht oder andererseits nach einem Initialbolus durch
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die kontinuierliche Gabe von 2µg/kg/min. Diese kann in dieser Dosierung ohne Gefahr von psychotropen Nebenwirkungen auch in der postoperativen Phase fortgeführt werden. Es konnte gezeigt werden, dass S(+)-Ketamin die Entwicklung einer Hyperalgesie intraoperativ verhindern, aber auch den Opiatverbrauch auf Intensivstationen oder postoperativ einschränken kann. Da eine Aktivierung des NMDA Rezeptors bei der Ausbildung der Toleranz, aber auch bei der Entstehung einer Hyperalgesie eine Schlüsselrolle spielt (5), ist der Einsatz von S(+)-Ketamin sowohl intra- als auch postoperativ indiziert. In der postoperativen Schmerztherapie sollten primär alle Möglichkeiten der Analgesie mit Nichtopioidanalgetika genutzt werden. Intravenös kommen Paracetamol, der neue COX-2-Hemmer Parecoxib, verschiedene nichtsteroidale Antirheumatika wie Diclofenac und auch Metamizol in Frage (Tabelle 2). Wegen der fehlenden Wirkung auf die Thrombozytenagreggation können Paracetamol und Parecoxib schon intraoperativ verabreicht werden. Die Nichtopioidanalgetika sollten auch bei suffizienter Regionalanästhesie konsequent eingesetzt werden. Gerade hyperalgetische Patienten erleiden zusätzlich Schmerzen, da sie postoperativ oft gezwungen sind, ausschließlich am Rücken zu liegen. Trotz optimaler Verwendung und Kombination verschiedener Nichtopioidanalgetika ist bei vielen Patienten die zusätzliche Gabe von Opiaten notwendig. Um eine ausreichende Analgesie zu erreichen sind meist beträchtliche Dosierungen notwendig. Welche Präparate verwendet werden sollte von der Erfahrung des Therapeuten abhängig gemacht werden. Manche Autoren empfehlen z.B. Sufentanil, da opiatabhängige Patienten auf ein Präparat mit hoher intrinsischer Aktivität besser ansprechen (13). Aus eigener Erfahrung kann jedoch auch das sonst postoperativ übliche Piritramid mit Erfolg eingesetzt werden. In der direkten postoperativen Phase sollten Dosen von 3–6 mg wiederholt fraktioniert intravenös verabreicht werden. Werden
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W. Jaksch
Tabelle 1. Intravenöse Nichtopioidanalgetika max. Dosierung/d
Vorsicht bei
Präparat
Paracetamol Parecoxib
4 × 1g 2 × 40mg
Perfalgan® Dynastat®
Diclofenac
2 × 75mg
Metamizol
5 g (kontinuierlich), 4 × 1g
Leberinsuffizienz kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Niereninsuffizienz kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Niereninsuffizienz, ASS induziertes Asthma Hypovolämie, Überempfindlichkeit, ASS induziertes Asthma
exzessiv hohe Dosen benötigt und ist intraoperativ noch kein S(+)-Ketamin verabreicht worden, sollten nach Verabreichung von 1–2 Ampullen Dipidolor (= 15–30 mg) 5–10 mg des NMDA-Rezeptor Antagonisten als Kurzinfusion appliziert werden. In der Regel bewirkt diese Methode eine rasche Schmerzlinderung. In einem Fallbericht konnte durch die kontinuierliche Gabe von Ketamin (2,5 µg/kg/min) der
Abb. 1
Voltaren®
Novalgin®
tägliche Morphinverbrauch auf ein Drittel gesenkt werden und das bei deutlich verbesserter Analgesiequalität (14). Bei genauer Überwachung ist es möglich, auch diese Patienten mit einer PCA Pumpe (patientenkontrollierte Analgesie) zu versorgen. In diesem Fall kann die tägliche Opiatmenge als Basisinfusion verabreicht werden. Der Patient hat zusätzlich die Möglichkeit, alle 5–8 Minuten Boli
Opiatabhängigkeit und Schmerztherapie
anzufordern. Alternativ ist die Aufrechterhaltung der Analgesie nach Piritramidgabe auch durch eine Dauerinfusion mit Tramadol zu erreichen.Dabei werden 400–600 mg über 24 Stunden kontinuierlich verabreicht. Durch zusätzliche serotoninerge und noradrenalinerge Wirkmechanismen kann mit dem eher schwachen Opioid in manchen Fällen trotzdem eine gute Schmerzlinderung erreicht werden. Sowohl bei der PCA, aber auch der TramalDauerinfusion besteht die Möglichkeit, S(+)-Ketamin in Tagesdosierungen von 25–50 mg beizumischen. Bei erfolgreich entzogenen, also drogenfreien Patienten muss speziell in den ersten 6 Monaten nach dem Entzug auf eine erhöhte Sensibilität auf Opiate und eine Instabilität des autonomen Nervensystems geachtet werden (protrahiertes Abstinenzsyndrom). Bei starken Schmerzen dürfen jedoch auch diesen Patienten starke Opiate nicht vorenthalten werden, da gerade dadurch ein paradoxer Rückfall provoziert werden kann (15). Die genaue Überwachung ist bei diesem Patientengut von größter Wichtigkeit. Zusammenfassend sollten alle Patienten eine ausreichende Basisanalgesie mit Nichtopioiden erhalten. Als Methode der 1. Wahl sind regionalanästhesiologische Verfahren zu nennen. Starke Opiate sollen oder dürfen auch diesen Patienten nicht vorenthalten werden. Bei insuffizienter Wirkung empfiehlt sich die Kombination mit S(+)-Ketamin (Abb. 1).
Therapie chronischer Schmerzen beim opiatabhängigen Patienten Diese Problematik muss aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Chronische Schmerzen können natürlich auch den drogenabhängigen oder substituierten Patienten betreffen. Andererseits stellt sich das Problem der Opiatabhängigkeit auch beim primär chronischen Schmerzpatienten. Bei der ersten Gruppe, also den drogenabhängigen und auch substituierten Pa-
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tienten, muss zuallererst abgeklärt werden, ob tatsächlich chronische Schmerzen vorliegen, oder ob das Vortäuschen eines Schmerzzustandes zur Opiatbeschaffung dient. Hinweise kann die Bereitschaft liefern, ob der Patient gegenüber jeglichen Therapieoptionen aufgeschlossen ist, oder ob unbedingt eine Therapie mit Opiaten angestrebt wird (16). Liegt ein chronisches Schmerzproblem vor, ist nur eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sucht- und Schmerztherapeuten erfolgsversprechend. Allerdings ist diese Art von Kooperation eher noch als „missing link“ in der medizinischen Versorgung zu sehen (17). Eine zunehmend wichtige Rolle spielt die AIDS Neuropathie. Durch den Einsatz der antiretroviralen Therapie wird diese Langzeitnebenwirkung zunehmend zu einem klinisch relevanten Problem. Einerseits entsteht durch die HIV Infektion bei langen Krankheitsverläufen eine distal betonte symetrische Polyneuropathie, andererseits verursachen die antiretroviralen Medikamente bei bis zu 20% der Patienten toxische Polyneuropathien (18). Die oft sehr schmerzhaften neuropathischen Schmerzen sollten primär mit Antidepressiva und Antiepileptika behandelt werden. Bei den Antidepressiva hat sich vor allem Amitryptillin (Saroten®) in einer abendlichen Dosierung von 25–50 mg bewährt. Bei den Antiepileptika sollten primär die neueren Präparate wie Gabapentin (Neurontin®) bis 3600 mg oder Pregabalin (Lyrica®) bis 600 mg täglich eingesetzt werden. Diese beiden Präparate sind im Gegensatz zu Carbamazepin keine Enzyminduktoren. Der Einsatz von Carbamazepin beschleunigt den Metabolismus von Methadon und führt so zu Problemen bei der Substitutionstherapie. Sollte die Kombination von Antidepressiva und Antiepileptika nicht zur ausreichenden Schmerzlinderung führen, wäre wieder eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wünschenswert. Ein relevantes Problem stellt auch zunehmend die Opiatabhängigkeit bei chronischen Schmerzpatienten dar (11, 12, 19). Durch die Angst vor schweren Nebenwir-
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W. Jaksch
Tabelle 2. Wichtige Anzeichen für missbräuchliches Verhalten (Auszug aus 17) häufiger Verlust von Opioidrezepten Rezeptfälschungen verschwiegener Bezug durch andere Ärzte nicht abgesprochene Dosiseskalationen Forderung eines parenteralen Verabreichungsweges Widerstand gegen Änderung der Opioidtherapie trotz Wirkungslosigkeit Beigebrauch nicht verschriebener Opiate Injektion oraler/transdermaler Verabreichungsformen
kungen der Nichtopioidanalgetika und durch die Verfügbarkeit retardierter oder transdermaler Opiate entwickelte sich aus einer Unterversorgung ein oft unkritischer, und leider in vielen Fällen falscher Einsatz dieser Präparate. Selbstverständlich ist der Gebrauch dieser potenten und, wenn richtig angewendet, auch nebenwirkungsarmen Medikamente sowohl bei tumor-, aber auch bei nicht-tumorbedingten Schmerzen indiziert. Allerdings sind Opiate nicht bei allen Schmerzzuständen und auch nicht bei allen Patienten angebracht. Die zunehmend sinkende Verschreibungsschwelle für Opiate bei nicht-tumorbedingten Schmerzen fördert das Vorkommen von Missbrauch und auch psychischer Abhängigkeit. Vor Beginn einer Therapie ist eine genaue Anamnese bezüglich Missbrauch und Abhängigkeit zu erheben (20). Gefährdet sind speziell Patienten mit psychogener Schmerzätiologie sowie ausgeprägter Somatisierung. Allen psychischen Komorbiditäten muss besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Da das Risiko für Missbrauch vor allem bei fehlendem Erfolg hoch ist, hat die Kontrolle der Therapie einen hervorragenden Stellenwert. Dabei muss nach der Schmerzlinderung, dem Funktionsniveau, den Nebenwirkungen und Anzeichen eines missbräuchlichen Verhaltens (Tabelle 3) gefragt werden. Wird ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit festgestellt, sollte eine Entzugsbehandlung angestrebt werden. Erste Ergebnisse zeigen, dass nach dem Entzug der Schmerzscore niedriger und die Lebensqualität höher eingeschätzt wird. Bei Problemen mit einer Opiattherapie ist der niedergelassene Arzt aufgefordert, Patien-
ten frühzeitig in ein schmerztherapeutisches Zentrum zu überweisen.
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Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter Ernst Berger, Thomas Elstner, Sabine Fiala-Preinsperger Einleitung Ausgehend vom Wissen um die biologischen und psychosozialen Risken, die mit dem Konsum von Drogen im Allgemeinen und während der Schwangerschaft im Besonderen verbunden sind, wurde in Wien im Jahre 1995 – auf Initiative der Drogenambulanz der Psychiatrischen Universitätsklinik ein Betreuungsnetzwerk für drogenkonsumierende schwangere Frauen („comprehensive care project“) etabliert. Ziel dieses Netzwerkes war und ist die Reduktion von Entwicklungsrisiken der Kinder durch intensive und umfassende prä-, peri- und postnatale Betreuung. Dementsprechend sind an diesem Netzwerk folgende Institutionen beteiligt: – Psychiatrische Universitätsklinik/Drogenambulanz (Allgemeines Krankenhaus Wien) – Universitäts-Frauenklinik (Allgemeines Krankenhaus Wien) – Universitäts-Kinderklinik (Allgemeines Krankenhaus Wien) – Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien – Neuropsychiatrische Abteilung für Kinder und Jugendliche (Neurologisches Zentrum Rosenhügel Wien) Nach internationalen Erfahrungen wird das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter mit etwa 50% eingeschätzt. Darüber hinaus sind zahlreiche biologische und psychosoziale Risiken, die mit dem Substanzkonsum verknüpft sind, in Rech-
nung zu stellen. Grundsätzlich ist von folgenden potenziellen Risikofaktoren auszugehen: Biologische Risikofaktoren: Schädigungen des kindlichen ZNS durch Substanzeinnahme in der Schwangerschaft Vorgeburtliche Wachstumsstörungen und Frühgeburtlichkeit Peripartale Komplikationen Neonatales Entzugssyndrom Psychosoziale Risikofaktoren: Fluktuierende Betreuung durch instabile Familiensysteme Regulationsstörungen in der MutterKind-Beziehung Mangelnde Entwicklungsanregung Aus sozialmedizinischer und gesundheitspolitischer Perspektive ist die Frage nach den Effekten und den Wirkelementen der im Rahmen des Betreuungsnetzwerks gewählten Präventionsstrategie besonders bedeutsam. Knapp formuliert könnte man fragen: Wie hoch ist das Entwicklungsrisiko von Kindern, deren Mütter während und nach der Schwangerschaft Drogen konsumieren? Kann eine präventive Betreuung bei fortdauernder Substanzeinnahme (Substitutionsbehandlung) das Entwicklungsrisiko verringern? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde dem „comprehensive care project“ eine Evaluationsstudie über die Entwicklung der Kinder angegliedert, deren Ergebnisse hier verkürzt dargestellt werden.
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Das Evaluationsprojekt1 wurde im Rahmen der Arbeitsgruppe Rehabilitation/ Integration an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters in Kooperation mit der Ambulanz der Neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche durchgeführt.
Ausgangslage Die Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter ist durch spezifische und unspezifische biologische sowie psychosoziale Risikofaktoren beeinträchtigt (4,6). Unbehandelte Abhängigkeit von illegalen Substanzen, und speziell Opioidabhängigkeit führt zu offensichtlicher Gesundheitsbeeinträchtigung und bekannten Folgeerscheinungen für Feten und Neugeborene (13). Meist besteht intrauteriner Kontakt mit verschiedensten Substanzen. Schwankende Opiatspiegel führen zu Entzugserscheinungen bei Mutter und Kind; ein erhöhtes Abortrisiko und Frühgeburtlichkeit sind die Folge (8). Der beeinträchtigte Gesundheits- und Ernährungszustand schwangerer substanzabhängiger Frauen sowie fehlende Vorsorgeuntersuchungen erhöhen das Risiko perinataler Komplikationen. Drogenabhängige Frauen haben oft große Schwierigkeiten, sich und ihre Umgebung auf die kommenden Aufgaben der Säuglingsbetreuung vorzubereiten; sie sind häufig mit zahlreichen psychosozialen Problemen (z.B. Schulden, fehlende Wohnmöglichkeit, instabile Beziehungen etc.) konfrontiert. Schließlich sind die Neugeborenen einem erhöhten Infektionsrisiko durch sexuell und parenteral erworbene Erkrankungen wie HIV, Hepatitis B und C ausgesetzt (14). Ebenso ist das Risiko, an einem SID-Syndrom zu versterben deutlich erhöht (21). In den letzten Jahren sind standardisierte Betreuungsmodelle entwickelt worden, die zu einer nachhaltigen Verbesserung der gesundheitlichen Bedingungen für die Schwangeren und die Föten geführt haben (14, 19).
E. Berger et al.
Als zentrales strukturierendes Element wurde dabei eine Opioiderhaltungstherapie etabliert, da Opioide – im Unterschied zu manchen legalen (z.B. Alkohol) und illegalen Substanzen (z.B. Kokain) – nicht zytotoxisch und nicht teratogen wirken. Ohne Zusatzkonsum sind daher auch keine substanzabhängigen Fehlbildungen zu erwarten (8). Bei Teilnahme an perinatalen Betreuungsprogrammen ist es gelungen, perinatale Risikofaktoren wie Frühgeburtlichkeit und niedriges Geburtsgewicht zu reduzieren. Neuere Querschnittsstudien weisen darauf hin, dass das Risiko des intrauterinen Drogenkontakts im Verhältnis zu den psychosozialen Risikofaktoren geringer einzustufen ist (24). Über die langfristige Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter unter den Bedingungen einer kontinuierlichen Entwicklungsbegleitung eines Comprehensive Care Modells lagen bei Projektbeginn keine Informationen vor. Ebenso fehlten systematische Studien über die psychosozialen Aspekte der Entwicklung in der frühen Kindheit. Auf diesem Hintergrund stellte sich für die Evaluationsstudie ein Bündel von Fragen: Wie stellt sich das biologische Risiko unter den spezifischen Substitutionsbedingungen unseres „comprehensive care projects“ dar? Wie gestaltet sich die frühkindliche Lebenssituation von Kindern substanzabhängiger Eltern? Können etwaige Risken, die sich aus diesen Lebenssituationen ergeben, (ebenso wie die biologischen Risken) reduziert werden? Ist es möglich, die zahlreichen potenziellen Risiken nach ihrer Bedeutung zu gewichten? Und schließlich: Welche Maßnahmen und Bedingungen können dazu beitragen, den suchtkranken Menschen zu helfen, 1 Das Evaluationsprojekt wurde mit Unterstützung des Medizinisch-Wissenschaftlichen Fonds des Bürgermeisters der Bundeshauptstadt Wien – Projekt Nr. 1618 – durchgeführt und dauerte vom 1. 9. 1999 bis 31. 8. 2001.
Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter
sich als „normale“ Eltern den Höhen und Tiefen der Kindesentwicklung und Erziehung zu stellen?
Das „comprehensive care project“ Psychiatrische UniversitätsklinikDrogenambulanz Die Ambulanz der Psychiatrischen Universitätsklinik ermöglicht die Verknüpfung von hoher psychopharmakologischer Kompetenz mit einem verdichteten psychosozialen Betreuungsangebot (Sozialarbeit, Frauengruppen). Die Inanspruchnahme dieser Betreuung beruht auf Information durch die niedergelassenen Ärzte und Freiwilligkeit. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass drogenabhängige Frauen den Eintritt der Schwangerschaft oft erst spät wahrnehmen. Durch die Betreuung in der Drogenambulanz gelang es, diese Risikopopulation in ein Betreuungsnetz einzugliedern, das auch eine hohe Akzeptanz bei den Patientinnen fand. Die Patientinnen werden dreimal wöchentlich gesehen. Bei diesen Kontakten wird neben der ärztlichen Betreuung auch immer versucht die Sozialarbeiterinnen mit einzubinden. Universitäts-Frauenklinik Patientinnen im Substitutionsprogramm zeichnen sich erfreulicherweise durch häufigere vorgeburtliche gynäkologische Kontrolltermine an der Universitätsfrauenklinik aus, als eine nicht substanzabhängige Vergleichspopulation. Die Entbindung erfolgt im üblichen klinischen Setting mit besonderer Beachtung des neonatalen Entzugssyndroms. Universitäts-Kinderklinik Zur Behandlung des neonatalen Entzugssyndroms erfolgt stets eine Transferierung der Neugeborenen an die Universitätskinderklinik. Das neonatale Entzugssyndrom wurde bis 1996 primär mit Phenobarbital, seit 1997 gemäß internationalen Standards mit Morphinlösung als „first line drug“ be-
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handelt. Mit Entlassung von der Neugeborenenstation wurde den Müttern die Information über den 1. Kontrolltermin an der Entwicklungsambulanz mitgegeben. Amt für Jugend und Familie der Stadt Wien Das Amt für Jugend und Familie ist die Jugendwohlfahrtsbehörde der Stadt Wien und besitzt eine regionalisierte Organisationsstruktur (Bezirksjugendämter), die für den Kontakt mit Familien zuständig sind, bei denen Hilfs- und Unterstützungsbedarf hinsichtlich der Vorbeugung einer Gefährdung der kindlichen Entwicklung besteht. Bei gegebenem Risiko liegt es im Verantwortungsbereich der Sozialarbeiterin, die Entscheidung über Unterstützungsmaßnahmen bzw. über die Abnahme des Kindes zur Überstellung auf einen Pflegeplatz zu treffen. Die Kooperation des Jugendamtes mit der Entwicklungsambulanz stützt sich auf „Fachärztliche Richtlinien“ zur Beurteilung der etwaigen Gefährdung der kindlichen Entwicklung im Rahmen des Betreuungsprojekts „Kinder substanzabhängiger Mütter“. Kinderneuropsychiatrische Langzeitbetreuung Im Rahmen der Entwicklungsambulanz der Neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel wurde – integriert in den allgemeinen Ambulanzbetrieb – ein Betreuungsmodell etabliert, dessen Zielsetzung der Risikominimierung über folgende Bereiche definiert wurde: – Beobachtung der somatischen (neurologischen) und psychischen Entwicklung (5, 22, 26, 31) – Stützung und Beratung der Eltern – Kooperation mit der Jugendwohlfahrtsbehörde im Bedarfsfall Der Betreuungszeitraum wurde von der 6. Lebenswoche (Entlassung aus der Neugeborenenstation sicher erfolgt) bis zum
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Ende des 6. Lebensjahres (Schuleintritt) festgelegt.
Ergebnisse Die Studiengruppe umfasste 95 Kinder, die in der Zeit zwischen 1. 3. 1995 und 15. 10. 1999 geboren wurden und nach Überweisung durch das AKH Wien zu einem Termin in unserer Entwicklungsambulanz erschienen. Die Kontinuität der Teilnahme an den vereinbarten Kontrollterminen (Compliance) des Betreuungsprojekts war relativ hoch und lag bei durchschnittlich 56,6%. Alle in der Folge zusammengefassten Aussagen und Schlussfolgerungen sind auf den Hintergrund der Bedingungen des „comprehensive care projekts“ zu beziehen und somit nicht als allgemeine Aussagen über kindliche Entwicklung im Zusammenhang mit Drogenkonsum der Mütter zu werten. Epidemiologie Die Gesamtzahl der unter den genannten Bedingungen im Zeitraum von 4,6 Jahren geborenen Kinder betrug 135. Davon konnten 38 Kinder trotz Information und Empfehlung nicht ins Nachbetreuungsprojekt übernommen werden. Dies lässt unter den damaligen epidemiologischen Bedingungen des Drogenkonsums die Schlussfolgerung zu, dass im Beobachtungszeitraum etwa 35 Kinder pro Jahr von substanzabhängigen Müttern in oraler Opioiderhaltungstherapie geboren wurden, von denen etwa 70% in eine langfristige Nachbetreuung eingebunden werden konnten. Biologische Risken und Folgen Das biologische Risiko ist unter den Bedingungen einer konsequenten Substitutionsbehandlung insgesamt als gering zu veranschlagen, steigt jedoch bei zusätzlichem Drogenkonsum deutlich an. Auch der parallele – oft beträchtliche – Nikotinkonsum spielt als pränataler Risikofaktor eine be-
E. Berger et al.
achtliche Rolle. Folgende mögliche Konsequenzen und Zusammenhänge sind hier zu nennen: – Der Frühgeburtlichkeit – einer der zentralen Risikofaktoren bei Drogenkonsum – kann unter „comprehensive care“ – Bedingungen erfolgreich vorgebeugt werden (Schwangerschaftsdauer Mittelwert 37,9 Wochen). – Die Dauer des neonatalen Entzugssyndroms (13) – nach unseren Ergebnissen ein zentraler Risikoparameter für spätere Entwicklung – konnte im Rahmen der „comprehensive care“ – offenbar vorwiegend durch Verringerung des Zusatzkonsums bzw. durch Wechsel der Medikation (Morphin statt Phenobarbital) – deutlich reduziert werden. Aufgrund hoher Kreuzkorrelationen kann dieser – leicht erhebbare – Parameter als zentraler Indikator für pränatale biologische Risikobelastung gewertet werden. Eine längere Dauer findet sich vorwiegend bei Zusatzkonsum von Benzodiazepin. – Pränatale Dystrophie (20,9%) und Mikrozephalie (13,7%) als Zeichen beeinträchtigter vorgeburtlicher Entwicklung treten bei einem kleinen Prozentsatz der Kinder auf und finden sich insbesondere bei ausgeprägtem Zusatzkonsum inklusive Nikotinkonsum. Geringe – vorwiegend faciale – Dysmorphiezeichen sind ebenfalls mit Zusatzkonsum korreliert. – Die hochsensible Untersuchungsmethode der frühkindlichen Spontanmotorik (General Movements nach PRECHTL 25, 27) zeigen bei einer kleinen Gruppe Auffälligkeiten die deutlich mit dem Zusatzkonsum korrelierten. Vermutlich sind die General Movements (GM) auch als Prognosefaktor späterer kognitiver Entwicklung zu werten. – Ein Rückstand in der statomotorischen Entwicklung im 1. Lebensjahr (5) findet sich bei einer kleinen Zahl von Kindern (5,3%), bei denen ähnliche Bedingungen feststellbar sind: eine Kombination aus biologischen und psychosozialen Risikofaktoren (Po-
Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter
lytoxikomaner Zusatzkonsum in der Schwangerschaft, protrahiertes Entzugssyndrom, fluktuierende Betreuung und/oder Interaktionsstörungen in der frühen Kindheit). Vier dieser Kinder waren bleibend mikrozephal und zeigten auch eine leichte kognitive Beeinträchtigung. – Eine scheinbare „Verzögerung“ der motorischen Entwicklung im ersten Lebensjahr im Hinblick auf das Verschwinden frühkindlicher motorischer Reaktionen (vor allem der Moro-Reaktion) ist als Audruck des protrahierten Verlaufs des neonatalen Entzugssyndroms und nicht als Entwicklungsparameter zu werten und entspricht eher einem leichten Übererregbarkeitssyndrom. Diese Symptomatik ist völlig reversibel. Psychosoziale Risken und Folgen Psychosoziale Risikobelastung spielt insgesamt die quantitativ bedeutsamere Rolle. Sie ist einerseits als Tendenz zur Interaktionsstörung beschreibbar und andererseits als Tendenz zur Instabilität der Betreuungsfunktionen, die schließlich zur Überstellung des Kindes auf einen Pflegeplatz führen kann. Auch bei diesen Parametern besteht ein deutlicher Zusammenhang mit Zusatzkonsum (als Ausdruck intrapsychischer und Ursache psychosozialer Instabilität). Die Häufigkeit von psychopathologischen Symptomen (33) und von Verhaltensauffälligkeiten im Vorschulalter (1, 2) ist sowohl im Elternurteil als auch in der klinischen Beobachtung als gering zu veranschlagen. Allerdings sehen wir Hinweise auf eine steigende Tendenz im nächsten Entwicklungsabschnitt. Deutliche Interaktionsstörungen (9) zeigen sich bei mehr als 1/4 (26,2%) der Kinder und bei weiteren 45,2% beeinträchtigte Beziehungen. In der Gruppe der leiblichen Mütter sind diese Relationen deutlich ungünstiger als in der Gruppe der Pflegemütter. Da die Beurteilung der Videos durch eine externe Untersucherin (quasi „blind“)
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erfolgte, kommt dieser Beobachtung besonderes Gewicht zu. Die Instabilität der Betreuungssituationen – laut Beurteilung der Sozialarbeiter des Jugendamtes – lässt sich anhand der Zahl der Überstellungen in andere Pflegesituationen quantifizieren: unmittelbar nach der Geburt liegt diese Zahl bei 32,6% und steigt bis zum Ende der Evaluationsstudie auf 48,4%. Diese Daten können als externer Parameter betrachtet werden, da die Entscheidungen des Jugendamtes in der Praxis nur in seltenen Fällen auf eine kinderpsychiatrische Empfehlung gestützt werden. Die kognitive Entwicklung (22, 29, 32) zeigt anfänglich Hinweise auf eine geringe Verzögerung des Erwerbs lautsprachlicher Komponenten und später im Kollektiv eine geringe negative Abweichung in allen Bereichen. Die Zusammenhänge sind nur schwer monokausal interpretierbar, da sie innerhalb eines komplexen Netzes multifaktorieller Wechselwirkungen liegen. Biologische Risken (Dauer des Entzugssyndroms, bleibende Mikrozephalie, Auffälligkeiten der GM’s) spielen ebenso eine Rolle wie psychosoziale Parameter. Das Problem der Beurteilung der Pflegesituation und ihrer Auswirkungen hat im Kontext des Drogenkonsums zentralen Stellenwert. Meist wird die Frage gestellt, ob es für die kindliche Entwicklung günstiger ist, Überstellungsentscheidungen großzügig zu treffen oder die Kinder möglichst lange bei ihren Müttern zu lassen. Wir sind zur Überzeugung gelangt, dass eine globale Antwort auf die so gestellte Frage nicht möglich ist und wollen versuchen, Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser zentralen Frage zusammenzufassen. – In der Gruppe der Pflegemütter ist die Häufigkeit von Interaktionsstörungen geringer. – Eine Verzögerung der Entwicklung mit 12 Monaten war signifikant mit einer Überstellung im 2. Lebensjahr korreliert und ein Betreuungswechsel im 1. Lebensjahr ist mit einer guten Entwicklung mit 24 Monaten korreliert. Vermut-
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lich bedeutet das, dass ein erhöhtes präund perinatales Risiko sowie früh merkbare Betreuungsinstabilität mit früher und stabiler Pflegeüberstellung verknüpft ist, die ihrerseits möglicherweise protektive Wirkungen entfaltet. – Andererseits gibt es auch resiliente Entwicklungen, die zu einer Stabilisierung der gesamten Lebenssituation und damit auch der Mutter-Kind-Beziehung führen. Eine idealtypische Vereinfachung könnte durch folgendes Bild dargestellt werden. Bei den Kindern die primär bei ihren Müttern verbleiben, gibt es zwei unterschiedliche Verlaufsformen: „günstiger Verlauf“: Ein größerer Teil der Mütter stabilisiert sich zunehmend. Ein Teil der Mütter nimmt im zweiten Lebensjahr einen Beruf oder eine berufliche Umschulung wieder auf. Neben einer tragfähigen Partnerschaft ist die Hilfestellung durch Verwandte (oft die eigene Mutter) ein wesentlicher Faktor dabei. Inhaltlich treten bei den Kontrolluntersuchungen zunehmend Erziehungs- und Entwicklungsfragen gegenüber dem Drogenthema in den Vordergrund. Tendenziell bleiben jedoch hinter einer sozialen Stabilisierung emotionale Probleme länger bestehen. „ungünstiger Verlauf“: Bei einem kleineren Teil der Mütter zeigt sich bald nach der Geburt, dass die inneren und äußeren Ressourcen zur Betreuung eines Säuglings nicht ausreichen. Depression und Isolation auf der einen, Zusatzkonsum auf der anderen Seite bedrohen die Mutter-Kind-Beziehung. Trotz Angebot zusätzlicher Unterstützungsmaßnahmen kommt es in einem Teil der Fälle zu einem vom Jugendamt initiierten Betreuungswechsel des Kindes in eine Pflegefamilie, teilweise auch unter turbulenten Umständen. Manchmal übernimmt ein Großelternteil offiziell die Pflege, oft in der Hoffnung dass die Mutter das Kind zu einem späteren Zeitpunkt betreuen kann. In der Gesamtgruppe von 95 Müttern
E. Berger et al.
fand sich folgende Häufigkeitsverteilungen: etwa 1/3 primäre Überstellung, etwa 1/3 spätere Überstellung (in den ersten Jahren), etwa 1/3 Stabilisierung. Entscheidungen über die Gestaltung der Pflegesituationen sollten daher auf häufigere und hochfrequente Beobachtungen gestützt werden; die Parameter von Zusatzkonsum und Qualität der Mutter-Kind-Interaktion (methodengeleitetes Expertenurteil!) sollten dabei Berücksichtigung finden. Entwicklungsergebnisse im Vorschulalter und Katamnesen Weitere Ergebnisse sowie die Details der Methodik finden sich in einer anderen Publikation der Autoren (11). Im Vorschulalter bzw. bei der Abschlussuntersuchung mit 6 Jahren fanden wir bei 20/63 (31,7%) der Kinder suboptimale Werte des entwicklungsneurologischen Scores (5) (bei N = 17 leicht und bei N = 3 mäßig ausgeprägt), die im Sinne einer Entwicklungsdyspraxie interpretiert werden können. Bei einem Drittel (21/63 = 33,3%) der Patienten fanden sich psychopathologische Auffälligkeiten (33), davon N = 14 im emotionalen (F4), N = 8 im Verhaltensbereich (F9). Bei fünf Kindern der letzteren Gruppe handelte es sich um ein klinisch relevantes hyperkinetisches Syndrom – somit 8% (N = 5/63) der Gesamtgruppe – und bei weiteren 14,3% (N = 9/63) fand sich ein subklinisches hyperkinetisches Syndrom (Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsstörung erkennbar, ohne entsprechende Außenanamnese). Weitere 14,3% (N = 9/63) zeigten eine Aufmerksamkeitsstörung während der Testdiagnostik ohne erhöhte Impulsivität. Die Aufgliederung der Ergebnisse des Intelligenztests (K-ABC) ergab eine geringe, aber statistisch signifikante negative Abweichung in allen Bereichen. Zwischen der Gruppe von Kindern die primär zu Pflegeeltern kamen, und der Gruppe von Kindern die bei den leiblichen Eltern verblieben, fand sich im Alter von 4–5 Jahren
Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter
im Leistungstest kein signifikanter Unterschied. Die Komplexität der Einflussfaktoren zeigt sich in den Details: Im Hinblick auf die Fertigkeitenskala, die die erworbene Intelligenz misst, haben die Kinder in Pflegeelternbetreuung bessere Ergebnisse. Andererseits lagen die Ergebnisse der Intelligenzmessung bei den Kindern der „Hochrisikogruppe“ für vorgeburtliche Beeinträchtigung mit massivem Zusatzkonsum in der Schwangerschaft deutlich unter dem Normbereich. Diese Kinder sind seit der Geburt bei Pflegeeltern untergebracht und gut gefördert, was für eine pränatal erworbene Komponente ihrer kognitiven Beeinträchtigung spricht. Insgesamt kann vermutet werden dass bei einem Teil der Kinder die weitere Schullaufbahn durch Verhaltensauffälligkeiten (33,3%), Entwicklungsdyspraxie (31,7%) oder Auffälligkeiten der kognitiven und exekutiven Funktionen belastet werden könnte, bzw. dass die Kinder im schulischen Bereich eine spezielle Unterstützung benötigen werden. Erste Ergebnisse der Telefonkatamnesen (N = 20, medianes Alter 9 Jahre) scheinen diese Vermutungen zu bestätigen: N = 5 von 20 Kindern sind auf Sonderschulniveau eingeschult, weitere 4 Kinder sind durch Rückstufung oder verspäteten Eintritt ein Jahr älter, als ihrer Schulstufe entspricht. Auswertungen der zu jedem Untersuchungszeitpunkt erhobenen Einschätzung der psychosozialen Stabilität im Längsschnitt (psychosozialer Risikoscore) lassen zwei Schlussfolgerungen zu: Erstens bleiben bei stabiler Lebenssituation im ersten Lebensjahr die Kinder in den folgenden Jahren auch in Obsorge der Mutter, die sich meist weiter konsolidiert. Zweitens (und das ist überraschend) findet sich gerade bei mittlerem psychosozialen Risiko eine hohe Anzahl von späteren Überstellungen in Fremdpflege, während bei höherem Risiko die Interventionen und Beratungen zum Teil zur Stabilisierung führen. Vorsichtig interpretiert scheinen vor allem Frauen, die eine trotz Substitution gerade noch kompensierte Suchtproblematik aufweisen, besonders gefährdet, ihre Kinder
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zu verlieren, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, die Fassade aufrecht zu erhalten. Auf die vorhandenen diskreten Signale rechtzeitig zu reagieren und hier ein passende Hilfe anzubieten, stellt eine der Herausforderungen der Betreuung dar. Polytoxikomaner Beikonsum (vor allem von Benzodiazepinen) in der Schwangerschaft – als Ausdruck einer trotz Substitution unbewältigten Suchtproblematik – ist hochsiginifikant mit späterer Überstellung im Fremdpflege korreliert. Die zum Teil immer noch übliche großzügige Verschreibungspraxis von Tranquilizern sollte hier einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Weiterentwicklung des Betreuungsprojektes sowie der Kooperation innerhalb des Netzwerks Die Etablierung des Netzwerks hat mittlerweile auf mehreren Ebenen Auswirkungen gezeigt. An der Drogenambulanz wurde in Pilotstudien Buprenorphin als Alternative zu anderen etablierten Opioiden verwendet und zeigt ermutigende Ergebnisse im Hinblick auf ein deutlich geringer ausgeprägtes neonatales Abstinenzsyndrom. Die Teilnahme an einer multizentrischen Doppelblindstudie (Buprenorphin versus Methadon) ist im Anlaufen. Mit der von der American Academy of Pediatrics empfohlenen – Einführung von MoHCl als first line drug (AMERICAN ACADEMIY OF PEDIATRICS 1998) wurde eine signifikante Verkürzung des neonatalen Entzugssyndroms erreicht (28). Mittlerweile hat sich die geburtshilfliche und neonatologische Betreuung auf mehrere Abteilungen in Wien verteilt – unter anderem auch durch die Zunahme der Zahl pro Jahr geborener Kinder (zu Beginn der Evaluation 35, derzeit etwa 60). Seit 1995 wurden bis dato 270 Kinder in das Betreuungssetting aufgenommen. Da der entscheidende erste Schritt in die Nachbetreuung von der gezielten Zuweisung bei Entlassung der Neugeborenen aus der Pädiatrie abhängt, wurde über Fortbildungsveranstaltungen eine mittlerweile
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gut funktionierende Kooperation zwischen dem Zentrum Rosenhügel und den neonatologischen Abteilungen Wiens aufgebaut. Regelmäßige Treffen mit Entscheidungsträgern der Drogenhilfe und der Jugendwohlfahrt tragen zu einer allmählichen Zunahme interdisziplinärer Professionalität bei. Die sozialarbeiterische Betreuung im Rahmen des AKH wurde neu geregelt und mit dem Spitalsverbindungsdienst für Drogenpatienten CONTACT verknüpft. In jährlichen Fortbildungstagungen zum Thema „Der Suchtpatient im Krankenhaus“ konnten die Erfahrungen und Ergebnisse der Kooperation weitergegeben werden. Die hohe Frequenz von Kindesabnahmen bei einer Untergruppe mit höherer psychosozialer Belastung im ersten Lebensjahr führte zu Überlegungen in Richtung einer intensivierten Betreuung für Mütter und Kinder. Denkbar sind psychoedukative und bindungsorientierte Ansätze. Durch die Platzierung der Nachbetreuung an einer kinderneuropsychiatrischen Ambulanz, in der neben einer Sozialarbeiterin und dem Psychologen bei Bedarf die Mitarbeiter des multiprofessionellen Ambulanzteams (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Musiktherapie) zur Verfügung stehen, können spätere Entwicklungskrisen oder Auffälligkeiten im Kindergarten (auch nach Beendigung der elterlichen Drogenproblematik) Anknüpfungspunkt für individuelle Hilfs- und Betreuungsangebote sein. Die Fortsetzung der systematischen Langzeitbeobachtung vom 6. Lebensjahr bis ins Jugendlichenalter mit Hilfe von Telefonkatamnesen und Fragebögen hat begonnen. Insbesondere in der nächsten Entwicklungsphase (Schulzeit bis zur Adoleszenz) wird sich zeigen, ob es den Kindern und Eltern gelingt, die damit verbundenen Anforderungen gut zu bewältigen.
Schlussfolgerung Die vorliegende Evaluationsstudie kann aufgrund ihres hohen Erfassungsgrades
E. Berger et al.
und aufgrund ihrer relativ hohen Kontinuität (Compliance) für die Entwicklungsbedingungen von Kindern drogenabhängiger Mütter in Substitutionsbehandlung unter den beschriebenen Bedingungen der „comprehensive care“ als repräsentativ gewertet werden. Das Risiko einer Beeinträchtigung der Entwicklung durch vorgeburtliche biologische Einflüsse, die mit dem Drogenkonsum in unmittelbarem Zusammenhang stehen, ist sehr gering. Dieses Risiko steigt jedoch dann deutlich an, wenn die ärztlich geleitete Substitutionsbehandlung durch Zusatzkonsum ergänzt wird. Dementsprechend kommt der Kontinuität und der fachlichen Kompetenz der Substitutionsbehandlung besonderer Stellenwert zu. Der fast stets vorhandene begleitende Nikotinkonsum ist als relevanter, im vorliegenden Kontext aber unspezifischer Risikofaktor in Rechnung zu stellen. Zentrale perinatale Risikofaktoren – Frühgeburtlichkeit, intrauterine Dystrophie, neonatales Entzugssyndroms – konnten im Rahmen des Betreuungsnetzes günstig beeinflusst werden. Im Bereich psychosozialer Risken spielen Beeinträchtigungen der Mutter-KindInteraktion und Instabilität der Betreuungsfunktionen die zentrale Rolle. Vermutlich sind auch diese Faktoren vor allem für die psychischen Konsequenzen in der Entwicklung der Kinder verantwortlich. Bis zum 6. Lebensjahr bilden sich bei etwa 1/5 bis 1/4 der Kinder psychopathologische Symptome und Verhaltensstörungen geringer Intensität aus und die kognitive Entwicklung verläuft geringfügig verzögert. Die Betreuungsinstabilität ist bei etwa 1/3 der Kinder primär (bald nach der Geburt) und insgesamt bei fast der Hälfte der Kinder Anlass für die Überstellung auf Pflegeplätze (manchmal im Kreise Verwandter). Der Rahmen der Pflegefamilien scheint günstige Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Kinder zu bieten (weniger Interaktionsstörungen, günstige Entwicklungsverläufe). Besondere Beachtung verdienen jene
Entwicklung von Kindern substanzabhängiger Mütter
Mutter-Kind-Paare, bei denen es mit Unterstützungsangeboten zu einer kontinuierlichen Stabilisierung der Lebenssituation und der Mutter-Kind-Beziehung kommt. Berufstätigkeit, Partnerschaft und allgemeine Erziehungsfragen treten in den Vordergrund der Beratungsgespräche, während das Thema des Drogenkonsums sukzessive an Bedeutung verliert, wenngleich Elemente emotionaler Instabilität bestehen bleiben. Die vorliegenden Ergebnisse stützen die Einschätzung, dass es sich bei dieser Population um eine Hochrisikogruppe handelt, die eines engmaschigen Betreuungsangebotes von hoher fachlicher Kompetenz und multidisziplinärer Struktur bedarf. Die vorliegenden Ergebnisse können für die Praxis der Jugendwohlfahrt insofern eine Entscheidungshilfe darstellen, als Entscheidungen über eine Trennung der Kinder von ihren Müttern nicht als großzügige Primärstrategie getroffen werden sollten, sondern die Möglichkeiten einer Stabilisierung der Lebenssituation durch adäquate Unterstützungen ausgelotet werden sollen. Entscheidungen zur Trennung sollten – außer in akuten Notständen – nach längerfristigen und hochfrequenten Beobachtungen unter fachlicher Beurteilung der Mutter-Kind-Interaktion getroffen werden. Der entscheidende Wirkfaktor der Risikominimierung war im Rahmen des beschriebenen Betreuungsprojekts zweifellos das Konzept der „comprehensive care“ – das multidisziplinäre „Netz von Helfern“, das Kontinuität und Kooperation auf hohem Niveau von Fachkompetenz gewährleistet.
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Drogen und Opiate im Straßenverkehr Yvonne Körner, Eva Schnabel und Hans-Peter Krüger Einführung
Rechtliche Aspekte
Da alle zentralnervös wirksamen Substanzen starke psychophysische Ausfallerscheinungen bedingen können, stellt sich der empirischen Forschung unmittelbar die Frage nach den mit der Einnahme von Drogen und Medikamenten verbundenen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. Auch im Rahmen der polizeilichen Verkehrsüberwachung ist das Bewusstsein für diese Risiken gewachsen (1). So hat die Anzahl an chemisch-toxikologischen Untersuchungen von Blut- und Urinproben aufgrund eines Verdachts der Teilnahme am Straßenverkehr unter Drogen- bzw. Medikamenteinfluss in den letzten Jahren deutlich zugenommen (bspw. stieg die Anzahl an entsprechenden Analyseaufträgen in Nordrhein-Westfalen von 1997 bis 2003 von 192 auf 1068 an (2). Im Folgenden werden zunächst die rechtlichen Grundlagen bezüglich einer Verkehrsteilnahme unter dem Einfluss von Drogen und Medikamenten erläutert. Anschließend werden – mit dem Schwerpunkt auf Opioide – epidemiologische Statistiken zum Problemstand sowie experimentelle Befunde zum Einfluss psychoaktiver Substanzen auf die Verkehrssicherheit zusammengefasst. Abschließend soll die Einnahme opiathaltiger Medikamente zu therapeutischen Zwecken (Methadonsubstitution, Schmerztherapie) in ihren Implikationen für die Fahrtüchtigkeit diskutiert werden.
Durchgängig ist in allen europäischen Ländern die Teilnahme am Straßenverkehr nach dem Konsum von illegalen Drogen pönalisiert, meist mit strafrechtlichen, teilweise mit verwaltungsrechtlichen Konsequenzen. Unterschiede bestehen darin, ob bereits der Nachweis einer Substanz strafbewehrt ist („zero-tolerance legislation“) oder ob Ausfallerscheinungen vorhanden sein müssen („impairment approach“). Weitere Unterschiede sind darin zu finden, ob die Einnahme von Medikamenten ebenfalls in die Regelungen einbezogen ist oder ob der bestimmungsgemäße Gebrauch von Arzneimitteln nicht strafbewehrt ist. Außerordentlich heterogen sind die Regelungen zum Führerscheinentzug und dessen Wiedererteilung. Für eine Übersicht siehe die Arbeiten der Pompidou Gruppe (3, 4). Detailliert durchgearbeitete Richtlinien zur Kraftfahreignung liegen für Deutschland in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (5) vor. Dabei wird unterschieden zwischen Sucht und Intoxikationszuständen einerseits sowie einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln andererseits. Nach den Leitsätzen können Personen, die Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) einnehmen oder von solchen abhängig sind, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht gerecht werden (die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels wird hier explizit ausgenommen). Insbesondere bei regelmäßigem
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Cannabiskonsum (täglich oder gewohnheitsmäßig) wird die Fahreignung in der Regel als nicht gegeben angesehen, es sei denn Konsum und Fahren werden mit hoher Wahrscheinlichkeit getrennt und es liegen keine Leistungsmängel vor. Personen, die gelegentlich Cannabis konsumieren, werden als fahrgeeignet angesehen, wenn sie Konsum und Fahren trennen können, nicht zusätzlich Alkohol oder andere psychoaktiv wirkende Substanzen einnehmen und keine Störung der Persönlichkeit sowie kein Kontrollverlust vorliegen. Bei einer Abhängigkeit von anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen wird dem Fahrer die Fahreignung abgesprochen. Gleiches gilt für Personen, die zwar nicht abhängig sind, aber missbräuchlich oder regelmäßig Stoffe konsumieren, welche „die körperlich-geistige (psychische) Leistungsfähigkeit eines Kraftfahrers ständig unter das erforderliche Maß herabsetzen oder die durch den besonderen Wirkungsablauf jederzeit unvorhersehbar und plötzlich seine Leistungsfähigkeit oder seine Fähigkeit zu verantwortlichen Entscheidungen … vorübergehend beeinträchtigen können“ (5, S. 43). Liegen derartige Voraussetzungen für den Ausschluss der Fahreignung vor, wird diese nur dann wieder als gegeben angesehen, wenn eine mindestens einjährige Abstinenz durch ärztliche Untersuchungen nachgewiesen werden kann und – bei Abhängigkeit – eine erfolgreiche Entwöhnungsbehandlung stattgefunden hat. Zudem wird ein tiefgreifender Einstellungswandel vorausgesetzt, der erwarten lässt, dass der Betroffene auch in Zukunft abstinent bleiben wird. Personen in einer Methadon-Substitutionstherapie werden nur in seltenen Ausnahmefällen und unter besonderen Umständen als fahrgeeignet erachtet (mehr als einjährige Methadonsubstitution, stabile psychosoziale Integration, mindestens einjährige Abstinenz gegenüber Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen, Therapie-Compliance, keine Störung der Gesamtpersönlichkeit). Im Hinblick auf eine dauerhafte Ein-
Y. Körner et al.
nahme von Medikamenten wird Fahreignung „bei nachgewiesenen Intoxikationen und anderen Wirkungen von Arzneimitteln, die die Leistungsfähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeuges beeinträchtigen, bis zu deren völligem Abklingen“ als nicht gegeben angesehen (5, S. 44). Entscheidend ist dabei, ob eine medikamentöse Therapie (v.a. die Dauertherapie) mit psychophysischen Leistungsbeeinträchtigungen verbunden ist, die für das Führen von Kraftfahrzeugen von Bedeutung sind. Bei einer medikamentösen Therapie, die mit erheblichen Nebenwirkungen wie Verlangsamung oder Konzentrationsstörungen einhergeht, wird die Fahreignung in jedem Fall abgesprochen. Dies ist v.a. bei chronischen Erkrankungen zu prüfen, wobei insbesondere in der Initialphase eine sorgfältige ärztliche Überwachung gefordert wird.
Problemstand und epidemiologische Befunde Laut einem Review liegt bei 1–5% aller Fahrer ein Konsum illegaler Drogen vor (6). Meist handelt es sich dabei um Cannabis, die Prävalenz von Opiaten ist mit unter 1% eher gering. Bei der Analyse von Personen, die an einem Verkehrsunfall beteiligt waren, variierte die Prävalenz illegaler Drogen je nach Studie zwischen 10–25%, Opiate wurden bei 1–11% nachgewiesen. Im Rahmen des German Roadside Surveys wurden in zwei Regionen Deutschlands bei über 5000 Fahrern Atemalkoholmessungen durchgeführt, zudem wurden über 2000 Speichelproben ausgewertet (7). Hier wurde • Alkohol bei 5,5%, • Benzodiazepine bei 2,7%, • Opiate bei 0,7%, • Cannabis sowie Barbiturate bei 0,6%, • Amphetamine bei 0,08% und • Kokain bei 0,01% festgestellt. Vor kurzem wurde die Prävalenz des Konsums von Alkohol und Drogen bei Personen, die bei Verkehrsunfällen verletzt wurden, bestimmt (8). Betrachtet wurden
Drogen und Opiate im Straßenverkehr
hier nicht nur Fahrer, sondern auch Beifahrer und beteiligte Fußgänger. Der Untersuchung zufolge befanden sich zum Zeitpunkt des Unfalls 15% der Verletzten unter dem Einfluss von Alkohol, 35% unter dem Einfluss von mindestens einer Droge und weitere 16% unter der Wirkung von Alkohol und Drogen. Unter den Drogen waren wiederum die Cannabinoide die Spitzenreiter (bei 27% der Verletzten), gefolgt von Kokain (12%) und Benzodiazepinen (11%). Opiate wurden bei 10% der Verletzten nachgewiesen. Lediglich bei 34% lieferten die Blutproben keinerlei Hinweise auf die Einnahme einer psychoaktiven Substanz. In einer Studie aus Australien zeigte sich, dass von 1045 Fahrern, die bei Verkehrsunfällen getötet wurden, 36% Alkohol, 11% Cannabis, 3,7% Stimulanzien und 3,1% Benzodiazepine eingenommen hatten (9). Opiate rangierten mit einem Anteil von 2,7% auf dem letzten Platz. Wie die kurze Übersicht zeigt, hängt die Auftretensrate von Substanzen entscheidend davon ab, an welcher Stichprobe die Daten erhoben wurden. Grundsätzlich sind die Raten im unfallfreien Verkehr am niedrigsten. Bei Unfallbeteiligten, Verletzten oder tödlich Verunglückten finden sich dagegen deutlich höhere Auftretensraten. Insgesamt geben diese Prävalenzquoten einen guten Eindruck von der Größenordnung des Problems „Drogen im Straßenverkehr“. V.a. Cannabinoide sind demnach relativ häufig vertreten. Opioide rangieren meist auf den hinteren Plätzen. Die Frage, ob eine Substanz tatsächlich mit einer Gefährdung der Verkehrssicherheit verbunden ist, kann allerdings nicht allein durch die Betrachtung solcher Prävalenzraten beantwortet werden. Vielmehr muss dazu die Auftretensrate einer Substanz in einer Unfallpopulation der Auftretensrate in der allgemeinen Fahrerpopulation gegenüber gestellt werden. Alternativ können innerhalb einer Unfallpopulation Verursacheranalysen durchgeführt werden. Das Verursacherrisiko für eine Substanz wird errechnet, indem man bestimmt, wie oft diese bei Unfallverursachern im Vergleich zu (unschuldigen) Unfallbeteiligten
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nachgewiesen wurde. Leider sind solche aussagekräftigen Studien für Drogen (Alkohol ausgenommen) und Medikamente noch sehr rar. Die wenigen existierenden Daten lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Das Verursacherrisiko unter Cannabis ist bis zu einer Konzentration von 5 ng THC/ml Blut nicht erhöht (OR = 0,7). Erst mit höheren Konzentrationen steigt das Risiko exponentiell an und liegt durchschnittlich bei 6,6. Bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol ist es fast achtmal (OR = 7,8) so hoch. Das Gleiche gilt für das Unfallrisiko, das ebenfalls erst mit höheren THC-Konzentrationen und in Kombination mit Alkohol ansteigt. • Stimulanzien scheinen das Unfallrisiko tendenziell zu steigern (OR = 2,1) und mit einem leicht erhöhten Verursacherrisiko (OR = 2,0-2,3) verbunden zu sein, wobei die Fallzahlen generell sehr gering sind. • Auch Kokain erhöht das Unfallrisiko auf etwa das Doppelte. • Für Benzodiazepine findet sich ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko (OR = 5,1), das durch den gleichzeitigen Konsum von Alkohol noch weiter ansteigt. Dagegen nimmt das Verursacherrisiko nur leicht zu, nämlich um das 1,3- bis 2-fache. • Insgesamt gelten der Mischkonsum mehrerer Drogen und auch die kombinierte Einnahme von Drogen und Alkohol als besonders beeinträchtigend (1, 10, 11, 12, 13). Auf Schätzungen zum Unfallrisiko unter Opioiden soll im Folgenden gesondert eingegangen werden. Basierend auf den oben beschriebenen Daten wird für Opiate ein relatives Unfallrisiko von 2,3, das durch den gleichzeitigen Konsum von Alkohol auf 2,9 ansteigt, berichtet (9). Auch in einer aktuellen Untersuchung wurde ein 2,4-fach erhöhtes Unfallrisiko im Zusammenhang mit Opiaten gefunden (12). In der bereits zitierten Verursacheranalyse von Drummer et al. (2004) ergab sich ein vergleichsweise geringfügig erhöhtes Risiko für Fahrer unter
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Opiateinfluss, einen Unfall verschuldet zu haben (10): So waren bei Verkehrsunfällen getötete Fahrer, die unter dem Einfluss von Opiaten standen, 1,4-mal häufiger Verursacher des Unfalls als getötete nüchterne Fahrer. In einer retrospektiven Kohortenstudie, in der für verschiedene Substanzklassen das relative Risiko für die Verwicklung in einen Pkw-Unfall mit Personenschaden betrachtet wurde, konnte für Opioide kein erhöhtes Risiko bestätigt werden (14).
Experimentelle Untersuchungen Eine weitere Möglichkeit, psychoaktive Substanzen auf ihre Gefährdung der Verkehrssicherheit zu überprüfen, bieten experimentelle Studien. Hier kann anhand von neuropsychologischen Leistungstests oder klassischen Testverfahren der Fahreignungsdiagnostik untersucht werden, ob die Einnahme einer Substanz mit Beeinträchtigungen einzelner fahrrelevanter Funktionsbereiche (wie Reaktionsfähigkeit oder Aufmerksamkeit) verbunden ist. Zunehmend kommen in experimentellen Settings aber auch Fahrsimulatoren unterschiedlicher Ausbaustufen zum Einsatz. Der besondere Vorteil liegt darin, dass gefahrlos und gezielt solche Situationen und Fahraufgaben hergestellt werden können, die hinsichtlich der Wirkung einer bestimmten Substanz kritisch erscheinen (z.B. Monotonie bei zu erwartender Sedierung). Diesem experimentellen Ansatz bzw. der gezielten Verabreichung einer illegalen Substanz stehen aber enorme rechtliche und natürlich auch ethische Grenzen entgegen. Ebenso verbieten sich zumeist Fahrverhaltensproben im Realverkehr bzw. Feldversuche. Trotz dieser Einschränkungen liegen für einige Substanzklassen Daten aus experimentellen oder zumindest quasi-experimentellen Studien vor, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen. • Unter Cannabis scheinen vorwiegend solche Beeinträchtigungen aufzutreten,
Y. Körner et al.
die durch bewusste Kontrolle und eine vorsichtigere Fahrweise kompensiert werden können. Laut einer Meta-Analyse experimenteller Studien (15) führte eine Dosierung von bis zu 6 ng THC/ml Plasma bei 15% aller untersuchten Leistungen zu einer signifikanten Beeinträchtigung. Dieser Prozentanteil war äquivalent mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,05%. D.h. erst ab einer THC-Konzentration von etwa 6 ng/ml Plasma zeigen sich unter Cannabis vergleichbar starke Ausfallserscheinungen wie bei einer BAK von 0,05% und mehr. • Die aktivierende Wirkung von Amphetaminen und Ecstasy führt laut experimenteller Befunde sogar zu einer Leistungsverbesserung. Eine Überdosierung oder missbräuchliche Einnahme von Stimulanzien kann allerdings mit einer Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, einer gesteigerten Risikobereitschaft sowie Koordinationsstörungen, erhöhter Unruhe und Unaufmerksamkeit verbunden sein. Zudem besteht bei bereits ermüdeten Personen die Gefahr einer Verstärkung der Müdigkeit, wenn die Wirkung der Substanz nachlässt. • Eine Einmalapplikation von Benzodiazepinen ist mit deutlichen Leistungsverminderungen verbunden, während sich bei einer Mehrfachapplikation zwar günstigere, jedoch bei weitem nicht unbedenkliche Befunde ergeben. • Auch aufgrund experimenteller Befunde sind die kombinierte Einnahme mehrerer Drogen oder die Kombination mit Alkohol als besonders kritisch zu erachten (1, 13, 16). Experimentelle Befunde zum Einfluss der wichtigsten Opioide auf psychomotorische und kognitive Funktionen sollen im Folgenden gesondert beschrieben werden. Dazu gibt es einen sehr ausführlichen Review von Zacny (1995) über 300 experimentelle Befunde (17). Obwohl ethisch bedenklich, existieren mindestens drei experimentelle Arbeiten
Drogen und Opiate im Straßenverkehr
aus den 60er-Jahren zum Einfluss von Heroin. Smith et al. (1962, zitiert nach 17) untersuchten 24 gesunde Personen unter 4 mg Heroin vs. unter Placebo. Unter Heroin zeigten sich Beeinträchtigungen in mehreren Tests zur Informationsverarbeitung (schriftliche Additionsaufgabe, Codierungsaufgabe, Variation des Trieger Dot Tests), wobei eher quantitative und weniger qualitative Leistungsaspekte betroffen waren. In einer Aufgabe zur Wortflüssigkeit konnte kein Unterschied zur PlaceboBedingung festgestellt werden. Zwei Studien von Fraser et al. (1963, 1964, zitiert nach 17) mit heroinabhängigen Personen bzw. Personen mit missbräuchlichem Heroinkonsum ergaben keine Einbußen unter Heroin – weder bei einer Trackingaufgabe noch bei einer Aufgabe zur Daueraufmerksamkeit. Insgesamt lässt diese geringe Anzahl an Studien natürlich kaum eine allgemeine Aussage zu. Aufgrund der Ähnlichkeit von Heroin mit Morphin (zu dem weitaus mehr Studien vorliegen) ist aber zu vermuten, dass die Wirkung beider Substanzen vergleichbar ist. Tatsächlich sprechen einige experimentelle Studien zu Morphin bzw. Hydromorphon dafür, dass die Einnahme dieser Substanzen mit fahrrelevanten Leistungseinbußen verbunden sein kann (17). Betroffen waren vorwiegend einfache motorische Aufgaben (Tapping, Greifkraft der Hand, Reaktionszeiten in Einfachwahlaufgaben), wobei auch hier weniger qualitative Leistungseinbußen resultierten als vielmehr eine generelle Verlangsamung. Zudem ergaben sich Defizite in der Daueraufmerksamkeit sowohl bei gesunden Probanden als auch bei Schmerzpatienten. Primär wurde aber auch hier eine Verlangsamung evident, zumal Daueraufmerksamkeit meist durch längere Reaktionszeitaufgaben (minimal 5 Minuten) erfasst wurde. Ob es sich also tatsächlich um Defizite in der Aufmerksamkeit oder um die Auswirkungen einer allgemeinen (motorischen?) Verlangsamung handelt, bleibt schwer abzuschätzen. Beim Tracking oder der Bewältigung komplexer psychomotorischer Aufgaben konnten keinerlei Defizite nachgewiesen
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werden. Hinweise auf qualitative Leistungseinbußen, erhöhte Fehlerraten, Defizite in der Informationsverarbeitung oder eine Beeinträchtigung intellektueller Funktionen gab es kaum. In einer neueren Probandenstudie wurden keine psychomotorischen Leistungsdefizite unter einer akuten Morphin-Applikation im Vergleich zu einer Placebo-Bedingung nachgewiesen (18). Auch sprechen verschiedene Untersuchungen mit Schmerzpatienten unter Verwendung von klassischen Leistungstests der Fahreignungsdiagnostik dafür, dass eine stabile Morphin-Therapie nicht grundsätzlich mit Fahruntüchtigkeit gleichzusetzen ist (19, 20, s. dazu Abschnitt 6) Einige Studien mit Schmerzpatienten und Personen mit missbräuchlichem Konsum sprechen für eine Toleranzentwicklung unter konstanten Dosen von Morphin bzw. Hydromorphon. Hier ist u.a. ein Experiment anzuführen, in dem Schmerzpatienten mit einer Dosissteigerung und Patienten, welche die Zieldosierung schon mindestens sieben Tage eingenommen hatten, miteinander verglichen wurden (21). Ein Leistungsvergleich vor und nach der Einnahme von Morphin ergab nur für Patienten in der Aufdosierungsphase Beeinträchtigungen im Tapping, in der Informationsverarbeitung (Rechnen) und im unmittelbaren Recall. Auch die im zitierten Review geschilderten Probandenstudien zu Fentanyl bzw. Alfentanil weisen insgesamt daraufhin, dass vorwiegend einfache, (psycho)motorische Leistungen mit Geschwindigkeitskomponente (wie Tapping, Reaktionszeit, Tracking, Lesegeschwindigkeit) und weniger höhere kognitive Funktionen (wie Informationsverarbeitung, Lernen und Gedächtnis) beeinträchtigt werden (17). Untersuchungen mit Abhängigen oder Personen mit missbräuchlichem Konsum lagen dem Autor jedoch nicht vor. Eine neuere, quasiexperimentelle Untersuchung mit Schmerzpatienten spricht wiederum für eine Toleranzentwicklung, da sich nach einer 20-tägigen stabilen Applikation von Fentanyl im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe keinerlei Defi-
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zite in einer verkehrsrelevanten Leistungstestbatterie nachweisen ließen (22, s. dazu ebenfalls Abschnitt 6). Auf experimentelle und quasi-experimentelle Befunde zum Einfluss von Methadon bzw. einer Methadon-Substitutionstherapie soll unter Abschnitt 5 gesondert eingegangen werden. In Probandenstudien zu Codein, wurde dieses – aufgrund zu erwartender Nebenwirkungen (wie Übelkeit) – meist in einer geringeren Dosis verabreicht als in der Schmerztherapie üblich. Dennoch sprechen einige experimentelle Studien für substanzielle Leistungsbeeinträchtigungen unter Codein (17). Dabei waren wieder primär psychomotorische Fähigkeiten betroffen, während sich Informationsverarbeitung, Lernen und Gedächtnis nicht verschlechterten. In einer frühen Fahrsimulationsstudie (23) nahm die Anzahl an Kollisionen unter Codein zu. Ferner kam es unter Codein etwas häufiger zu einem Abkommen von der Fahrbahn, wenn auch nicht so häufig wie unter Diazepam. Das Geschwindigkeitsverhalten veränderte sich nicht, wobei die Versuchspersonen selbst ihre Geschwindigkeit unter Codein leicht überschätzten. In einer späteren Probandenstudie konnten allerdings – wie auch für Morphin – keine codein-assoziierten Einbußen bei psychomotorischen Leistungen nachgewiesen werden (18). Nur zwei im zitierten Review beschriebene Probandenstudien untersuchten den Einfluss der Codeinderivate Oxycodon und Dihydrocodein (17). Bedeutsame Auswirkungen auf Psychomotorik, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung oder Gedächtnis konnten diese aber kaum nachweisen. In einer neueren Probandenstudie ergaben sich erst ab einer Dosierung von 20 mg Oxycodon substanzielle kognitive und psychomotorische Leistungsbeeinträchtigungen, die aber deutlich schwächer waren als unter einer Applikation des Benzodiazepins Lorazepam (24). Buprenorphin führte zwar bei gesunden Testpersonen zu Einbußen hinsichtlich Informationsverarbeitung (Zahlen-SymbolTest), Psychomotorik (Wahlreaktion, Tra-
Y. Körner et al.
cking) und Vigilanz (Rekognitionstest), bei Personen mit missbräuchlichem OpioidKonsum und opioid-abhängigen Testpersonen schien es aber zu geringeren Beeinträchtigungen zu kommen. Für sie konnten zwar ebenfalls eine schlechtere Trackingleistung, aber keine Einbußen in der Informationsverarbeitung bestätigt werden. Substanzbedingte Gedächtnisdefizite konnten weder für gesunde Probanden noch für opioid-abhängige Testpersonen nachgewiesen werden (17). Neuere Untersuchungen zur Fahrtauglichkeit unter einer Substitutionstherapie deuten eine Überlegenheit von Buprenorphin gegenüber Methadon an (s. dazu Abschnitt 5). Auch Pentazocin scheint sich vorwiegend auf die Psychomotorik gesunder Testpersonen auszuwirken, während sich defizitäre Testleistungen für Personen mit missbräuchlichem Konsum und Abhängigen – i.S. einer Toleranzentwicklung – kaum bestätigen ließen. Gleiches gilt für Butorphanol. Auch für Nalbuphin deutet sich ein solches Wirkungsmuster an (17). Im Hinblick auf die Phase des Entzugs bei bestehender Opiat-Abhängigkeit weisen mehrere Studien darauf hin, dass die Entgiftung nicht mit einer Beeinträchtigung psychomotorischer oder kognitiver Funktionen verbunden ist. So erbrachten bspw. opiat-abhängige Personen nach mindestens zwölf Stunden Abstinenz in einem Reaktionszeittest zur Daueraufmerksamkeit vergleichbar gute Leistungen wie gesunde Kontrollpersonen (25). Zu dem gleichen Schluss führten auch verschiedene Untersuchungen mit VorherNachher-Messungen, bei denen der Entzug durch die Gabe von Naloxon induziert wurde (nach 17). Insgesamt zeigte sich also, dass die Einnahme von Opioiden zwar zu Leistungsbeeinträchtigungen führen kann, dass diese aber nicht konsistent bestätigt werden konnten. Meist resultierten primär eine Verlangsamung einfacher psychomotorischer Prozesse und weniger qualitative Defizite bzw. gesteigerte Fehlerraten bei höheren kognitiven Funktionen. Erstere könnten sich aber durchaus negativ auf
Drogen und Opiate im Straßenverkehr
Stabilisierungsaufgaben im Straßenverkehr auswirken. Generell scheinen opioid-assoziierte Leistungsdefizite im Sinne einer Toleranzentwicklung stark von der untersuchten Stichprobe (Probanden, Schmerzpatienten, Personen mit missbräuchlichem Konsum, Abhängige) und der Dauer der Einnahme abhängig zu sein. Problematisch beim Vergleich der betrachteten Studien erscheinen die unterschiedlichen Versuchsdesigns und Stichproben, die zahlreichen und sehr unterschiedlichen Testverfahren sowie die inkonsistente Operationalisierung neuropsychologischer Funktionen.
Methadonsubstitution In einer Studie von Rothenberg et al. (1977), wurde die akute Wirkung von Methadon bei Opioid-Abhängigen im Vergleich zu gesunden Probanden verglichen (26). Hier verschlechterte sich bei einer visuellen Reaktionszeitaufgabe nur die Leistung der gesunden Probanden unter Methadon, nicht aber die Leistung der abhängigen Testpersonen. Bei einer Vigilanzaufgabe zeigten sich jedoch keine substanzinduzierten Leistungsdefizite – weder in der Gruppe der Abhängigen noch bei den Kontrollpersonen. Kritisch im Hinblick auf die Fahrtüchtigkeit erscheint ein Befund, bei dem die akute Einnahme von Methadon bei Opioid-Abhängigen mit einer defizitären Einschätzung von Entfernungen verbunden war (27). Die Leistung von Patienten unter einer Methadon-Substitutionstherapie in klassischen psychometrischen Tests der Fahreignungsdiagnostik wurde ebenfalls untersucht (28, 29). Man fand bei einer Stichprobe von 13 Patienten im Vergleich zu 13 gesunden Kontrollpersonen (gematcht nach Alter, Geschlecht und Schulbildung) signifikante Leistungsbeeinträchtigungen bei • einer Trackingaufgabe, • einem tachistoskopischen Test zur verkehrsspezifischen Überblicksgewinnung,
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• einem Test zur Reaktion auf periphere Reize und • einer Mehrfachwahlreaktionsaufgabe zur reaktiven Belastbarkeit. Keine Unterschiede zeigten sich im Kurzzeitgedächtnis, in einer Einfachwahlreaktionsaufgabe zum Entscheidungs- und Reaktionsverhalten, in einem Test zur Daueraufmerksamkeit und in der Schätzung von Geschwindigkeiten. Im Hinblick auf die Persönlichkeit erwiesen sich die Patienten als weniger sozial gewissenhaft und fähig zur Selbstkontrolle, sie waren stärker innerlich gespannt und zeichneten sich durch ein geringeres unfallvermeidendes Selbstvertrauen sowie ein geringeres Maß an psychischer Gesundheit aus. Zudem litt die Mehrzahl der Patienten unter Persönlichkeitsstörungen. Von den Autoren als „optimal“ bezeichnete Patienten (keine [längerfristige] Einnahme weiterer Substanzen, stabiler Gesundheitszustand, soziale Reintegration, kein aktueller Beigebrauch über die definierten Grenzen) unterschieden sich von ihren gesunden „Zwillingen“ zwar signifikant in der Persönlichkeit und auch im psychopathologischen Befund, statistisch bedeutsame Unterschiede in den Leistungstests konnten jedoch nicht nachgewiesen werden. Festzuhalten ist darüber hinaus, dass 21 Patienten a priori von der Studie ausgeschlossen werden mussten, da sie neben Methadon längerfristig andere psychotrope Substanzen eingenommen hatten bzw. akut unter dem Einfluss weiterer Substanzen standen und somit direkt als fahruntüchtig bzw. fahrungeeignet beurteilt wurden (28). Ferner wurden 28 Methadonpatienten mit 28 Kontrollpersonen (gematcht nach Alter, Geschlecht und Schulbildung) ebenfalls anhand klassischer Leistungstests der Fahreignungsdiagnostik verglichen (29). Auch hier resultierten insgesamt deutliche Beeinträchtigungen auf Seiten der Patienten (Entscheidungs- und Reaktionsverhalten, reaktive Belastbarkeit, verkehrsspezifische Überblicksgewinnung, periphere Wahrnehmung, Tracking und Aufmerk-
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samkeit). Bei individueller Betrachtung erwiesen sich sechs der Patienten als unauffällig, 13 erbrachten leicht auffällige, die übrigen neun stark auffällige Leistungen. Die Autoren schlussfolgern daraus, dass eine Methadon-Substitutionstherapie nicht grundsätzlich mit Fahruntauglichkeit gleichzusetzen ist. In einer weiteren Studie wurden ebenfalls die üblichen Leistungstests der Fahreignungsdiagnostik verwendet, wobei in den meisten Parametern keine bedeutsamen Unterschiede zwischen gesunden Kontrollpersonen und Methadon-substituierten Patienten gefunden wurden (30). Schließlich fanden sich auch in einer Fahrsimulationsstudie keinerlei signifikante Unterschiede zwischen Methadonsubstituierten Patienten, Buprenorphinsubstituierten Patienten und gesunden Kontrollpersonen (weder in der Spurhaltung noch in der Geschwindigkeit und auch nicht im Hinblick auf die Reaktionszeiten bei einer Nebenaufgabe) (31). Andere Untersuchungen, welche die Wirkung einer Methadon- und einer Buprenorphin-Substitution unter Verwendung von klassischen Leistungstests der Fahreignungsdiagnostik verglichen, deuten eine – wenn auch schwache – Überlegenheit von Buprenorphin an (30, 32, 33). Problematisch an quasi-experimentellen Designs, in denen Methadon-Substitutionspatienten mit gesunden Kontrollpersonen (ohne Methadoneinfluss) verglichen werden, ist, dass nur schwer differenziert werden kann, ob die gezeigten Effekte auf • das Methadon per se, • den vorherigen, längerfristigen Substanzmissbrauch der Patienten oder auf • a priori bestehende Unterschiede zwischen dem besonderen Klientel opioidabhängiger Personen und gesunden Kontrollpersonen zurückzuführen sind. In einer erst kürzlich publizierten spanischen Arbeit wurden verschiedene neuropsychologische Funktionen (visuellräumliche Aufmerksamkeit, Verarbeitungs-
Y. Körner et al.
geschwindigkeit und exekutive Funktionen) von Patienten unter Methadonsubstitution und Personen mit missbräuchlichem Heroinkonsum verglichen, wobei letztere zu diesem Zeitpunkt abstinent waren (34). Bei den Methadonpatienten zeigte sich eine signifikante Verlangsamung in mehreren Funktionen sowie Beeinträchtigungen im Arbeitsgedächtnis und im logischen Denken. Die Autoren einer weiteren, jüngst publizierten Studie konnten zeigen, dass die Leistungen von Personen mit ehemals missbräuchlichem Opioid-Konsum bei verschiedenen Tests zu kognitiven und psychomotorischen Funktionen zwischen den Leistungen von Methadon-Substitutionspatienten und gesunden Kontrollpersonen lagen, wobei letztere erwartungsgemäß die besten Leistungen zeigten (35). Diese Befunde sprechen insgesamt dafür, dass die gefundenen Leistungsunterschiede auch auf das Methadon per se und nicht nur auf die Auswirkungen eines längerfristigen Substanzssbrauchs oder auf das Klientel opioid-abhängiger Personen zurückgehen. Alles in allem sprechen die geschilderten Befunde – in Übereinstimmung mit den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (5, s. Abschnitt 2) – dafür, dass Patienten unter einer Methadon-Substitutionstherapie im Allgemeinen in ihrer Fahreignung beeinträchtigt sind. In Ausnahmefällen kann aber Fahreignung gegeben sein, wobei weniger das psychophysische Leistungsprofil der Patienten als das Ausmaß vorliegender Persönlichkeitsstörungen und deren Bewertung für das Fahrverhalten ausschlaggebend sind.
Opioide in der Schmerztherapie Bei der Diskussion zur Fahrtüchtigkeit unter Opioid-Analgetika sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass sich nicht nur psychotrope Substanzen, sondern auch lange und starke Schmerzen leistungsbeeinträchtigend auswirken können. Demnach kann eine adäquate Schmerztherapie
Drogen und Opiate im Straßenverkehr
auch mit Leistungsverbesserungen verbunden sein und somit die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr überhaupt erst ermöglichen. Bereits in den 50er-Jahren wiesen zwei Studien darauf hin, dass schmerzbedingte Beeinträchtigungen durch Morphin abgeschwächt werden können (Hill et al. 1952, 1955 zitiert nach 17). So führte einerseits die Einnahme von Morphin, andererseits die Applikation eines schmerzhaften Elektroschocks zu einer verlängerten Reaktionszeit bei nicht-abhängigen Personen mit missbräuchlichem Konsum. Wurde der Elektroschock allerdings mit der Morphin-Einnahme kombiniert, unterschied sich die Reaktionszeit nicht von einer Placebo-Bedingung ohne Schmerz, einige Versuchspersonen zeigten nun sogar eine bessere Leistung. Aber auch mehrere jüngere Untersuchungen unterstützen den Befund, dass eine stabile Morphin-Therapie nicht unbedingt eine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellen muss. So wurden zwei Gruppen von Tumorpatienten anhand verschiedener verkehrsrelevanter Leistungstests, eines Persönlichkeitstests und neurologischer Untersuchungsergebnisse verglichen (19). Eine der beiden Gruppen war ohne Analgetika schmerzfrei, die andere befand sich unter einer stabilen Morphin-Therapie. Nur im Test zur Überprüfung des Gleichgewichtssinnes bei geschlossenen Augen schnitt die Morphin-Gruppe signifikant schlechter ab. In den verkehrsrelevanten Leistungstests ergaben sich nur tendenzielle Beeinträchtigungen. Ebenso konnte lediglich für zwei Leistungsparameter eine Korrelation zur Morphin-Plasmakonzentration hergestellt werden. Eine generelle Fahruntüchtigkeit der Morphin-Gruppe lag nicht vor. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Arbeit, die die Leistung von Patienten mit einer stabilen Morphin-Therapie im Vergleich zu gesunden, medikamentfreien Personen anhand verkehrsrelevanter Leistungstests und eines Fahrsimulators untersuchte (20). Die Opioid-Patienten erbrachten zwar im Durchschnitt schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppe, es bestand
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aber eine sehr hohe interindividuelle Variabilität. So schnitten einzelne Patienten sogar besser oder zumindest gleich gut ab wie die medikamentfreien Fahrer. Die Autoren schlussfolgern, dass einzelne Patienten unter einer Opioid-Therapie durchaus fahrtüchtig sein können, für die Einstellungsphase empfehlen sie aber in jedem Fall ein Fahrverbot. Für Patienten unter einer langfristigen, stabilen Fentanyl-Therapie konnte – wie bereits unter Abschnitt 4 berichtet – im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe keinerlei Leistungseinbußen bei klassischen Leistungstests der Fahreignungsdiagnostik nachgewiesen werden (22). Schließlich ergab eine neuere, zusammenfassende Analyse von 15 Studien zu verkehrsrelevanten Beeinträchtigungen durch Opioide (36), dass diese nicht zwangsläufig Beeinträchtigungen von Kognition und Psychomotorik nach sich ziehen. Defizite wurden hier nur dann als bedeutsam klassifiziert, wenn solche von mehr als 50% der den Wirkstoff untersuchenden Studien festgestellt wurden. Demzufolge erwies sich lediglich Codein als kritisch, nicht aber Buprenorphin, Fentanyl, LAAM, Methadon oder Morphin. Auch hier kommen die Autoren zu dem Schluss, dass man Opioid-Analgetika in therapeutischer Dosierung bei entsprechender medizinischer Indikation als nicht beeinträchtigend einschätzen kann, wobei dies aber für jeden Patienten individuell geprüft werden sollte. Inwieweit eine stabile Opioid-Therapie mit einem erhöhten Unfallrisiko verbunden ist, lässt sich anhand der vorliegenden epidemiologischen Daten nicht abschätzen. Auf einem Expertengespräch der BASt zum Thema Fahrtüchtigkeit/-eignung unter opiathaltigen Analgetika vom 14. 3. 1996 war im Erfahrungsbereich der Experten nicht ein Fall bekannt, in dem ein Fahrer aufgrund einer Opioid-Therapie fahrauffällig geworden war (37). Auch entsprechend einer Befragung von sechs schmerztherapeutischen Ärzten wurde kein Unfall durch eine OpioidTherapie bekannt (37). Ebenso waren sich
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die hier befragten Therapeuten einig, dass nur in der Einstellungsphase, bei größeren Dosisveränderungen, bei ständig wechselnden Therapieverläufen und beim Beigebrauch anderer Substanzen (z.B. Alkohol) grundsätzlich keine Fahrtüchtigkeit gegeben ist. Allerdings befürworteten alle befragten Ärzte strengere Beurteilungskriterien für Berufskraftfahrer als für private Fahrer. Wie eine Methadon-Substitutionstherapie ist also auch eine Schmerztherapie mit Opioiden nicht grundsätzlich mit Fahruntüchtigkeit gleichzusetzen. Die Beurteilung der Fahreignung muss am Einzelfall stattfinden, unbedingt ist aber die längerfristige Einnahme einer stabilen Dosis vorauszusetzen.
Zusammenfassung Alkohol stellt nach wie vor das Hauptproblem im Straßenverkehr dar – sowohl hinsichtlich seiner Auftretenshäufigkeit als auch hinsichtlich der damit verbundenen Gefährdung. Die Einnahme illegaler Drogen wirkt sich v.a. dann beeinträchtigend auf die Fahrtüchtigkeit aus, wenn ein Mischkonsum mehrerer Substanzen vorliegt oder diese in Kombination mit Alkohol eingenommen werden. Der alleinige Konsum von Cannabis scheint die Verkehrssicherheit erst mit höheren Dosen zu gefährden. Im Hinblick auf Opioide sprechen die epidemiologischen Befunde für ein geringfügig erhöhtes Unfall- bzw. Verursacherrisiko. Eine abgesicherte Aussage ist aber aufgrund der wenigen vorliegenden Daten nicht möglich. In experimentellen Untersuchungen fanden sich unter Opioiden zwar fahrrelevante Leistungseinbußen, diese konnten aber meist nicht konsistent nachgewiesen werden. Insgesamt scheinen die Beeinträchtigungen bei einem dauerhaften Konsum (sei es im Rahmen einer missbräuchlichen Einnahme oder im Rahmen einer längerfristigen medikamentösen Therapie) – im Sinne einer Toleranzentwicklung – abzunehmen. Demzufolge ist auch die therapeutische Einnahme von Opioiden in der Schmerz-
Y. Körner et al.
therapie nicht grundsätzlich mit Fahruntüchtigkeit gleichzusetzen. Gleiches gilt für Methadon-substituierte Personen, wobei hier ohnehin primär die Persönlichkeitsstruktur und Psychopathologie dieses Klientels und weniger die substanzinduzierten Leistungsdefizite als entscheidendes Kriterium der Fahreignung heranzuziehen sind.
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Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen Rainer Schmid
Allgemeines Die Aufgabe eines diagnostischen Drogentests ist das Überprüfen des Vorhandenseins von legal oder illegal konsumierten Substanzen („Suchtmittel“) in einer Körperflüssigkeit eines Individuums. Bei flüchtiger Betrachtung eine simple Fragestellung, jedoch bei näherer Überlegung alles andere als ein triviales Problem, besonders in Hinblick auf die weiten Konsequenzen, die falsche Test-Ergebnisse zur Folge haben können. Daher muss bereits vor jeder Anforderung eines Drogentests klargestellt sein, welche Fragen mit einem Drogentest-Ergebnis überhaupt zu beantworten sind: Entsprechend der Fragestellungen, müssen Drogentests auf unterschiedliche Art und Qualität durchgeführt werden. Ein Drogentest kann erforderlich sein: – in einer akuten klinisch-therapeutischen Situation (Notfallversorgung, Vergiftung ...) – im Rahmen einer Drogentherapie – zu Beginn einer Behandlung, vor einer Entzugsbehandlung – als Kontrolle z.B. während einer Drogentherapie – aus forensischen Gründen – aus rechtlichen Gründen (z.B. im Straßenverkehr) – aus gesundheits- und gesellschafts-politischen Gründen (Arbeitsplatz-Tests, Überprüfung der Drogenfreiheit). Durchaus unterschiedlichste Antworten sind gefordert: bei einer Vergiftung wird eine rasche und exakte Antwort, welche
Droge(n) und in welchen Mengen diese zu der akuten klinischen Manifestation geführt haben, erwartet während bei einem Test am Arbeitsplatz, ohne akuten Zeitdruck, nur die Anwesenheit oder Abwesenheit kontrollierter Substanzen gefragt wird. Mit der Frage, wann bzw. warum Drogen nachgewiesen werden sollen, sind auch gleichzeitig noch zwei weitere Fragen verknüpft: – Welche Substanzen müssen nachgewiesen werden? und – Wie muss der Drogennachweis durchgeführt werden? Welche Substanzen müssen nachgewiesen werden: Unter Drogen sind im Allgemeinen alle nach dem Suchtmittelgesetz (SMG) nicht „verkehrsfähigen“ Verbindungen definiert, d.h., alle im § 2 des österreichischen SMG 1995 genannten Suchtmittel oder psychotrope Substanzen und Stoffe. Sie sind ebenso in den verschiedenen Anhängen der Suchtgiftkonventionen der UN festgelegt. Diese Listen werden laufend erweitert und es sind derzeit mehr als 250 verschiedene chemische Verbindungen und Stoffzubereitungen genannt. Diese Verbindungen sind in ihrer pharmakologischen Wirkung den unterschiedlichsten Klassen zuzuordnen und können sowohl synthetischen, aber auch natürlichen Ursprungs sein, ihr Wirkspektrum spannt sich von sedierenden, euphorisierenden Substanzen, wie Opiaten oder Can-
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nabinoiden, über die verschiedensten halluzinogenen Verbindungen (LSD, Tryptamin etc.) bis zu aktivierenden, aufputschenden Verbindungsklassen, wie den Amphetaminen oder Kokain. Ihre Gemeinsamkeit besteht nur in ihrer Auflistung im Suchtmittelgesetz auf Grund ihrer psychotropen Wirkung. Das aktuelle Suchtpotenzial reicht von sehr niedrig bis sehr ausgeprägt – im Gegensatz zu dem, was sich aus der inhaltlichen Bedeutung des Gesetzesnamens (‚Suchtmittelgesetz‘) vermuten ließe. Noch vielfältiger als das breite Wirkspektrum ist die Unterschiedlichkeit in der chemischen Struktur: auch Verbindungsklassen mit ähnlicher psychotroper Wirkung haben in ihrem chemischen Molekülaufbau oft wenig gemein. Trotz der Verschiedenheit müssen bei einem Drogen-Nachweis eine Palette von unterschiedlichen Verbindungen gleichzeitig korrekt erkannt und detektiert werden: So verbergen sich hinter der einfachen Frage eines Drogentests oft relativ komplexe Zusammenhänge: Diese Fragestellung kann den Nachweis einer einzelnen Substanz (z.B. Methadon, Kokain etc.) verlangen aber auch die Detektion einer Verbindungsklasse (wie Amphetamine oder Benzodiazepine) umfassen (Tabelle 1).
Tabelle 1. Derzeit kommerziell verfügbare (häufig eingesetzte) immunologische Screening Tests für einzelne Drogen oder Drogengruppen im Harn Amphetamine Methamphetamin Ecstasy Benzodiazepine Cannabinoide Kokain Opiate 6-Acetylmorphin (6-MAM) Methadon EDDP (Methadonmetabolit) Buprenorphin LSD PCP
R. Schmid
Wie muss der Drogennachweis durchgeführt werden? Beim Drogentest ist immer zwischen den zwei Nachweis-Strategien zu differenzieren: – den qualitativen (eventuell halb-quantitativen) Nachweisverfahren, die einen Hinweis auf das Vorhandensein von Drogen in einer Probe geben können (Drogen-Screening) und – der identifizierenden, quantitativen Bestimmung der vorhandenen Droge(n) in einer Probe (Drogennachweis oder auch Bestätigungsanalyse). Screeningverfahren sind schnell und einfach und es ist dafür keine spezielle Laborausstattung erforderlich (,On-siteTests‘ oder ‚Schnelltests‘). Dabei haben Schnelltests den Vorteil, dass sie in der Regel auch von ungeschulten Benutzern durchgeführt werden können und rasche Ergebnisse liefern. Dabei soll jedoch nicht übersehen werden, dass gerade die Einfachheit der Handhabung und das Fehlen von spezieller Sachkompetenz zu einer höheren Fehlerrate führen können. Identifizierende Verfahren sind immer an ein speziell ausgestattetes Labor gebunden und sind komplexer und zeitaufwändiger in ihrer Durchführung. Welche Drogennachweis-Strategie also gewählt werden soll, hängt vom Ziel des Tests und von der Art des Probenmaterials sowie von der Verfügbarkeit des geeigneten Testverfahrens ab. Welche Analysensysteme stehen zur Verfügung? Nicht identifizierende, immunologische Verfahren (qualitativ/semiquantitativ) – ,On-site‘-Tests: Immunchromatographische Verfahren (nicht Geräte- und Labor- gebunden) in Form von StreifenTests, Testkarten (einzeln oder in Kombinationen als Mehrfachtests) – Labor- und Geräte-gebundene immunologische Tests basierend auf verschiedenen Testprinzipien: Cloned En-
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
zyme Donor Immuno Assay (CEDIA), Enzyme Multiplied Immuno Test (EMIT), Fluoreszenz Polarisation Immuno Assay (FPIA), ELISA, (Radioimmunoassay) Identifizierende Nachweisverfahren Chromatographische Verfahren (quantitativ und identifizierend) wie Massenspektroskopie (GC/MS, LC/MS), Flüssigchromatographie (HPLC), (Dünnschichtchromatographie – historisch) Probenmatrices Wenn die Einnahme von Drogen nicht allzu lange zurückliegt können diese im Prinzip in fast allen Körperflüssigkeiten nachgewiesen werden. Aufgrund der individuellen Pharmakokinetik der einzelnen Substanzklassen ist jedoch die Nachweisdauer von Drogen in den einzelnen Matrices unterschiedlich lang: Während die Konzentration einer Droge im Blut auch mit ihren pharmakologischen Wirkungen einhergeht trifft dies bei KonzentrationsMessungen im Harn nicht zu. Als ein Endpunkt der Ausscheidung aus dem Körper bieten Drogenmessungen im Harn einen „Blick in die jüngste Vergangenheit“; ein Bezug zu einer aktuellen Wirkung kann nicht mehr hergestellt werden. Im Harn sind in vielen Fällen sehr oft nur mehr die Abbauprodukte (Metaboliten) von Drogen und nur in geringerem Maße die Ausgangsverbindungen zu finden. Für die Probenmatrices Speichel oder Tränenflüssigkeit gelten ähnliche Zusammenhänge wie für Blut. Da sich die Konzentration einer Droge im Speichel durch freie Diffusion aus der Blutfraktion einstellt, sind für die meisten Drogen im Speichel ähnlich niedrige Konzentrationen zu beobachten wie im Blut. Die Diffusion aus dem Blut, speziell bei polaren Verbindungen, wird jedoch von verschiedenen Parametern, wie dem aktuellen pH-Wert des Speichels oder der Wasserlöslichkeit der Droge bestimmt; daher kann ein beobachtetes Blut-/Speichelverhältnis größer
283
oder auch kleiner als 1 sein. Auf Grund des direkten Zusammenhangs zwischen den Konzentrationen im Blutplasma und im Speichel finden Speichelanalysen in verschiedenen Bereichen des Drogenscreenings zunehmend Interesse (z.B. bei Drogentests im Straßenverkehr). Im Gegensatz zu Harnanalysen weisen SpeichelKonzentrationen einen direkten Bezug zur aktuellen pharmakologischen Wirkung der Droge (und damit zu einer eventuellen Beeinträchtigung) auf. Für die Wahl einer bestimmten Probenmatrix für einen Drogentest werden häufig pragmatische Gründe herangezogen. Die Gewinnung von Blut als Probenmatrix ist invasiv, es bedarf medizinisch ausgebildeten Personals und ist nicht ohne Risiko für den Betroffenen. Im Fall von Speichel ist der Aspekt der Invasivität nicht gegeben, es bedarf auch keiner speziellen Ausbildung beim Sammeln der Proben. Das Sammeln von Speichel kann auch von den Betroffenen selbst durchgeführt werden. Jedoch kann die Speichelproduktion in verschiedenen Situationen unterschiedlich sein, wodurch sich die Probengewinnung schwierig gestalten kann. Über Analysen in der Schweißmatrix lässt sich auch ein gewisser aktueller Bezug zu einem kurz vorangegangenen Drogenkonsum herstellen. Das Erscheinen einer Droge im Schweiß unterliegt einer Latenzzeit von mehreren Stunden nach Einnahme. Daher sind Aussagen über eine noch aktuelle pharmakologische Wirkung nur bedingt möglich. Andererseits, da Schweiß auf der Körperoberfläche verbleibt, kann der Nachweis auch auf eine Drogeneinnahme schon Tage davor hinweisen. Diese Art der Drogenanalyse wird häufig nach Sammeln von Schweiß über mehrere Tage hinweg gewählt, um so Drogenfreiheit über eine gewisse Zeitspanne in der jüngsten Vergangenheit dokumentieren zu können. Ein noch längerer „Rück-Blick“ in die Vergangenheit wird durch eine Drogenbestimmung in Haaren oder in Fingeroder Zehennägeln ermöglicht. Nach Konsum werden Drogen entsprechend ihren
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R. Schmid
aktuellen Konzentrationen im Blut über die Haarwurzel in die Haarmatrix (analog in die Nagelmatrix) mit eingelagert. Nach dem Herauswachsen des Haar-Schafts aus der Haarwurzel kommt es zu keinen Veränderungen des Haares mehr, und so spiegeln die gemessenen Konzentrationen einer Droge in einem bestimmten HaarAbschnitt die Konzentration im Blut zum Zeitpunkt des Haaraufbaus wider! Viele der Drogen (speziell basische Drogen wie Kokain oder Amphetamine) werden fest in der Haarmatrix gebunden und sind bei entsprechender Haarlänge noch nach vielen Monaten oder Jahren nachweisbar! Da jedoch der Einbau von Drogen in der Haar-
matrix von mehreren Parametern abhängt, lässt sich kein direkter Bezug zwischen Konzentration in den Haaren und der eingenommenen Dosis herstellen (Tabelle 2). Obwohl für einen Drogentest anscheinend immer dieselbe Frage beantwortet werden soll, nämlich die der Präsenz einer illegal konsumierten Droge im Körper eines Individuums, muss für jede dieser einzelnen Fragestellungen immer auch der richtige analytische Ansatz gewählt werden: Während in einer nicht-akuten therapeutischen Situation (z.B. Feststellen einer Drogenabhängigkeit im Rahmen einer klinischen Differenzialdiagnostik) die genaue Identifikation aller möglichen, betei-
Tabelle 2 Probenmatrix Fragestellung Harn
– – – – – –
Blut
– akute Intoxikation – forensische Fälle – im Straßenverkehr
Speichel – – – – –
therapeutische Situation gerichtliche Fragestellung klinische Routine Testen am Arbeitsplatz Notfallmedizin akute Intoxikation durch Drogen
therapeutische Situation gerichtliche Fragestellung klinische Routine im Straßenverkehr Testen am Arbeitsplatz (?)
Schweiß – therapeutische Situation – gerichtliche Fragestellung
Vorteile – – – – –
Nachteile
höhere Konzentrationen – Vorliegen von lange Nachweisdauer Metaboliten Vorliegen von Metaboliten – teilw. (zu) lange Testmethodiken einfacher Nachweisbarkeit große Zahl an Screening-, – kein Bezug zur akuten Tests kommerziell Beeinträchtigung verfügbar
wie qualitativ/ halbquantitativ cave: Genauigkeit beim ‚cut-off‘ erforderlich!
– Analyse der Ausgangsverbindung – niedrige Konzentrationen [kürzere Nachweisdauer] – direkter Bezug zur Beeinträchtigung
– Testmethodiken komplex – niedrige Konzentrationen – nur kurze Nachweisdauer
quantitativ
– Analyse der Ausgangsverbindung – niedrige Konzentrationen [kürzere Nachweisdauer] – Bezug zu Blutwerten – direkter Bezug zur Beeinträchtigung
– kürzere Nachweisdauer – niedrige Konzentrationen – Verhältnis Blut/Speichel nicht konstant (pH-abhängig, Lipophilie!) – Probengewinnung nicht immer einfach – Screeningtestsysteme kommerziell noch wenig verfügbar
qualitativ/ halbquantitativ
– (kumulative) lange Nachweisdauer – Analyse der Ausgangsverbindung
– kein Bezug zur akuten qualitativ/ Beeinträchtigung halbquantitativ – sehr niedrige Konzentrationen – Ausscheidung verschiedener Drogenklassen unterschiedlich – Probengewinnung (Sammlung) und Handhabung komplex
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
ligten Substanzen im Vordergrund steht und nicht so sehr die akute Beeinträchtigung oder die Frage, welche bestimmte Drogenklasse zu einer Suchproblematik geführt haben, gilt dies nicht im Fall einer unklaren, akuten Vergiftung: Hier sind Schnelligkeit der Analyse, Feststellen der Identität aller möglichen beteiligten Substanzen und deren Konzentration gefordert. Im ersteren Fall wird die Frage durch eine qualitative oder halbquantitativen Analyse im Harn ausreichend beantwortet werden können, im Letzteren ist dies erst nach einer schnellen und quantitativen Bestimmung der individuellen Substanzen im Blut möglich. Bei nicht-therapeutischen Fragestellungen, wie beim Test auf Anordnung des Gerichts (z.B. Drogenfreiheit bei Bewährung) oder am Arbeitsplatz, sind dagegen nicht primär die Geschwindigkeit der Analyse gefordert und diese Fragen können auch über eine Drogenanalyse im Harn beantwortet werden. Wegen der weitreichenden Konsequenzen eines positiven Drogentestergebnisses hat in diesen Fällen die Richtigkeit der Analyse oberste Priorität. Daher ist die entscheidende Aussage erst nach einer bestätigenden, eindeutig identifizierenden Zweit-Analyse zulässig.
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Wirksamkeits- versus Nachweisbarkeitsdauer Wie lange ein vorangegangener Drogenkonsum nachgewiesen werden kann, hängt primär von der gewählten Probenmatrix ab. In der am häufigsten gewählten Matrix Urin sind die Nachweiszeiten für die einzelnen Drogenklassen unterschiedlich lang: Sie sind durch die Eliminationshalbwertszeit der Substanzen oder deren Metaboliten im Körper bestimmt, die mit den Molekül-Eigenschaften der Substanzen zusammenhängen. Auch interindividuelle Unterschiede zwischen getesteten Personen spielen eine Rolle: Individuelle Metabolisierungsrate (Leberfunktion) und Nierenfunktion genauso wie ‚triviale‘ Parameter, wie die zum Zeitpunkt der Probenabgabe ausgeschiedene Flüssigkeitsmenge, die Menge der zuletzt konsumierten Drogen und der Umstand, ob diese Substanzen bereits davor mehrfach konsumiert worden waren (u.a.). Dies sind alles Parameter, die beim anonymen Test eines Drogenharns meist unbekannt sind und somit die Interpretation eines Testergebnisses erschweren. Die in Tabelle 3 aufgelisteten Nachweiszeiten stellen nur Richtwerte dar
Tabelle 3. Beispiele der durchschnittlichen Nachweisbarkeitsdauer von Drogen in verschiedenen Probenmatrices Wirkstoff Amphetamine
Wirksamkeitsdauer kurzwirksame langwirksame
1–3 Stunden 4–8 Stunden
bei geringem Konsum
2–4 Stunden (1 Joint)
Nachweisbarkeitsdauer nach letztem Drogenkonsum Blut: etwa 6–12 Stunden Harn: bis 3 Tage
Cannabis (THC)
chronisch:
Blut: 6–10 Stunden Harn: 3–6 Tage (!) Harn: Wochen (!) Blut: sehr kurz Harn (6-MAM Metabolit): 24–36h
Heroin
kurz
Morphin
3–6 Stunden
Harn: 1–3 Tage
Kokain
1–2 Stunden
Blut: etwa 6 Stunden
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R. Schmid
und können von Person zu Person extrem variieren.
Entscheidungsgrenzen (,Cut-offs‘) Die Entscheidung, ob ein Testergebnis im Harn als positiv interpretiert und damit für den Nachweis eines vorangegangenen Drogenkonsums herangezogen werden kann, hängt, neben der konsumierten Drogenmenge von der Empfindlichkeit der Messung und von den gewählten Entscheidungsgrenzen (,Cut-offs‘) ab (Tabelle 4). Die Cut-off-Werte sind festgelegte Messgrenzen, ab denen ein Testergebnis für eine bestimmte Substanzklasse als „positiv“, darunter als „negativ“ zu werten ist. Die von Labors heute verwendeten Cutoff-Werte wurden meist aus den Verordnungen verschiedener Bundesbehörden (wie z. B. NIDA, DOT etc.) der Vereinigten Staaten übernommen, wo sie bei den verschiedenen Drogentestprogrammen (z.B. beim Arbeitsplatz-Test) verpflichtend einzuhalten sind. Da in den meisten Europäischen Ländern derzeit keine Grenzwerte vorgeschrieben sind, richten sich sehr viele Testeinrichtungen weiterhin nach den US-Amerikanischen Richtlinien. In dieser Situation bleibt es derzeit auch jeder testenden Stelle unbenommen, für jede Substanzgruppe eigene Grenzwerte festzule-
gen, die den Gegebenheiten der einzelnen Fragestellungen angepasst sind. Bei Verwendung von Schnelltests besteht eine solche Möglichkeit jedoch nicht, da der Cut-off für jeden einzelnen Test vom Hersteller festgelegt ist! Für die praktische Durchführung des immunologischen Drogensceenings im Harn bedeutet dies, dass die Messempfindlichkeit eines Testverfahrens wesentlich höher liegen muss als die definierten Cutoff-Werte. Paradoxerweise müssen auch die nicht-quantitativen (halb-quantitativen) Screeningverfahren im Mess-Bereich der Cut-off-Werte genaue quantitative Messergebnisse liefern. Cut-off-Werte sind nämlich als exakte Grenz-Werte und nicht als Grenz-Bereiche definiert, woraus sich eine nicht unproblematische Situation für die Testdurchführung und die Befunderstellung ergibt. Unter Verwendung des ,Cut-off‘-Prinzips können sich beim Drogenscreening vier Situationen ergeben (Abb. 1). 1. Wahres negatives Ergebnis: Ein Messwert unterhalb des Cut-off Werts wird erhalten, wenn sich keine Droge der getesteten Substanzgruppe in der Probe befindet. 2. Wahres positives Ergebnis: Ein Messwert oberhalb des Cut-off-Werts wird erhalten, wenn sich tatsächlich eine der
Tabelle 4. Entscheidungsgrenzen (,Cut-Offs‘ in ng/ml) für das Drogentesten im Harn mit Immunoassays Ziel-Drogenklasse Amphetamine Barbiturate Benzodiazepine Cannabinoide Cocain Methadone Opiate 6-Acetylmorphine (6-MAM) Phencyclidine Propoxyphene
nachgewiesene Verbindung
vorgeschlagene cut-offs [ng/ml]
NIDA (SAMSHA) cut-off [ng/ml]
d-Amphetamin Secobarbital Oxazepam o. Nitrazepam THC-Carbonsäure Benzoylecgonin d-Methadon Morphine 6-MAM
300/1000 200/300 200/300
1000
50/100 300 300 300/2000 10
50 300
PCP d-Propoxyphene
25 300
300 (2000)
25 300
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
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Droge in Probe
▼
tatsächlich positive
,falsch‘ positive
▼
▼
,cut-off‘-Wert
,falsch‘ negative
tatsächlich negative
keine Droge in Probe Abb. 1. Entscheidungskriterien immunologischer Drogentests
getesteten Drogen oberhalb der ‚Cutoff‘-Konzentration in der Probe befindet. 3. Falsch negatives Ergebnis: Ein Messwert unterhalb des Cut-off-Werts wird erhalten, obwohl sich tatsächlich eine Droge der getesteten Substanzgruppe oberhalb der Cut-off Konzentration in der Probe befindet. 4. Falsch positives Ergebnis: Man erhält einen Messwert oberhalb des Cut-off Werts, obwohl sich keine Droge der getesteten Substanzgruppe (oder in niedrigeren Konzentrationen, unterhalb der Cut-off-Konzentration) in der Probe befindet.
Eigenschaften von immunologischen Drug Screening Assays Bei der Bewertung immunologischer Testverfahren und ihrer Grenzen sollte immer das nicht-identifizierende Testprinzip in Erinnerung behalten werden. Denn ein immunologischer Test ist durch die Bindung der Drogenmoleküle in der Probe an einen Antiköper im Testsystem charakterisiert. Diese Bindung führt in der Folge zu einer Indikatorreaktion, die das Vorhandensein einer Droge oder deren Abwesenheit (quantitativ) anzeigt (Abb. 2). Für das Drogenscreening im Harn wird von immunologischen Assays eine Reihe von Eigenschaften gefordert wie:
spezifischer Antikörper Droge in Probe markierte Droge im Assay (Antigen)
nach Reaktion – Detektion des nichtgebundenen markierten Antigens Abb. 2. Prinzip des kompetitiven Immunoassays
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hohe Empfindlichkeit, hohe Präzision bei den Cut-off-Werten, ausreichende Spezifität/Gruppenspezifität, geringe Kreuzreaktivität mit NichtDrogen, gute Reproduzierbarkeit, hohe Genauigkeit, geringe Komplexität, einfache Durchführbarkeit niedrige Kosten. Spezifität und Kreuzreaktivitäten Ein immunologisches Drogenscreeningverfahren im Harn sollte (idealerweise) die folgenden Eigenschaften aufweisen (siehe Tabelle 5). Die Spezifität für die getesteten Drogen selbst sollte maximal hoch sein, damit in möglichst jedem Fall ein Drogenkonsum detektiert werden kann. Ob nun durch den Antikörper auch die Metaboliten einer Droge in einer Harnprobe erkannt werden sollen, kann nicht pauschal beantwortet werden und richtet sich nach der Fragestellung. Ein Drogennachweis der Metaboliten erhöht jedenfalls die Nachweisbarkeitsdauer der Droge im Harn. Die lange Nachweisbarkeit eines Cannabis-Konsums liegt hauptsächlich in der langen Ausscheidungszeit des Hauptmetaboliten von THC begründet. Nun sind beim Drogentest nicht immer lange Nachweiszeiten ein erwünschtes Ziel: So kann beim Testen im Rahmen einer akuten Vergiftung im klinischen Umfeld, bei der meistens eine sehr kurz
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zurückliegende, akute Drogeneinnahme erkannt werden muss, dieser „vermeintliche“ Vorteil zum Problem werden. Auf andere legale Medikamente sollten immunologische Screeningtests nicht ansprechen, genauso wenig wie auf natürliche Bestandteile der Probenmatrix oder alle sonstigen ausgeschiedenen Verbindungen. Es ist leicht zu erkennen, dass diese erwünschten Leistungsmaßstäbe praktisch von keinem immunologischen Testsystem erbracht werden kann, denn immunologische Spezifität für eine bestimmte Substanz schließt eine breite Kreuzreaktivität für strukturanaloge Substanzen aus. Daher kann immer nur eine der beiden Eigenschaften in einem Immunoassay optimiert sein. Hohe Kreuzreaktivität bedeutet aber nicht, dass alle Verbindungen einer Drogenklasse im gleichen Ausmaß erfasst werden. Wie bereits darauf hingewiesen, bestehen grundsätzlich keine Zusammenhänge zwischen individueller Kreuzreaktivität für bestimmte Verbindungen einer Substanzklasse und deren pharmakologischen Wirkung ,in-vivo‘: Zum Beispiel führt bereits die Einnahme weniger Milligramm des stark halluzinogenen Amphetaminderivats DOM zu starken pharmakologischen Wirkungen. Im Gegensatz zu anderen Amphetaminen, wird diese Droge von den meisten kommerziell erhältlichen immunologischen Testsystemen auch erst in relativ hohen (toxischen) Konzentrationen im Harn detektiert. Aus diesem Grund werden bei Verwendung dieser Testsys-
Tabelle 5. Erwünschte Eigenschaften immunologischer Tests für das Drogenscreening im Harn Kreuzreaktivität (= Spezifität) für die getestete Droge selbst für Metaboliten der Droge für andere illegale Drogen derselben Gruppe für andere legale Drogen (Medikamente) derselben chemischen Struktur für andere legale Medikamente anderer chemischen Struktur für Probenbestandteile
Ansprechen des Immunotests ⇑⇑⇑ ⇑⇑ ⇑⇑⇑ ⇓⇓⇓ ⇓⇓⇓ ⇓⇓⇓
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
teme DOM-Konsumenten so gut wie nie durch einen Drogentest im Harn erkannt! Eine analoge Situation ist auch für Screeningtests anderer Drogenklassen gegeben, wie z.B. bei Barbituraten oder Benzodiazepinen. Gerade in der letzteren Gruppe werden die pharmakologisch hochaktiven Verbindungen (wie z.B. Nitrazepam) von manchen Testsystemen kaum erkannt und daher ist ihre Detektion mit immunologischen Urintests erst nach massivem und längerem Missbrauch möglich. Die Frage, ob ein positives Ergebnis die Folge eines „legalen“ oder „illegalen“ BenzodiazepinKonsums ist, kann über einen Drogentest nicht beantwortet werden. Das Ausmaß an gewünschten und unerwünschten Kreuzreaktivitäten bei einem Testsystem wird hauptsächlich durch die Herstellungstechnik der Antikörper bestimmt und deren Eigenschaften können von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sein. Bei seriösen Herstellern sollten ausführliche Informationen über Kreuzreaktivitäten in den technischen Datenblättern zu den Testsystemen zu finden sein. Das Ausmaß dieser Kreuzreaktivitäten wird erst nach einer längeren Präsenz eines Produkts am Markt durch Berichte von Anwendern in der Literatur sichtbar, daher ist dieser Unsicherheitsfaktor bei neu auf den Markt gekommen immunologischen Drogentests besonders groß. Ein realistisches Bild über falsch positive Ergebnisse widerspiegeln Ergebnis-Umfragen von 102 Laboratorien (im Rahmen des ,American Forensic Urine Testing Surveys‘, UDC-A) der American Association of Clinical Chemistry vor wenigen Jahren, in denen z.B. 60% aller immunologischen Tests auf Amphetamin (n = 4250) ein positives Ergebnis aufwiesen. In diesen immunologisch positiv identifizierten Proben konnten jedoch nur in ca. 1/3 (oder 42%) der Fälle mittels Bestätigungsanalyse tatsächlich Amphetamin nachgewiesen und diese somit als ,confirmed‘ positive Ergebnisse ausgegeben werden [1]!
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Bestätigungsverfahren Der Nachweis eines vorangegangenen Drogenkonsums kann erst nach Identifikation der Substanz im Harn durch ein eindeutig identifizierendes Verfahren erbracht werden. Daher müssen – besonders in Fällen mit rechtlichen Folgewirkungen – Drogentests grundsätzlich zweistufig durchgeführt werden: Mittels immunologischem Screeningtest (Vortest) wird in der Probe zunächst auf das Vorkommen einer Droge geprüft. Positive Resultate werden anschließend mit dem zweiten, positiv identifizierenden und quantitativen Verfahren wie der Gaschromatographie-Massenspektroskopie (GC/MS) oder HPLC-Massenspektroskopie (LC/MS) („Gold-Standard“) bestätigt. Diese Verfahren sind an Speziallabors gebunden und sind sehr kostenaufwändig. Es sind dies jedoch die einzigen Verfahren, die eine eindeutige Aussage über die Identität einer Droge oder eines Medikaments in einer Probe geben können. Durch ihre hohe Empfindlichkeit kann damit auch eine quantitative Identifikation von Drogen im Blut oder anderen, alternativen Probenmatrices (Speichel, Schweiß, Haaren etc.) durchgeführt werden. Diese Vorgangsweise schützt sowohl den Tester als auch den Getesteten vor falsch positiven Ergebnissen, die unter Umständen zu schwerwiegenden rechtlichen Konsequenzen führen können. Systematische Fehler Ein schwieriges und heikles Problem sind jene positiven Testergebnisse, die zwar auch von immunologischen Testsystemen korrekt gemessen wurden und nicht durch illegale Drogeneinnahme zustande gekommen sind. Das Mohn-Problem Als wichtigstes Beispiel ist der Konsum von Mohnprodukten genannt (das sogenannte „Mohnkuchen-Problem“). Durch Konsum von Mohnsamen in Lebensmitteln und
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Speisen werden oft Morphin und Codein in den Körper aufgenommen. Während dies zu keinen nennenswerten pharmakologischen Wirkungen führt, da ein Großteil des oral aufgenommenen Morphins sofort nach Aufnahme verstoffwechselt wird (,First-pass‘-Effekt), werden die MorphinMetaboliten, solange sie im Harn ausgeschieden werden, im immunologischen Opiat-Test korrekt als „opiat-positiv“ identifiziert. In diesen Proben kann dann auch mittels eines identifizierenden Verfahrens nicht mehr eindeutig zwischen „legalem“ und „illegalem“ Morphinkonsum unterschieden werden. Besonders im mitteleuropäischen Raum ist dieses Problem von Bedeutung, da der Konsum von mohnhaltigen Lebensmitteln weit verbreitet ist. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die amerikanische Gesundheitsbehörde bereits vor einigen Jahren ihre Verordnungen geändert hat und die verbindlichen Morphin Cut-off-Werte beim ,WorkplaceTest‘ drastisch, von 300 ng/ml auf 2000 ng/ml erhöht hat [2]. Dies bedeutet, dass zwar weniger „falsch“ positive Ergebnisse nach (legalem) Mohnkonsum auftreten, dass damit jedoch auch der mögliche Nachweiszeitraum nach (illegalem) Opiatkonsum verkürzt wird. Das Hanf-Problem In ähnlichem Maße trifft dies auch auf den Konsum von legalen Hanfprodukten zu. Mehrere Studien aus jüngster Zeit haben gezeigt, dass nach Einnahme von legal erhältlichen Nahrungsmitteln, die aus Hanf hergestellt wurden (wie Hanföl, Hanfmüsli u.ä.), eindeutig positive Cannabis-Testergebnisse resultieren können. Auch in diesem Fall kann mittels Bestätigungstests nicht mehr zwischen illegalem und legalem Cannabis-Konsum unterschieden werden. Dieses Entscheidungsproblem lässt sich z.B. durch Erhöhen der Cannabis Cutoff-Werte auf 100 ng/ml etwas entschärfen, da nach Konsum von legalen Hanfprodukten selten erhöhte Konzentrationen von THC-Karbonsäure im Harn gemessen werden. Man muss also zur Kenntnis nehmen,
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dass immunologische Drogen-Tests nicht alle durch das Suchmittelgesetz kontrollierten Substanzen erfassen kann („falsch negative Testergebnisse“), und dass auch andere nicht kontrollierte Substanzen detektiert werden („falsch-positive Testergebnisse“), ohne dass dies aus dem Testergebnis unmittelbar erkennbar wäre (Tabelle 6). Spezielle Drogen-Screening-Tests In den vergangenen Jahren wurden mehr und mehr Drogentestverfahren für spezielle Fragestellungen gefordert, die nun auch verfügbar sind: Um einen möglichen Missbrauch von pharmazeutisch eingesetzten Opiaten und Opioiden besser erkennen zu können, kann seit kurzem auch mittels eines Drogentests auf Oxycodon getestet werden. In der Substitutionstherapie sind auch Testsysteme gefordert, die eine verlässliche Aussage über die regelmäßige Einnahme des Substitutionsmittels und über einen unerwünschten Drogenbeigebrauch geben können. In jüngster Vergangenheit sind mehrere spezifische Testsysteme dazu kommerziell verfügbar. Um zwischen der (legalen) Einnahme von Mohnprodukten und dem (illegalen) Konsum von Heroin unterscheiden zu können, ist seit wenigen Jahren ein Drogentest für 6-MonoacetylMorphin (6-MAM), dem ersten MetaboliTabelle 6. Wodurch kann es zu einem falschpositiven immunologischen Testergebnis kommen? – Durch völlig unterschiedliche Verbindungen (z.B. aus der Probenmatrix, Medikamente/ Probenverfälschung), die mit dem Antikörper im Testsystem reagieren – Durch (legal konsumierte) Verbindungen ähnlicher Struktur (Medikamente), die mit dem Antikörper eine Kreuzreaktion zeigen – Durch legal konsumierte Drogen (Mohn, Hanfprodukte, Medikamente) – Durch fehlende „Eichung“ bei Schnelltests (zu hohe Empfindlichkeit) – Durch falschen oder fehlerhaften Umgang mit (Schnell-)Tests
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
ten beim Abbau von Heroin im Körper, erhältlich. Mit diesem Testsystem kann 6-MAM sehr empfindlich detektiert werden. Die Metabolisierung von Heroin erfolgt sehr schnell, die Ausscheidung von 6-MAM über die Niere ist nur relativ kurz zu verfolgen und die auftretenden Konzentrationen im Harn sind sehr niedrig. Trotzdem hat sich dieser Test im Einsatz als relativ verlässlich herausgestellt, sofern ,cut-off‘ Werte nicht zu niedrig angesetzt werden (> 10 ng/ml). In einer Situation, bei der Patienten mit Morphinpräparaten substituiert werden, sollte dieser Test jedoch nicht eingesetzt werden: Trotz seiner relativ hohen Spezifität, gibt dieser Test durch die hohe Konzentration von Morphinmetaboliten im Harn sehr häufig falsch positive Ergebnisse! Drogentests im Rahmen der Substitutionstherapie können auch die Aufgabe haben, einen Hinweis über die regelmäßige Einnahme des Substitutionsmedikaments zu geben. Im Fall der Methadontherapie sollte dabei nicht nur Methadon selbst im Harn detektiert werden, sondern gleichzeitig auch dessen Metabolit EDDP. Dadurch kann einerseits vermieden werden, dass Individuen, die Methadon schnell metabolisieren, fälschlich verdächtigt werden, ihre Medikation nicht genommen zu haben, andererseits können (bei Fehlen des Methadon-Metaboliten im Harn) all jene Fälle identifiziert werden, in denen durch nachträgliche Zugabe von Methadon in den Harn eine fehlende Compliance verschleiert werden soll! Für das in Mitteleuropa zunehmend eingesetzte Substitionsmedikament Buprenorphin ist seit kurzer Zeit auch ein quantitativer Immunotest kommerziell erhältlich, der ebenso für ein solches ,Therapeutisches Drug Monitoring‘ im Harn eingesetzt werden kann. Drogenschnelltests Schnelltests basieren, ebenso wie laborgebundene Drogentests, auf einer immunologischen Bindung mit der untersuchten Droge in den Proben. Jedoch findet die im-
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munologische Reaktion sowie die notwendige Detektions-Reaktion, nicht in einem Reaktionsgefäß, sondern auf einem ,Träger‘ (wie einem speziell präparierten Zellulosestreifen) statt, auf dem Antiköper und die weiteren, erforderlichen Reaktionskomponenten vom Hersteller direkt aufgebracht wurden. Beim Testvorgang wird der Teststreifen direkt in den Probenharn getaucht oder dieser wird mit einer einfachen Pipette auf das Testsystem aufgetragen. Die immunologische Reaktion findet durch Wanderung der Harnprobe auf dem Streifen statt, wobei verschiedene Reaktionszonen durchlaufen werden (,Immunchromatographie‘) und das Ergebnis nach wenigen Minuten in Form von sich ausbildenden oder ausbleibenden Indikationsstreifen abzulesen ist. Dabei sind mehrere Formen der Sichtbarmachung der immunologischen Reaktion möglich: In den meisten derzeit vertriebenen Testsystemen zeigt sich ein negatives Drogentest-Ergebnis durch das Ausbilden von zwei Indikatorstreifen, ein positives Ergebnis durch einen Streifen. Bei Testsystemen einzelner Testhersteller ist diese Indikator-Reaktion jedoch genau umgekehrt! Schnelltests sind grundsätzlich mit einer Reihe von Fehlermöglichkeiten behaftet, die eine wesentliche höhere Rate an falsch-positiven und falsch-negativen Ergebnissen zur Folge haben kann: – Das Ergebnis eines Streifentests wird nicht analog sondern nur digital abgelesen (,Ja‘ oder ,Nein‘-Ergebnis). – Da Drogentestsysteme auf Teststreifenprinzip extern nicht kalibriert werden können, müssen daher die Entscheidungsgrenzen bereits bei der Herstellung in das Testsystem ,integriert‘ werden – Ein Ergebnis um die Entscheidungsgrenze erfordert ein quantitatives Resultat, jedoch gibt bei vielen Teststreifen die Ausbildung der Indikatorreaktion gerade um den ,Cut-off‘ keinesfalls ein eindeutiges Bild (Abb. 3). – Gerade bei einem Ergebnis um die Entscheidungsgrenze ist es sehr stark
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von der subjektiven Beurteilung des Testers und anderen Testumständen (Lichtverhältnisse, u.ä.) abhängig, ob ein negatives Ergebnis oder positives Ergebnis erkannt wird. Zwar beginnen auch elektronische Auswertesysteme verfügbar zu werden, jedoch erlauben diese Geräte nur die Auswertung bestimmter Teststreifensysteme.
Vorsätzliche Probenverfälschung („Adulteration“)
gische Urin-Temperatur (sofort nach der Abgabe) liegt zwischen 32,5 und 37,5 °C; Proben unter 30 °C sollten daher nicht akzeptiert werden, da dann eine Manipulation nicht auszuschließen ist. Aktive Verfälschung von Drogentests Grundsätzlich kann man drei Arten der Probenmanipulation unterscheiden: 1. In vivo: Die untersuchte Person nimmt bewusst eine Substanz zu sich, die den Drogentest im Harn beeinflussen kann 2. In-vitro: Die untersuchte Person fügt etwas der Harn-Probe zu, das den Drogentest stören oder negativ beeinflussen kann 3. Substitution: Austausch der Originalprobe durch eine drogenfreie Probe. Durch Trinken großer Mengen (mehrerer Liter) an Flüssigkeit vor der Urinabgabe kann der Urin „in vivo“ derart verdünnt werden, dass ein Messwert unter die Entscheidungsgrenze (Cut-off-Wert) fallen kann. Unter ,in-vitro‘-Verfälschung versteht man das nachträgliche Manipulieren der Urinprobe durch direkte Verdünnung mit Flüssigkeiten wie Tee, Apfelsaft, Wasser sowie durch das Zufügen von Chemika-
% abgelesene positive Ergebnisse
Um ein positives Testergebnis nach einem illegalen Drogenkonsum zu verhindern, wird oft versucht, bei oder nach der Urinabgabe die Harn-Probe zu manipulieren. In den meisten Fällen ist das Ziel der Testverfälschung ein negatives Testergebnis zu erreichen und somit das Vortäuschen einer drogenfreien Vergangenheit. Die einfachste Form ist der Austausch der Probe durch drogenfreien Fremd-Urin. Dies lässt sich durch Beobachtung der Urinabgabe weitgehend vermeiden. Eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit besteht darin, die Temperatur des frisch abgegebenen Urins zu überprüfen. Die physiolo-
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Abb. 3. Streuung der positiven Ergebnisse von Streifentests um den ,Cut-off‘-Wert
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
lien, womit versucht wird, durch Störung der Nachweisreaktion das Analysenergebnis zu verfälschen. Dafür werden auch Haushaltsprodukte wie Salz, Essig, Zitronensaft, Ammoniak, Ascorbinsäure, Bleichmittel, Flüssigseife oder andere Reinigungsmittel eingesetzt (Tabelle 6). Mittlerweile hat sich auch ein umfangreicher Internet-Markt aufgebaut, über den die unterschiedlichsten, teilweise recht komplexen Verfälschungsmittel bezogen werden können. Moderne Drogen-Testsysteme sind durch viele dieser Manipulationen nur mehr begrenzt störbar. Durch Messung des pH-Werts, der Dichte und des KreatininGehalts in der Harnprobe können einfache Testverfälschungen relativ rasch erkannt werden. Für diese Verfälschungen der Probenintegrität sind auch mehrere kommerzielle Testsysteme (auch für die vor-Ort Überprüfung) erhältlich (Tabelle 7). Richtlinien für das Drogentesten im Urin Um Qualitätskriterien in Bereichen des Drogentestens mit rechtlichen Konsequenzen zu garantieren, haben US-Bundesbehörden bereits vor Jahren sehr genaue, verbindliche Richtlinien geschaffen, wie eine Überprüfung von Personen auf
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Tabelle 7. Substanzen zur ,in-vitro‘-Verfälschung von Urintests, die Drogen-Testsysteme beeinflussen können: Bleichmittel (Hypochlorit), Basen (Ammoniak, Backpulver), Säuren (Essig bzw. andere saure Chemikalien), Detergentien (Seifen, Waschpulver), Glutaraldehyd („Urine Aid“); Oxidationsmittel: Nitrit („Klear“, „Whizzies“), Pyridinium Chlorochromate („Urine Luck“), Enzyme („Stealth“)
den illegalen Drogenkonsum durch Drogentests im Harn durchzuführen ist [3, 4]. Diese gelten beim Test am Arbeitsplatz, in Bereichen des Transportgewerbes, der öffentlichen Sicherheit, der Armee oder auch bei Firmen mit Wirtschaftbeziehungen zu öffentlichen Stellen verpflichtend, da mittlerweile in mehr als 98% der 200 größten amerikanischen Betriebe die Mitarbeiter regelmäßig auf illegale Drogen getestet werden. Auch in der Europäischen Union gibt es seit 1996/97 Empfehlungen über den Drogentest am Arbeitsplatz, wobei auf folgende Punkte hingewiesen wird: – Bei der Probengewinnung müssen sowohl die Intimsphäre der Testperson gewahrt, als auch die Identität und Un-
Tabelle 8. Mögliche Verfälschungen von Harnproben (,Adulteration‘) Test
Normalwerte
Grenzwerte für eine Verfälschung
Temperatur (sofort nach Abgabe)
32,5°C – 37,5°C
< 32,0°C kein Orginalharn
Kreatinin
80–170 mg/dL (w) 100–190 mg /dL
90–100 mg / dL …mögliche Verfälschung < 30 mg/dL … verfälscht 10–30 mg/dL … Wasserzugabe < 10 mg/dL … Wasser
Spez. Dichte
1.003–1.030 g/ml
< 1,003 und Kreatinin < 20 mg/dL
pH-Wert
4,6–8,0
< 4,0 und > 8,5
Nitrit
nur Spuren, bei Harnwegsinfektionen < 125mg/L
> 500 mg/L
Chromat
nur geringe Spuren
> 100 mg/L
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versehrtheit der abgegebenen Urinprobe gesichert sein (geschlossene Beweiskette – „Chain-of-Custody“) – Die festgelegten Nachweisgrenzen für Drogenscreening und für Bestätigungstests sind eindeutig einzuhalten – Ein positiver Screeningtest muss durch ein eindeutig identifizierendes Analysenverfahren bestätigt werden („Bestätigungstests“) – Externe Qualitätssicherungsprogramme und Akkreditierung des Labors wird vorgeschrieben. In den amerikanischen Richtlinien kommt noch hinzu, dass nur speziell ausgebildetes Laborpersonal rechtlich relevante Drogentests durchführen, beurteilen und ausgeben darf und dass auch ein verifiziertes, positives Ergebnis nicht direkt an einen Arbeitgeber weitergegeben werden darf. Es muss zuerst von einem speziell ausgebildeten Arzt („Medical Review Officer“) begutachtet werden, der, nach Rücksprache mit der getesteten Person, das Testergebnis endgültig als positiv oder negativ bewertet. Im Hinblick auf die rechtlichen und individuellen Folgewirkungen, die ein falsch positives Drogentestergebnis für eine Person haben kann, nur allzu logische Richtlinien. Bedauerlicherweise gibt es in vielen Ländern Europas bis dato noch immer keine vergleichbaren verbindlichen Normen, die getestete Personen, aber auch das durchführende Labor vor rechtlichen Folgen falsch positiver Ergebnisse schützen!
Die absolute Aussagekraft von Drogentestergebnissen In verschiedenen Studien ist dokumentiert, dass die meisten der heute verwendeten immunologischen Screeningtests auf Drogen im Harn eine Sensitivität von durchschnittlich 80% und eine Spezifität von > 96% haben. Eine hohe Spezifität bedeutet, dass von 100 getesteten Personen, die keine Drogen konsumiert haben, nach Überprüfung im Harn, bei mindestens 96 ein negatives, bei 4 ein falsch positives Ergebnis vorliegen wird – ein an und für sich exzellentes Ergebnis in Vergleich zu vielen anderen medizinisch-diagnostischen Verfahren. Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension: den prädiktiven Wert eines (positiven) Drogentests: Dieser drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der eine als positiv getestete Person eines Kollektivs auch tatsächlich illegale Drogen konsumiert hat. Wie hoch die Sicherheit einer solchen prädiktiven Aussage immunologischer Drogentests, auch bei sehr hohen Spezifitätswerten von > 98%, sind hängt von der Höhe der Prävalenz-Zahlen (dem tatsächlichen Ausmaß des Drogenkonsums in dem getesteten Kollektiv) ab: Denn je höher die Prävalenz des Drogenkonsums in einer Gruppe von getesteten Personen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Testergebnis richtig ist und umso verlässlicher ist die Aussagekraft eines Drogenscreenings. Wie Tabelle 8 zeigt, sinkt die Sicherheit prädiktiver Aussagen von positiven Test-
Tabelle 9. Prädiktive Aussage positiver Drogentestergebnisse in verschiedenen Populationen (bei einem Drogentest mit 99%-iger(!) Spezifität) Prozentsatz des aktuellen Drogenkonsums in der (nach Zufall) getesteten Population in %
Wahrscheinlichkeit, mit der eine als positiv getestete Person tatsächlich Drogen genommen hat (,Prädiktiver Wert eines positiven Testergebnisses‘)
50,0% 20,0% 10,0% 1,0% 0,1%
98,7% 95,0% 89,4% 43,4% 7,1%
Drogentests: Möglichkeiten und Grenzen
ergebnissen, wenn gleichzeitig die Prävalenz-Zahlen in einem getesteten Kolletiv abnehmen, selbst wenn immunologische Drogentests mit sehr hoher Spezifität verwendet werden: In einem getesteten Bevölkerungssegment mit hohem Drogenkonsum (z.B. bei Entzugstherapie Programmen) ist die Wahrscheinlichkeit, dass das einzelne positive Drogentestergebnis auch richtig ist, sehr hoch. Dagegen kann in der Normalbevölkerung mit niedriger Inzidenz an Drogenkonsum (z.B. bei einer Verteilung von 1 in 1000) die falsch positive Rate für zufällig, ohne Verdacht getestete Personen auf 93% hinaufsteigen! Schlussfolgerungen Drogentests, welche auf Zufallsbasis und ohne Verdacht in einer Population mit niedriger Inzidenz an Drogenkonsum durchgeführt werden, müssen auf Grund der zu erwartenden hohen, falschen Ergebnisraten mit großem Vorbehalt betrachtet werden und sollten daher gar nicht oder nur mit größter Kritik eingesetzt werden. Im Hinblick auf den sich entwickelnden Trend in Europa, dass von den verschiedensten öffentlichen und privaten Institutionen immer mehr Drogentests angefordert werden, es jedoch gleichzeitig kein verbindliches Regelwerk für den korrekten Umgang beim Drogentesten gibt, eine problematische Situation! In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass grundsätzlich kein Drogentestverfahren im Harn dazu geeignet ist, irgendwelche Aussagen über Drogenabhängigkeit, Suchtverhalten oder Suchtdisposition einer getesteten Person zu machen. Ergebnisse von Drogentests können nur Auskunft über einen kürzer oder länger zurückliegenden, möglichen Kontakt der getesteten Person mit einer legalen oder illegalen Droge geben.
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Die skizzierten Grenzen und Einschränkungen des Drogenscreenings im Harn sollen jedoch nicht den Eindruck erwecken, moderne immunologische Screeningtests auf illegale Suchtmittel hätten grundsätzlich eine geringe Verlässlichkeit. Bei korrekter Anwendung und kompetenter Interpretation können sie ein sehr wertvolles, nicht zu ersetzendes Instrument in der Behandlung drogenabhängiger Personen sein oder vielleicht auch die Sicherheit am Arbeitsplatz erhöhen. Ein Drogentestergebnis sollte für Fachleute in der erfolgreichen Behandlung eines Drogenmissbrauchs immer nur eines von vielen eingesetzten Hilfsmitteln, jedoch nie das entscheidende Werkzeug sein.
Spezielle Literatur zum Drogentest Shaw LM (2001) The Clinical Toxicological Laboratory. AACC Press, Washington D.C. Schütz H (1999) Screening von Drogen und Arzneimittel mit Immunoassays. Wissenschaftliche Verlagsabteilung, Abbott, Wiesbaden. Liu RH, Goldberger BA (1995) Handbook of Workplace Drug Testing. AACC Press, Washington D.C. Karch S (1998) Drug Abuse Handbook. CRCPress
References [1] Clinical & Forensic Toxicology News (2002) Sept. 2002, AACC Press [2] Changes to the testing cut-off levels for opiates federal workplace testing programmes. (1995) Federal Register, 60, 57587 [3] Mandatory Guidelines for Federal Workplace Testing. (1988) Federal Register, 53, 11970 [4] Mandatory Guidelines for Federal Workplace Testing. (1994) Federal Register, 59, 29908
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit Christine Grünhut Einleitung Bestimmungen bezüglich des Konsums psychoaktiv wirkender Substanzen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Immer schon waren bestimmte Zubereitungen nur besonderen und auserwählten Personen erlaubt. Man denke an schamanische Rituale oder an die alten Griechen, die psychotrope Substanzen zur Erlangung von Erkenntnissen oder Vorhersagen einsetzten. Psychoaktive Substanzen unterlagen anfänglich weniger aus medizinischen Gründen gesetzlichen Regelungen, sondern waren auch früher schon politischen und religiösen Interessen unterworfen. So blieben bestimmte Substanzen ausgewählten Kreisen, Schichten oder Funktionsträgern vorbehalten. Mit der Zunahme medizinischer Erkenntnisse während der letzten Jahrhunderte und in den letzten Jahren im Speziellen, wurden auch die Wirkungen dieser Substanzen zusehends naturwissenschaftlich analysiert und zum Teil auch gezielt zu Heilzwecken eingesetzt. Das generelle Interesse der Menschheit an psychoaktiven Wirkungen hat sich deshalb aber nicht wesentlich geändert. Wir kennen zahllose Berichte über den Gebrauch von bewusstseinserweiternden Substanzen bei Künstlern und Schriftstellern. Bei jungen Menschen sind in der Phase, wo sie selbstständige Erkenntnisse gewinnen und nicht nur übernehmen, sondern vielmehr experimentieren wollen, bewusstseinsverändernde Substanzen ebenso von Belang. Bei psychischem Leid führt jedoch eine leich-
tere Verfügbarkeit bestimmter Substanzen, durch welche eine unmittelbare Linderung bei Gebrauch erlebt wird, manchmal zu schweren gesundheitlichen Problemen, zu sozialem Abstieg und damit in die Isolierung und Verelendung. Eine weitere Komponente des verbreiteten Missbrauchs liegt in einer hedonistisch orientierten Gesellschaft und führt unter Umständen genauso in ein selbstdestruktives Verhalten. Ein anderer wesentlicher Faktor erscheint mir, gerade im Zusammenhang mit dem lustorientierten Streben, das Bedürfnis der Menschen nach transzedentaler Erfahrung zu sein. In unserem Kulturkreis wurden die religiösen Traditionen und Riten zwar in Frage gestellt, gleichzeitig werden aber jungen Menschen in der Zeit des frühen Erwachsenenalters, in der viele Fragen der Orientierung ihres Lebens auftauchen, außer ökonomischen Werten kaum zufriedenstellende Antworten in Auseinandersetzung mit wesentlichen anderen Lebensfragen angeboten. Die Folgen des zunehmend weit verbreiteten und ungeregelten Gebrauchs psychotroper Substanzen sind heute sichtbar und bekannt geworden und auch gesellschaftspolitisch von größer werdender Relevanz. Das Gesetz versucht hier nun global regelnd einzugreifen. Und interessanterweise waren es besonders Juristen, die sich sehr bemühten, nicht nur strafend zu regeln, sondern mit Weitblick oben beschriebene Hintergründe nicht unberücksichtigt zu lassen und mit politischer Unterstützung einen ausgewogenen Umgang zwischen Strafe und Hilfe für das Einzel-
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individuum im Sinne einer Behandlung auf medizinischer, psychischer und sozialer Ebene anzubieten. Der gesetzliche Rahmen und seine jüngere Entwicklung Seit dem 1. 1. 1998 findet das neue Suchtmittelgesetz (SMG) in Österreich Anwendung und löste das bis dahin gültige Suchtgiftgesetz (SGG) von 1951 ab. Zielrichtung dieses Gesetzes war einerseits, die gegebenenfalls notwendige Therapie von Konsumenten illegaler Suchtgifte und/oder schädlicher psychotroper Substanzen zu forcieren und diesen Personenkreis zunächst nicht zu kriminalisieren. Andererseits versuchte man, den illegalen Handel sehr wohl unter strengere Strafen zu stellen. Die Wurzeln unseres heute gültigen Suchtmittelgesetzes (SMG) liegen zunächst in der Einzigen Suchtgiftkonvention der Vereinten Nationen von 1961, die nach ersten, weniger repressiven Strafbestimmungen der Zwischenkriegszeit und der allgemeinen Zunahme einer Drogenkonsumproblematik als notwendig angesehen wurde. Konventionswidriger Umgang mit Suchtgiften wurde unter Strafe gestellt, allerdings konnten Abhängige nun alternativ behandelt und sozial, so notwendig, möglichst rehabilitiert werden. Infolge dieses Umdenkprozesses wurde das österreichische Suchtgiftgesetz (SGG) von 1951 wiederholt reformiert. Leitgedanke war zusehends, einen körperlich abhängigen Konsumenten, entsprechend der Erkenntnisse der medizinischen Forschung, als krank und damit als behandlungswürdig anzuerkennen. Diese Möglichkeiten von Diversion oder Repression wurden durch die Änderungen des SGG in den Jahren 1971, 1980 und 1985 geschaffen. So konnte in Österreich ein Suchtmittelkonsument nach Anzeige der Strafe entgehen, indem er sich einer Behandlung unterzog oder sich in ärztliche Überwachung begab. Parallel dazu bestand politisch der Druck, die Strafe als Mittel der Repression
C. Grünhut
aufrecht zu erhalten. Es entstand nun der Konflikt zwischen der Erkenntnis, dass Drogenkonsum einerseits als Krankheit definiert werden konnte, andererseits aber zahlreiche Süchtige ihren Drogenkonsum nur durch Handel mit diesen Substanzen finanzieren konnten. Dies führt in der Regel auch zu Veränderungen der sozialen Strukturen des Einzelnen. Konsequenter Weise musste die medizinische Behandlung in der Folge durch Psychotherapie und Sozialarbeit ergänzt werden, während gleichzeitig die Strafen für Drogenhandel verschärft wurden. Das Konzept „Helfen statt Strafen“ wurde durch die Novelle von 1985 verbessert, indem durch Therapiebereitschaft eine unbedingte Strafe aufgehoben oder in eine mildere Variante umgewandelt werden konnte. Durch internationale Vereinbarungen wie die Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1971 über psychotrope Stoffe und dem Wiener Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtgiften und psychotropen Stoffen (1988) kam es schließlich zur Entscheidung, das Suchtmittelgesetz (SMG) neu zu schaffen und das Suchtgiftgesetz (SGG) zu ersetzen. Der Begriff des Suchtmittels wurde auch durch die Begriffe wie „psychotrope Stoffe“ und „Vorläuferstoffe“ erweitert. Im Spannungsfeld von Strafe versus Therapie Schließlich ist auf die probeweise Zurücklegung der Anzeige und Verfahrenseinstellung einzugehen (§§ 35 ff SMG), wie sie bereits schon im SGG vorgesehen war. Sie findet Anwendung beim illegalen Erwerb oder Besitz von Suchtmitteln oder psychotropen Substanzen (§§ 27 und 30 SMG) zum eigenen Gebrauch. Hinzu kam im neuen SMG außerdem die Möglichkeit nach richterlicher Abwägung, auch kleinkriminelle Delikte zur Finanzierung der Drogensucht zunächst nicht zu bestrafen, in Abwägung dessen, dass die einstweilige Zurücklegung zur Abhaltung weiterer Delikte ebenso geeignet sei, diese zu verhindern.
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit
Erstmals liegt es nun bei der Gesundheitsbehörde, nach Feststellung eines Suchtmittelkonsums entsprechend mit einer „... zweckmäßigen, nach den Umständen möglichen und zumutbaren und nicht offenbar aussichtslosen gesundheitsbezogenen Maßnahme ...“ (§11 SMG Abs.1) zu reagieren. Damit kann die Anzeigenpflicht zunächst nun entfallen. Die Freiwilligkeit jeder Behandlung stand ebenso außer Frage. Gleichzeitig blieben aber die Strafbestimmungen bzw. Strafdrohungen wie im SGG bestehen. Dies soll auch die Motivation des Abhängigen erhöhen, sich einer Behandlung zu unterziehen. Außerdem kommt es im neuen Gesetz nach einer Anzeige zur Anwendung des milderen Strafausmaßes allein durch die Tatsache, dass der Angezeigte bereits an ein Suchtmittel gewöhnt ist. Gesundheitsbezogene Maßnahmen bei Suchtgiftmissbrauch (§11 SMG) stellen ein Kernstück im Umgang mit Personen nach einer Anzeige nach dem Suchtmittelgesetz dar. Sie sind in der Regel für zwei Jahre vorgesehen und werden auch seitens des Bundes finanziert. Weiters wurden in § 28 SMG erstmals Grenzmengen festgesetzt, um zwischen leichten und schweren Suchtgiftdelikten unterscheiden zu können. Es war auch notwendig geworden, in das Gesetz neu aufgenommene Substanzen, die auch zu medizinischen Zwecken Verwendung fanden, aus den Strafbestimmungen unter besonderen Vorraussetzungen herauszunehmen. Wesentlich ist hier die Erwähnung der Schmerztherapie und der Entzugs- und Substitutionsbehandlung. Diesen Behandlungen wird in § 8 SMG Rechnung getragen und damit Ärzten zur Behandlung von Patienten mit entsprechender Indikation der erforderliche gesetzliche Spielraum gewährleistet. So geht bereits der Gesetzgeber hier auf die gelegentliche Notwendigkeit ein, bestimmte Patienten dauerhaft auf ein opiathältiges Medikament einzustellen, um eine Entkriminalisierung und Straffreiheit bei langfristig zu behandelnden Patienten gewährleisten zu können.
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Bemerkenswert scheint, dass beim SMG der Versuch unternommen wurde, wesentlichen Bedacht auf die Bedeutung des Krankheitswertes und den daraus resultierenden sozialen und medizinischen Folgen der Abhängigkeit bei Missbrauch diverser Substanzen zu nehmen. Auch wurde seitens der maßgeblichen Juristen damals großes Augenmerk auf die Sinnhaftigkeit beziehungsweise auf die dauerhaft schädlichen Folgen einer vorschnellen Kriminalisierung für das betroffene Individuum gelegt. Wie oben bereits angedeutet, ist der Konsum psychotroper Substanzen als ein komplexes Geschehen zu betrachten und gesellschaftspolitisch zusehends ein heikles Thema, dem nur sehr schwer einheitlich, wie es auch durch ein Gesetz versucht wird, Rechnung zu tragen ist. Von der Theorie zur Praxis Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben nach dem SMG kommt es nach einer Anzeige durch die Polizei wegen illegalen Drogenbesitzes (wie in § 2 SMG geregelt) zur Weiterleitung an die zuständigen Gerichte, die Gesundheitsbehörde und das Verkehrsamt. Das Gericht und hier zunächst die Staatsanwaltschaft entscheiden nun über eine unmittelbare Zurücklegung der Anzeige, über eine Strafverfolgung durch Einleitung eines Verfahrens und über gegebenenfalls die entsprechende gesundheitsbehördliche Untersuchung zur Feststellung einer Behandlungsindikation. Die Gesundheitsbehörde wird erst nach einer ausdrücklichen gerichtlichen Anfrage tätig und veranlasst die vorgesehene Untersuchung in einer entsprechenden Einrichtung nach § 15 SMG. Diese sogenannten § 15 SMG Einrichtungen sind im Bundesgesetzblatt kundgemacht. Ob dann tatsächlich die Notwendigkeit einer suchtmittelbezogenen Behandlung indiziert ist, wird dort von einem entsprechenden Arzt untersucht und in Folge an die Gerichte weitergeleitet. Zweck dieser Einrichtungen ist es, dass den Suchtgift-Missbrauchenden eine spezifische Behandlung, Beratung und Betreuung gemäß § 11 SMG
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Abs. 2 gemäß individueller zugrundeliegender Problematik zuteil werden kann. Die in der Öffentlichkeit sehr präsente und emotional geführte Diskussion bezieht sich zumeist auf Fälle von schwerer Opiatabhängigkeit, oft verbunden mit anderen, teils legalen, teils illegalen Rauschmitteln. Diese opiatgebundene Abhängigkeit stellt zahlenmäßig den geringsten Teil der Anzeigen dar. Die meisten Anzeigen beziehen sich auf Substanzen, die selten zu körperlicher Abhängigkeit führen, was nicht bedeutet, dass ihr Gebrauch als unproblematisch anzusehen ist. So wird in § 2 SMG dementsprechend von psychoaktiven Substanzen mit Missbrauch und/oder Abhängigkeit gesprochen. Therapiemöglichkeiten beziehen sich also nicht nur auf schwere körperliche Abhängigkeiten, sondern auch auf Missbrauch. Dieser schädlich fortgesetzte Gebrauch wird im Gesetz klar definiert und ist entsprechend der gegebenen Problematik einzusetzen. Grundsätzlich bestehen folgende Therapiemöglichkeiten gemäß § 11 SMG (gesundheitsbezogene Maßnahmen bei Suchtgiftmissbrauch): Z 1: ärztliche Überwachung des Gesundheitszustandes Z 2: ärztliche Behandlung einschließlich einer Entzugs- und Substitutionsbehandlung Z 3: klinisch-psychologische Beratung und Betreuung Z 4: Psychotherapie Z 5: psychosoziale Beratung und Betreuung Die hier angeführten Maßnahmen werden durch Ärzte, die nach Beauftragung durch die Gerichte in entsprechenden Institutionen tätig werden, empfohlen und in der Regel anschließend durch die zuständigen Gerichte bestätigt. In der Folge erhält der Angezeigte die Auflage, sich der verordneten Therapie regelmäßig und nachweislich in entsprechend vorgesehenen Einrichtungen oder bei dafür ausgebildeten Ärzten zu unterziehen. Gleichzeitig wird ab diesem Zeitpunkt die Anzeige nach § 27 SMG gemäß § 35 SMG
C. Grünhut
durch die Staatsanwaltschaft für zwei Jahre im Sinne einer Probezeit zurückgelegt und sollte dann aus den entsprechenden Akten innerhalb von fünf Jahren, so es zu keiner neuen Anzeige kommt, gestrichen werden. Die zurückgelegte Anzeige erscheint also nicht in einem Leumundzeugnis, dennoch erfolgt die polizeiliche Meldung an das Verkehrsamt. Die therapeutischen Maßnahmen im Detail Die Therapiedauer ist auf maximal zwei Jahre begrenzt und entspricht somit zeitlich der zunächst auf Probe zurückgelegten Anzeige. Es ist aber auch möglich, dass Therapien vorzeitig beendet werden, wenn vereinbarte Therapieziele erreicht und die Auflagen des Gerichts erfüllt wurden. Umgekehrt wird seitens des Gerichts eine Verlängerung einer Therapie aus Kostengründen in der Regel nicht gewährt. Z 1, die ärztliche Überwachung: wird vor allem bei Missbrauch, selten bei Gewöhnung oder sogar körperlicher Abhängigkeit von illegalen Substanzen eingesetzt. Wenn der Patient nicht regelmäßig erscheint, ist das Gericht durch den behandelnden Arzt zu informieren. Z 2, ärztliche Behandlung einschließlich einer Entzugs- und Substitutionsbehandlung: wird vor allem bei Süchtigen empfohlen, die einer Substitutions- oder Entzugsbehandlung vor allem von Opiaten bedürfen. Hier obliegt es dem Patienten, in vorgegeben Intervallen den regelmäßigen Nachweis seiner Behandlung inklusive Harntests bei Gericht zu erbringen. Z 3, klinisch-psychologische Beratung und Betreuung: wird vornehmlich in öffentlichen ambulanten Einrichtungen für Drogenpatienten angeboten. Z 4, Psychotherapie: wird zumeist von auf Suchterkrankungen spezialisierten Psychologen durchgeführt; empfohlen wird die Maßnahme bei Missbrauch und bei konstanter Gefährdung eines Beste-
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit
henbleibens oder potenziellen Fortschreitens eines Missbrauchs vor allem im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen; auch hier hat der Patient den Nachweis seines regelmäßigen Besuches an das Gericht zu erbringen. Z 5, psychosoziale Beratung und Betreuung: wird von Sozialarbeitern angeboten und findet zumeist in spezialisierten Einrichtungen für Drogenkranke statt.
Zum Procedere in der Landeshauptstadt Wien und der aktuellen Situation bei Opiatabhängigen In Wien erfolgt zunächst am Institut für Suchtdiagnostik (ISD), eine § 15 SMG Einrichtung, die ausführliche Erhebung der Patientenanamnese durch speziell geschulte Sozialarbeiter. Nach einer ausführlichen ärztlichen Untersuchung, die auch einen aktuellen Harnbefund inkludiert, erfolgt die Empfehlung einer Therapiemaßnahme an die Gesundheitsbehörde, die Magistratsabteilung 15 der Gemeinde Wien. Die Behörde leitet das Ergebnis dieser Untersuchungen, welche entsprechenden gesundheitsfördernden Maßnahmen durchzuführen wären, dem zuständigen Gericht weiter. Im Jahre 2003 wurden in Wien 3324 Personen zur Untersuchung eingeladen, wovon 1762 (53%) Personen erschienen. 2004 wurden von 4233 eingeladenen Personen 2461 (58%) untersucht. Im Folgejahr 2005 wurden bereits 5853 Anzeigen an das ISD weitergeleitet, wovon 3465 (59%) Personen der Aufforderung zur Untersuchung tatsächlich Folge leisteten (Tabelle 1). Interessant erscheint zunächst die Frage, wie häufig Therapieempfehlungen im
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untersuchten Personenkollektiv waren. Obwohl etwa im Falle des Gebrauchs von Cannabis das Suchtmittelgesetz die Möglichkeit einer unmittelbaren Zurücklegung der Anzeige ohne vorhergehende gesundheitsbehördliche Untersuchung explizit vorsieht, nehmen die gerichtlichen Vorladungen auch bei diesem Delikt zu. Ähnlich ist die Situation im Falle von Opiatabhängigkeit, wo die Zunahme der Anzeigen nach dem SMG eine Vielzahl von bereits in Behandlung befindlichen Patienten betreffen muss. Aus der Zunahme der Zahl der Anzeigen ist somit zunächst nicht schlüssig ableitbar, ob diese auf einen in den letzten Jahren intensivierten Gebrauch von Suchtmitteln zurückzuführen ist, wie sich vielleicht aus der isolierten Betrachtung der Anzeigenentwicklung darstellen lassen könnte, oder diese nur das Ergebnis einer intensivierten Überwachung und Kontrolle seitens der Polizei ist. Vorweg zu jenen Personen, bei denen von ärztlicher Seite keine Behandlungsindikation aufgrund einer Suchterkrankung oder einer entsprechenden Gefährdung festgestellt werden konnte und somit keine Notwendigkeit für eine therapeutische Maßnahme ausgesprochen wurde. 2003 erfolgten 3324 Anfragen durch die Gerichte, wovon 1562 Personen nicht zur Begutachtung erschienen. Bei 1762 durchgeführten Begutachtungen wurden dann 790 Empfehlungen bezüglich einer gesundheitsfördernden Maßnahme ausgesprochen, unabhängig, ob sich die Person schon in Behandlung befand oder nicht. 2004 kam es zu einer Zunahme auf 4233 und 2005 auf 5853 Anfragen von Seiten der Gerichte. Bei 2461 (2004) bzw. 3465 (2005) tatsächlich durchgeführten Begutachtungen wurden 1236 bzw. 1740 Empfehlungen
Tabelle 1. Begutachtungen in Wien
2003 2004 2005
Anfragen
Begutachtungen
Keine therap. Maßnahmen
Maßnahmen Summe
SubstitutionsBehandlung
Ärztliche Überwachung
3324 4233 5853
1762 2461 3465
1173 (66,6%) 1225 (49,8%) 1725 (49,8%)
790 1236 1740
432 580 808
282 572 813
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C. Grünhut
zu einer Therapiemaßnahme bezüglich einer gesundheitsfördernden Maßnahme ausgesprochen, bei 1225 bzw. 1725 Personen, jeweils knapp 50%, wurde keine Notwendigkeit einer Maßnahme festgestellt. In den Bundesländern stellt sich die Situation offensichtlich ganz anders dar. So berichtet das ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen) in seinem Drogenbericht 2005, dass in Salzburg im Jahre 2004 bei 58% der Untersuchten eine, bei 28% mehrere gesundheitsbezogene Maßnahmen verordnet wurden. Die am häufigsten verordnete Maßnahme (71%) erfolgte nach § 11 SMG Abs. 2 Z 3 (psychosoziale Beratung und Betreuung). Nur 13% blieben ohne gesundheitsbezogene Auflage. Bei einer manifesten Opiatabhängigkeit ist in der Regel eine Entzugs- oder Substitutionsbehandlung vorgesehen. Diese Empfehlungen für eine gerichtlich verordnete Maßnahme nach § 11 SMG Abs. 2 Z 2 stiegen in Wien bei den untersuchten Patienten in den Jahren 2003 bis 2005 von 407 auf 808 kontinuierlich und verdoppelten sich somit knapp innerhalb von zwei Jahren. Im Jahr 2004 wurden an die Gerichte in Wien 580 Empfehlungen zur Substitutions-
behandlung bzw. zur Fortführung der bestehenden Behandlung nach einer Anzeige durch die Polizei und einer entsprechenden Untersuchung ausgesprochen. Laut ÖBIG-Jahresbericht zur Drogensituation 2005 (Tabelle 2) befanden sich Ende 2004 in Wien insgesamt 3468 Personen in Substitutionsbehandlung, wovon 279 Personen als Neuzugänge ausgewiesen werden. In dieser Zahl von 279 Personen sind auch alle jene Patienten beinhaltet, die ohne gerichtliche Weisung eine Substitutionsbehandlung in Wien begonnen haben. Demnach stehen den 580 gerichtlichen Empfehlungen zur Substitutionsbehandlung nur insgesamt 279 in ganz Wien neu behandelte Substitutionspatienten gegenüber. Anders formuliert bedeutet dies, dass es bei der Gruppe der sich in Substitutionsbehandlung befindlichen Patienten zwar zu Anzeigen gekommen war, nicht aber, dass daraus eine wesentliche Zunahme an neu registrierten abhängigen Opiatkonsumenten abzuleiten ist. Mehrheitlich befanden sich diese angezeigten Patienten also bereits in Behandlung und setzten ihre laufende Therapie lediglich fort, die nun auch zusätzlich über Gerichte kontrolliert wurde.
Tabelle 2. Anzahl der aktuell in Substitutionsbehandlung befindlichen Personen in Österreich nach Erst- und fortgesetzten Behandlungen und nach Bundesländern, 2004 Behandlung
B
K
NO
OO
S
St
T
V
W
Ö*
Fortgesetzte Behandlung Erstbehandlung Gesamt
54
151
656
447
369
618
253
405
3189
6148
16 70
35 186
150 806
69 516
46 415
169 787
23 276
58 463
279 3468
847 6995
ÖBIG Drogenbericht 2005, S. 114 Anmerkung: Fortgesetzte Behandlungen sind Behandlungen, die vor dem Jahr 2003 begonnen wurden, oder wiederholte Behandlungen, von Personen, welche früher schon einmal in Substitutionsbehandlung waren. Erstbehandlungen bedeutet, dass die entsprechenden Personen bisher noch nie in Substitutionsbehandlung waren. Die Zahlen beziehen sich auf jene Behandlungen, die dem BMGF gemeldet wurden. * Die Gesamtsumme für Österreich stimmt mit der Summe über die Bundesländer nicht exakt überein, da bei einigen Fällen die Angabe des Bundeslands fehlte. Quelle: BMGF, ÖBIG – eigene Berechnungen
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit
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Tabelle 3. Rechtskräftig nach dem österreichischen Suchtgiftgesetz/Suchtmittelgesetz Verurteilte nach Verurteilungsgrund, Geschlecht und Altersgruppe, 2004 Verurteilungsgrund
14–19 a
20–24 a
25–29 a
30–34 a
> 34 a
gesamt
SGG/SMG gesamt männlich weiblich
1537 120
1745 196
770 70
454 51
676 87
5182 524
§ 12 SGG/§ 28 SMG männlich weiblich
210 20
399 44
244 17
164 14
300 29
1317 124
§ 16 SGG/§ 27 SMG männlich weiblich
1327 100
1343 150
519 53
288 36
356 57
3833 396
SGG = Suchtgiftgesetz SMG = Suchtmittelgesetz Das Suchtgiftgesetz wurde am 1. Jänner 1998 durch das Suchtmittelgesetz abgelöst. § 12 SGG/§ 28 SMG = Handel, Besitz, etc. von großen Mengen von Suchtgift („professioneller Drogenhandel“) § 16 SGG/§ 27 SMG = Handel, Besitz, etc. von kleinen Mengen von Suchtgift Anmerkung: Die Statistik erfasst nur das „führende Delikt“, d.h. das dem Strafrahmen nach schwerste Delikt, und daher nicht alle Verurteilungen nach SGG bzw. SMG. Quelle: Statistik Austria (Gerichtliche Kriminalstatistik)
Entscheidungsgrundlagen für eine Behandlung In Wien verstreichen etwa sechs Monate von der Anzeige wegen Besitzes zum persönlichen Gebrauch oder Konsum von illegalen Substanzen entsprechend Suchtmittelgesetz und der Vorladung zur Untersuchung. Das Erstgespräch findet mit Sozialarbeitern statt, wo die Angezeigten nach ihrem Konsumverhalten vom Erstkontakt mit Drogen bis zum Untersuchungszeitpunkt befragt werden. Weiters wird der soziale Status mit Ausbildung, Einkommen, Berufstätigkeit und familiären Verhältnissen erfragt. Medizinisch werden Daten der Vorbehandlungen in Bezug auf Suchterkrankungen und psychiatrischen Behandlungen aufgenommen. Zusätzlich werden alle Vorgeladenen obligatorisch aufgefordert, eine aktuelle Urinprobe abzugeben. Dieser Aufforderung kommen fast ausnahmslos alle Personen nach. Befindet sich ein Patient bereits wegen einer bestehenden Suchterkrankung in
ärztlicher Behandlung, so hat er eine entsprechende Bestätigung vorzulegen, worüber das Gericht im Anschluss informiert wird. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass ein Patient eine Psychotherapie oder eine psychosoziale Betreuung zusätzlich zu einer rein medizinischen Behandlung in Anspruch nimmt. Ein großer Teil der untersuchten Personen, nämlich 50 bis 60%, bedarf keinerlei Behandlung (Tabelle 1). Hierbei handelt es sich meist um junge Erwachsene ab dem 18. Lebensjahr, die gelegentlich im Freundeskreis Cannabis konsumieren, oder um Fälle von sporadischem Experimentieren mit modernen Designerdrogen. Neben einer psychiatrischen Untersuchung wird ein unter Aufsicht stattfindender Harntest unter Umständen mehrfach wiederholt, um eine Abhängigkeit ausschließen zu können. Bei Vorliegen negativer Urintests, stabilen familiären Verhältnissen, regelmäßiger Erwerbstätigkeit oder Ausbildung und dem Fehlen von eindeutigen Hinweisen einer schwereren Persönlichkeitsstörung oder einer psychiatrischen Erkrankung und
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einer reflektierten Auseinandersetzung bezüglich des eigenen Konsumverhaltens, das erkennen lässt, ob die betroffene Person mit möglichen Konsequenzen und Gefahren hinlänglich vertraut ist, wird in der Regel keine gesundheitsbezogene Maßnahme angeordnet. Bei etwa einem Drittel der Untersuchten besteht die Notwendigkeit, eine therapeutische Intervention einzuleiten. Dabei handelt es sich um sehr heterogene Gruppen. Hier einige typische Vertreter: – Jugendliche, die eine soziale Verwahrlosung erkennen lassen und oft aus problematischen familiären Verhältnissen stammen. – Junge Erwachsene ohne Beschäftigung und Schulabschluss oder mit nur geringem Ausbildungsniveau. – Erwachsene mittleren Alters, die seit Jahren Drogen konsumieren und meist schon in destabilisierten Verhältnissen leben. – Jugendliche und junge Erwachsene, die aus relativ sozial stabilen Verhältnissen stammen und im Rahmen von protrahierten Krisen oder insuffizienten Kompensationsmöglichkeiten besonders gefährdet sind, ein sehr schädliches Konsumverhalten zu entwickeln. – Patienten aller Bildungsschichten und sozialer Gegebenheiten mit prodromalen oder manifesten psychiatrischen Erkrankungen, die bis dahin oft nicht als solche erkannt und behandelt wurden. Interessanterweise steht ein großer Teil dieser Patienten einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Folgen ihres Drogenkonsums sehr offen gegenüber. Die bestehende Notwendigkeit einer Behandlung bedarf dennoch manchmal mehrerer motivierender Gespräche. Bei vielen problematischen Konsumenten besteht zumeist schon ein zunehmender Leidensdruck und der oft verschleierte Wunsch nach Unterstützung. So ist es letztlich nicht überraschend, dass die Sinnhaftigkeit einer Therapie fast ausnahmslos anerkannt wird.
C. Grünhut
Die Entscheidungsgrundlagen für die einzelnen Maßnahmen Die Art der Maßnahme, die es zu verordnen gilt, richtet sich nach der Grunderkrankung und dem Ausmaß der Suchtentwicklung. Die Bereitschaft des Patienten zur Therapie und die Erkenntnis, dass für das Erlangen von Abstinenz eine medizinische Unterstützung notwendig ist, entscheiden letztlich wesentlich über den Erfolg der Behandlung. Entsprechend der Grundproblematik des Konsumverhaltens wird die Zeit zwischen Anzeige und Untersuchung oft schon verstärkt für die persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Drogengebrauch genutzt. Im ersten Teil des Gespräches wird die Dauer und Frequenz wie auch das Umfeld, in dem der Drogenkonsum stattfindet, erhoben. Umso mehr das ärztliche Gespräch im Vordergrund steht und die Frage einer Bestrafung durch den Gesetzesgeber in den Hintergrund rückt und je sachlicher die Wirkung und ihre Folgen der Substanzeinnahme besprochen werden können, umso offener werden diesbezügliche Gewohnheiten erörtert. Erst in weiterer Folge wird die Frage einer Abstinenz besprochen und wie sie zu erreichen ist. Die ärztliche Überwachung (nach § 11 Abs. 2 Z 1) setzt in der Regel voraus, dass keine körperliche Abhängigkeit vorliegt, die einer zusätzlichen medikamentösen Entzugsbehandlung bedarf. Unterschiedlich nach Arzt und Bundesland werden hier in bestimmter Frequenz Gespräche mit einem („... qualifizierten und mit Fragen des Suchtgiftmissbrauchs hinreichend vertrauten ...“) Arzt durchgeführt. Harntests sind ebenso vorgesehen. Die ärztliche Behandlung einschließlich einer Entzugs- und Substitutionsbehandlung (nach § 11 Abs. 2 Z 2) findet hauptsächlich ihren Einsatz bei Patienten mit körperlicher Abhängigkeit, die einer oben beschriebenen Behandlung bedürfen. Zahlreiche Patienten können und wollen sich ihre Abhängigkeit nicht eingestehen und sind oft erst nach einigen individuel-
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit
len Experimenten bereit, eine Behandlung aufzunehmen. Häufig gehen Patienten davon aus, solange sie Substanzen nicht täglich konsumieren, auch nicht abhängig zu sein. Es ist ihnen möglich, bei Substanzen mit kurzer Halbwertszeit negative Urinproben abzugeben, was aber in der Regel nicht über eine Woche möglich ist. Eine weitere Gruppe versucht von sich aus, über einen kalten Entzug abstinent zu bleiben. Oft haben diese Personen das bereits lange vor einer Anzeige aus einer Eigeninitiative heraus wiederholt versucht, wurden aber wieder rückfällig. Ausführliche Gespräche über die Entwicklung von Sucht und den damit oft verbundenen organischen Veränderungen erhöhen die Bereitschaft, sich weiter mit den Fragen der eigenen Gesundheit und den bereits entstandenen Problemen in juristischen, sozialen und finanziellen Bereichen auseinanderzusetzen und fördern die Krankheitseinsicht. Die klinisch-psychologische Beratung und Betreuung und die Psychotherapie (nach § 11 Abs. 2 Z 3 und Z 4) ist sinnvoll bei einer erhöhten potenziellen Gefährdung von Patienten, ohne dass eine schwere körperliche Abhängigkeit vorliegt. Typischerweise findet eine Therapie bei diesen angezeigten Personen Anwendung, die sich nur unzureichend von ihrem Verlangen nach illegalen Substanzen distanzieren können und diese zur Entspannung, psychischen Erleichterung nach Konflikten, Frustrationen, Kränkungen oder Angstsymptomen einsetzen, unabhängig davon, ob es sich um ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen oder um eine neurotische Symptomatik handelt. Die psychosoziale Beratung und Betreuung (nach § 11 Abs. 2 Z 5) wird vor allem bei schweren, vordergründig sozialen Problemen empfohlen. Es sind oft junge Patienten ohne familiären Halt, etwa weil sie früh Waisen wurden oder der verbleibende Elternteil schwer erkrankt ist und aktuelle soziale und finanzielle Unterstützung nötig wird. Diese Form der Betreuung wird oft mit ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung verbunden.
305
Stationäre Behandlungen Bei einem kleinen Teil der vorgeladenen Patienten liegt eine Polytoxikomanie vor, das heißt, es besteht eine schwere Abhängigkeit bzw. Missbrauch von gleichzeitig mehreren Substanzen. Ambulante Behandlungen gestalten sich hier für den Patienten sehr schwierig und die Rückfallsquote während der Behandlung ist erhöht. Weiters sind der soziale Abstieg und die gesundheitlichen Folgeschäden meist schon fortgeschrittener. Diese Patientengruppe ist in jeder Hinsicht als besonders schwierig anzusehen. Einerseits aufgrund der oft wahllosen Einnahme von verschiedenen Substanzen zeigen sie häufig kognitive Einbußen. In der Anamnese finden sich gelegentlich schwere Überdosierungen mit Bewusstseinsverlust und damit eventuell verbundenen hypoxischen Schäden. Andererseits sind sie durch Benzodiazepine meist stark sediert und nur wenig imstande, sich mit ihrer Situation auseinander zusetzen. Hinzu kommen fast immer ein sehr geringes Selbstwertgefühl und eine ausgeprägte depressive Symptomatik mit schweren Antriebsstörungen. Die meisten unternahmen auch wiederholt erfolglose Abstinenzversuche mit und ohne ärztliche Hilfe und sind in der Regel gesellschaftlich schon sehr an den Rand gedrängt und außerhalb ihres Drogenmilieus kaum mehr integriert. Nach einer Anzeige lassen sich Personen dieser Gruppe oft erst nach wiederholter Aufforderung untersuchen. Eine Empfehlung, sich einer stationären Behandlung zu unterziehen, wird von diesen Patienten als weitere persönliche Niederlage interpretiert, im Besonderen wenn zur sozialen Stabilisierung eine zusätzliche Langzeittherapie dringend angeraten wird. Diese Gruppe von Patienten ist von subjektiver Hoffnungslosigkeit und wiederholten schweren Frustrationen gezeichnet und nur mehr sehr schwer motivierbar. Juristische Androhungen sind auch nur begrenzt sinnvoll einzusetzen, da den Patienten die wesentlichen Lebensperspektiven verloren gegangen sind und ihre Belast-
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C. Grünhut
Tabelle 4. Rechtskräftig nach dem österreichischen Suchtgiftgesetz/Suchtmittelgesetz Verurteilte nach Verurteilungsgrund, Geschlecht und Altersgruppe, 2004 Verurteilungsgrund
14–19 a
20–24 a
25–29 a
30–34 a
> 34 a
gesamt
SGG/SMG gesamt männlich weiblich
1537 120
1745 196
770 70
454 51
676 87
5182 524
§ 12 SGG/§ 28 SMG männlich weiblich
210 20
399 44
244 17
164 14
300 29
1317 124
§ 16 SGG/§ 27 SMG männlich weiblich
1327 100
1343 150
519 53
288 36
356 57
3833 396
SGG = Suchtgiftgesetz SMG = Suchtmittelgesetz Das Suchtgiftgesetz wurde am 1. Jänner 1998 durch das Suchtmittelgesetz abgelöst. § 12 SGG/§ 28 SMG = Handel, Besitz, etc. von großen Mengen von Suchtgift („professioneller Drogenhandel“) § 16 SGG/§ 27 SMG = Handel, Besitz, etc. von kleinen Mengen von Suchtgift Anmerkung: Die Statistik erfasst nur das „führende Delikt“, d.h. das dem Strafrahmen nach schwerste Delikt, und daher nicht alle Verurteilungen nach SGG bzw. SMG. Quelle: Statistik Austria (Gerichtliche Kriminalstatistik)
barkeit im Rahmen einer therapeutischen Behandlung gering ist. Hinzu kommt, dass als Voraussetzung für eine stationäre Therapie eine Reihe von teilweise durchaus sinnvollen Auflagen zu erfüllen ist und eine Wartezeit von mehreren Monaten überbrückt werden muss. Diese Wartezeit kann einerseits zur weiteren Motivationsarbeit genutzt werden, birgt aber andererseits das erhöhte Risiko, bis zu einer allfälligen Aufnahme völlig zu resignieren. Rechtliche Konsequenzen einer Anzeige nach §27 SMG und Aufhebung der Zurücklegung Wie oben beschrieben führt die Anzeige nach § 27 SMG nach ihrer Zurücklegung gemäß § 35 SMG mit oder ohne medizinische oder therapeutische Auflagen zunächst zu keinen weiteren Konsequenzen für den Angezeigten im Sinne einer Vorstrafe oder strafrechtlichen Registrierung. Werden gesundheitsbezogene Maßnahmen empfohlen, so ist ein entsprechender Behandlungsnachweis aktiv (regelmäßige schriftliche Bestätigung) oder passiv (Mel-
dung erfolgt nur bei Therapieabbruch) an das zuständige Gericht zu erbringen. Erfolgt die Meldung, dass der Patient die Therapie abgebrochen hat, so wird das Gericht oder die Staatsanwaltschaft aktiv. Es kommt zu einer Vorladung zu Gericht und der Patient wird aufgefordert, der gesundheitsbezogenen Maßnahme nachzukommen. Bei einer Weigerung, neuen Anzeigen oder zusätzlichen Delikten kann die Zurücklegung jederzeit aufgehoben und Strafantrag gestellt werden.
Einige abschließende Beobachtungen bei Begutachtungen nach § 27 bzw. §35 SMG Bei vielen Anzeigen handelt es sich um zufällige Registrierungen seitens der Polizei im Rahmen von Routinekontrollen, so dass es auch bei Gelegenheitskonsumenten immer wieder zu Anzeigen kommt. Die große Mehrheit dieser Gruppe konsumiert bekanntermaßen Cannabis. Viele der zur Untersuchung vorgeladenen Personen bedürfen auch keiner gesundheitsbezogenen Maßnahme und haben nachweislich ihren
Begutachtungspraxis hinsichtlich Suchtgefährdung und Suchtkrankheit
Suchtmittelkonsum, manchmal schon aufgrund des Faktums einer Anzeige, wieder völlig eingestellt. Dennoch sollte davon ausgegangen werden, dass auch diese Personengruppe wieder sporadisch illegale Substanzen im sozialen Kontext konsumiert. Bei jungen Erwachsenen, bei denen Eltern noch einen starken Einfluss ausüben können, kann sich der Druck zu Hause nach einer Anzeige massiv verstärken und zunächst zusätzlich abstinenzfördernd wirksam werden. In anderen Fällen stehen die Eltern dem Substanzkonsum kritisch gegenüber und versuchen ihr eigenes Informationsdefizit bezüglich der möglichen Folgen beim Gebrauch psychoaktiver Substanzen zu reduzieren, um somit Drogenfragen in der Familie besser erörtern zu können. Schwierig ist der Umgang mit jungen, destabilisierten und emotional vereinsamten Personen mit geringer Einsicht in selbstgefährdendes Verhalten. Bei ihnen ist die Motivationsarbeit für eine Therapie aufwändiger und begonnene Therapien werden dennoch oft abgebrochen. In jenen Fällen wird meist das Gericht tätig und fordert den Betroffenen auf, sich weiter einer Therapie zu unterziehen, da andernfalls die Zurücklegung der Anzeige aufgehoben werden kann und es zur Bestrafung und damit zu einer Eintragung im Vorstrafenregister kommt. Hier erweist sich gelegentlich diese Androhung noch stützend, allerdings wird die Therapie dann meist nur mehr formal und nicht inhaltlich entsprechend angenommen und es ist parallel dazu mit weiterem Drogenkonsum zu rechnen. Bei vielen vorgeladenen Personen besteht grundsätzlich ein großes Unverständ-
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nis darüber, dass sie aufgrund des Gebrauches von Cannabis angezeigt wurden und dafür mit einem Strafausmaß bis hinzu einer Gefängnisstrafe bedroht sind. Und oft wird man mit der Frage konfrontiert, warum die psychoaktive Substanz Alkohol legalisiert ist, wo doch Missbrauch, Abhängigkeit und schwerste Gesundheitsfolgen bekannt und verbreitet sind. Dennoch ist festzustellen, dass bei der Notwendigkeit einer Therapie diese von den Betroffenen mehrheitlich gut angenommen wird. Es liegen zwar keine genauen Untersuchungen über jene Behandlungsabschlüsse vor, die erst infolge einer Anzeige nach dem Suchtmittelgesetz initiiert wurden, die Praxis der Begutachtung zeigt aber, dass jene Personen, die einer medizinischen Behandlung oder einer Therapie bedürfen, diese Tatsache nicht nur gut akzeptieren, sondern dass oft besondere Umstände für den letzten Anstoß notwendig waren, die schon längst als sinnvoll erkannten Veränderungen schließlich herbeizuführen.
Literatur Bundesministerium für Inneres – Bundeskriminalamt (Hrsg) (2005) Jahresbericht über die Suchtmittelkriminalität in Österreich 2004. BMI, Wien Foregger E, Litzka G, Matzka M (Hrsg) (1998) Suchtmittelgesetz SMG. Manz Verlag, Wien Kodek G, Fabritzy EE, (1999) Das neue österreichische Suchtmittelgesetz. Juridica Verlag, Wien Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (Hrsg) (2004) Bericht zur Drogensituation 2004 ÖBIG, Wien Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (Hrsg) (2005) Bericht zur Drogensituation 2005 ÖBIG, Wien
Substanzabhängigkeit und Strafvollzug Corinna Obrist, Wolfgang Werdenich Im österreichischen Recht gibt es eine stufenweise Eskalation der Verknüpfung von Hilfe und Zwang, die eine möglichst große Zahl von Drogenabhängigen in ein Betreuungsverhältnis bringen soll. Sie beginnt mit der Zurücklegung einer Strafanzeige im untersten Bereich der Beschaffungskriminalität, wenn der/die Angezeigte bereit ist, die nötigen Überwachungs- oder Betreuungsmaßnahmen zu absolvieren, und endet mit der zwangsweise angeordneten Entwöhnungsbehandlung im Maßnahmenvollzug als maximaler staatlicher Eingriff. Anfang 1999 trat in Österreich das Suchtmittelgesetz (SMG 1998) in Kraft, mit dem das Suchtgiftgesetz (SGG) abgelöst wurde. In den Paragraphen 35 bis 39 werden dort die Möglichkeiten geschaffen, anstelle einer Anzeige bzw. anstelle einer Gefängnisstrafe sogenannte gesundheitsbezogene Maßnahmen anzuordnen, also die Möglichkeit, eine strafrechtliche Verfolgung zu vermeiden oder abzumildern, in dem die Betroffenen sich medizinischen, klinisch-psychologischen, psychotherapeutischen und anderen psychosozialen Interventionen unterziehen. Im Bereich der mittelschweren Kriminalität gibt es die Möglichkeit des § 39 SMG, d.h. eine bereits ausgesprochene unbedingte Freiheitsstrafe solange aufzuschieben, bis eine Behandlung absolviert wurde und sie in eine bedingte Freiheitsstrafe umzuwandeln, wenn der Klient kooperiert hat. Diese rechtliche Struktur ist weitgehend dafür verantwortlich, dass im Strafvollzug vorwiegend jene Drogenabhängigen landen, die entweder schwerere Delikte begangen haben oder wo alternative Maß-
nahmen nicht gegriffen haben. Das ist kein Hinweis, dass diese Personen mit Behandlungsmaßnahmen nicht erreicht werden können, zeigt aber, dass es sich bei den Drogenabhängigen im Strafvollzug um ein eher schwieriges Klientel handelt, wo es keine einheitlichen Programme geben kann, sondern ein breites Spektrum verschiedener Behandlungsangebote gegeben sein muss.
Die Population des Strafvollzuges Empirische Befunde zum Drogenkonsum vor der Haft liefert eine – für die Gesamtpopulation aller Gefangenen repräsentative – im Jahr 1999 in sechs österreichischen Justizanstalten durchgeführte Befragung, an der insgesamt 263 Häftlinge (69 Frauen, 143 Männer und 51 männliche Jugendliche) teilnahmen. Über ein Viertel der befragten Männer, ein Drittel der Frauen sowie neun Prozent der männlichen Jugendlichen gaben an, Drogen intravenös konsumiert zu haben – zumeist unmittelbar vor der Inhaftierung. Auffallend ist, dass die überwiegende Mehrheit langjährige Drogenkarrieren bis zu zehn Jahren aufweist und bereits in drogentherapeutischer Behandlung war. Mehrheitlich werden zuvor begonnene Substitutionsbehandlungen auch in der Haft weitergeführt. Aus den Ergebnissen geht weiters hervor, dass 80 Prozent der männlichen und 90 Prozent der weiblichen i.v. Konsumenten vor der Haft nur eigenes Spritzenbesteck verwendeten (European Network 2000).
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Über den Drogenkonsum in den Gefängnissen liegt keine systematische Datenerfassung vor. Die aus Einzeluntersuchungen vorliegenden Befunde zum Drogengebrauch im Gefängnis sind – bedingt durch unterschiedliche Fragestellungen – ebenso teilweise widersprüchlich wie die ExpertInneneinschätzungen: So werden laut Auskunft des Bundesministeriums für Justiz rund 30 Prozent der InsassInnen als Drogenmissbraucher klassifiziert (Alkohol, Medikamente, illegale Drogen, Mischkonsum), von denen wiederum zehn Prozent regelmäßig bis häufig intravenös Drogen konsumieren. Andere ExpertInnen gehen von einem Anteil von bis zu 20 Prozent an i.v. konsumierenden Häftlingen aus – eine Schätzung, die aufgrund durchgeführter Analysen zur HIV-, Hepatitis-B- und Hepatitis-C-Prävalenz in ihrer Größenordnung als plausibel bestätigt wird. Unter Einbeziehung des gelegentlichen Drogenkonsums während der Haft, ist ein Anteil bis zu 50 Prozent aller Inhaftierten als DrogenkonsumentInnen anzunehmen. Wird überdies der problematische Konsum anderer psychoaktiver Substanzen – wie Medikamente und Alkohol – mitberücksichtigt, so gelten zwei Drittel der Gefangenen als betroffen. Frauen gelangen aufgrund einer Vielzahl von Faktoren grundsätzlich nur sehr selten in den Strafvollzug. Die Quote von Frauen zu Männern beträgt dort 1 zu 14, d.h. es gibt ca. 400 weibliche und ca. 6500 männliche Straf- und Untersuchungsgefangene.
Drogenabhängigkeit und Drogendelinquenz bei Frauen Die oben dargestellten Zahlenverhältnisse gelten auch für Drogendelinquenz bei Frauen und Männern und konsequenterweise sind diejenigen Frauen, die trotz dieser massiven Selektionsfaktoren dennoch zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt werden, oft besonders schwierig oder weisen besonders hohe Defizite auf. Auf die für Frauen angebotenen Behandlungspro-
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gramme wollen wir daher besonders eingehen. Viele Studien belegen einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen von Frauen und Mädchen und späterem Drogenkonsum (1). Lind-Krämer und Timper-Nittel, die im Rahmen der „Amsel-Studie“ über die besondere Lage drogenabhängiger Frauen berichten, sehen in der Tatsache, dass Mädchen sexuell missbraucht wurden, eine Ursache für spätere Drogenabhängigkeit. 20% der hier untersuchten Frauen gaben an, dass sie vor ihrem 16. Lebensjahr missbraucht wurden oder unter sexuellen Übergriffen durch ihnen bekannte Männer gelitten haben. Drogenkonsum und -abhängigkeit kann also ein Versuch sein, Konflikte zu lösen, die aus sexuellen Missbrauchserfahrungen entstanden sind, und kann als Überlebensstrategie verstanden werden. Drogenkonsum kann in diesen Situationen kurzfristig als Ausweg erscheinen, andererseits hat Drogenabhängigkeit längerfristig zur Folge, dass die betroffenen Frauen immer wieder neu mit sexueller Gewalt konfrontiert werden. Frauen sind zudem als soziale Problemgruppe kaum öffentlich sichtbar. Sie werden relativ selten straffällig, stehen seltener vor Gericht und nur ein kleiner Teil von ihnen wird in Gefängnisse eingewiesen. Auch der Konsum illegaler Drogen ist – trotz steigendem Frauenanteil – zu etwa 2 /3 ein männliches Phänomen. Geraten gesellschaftliche Randgruppen in den Blickpunkt des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses, erscheinen vor allem Männer als Betroffene. Die Folgerung daraus, dass Frauen weniger oder weniger schwerwiegende Probleme hätten, ist unrichtig. Die lebenslange Erziehung zu Anpassung an andere und zur Einhaltung sozialer Normen bewirkt, dass Frauen nach Bewältigungsstrategien innerhalb eines legalen und gesellschaftlich akzeptierten Rahmens suchen, ohne mit Schuldvorwürfen konfrontiert zu werden. Die Krankenrolle eignet sich dafür besonders gut. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Probleme von Frauen öffentlich kaum sichtbar
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werden und für die formellen Instanzen sozialer Kontrolle nicht greifbar sind. Die soziale Kontrolle funktioniert hier über die private Sphäre, sie wird von Familienangehörigen geleistet. Instanzen mit Zwangscharakter müssen daher nicht oder nur selten intervenieren. „All diese verschiedenen ,Symptome‘ abweichenden Verhaltens von Frauen haben eines sicher gemeinsam: Sie werden von Frauen produziert und letztendlich von Männern interpretiert und definiert“ (2). Egartner und Holzbauer (1994) (3) beschreiben die gesellschaftlichen Ursachen für die Entstehung von Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen wie folgt: Das Leben in unserer hoch technisierten Gesellschaft ist mit dem Zerfall traditioneller Strukturen, der Funktionalisierung einzelner, einer hohen Vermassung und damit einhergehenden Anonymisierung der Menschen und einer Orientierung an materiellen Werten gekennzeichnet. Subjektive Folgen können Hilf- und Machtlosigkeitsgefühle, Anpassungszwänge, Überforderung und emotionale Armut sein, um nur einige zu nennen. Weibliche Lebenszusammenhänge sind von vielen Abhängigkeiten geprägt: Im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist das Leben von Frauen primär durch ihre Zuständigkeit für den privaten Bereich gekennzeichnet. Die Berufstätigkeit in außerhäuslichen Sparten hat randständigen Charakter. Die ungünstigen, suchtfördernden Faktoren häufen sich in den unteren bis mittleren Schichten, weil dort die Kompensationsmöglichkeiten geringer sind. Partnerschaft und Familie sind üblicherweise der zentrale Lebensinhalt von Frauen, bedingt und gefördert durch Sozialisation und Erziehung. Zusätzlich zu materieller Abhängigkeit kommt es zu einer Orientierung der Frauen auf Lebenserfüllung durch die Beziehung zu einem Mann und zu Kindern. Deshalb fällt es den meisten Frauen schwer, sich selbst bei massiven Erniedrigungs- und Gewalt-
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erfahrungen aus den jeweiligen Beziehungen zu lösen und andere Perspektiven zu suchen. Frauen werden im Zuge ihrer Sozialisation zu Anpassung an andere Menschen und vorgegebene soziale Normen erzogen, sie entwickeln daher wenig aktive und offen aggressive Verhaltensformen und versuchen, ihre Konflikte unauffälliger und in einem sozial akzeptierten Rahmen zu lösen. Frauen wenden ihre Aggressionen stärker gegen die eigene Person. Dementsprechend bleibt ihre Lebenssituation meist erhalten. Selbst aktivere Abwehrformen, wie z.B. Kriminalität, verlassen diesen Bereich nicht. Behandlungsangebote für süchtige Frauen müssen daher so gestaltet werden, dass ein Lernprozess in Gang kommen kann und eine größere emotionale und ökonomische Unabhängigkeit ermöglicht wird.
Geschlechtsrolle und Sucht Muno und Waldmann (1981) (4) berichten in ihrer Studie über die therapeutische Behandlung neun drogenabhängiger Männer und ebenso vieler Frauen, dass alle Konsumenten zweifelsfrei diejenige Person identifizieren konnten, durch die sie in den Konsum eingeführt wurden. Die Einführung in den Drogenkonsum bei weiblichen Konsumenten fand fast ausschließlich durch eine gegengeschlechtliche Vermittlungsperson statt, die männlichen User hingegen gaben ausnahmslos an, dass sie durch eine gleichgeschlechtliche Vermittlungsperson eingeführt wurden. Weiteres gaben die hier untersuchten Frauen an, dass sich mit zunehmender Involvierung in die Drogenszene die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit verminderte. Diese Verwischung war im gesamten Lebensstil und Verhalten zu sehen. Als Folge der Opiatbindung ging als körperliches Zeichen eine zum Teil Jahre überdauernde Amenorrhoe bei allen neun Frauen einher. Muno und Waldmann (4)
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bemerken, dass der stärkeren Verwischung der Geschlechtsrolle bei den Frauen die doch auch in der Drogenzeit stattgefundenen Sexualkontakte, die gemeinhin eine Festigung der Geschlechtsrolle mit sich bringen, entgegengehalten werden könnten. Es ergeben sich dennoch deutliche Unterschiede zu den männlichen Klienten: Acht von den insgesamt neun Frauen zeigten ein ausgeprägt promiskuitives Sexualverhalten, während dies bei den Männern in nur zwei Fällen vorkam. Die Ergebnisse dieser Studie lassen auf eine Geringschätzung der weiblichen Geschlechtsrolle durch die betroffenen Frauen schließen: „Fragt man die Männer und Frauen in einer Therapiegruppe nach ihrer Bewertung der eigenen Geschlechtsrolle, so zeigen sich deutliche Unterschiede. Die Männer bejahen ihre Geschlechtsrolle mit Überbetonung im Sinne eines meist primitiven Maskulinismus. Die Frauen zeigen sich indifferent oder bedauern ihre Geschlechtszugehörigkeit.“ Von den neun Frauen waren die drei am stärksten rückfallsgefährdet, bei denen eine ausgesprochene Protesthaltung gegen ihre Weiblichkeit bestand. Dies lässt den Schluss zu, dass Drogenkonsum als eher identitätsstiftend erlebt wird als die Anpassung an die „klassische“ Frauenrolle. Alternative Geschlechtsrollenentwürfe im Sinne einer starken, selbstbestimmten und attraktiven Weiblichkeit scheinen völlig zu fehlen. Auf die praktischen Konsequenzen für ein Behandlungsprogramm für Frauen werden wir weiter unten eingehen.
Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug Die im Strafvollzug angebotenen Programme lassen sich in vier Kategorien gliedern: – Drogenfreie Zonen – Substitutionsprogramme – Psychologische und psychotherapeutische Programme mit Abstinenzorientierung – Infektions-Krankheiten
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Drogenfreie Zonen Das hier angesprochene Modell besteht darin, Strafgefangenen unter der Bedingung Vollzugslockerungen anzubieten, dass sie sich regelmäßig Harntests unterziehen. Dabei handelt es sich ausschließlich um männliche Strafgefangene, für Frauen existiert ein solches Angebot nicht. Naturgemäß kann es sich bei Personen, die imstande sind, ein solches Angebot für sich zu nützen, nicht um Süchtige im klassischen Sinn handeln. Es sind entweder Strafgefangene, die es bevorzugen, in einer drogenfreien Umgebung zu sein und dafür die Kontrollen in Kauf nehmen, vor allem da diese ja auch Begünstigungen (mehr Ausgänge oder Besuche etc.) zur Folge haben, oder es sind Gelegenheitskonsumenten, die von der hier praktizierten Verknüpfung von Selbst- und Fremdkontrolle profitieren wollen und die Zeit im Strafvollzug clean bleiben wollen. Die größte österreichische Abteilung und die erste, wo dieses Modell praktiziert und wesentliche Teile davon entwickelt wurden, befindet sich in der Justizanstalt Hirtenberg. Dort befinden sich etwa 200 Gefangene in der drogenfreien Zone. Das Modell existiert seit mehr als 10 Jahren und hat sich sehr gut bewährt, allerdings muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es sich nicht um ein Programm für Opiatabhängige handelt. In den Anfangszeiten dieses Modells hat es hier eine Reihe überzogener Erwartungen gegeben, mittlerweile hat sich die Situation eingespielt. Aufgrund der positiven Ergebnisse aus dem im Jahre 1995 in der Justizanstalt Hirtenberg gestarteten Pilotprojekt wurden in der Folge auch in den österreichischen Justizanstalten Innsbruck, Sonnberg, WienSimmering und Stein drogenfreie Abteilungen eingerichtet, so dass heute rund 600 Haftplätze in kontrollierten drogenfreien Bereichen verfügbar sind. Anzumerken ist, dass sich die in den verschiedenen Justizanstalten eingerichteten drogenfreien Zonen hinsichtlich der Größe und ihrer jeweiligen konzeptuellen Grundlagen unterscheiden.
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Nach einem Erlass des Bundesministeriums für Justiz müssen Substitutionsbehandlungen in jeder Justizanstalt Österreichs möglich sein. Die Entscheidung über die Teilnahme an einer Substitutionstherapie fällt ausschließlich in die anstaltsärztliche Kompetenz und ist nicht von der Länge der Strafart abhängig. Hauptzielgruppen sind insbesondere HIV-positive Häftlinge sowie Strafgefangene mit einer ausgeprägten Opiat-Anamnese. In Einzelfällen können auch Insassen während der Haft bzw. vor Haftentlassung eine Substitutionstherapie beginnen. Substitutionstherapien zählen mittlerweile zum Standardrepertoire der Behandlung, wobei zumeist mit Methadon substituiert wird – mit Ausnahme der Justizanstalt Stein, in der derzeit in erster Linie mit Mundidol® substituiert wird. Substitutionsbehandlungen werden insbesondere in den Justizanstalten Wien-Josefstadt, Innsbruck, Eisenstadt und Stein durchgeführt (5). Aktuellen Angaben zufolge befinden sich 335 Häftlinge in Substitutionsbehandlungen; dies sind rund fünf Prozent aller inhaftierten Personen und bedeutet einen weiteren Anstieg gegenüber den Vorjahren (5). Hier wurde absichtlich das Wort Abstinenzorientierung gewählt, weil die unmittelbare Abstinenz nicht in jedem Fall erreicht werden kann. In der größten und erfahrensten Behandlungseinrichtung innerhalb des Strafvollzuges, in der Justizanstalt Favoriten befinden sich auch Klienten in psychologisch/psychotherapeutischen Programmen, die substituiert sind, und im Frauenbereich dieser Einrichtung ist das sogar relativ häufig der Fall. Die Angebotsschwerpunkte für drogenkonsumierende bzw. -abhängige InsassInnen stellen sich wie folgt dar: Maßnahmen zur Betreuung und Behandlung suchtkranker Häftlinge können vom Gericht angeordnet werden, erfolgen aber in erster Linie freiwillig auf Antrag der Betroffenen. Anzumerken ist, dass Suchtmittelabstinenz weiterhin das vorherrschende Therapieprinzip für drogenabhängige InsassInnen darstellt. Für die Durchführung von Entwöhnungsbehand-
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lungen stehen derzeit in den Justizanstalten Wien-Favoriten, Innsbruck, Stein, Feldkirch und Eisenstadt spezielle Einrichtungen zur Verfügung (Bundesministerium für Justiz 2001) (5). Die Sonderanstalt Wien-Favoriten ist dabei die einzige, ausschließlich auf die Behandlung und Betreuung suchtkranker Häftlinge spezialisierte Justizanstalt mit einer Kapazität von rund 110 Plätzen und einem umfassenden Betreuungskonzept, das medizinische, psychologische, psychotherapeutische, sozialarbeiterische sowie pädagogische Angebote beinhaltet. Ausgehend vom erhöhten Risikoverhalten der i.v. Drogenkonsumenten in Haft kommt infektionsprophylaktischen Maßnahmen zu Hepatitis B und C und HIV bzw. AIDS besondere Bedeutung zu. Eine zentrale Verteilerstelle für HIV und Hepatitis-Materialien für sämtliche Justizanstalten wurde in der Justizanstalt Wien-Favoriten eingerichtet. Jeder neue Häftling erhält anlässlich der Zugangsuntersuchung ein „Take-Care-Set“, das Informationsmaterialien zu HIV, AIDS, Hepatitis sowie Kondome etc. enthält. Zur Unterstützung der risikoreduzierenden Aktivitäten wird mit den regionalen Geschäftsstellen der AIDS-Hilfe kooperiert. Ferner soll nach einem Erlass des Justizministeriums grundsätzlich allen Insassen die Möglichkeit geboten werden, Kondome und Desinfektionsmittel frei zugänglich und unbeobachtet zu erhalten. Die Umsetzung dieses Erlasses wird in den einzelnen Anstalten unterschiedlich gehandhabt. Schulungen des Justizwachepersonals (Ausbildung zur „Co-BetreuerIn“, Harntest-Schulungen) sind ein weiterer Präventionsschwerpunkt und sollen künftig intensiviert werden. Ferner wurde von den Anstaltsärzten ein Konsenspapier zur Behandlung der Hepatitis C erarbeitet.
Justizanstalten Generell kann festgehalten werden, dass sämtliche Justizanstalten Österreichs über
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Betreuungsangebote für Drogenkonsumenten verfügen, wobei das Spektrum an Interventionen bzw. die dahinter liegenden Konzepte stark variieren. Ein in der Fachdiskussion häufig diskutiertes Defizit sind drogenspezifische Maßnahmen für inhaftierte Frauen. Neben der Sonderanstalt Wien-Favoriten, die über eine eigene Abteilung für Frauen (32 Plätze) wie auch über einen ausgelagerten arbeitstherapeutischen Betrieb (NORA) verfügt, gibt es kaum explizite, drogenspezifische Angebote für abhängige Insassinnen. Auch in der einzigen Strafvollzugsanstalt für Frauen, der niederösterreichischen Justizanstalt Schwarzau, finden sich neben allgemeinen Betreuungsleistungen keine drogenspezifischen Konzepte (ÖBIG 2001) (6). 1975 wurden im Rahmen der „Großen Strafrechtsreform“ mit den Paragraphen 21, 22 und 23 Strafgesetzbuch die sogenannten „vorbeugenden Maßnahmen“ geschaffen. Der § 22 StGB ist die „Maßnahme für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher“ und wird in der Justizanstalt WienFavoriten vollzogen. Das Maßnahmenrecht sieht vor, dass jemand, der im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen ein Delikt setzt, vom Gericht zur Behandlung eingewiesen werden und maximal 2 Jahre (auch über die Strafzeit hinaus, wenn eine Freiheitsstrafe von kürzerer Dauer ausgesprochen wurde) angehalten werden kann. Die Anhaltung über die Strafzeit hinaus hat sich in der Praxis nicht bewährt und wird derzeit kaum bis nicht vollzogen. Es gibt einen Konsens zwischen Gericht, GutachterInnen und VollzugspraktikerInnen, dass eine Anhaltung über die Strafzeit hinaus zum Zweck der Behandlung nicht sinnvoll ist. Tiefgreifende psychotherapeutische Prozesse mit dem Anspruch grundlegender Persönlichkeitsveränderung sind allerdings in der Situation einer totalen Institution, wo sehr viele Abläufe reglementiert und kontrolliert sind, nicht nur schwer möglich sondern auch fragwürdig: Der Zugriff auf den Körper wird vom Zugriff auf die Seele begleitet, die ohnehin be-
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grenzte Handlungsfreiheit für die Gefangenen kann noch weiter reduziert werden. Möglichkeiten des Widerstands, die in jeder Behandlungssituation von Bedeutung sind, sind in einem Gefängnis geringer als anderswo und zugleich gibt es den negativen Einfluss der Subkultur, der positive Entwicklungen gefährden oder verhindern kann. Wichtig werden daher fördernde und stützende – im weitesten Sinn niederschwellige Angebote sein, die imstande sind, die Selbstständigkeit der InsassInnen zu fördern. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass es eine grundsätzliche Doppelbödigkeit gibt: die Lebensbedingungen in Anstalten mit therapeutischen Angeboten sind in der Regel wesentlich besser als die Lebensbedingungen in normalen Vollzugsanstalten. Therapie bedingt ein Aufweichen und Durchbrechen des reglementierten Gefängnisalltags. Diese Mindeststandards erzeugen dann Bedingungen, die günstiger sind als die Standards in anderen Justizanstalten. Es werden daher immer wieder InsassInnen Behandlung machen wollen, allein deswegen, weil es dadurch bessere Lebensbedingungen gibt. Die Folge ist ein Sammelsurium von Scheinmotivation, echter Motivation, ambivalenter Motivation usw. Das macht die Arbeit für die Therapeuten schwierig. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Drogenabhängige mit einer längeren Suchtkarriere in jedem Fall ihrer Situation ambivalent gegenüberstehen. Die als positiv erlebte Wirkung der Droge steht in Konflikt mit den negativen Begleiterscheinungen des Drogenkonsums. Das bedeutet: es wird immer ein gewisses Ausmaß von Motivation vorhanden sein. Zugleich ist das Gefängnis paradoxerweise eine Situation, wo eine Stabilisierung und körperliche Sanierung stattfinden kann. Ein unmittelbarer existenzieller Druck ist nicht gegeben, die Verantwortung für das eigene Leben und seine Veränderung lässt sich in der Gefängnissituation leicht abschieben. Andererseits ist das Gefängnis für viele InsassInnen oft die erste Gelegenheit, bei der sie sich mit
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ihrem problematischen Verhalten auseinandersetzen können und wo sie therapeutische Möglichkeiten kennen lernen. Die Justizanstalt Favoriten Die Justizanstalt Favoriten liegt im gleichnamigen Wiener Stadtbezirk. Sie wurde mit der großen Strafrechtsreform (StGB 1975) als Anstalt des Maßnahmenvollzuges nach § 22 StGB zur Behandlung entwöhnungsbedürftiger Rechtsbrecher eingerichtet. Davor gab es bereits seit 1972 Versuche zur Behandlung von Alkohol- und Drogenabhängigen in der Haft. Derzeit hat die Anstalt eine Kapazität von etwa 120 Personen. Die Insassen sind vorwiegend drogenabhängige Männer. Seit 1994 gibt es auch eine Frauenabteilung mit 32 Plätzen. Die wichtigste Möglichkeit, in die Justizanstalt Favoriten zur Behandlung zu kommen, ist der § 68a Strafvollzugsgesetz. Das bedeutet: ein Gefangener oder eine Gefangene kann sich aus einer anderen Justizanstalt um Aufnahme in die Justizanstalt Wien Favoriten bewerben. In Favoriten besteht ein pragmatisches Konzept, wobei versucht wird, die diversen Ausbildungen der einzelnen MitarbeiterInnen zu integrieren und ihre Qualifikationen innerhalb des gegebenen Rahmens möglichst zu nützen. Eine der strukturellen Besonderheiten von Favoriten ist sicher, dass Personen in einem Substitutionsprogramm nicht von den psychotherapeutischen und psychologischen Angeboten ausgeschlossen sind. Vor allem auf der Frauenabteilung, wo ca. 60% der Insassinnen substituiert sind, hat dieser neue Ansatz hohe Bedeutung und hat sich auch gut bewährt. Die therapeutische Versorgung findet primär in Gruppen statt. Diese Therapiegruppen finden dreimal die Woche statt und dauern jeweils eine Stunde. Die Themen in den Gruppen sind sowohl die aktuellen Probleme des Zusammenlebens in den Wohngruppen, als auch die Lebensgeschichten der Klienten. Die Teilnahme am therapeutischen Basisprogramm ist verpflichtend. Daneben gibt es fallweise Ein-
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zeltherapie und andere Angebote wie Autogenes Training, Akupunktur, diverse Kreativgruppen wie Kunst-, Mal- und Musiktherapie und eventuell zusätzliche Angebote. Generell wird versucht, die Abgabe von Medikamenten möglichst gering zu halten. Zur Kontrolle der Drogenfreiheit bzw. bei Substituierten, um Beikonsum zu verhindern, müssen die KlientInnen ca. 1 bis 2 Mal in der Woche Harn abgeben. Bei Rückfällen gilt die Regel, dass die Abteilungsverantwortlichen entscheiden, welche Konsequenzen InsassInnen aufgrund eines Rückfalles erwachsen: Nachbesprechen der Rückfallsmotive, Streichung von Vergünstigungen etc. Kommt es zu wiederholten Rückfällen, kann die Anstaltsleitung nach Beratung mit dem therapeutischen Team die Entscheidung treffen, dass ein weiterer Verbleib in der Anstalt zum gegeben Zeitpunkt nicht sinnvoll erscheint. Prinzipiell sollten die InsassInnen einer Arbeit nachgehen. An Arbeitsplätzen gibt es allerdings nur Reinigungsarbeiten, Gebäudeinstandhaltung, heimarbeitsähnliche Arbeiten und Arbeitsplätze in einem Tischlereibetrieb. Die InsassInnen im gelockerten Bereich gehen einer Arbeit außerhalb der Anstalt nach. Im geschlossenen Bereich stehen derzeit nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung. Für Unbeschäftigte wird ein Programm angeboten, wo es um die Vermittlung von life skills (Gesundheitsinformationen, Rechtsinformationen, politische Bildung, EDV-Grundlagenwissen, Gruppen- und Kommunikationskompetenz etc.) geht. Die Unterbringung der InsassInnen erfolgt in Wohngruppen, d.h. es stehen neben den Zellen pro Abteilung eine kleine Wohnküche mit Fernseher und getrennte sanitäre Einrichtungen wie Dusche und WC zur Verfügung. In diesem Bereich ist es für die InsassInnen möglich, sich rund um die Uhr zu bewegen. Ein Einschließen in die Zellen während der Nacht findet nicht statt. Während des Aufenthaltes auf der Zugangsabteilung geht es primär darum, ab-
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zuklären, ob die KlientInnen behandlungsmotiviert und therapiefähig sind. Therapiefähigkeit muss sich in persönlichen Arbeitsbündnissen zwischen KlientInnen und TherapeutInnen manifestieren. Erst im Lauf der Behandlung kann sich klären, wie ernsthaft ein Wunsch nach Behandlung ist. Während des Aufenthaltes auf dieser Abteilung werden die InsassInnen psychiatrisch-neurologisch untersucht, psychologisch-diagnostisch abgeklärt und es wird eine Sozialanamnese erhoben. Derzeit gibt es fünf Wohngruppen, davon zwei für Frauen. Eine grundlegende Besonderheit des Behandlungskonzepts in Favoriten ist sicher, dass in den Gruppen und Behandlungsprogrammen keine Trennung von Substituierten und Nichtsubstituierten erfolgt. Sofern substituierte InsassInnen in der Lage sind, ohne Einschränkungen am Therapieprogramm teilzunehmen, besteht auch keine prinzipielle Notwendigkeit der Dosisreduzierung. Allerdings zeigt sich, dass ca. 3/4 der Substituierten während des Aufenthaltes ein Reduktionsprogramm beginnen. Diese Durchmischung von Personen, die mit Opiaten gestützt werden, und Personen, die ein Abstinenzprogramm absolvieren, ist in Favoriten unseres Wissens nach erstmals versucht worden und hat sich recht gut bewährt. Mittlerweile gibt es auch andere Einrichtungen die so vorgehen, und von der Logik der Behandlung psychischer Störungen und Auffälligkeiten erscheint diese Vorgangsweise ja durchaus angebracht. Auch bei anderen Störungen werden Patientinnen medikamentös gestützt und absolvieren parallel dazu Therapie oder Trainingsprogramme. Dennoch war eine solche Vorgangsweise in der Drogentherapie seit jeher verpönt, weil sie dem uralten und vom Behandlungspersonal internalisierten Grundsatz widerspricht, dass an Drogenabhängige grundsätzlich keine Opiate abgegeben werden können. In der Praxis hat sich diese Vorgangsweise als recht undramatisch erwiesen. Zu achten ist auf das praktische Management der Substituierten: es darf eine Weitergabe
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von Substitutionsmitteln zwischen den PatientInnen nicht möglich sein und es ist darauf zu achten, dass in den Gruppen keine Personen sitzen, die so beeinträchtigt sind, dass sie am Gruppengeschehen nicht teilnehmen können und sich so verhalten, dass bei den MitpatientInnen craving-Phänomene entstehen. Das muss dann direkt angesprochen werden. Ansonsten sind hier keine Besonderheiten zu berichten. Das dargestellte Betreuungsspektrum umfasst also den Zugangsbereich, den Wohngruppenbereich und den Freigang, und lässt zunehmend mehr Freiheit zu, was dementsprechend mehr Eigenverantwortung verlangt. Die Frauenabteilung und Besonderheiten des Behandlungskonzepts Im Sinne der weiter oben dargestellten besonderen Situation süchtiger Frauen lassen sich wesentliche Forderungen an Behandlungsmodelle ableiten. Ausgegangen sind wir dabei von der Kritik an herkömmlichen Behandlungsmodellen. „Frauen werden demnach mit denselben therapeutischen Ritualen behandelt wie Männer, unbeschadet der Tatsache, dass die traditionelle Rolle der Frau in westlichen Industriestaaten wesentlich anders definiert ist als die des Mannes. Offenbar gehen Therapeuten aller Schulrichtungen, die sich sonst gern bis aufs Messer bekämpfen, davon aus, dass Frauen nur die ,verkleinerte, schwächere und passivere Ausgabe des Mannes‘ sind und also in der Therapie nach denselben Regeln zu traktieren sind wie die männliche Normalausgabe“ (7). Süchtige Frauen fühlen sich gesund und werden als geheilt entlassen, wenn sie wieder rollenspezifische Verhaltensweisen beherrschen, d.h. den Haushalt führen, als Mutter und Sexualobjekt funktionieren und wieder attraktiv aussehen. Süchtige Frauen fühlen sich erst dann wertvoll und vollständig, wenn sie einen Partner haben. Es besteht allgemein das Vorurteil, dass sich Frauen untereinander nicht helfen
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oder unterstützen können. Hilfe wird in erster Linie von Männern erwartet. Süchtige Frauen stellen sich selbst hintan, um anderen zu helfen. Dies entspricht der üblichen Erziehung von Frauen (8). In unseren Behandlungsangeboten wird daher auf eine hohe Betonung der Geschlechtsspezifität in der Vorgangsweise Wert gelegt. Grundsätzlich (jeweils abhängig vom Strafrest und der persönlichen Stabilität) kann sich der Aufenthalt in zwei Abschnitte gliedern: Die geschlossene Frauen-Abteilung (maximale Belagskapazität sind 22 Plätze; Ausgänge ohne Begleitung sind hier nicht möglich) bietet die Wahl zwischen einer gruppentherapeutischen, hochfrequenten Behandlung für jene Frauen, die Therapie für sich beanspruchen wollen und einer psychologisch unterstützenden Begleitung, für diejenigen Insassinnen, die meinen, Therapie nicht zu brauchen bzw. schlechte Erfahrungen damit gemacht haben oder sich davon überfordert fühlen. Hier wird darauf geachtet, dass individuelle Entwicklungen möglich gemacht werden. Das Angebot reicht von Einzel-Psychotherapie und klinisch-psychologischer Behandlung bis hin zu psychologischer Betreuung, Begleitung, Beratung und Coaching. Der Behandlungsplan wird zu Beginn des Aufenthalts zwischen der jeweiligen Frau und der Abteilungsleiterin vereinbart, Veränderungen bzw. Nachjustierungen bei Bedarf sind möglich. Wichtig dabei ist, dass die Vorstellungen der Frauen in den Behandlungsplan einfließen und immer wieder Rückkoppelung über stattgefundene Entwicklungen gegeben wird. Daraus geht hervor, dass ein zentrales Element der Arbeit auf der Frauen-Abteilung in der individuellen Vorgangsweise liegt. Das löst sowohl bei den Insassen als auch bei den TherapeutInnen im Männerbereich immer wieder Fragen und Kritik aus, das Thema Vereinheitlichung ist immer wieder ein kontroversielles Thema. Obwohl Individualisierung in einer verregelten Institution eine ständige Quelle
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der Irritation ist, muss dieser Kritik entgegengehalten werden, dass zum einen die relativ niedrige Zahl der Insassinnen, die Durchführung eines gut auf die Person zugeschnittenen Programms erleichtert, andererseits entspricht ein möglichst genaues Eingehen auf die Bedürfnisse der angehaltenen Frauen den dargestellten theoretischen Ansätzen. Darunter verstehen wir das Miteinbeziehen gesellschaftlicher Umstände und die besonderen weiblichen Lebenszusammenhänge. In diesem Zusammenhang wird Drogensucht – wie vorher schon erwähnt – als ein Überlebensmittel bei der Bewältigung traumatischer Situationen verstanden. Konsequenterweise ist unter den Frauen auch die Zahl der Substituierten, die gleichzeitig in einer Psychotherapie sind, relativ hoch. Es geht primär um Entlastung, es geht nicht mehr nur um persönliches Versagen und Scheitern, also nicht nur um Schuld und Scham, sondern vielmehr auch um das Erkennen und Hinterfragen gesellschaftlicher Bedingungen, die für Frauen anders sind als für Männer. Somit erscheint Drogensucht nicht als individuelles Problem, sondern als eine – ungesunde und kriminelle – Bewältigungsstrategie starker Spannungsfelder. Das Begreifen dieser Zusammenhänge soll Lust und Neugier auf das Entdecken alternativer Frauenrollen wecken. Es lohnt sich, mit den Frauen einen Blick auf jene Anteile von Weiblichkeit zu riskieren, die mit Selbstbestimmtheit, Selbstbewusstsein, Rebellion und Stärke verbunden sind. Konsequenterweise ist das Behandlungsteam der Frauen-Abteilung weiblich. Den Insassinnen werden allein dadurch andere – hoffentlich als Modell erlebbare – Frauenrollen vermittelt. Eine Besonderheit der JA Wien-Favoriten, ist die Kombination von Psychotherapie und Substitutions-Behandlung; wir versuchen medizinische und psychosoziale Unterstützung zu kombinieren. Auffallend in dieser Hinsicht ist die relativ hohe Zahl von Insassinnen im Vergleich zu Männern –, die substituiert sind. Im Moment befinden sich 14 Frauen in der
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geschlossenen Abteilung, davon sind 11 Frauen wegen Drogendelikten verurteilt, 8 von ihnen werden substituiert (in sieben Fällen mit Methadon, in einem Fall mit Compensan®). In der Frauen-Abteilung des gelockerten Vollzugs werden dzt. sieben Frauen angehalten, eine Frau ist wegen eines Drogendeliktes verurteilt, sie wird mit Methadon substituiert. Eine mögliche Erklärung für diese Zahlen ist der generell sehr hohe Frauenanteil (ca. 75%) bei Psychopharmaka-Verschreibungen, d.h. Frauen bekommen leichter und schneller Medikamente verschrieben. Dies könnte auch für die Aufnahme in ein Substitutions-Programm gelten. Eine andere Erklärung basiert auf der geringen Anzahl von inhaftierten Frauen. Offenbar sind drogenabhängige Frauen trotz ständig steigendem Anteil an Süchtigen insgesamt besser in der Lage, sich dem Gefängnis zu entziehen bzw. ihr Leben legal zu leben. Kommen sie in den Bereich der Kriminalität, müssen wir davon ausgehen, dass viele Versuche, aus der Drogensucht auszusteigen, fehlgeschlagen sind, die Drogen-Karriere eine lange ist und die Frauen im Allgemeinen viele körperliche und psychische Defizite aufweisen. Die Aufnahme in ein Substitutions-Programm erscheint dann naheliegend. Die Insassinnen leben in Wohngruppen. Darunter ist Selbstversorgung bei den Mahlzeiten und gemeinsame Verantwortung für das Instandhalten des unmittelbaren Lebensbereiches zu verstehen. Münchendorf ist eine halboffene Therapieeinrichtung, die eine Außenstelle der Justizanstalt Favoriten ist. Sie liegt ca. 20 km von Wien entfernt und kann maximal 14 Insassen beherbergen. Dort gibt es einen kleinen Gärtnereibetrieb und Kleintierhaltung (Hühner, Enten, Kaninchen). Weiteres wird Gärtnerarbeit, wie Rasen schneiden, Hecken stutzen usw., auf Friedhöfen verrichtet. Vier Friedhöfe der Umgebung werden von den Insassen instandgehalten und gepflegt. Die unbewachten Außenarbeiten haben den Charakter der Einrichtung gänzlich verändert. Die Fried-
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hofspflege bedeutet einen gänzlichen Verzicht auf Bewachung. Die therapeutische Versorgung der Außenstelle Münchendorf erfolgt zweimal in der Woche in einer Therapiegruppe. Daneben werden Blockseminare und je nach individuellen Bedürfnissen Einzelgespräche angeboten. Wenn man bedenkt, dass es sich hier um Gefangene handelt, die sich weder von der Strafzeit, noch von ihrer sonstigen Entwicklung, her sehr von den Insassen des Normalvollzugs unterscheiden, bedeutet dies, dass man in dieser Richtung auch im üblichen Strafvollzug einiges erreichen könnte. Vollzugslockerungen Ab einem Strafrest von sechs Monaten besteht für die InsassInnen die Möglichkeit auf Freigang zu gehen. Der Freigang ist in zwei Blöcke gegliedert. Der erste, eine Art Vorfreigang im Rahmen des gelockerten Vollzuges, erlaubt Außenarbeiten ohne Bewachung auf betreuten und kontrollierten Arbeitsplätzen im Umfeld Justizanstalt. Etwa drei Monate vor Strafende ist der Wechsel in einen wirklichen Freigang möglich. Die InsassInnen können einer normalen Arbeit in einem Betrieb außerhalb des Bereiches der Justiz nachgehen. Zu diesem Zeitpunkt haben die InsassInnen bereits relativ viel Freizeit, die sie außerhalb der Justizanstalt verbringen können. Gegen Ende der Anhaltung kommen sie praktisch fast nur mehr zum Essen und Schlafen in die Anstalt. Im Bereich Freigang erfolgt somit noch unter der kontrollierenden und schützenden Atmosphäre der Anstalt eine Konfrontation mit der Alltagsrealität, die erwartungsgemäß nicht alle InsassInnen ohne Probleme bestehen. Es gibt eine Struktur von Auffangpositionen, zum Teil mit therapeutischem Charakter, die ermöglichen sollen, dass auftretende Probleme bewältigt werden können. Die wichtigsten Auffangpositionen sind regelmäßig einmal in der Woche stattfindende Gruppen, wobei es primär um organisatorische Fragen
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geht, aber auch darum, wie das Leben in dieser Halbfreiheit bewältigt werden kann. Zusätzlich muss jeder Insasse/jede Insassin Einzelbetreuung haben. Hier werden ehrenamtliche Bewährungshelfer in die Betreuungsmaßnahmen eingebunden. Trotz dieser Maßnahmen kommt es bei 30 bis 40% der betreffenden InsassInnen zu so gravierenden Problemen, dass eine Rücküberstellung in den geschlossenen Vollzug erfolgen muss. In einigen Fällen kommt es auch zu einer Flucht, d.h. InsassInnen kehren nach einer Krise oder einem Rückfall nicht mehr in die Anstalt zurück. Derartige Fälle sind allerdings überraschend selten, wenn man bedenkt, dass Drogenkonsumenten generell als Personen gelten, die spannungsintolerant sind und zu Vermeidungsverhalten neigen. Aus dieser Darstellung ergibt sich ein relativ vielfältiges Bild von Drogenarbeit im Strafvollzug und eine relativ geordnete und tragfähige Situation, die sicher noch verbesserungsbedürftig ist. Als deutlichstes Defizit im europäischen Vergleich fällt das Fehlen von Spritzenaustauschprogrammen im Strafvollzug auf. Hier wäre zumindest ein Modellversuch angebracht (9).
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Literatur 1. Lind-Krämer R, Timper-Nittel A (1992) Drogenabhängige Frauen – das Besondere an ihrer Lebenslage. In: Sickinger R et al (Hrsg) Wege aus der Drogenabhängigkeit. Lamberuts, Freiburg/Breisgau 2. Gipser D, Stein-Hilbers M (Hrsg) (1987) Wenn Frauen aus der Rolle fallen. Weinheim, Basel 3. Egartner E, Holzbauer S (1994) Ich hab’s nur noch mit Gift geschafft ... Frauen und illegale Drogen. Verlag Centaurus 4. Muno R, Waldmann H (1981) Sucht und Geschlechtsrolle bei opiatabhängigen Frauen. In: DHS (Hrsg) Frau und Sucht. Beobachtungen, Erfahrung, Therapieansätze, Bd. 23. Hamm 5. BM f. Justiz (Hrsg) (2001) Der Weg aus der Sucht. Drogenbetreuung während und nach der Haft in den Justizanstalten Österreichs 6. Österr. Bundesinstitut f. Gesundheitswesen (Hrsg) (2001) Bericht zur Drogensituation 2001 ÖBIG, Wien 7. Vogt I (1983) Drogenabhängige Frauen – Delinquenz und Therapie. In: Bossong H (Hrsg) Sucht und Ordnung. Frankfurt/Main 8. Benesch-Daugs C (1985) Frauenspezifische Therapie bei Abhängigkeit – Erfahrungen aus der Praxis. In: Hamburgische Landesstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg) Frau und Sucht. Hamburg 9. Stöver H (2001) An overview study. Assistance to drug users in European prisons. Cranstoun Drug Services, Wimbledon
Was sind eigentlich „Drogenopfer“? Alfred Uhl „Der Bedeutung, die den Drogentodesfällen zugeschrieben wird, steht ein Mangel an empirischen Erkenntnissen über die Hintergründe gegenüber.“ Ludwig Kraus (1)
Mehr als 30 Jahre nachhaltige und sensationsorientierte Drogenberichterstattung in den Medien haben in der Öffentlichkeit eine doppelt irreale Vorstellung vom illegalen Drogenkonsum geprägt – ein stark emotionalisiertes Drogenbild, das sowohl von großer Faszination als auch von übertriebener Angst geprägt ist. Die aus präventiver Sicht äußerst problematische Gleichzeitigkeit von Verklärung und Dämonisierung1 erweist sich für die Massenmedien als ökonomischer Vorteil: Das Drogenthema ist nunmehr seit Jahrzehnten ein „Evergreen“, den man gut vermarkten kann, ohne dass bei den Medienkonsumenten eine merkliche Ermüdung zu beobachten wäre. Außerdem sind illegale Drogen ein Thema, zu dem es – infolge von Illegalität und weiter Verbreitung des Konsums – praktisch immer aktuellen Stoff gibt, um Flauten auf anderen medialen Fronten zu überbrücken. Die möglichen Anlässe für Berichte reichen von großen Drogenaufgriffen durch Zoll bzw. Polizei und umfassenden parteipolitischen Kampagnen bis zu kleinen Gerichtsverfahren und einzelnen Drogenopfern. Der Begriff „Drogenopfer“, von denen zeitweise fast jedes einzelne medialen Niederschlag findet, ist in der Öffentlichkeit ständig präsent, und die Zahl der Drogenopfer wird nach Jahresabschluss von Politik und Medien regelmäßig prominent präsentiert und kommentiert. Wie Österreich bezüglich der Drogentoten von Jahr zu Jahr abschneidet, hat in Teilen der Politik und Öf-
fentlichkeit einen ähnlich emotionalen Stellenwert wie die Ergebnisse der Fußball-Bundesliga oder des Ski-Weltcups. Dieser Stellenwert ist allerdings relativ zu quantitativ und qualitativ weit gravierenderen Substanzproblemen, wie dem Tod in Zusammenhang mit Alkohol, sachlich kaum nachvollziehbar. So sterben z.B. an einer akuten Monosubstanzüberdosierung mit Alkohol pro Jahr mindestens 6-mal so viele Personen wie an einer vergleichbaren Überdosierung mit Opiaten, und wenn man Todesfälle durch alkohol- bzw. opiatbedingte Krankheitsfälle berücksichtigt, so steigt das Verhältnis gar auf 15 zu 1. Der Drogentod hat aber, abgesehen davon, dass er laufend emotionalen Stoff für die Massenmedien und Munition für tagespolitische Polemik liefert, auch noch eine andere wesentliche Funktion – nämlich eine in Zusammenhang mit der Epidemiologie des illegalen Substanzgebrauches. Die Drogenopferstatistik stellt einen von fünf „epidemiologischen Schlüsselindikatoren“ zur Abschätzung von Inzidenz und Prävalenz des illegalen Drogenkonsums in Europa dar, wie sie von der
1 Die doppelt irreale Vorstellung vom illegalen Drogenkonsum motiviert Jugendliche eher zum Konsum als zur Abstinenz. Die Faszination der Drogen zieht an und die starke Angst erweist sich beim direkten Kontakt mit drogenkonsumierenden Jugendlichen rasch als übertrieben (2).
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europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) definiert wurden. Diese Schlüsselindikatoren, die nach Auffassung der EMCDDA (3) in jedem EU-Land zu Vergleichszwecken möglichst verlässlich erhoben werden sollten, sind neben der genannten 1. „Drogenopferstatistik“ noch 2. „Daten über den illegalen Drogenkonsum aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen“, 3. „Ergebnisse von statistischen Prävalenz- und Inzidenzschätzungen sowie Daten aus der Befragung von Drogenkonsumenten“, 4. „Daten über Prävalenz und Inzidenz von spezifischen Infektionskrankheiten wie AIDS oder Hepatitis C“ und 5. „Statistiken über Erstbehandlungen von Klienten in Einrichtungen des Suchthilfesystems“. Alle fünf Schlüsselindikatoren sind zwar nur sehr grobe Instrumente zur Abschätzung der Prävalenz und/oder Inzidenz des illegalen Drogenkonsums; sie sind aber mangels deutlich besserer Alternativen trotzdem von großer praktischer Bedeutung. Man sollte sich allerdings der mangelnden Verlässlichkeit dieser Indikatoren immer ausdrücklich bewusst sein und diese keinesfalls als isoliert interpretierbare Punktschätzungen verstehen, sondern sie bloß als kleine unsichere Puzzlesteine zur Generierung eines groben Gesamtbildes heranziehen. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich ausschließlich mit dem „Schlüsselindikator“ „Drogentod“, wobei das Konzept „Drogentod“ allerdings allgemeiner als „Substanztod“, im Sinne des Todes durch „psychoaktive Substanzen“, diskutiert wird.
Was bedeutet der Begriff „Substanztod“? Wer sich die Mühe macht, Aussagen über die Zahl der Substanztoten aus Presse und Fachliteratur zusammenzustellen, stößt auf
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große Diskrepanzen. Die Schätzungen der „Nikotintoten“ schwanken zwischen 12% und 20% aller Verstorbenen, jene der „Alkoholtoten“ zwischen 5% und 20% und jene der Drogentoten je nach Substanz zwischen 0% (Cannabis) und 0,3% (Heroin). Ohne weiteres könnte man noch viele publizierte Aussagen finden, die die Schwankungsbreite pro Substanz noch erhöhen würden. Man fragt sich unmittelbar: „Welche der widersprüchlichen Angaben sind korrekt?“ – Aber damit ist man gedanklich bereits auf dem falschen Weg. Bevor man fragen kann, welche Antwort auf eine bestimmte Frage korrekt ist, sollte man wissen, was die Frage eigentlich bedeutet, und wenn es um den „Substanztod“ geht, gibt es eine große Fülle von völlig unterschiedlichen, praktisch relevanten Interpretationsmöglichkeiten. Zum Problem der logischen Klärung was unter „Substanztod“ zu verstehen ist, kommt auch noch ein gravierendes empirisches Problem. Die empirischen Grundlagen für viele Schätzungen sind nämlich in der Regel keinesfalls hinreichend verlässlich erhoben worden, weswegen man vorhandene Daten durch mehr oder weniger gut begründbare, oft sogar recht wenig plausible bis eindeutig falsche 2 Annahmen ergänzen muss, um da-
2 Die Behauptung, dass statistische Methoden häufig mehr oder weniger wissentlich auf eindeutig falsche Annahmen aufbauen, mag manche, in methodologischen Belangen wenig sattelfeste Leser verwundern. Wer aber mit den Grundlagen der statistischen Modellbildung vertraut ist, weiß, dass das Akzeptieren von unbewiesenen bzw. eindeutig falschen Annahmen – Verteilungsannahmen, Homogenitätsannahmen, Unabhängigkeitsannahmen und vieles mehr – in weiten Bereichen zentrale Grundlage des State-of-the-Art bei statistischen Auswertungen und ganz besonders bei der Interpretation der Ergebnisse ist – auch wenn Statistiker das verständlicherweise nicht gerne so formuliert hören. Auf dieses Problem angesprochene Statistiker vertreten durchwegs: „Ob die Annahmen erfüllt sind, muss der Forscher entscheiden!“, und auf das Problem angesprochene Forscher sind in der Regel der Meinung, dass
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
rauf aufbauend Schätzungen durchführen zu können. Im Wesentlichen existieren drei gängige Konzepte, nach denen man den Substanztod einteilen kann. ■
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Substanztod im engeren Sinn (STES) = der unmittelbare Substanztod, d.h. unmittelbar durch die Substanzeinnahme verursachte tödliche Unfälle. Zu unterscheiden sind hier: – STES1: Überdosierungsunfälle – STES2: andere substanzbedingte Unfälle Substanztod im weiteren Sinn (STWS) = der unmittelbare oder mittelbare Substanztod, hierzu zählen neben den erwähnten Unfällen auch Todesfälle durch längerfristige Auswirkungen im Sinn von Erkrankungen. Zu unterscheiden sind hier: – STWS1: Todesfälle durch substanzspezifische Ursachen, d.h. solche, die im Zuge der Erfassung explizit mit Substanzkonsum in Zusammenhang gebracht werden – STWS2: Todesfälle im Ausmaß der
sich um den statistischen Kram – und dazu gehören Hintergrundannahmen – gefälligst der Statistiker zu kümmern habe. So ermöglicht ein grundlegendes Missverständnis zwischen Forschern und deren Statistikern letztlich eine gedeihliche Zusammenarbeit, auch wenn die Ergebnisse im Sinne der klassischen Logik – wenn die Prämissen nicht stimmen, ist auch die Conclusio falsch – nicht ganz lupenrein sind. Aber auch, wenn inhaltliche und statistische Kompetenz in einer Person zusammentreffen bzw. wenn ein Statistiker und ein inhaltlicher Forscher zur Methodik einen offenen Austausch pflegen, lässt sich das angesprochene Dilemma oft nicht befriedigend lösen. Wenn plausibel ist, dass die Verletzung der Annahmen im konkreten Fall nicht so gravierend ist, dass die unter den Annahmen gewonnenen Erkenntnisse völlig entwertet wären, so ist eine entsprechende Auswertung – ganz besonders, wenn es keine bessere Alternative gibt – durchaus vertretbar. Man sollte allerdings in der Diskussion mit offenen Karten spielen und die Problematik der Annahmen und der denkbaren Fehler offen diskutieren.
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kausal zurechenbaren Anteile aller Erkrankungen, die bei Substanzkonsumenten gehäuft auftreten ■ Substanztod im umfassendsten Sinn (STUS) = der Tod von Substanzgebrauchern, -missbrauchern oder -abhängigen. Zu unterscheiden sind hier: – STUS1: Substanztod als Tod von Substanzgebrauchern – STUS2: Substanztod als Tod von Substanzmissbrauchern – STUS3: Substanztod als Tod von Substanzabhängigen Überdosierungen in suizidaler Absicht als Folge einer substanzunabhängigen Grunderkrankung, die von manchen Autoren zum Substanztod gerechnet werden, werden in dieser Systematik nicht berücksichtigt, weil es eigentlich unerheblich ist, ob jemand, der Selbstmord begehen will, sich aus einem Fenster stürzt, sich erschießt oder eine Substanzüberdosis zu sich nimmt. Wenn jemand allerdings infolge seines Substanzkonsums suizidal wird, dann wäre er unabhängig von der Art des Selbstmordes unter Substanztod im weiteren Sinn (STWS) einzuordnen.
Substanztod im engeren Sinn (STES): unmittelbarer Substanztod Als STES kann man substanzverursachte Unfälle, also Ereignisse, die ohne Substanzeinnahme nicht passiert wären (wie unbeabsichtigte Überdosierungen, Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle etc.), bezeichnen. ■
Von „Unfällen“ kann man nur sprechen, wenn das Ereignis unbeabsichtigt, also nicht in suizidaler Absicht, herbeigeführt wurde. Wie bereits eingangs erörtert, ist es ziemlich unerheblich, mit welcher Methode ein depressiver Süchtiger seinem Leben ein Ende setzt. Hat er sich für den „goldenen Schuss“ entschieden (d.h. wissentlich eine tödliche Dosis Heroin injiziert), so muss man bedenken, dass der Betreffende, wäre kein Heroin zur Verfügung gestanden, wahrschein-
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lich eine andere Strategie gewählt hätte. Eindeutige Selbstmorde (wenn es z.B. einen Abschiedsbrief gibt) dürfen in diesem Sinne keinesfalls als STES gewertet werden. Der Anteil der verdeckten Selbstmorde unter den scheinbar Verunfallten sollte adäquat geschätzt und statistisch abgezogen werden. Von „substanzverursacht“ kann man nur bei jenem Teil der Unfälle sprechen, die zusätzlich zur Spontanunfallrate erfolgt sind, d.h. die ohne Substanzeinfluss nicht passiert wären. In anderen Worten, wenn man alle Verstorbenen aufsummiert, die durch Unfälle mit substanzbeeinträchtigten Lenkern ums Leben gekommen sind, so muss man natürlich jenen Anteil abziehen, der auch ohne Substanzbeeinträchtigung – also spontan – passiert wäre. In manchen Fällen ist das relativ einfach, z.B. wenn ein alkoholisierter Lenker vorschriftsmäßig bei einer Ampel steht und von einem nüchternen Lenker gerammt wird – in Fällen also, wo der alkoholisierte Lenker gar keinen Einfluss auf das Geschehen haben konnte. In den meisten Fällen kann man das aber nur indirekt über die statistische Schätzung des „kausal zurechenbaren Anteils“ realisieren, d.h. indem man das erhöhte Unfallsrisiko der Substanzbeeinträchtigten relativ zu vergleichbaren Personen unter vergleichbaren Situationen schätzt. Eine derartige Schätzung bezüglich des Unfallrisikos unter Alkoholeinfluss wurde z.B. im Rahmen der „Grand Rapid Studie“ von Borkenstein et al. (4) in den USA durchgeführt.
Bewertung des Konzepts „Substanztod im engeren Sinn“ Das Konzept „Substanztod im engeren Sinn“ scheint mir von den drei oben angeführten Definitionen die bei weitem zweckmäßigste zu sein, da es dem Alltagsverständnis des Begriffes „Tod durch eine Substanz“ am nächsten kommt, und da diese Definition konzeptuell am wenigsten Probleme verursacht.
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Grundsätzlich sollte man hier unterscheiden zwischen – „Überdosierungsunfällen“ (STES1) vs. „anderen substanzbedingten Unfällen“ (STES2), – „Monosubstanz-“ vs. „Mehrfachsubstanzbeteiligung“ und – mehr oder weniger verlässlichen Schätzungen in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Datenqualität. Drogenopferstatistik vs. Todesursachenstatistik Angesichts des hohen Stellenwerts, der der jährlichen Drogenopferstatistik in der Öffentlichkeit zugemessen wird – im jeweils zuständigen Bundesministerium wird sogar eine eigene Drogenopferkartei geführt – kann man vermuten, dass aktuelle Todesfälle, die den Kriterien für die Drogenopferstatistik entsprechen, kaum übersehen werden. Das unterstreicht auch eine Untersuchung von Busch (5), die belegt, dass 97% der Fälle in der Drogenopferkartei sich mit entsprechenden Kodierungen in der Todesursachenstatistik von Statistik Austria wiederfinden, und dass umgekehrt 86% der relevanten Codes in der Todesursachenstatistik sich auch in der Drogenopferkartei wiederfinden. Alkohol und Medikamente betreffend ist die Datensituation weit schlechter. Eine spezifische Alkoholopferkartei oder Medikamentenopferkartei gibt es nicht, und die Todesursachenstatistik ist hier wenig hilfreich. Dieses Problem lässt sich, am Beispiel der tödlichen Alkoholvergiftung, leicht demonstrieren. Der ICD-9-Code „980.0“ („Toxische Wirkung durch Äthylalkohol“) wird in Österreich nur vergeben, wenn der Betreffende nicht wusste, dass er Alkohol konsumierte, z.B. weil er ein Etikett falsch gelesen hatte. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass der Code „980.0“ in manchen Jahren nie, in anderen nur vereinzelt vergeben wird. Gibt es keine Hinweise im Totenschein darauf, dass der Verstorbene alkoholabhängig war, so wird der ICD-9-Code „305.0“ („Alkoholmissbrauch ohne Abhängigkeit“) verge-
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
ben, was somit ein ziemlich eindeutiges Indiz für eine Alkoholvergiftung ist. Gibt es allerdings Hinweise im Totenschein, dass der Verstorbene alkoholabhängig war, so wird, falls keine gravierende Folgeerkrankung diagnostiziert worden ist, auch bei tödlich verlaufenden Alkoholvergiftungen „Alkoholismus“ (ICD-9-Code „303“) kodiert, was Alkoholvergiftungen zwar einschließt, andere unmittelbare Todesursachen aber auch nicht ausschließt. Wenn eindeutige Alkoholfolgeerkrankungen wie z.B. eine Leberzirrhose, eine Alkoholpsychose etc. bekannt waren, kann man auch in Fällen von tödlichen Alkoholvergiftungen nicht einmal ausschließen, dass die entsprechenden Codes für „alkoholische Leberzirrhose“, „Alkoholpsychose“ etc. kodiert wurden.
Monosubstanz-Überdosierungsunfälle durch Alkohol (mind. 100 pro Jahr) Auch wenn man, wie eben gezeigt wurde, die Zahl der tödlichen Alkoholüberdosierungen aus der Todesursachenstatistik nicht sinnvoll schätzen kann und es keine andere dazu geeignete offizielle Statistik gibt, so kann man die Zahl der tödlichen Alkoholvergiftungen pro Jahr aus anderen Quellen schätzen. Basierend auf eine gerichtsmedizinische Erhebung zum akuten Alkoholtod in Wien über die Jahre 1984 bis 1997, die Berzlanovich et al. (6) durchgeführt hatten, konnten Uhl und Kobrna (7) hochrechnen, dass jährlich mindestens 100 Österreicher an einer reinen „akuten Alkoholvergiftung“ sterben. Der Terminus „mindestens“ bezieht sich auf den Umstand, dass in der dieser Schätzung zugrunde liegenden Zahl nicht alle eigentlich zur Zielgruppe gehörenden Teilgruppen vollständig erfasst wurden. Nicht erfasst wurden im Besonderen: – Verstorbene, die zum Obduktionszeitpunkt weniger als 3,5 Promille Blutalkohol aufwiesen – Verstorbene, bei denen infolge stärkerer Fäulnis eine exakte Analyse des Blutalkoholwertes unmöglich war
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– Verstorbene, die indirekten Alkoholisierungsfolgen (Unterkühlung, Aspiration von Erbrochenem, Stürze etc.) zum Opfer gefallen waren, bevor sich die tödliche Alkoholdosis direkt auswirken konnte – Verstorbene, die zwar durch starken Alkoholgeruch auffielen, bei denen der Totenbeschauer aber keine Autopsie anordnete, weil der Betreffende in seinem Umfeld als Alkoholmissbraucher bekannt war, und der Alkoholgeruch daher nicht unerwartet kam. Aus der Analyse ausgeschlossen wurden von Berzlanovich et al. auch – in diesen Fällen in Übereinstimmung mit unserer Zieldefinition – Personen, die unter dem Einfluss von illegalen Drogen und/oder Medikamenten gestanden waren und solche, die unter stärkerem Alkoholeinfluss Selbstmord verübt hatten.
Monosubstanz-Überdosierungsunfälle durch Opiate (13–16 pro Jahr) Im Jahre 2000 wurden in Österreich 227 Verstorbene offiziell als Drogenopfer ausgewiesen. Davon sind 167 an Überdosierungen gestorben. Nur letztere sind für uns hier interessant. Der offiziellen Definition von „Drogenopfer“ entsprechend waren bei allen 167 Fällen illegale Drogen, in der Regel Opiate plus andere Substanzen, beteiligt. Nur in zwei Fällen wurden keine Opiate nachgewiesen und in 18 Fällen wurden ausschließlich Opiate nachgewiesen. In 108 Fällen wurden zusätzlich zu Opiaten noch andere illegale Drogen, in 87 Fällen zusätzlich zu Opiaten noch Medikamente und in 79 Fällen zusätzlich zu Opiaten noch Alkohol nachgewiesen (8), wobei bei einigen in der Drogenopferstatistik 2000 ausgewiesenen „Mischintoxikationen mit Opiaten“ der Alkoholisierungsgrad so hoch war, dass der Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich dem Alkohol anzulasten ist (9). Da Opiate sich im Gegensatz zu Alkohol gut zum Selbstmord eignen und dieser Umstand den Konsumenten auch bekannt ist,
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muss man hier davon ausgehen, dass die oben ausgewiesenen Fälle noch zwischen 9% (10) und 28%3 (11) Selbstmorde beinhalten, die keine Unfallsopfer sind und daher abgezogen werden müssen. In diesem Bereich liegt auch eine Befragung von Notdienstklienten in Berlin vor, die durchschnittlich von rund 20% der ihnen bekannten Drogenopfer vermutet hatten, dass diese absichtlich überdosiert hätten (12)4. Das ergibt dann geschätzte 13 bis 16 Monosubstanz-Überdosierungsunfälle ausschließlich durch Opiate für das Jahr 2000 (vgl. Abb. 1). Monosubstanz-Überdosierungsunfälle durch Nikotin und nicht-opiathältige illegale Drogen (gar nicht bis selten) Tödliche Überdosierungen durch Nikotin kommen in Zusammenhang mit Nikotinrauchen überhaupt nicht vor – es gibt aber immer wieder tödliche Ausgänge, wenn kleine Kinder Zigaretten essen. Tödliche Überdosierungen durch Cannabis wurden international noch nie beschrieben. Tödliche Überdosierungen durch Ecstasy kommen nur vereinzelt vor. Wenn man EUWerte hochrechnet (14), sollte man pro Jahr in Österreich im Durchschnitt maximal einen Fall erwarten. In der österreichischen Drogenopferstatistik 2000 findet sich auch tatsächlich ein einziger Fall. Dieser ist allerdings eigentlich gar kein Ecstasyfall, weil der Betreffende nicht an Ecstasy (MDMA) sondern an den chemisch verwandten Wirkstoffen PMA und PMMA ge3 Adler et al. (11) haben festgestellt, dass 28% der Patienten, die eine Opiatüberdosierung aufwiesen, angaben, explizit in suizidaler Absicht gehandelt zu haben, und dass bei weiteren 37% eine Stimmungslage vorlag (Krisen, Depressionen, Gleichgültigkeit), die eine suizidale Handlung nahe legt. Man kann außerdem vermuten, dass Selbstmordabsicht bei jenen, die eine Opiatvergiftung nicht überleben, noch häufiger sein dürfte. Von nur 28% Suiziden unter Personen, die an einer Opiatüberdosierung versterben, auszugehen, ist angesichts dieses Sachverhaltes eine recht konservative Schätzung.
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storben ist. In der Drogenopferstatistik 2000 findet sich auch kein einziger Monosubstanz-Überdosierungsunfall mit Kokain, obwohl auch in Österreich in anderen Jahren vereinzelt Fälle aufgetreten waren, und man betonen muss, dass tödliche Kokainüberdosierungen – vor allem wegen der unberechenbaren Wirkung beim Rauchen und durch Überempfindlichkeitsschock (Anaphylaxie) beim intravenösem Gebrauch – eine gewisse Gefahr darstellen. Misch-Überdosierungsunfälle Wenn illegale Drogen am Überdosierungstod beteiligt sind, so sind in der überwiegenden Zahl der Fälle auch andere Substanzgruppen beteiligt. Mit Angaben aus der Drogenopferstatistik 2000 (8) und der Erhebung von Berzlanovich et al. (6) den Alkoholüberdosierungstod betreffend (vgl. 4 Die Selbstmordrate unter den Drogenopfern wird oft sehr heftig diskutiert. Eine präzise Festlegung ist aus zwei Gründen nicht möglich. Erstens kann man Tote nicht mehr über den genauen Hergang und ihre Motivation befragen und zweitens handelt es sich hier nicht um ein bipolares diskretes Phänomen sondern vielmehr um ein Kontinuum. Das geht von Personen, die fest zum Selbstmord entschlossen sind und diesen konsequent durchziehen, über solche, die zwar vordergründig zum Selbstmord entschlossen sind, es aber unbewusst so anstellen, dass die Überlebenschance sehr groß ist, bis zu solchen, die eigentlich keine explizite Selbstmordabsicht haben, die Möglichkeit zu sterben aber bewusst einkalkulieren. Die Interpretation der Ergebnisse wird auch noch von der Warte des Beobachters deutlich beeinflusst. Jene, die im Rahmen von Harmreduktionsprogrammen gezielte Information über den sicheren Umgang mit illegalen Drogen vermitteln (z.B. Fixpunkte e.V. Mobilix, 13), haben eher an niedrigen Selbstmordraten unter den Drogenopfern Interesse, weil Informationen zur Vermeidung von Überdosen bei Selbstmördern nicht den gewünschten Effekt zeigen können, während jene, denen die Überbewertung des Drogentodes relativ zu anderen tödlichen Gefahren des Lebens ein Dorn im Auge ist, hohe Selbstmordraten unter Drogenopfern recht gerne sehen, weil es sich bei letzteren um keine eigentlichen Drogenopfer handelt.
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
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Drogenopferstatistik vs. Todesursachenstatistik) kommt man zu folgendem Bild für das Jahr 2000 in Österreich: Die mindestens 267 tödlichen Substanzüberdosierungen (mind. 100 tödliche reine Alkoholvergiftungen, 167 tödliche Vergiftungen mit illegalen Drogen, eine unbekannte Anzahl an tödlichen Medikamentenvergiftungen und eine unbekannte Anzahl an tödlichen Medikamenten-AlkoholMischvergiftungen verteilen sich folgendermaßen: – 18-mal nur Opiate – 147-mal zusätzlich zu weiteren Substanzen – 2-mal nur andere illegale Drogen – 106-mal zusätzlich zu weiteren Substanzen – Mind. 100-mal nur Alkohol – mind. 79-mal Alkohol zusätzlich zu weiteren Substanzen – Eine unbekannte Anzahl nur Medika-
Alkohol
Eine genaue Aufschlüsselung findet sich in Abb. 1. Der in diesem Diagramm ablesbare Trend zum Substanzmischkonsum bei gefährdeten Drogenkonsumenten und deren steigende Tendenz, auch Alkohol zu konsumieren, stellt, wie Kraus (1) betont, eine besondere Risikokonstellation dar. Durch den Trend zum Substanzmischkonsum ergibt sich bei der Ursachenzuschreibung ein wachsendes Zuordnungsproblem. Wenn bei einem „Drogentoten“ im Blut mehrere Substanzen nachgewiesen werden, dann steht die Frage im Raum, welche der Substanzen bzw. Substanzkombination für den Tod kausal ausschlaggebend war. Wie
Opiate
> 100
19 10
18 17
33
?
24 32
0 ? Medikam.
mente – mind. 87-mal Medikamente zusätzlich zu weiteren Substanzen – In 33 Fällen wurden alle vier Substanzklassen (Opiate, weitere illegale Drogen, Alkohol, Medikamente) nachgewiesen
0
2 andere ill. Drogen
Abb. 1. Tödliche Vergiftungen durch Substanzen im Jahr 2000, aufgeteilt nach nachgewiesenen Substanzklassen; Datenquellen: Haas et al. (8), Uhl und Kobrna (7)
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bereits erwähnt, war in der Drogenopferstatistik 2000 in einigen Fällen der Alkoholisierungsgrad so hoch, dass der Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich dem Alkohol anzulasten war, und in weiteren Fällen so hoch, dass wahrscheinlich die gemeinsame Wirkung von Opiaten und Alkohol den Tod verursacht hat. Ein gewisser Teil der offiziell ausgewiesenen „Drogentoten“ scheint daher eher auf das Konto des Alkohols als auf das Konto von Opiaten zu gehen. Überdosierungsunfälle bei substituierten Patienten Ein zentrales Argument der Substitutionsbehandlung ist, dass man über die Versorgung der Süchtigen mit Ersatzdrogen zu deren allgemeiner Stabilisierung beiträgt und damit neben der Kriminalitätsrate, und dem Ausmaß an subjektivem Leid auch die Gefahr von unabsichtlichen und absichtlichen Überdosierungen maßgeblich verringern kann. Fast alle Untersuchungen bestätigen bis jetzt recht eindrucksvoll, dass diese erwarteten Erfolge auch tatsächlich eintreten. Wenn man aber, wie in manchen bezüglich der Substitutionsbehandlung besonders restriktiven Ländern, Substitutionsbehandlung nur den besonders auffälligen und gefährdeten Klienten zugesteht, muss man damit rechnen, dass auch die deutlich reduzierte Mortalitätsrate bei Substituierten immer noch höher liegt, als bei Nicht-Substituierten. So ein Ergebnis kann zwar bei sachlicher Betrachtung nicht überraschen und spricht natürlich auch nicht gegen die Substitutionsbehandlung – im Gegenteil – aber so ein Befund eignet sich bei unsachlicher Argumentation der Öffentlichkeit gegenüber nichtsdestoweniger als scheinbar stichhaltiges Argument gegen diese Behandlungsform. Nachdem es gegenwärtig noch immer einige Kritiker der Substitutionsbehandlung gibt, die, wenn es um Drogen geht, öffentlich die recht einfältige Auffassung vertreten, die Aufgabe von Ärzten sei es ausschließlich zu heilen und nicht Symptome zu lindern5, werden Todesfälle in
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Zusammenhang mit Substitutionsdrogen von vielen Behandlern nach wie vor als Gefährdung ihres Behandlungsansatzes erlebt – und man will vielfach diesen Kritikern keine Argumente liefern. Das führt dann dazu, dass depressive Patienten und Patienten mit riskanten Konsumgewohnheiten ungerechtfertigterweise von ängstlichen Therapeuten aus Substitutionsprogrammen ausgeschlossen werden, wodurch dann zwar die Wahrscheinlichkeit des Drogentodes – wenn auch in Zusammenhang mit Straßendrogen – maßgeblich steigt, die Gefahr, dass der Tod mit Substitutionsdrogen in Zusammenhang gebracht werden kann, aber deutlich sinkt.
Substanztod im weiteren Sinn (STWS): unmittelbarer oder mittelbarer Substanztod Zum STWS zählen neben den unter STES subsumierten Todesfällen durch unmittelbare Konsequenzen (Unfälle) auch Todesfälle durch mittelbare Konsequenzen (Erkrankungen). Einleitend wurde bereits festgestellt, dass man bei der konkreten Erfassung der Substanztoten im Sinne von STWS unterscheiden muss zwischen Todesfällen durch substanzspezifische Ursachen, d.h. solche, die im Zuge der Erfassung explizit mit Substanzkonsum in Zusammenhang gebracht werden (STWS1), und solchen, die dieser Kategorie aufgrund ihrer Korrelation mit dem Substanzkonsum im Ausmaß des kausal zurechenbaren Anteils zugeordnet werden (STWS2). Zum STWS1 zählen z.B. Todesfälle in Zusammenhang mit nicht durch andere Ursachen erklärbaren Leberzirrhosen bei Al-
5 Die Hauptaufgabe von Ärzten ist ohne Frage, Symptome zu lindern und die Verschlechterung von chronischen Krankheiten zu verhindern. Bei chronischen Erkrankungen – und Sucht wird mehrheitlich als chronische Erkrankung definiert – ist eine Restituto ad integrum unmöglich. Akute Krankheiten hingegen restituieren in der Mehrzahl der Fälle auch ohne Zutun des Therapeuten.
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
koholikern oder Aids-Erkrankung durch die gemeinsame Verwendung von Spritzen bei Heroinkonsumenten etc. Berechnungen im Sinne des Konzepts STWS1 hat z.B. Ramstedt (15) in Zusammenhang mit der „Europäischen vergleichenden Alkoholstudie (ECAS)“ durchgeführt. Zum STWS2 zählen neben allen bereits unter STWS1 inkludierten Todesursachen – bei diesen wird der kausal zurechenbare Anteil generell mit 100% angesetzt – auch eine Fülle weiterer Erkrankungen mit kausal zurechenbaren Anteilen unter 100%. Das geht von Lungenkrebserkrankungen, die zu 93% auf Nikotin zurückgeführt werden (16) bis zu Lungenentzündungen und Grippen, die zu 5% auf Alkoholeinfluss zurückgeführt werden 17), Berechnungen im Sinne des Konzepts STWS2 wurden z.B. von CDC (18, 16, 19) angewandt. Da das Konzept des STWS1 im Konzept STWS2 enthalten ist, ergeben Berechnungen nach der zweiten Methode immer eine unverhältnismäßig höhere Fallzahl, als wenn nach der ersteren vorgegangen wird.
Bewertung des Konzepts STWS Das Konzept des STWS, d.h. das Aggregieren von Todesursachen, die nachweislich mit Substanzkonsum korrelieren, ist für die meisten Experten und Laien unmittelbar plausibel. Wenn man weiß, dass bestimmte Erkrankungen durch Substanzkonsum begünstigt werden, und wenn man die Zahl jener, die infolge ihres Substanzkonsums zusätzlich an solchen Krankheiten sterben, korrekt schätzt, so ergibt sich bei oberflächlicher Betrachtung ein recht brauchbarer und anschaulicher Indikator. Das bloße Auflisten von Todesursachenhäufigkeiten – teilweise in Abhängigkeit von Risikofaktoren und teilweise global, teilweise altersstandardisiert und teilweise roh – ist international in der Gesundheitsstatistik sehr beliebt. Bei näherer Analyse entpuppt sich diese Methode allerdings als logisches Minenfeld.
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Das Grunddilemma dieser Methode liegt im Umstand, dass gesundheitsrelevante Verhaltensweisen zwar die Lebensdauer von Menschen verlängern oder verkürzen können, dass der Tod aber letztlich nie verhindert wird. Die Summe aller Todesursachen ist immer 100% – und daraus folgt zwingend, dass jede Maßnahme, die bestimmte Todesursachen begünstigt, zwangsläufig andere Todesursachen verringert. Jede Verhaltensweise, die die Lebenserwartung erhöht und jede Verhaltensweise, die die Lebenserwartung reduziert, ist Risikofaktor für bestimmte Todesursachen und gleichzeitig protektiver Faktor für andere Todesursachen – ob uns das gefällt oder nicht. Aus diesem Grund lässt die Aussage: „Ursache × bewirkt, dass z Personen zusätzlich an Krankheit y sterben!“ ohne Zusatzinformation über den Einfluss von x auf die Lebenserwartung keine sinnvolle Interpretation zu. Umgekehrt kann man aber alleine aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen x und der Veränderung der Lebenserwartung recht sinnvolle Schlüsse ziehen. Dazu ein anschauliches Beispiel: Eine der effektivsten Methoden zur Krebs- und Herzinfarktprophylaxe ist, in jungen Jahren sehr riskante Sportarten zu betreiben, regelmäßig berauscht oder übermüdet sehr gefährliche Tätigkeiten auszuführen, schwere Infektionen nicht zu behandeln etc. Wer im Gegensatz dazu durch eine Verbesserung der Hygiene, der Unfallvermeidung, der Ernährung und der medizinischen Versorgung die Gefahr, in jungen Jahren an Verletzungen und Infektionen zu sterben, dramatisch reduziert, erhöht umgekehrt zwangsläufig das Risiko, im Alter an Herz- und Kreislauferkrankungen bzw. Krebs zu sterben. Aber nicht nur gesundheitsbewusste, unfallvermeidende und medizinisch gut versorgte Menschen sind in Bezug auf Herz- und Kreislauferkrankungen bzw. Krebs sehr gefährdet, auch der Zigarettenkonsum erhöht, wie immer wieder nachgewiesen wird, dieses Risiko. Gegen welche Krankheiten der Zigarettenkonsum im unausweichlichen Gegenzug schützt, wird in der mir bekannten
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wissenschaftlichen Literatur nicht ausgewiesen – dass es solche Krankheiten geben muss, folgt zwingend aus der Logik. Die Aussage: „Jährlich sterben etwa 10.000 Menschen durch Schäden, die durch die Substanz A verursacht werden, und 5000 Menschen durch Schäden, die durch Substanz B verursacht werden“, ist z.B. nur dann sinnvoll interpretierbar, wenn man weiß, um wie viele Tage, Monate oder Jahre diese 10.000 bzw. 5000 Menschen durchschnittlich früher sterben. Wenn nämlich die 10.000 Personen durchschnittlich bloß um 5 Tage früher sterben und die 5000 durchschnittlich um 20 Jahre früher, so wird wohl kaum jemand bestreiten, dass die Substanz B weitaus negativere Auswirkungen hat – auch wenn die isolierte Interpretation der Verstorbenenanzahl das Gegenteil nahe legt. Um dem vorhersehbaren Einwand einiger Skeptiker vorzubeugen – die meinen könnten, die eben angesprochenen Probleme ließen sich dadurch beheben, dass man ausschließlich altersstandardisierte Vergleiche anstellt – möchte ich darauf hinweisen, dass die Todesursachenfrequenz sich durch eine Altersstandardisierung zwar verändert, dass aber trotzdem die Summe der Todesursachen immer 100% ergeben muss. Der einzige sinnvolle Ausweg ist, in Zusammenhang mit bestimmten Faktoren nicht auf die Todesursachen, sondern auf gewonnene oder verlorene Lebensjahre abzuzielen. Auch wenn das Konzept STWS sehr beliebt ist, sollte diese methodologisch inadäquate und hochgradig irreführende Auswertungsform des Zählens von Todesursachen aufgegeben werden zu Gunsten von Methoden, die entweder zur Gänze auf verlorene bzw. gewonnene Lebensjahre abzielen bzw. diese zumindest ergänzend ausweisen. Probleme mit der offiziellen Todesursachenstatistik Auch wenn sich angesichts der im letzten Abschnitt besprochenen logischen Probleme eine Erörterung des STWS weitge-
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hend erübrigt, möchte ich der Vollständigkeit halber trotzdem kurz darauf eingehen. Praktische Berechnungen diesem Ansatz entsprechend erfolgen durchwegs basierend auf den offiziellen Todesursachenstatistiken. Das sind Statistiken, die in allen entwickelten Ländern systematisch geführt werden. Bei der Berechnung werden entweder nur jene Todesursachen, die direkt mit einer Substanz in Zusammenhang gebracht werden, oder alle Todesursachen multipliziert mit dem kausal zurechenbaren Anteil, aufsummiert. Mit letzterem Zugang gelangt man verständlicherweise zu weit höheren Zahlen als mit ersterem. Ein Grundproblem bei der Todesursachenstatistik ist, dass diese in vielen Ländern – so auch in Österreich – monokausal aufgebaut ist, d.h. dass der den Totenschein auswertende Kodierer aus mehreren konkurrierenden Ursachen jene auswählen muss, die ihm zentral erscheint. Dazu kommen noch andere Fehlerquellen, dass z.B. im ländlichen Raum der den Totenschein ausstellende Arzt die Angehörigen oft persönlich kennt und unter großem Druck steht, weniger stigmatisierende Todesursachen auszuwählen – und daher können sowohl Alkoholismus als auch alkoholbedingte Erkrankungen leicht „untergehen“. Die Problematik dieser Statistiken kann man unmittelbar erfassen, wenn man die Leberzirrhoseraten und die alkoholbedingten Leberzirrhoseraten aus verschiedenen europäischen Ländern mit dem Alkoholkonsum in diesen Ländern vergleicht und bedenkt, dass die Leberzirrhoserate nach übereinstimmender Expertenmeinung mit dem Alkoholkonsum eines Landes korreliert. 1995 tranken die Iren laut Productschap voor Gedistilleerde Dranken (20) pro Kopf und Jahr um ein Drittel mehr Reinalkohol als die Finnen (9,3 Liter vs. 6,8 Liter Reinalkohol). Die alkoholbedingte Leberzirrhoserate war laut Ramstedt (15) im gleichen Jahr bei finnischen Männern allerdings fast 5-mal so hoch wie bei irischen Männern (19,7 vs. 4,3 pro 100.000 Einwohner; altersstandardisiert) und der Anteil der finnischen Männer mit anderen
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
alkoholverwandten Todesursachen lag sogar mehr als 10-mal so hoch wie bei irischen Männern (28,6 vs. 2,8 pro 100.000 Einwohner; altersstandardisiert). Bei irischen und finnischen Frauen wies der Unterschied in die gleiche Richtung, war aber weniger stark ausgeprägt (alkoholbedingte Leberzirrhosen: 5,8 vs. 4,0 und andere alkoholverwandte Todesursachen 4,0 vs. 2,0 pro 100.000 Einwohner; altersstandardisiert). Zugegeben, ich habe die beiden Länder gezielt so ausgesucht, dass der Widerspruch besonders eklatant ausfällt – aber die Ergebnisse des Vergleichs sind nichtsdestoweniger verblüffend. Wenig plausibel ist auch, dass in Finnland 1995 rund 83% der Leberzirrhosen als alkoholbedingt ausgewiesen werden, während in Österreich nur 9% der Leberzirrhosen auf Alkohol zurückgeführt wurden (15) – das, obwohl die Finnen im gleichen Jahr laut Productschap voor Gedistilleerde Dranken (20) pro Kopf um fast ein Drittel weniger Reinalkohol als die Österreicher (6,8 vs. 9,8 Liter Reinalkohol) zu sich nahmen. In Österreich war 1995 die Gesamtleberzirrhoserate bei Männern rund 5-mal so hoch wie in Griechenland (31 vs. 6 pro 100.000 Einwohner; altersstandardisiert), obwohl die Österreicher laut Productschap voor Gedistilleerde Dranken (18) pro Kopf und Jahr nur unwesentlich mehr Alkohol trinken als die Griechen (9,8 Liter vs. 8,8 Liter Reinalkohol). Angesichts der eben an Extrembeispielen demonstrierten Widersprüche drängt sich die Frage auf: Wie verlässlich sind solche Statistiken und macht es Sinn, darauf aufbauend internationale Vergleiche anzustellen? Konkrete Beispiele für Berechnungen des STWS Unabhängig davon, dass ich die Sinnhaftigkeit, die mittelbar an Substanzfolgen sterbenden Personen zu zählen, zuvor vehement in Frage gestellt habe, möchte ich hier – quasi zur Illustration – einige konkrete Ergebnisse aus der Literatur anführen.
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Peto et al. (21) errechneten (im Sinne des STWS2), dass in Österreich pro Jahr 9700 Menschen (12% aller Verstorbenen) an Tabakfolgeschäden sterben, wobei er 3900 auf Krebs, 3400 auf Kreislauferkrankungen und 1500 auf Atemwegserkrankungen zurückführte. Ramstedt (15) errechnete im Rahmen der ECAS-Studie (im Sinne des STWS1), dass im Zeitraum zwischen 1981–1995 durchschnittlich 10,6 von 100.000 Männern ab 15 Jahren und 2,9 von 100.000 Frauen ab 15 Jahren an explizit als alkoholbedingt ausgewiesenen Erkrankungen sterben, was umgerechnet rund 450 Personen pro Jahr (0,6% aller Verstorbenen) ergibt. Wenn man weiß, dass in Österreich nur 9% der Leberzirrhosen als alkoholbedingte ausgewiesen werden und man realistischerweise von 50% ausgeht (17) so ergibt sich eine Schätzung von 1550 Personen (1,9% aller Verstorbenen). Da eine Berechnung auf Basis des kausal dem Alkohol zurechenbaren Anteils aller Todesursachen (im Sinne des STWS2) für Österreich nicht vorliegt, gebe ich hier eine US-Amerikanische Studie das Jahr 1985 betreffend (18) an, die errechnete, dass rund 4,5% der Verstorbenen in den USA an alkoholbedingten Erkrankungen starben. Im Jahre 2000 starben in Österreich rund 227 Personen (im Sinne des STWS1) an illegalen Drogen, das sind rund 0,3% aller Verstorbenen. In Zusammenhang mit der Substitutionsbehandlung ist zu bedenken, dass Patienten, die bereits an einer Folgeerkrankung des illegalen Drogenkonsums erkrankt sind, früher oder später auch an dieser Erkrankung sterben werden. Selbst wenn sich die Lebenserwartung dieser Klientel durch die allgemeine Stabilisierung im Rahmen einer Substitutionsbehandlung um Jahre verlängert, so kann sich dieser Erfolg beim bloßen Zählen von Todesursachen natürlich nicht abzeichnen.
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Substanztod im umfassendsten Sinn (STUS) = Substanztod als Tod von Substanzgebrauchern, -missbrauchern oder -abhängigen Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, dass der STUS auf drei Arten präzisiert werden kann: als Tod von Substanzgebrauchern (STUS1), als Tod von Substanzmissbrauchern (STUS2) oder als Tod von Substanzabhängigen (STUS3). STUS1 ist eigentlich nicht sehr zweckmäßig, kommt bei illegalen Drogen aber trotzdem gelegentlich vor, da häufig auch von Experten nicht konsequent zwischen Substanzgebrauch, Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit unterschieden wird. Bewertung des Konzepts STUS Die Häufigkeit des STUS auszuweisen, also die Zahl der Todesfälle von Substanzgebrauchern, -missbrauchern oder -abhängigen zu aggregieren, ist eigentlich ein ähnlich seltsamer Zugang, wie die Häufigkeit des STWS zu schätzen. Da jeder Mensch irgendwann einmal stirbt, entspricht der STUS längerfristig der Gesamtlebenszeitprävalenz6 der Phänomene „Substanzgebrauch“, „Substanzmissbrauch“ bzw. „Substanzabhängigkeit“. Komplizierend wirkt sich aus, dass bei relativ jungen Phänomenen und/oder bei Phänomenen, bei denen es aus anderen Gründen stärkere Schwankungen der Gesamtlebenszeitprävalenz zwischen Alterskohorten gibt, die Altersdynamik bei der Erklärung des Zusammenhangs mitbeachtet werden muss. Bei Phänomenen, die sich über viele Jahrzehnte kaum ändern – wie Alkoholkonsum, -missbrauch oder Alkoholismus –, entspricht diese Maßzahl von Jahr zu Jahr einfach der Gesamtlebenszeitprävalenz. Bei jüngeren Phänomenen, wie der Abhängigkeit von illegalen Drogen, bei denen sich darüber hinaus auch die Gesamtlebenszeitprävalenz von Jahrgang zu Jahrgang ändert, ist die Korrespondenz erheblich schwieriger in ein formales Modell zu
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fassen und zu beschreiben. Nur über ein solches Modell ist so eine Interpretation aber sinnvoll. Generell gilt auch beim STUS, was bereits beim STWS gültig war, dass Häufigkeiten nur in Zusammenhang mit der dadurch zu erwartenden Übersterblichkeit, gemessen in durchschnittlich verlorenen Lebensjahren, sinnvoll interpretierbar sind. Anwendung von dynamischen Modellen zur Erklärung der Drogenopferzahl Wenn man annimmt, dass die Gesamtlebenszeitprävalenz der Opiatabhängigkeit bei Österreichern seit Jahren um 1% lag, aktuell um 1% liegt (22), und dass diese Rate auch in der Zukunft ähnlich bleiben wird, dann muss man langfristig damit rechnen, dass 1% der jährlich Versterbenden opiatabhängig sein werden, was bei rund 80.000 Todesfällen pro Jahr 800 Personen ausmacht. Dass im Jahre 2000 „nur“ 227 Drogenopfer ausgewiesen wurden (8) erklärt sich einerseits daraus, dass einige Opiatabhängige, die an einem unauffälligen Tod sterben, nicht als Drogentote erfasst werden, und andererseits daraus, dass viele Opiatabhängige im Vergleich zur Normalbevölkerung noch so jung sind, dass sich die „natürliche“ altersbedingte Sterblichkeit noch nicht massiv auswirkt. Ein präzises formales Modell müsste auf die Gesamtlebenszeitprävalenz der Opiatabhängigkeit pro Alterskohorte, die natürliche Sterblichkeit pro Alterskohorte aus der offiziellen Sterbetafel und auf die Über6 Der in der wissenschaftlichen Literatur übliche Begriff „Lebenszeitprävalenz“ wird manchmal als „Auftrittswahrscheinlichkeit im Laufe des gesamten Lebens“ und manchmal als „Auftrittswahrscheinlichkeit bis zu einem bestimmten Stichtag (Tag der Befragung)“ interpretiert. Um einer Verwechslung der beiden Begriffe vorzubeugen, haben Uhl et al. (23) für ersteres Konzept den in der Wissenschaft noch unüblichen Begriff „Gesamtlebenszeitprävalenz“ geprägt und für zweiteres Konzept den Ausdruck „Lebenszeitprävalenz“ beibehalten.
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
sterblichkeit von Opiatabhängigen aufbauen. Wie viele Opiatabhängige es schaffen langfristig abstinent zu leben, ist für dieses Modell nicht wichtig. Die Opiatabhängigkeit ist, wie auch die Alkoholabhängigkeit, eine chronische Krankheit, d.h. wer einmal abhängig ist, gilt auch in der Zukunft als krank, auch wenn es ihm gelingt, langfristig völlig opiatabstinent zu leben. Auch wenn so ein dynamisches Modell aktuell nicht formal und nummerisch präzise vorliegt, so kann man nichtsdestoweniger einige interessante Schlussfolgerungen für die Interpretation der Drogenopferstatistik ziehen. ■
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Da alle Opiatabhängigen irgendwann einmal sterben – Opiate machen ja nicht unsterblich – muss sich die Drogenopferzahl (im Sinne des STUS3) in Österreich langfristig auf 800 Tote (1% der jährlich Versterbenden) zu bewegen, sofern die Einstiegsrate in die Opiatabhängigkeit längerfristig konstant bleibt. Selbst wenn es durch Präventionsmaßnahmen gelänge, die Neueinstiegsrate in die Opiatabhängigkeit langfristig zu halbieren, muss man noch über viele Jahre mit einem kontinuierlichen Anstieg der sogenannten Drogenopferzahl pro Jahr rechnen. Diese Zahl würde auf ein – ohne genaues Modell nicht exakt präzisierbares – Maximum ansteigen und dann langsam wieder – infolge der Präventionsmaßnahmen – auf 400 Drogenopfer pro Jahr absinken. Wenn man durch erfolgreiche therapeutische Maßnahmen die Überdosierungsrate bei Opiatabhängigen stark reduzieren könnte, so würde kurzfristig die Zahl der Drogenopfer sinken. Da Sterben aber nicht aufhebbar sondern bloß aufschiebbar ist, muss das zwangsläufig eine unverhältnismäßige Zunahme der Drogenopferzahl in späteren Jahren verursachen. So entsteht die absurd anmutende Situation, dass besonders erfolgreiche therapeutische Interventionen mit einer gewissen Zeitverzögerung
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zu einer überproportionalen Zunahme der Drogentoten führen müssen; eine Tatsache, die mit großer Wahrscheinlichkeit in der Öffentlichkeit fehlinterpretiert werden würde. Aus der jährlichen Entwicklung der Drogenopfer, ohne Beachtung der Bevölkerungsdynamik, direkte Rückschlüsse auf die Effektivität der aktuellen Drogenpolitik und Drogenprävention zu ziehen, wie das im tagespolitischen Geschehen ständig passiert, muss daher als völlig inadäquat abgelehnt werden.
Substanztod im umfassendsten Sinn (STUS), den Alkohol betreffend In Österreich stirbt aktuell pro Jahr rund 1% der Bevölkerung; das sind rund 80.000 Menschen. Alkoholismus, Alkoholmissbrauch und Alkoholkonsum sind über Jahrzehnte relativ stabile Phänomene. Wenn wir nun wissen, dass die Lebenszeitprävalenz des Alkoholismus rund 10%, jene des Alkoholmissbrauchs mindestens 20% und jene des Alkoholgebrauchs rund 90% beträgt (23), so folgt daraus, dass es pro Jahr rund 8000 Alkoholtote im Sinn von „verstorbenen Alkoholikern“ (STUS3), 16.000 Alkoholtote im Sinn von „verstorbenen Alkoholmissbrauchern“ (STUS2) und 72.000 Alkoholtote im Sinn von „verstorbenen Alkoholkonsumenten“ (STUS1) gibt. Am sinnvollsten interpretierbar ist hier die Zahl von 8.000 Alkoholtoten im Sinn von „verstorbenen Alkoholikern (STUS3)“, da man die in dieser Gruppe durchschnittlich verlorenen Lebensjahre angeben kann. Besonders präzise, auf der Auswertung der amtlichen Todesursachenstatistik der Bundesrepublik Deutschland basierende Angaben dazu liegen von Bühringer et al. (24) vor. Nach Bühringer et al. beträgt die Übersterblichkeit bei männlichen Alkoholabhängigen 17 Jahre und bei weiblichen Alkoholabhängigen 20 Jahre, woraus sich, angesichts des Umstandes, dass 80% der Alkoholabhängigen männlich sind, für beide Geschlechter ein Gesamtlebenszeitver-
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lust von 18 Jahren ergibt. Wenn 10% der Bevölkerung infolge einer Alkoholabhängigkeit um durchschnittlich 18 Jahre früher sterben, bedeutet das, dass sich alkoholbedingt die Lebenserwartung aller Österreicher durchschnittlich um 1,8 Jahre verringert. Substanztod im umfassendsten Sinn (STUS), das Nikotin betreffend Bei Nikotin ergibt sich mit ca. 30% Rauchern, 17% Exrauchern und 53% Nichtrauchern in Österreich (26) grob geschätzt eine Gesamtlebenszeitprävalenz des Nikotinkonsums von 47% (Raucher plus Exraucher). Das bedeutet, dass man jährlich grob mit 38.000 Nikotintoten (47% der Verstorbenen) im Sinn von „verstorbenen Rauchern plus Exrauchern (STUS1)“ rechnen kann. Da die Rauchprävalenz über die letzten Jahrzehnte – ganz besonders bei Frauen – stärkeren Schwankungen unterworfen war, handelt es sich sowohl bei der Schätzung der Gesamtlebenszeitprävalenz als auch bei der Schätzung der Nikotintoten im Sinne von STUS1 nur um eine ungefähre Approximation. Für genauere Schätzungen müsste man hier den Altersaufbau der Bevölkerung, die Rauchgewohnheiten nach Altersgruppen, die Sterblichkeit von Rauchern pro Altersgruppe und die Sterblichkeit von Nichtrauchern in einem dynamischen Modell durchrechnen. Wenn man annimmt, dass Raucher zwischen 14 Jahren (19) und 20 Jahren (25) früher sterben, weil sie rauchen, bedeutet das, dass sich nikotinbedingt die Lebenserwartung aller Österreicher durchschnittlich um 7 bis 10 Jahre verringert.
Der kausal zurechenbare Anteil Der einer bestimmten Ursache kausal zurechenbare Anteil an einem Problem entspricht jenem Anteil, der vermeidbar wäre, wenn man die Ursache ausschalten könnte. Wenn man nun, um ein konkretes Beispiel zu geben, den Kausalzusammenhang
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zwischen den beiden Ursachen „Alkoholkonsum“ und „Risikofreudigkeit“ und der möglichen Konsequenz „tödlicher Unfall“ untersuchen möchte, so muss man bedenken, dass erstens auch nicht-alkoholisierte Personen in tödliche Unfälle verwickelt werden (die Spontanunfallsrate ist nicht Null), und dass zweitens risikofreudige Personen nicht nur eher in Unfälle verwickelt werden, sondern sich auch eher alkoholisiert in riskante Situationen begeben (Selbstselektion bewirkt einen Scheinzusammenhang über die Drittvariable „Risikofreudigkeit“). Bei der Schätzung des kausal zurechenbaren Anteils wird in der Praxis auf drei Arten vorgegangen: 1. Die einfachste, aber problematischste Form ist es, alle Probleme in Zusammenhang mit einer Ursache als kausal verursacht darzustellen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die jährlich herausgegebene Verkehrsunfallstatistik, die alle Personen, die bei Verkehrsunfällen mit Beteiligung von alkoholisierten Lenkern getötet werden, als „Getötete bei Unfällen durch Trunkenheit“ ausweist. Selbst wenn ein alkoholisierter Lenker vorschriftsmäßig bei einer roten Ampel anhält und von einem nüchternen Lenker gerammt wird, wird der Unfall in der offiziellen Unfallstatistik als Alkoholunfall geführt. Die Formulierung „durch Trunkenheit“ wäre nur korrekt, wenn nicht-alkoholisierte Lenker absolut keine Unfälle verursachten, und wenn jene, die alkoholisiert fahren, im nüchternen Zustand in gleichem Ausmaß unfallgefährdet wären wie jene Personen, die nicht alkoholisiert fahren. Beides ist aber wenig plausibel. Nachweislich verursachen auch nüchterne Lenker tödliche Unfälle, und man kann annehmen, dass jene, die öfter erheblich alkoholisiert fahren, generell viel risikofreudiger sind als andere und daher auch im nüchternen Zustand mehr Unfälle verursachen. 2. Die in offiziellen Statistiken der USA primär verwendete Methode, den kau-
Was sind eigentlich „Drogenopfer“?
sal zurechenbaren Anteil von Substanzkonsum auf Krankheiten zu schätzen (16, 18, 19), berücksichtigt zwar, dass auch Personen ohne Substanzkonsum an diesen Krankheiten sterben – insofern ist diese Methode daher der ersteren deutlich überlegen. Die in diesem Zusammenhang verwendete Formel baut auf das relative Risiko, durch Substanzkonsum zu erkranken, im Vergleich zum Risiko, ohne Substanzkonsum zu erkranken, auf – aber auch diese Methode vernachlässigt sämtliche Zusammenhänge zu wichtigen Drittvariablen. 3. Es gibt aber auch einige Versuche, den kausal zurechenbaren Anteil des Substanzkonsums korrekt zu schätzen, indem man das erhöhte Risiko der Substanzbeeinträchtigten relativ zu vergleichbaren Personen unter vergleichbaren Situationen schätzt. Eine derartige Schätzung führten, wie bereits erwähnt, Borkenstein et al. (4) durch, um den Zusammenhang zwischen Alkoholisierungsgrad und Verkehrsunfallrisiko methodologisch adäquat zu bestimmen. Bei dieser Studie wurde nach jedem Verkehrsunfall der Alkoholisierungsgrad des Unfalllenkers und anschließend von weiteren am Unfallort vorbeikommenden zufällig ausgewählten Lenkern erfasst, wodurch die Autoren zu einer bezüglich Ort und Zeit vergleichbaren Referenzpopulation kamen. Mit diesem Design konnte statistisch kontrolliert werden, dass in der Nacht infolge von schlechter Sicht und Ermüdung und der verstärkten Präsenz von im Straßenverkehr noch unerfahrenen jungen Lenkern das Unfallrisiko generell höher ist, und dass am Abend auch mehr alkoholisierte Lenker unterwegs sind – zwei Umstände, die sonst zu einer deutlichen Überschätzung des Alkoholeinflusses am Unfallgeschehen führen würden. Man kann vermuten, dass die ersten beiden – aus wissenschaftlicher Sicht inadäquaten, das Problemausmaß systema-
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tisch überschätzenden – Strategien, den kausal zurechenbaren Anteil zu schätzen, in der Praxis aus zwei Gründen nur selten kritisiert werden: ■ Erstens ist es für die mit der Schätzung befassten Wissenschaftler weit einfacher, simple Kontingenzen zu zählen und sich nicht mit der erkenntnistheoretisch schwierigen Frage der Kausalität zu belasten, und ■ zweitens haben häufig weder Forscher, deren Forschungsmittel vom Stellenwert des zu beforschenden Problems abhängen, noch Prophylaktiker und Therapeuten, die für die Verringerung eines Problems bezahlt werden, gravierende Probleme damit, wenn die Bedeutung des untersuchten Problems systematisch überschätzt wird.
Zusammenfassung Das Konzept des Substanztodes spielt in der öffentlichen Diskussion eine zentrale Rolle, wobei aber in der Regel weder explizit angegeben wird, was konkret unter Substanztod zu verstehen ist, noch welche logischen und inhaltlichen Probleme sich hinter diesen Schätzungen verbergen. Am wenigsten problematisch ist es, in diesem Zusammenhang auf den Substanztod im engeren Sinn (STES), d.h. auf unmittelbar durch die Substanzeinnahme verursachte tödliche Unfälle – das sind Überdosierungsunfälle (STES1) und andere substanzbedingte Unfälle (STES2) – abzuzielen. Enorme logische und empirische Probleme ergeben sich hingegen, wenn Substanztote im weiteren Sinn (STWS) hierzu gezählt werden, d.h. wenn neben den erwähnten Unfallopfern Todesfälle durch längerfristige Auswirkungen im Sinn von Erkrankungen mit einbezogen werden, oder wenn Substanztote im umfassendsten Sinn (STUS), d.h. gestorbene Substanzgebraucher (STUS1), -missbraucher (STUS2) oder -abhängige (STUS3), mitgezählt und ausgewiesen werden. Das primäre Interesse in diesem Zusammenhang kann aber nur dem Einfluss
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des Substanzkonsums auf die Lebenserwartung gelten, und die konkreten Todesursachen sollten nur ergänzend, aber keinesfalls alleine interpretiert werden. Man muss bedenken, dass die Summe der Todesursachen – weil jeder Mensch zwangsläufig einmal stirbt – immer 100% ausmacht, woraus dann zwingend folgt, dass eine Häufung bestimmter Todesursachen in Zusammenhang mit Substanzkonsum (naiv interpretierend würde man hier vom „Risikofaktor Substanzkonsum“ sprechen) immer einen kompensatorischen Rückgang bei anderen Todesursachen bewirken muss (naiv interpretierend würde man hier vom „protektiven Faktor Substanzkonsum“ sprechen). Aus diesem Umstand folgt zwingend, dass z.B. die deutliche Zunahme der Todesursache Krebs oder Kreislauferkrankungen kein Alarmsignal sein muss, sondern dass das durchaus die logische Folge einer besonders erfolgreichen Gesundheitspolitik sein kann; einer Gesundheitspolitik, die die Lebenserwartung wesentlich erhöht und so indirekt natürlich auch den Tod durch Alterserkrankungen begünstigt. Als besonders unsinnig erweist sich bei genauer Betrachtung auch die in der Tagespolitik übliche direkte Interpretation von Änderungen in der Drogenopferstatistik – einer Statistik, die in manchen Ländern eher nach dem Konzept „Substanztod im weiteren Sinn“ (STWS) und in anderen eher nach dem Konzept „Substanztod im umfassendsten Sinn“ (STUS) erstellt wird. ■
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Wenn man nämlich die Bevölkerungsdynamik modellhaft berücksichtigt, folgt unmittelbar, dass auch nach sehr erfolgreichen Präventionsmaßnahmen, die langfristig die Neueinstiegsrate in den Substanzkonsum erheblich reduzieren, noch über viele Jahre mit einem stetigen Anstieg der Drogenopferzahl zu rechnen ist – Drogenabhängige lösen sich ja nicht in Luft auf, sondern sterben früher oder später einmal. Außerdem folgt daraus auch, dass sehr erfolgreiche Behandlungsmethoden, die die Drogenopferzahl kurzfristig be-
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trächtlich senken, mit einer gewissen Zeitverschiebung zu einem überproportionalen kompensatorischen Anstieg der Drogenopferzahl führen müssen, da Behandlung den Tod ja nicht endgültig verhindern, sondern bloß aufschieben kann.
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Sachverzeichnis
Abhängigkeit 23, 24, 27, 51 Abhängigkeitssyndrom 29, 33 Adoleszenz 45 Akupunktur 221 Alkohol 19, 37, 38, 63 Alkoholkranke 24 Allgemeinmedizin 243 Amphetamin 58 Antiretrovirale Therapie 122, 126 ff Apotheker 173
Epidemiologie 53 Experimente 37 Fahrtauglichkeit 269 Fixerszene 17 Freud Siegmund 13
Begutachtungspraxis 297 ff Behandlungsvertrag 193 Beikonsum 201 Blut 284 Bundesrepublik Deutschland 207 Buprenorphin 195
Halluzinogene 59 Harn 284 Harm reduction 49, 165 Harntest 281ff Harnuntersuchungen 200 Haschisch 7,11 Hepatitis 107 ff Hepatitis A 107 Hepatitis B 108 Hepatitis C 110, 114 Heroin 37, 65 ff Heroin, Behandlung 79 ff, 205 HIV 114, 117 ff
Cannabis 14, 59 Chirurgische Komplikationen 149 ff Codein 195 Coffein 37 Craving 27, 56 Cut-off 286 Diagnostik 47 DOM 59 Drogenabhängigkeit 26 Drogenarbeit 48 Drogenkrieg 9 Drogenkultur 11 Drogenopfer 321 Drogenopferstatistik 324 Drogenpolitik 13 Drogenschnelltest 291 Drogenscreening 282 Drogentest 281 Drogentod 322 Dunkelziffern 17 Ecstasy, MDMA 36, 58 Endokarditis 142 ff Entwöhnung 202 Entzugssyndrom 51, 215, 217 Entzugstherapie 213 ff
Geburtshilfliche Komplikationen 155 Goldener Schuss 55 Großbritannien 206 Gutachten 297
ICD-10 28 IFES-Bericht 19 Illegale Drogen 3 Infektionsrisiko 117 Interferon 108, 112 Jugendpsychiatrie 48 Justizanstalten 313 Kanada 207 Kardiologische Komplikationen 139 Kinder 259 Kokain 6, 37, 56, 140 Komorbidität, psychiatrisch 93 Kosumverhalten 28 LAAM 195 Legale Drogen 3 Legalisierung 13 LSD 7, 13, 59
340 Marihuana 37 MDMA, Ecstasy 36 Mehrfachkonsum 17 Methadon, 186, 195, 232 Methadonsubstitution 154, 275 Mischkonsum 17 Missbrauch 23, 51 Mitgaberegelung 198 Morphin retardiert 194 Nachweisbarkeitsdauer 285 Naturvölker 4 Niederlande 206 Niederschwellige Einrichtung 244 Nikotin 37, 62, 334 Opioide 54 Opioide, Wirkungen 55 Opioidintoxikation 55 Opiumkonferenz 65 Persönlichkeitsstörung 95 Phencyclidin, PCP 59 Postexpositionelle Prophylaxe 117 Prävalenzrate 17 Probenmatrix 283 Psychische Störungen 95 Psychoaktive Stoffe 7 Psychologische Sicht 23 Psychosoziale Unterstützung 226 Psychotherapie 231 Psylocybin 59 Pulmologische Komplikationen 139 Pulmonalembolie 145ff Qualitätszirkel 248 Rechtliche Konsequenzen 306 Rezepte 175 ff Risikofaktoren 45
Sachverzeichnis Safer use 167 Schädlicher Gebrauch 51 Schmerztherapie 251, 276 Schwangerschaft 155 ff Schweiß 284 Schweiz 206, 208 Selbstverabreichungsexperiment 35 Sozialpädagogik 48 Spanien 208 Speichel 284 Spielsucht 24 Strafvollzug 310ff Straßenverkehr 269 Substanzabhängige 99 Substanzmissbrauch 27 Substanztod 322 ff Substitol 194 Substitution 154, 225 Substitutionsmittel 194 Substitutionspatient 174 Substitutionstherapie 180, 185 ff Sucht 25, 51 Suchtforschung 39 Suchtgedächtnis 40 Suchtgiftverschreibung 175 ff Suchtkranke 154 Suchtpotential 33 Tabak 61 Therapeutische Aspekte 27 Therapie 48 Thoraxschmerz 140 Tramadol 195 TSM-IV 28 Verhaltenslabor 35, 39, 40 Verstärkungseffekt 36 Vorläuferstoffe 11 Wirkungsmechanismen 52