VITTORIO SUBILIA
Die Rechtfertigung aus Glauben . Gestalt und Wirkung vom Neuen Testament bis heute
Göttinger Theologische Lehrbücher vandenhoeck &Ruprecht in Göttingen
Professor Vittorio Subilia (Waldenserfakultät in Rom) legt hier den Ertrag seines intensiven Bemühens um die Rechtfertigungslehre vor. Sein engagiertes Buch steht mitten im Kampf um die Rechtfertigung Gottes, des Menschen und der Gesellschaft. Er schlägt einen Bogen von der neutestamentlichen Exegese über Augustin, mittelalterlich-katholische und ketzerische Deutung, tridentinische Position, luther und das luthertum, Calvin: Täufertum, Erasmus und den Pietismus bis heute. Besonders wertvoll ist die Vermittlung der deutschen theologischen Tradition mit katholischen, protestantischen und marxistischen Ansätzen, die das weHweite geistige und soziale R~'1gen widerspiegeln. Der Verfasser verbindet historische Gelehrsamkeit mit aktueller, pointierter Stellungnahme und gibt damit Orientierung in der Fülle widerstreitender Äußerungen zum Thema. Ein gewichtiger Beitrag zu dem entscheidenden lehrartikel der reformatorischen Kirchen .
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Vittorio Subilia Die Rechtfertigung aus Glauben
VITTORIO SUBILIA
Die Rechtfertigung aus Glauben Gestalt und Wirkung vom Neuen Testament bis heute
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTIN GEN
Übersetzung aus dem Italienischen von Max Krumbach unter Mitarbeit von Kurt Victor SeIge Titel des Originals: La Giustificazione per Fede © Paideia Editrice, Brescia 1976
CIP-Kurztitelaujnahme der Deutschen Bibliothek Subilia, Vittorio: Die Rechtfertigung aus Glauben: Gestalt u. Wirkung vom Neuen Testament bis heute I Vittorio Subilia. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981. (Göttinger theologische Lehrbücher) ISBN 3-525-56152-0
Deutsche Ausgabe: © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981. Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Gulde-Druck, Tübingen. - Bindearbeit: Hubert & Co, Göttingen
Vorwort zur deutschen Ausgabe Im deutschsprachigen und lutherischen Raum ein Buch über die Rechtfertigungslehre zu veröffentlichen, das ein Nichtdeutscher und ein Nichtlutheraner verfaßt hat, kann als eine überhebliche Naivität erscheinen gleich der des Ahnungslosen, der Eulen nach Athen tragen wollte. Und dennoch kann im kulturellen, theologischen und politischen Kontext unserer Zeit ein Versuch der geschichtlichen und aktuellen Interpretation der reformatorischen Hauptlehre, der vielleicht nicht in der traditionellen Forschungsrichtung ausgeführt wird, der absichtlich bestimmte obligatorische Etappen nicht berührt und aus der Perspektive eines Italieners, eines Reformierten und eines Waldensers bedacht wird (mit all dem, was diskussionswürdig, wahrscheinlich aber auch ungewöhnlich bei der ersten und dritten dieser Bezeichnungen sein kann), vielleicht einiges Interesse erwecken. Er mag einen kleinen Beitrag dazu leisten, eine Botschaft wieder zu bedenken, die in den Ohren unserer Zeitgenossen keinen Widerhall mehr zu finden scheint, sind sie doch an Begriffsmuster gewöhnt, die ihnen in ihrem tiefen Gehalt und ihren evangelischen Formulierungen ganz fremd sind. Ich nehme die Gelegenheit dieses Vorwortes wahr, um meinem Freund und Kollegen Prof. Dr. Kurt-Victor SeIge - bisher an der Universität Heidelberg und jetzt an der Kirchlichen Hochschule Berlin - meine aufrichtige Dankbarkeit für seine treue Freundschaft und für das an der Verbreitung dieses Buches gezeigte Interesse auszudrücken; ein Dank aus ganzem Herzen Pfarrer Max Krumbach, dem ich seit seinem an der Facolta Valdese di Teologia in Rom verbrachten Semester mit Sympathie verbunden bin und der sich mit Eifer und Hingabe der schweren Mühe der Übersetzung unterzogen hat; schließlich gilt ein Wort der Wertschätzung dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, der mit freier Großzügigkeit akzeptiert hat, dieses Buch eines Ausländers in sein Programm aufzunehmen. Vittorio Subilia
Inhalt Vorwort zur deutschen Ausgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitel: Die Diskussion über die Rechtfertigung aus Glauben in der neutestamentlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Rechtfertigung in der paulinischen Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtfertigung im synoptischen Zeugnis ..... . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtfertigung in den johanneischen Schriften. . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rechtfertigung aus Glauben und die Krise des Glaubens. . . . . . .
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2. Kapitel: Die judenchristliche Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Paulus und Jakobus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Der Untergang des Paulinismus in der nachapostolischen Generation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 3. Der Kompromiß zwischen den Tendenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Synthese Augustins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die dominikanisch-thomistische Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die franziskanisch-scotistische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Verkündigung der Waldenser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Das Konzil von Trient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die rechtfertigende Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Kapitel: Die lutherische Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. "Articulus stantis et cadentis ecclesiae" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Rechtfertigung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Gerechtigkeit Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. "Amor sui" ........................................... 5. "Metanoia" oder "transmutatio mentis" ..................... 6. "Nos extra nos" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. "Simul peccator et iustus" ................................ 8. Die "theologia crucis" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9. "Sola fide" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 10. Die Rechtfertigung des Ungläubigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. Der eschatologische Hintergrund der Rechtfertigung . . . . . . . . . . .. 12. Die Rechtfertigung aus Glauben und das Urteil nach den Werken. .. 13. Die Grundlagen des Menschlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 14. Eine Ethik als Zeugnis in der Weltlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 15. Das Bewußtsein des Lebens als Berufung und die Entstehung der modemen Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 16. Die "Ordnungen Gottes" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 17. Die Zwei-Reiche-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 18. Das Urteil Gottes und das Urteil der Welt über die Ethik der Gläubigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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20 27
42 46 49 54 60 62 72
89 101 101 109 115
120 125 128 135
145 149 155 160 166 172
175 180 184 188 205
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Inhalt
4. Kapitel: Die reformierte Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Gleichzeitigkeit von Rechtfertigung und HeiIigung . . . . . . . . .. Die theozentrische Linie der Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die christologische Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Leitung des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Leben als Dienst der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
5. Kapitel: Nichtkonfessionelle Interpretationen der Rechtfertigung.................................................... 1. Die täuferische Linie .................................... 2. Die erasmianische Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die pietistische Linie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
6. Kapitel: Die gegenwärtige Bedeutung der Rechtfertigung . . . . .. 1. Die Unzeitgemäßheit der Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Rechtfertigung des Menschen und die Rechtfertigung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Rechtfertigung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
209 209 216 218 221 224 230
239 239 256 263 279 279 286 291 299
1.
KAPITEL
Die Diskussion über die Rechtfertigung aus Glauben in der neutestamentlichen Forschung 1. Die Rechtfertigung in der paulinischen Botschaft
Die Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben und des Heils durch Gnade\ die im 16. Jahrhundert Europa mit widerstreitenden Leidenschaften in Flammen gesetzt hatte, lenkt heute weder unsere Aufmerksamkeit, noch die unserer Zeitgenossen auf sich. Sie scheint nicht den Interessen der geschichtlichen Phase, die wir durchleben, zu entsprechen: davon zu sprechen, kann den lästigen Eindruck eines abstrakten und scholastischen Unternehmens erwecken, als wäre es der Beweis einer geistigen und kulturellen Teilnahmslosigkeit oder schlimmer eines konservativen Geistes, der sich nostalgisch der Vergangenheit zuwendet, statt für die drängenden Verantwortlichkeiten der Gegenwart offen zu sein. Die unmittelbaren Gründe dieses Desinteresses sind vielfältig. Die marxistische Kritik, die in die christlichen Gemeinden eingedrungen ist und Bereichen erreicht hat, sei es aus Überzeugung, sei es als Gegensatz, ihre Anschauungsweise zu bestimmen, sieht in dieser Lehre eine idealistische Flucht, mit der Absicht, dieUng(;!rechtigke_it"auf der _~~~~..e.l!K.l!n~~!1Q~LEriY!~~Biert~I}1<1assen zu erhalten und sie von den ausgebeuteten Klassen erdulden zu lassen, indem sie mit einem religiösen Kunstgriff dell1\.u~brllc;hg~r Ryyolution verhindert, die imstande ist, eine wirkliche Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen und in den gesellschaftlichen Strukturen aufzurichten. Man,k.lagL4~I1gr9ßt~I1J~r~~i ger der Botschaftd,eJ" Gottesgerechtigk~it,gf:!nJ\P()s~elPaulus", an, eint! vergeistigte" und' mystische, Form des • revolutionären, Messiani~müsLals' AusarucJ{"aef1nteresseii (fed~1Htilstarides-in seinen Wirtschaftsbezlehungen:-zum-;öriii.schei11iiip~iiansnius verteidigt zu haben. -, Der~okumeriische Dialog ~eigtauf detSpur seirier eigenen fortgeschrittensten Vertreter wie Küng dazu, die Lehre aus der Mitte an den Rand des Evangeliums zu drängen, wobei er die säkularen konfessionellen Gegensätze als Frucht eines schmerzlichen Mißverständnisses darstellt, das die
es'"m'weifen
1 J. Jeremias, Der Opfertod Jesu Christi, Stuttgart 1963, 19, erachtet die Gleichwertigkeit der Ausdrücke Gerechtigkeit Gottes - Heil Gottes als gesichertes Datum neutestamentlicher Forschung. Die gleichen Schlußfolgerungen zieht G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 19665 , 384ff, schon für das Alte Testament.
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
bei den Parteien dazu geführt hat, die gemeinsamen Überzeugungen mißzuverstehen und auf einseitigen Elementen zu beharren, ohneein.?:tlsehen, dlißsolche Elemente die Konkretheit deu~yangelischenWahrheit nur c.iadurch gewinnen können; däßji~siCh g~Kel1seitig _e!g.~n~en. So wird die Sprengkraft der Botschaft gegenüber-jeder Synthese jüdisch-christlicher Art zugunsten einesversöhnlichen~yr,tkre!ismusentmachtet, in dem die tiefen Bezüge der BotschilICäüs den Augen verlorengehen und ihre Orientierungsfähigkeit in vollem Versagen endet. Die neutestamentliche Exegese selbst kann gleich zu Beginn den Eindruck vermitteln, sowohl auf die Mühle der marxistischen als auch der ökumenischen These Wasser zu gießen. Schon 1904 hatte William W~ geglaubt, den zufälligen Charakter der Lehre zu entdecken, indem er sie der paulinischen Polemik gegen die Jud~n~chris!~J1 und ihrer Auffassung von der--Gü1tigkeit und der Bedeutung des Gesetzes bei den Christen zuschrieb. Praktisch sah er sie als auf zwei Briefe beschränkt und den anderen als so gut wie unbekannt an, so daß er sie nicht in die Mitte, sondern an den Rand der paulinischen Predigt setzte. "Sie verschwindet darum, weil die Situation verschwand, für die sie geschaffen war. "2 Nach seinem Urteil er~chütterten diese Ergebnisse, verbunden mit verschiedenen Komponenten, die gängige Auffassung, daß Paulus "d~!!hßologische Ausleger und Fortsetzer Jestl" wäre, indem er sie als "einen nicht geringen geschichtlichen Irrtum" ers'cheinen läßt3 • Für Paul Wernle ist es nicht nur eine Frage der Stellung im Rahmen der paulinischt!ll Theologie; er bringt schließlich sogar die Bedeutung und die Wichtigkeit der Rechtfertigung in Verruf, indem er sie als "eine sei!ler unglücklichsten _S~hQ~Jl ~__ ~~rtet, dIe "protestantischem VorurteiT'r-iinQ-eTöer~der engherzigsten und fanatischsten Gottesvorstellungen Raum gegeben hat. Ihr gegenüber müsse man das Recht zum Gebrauch jener christlichen Freiheit verteidigen, die Paulus selbst verkündet, indem man sich von seinem ~~IlstU(:h~I}.S_cl:J.emader Rechtfertigllng löst4 • AJb~r~_~<:h~~itJ:er hat den Satz geprägt, daß Wredes Buch, das diesen antipaulinischen Streit eröffnet hat, "nicht der 'rheologie, sonqern der Weltliteratur" anK~hört5. Er hat seine These mit der berühmten Formel untermilUei:t~nach der die Glaubensgerechtigkeit"nurein Fragment einer Erlösungslehre", "ein Nebenkrater, der sichlm Hauptkr~fer der Erlösürigsl~Iiteder:Mys1fk d~liS~i,ii(ih_. C~risto bild_et" ,ist". - , . -.. -' W. Wrede, Paulus, Tübingen (1904) 19072 , 99ff. A.a.O., 90. Auch für W. Bousset, Kyrios Christos, Göttingen 1913, ist die Rechtfertigungslehre eine Randerscheinung im Rahmen des Paulinismus. 4 P. Wernle, Die Anfänge unserer Religion, Tübingen-Leipzig 19042 , 222ff. 5 A. Schweitzer, Geschichte der pauHnischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenvoart, Tübingen 19332 , 132. 6 A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen (1930) 19542 , 216-220. 2
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Die Rechtfertigung in der paulinischen Botschaft
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Man kann sagen, daß die These Wredes, Wernles und Schweitzers, auch wenn sie wechselnde Geschicke erlitten hat und man bis heute von einer einträchtigen und einstimmigen Lösung weit entfernt ist, nicht aufgehört hat, auf mittelbaren oder unmittelbaren Wegen bis in unsere Tage zu wirken. Kein Neutestamentler konnte mehr von ihr absehen, sei es, um sie zu diskutieren, sei es, um sie zu bestätigen7 , sei es vor allem, um sie auf die richtigen Maße zurückzuführen. Sie hat zweifellos auf die folgenden Untersuchungen sehr anregend gewirkt. D~.!Grundzl.lgAi~s~!JI>l1!~,Is1:1~_ chungen nimmt jedoch die Form einesWiderruls-aer'Tl:tese \'()PJ:unwesentl1clren Cllärakterder ~~ditferllgüng' an': Viele 'Beiträge von hohem Wert, die es vermeiden, sie als ein' aut()nomes Lehrstück zu isolieren, haben sich Mühe gegeben, ihre Bedeutung durch die Ausarbeitung des weiteren Kontextes zu vertiefen, der ihren Mutterboden bildet. Man hat bemerkt, daß in fast zweitausend Jahren versuchter Deutung "die paulinische Rechtfertigungslehre nur selten scharf erkannt und theologisch präzis verstanden worden" ist. "Es sind immer nur Teilaspekte zur Geltung gekommen. "8 Gegenwärtig neigt man dazu, sie gerade in einen weiteren Horizont einzufügen, indem man die organische Verbindung aufzeigt, die sie "durch zahlreiche Analogien und Sachzusammenhänge der pauliniSchweitzer (Gesch. d. paul. Forsch. 186 u. ö.) bestreitet den Einfluß der hellenistischen Umwelt auf das Denken des Paulus, hängt aber andererseits von der religionsgeschichtlichen Schule ab, die die Rechtfertigung durch die Einfügung in die hellenistische Mystik interpretiert hat. Da sich seine Interpretation des Paulinismus im streng apokalyptisch-eschatologischen Schema bewegt, fällt die Rechtfertigung aus der Klassifizierung, die er nach einem juristischen Muster auflöst. Zur mystisch-hellenistischen Interpretation cfr. W. Heitmüller, Zum Problem Paulus und Jesus, ZNW 13 (1912), 320f; W. Bousset, a.a.O., 148; A. Deißmann, Paulus, Tübingen 1925 2 usw. Cfr. die kritischen Korrekturen von W. Michaelis, Rechtfertigung aus Glauben bei Paulus, in Festgabe für A. Deißmann, Tübingen 1927, 116; E. Lohmeyer, Grundlagen paulinischer Theologie, Tübingen 1929, 231. 1 Z.B. H. J. Schoeps, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 207, hält fest, daß Wrede "die Entlutherisierung Pauli" eröffnet und "die einseitige lutherische Auslegung" zu überwinden geholfen habe, die für das protestantische Mißverständnis der paulinischen Rechtfertigung verantwortlicht war, wie Paulus für das Mißverständnis der jüdischen Lehre vom Gesetz verantwortlich ist. Cfr. W. D. Davies, Paul and Rabbinic Judaism, London 19552, 221ff; F. Flückiger, Die Entstehung des christlichen Dogmas, Zollikon-Zürich 1955, 52; K. Stendahl, The Apostle Paul and the introspective Conscience of the West, HThR 1963, 199ff. B P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1975, 71. Man kann auch hinzufügen, daß die Kritiken an diesen Einseitigkeiten nicht immer objektiv sind. Z. B. A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, Stuttgart (1935) 19522 schreibt Luther eine anthropologische und keine theologische Interpretation zu, die erst nach Luther auftaucht (38: Luther "ging von seinem Ich, Paulus von Gott aus; der Vordersatz des Auslegers war seine eigene Not, der des Paulus war die Sendung des Christus". Statt sich die Frage der Gerechtigkeit Gottes zu stellen, habe sich Luther die Frage gestellt, wie er sich Gott erfolgreich gnädig stimmen könne). H. Conzelmann, Grundriß der Theologie' des Neuen Testaments, München 1967, 238, bemerkt, daß Luther an diesem ~~l!kt p~urnP entstellt w u r d e . " ' " ' ,
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
sehen Theologie" verbindet9 • Man hat sogar Gleichartigkeiten festgestellt in der Absicht, die Rechtfertigungsbotschaft mit den wesentlichen und unbestrittenen Strukturen zu identifizieren, die das gesamte apostolische Evangelium bestimmen. Ich denke hier an von Dobschütz, Wendland und andere, die die Rechtfertigung der Christologie und der Eschatologie angeglichen haben, sogar dem Verhalten Gottes selbst bei seiner Erlösungstat10 • Eine ähnliche Aussage macht B~.dtmann in der Form einer existentialistischen Anthropologie. Seiner Memwgnach ist die Th~~e. Wr.e.des vom sekundären Charakter der Rechtfertigung völlig un..2.~~E.qngt;.t;. Die Rechtfertigung darf nicht nur als eine polemische, an bestimmte Umstände gebundene Lehre betrachtet werden, sondern sie gehört zur existentiellen Beziehung zu GQtt, die sich in der VerkündigungdesWorteS-uiia.-seitens des'Menschen'In' der Glaubensentscheidung und im neuen Existenzverständnis verwirklichtl l . Man kann Bultmanns Auffassung als Fortführung des pietistischen Subjektivismus mit existentialistischen Begriffen werten bei entsprechender Unterstreichung des aktuellen Charakters der Rechtfertigung, wofür ihr eschatologischer Hintergrund und ihre kos:rJ;lische Dimension aus dem Blick verlorengehen12 • In den Abhandlungen Bultmannssteherfwir einer wirkungsvollen Reduktion der Rechtfertigung auf ein individuelles Ereignis gegenüber, das sich in der Sphäre.der Innerlich9 E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, ZThK 56 (1961) 367, jetzt in Exeg. Vers. u. Besinnungen II, Göttingen 1964, 181. M. Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, Berlin 1978. 10 E. von Dobschütz, Die Rechtfertigung bei Paulus. Eine Rechtfertigung des Paulus, ThStKr 85 (1912), 38 ff; W. Mundle, Der Glaubensbegriff des Paulus. Eine Untersuchung zur Dogmengeschichte des ältesten Christentums, Leipzig 1932, 132ff; W. Grundmann, Gesetz, Rechtfertigung und Mystik bei Paulus. Zum Problem der Einheitlichkeit der paulinischen Verkündigung, ZNW 30 (1933), 52ff; H. D. Wendland, Die Mitte der paulinischen Botschaft, Die Rechtfertigungslehre des Paulus im Zusammenhang seiner Theologie, Göttingen 1935, 17, 30, 39; G. Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen 1972, 215; L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1976, 11, 468; vgl. die Untersuchungen von H. Hofer, Die Rechtfertigungsverkündigung des Paulus nach neuen Forschungen, Gütersloh 1940; M. Dibelius - W. G. Kümmel, Paulus, Berlin 1951, 104; E. Käsemann, a.a.O., II, 221, die in der Rechtfertigung die Mitte des paulinischen Denkens sehen und die Kommentare von jenem E. Gauglers, Der Brief an die Römer I, Zürich 1945, 11, Zürich 1952, bis zu jenem von U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 1. Teilband Röm. 1-5, ZürichEinsiedeln-Köln-Neukirchen 1978. Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge von D. Lührmann, U. Luz, E. Schweizer, G. Strecker, in J. Friedrich - W. Pöhlmann - P. Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Tübingen-Göttingen 1976, 351ff, 365ff, 461ff, 479ff. 11 R. Bultmann, Glauben und Verstehen I, Tübingen 19542 , 261. U R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 19583 , 275-279; ders., Exegetica, Tübingen 1967, 470-475. Als klare Darstellung der eschatologischen Auffassung Bultmanns (die gut als Enteschatologisierung definiert werden könnte) vgl. W. Schmithals, Die Theologie Rudolf Bultmanns, Tübingen 1966, 306ff.
Die Rechtfertigung in der paulinischen Botschaft
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keit vollzieht: z. B. wird die großartige Vision des Römerbriefes nicht scharIoatgestellt, in dem, wie Bonnard bemerkt, "eine Gerechtigkeit, die auf der Bühne der Welt, im Innern einer weltweiten Konzeption der Geschichte und der ,Nationen' erscheint", herrscht. "Der Römerbrief handelt vor allem von der Gerechtigkeit Gottes und nicht von der Rechtfertigung des Sünders, und diese Gerechtigkeit wird von einer Geschichte überprüft, in der sie auf den ersten Blick weit entfernt ist, Gestalt anzunehmen. "13 Die aufkommende Frage ist diese:" W~sJ!9Uen ~~!__ nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?"--(RÖm9,14). Der Apostel "s"ielltdle Rechtfertigung durch den Glau6eii dar , um die Gerechtig~_eit .Gofies.ili·.~er~G~-s-\;b!~c4t~i!l.\;~rteidi~en.und zu illustrieren", das heißt als ein Interpretationsprinzip einer anstößigen GesdllChte;lü'der die Gerechtigkeit Gottes nicht offenkundig ist, sondern Widerspruch und Widerstreit erfährt. Gott ist angeklagt, "ungerecht zu sein" (die Frage stellt sich in Rom) oder "schwach" (die Frage stellt sich in Korinth), wie wiederum Bonnard präzisiert. Es mag fremd und ein wenig gewagt erscheinen, einem Exegeten vom Range Bultmanns einen ~uktt~~E&~EIß.~~_z~l~~t~n, der den Ausblick auf den Themenreichtum zu versperren scheint, den es in der paulinischen Botschaft gibt. Aber man kann einfach nicht umhin, anzuerkennen, daß auch in diesem Fall seine Interpretation dem Vorverständnis, das durch die Existenzphilosophie bedingt ist und das seine Exegese beherrscht, einen hohen Tribut entrichtet. Alles zusammengenommen kann man sagen, daß die neutestamentliche Exegese unseres Jahrhunderts, so sehr sie in ihrer Gesamtheit, sei es bei Schülern, sei es bei Gegnern, von Bultmannsehen Kategorien beeinflußt ist, bei der Anstrengung, die Fülle der paulinischen Gedanken zu sammeln, ziemlich frei von derartigen Einflüssen erscheint. Die gewichtigste Korrektur der Interpretation Bultmanns schlägt einer seiner Schüler, Ernst Käsemann, vor. Käsemann widersetzt sichdem, was er eine idealistische I?~~tungderpaulliiischenRechtferÜgt1ni neIlIlt in dem Sinne, daß' der Bezug zwischen Gnade und Ethik, zwischen göttlicher Gabe und menschlicher Tat, zwischen Indikativ und Imperativ, den es in den Paulusbriefen gibt, letzten Endes mit der Formel erklärt wird: "Werde, der du bist." Und er erkliii1;-CfaßeSTürihri unmöglich ist, die Behauptung Bultmanns
zu
13 Typisch ist die Erklärung R. Bultrnanns, GuV III, Tübingen 19653 , 102: "Die entscheidende Geschichte ist nicht Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, s'Oooem-die:-<;!sEhichte, die i~der _E:illz~lIle ßelb~t~I.fäh.~!." Und er fügt hinzu, 101, "Das wahre Heil ist die Gerechtigkeit." Das bedeutet, "daß die Auffassung von Heil bestimmt ist durch das Heil des Einzelnen". Vgl. die kritischen Betrachtungen P. Bonnards, La justice de Dieu et l'histoire, EtThRel 43 (1968) 62, und die Beobachtungen L. Goppelts, Paulus und die Heilsgeschichte, NTSt 13 (1966), 3lf und H. Conzelmanns, Die Rechtfertigungslehre des Paulus - Theologie oder Anthropologie, EvTh 28 (1968), 389ff.
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
akzeptieren, "daß die Theologie und das Geschichtsbild des Paulus am Individuum orientiert sei"'4. "Unser Problem ist jedoch, aus welcher einheitlichen Mitte heraus er präsentische und futurische Eschatologie, ,gerecht erklären' und, gerecht machen', Gabe und Dienst, Freiheit und Gehorsam, forensische, sakramentale und ethische Betrachtensweise miteinander verbinden konnte. "15 Diese Mitte ist Christus. Der Bultmannschen Auffassung, die die Rechtfertigung als existentiale Möglichkeit des Individuums versteht, set:z;t KäsemaIlll die Gerec:htiglceit als apokalyptische Kundgebung der MaChtund Souveränität Gottes· über die~Welt ~i~tgegen:EshandeltsichnithtÜm eine Spekui"ation nellenistischen Typs übii·'fle- Attribute Gottes, sondern um eine Macht, die sich verwirklichen $ill und muß, die von unserem Leben Besitz erg;eift und es in seinen Dienst nimmt. Die göttliche Souveränität ist kein "ideologisches Programm"; sie setzt "Realität"'6. Wenn man sich diese Perspektive aneignet, bleibt Paulus in der alttestamentlichen und jüdischen Tradition, die die Gerechtigkeit Gottes als einen in Christus erschienenen Beweis der Treue Gottes zur Bundesgemeinde betrachtet, das heißt zu jener Gruppe von Menschen, die schon dem eschatologischen Gesetz Gottes unterworfen sind, in dem sich die Gerechtigkeit Gottes auf Erden offenbart'7 . Ihre 14 E. Käsemann, a.a.O., II, 188. Schon H. Cremer, Die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhang ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, Gütersloh 1899 (bei G. von Rad, a.a.O., I, 383f, der weitläufig die Voraussetzungen entwickelt), hatte die idealistische Auffassung der Gerechtigkeit Gottes, die in der Art einer abstrakten Norm verstanden wurde, als unvereinbar mit den Kategorien des alttestamentlichen Denkens bestritten. W. Dantine, Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit, VF 11 (1966), 88f, 94f, unterstreicht im Denken Käsemanns die Überwindung der individualistischen Begrenzung der Rechtfertigung und die Bejahung ihrer Bedeutung für das tätige Leben des Menschen. Vgl. in der Tat auch E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 130f. "Die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus mit der dazugehörigen Gesetzeslehre ist letztlich seine Interpretation der Christologie... Die paulinische Rechtfertigungslehre ist ganz und gar Christologie, freilich eine von Jesu Kreuz her gewonnene und darum anstößige Christologie ... Wenn die Rechtfertigungslehre bei jener Christologie festhält, welche ihren Blick nicht vom Gekreuzigten abwendet, kann und darf sie nicht länger ausschließlich individualistisch interpretiert werden." Vgl. vom gleichen Verfasser, An die Römer, Tübingen 1973, 21. 15 A.a.O., II, 184. Zu bemerken ist, daß Käsemann in einem anderen Zusammenhang mit seiner These, die Rechtfertigung müsse als der Kanon im Kanon, als das hermeneutische Kriterium betrachtet werden, das uns hilft, die Geister zu unterscheiden, um in diesem Glaubensbekenntnis "die Mitte der Schrift" zusammenzufassen, eine breite Diskussion ausgelöst hat, Vgl. a.a.O., I, 232, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit. Vgl. die Kritiken H. Diems, Dogmatik - ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, München 1955, 200ff; H. Küng, Der Friihkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem, ThQ 142 (1962), 385ff und die Antwort auf beide, E. Käsemann (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, 360f, 37lf. Vgl. auch 1. Lönning, "Kanon im Kanon", Oslo-München 1972. 16 A.a.O., II, 189. Vgl. J. A. Ziesler, The Meaning of Righteousness in Paul, London 1972. 17 Vgl. die Untersuchung W. G. Kümmels, IIaeEOL~ und fVÖEL~L~. Ein Beitrag zum Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre, ZThK 49 (1952), 154ff. Vgl. vom
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Anwesenheit hat die Aufgabe, der Welt zu bezeugen, daß ihr Heil darin besteht, unter die Herrschaft Gottes zurückgeführt zu werden. Wie man bemerkt hat, ist die Interpretation Käsemanns auf der Suche nach einem Realismus der Rechtfertigung entgegen den Interpretationen des idealistischen Typs 18. Es bleibt zu fragen, ob im Rahmen dieser Interpretation die Funktion des Glaubens zwischen gegenwärtiger und zukünftiger Heilsäkonomie in ihrer ganzen Reichweite geschützt ist, ob der Bezug auf Christus als Gerechtigkeit Gottes genügend erläutert wird oder ob die Auffassung der Gottesgerechtigkeit als Macht nicht ein wenig unbestimmt bleibt, ob schließlich die Wertung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum befriedigend oder nicht genügend untermauert ist, so daß sie zu einer Verwirrung zwischen den betreffenden Eschatologien führt 19 • Unbestritten bleibt, daß Käsemanns Interpretation - vielleicht eher wegen ihrer Ausrichtung als wegen der Einzelheiten, die einige Mängel aufweisen - einen Beitrag darstellt, den man nicht weiter ignorieren kann, auch wenn er keine unbekannten Thesen enthält. Man kann wohl sagen, daß er eine Stufe, besser noch eine entscheidende Wende für das Verständnis der Rechtfertigung in ihrer ganzen neutestamentlichen Weite bezeichnet. Die Bedenken, die man gegenüber seiner Hauptthese gleichen Verfasser, Die Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1969, 173f. Die Hypothese einer jüdischen Vorform der paulinischen Gedankenwelt über Glaube und Rechtfertigung wurde schon zur Zeit, als die Werke von H. Weinei, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 19132 , 373, und von P. Feine, Theologie des Neuen Testaments III, Berlin 1950 8, 205ff, abgefaßt wurden, diskutiert. Feine machte darauf aufmerksam, daß diese Hypothese die harte Polemik des Paulus gegen die Werkgerechtigkeit historisch unerklärbar sein läßt. 18 P. Bonnard, a.a.O., 66. 19 R. Bultmann hat in einem Artikel, der im JBL 83 (1964), 12-16 veröffentlicht wurde und jetzt in Exegetica, 470--475, wiederabgedruckt ist, Käsemann kräftig geantwortet, daß in der jüdischen Literatur nicht einmal das Vorhandensein der paulinischen Vorstellung der gegenwärtigen Rechtfertigung belegt werden kann. Käsemann beruft sich auf Qumrantexte, auf den letzten Psalm der Sektenregel, auch Gemeinderegel genannt (I QS 11, 1ff; vgl. L. Moraldi, I manoscritti dei Mar Marto, Turin 1971, 170ff), um seine These zu untermauern. "Die realized eschatology ist, ... durchaus nicht das ausschließliche Merkmal der urchristlichen Verkündigung." Schon im Judentum habe man von der aktuellen Kundgebung der Gottesgerechtigkeit gesprochen (a.a.O., 11, 190). Die These wurde von S. Schulz, Zur Rechtfertigung aus Gnaden in Qumran und bei Paulus, ZThK 56 (1959), 155-185, unterstützt. Aber man hat nachgewiesen, auch auf der Grundlage von I QpHab 8, 1-3, daß es ungenau ist, das Wort, das in den Manuskripten steht, mit "Rechtfertigung " zu übersetzen. Das Wort bezeichnet eine untadelige Lebensführung in vollkommener Übereinstimmung mit der Thora. Vgl. J. Jeremias, The central Message of the New Testament, London 1965, 68ff (Wir sind also bei den Gegnern des Paulus, Phil3,3-11!). [)as Gerechtvlcerden steht in Q!l1)lJ~_a_I11..~nde des Prozesses der Rechtfertigung, bei Paulussteht es am Anfang, Vgl. H. Braun, Qumranuncfdas"Neue TesfämenfII, Tubingen 1966, 169; weiter W. Grundmann, Der Lehrer der Gerechtigkeit von Qumran und die Frage nach der Glaubensgerechtigkeit in der Theologie des Apostels Paulus, RdeQ 1960, 237; G. Klein, Art.: Rechtfertigung I, RGG3, 5, 825f.
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haben kann, sind mehr formalen und vorwiegend historisch-kritischen Charakters. Sie schränken ihre theologische Bedeutung nicht ein, die wir meinen, im Primat, der der Christologie beigelegt wird, erkennen zu müssen. So unterscheidet sie sich in origineller Freiheit sowohl von den Interpretationen, die auf dem Primat der Anthropologie, als auch von denen, die auf dem Primat der Ekklesiologie beharren. Die bei Käsemann fehlenden Entfaltungen werden in einer fleißigen und sorgfältigen Dissertation von Peter ~tuhlmasller aufgenommen. Sie geht von einer interessanten - wenn auch-iiIClitvollständigen und mitunter wenig nützlichen, weil zu summarischen - Musterung der verschiedenen Interpretationen der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung vom zweiten bis zum zwanzigsten Jahrhundert aus. Nach Stuhlmacher mündet diese Geschichte der Interpretation in eine Aporie, für die man, um fortzuschreiten, keinen begehbaren Übergang findet. Die Schwierigkeit ist nach Stuhlmacher der Tatsache zuzuschreiben, daß die Exegeten den Bedingungen, durch die das Denken des Paulus bestimmt ist, nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt und es in Kontexten interpretiert haben, die dem ursprünglichen ~t fremd sind. Um diesen zu umreißen, nimmt Stuhlmacher die These, die Käsemann am Herzen liegt, wieder auPo: Der Ursprung des Begriffes der Gerechtigkeit Gottes.muß in der Apokalyptik des spätenJuden!tlms,:nach semem Urteil-·unter Einschlußatichd~rTeXte vom Tote~- Meer,g~sehen werden. Die Gerechtigkeit Gottes ist "Zentralbe.griffQe~~PQkalYll~i~~e:n penkens"21, das in die vorpaulinischen, christlichen Gemeinden eingedrungen ist und dann von Paulus aufgegriffen wurde. Sie bezeichnet den "Machterweis des Schöpfers"22, der sein Recht auf die ganze· geschaffene WeIt "6egründet als unbestreitbare Ausübung des Rechtes Gottes23 , der den Menschen in seinen Dienst nehmen will. Auf dieser Spur wäre es nach Stuhlmacher möglich, neue Denkkategorien und neue Ausdrucksformen zu suchen, um den traditionellen katholisch-protestantischen Gegensatz zwischen effektiver und imputierter Gerechtigkeit, d.h., zwischen einer Theologie des Seins und einer Theologie des Wortes, zu überwinden. Abgesehen von der Frage nach der geschichtlichen Herkunft des paulinischen Denkens, die bis jetzt noch diskutiert wird, besonders was die vermuteten jüdischen Antizipationen der christlichen Botschaft angeht, bleiben hier aber Zweifel, weil man trotz des massiven Rückgriffs auf die Apokalyptik gerade 20 In der Abhandlung Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, a.a.O., II, 105-131, hat E. Käsemann "die Apokalyptik als Mutter der christlichen Theologie", 130, bezeichnet. 21 P. Stuhlmacher, a.a.O., 168. 22 A.a.O., 169. G. Klein, Gottes Gerechtigkeit als Thema der neuesten Paulus-Forschung, VF 12 (1967), 7, hat angemerkt, daß diese Angleichung zwischen "Gerechtigkeit Gottes" und "Macht Gottes" exegetisch unbegründet ist. 23 P. Stuhlmacher, a.a.O., 183.
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nicht den Eindruck gewinnt, daß man das unermüdliche Bestehen des Apostels auf dem eschatologischen Glauben des "Seins in Christus", mit dem die Ankündigung der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung steht und fällt, mit den vorchristlichen Mustern zusammenfügen kann. Beim Studium der Arbeit Stuhlmachers überfällt einen der unbestimmte Eindruck, man habe einen Ersatz vor sich, der die Frucht einer Flucht in der Absicht ist, die noch nicht erreichte, scharfe Ausarbeitung der gegenwärtigen Bedeutung des sogenannten traditionellen Konzepts zu ersetzen. Die von Stuhlmacher vorgeschlagene Lösung, die Rechtfertigung heute als Treue des Schöpfers zu seiner Schöpfung zu interpretierehühd (auf der BahrrvöhEbelirig,Fllchs und Jüngel) lesus einfach alS Zeugen dieser Treue zu betrachten, :[{~nn nicht endgülti~. befriedigen24 • Man kann sogar so ~ weit gehen zu sagen, daß sie sich als Randerscheimmgen im Vergleich zum Hauptinhalt der paulinischen Botschaft darstellt. Falls man die Grenzen überschreiten wollte, die sich Stuhlmacher auferlegt hat, und die Linien ausziehen wollte2S, könnte seine Interpretation anregend sein, um die ethischen Folgen der Rechtfertigung als einer auch im Politischen und Sozialen befreienden Macht zu erfassen und zu entfalten, aber sie erscheint ungenügend, um die letzte Bedeutung und das Wesen jener Rechtfertigung selbst zu verstehen, die solche Folgerungen nach sich zieht. Es ist unverständlich, warum man als Rechtfertigung bezeichnen und behandeln sollte, was zwar deren Widerspiegelung ist, die zwar notwendig ist, aber doch Widerspiegelung bleibt. Es ist weder klug noch fruchtbar, die Ethik ihrem bewegenden Mittelpunkt voranzustellen oder an dessen Stelle zu setzen, der doch in der Botschaft und im Glauben besteht, auch dann nicht, wenn einige Tendenzen der Gegenwart auf gewisse Ungleichmäßigkeiten hinauslaufen, die das Neue Testament nicht kennt; wie es andererseits unvernünftig und unwirklich wäre, die Botschaft und den Glauben herauszulösen und ihnen ein Eigenleben zuzuschreiben, das vom ethischen Gehorsam getrennt ist. Vor dem Hintergrund der Forschungen Käsemanns und seiner Auseinandersetzung mit Bultmann steht auch die Untersuchung Christian Müllers 26 • Während Bultmann die Rechtfertigung auf das Selbstverständnis des Individuums bezieht, während Käsemann und mit ihm Stuhlmacher sie in die Geschichte einfügen wollen, vertritt Müller die Notwendigkeit, 24 Vgl. die kritischen Rezensionen, erschienen in ThLZ 88 (1963), 713ff (ohne Namen), ThZ 23 (1967), 219ff (K. Niederwimmer), ThLZ 93 (1968), 32ff (E. Grässer). 25 Vgl. die von der Zusammenfassung angezeigten Hinweise, 258. Zur Entwicklung der Folgen aus der Rechtfertigung vgl. M. Barth, Gottes und des Nächsten Recht. Eine Studie über den sozialen Charakter der Rechtfertigung bei Paulus, in Parrhesia, K. Barth zum 80. Geburtstag, Zürich 1966, 447ff (Tischgemeinschaft mit den Heiden, usw.); U. Wilckens, Rechtfertigung als Freiheit, Paulus-Studien, Neukirchen 1974. 26 Chr. Müller, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk, FRLANT 86, Göttingen 1964.
2 Subilia, Rechtfertigung
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den Bezug zu dem Leben des Gottesvolkes herzustellen. Eine untergründige antiidealistische und antiindividualistische Polemik und in ihrer Folge eine verschwiegene, aber nicht fehlende Kritik am unbestimmten Spiritualismus und religiösen Egoismus, der in den Kirchen daraus abgeleitet wird, ist in seiner Arbeit zu erkennen. Eine Akzentuierung der Ethik ähnlich der, die Stuhlmacher herausgearbeitet hat, führt Müller dahin, zu behaupten, daß die Gerechtigkeit "demnach das ,Recht' nicht als abstrakte Norm oder Rechtsidee, sonder als Rechtsverwirklichung" ist27 , als ob Christus als "Gottes Gerechtigkeit" einer platonischen Idee, einem abstrakten und idealen Wert der Wirklichkeit vergleichbar wäre, der von der konkreten Verantwortung des HandeIns entfremdet. Diese Verwirklichung des Rechtes darf nicht nur durch das einzelne Individuum, sondern muß durch das ganze Volk Gottes in einer universalen menschlichen Perspektive geschehen. "Die paulinische Rechtfertigungslehre entspringt also keineswegs der Frage: Wie wird aus dem Sünder ein Gerechter? Sie entsteht vielmehr an der Frage: Wie kann des Schöpfers universaler Gnadenanspruch an die Menschheit verwirklicht werden? Paulus antwortet: ,Allein durch den Glauben - nicht durch des Gesetzes Werke' (3,28), d. h. auf das Gottesvolk bezogen: Allein in der neuen-M~!1schheit, nicht im gesonderten Israel (d~ 6 {}E6~ -'IouöuLwv XULEltvWV 3,29). DieVerbindung von Gottesvolk-qnd Rec.I)Jft!!'t.!gul!gslt)hre ?:eigt, daß dieR~chtferti gung nicht eine Theorie zur Rettung einiger Individuen darstellt. Vielmehr steht sie wie die paulinischeGottesvolkdialektik im Dienste des Schöpfungsgedankens. "28 "Der Prozeß Gottes mit der Welt ist also keineswegs Aktion bloß zur Rettung der Gemeinde ... die Gemeinde wird ,gerechtfertigt', indem sie Gottes Sache in dem Prozeß führt. "29 Die Gerechtigkeit Gottes ist "Gottes Recht an seiner Schöpfung", "das sich in der neuen Menschheit verwirklicht. "30 Diese Sätze sind, wie man sieht, trotz des gelehrten Apparates eingefügt in die Strömungen, die heute unsere Kirchen durchziehen. Aber es wäre schwierig,ihrenZllsammenhang mit der Gesamtheit des biblischen Materials zu erweisen, das die Grundlage der ganzen Abhandlung bildet. Das Schweigen über die Grundlage stellt eine verborgene Abwertung dar: Ein Glaube, der .nicht offen seinen eigenen Gegenstand bekennt, löst sich in seinestillschweigende Leugriilllg auf. Müller ist sicli übrigens bewußt, daß seine Darstellung der GereditIgkeit Gottes als Verwirklichung des Rechtes Gottes gegenüber der Welt der Interpretation des größten Teils der Exegeten widerstreitet31 • Da wären A.a.O., 74. 28 Aa.O., 108. A.a.O., 72. 30 Aa.O., 113. 31 Aa.O., 72. eine Arbeit die auch den gegenwärtigen Stand der Diskussion über die Gerechtigkeit Gottes bei Paulus berücksichtigt, die sich gern zwischen die Richtungen Bultmanns und Käsemanns einfädeln und die Alternativen "Gabe" oder "Macht" mittels der Fuchsschen Hermeneutik überwinden möchte, ist die von E. Plutta-Messerschmidt, Gerech27 29
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die Anfragen bis dahin voranzutreiben, ob wit..bi~r.!!i~ltLY.Q!_ e~~!.....!\rt Rejudaisierung des Evangeliums stehen im Sinne eines Abgleitens vom Qriuoeiizum"g~i~fi;rur 3asiilir deI: iilsgerecliferachtefWlrd:'der-unter der·. ·Amiahine~ wirkt, mit seinem""Werk-deii-wnrefrGöltes-zuvefWifK1i~ clien~Jä~riiif-dlisSystemürid'die"Strtiktur'werdenaIs gerechtan:ge-sehen~aeiin wir leben in einer kollektivistischen Epoche -, die aIs die "Rechtsverwirklichung" eingeschätzt werden. Die Untersuchungen, die wir geprüft haben, nehmen sich vor, die Grenzen des Neuen Testaments nicht zu überschreiten. Sie kommen offenbar nicht dazu, diese Behauptungen zu formulieren, sondern sie stellen Voraussetzungen auf, von denen aus man zu gewissen Schlüssen kommt. Das große Problem ist festzustellen, ob diese Voraussetzungen in den Texten begründet sind und damit eine evangelische Autorität haben oder nicht. Eine Erklärung, die weder auf das Individuum konzentriert ist, noch sich an einem soziaIen UniversaIismus ausrichtet, sondern von Interessen bewegt wird, die sich im kirchlichen Rahmen halten, ist di~§.!!!g:~!ll~lltale Itlterpretation. Eine sakramentaIe Betrachtung der Rechtfertigung als WerKoergegenwärtigen ka!!!.QHsfh~!l_~~,~.s~~e32, der bei ihren Thesen die Voraussetzungen der religTonsgeschichtlicnen Schule zu Hilfe kommen, wird heute - vielleicht mehr wegen der ökumenischen Wirkung aIs aus exegetischer Überzeugung - seitens einiger protestantischer Gelehrter unterstützt33 . Anscheinend können sie sich nicht bewußt werden, daß der kirchlich-sakramentaIe Kontext, auch wenn man auf die polemische Form verzichtet und die Akzente anders setzt, d~.kl~ssische. !.r:tQ~,1).1iills_che I<:Q..nte~L!?!~i,l?!, wie es sich übrigens aus der offenen AUfwertung Küngs ergibV4. Im Bereich der Exegese, wenn man sich die stark eschatologische Ausrichtung der paulinischen Gedanken35 und die jüdischen, nicht hellenistischen Kategorien, die sie beherrschen, vergegenwärtigt, kann man nur schwer zugeben, daß der Bezug zwischen Rechtfertigung und Taufe die
tigkeit Gottes bei Paulus, Tübingen 1973. 32 Vgl. z. B. R. Schnackenburg, Das Heilsgeschehen bei der Taufe nach dem Apostel Paulus, München 1950, 120; ders., La Theologie du Nouveau Testament, Brügge 1961, 72; V. Warnack, Taufe und Christusgeschehen nach Römer 6, ALW 3 (1959), 284ff. Auf einer etwas anderen Linie bewegt sich K. Kertelge, Rechtfertigung bei Paulus, Studien zur Struktur und zum Bedeutungsgehalt des paulinischen Rechtfertigungsbegriffs, Münster 1967. 33 J. Jeremias, The central Message of the New Testament, London 1965. Zur anglikanischen Position vgl. G. Lampe (Ed.), The Doctrine of Justification by Faith, London 1954. 34 H. Küng, Rechtfertigung - Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 1957, 108f, 229, 243 usw. 35 H. Ridderbos, Paulus, Wuppertal 1970, 31, 39, 120; vgl. E. Lohse, Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 209ff; ders., Grundriß der neutestamentlichen Theologie, Stuttgart 1974, 83ff.
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Grenze "ein(es) Rechtsakt(es)"36 übersteigt, der die Gültigkeit des Heils auf der vorläufigen Stufe des Gemeinschaftsbewußtseins besiegelt. 2. Die Rechtfertigung im synoptischen Zeugnis
Nachdem wir die neutestamentlichen Untersuchungen zum Thema Rechtfertigung im paulinischen Umfeld durchmustert haben, gewiß nicht in ihrer Gesamtheit, aber in den Äußerungen, die wir für die bezeichnendsten halten, kann man sich fragen, was man daraus gewinnen kann, um sich bewußt zu werden, wie über das Problem zugleich evangelisch und aktuell zu denken ist. Zweifellos hängen Bedeutung und Stellung der Rechtfertigungslehre auch von den Folgerungen ab, die man aus dem Urteil über die Beziehung zwischen Jesus und Paulus zieht. Es ist eine andere Frage, wenn es sich nur um eine paulinische Lehre handelt, oder wenn diese paulinische Lehre die Predigt Jesu selbst als Grundlage hat. Wenn man eine Einheit oder einen Bruch zwischen der Predigt Jesu und der des Paulus beim Thema Rechtfertigung feststellt, wandeln sich die Perspektiven und die Folgerungen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert haben Fragen dieser Art die Erforschung des Urchristentums nicht mehr beschäftigt. In den letzten Jahren tauchen sie wieder mit einer unterschiedlichen Problematik auf. Unsere Theologengeneration hat immer geglaubt, daß Evangelien und Briefe gleichen Rang hätten, zwar nicht in dem Sinne, daß die Autorität des Apostels auf der gleichen Stufe stünde wie die Autorität des Herrn, aber in dem Sinne, daß uns das Wort des Herrn durch die Vermittlung der Stimme menschlicher Zeugen wie Matthäus, Markus, Lukas und Johannes und ebenso auch durch die Stimme seines Zeugen Paulus erreicht. Aber die Aufgabe dieser Vermittlung ist von gewissen Forschern so übertrieben worden, daß sie die Urgemeinde nicht einfach als Übermittlerin der Verkündigung erscheinen lassen, sondern geradezu als Schöpferin von Tatsachen und Worten in der mehr oder weniger bewußten Absicht, auf Jesus und seine Autorität gewisse theologische Überzeugungen sowie moralische Gebräuche oder Ordnungen zurückgehen zu lassen, die im Kreis der Gemeinde selbst aus ihrer eigenen theologischen und kirchlichen Lage entstanden sind. So hat man sich die Gefahr eingehandelt, das Evangelium als eine künstliche Konstruktion ohne einen objektiven historischen Grund darzustellen, der über die zufällige Geschichte der Gemeinden im 1. Jahrhundert und den Rahmen ihrer Umwelt hinausgeht, als wäre das Christentum die Frucht einer unerklärlichen, spontanen Zeu36 P. Stuhlmacher, a.a.O., 221; vgl. O. Heggelbacher, Die christliche Taufe als Rechtsakt nach dem Zeugnis der frühen Christenheit, Freiburg 1953.
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gung: eine moderne Art des gnostischen Doketismus! Es war unvermeidlich, daß sich das Problem in neuen Begriffen wieder stellte als Klärung des Verhältnisses, das zwischen christlicher Predigt und ihrem Fundament, zwischen Botschaft und Geschichte bestehF. In dieser auf den Tagesstand gebrachten Perspektive erscheint es schließlich legitim, das Entstehungsproblem der Rechtfertigungsbotschaft aufzuwerfen. Auch-wennmäri sich in ällerkritischeriVorsiCht der Abwandlungen, die die Interpretation der Gemeinden und die Theologie der einzelnen Evangelisten eingeführt haben, bewußt ist, ist es möglich festzustellen, ob sie als eine fragwürdige Interpretation des Ereignisses Jesus zu Lasten des Paulus betrachtet werden muß, oder ob sie in ihrem treibenden Kern auf die Predigt Jesu selbst zurückgeht? Bultmann selbst hatte schon in seinem Jesusbuch 1926, in dem das drastische Urteil ausgesprochen wurde, daß wir praktisch nichts Genaues über die Person Jesu wissen, den Worten und der Predigt Jesu eine umfangreiche Authentizität zugebilligt2 • Auf dieser Grundlage und in bezug auf die Entwicklungen der neuesten Untersuchungen hat Eberhard Jüngel in einem beachtenswerten Buch geglaubt, diese Frage im Sinne der Analogie, ja sogar der Konvergenz lösen zu können 3 • Indem er lutherische Reminiszenzen auf Begriffsmuster anwendet, die sowohl an die Existenzphilosophie als auch an die Sprachphilosophie4 anklingen, betrachtet Jüngel die paulinische Theologie als eine Interpretation der Lehre JeSu vom Reiche Gottes. Beide, Jesus mit der Ankündigung des Reiches Gottes und Paulus mit der Ankündigung der Gerechtigkeit Gottes, legen den Lebensgrund des Menschen extra se: "denn sowohl die Gottesgerechtigkeitals auch die Gottesherrschaft sind als ein sich extra nos ereigrieIldesG~schehen zu verstehen, das~~das Sein des Menschen älsnas extra nos esse erhellt. Indem Paulus und Jesus den Menschen mit ihrer Botschaft extra se ansprechen, sprechen sie ihm nämlich ein neues Sein extra se zu. "5 Diese Einsicht Jüngels würde in ihrer Fähigkeit, die letzte Bedeutung der evangelischen Botschaft aufzuweisen, genügen, um den Wert seiner Arbeit zu bekräftigen. Der Grund, der Sinn des menschlichen Lebens und das Element, das es 1 Aus der endlosen Literatur zu diesem Stoff vgl. J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1970. 2 R. Buhmann, Jesus, Tübingen (1926) 1951, 12 ("wir so gut wie nichts über seine Persönlichkeit wissen"), 14 ("So wenig wir vom Leben und der Persönlichkeit wissen - von seiner Verkündigung wissen wir so viel, daß wir uns ein zusammenhängendes Bild machen können"). 3 E. Jüngel, Paulus und Jesus. Das Verhältnis der paulinischen Rechtfertigungslehre zur Verkündigung Jesu, Tübingen 1962. 4 Vgl. die positiven Bewertungen der Arbeit, die in den umfangreichen, kritischen Studien J. M. Robinsons enthalten sind, The New Hermeneutic at Work, Interpretation 18 (1964), 346ff; S. Rostagno, Paolo e Gesu, Protestantesimo 22 (1967), 167ff. 5 E, Jüngel, a.a.O., 266.
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rechtfertigt, sind sowohl in der Predigt Jesu als auch in der Predigt des Paulus nicht im Menschen selbst auszumachen und in den Werten, den Zielen, den Interessen, die seine persönliche und gesellschaftliche Existenz bewegen, sondern außerhalb des Menschen, extra se. Wie konkretisiert sich jedoch nach Jüngel dieses extra se? Ist der lutherische Anklang Inhalt oder nur Form, um so als Decke zur Einführung eines anderen Inhalts zu dienen? Was ist der Sinn dieses extra se? Die Überlegungen Jüngels präzisieren sich in folgenden Begriffen: auf der Spur, die schon Johannes Weiß und Albert Schweitzer gezeichnet haben, behauptet er, daß das gemeinsame'und unterscheidende Datum bei der Predigt Jesu und der des Paulus die Eschatologie ist6 • Aber im Gegensatz zur These von der Enttäuschung durch die ausbleibende Ankunft des Reiches, die Schweitzer und der ganzen Schule der konsequenten Eschatologie eigen ist, die behauptet, unter diesem Gesichtspunkt die Ausbildung der paulinischen Theologie und der gesamten folgenden Dogmatik erklären zu können, stellt Jüngel fest, daß das primäre Element der Eschatologie nicht die Erwartung eines Ereignisses zum nächst möglichen Termin ist, sondern es geht" um ein Bestimmtsein durch das Eschaton "7. Er schlägt uns also den Widerspruch einer Eschatologie ohne Zukunft vor. Genauhiet'fügtsich die Unterscheidung zwischen der Eschatologie Jesu und der des Paulus ein. Jüngel wiederholt die These Bultmanns: DenUnterschied-klinri. man -riie richtig erfassen, "wenn man geistes- oder ideengeschichtlich verfährt. Denn der Unterschied liegt eben nicht in der Verschiedenheit von Ideen oder Begriffen, sondern darin, daß Paulus dasjenige, was für, J,e~us _ ZukllIlft ist,-'1Js Gegenwart bz", .. als in der Vergangenheit imgehrochene .Qegemya_rj_ansieht"8:-- "Das- -Entscheidende, das JesuserWartef ~ fÜr Paulus hat es-siCh vollzogen." "Jesus blickt in die Zukunft auf die kommende Gottesherrschaft, freilich auf die jetzt kommende bzw. jetzt anbrechende. Paulus aber blickt zurück. "9 Das heißt, was Jesus mit "Reich Gottes" zu sagen beabsichtigt, drückt Paulus mit d~f~YQ;:~ienii:iig'(fer "Gerechtigkeit Gottes" atis10;',;näsgeschah'frelllch- niCllt im Sinne'efries b16ßenAustausclIesvt)fi"Vokabeln", sondern Paulus mußte "den für die Verkündigung Jesu zentralen Begriff der Gottesherrschaft al~_~usd_ruck 6 Aa.O., 263 (Nach analytischer Terminologie" ... was in der Verkündigung Jesu und in der paulinischen Rechtfertigungslehre zur Sprache gekommen ist"). 7 A.a.O., 265. 8 R. Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, GuV I, Tübingen 19666 , 201, zitiert bei E. Jüngel, a.a.O., 272. 9 R. Bultmann, a.a.O., I, 200, nicht bei E. Jüngel zitiert. 10 A.a.O., I, 200. Auch E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, 133, bekräftigt, "daß es in der Rechtfertigung um nichts anderes geht als um die von Jesus verkündigte Gottesherrschaft ... Gottes Basileia ist der Inhalt der paulinischen Rechtfertigungslehre ". Vgl. J. A Baird, The Justice of God in the Teaching of Jesus, Philadelphia 1963.
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für das Eschaton interyretieren", "weil Paulus eben auf dieses Eschaton tlerelfSzuruck6Iickt"ü. ~~:,i5ie Rechtfertigung ist schon erfolgt und für den Glauben zugänglich geworden vermöge des Heilswerkes, das in Jesus Christus geschehen ist. "12 Es handelt sich also um eine realisierte Eschatologie, um ein Reich Gottes,dänchon und ausschließlich gegenwärtig ist, -ooneweitere Hintergründe, die noch kommen; mit anderen Worten "geht es um nichts anderes als um das Ereignis der Identität von Geschichte und Eschaton"13. Es bildet sich eine wahre und eigentliche Verkürzung der Eschatologie heraus, bei der man sich der Verwirklichung aller Verheißungen Gottes, die sich in Jesus ereignet haben, bewußt ist, wie es das Neue Testament behauptet hat. Aber gleichzeitig ist man sich der etappenweisen Erfüllung dieser Verheißungen, die vom demselben Neuen Testament dargestellt wird, nicht mehr bewußt. Das heißt, daß man trotz aller gegenteiligen Behauptungen aus der Ökonomie des Glaubens und der Hoffnung heraustritt, um sich in einer Ökonomie der Verwirklichung einzurichten. Bezeichnend ist, wie es schon bei A. Schweitzers Auflösung des Christentums in angewandte Ethik und seiner konsequenten Entscheidung, Theologie und Predigt um der Praxis willen zu verlassen, geschehen ist, und wie es im großen Stil in den sozialen Tendenzen, die die Kirchen unserer Zeit durchziehen, geschieht, daß auch für Jüngel die Ankündigungdes Reiches und der Gerechtigkeit Gottes sich in eine Liebesethik aufzulösen scheint. Ein erhellendes Beispiel für diese Auflösung ist die Erklärung des Wortes Jesu Lk 17,21: "Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch!", eines der klassischen Texte der eschatologischen Botschaft der Evangelien, die auf Jesus konzentriert ist. "Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft ruft den Menschen aus jeder apokalyptischen Distanz zur Gottesherrschaft heraus in die Nähe des Nächsten, wo sich die Macht der z1.lkünftigep Gottesherrschaft als gegenwärtig erweist. Indlesem-Sfiine ~ istdie Basileia ,mitten unter Euch': die nahe Zukunft der Gottesherrschaft erscheint in der Gegenwart als die Nähe des Nächsten. "14 Die Nächstenliebe ist ein wesentlicher Ausdruck des Evangeliums. Aber warum muß man die Gottesliebe in den Schatten stellen, u~ j~pe aufzuwenej1,WaruIl1 das erste mitdetn·zweiten Gebot, den Glauben mit dem. -Gehorsam, die Gegenwart mit den zukünftigen Verheißungen des Gottesreiches, die Rechtfertigung aus Glauben mit der gegenwärtigen Suche nach Gerechtigkeit verwechseln? Vielleicht, weil wir alle die von der Theologie des Todes Gottes verschmutzte Luft geatmet haben? Dies alles erklärt die harten Urteile, die Käsemann und Menoud über diese Arbeit E. Jüngel, a.a.O., 267. R. Bultmann, a.a.O., I, 200. 13 E. Jüngel, a.a.O., 282. 14 A.a.O., 195, vgl. 211 ("In der Geschichte Jesu schafft sich das Eschaton seine eigene Geschichte als Geschichte der Liebe. "), 268 ff. 11 12
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
ausgesprochen haben. Käsemann hat seine kritische Bewertung in diesem lapidaren Satz verdichtet, der die Zuständigkeitsbereiche trennen soll. "Die Scheidelinie wird durch die Frage markiert, ob die Inkarnation der Horizont des Eschaton oder die Eschatologie der Horizont der Inkarnation sei. "15 Menoud bemerkt ruhig: "Es ließe sich zeigen, daß, wenn es das ist, was die Texte einem modernen Gnostiker sagen, es nicht das ist, was Paulus und Jesus gesagt haben. Zum Beispiel schreibt Paul~4a~1-4~r n~ue Äon schon da ist' (23, Anm. 1 u.ö.), weile~ die ÄCHJ.enwe.!!de mit der Parusie ·verbindet. Folglich redet er vom ,gegenWärtlgen.Aon'-iiiid·'yom ,'kommenoeriAon' und behauptet, noch in ,dieser gegenwärtigen, bösen Welt' zu leben (Gal1,4). Man kann auch die zeitliche Eschatologie nicht aus den Texten ausscheiden", die in den Evangelien über Jesus gesammelt sind. "Das Werk E. Jüngels ist ein interessantes Dokument für die Wiedergeburt des Gnostizismus im heutigen lutherischen Deutschland. "16 Das Evangelium der Rechtfertigung von seiner wesentlichen Konzentration in Christus auf die sozialen Forderungen des Nächsten umzuleiten, die doch ein integrierender Bestandteil der christlichen Verantwortung in der Geschichte sind, heißt, eine Theologie auszuarbeiten, die für den Augenblick eine Anziehungskraft hat, weil sie mit den Interessen der Epoche übereinzustimmen scheint, die aber keinen dauerhaften Bestand haben kann, weil ihr wie dem Samen im Gleichnis, der auf felsiges Land fiel, die tiefen Wurzeln fehlen (Mt 13,5-6). Jene Forscher, die versucht haben, die ursprünglichsten und unanfechtbarsten paradoxen Elemente in der Verkündigung Jesu zu sammeln, haben Ergebnisse vorgelegt, die die Authentizität und die Fülle der evangelischen Botschaft besser und sorgsamer achten. Sie haben eine we~eI1tliche Kontil1uit~t des. Inhalts miLder Predigt des Apostels Paulus festgestellt. Joachim Jeremias zum Beispiel hat wiederholt behauptet, "daß die paulinische Rechtfertigungslehre ihre Wurzel in der Predigt Jesu hat"17, ebenso wie in seinem ganzen Verhalten, besonders bei den Aspekten, bei denen ganz klar die polemische Spitze gegen die gängigen jüdischreligiösen Vorstellungen durchscheint. In seiner Lehre der Rechtfertigung aus Glauben und nicht durch sittliche Werte des eigenen Lebens oder wegen der Zugehörigkeit zum religiösen Stand der Gerechten und der Frommen macht Paulus nichts anderes als daß er "die Botschaft Jesu von dem Gott, der sich mit den Sündern befassen will", aufnimmt: "Diese einzigartige Botschaft ohne Vorläufer war die Mitte der Predigt Jesu. Dies zeigt sich bei all den Gleichnissen, in denen sich Gott derer annimmt, die 15
ThLZ 90 (1965), 184-187.
16 RThPh 98 (1965), 49. VgL O. Cullmann, Heil als Geschichte, Tübingen 1965. 17 J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 19585, 123; Paul and James, ExpT 66 (1954-55), 369; Das Problem des historischen Jesus, Stuttgart 1960, 15.
Die Rechtfertigung im synoptischen Zeugnis
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. verlassen sind,. und sich als der Gott der Armen und Bedürftigen offenbart, WieauchPdurch die Tischgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern. "18 Jesus hatte die Seligkeit der Armut, des Menschen ohne Kapital und Garantien verküIldigf und nicht die des Menscheri; der' an geistlichen und wirtschaftlichen Gütern reich ist, die des unruhigen und unbefriedigten Menschen, nicht die des Erfolgreichen, des Zufriedenen und des Selbstsicheren, die des suchenden Menschen, nicht die dessen, der gefunden,_haLuJl4 b~sitzt. Die Seligpreisung des Attrteriini spiritlialistigestern machte, oder iIIlsoziologlscheriSinne, sehen'sinne, wie man wie IrlaneS 'heute inaclit, zu verstellen, führt zuünhaltbaren exegetischen lind ethlsClien Absurditäten. Der Arme der evangelischen Texte,' die die Predigt Jesu mitteilen, besitzt ein"theologisches Merkinal19 : es ist das Gleiclmisdes" Menschen, der nichts in sich selbst haturid alles in Gott findet,des Mi:mschen, der geraae unter' der Bedingung dei Bedurftigkeit und Besitzlosigkeit von Gott angenommen wird und in ihm seinen Schatz fiiidet, auf den er vertraut (Mt 6,19-21; Lk 1,53). In der Seligpreisung drückt Jesus das Paradox und das GehejJ1lnis des Handeins Gottes aus, der niCht' nach den Menschen mit sicheren Grundlagen sittlicher und ökonomischer Ordnung auf die Suche geht, sondern nach Entwurzelten und Heimatlosen, die sich keine Umgebung und kein Ansehen schaffen konnten, die keinen Erfolg und keine Lebensstellung gefunden haben, die ihr Menschsein nicht verwirklichen konnten, ihre Wünsche und Pläne weder erfüllt noch befriedigt haben. Diesen Menschen enthüllt er seine überwältigende Gegenwart und ruft sie, aus Glauben, nicht von Verwirklichungen zu leben. Die Seligpreisung der Armen kann also als eine gleichnishafte \ Illustration der evangelischen Behauptung betrachtet werden, nach der der Gerechte seines Glaubens leben wird, bei der die Ausrichtung auf das eschatologische Reich nichts anderes ist als die Ausrichtung seiner Existenz auf Gott, die in Gott ihren Grund und Seinssinn gefunden hat. Jesus hatte gepredigt, er sei gekommen, nicht die Gesunden, sondern die Kranken zu heilen, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zu rufen (Mk 2,17). Er hatte erklärt, daß die Frommen und die Geistlichen vom Gottesreich ausgeschlossen werden, während die sittlich Verachteten zugelassen werden (Mt 21,31)20; er hatte dem Verstoßenen die Rechtfertigung vor Gott zugesichert, dem von der religiösen Gemeinschaft wegen sittlicher Unwürdigkeit Ausgeschlossenen, und hatte dem Mann die Rechtfertigung verweigert, der ängstlich alle Gebote Gottes hielt (Lk
es
J. Jeremias, The Central Message of the New Testament, 69. G. Eichholz, Auslegung der Bergpredigt, Neukirchen 1965, 35; vgl. J. A. Diaz, Esta san Pablo en contra deI Serm6n deI Monte?, Sal Terrae 54 (1966), 81ff. 20 Vgl. die aramäische Rückübersetzung in J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I, Gütersloh 1971, 118, die den Sinn des Logions durch die Übersetzung "Zöllner und Dirnen werden in die Königsherrschaft Gottes eingehen, ihr nicht" verdeutlicht. 18
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
18,9-14). Es sind gerade diese Predigt und diese Haltung gewesen, die die entrüstete und verärgerte Reaktion der Verantwortlichen der jüdischen Theologie und Gemeinde hervorriefen. "Galt doch die Trennung von den Sündern ... als vornehmste religiöse Pflicht. "21 Bei diesem Aufstand gegen eine Position, die die unerschütterlichsten religiösen Gewißheiten in Zweifel zu ziehen und die unbestreitbarsten sittlichen Wertebloßzustellen schien, die "scheinbar die Auflösurig aller Ethik'l mit sichbr~lC:hte, ;,als moralisches Verhalten in Gottes Augen nichts bedeutet"22, gab es ein ungläubiges Staunen, höhnische Anklagen und verächtlichen, erbarmungslosen Zorn. Von der disqualifizierenden Ironie gegen jenen, der als "Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern" (Lk 7,34) bezeichnet wird, der sich in einer irritierenden Doppeldeutigkeit von einer Hure berühren läßt (Lk 7,39), gelangt man schließlich zur Anzeige bei der politischen Macht, zum Prozeß und zur Todesstrafe. "Es war die Größe des Paulus, daß er die Botschaft Jesu verstand wie kein anderer Verfasser des Neuen Testamentes. Er war der gewissenhafte Interpret Jesu. Dies gilt besonders für seine Rechtsfertigungslehre ... Der Wortschatz ist verschieden, aber der Inhalt ist gleich. "23 ,Paulus hat verkündigt, nicht der, der handelt, sondern der, der glaubt, wird gerechtfertigt (Röm 4,5): heute müßte man sagen, der Gottlose, der irreligiöse, profane und säkularisierte Mensch empfängt, ohne dafür gearbeitet zu haben, die Gabe der Gerechtigkeit Gottes, das heißt, die göttliche Bestätigung, daß er bei der Annahme der Verkündigung Christi die rechte Richtung für das eigene Leben gefunden hat. Er hat gewagt zu erklären, daß das untadeligste Vermögen an religiösem Eifer und sittlicher Strenge, das der Mensch durch Treue zu seiner Berufung aufhäufen kann, ntcht als ein Vorteil betrachtet werden darf, sondern als ein Schaden vor Gott; es muß geradewegs mit dem Maße des Mülls, den man" um Christi willen" wegwirft (PhiI3,7-8), bewertet werden. So hat er sich auch einer wütenden Reaktion von Unverständnis und Opposition ausgesetzt; entrüstete Zweifel an seiner moralischen Integrität und an den verborgenen Zielen seiner Mission wurden laut. Man schrieb ihm den Grundsatz zu, es wäre nützlich, Böses zu tun, um Gutes zu empfangen (Röm 3,8), es wäre nötig,
ob
21 J. Jeremias, a.a.O., I, 120; vgl. N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung, Göttingen 1972, 135. 22 J. Jeremias, a.a.O., I, 120. 23 J. Jeremias, The Central Message of the NT, 70. Diese Behauptung scheint uns nicht der richtigen Beobachtung von W. Schmithals zu widersprechen, Jesus und die Apokalyptik, in G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie, Neutestamentliche Festschrift für Hans Conzelmann zum 60. Geburtstag, Tübingen 1975, 73: "Der historische Jesus rechtfertigt den Gottlosen nicht, so gewiß er als Apokalyptiker den Menschen in Erwartung der Rechtfertigung Gottes zur Buße ruft und dem Bußfertigen die kommende Gnade verheißt. Die Zusage der Rechtfertigung als gegenwärtiges Ereignis des Heils geschieht von Kreuz und Auferstehung aus oder sie geschieht gar nicht."
Die Rechtfertigung in den johanneischen Schriften
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auf der Sünde zu beharren, damit die Gnade überschwenglicher wäre (Röm 6,1-15). Es ging das Gerede über ihn um, seine letzte Absicht sei, das Gesetz Gottes umzustürzen und aufzuheben (Röm 3,31), wobei er natürlich mit verborgener List vorginge und das Wort Gottes verfälsche (2. Kor 4,2). Als er am Ende nach quälenden Kämpfen in Ketten nach Rom geführt worden war und er sich am Vorabend der Verurteilung in der entscheidenden Phase des Prozesses befand, stand ihm niemand zur Seite; alle hatten ihn verlassen (2. Tim 1,15; 4,16). Bis in sein letztes Geschick ergibt sich jedenfalls eine wesentliche Einheit zwischen Jesus und seinem größten Apostel in der Botschaft, die die Beziehung des Menschen zu Gott betrifft, und im Aufruf, das Leben nicht auf Aktion, Initiativen, Programme und Verwirklichungen des Mensclien, sondern auf den Glauben zu gründen. Von dieser gemeinsamen Botschaft·aus erscheint es als offenkundig, daß sich die Gerechtigkeit und das Reich Gottes dem Glauben enthüllen, sich von Glauben zu Glaube vermitteln, niemals außerhalb der Glaubensökonomie in den Verheißungen und den Erfüllungen Gottes verwirklicht werden können. Gerade deshalb haben sie eine universale Offenheit, unabhängig von völkischer, politischer, sozialer und religiöser Zugehörigkeit, eben weil sich ihr Statut nicht kraft menschlicher Werke, sondern kraft der Gnade allein und der souveränen Freiheit Gottes erhält.
3. Die Rechtfertigung in den johanneischen Schriften
Geht man von den synoptischen Evangelien über die paulinischen Briefe zu den Schriften, die die christliche Tradition dem Apostel Johannes zuschreibt, kann man ganz am Anfang den Eindruck gewinnen, daß das Thema Rechtfertigung aus dem johanneischen Vorstellungsbereich vollständig heraustritt. Gewiß, die paulinischen Begriffe "Rechtfertigung" und "rechtfertigen" Jehlenb~i lol1annes;clei' Begriff "Gerechtigkeit" -'Kommt -nur einmal vor (Joh 16,8); der Begriff "Heil" erscheint nur im Gespräch mit der Samariterin (Joh 4,22-42), das Verb "retten" in einigen wenigen zerstreuten Stücken (Joh 3,17; 5,34; 10,9; 12,47); der Begriff "Gnade" erscheint nur im Prolog (Joh 1,14.16.17). Darf man daraus folgern, Johannes kenne das Motiv des Heils aus Glauben nicht oder weise es zurück? Für ein genaueres Urteil muß man sich die Bemerkung Bultmanns vergegenwärtigen: wie in den Paulusbriefen der Begriff Gerechtigkeit Gottes die Vorstellung des Gottesreiches in den synoptischen Evangelien ersetzt, so treten in den johanneischen Schriften die Begriffe "Wahrh.eit". und "Leben" an dieStelle der Begriffe Reich Gottes und Gerechtigkeit Gottes. Wo Paulus von aliena iustitia spricht, könnte
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
man nach Johannes von aliena pax reden1• Der energische, früh verstorbene französische Theologe Theo Preiss hat mit unübertroffener Originalität vor Jahren seine Aufmerksamkeit den unerwarteterweise juridischen Strukturen gewidmet, in die diese Begriffe eingefügt sind. Preiss hat gezeigt, daß das Johannesevangelium "das große kosmische Drama der Ankunft des Reiches und seiner Gerechtigkeit" mit den großartigen Vorstellungen, die ihm eigen sind, entfaltet. Dabei lehrt er uns die Möglichkeit, die individuelle und subjektive Auffassung der Rechtfertigung zu überwiriaen,diewir von der pietistischen und rationali~tischen Theologie geerbt haben, und den objektiven,Aspektdesgroßen. Prozes~~~~iii-demsidi-G6ff üriddie Welt geg~p.ü~erst~l1en, atlfzunehmeri2 • "Die gesamte Geschichte Gottes mit der Menschheit ist in der Tiü nichts anderes als ein ungeheurer .Prozeß, bei dem es sich darum. handelt zu wissen, Wer Recht hat: Gottoder die vom Satan verführten Menschen? Und wo sind Gerechtigkeit und Wahrheit, Ungerechtigkeit undiÜge?"3 Wir bewegen uns im Rahmen eines juristischen Streites. Es folgen die Zeugen, deren Zeugnis die Tatsachen wiederherstellenmllß, daI!1itgp..!auf Licht fällt, was die Wahrheit ist, und das den Streit beenden muß4. Die Wahrheit ist, daß ER, der im Begriffe steht, von der Welt ver.urteitt.zu werden, "der einzige Gerechte und Wahrhaftige" istS • Der Prozeß beginnt mit dem Selbstzeugnis Jesu (Joh 3,32; 5,31; 8,13-14; 18,37), einem Zeugnis, das den Glauben an ihn wecken soll. Dieses Zeugnis wird nach jüdischem Recht von anderen Zeugnissen unterstützt, dem Zeugnis seiner Werke (Joh 5,36), dem Zeugnis Abrahams (Joh 5,39), dem Zeugnis Johannes des Täufers (Joh 1,7.19.32; 3,26; 5,33): Gott selbst schreitet ein, um Zeugnis abzulegen (Joh 5,37; 8,18)6. ,,~achderAJJfer!)t~lll!I!KK~_ht~~r 1 R. Bultmann, TheoI. NT, 364; ders., Das Evangelium des Johannes, Göttingen 195212 , 458. VgI. die Überlegungen H. Diems, Was heißt schriftgemäß? Neukirchen 1958, 43, in der Studie: Die Rechtfertigung in der johanneischen Theologie des Zeugnisses. VgI. weiterhin die Monografien: W. von Loewenich, Luther und das johanneische Christentum, München 1935, und C. Stange, Der johanneische Typus der Heilslehre Luthers im Verhältnis zur paulinischen Rechtfertigungslehre, Gütersloh 1949. 2 Th. Preiss, La justification dans la pensee johannique, in Hommage et reconnaissance, Recueil de traveaux publies a l'occasion du soixanm~me anniversaire de Kar! Barth, Neuchatel-Paris 1946, 104; jetzt in Th. Preiss, La vie en Christ, Neuchätel-Paris 1951, 46-64. 3 Th. Preiss, Le temoignage interieur du Saint-Esprit, Neuchätel-Paris 1946, 20. 4 Th. Preiss, La justification, 105-117. s A.a.O., 107. M. Barth, Rechtfertigung, Zürich 1969, stellt diesen prozessualen Einschlag in der johanneischen Theologie fest. 6 Ph. M. Menoud, La foi dans I'Evangile de Jean, in Les Cahiers bibliques de Foi et Vie, Paris o.J., I, Nr. 2, 35; J. Barr, The Factor of Testimony in the Gospel, ExpT 1938, 401ff; E. Burnier, La notion de temoignage dans le Nouveau Testament, Lausanne 1939; M. Barth, Der Augenzeuge, Zürich 1946; V. Subilia, Nota sulla nozione di testimonianza nel Nuovo Testamento, in Protestantesimo 4 (1949), 15; R. Speiser, Die Gestalt des Zeugen im Neuen
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..~_~~it~~i!~!~Y()L 4~~ j~il1,dlic:P~ll Vi~IL~r.4__ y()r~1!g~\\Te_i~e der Geist der Z~~~ S~i!!.~:Der Geist macht als Zeuge aus Jüngern Zeugen vor der Welt -\.Toh 1'"5,26)"7, indem er ihnen als Anwalt, als " Paraklet " , beisteht, um die Sache der Wahrheit zu unterstützen. Und die Wahrheit ist,. qaßjIJ) SQl1l1e Gottes. das Leben ist. "Und das ist das Zeugnis, daß uns Gott das ewige tebeiigege6enhat,~nd dies Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht (l.Joh 5,11-12)." Die Menschen werden entweder vom Geist der Wahrheit oder vom Geist des Irrtums geführt, und das Zeugnis der Wahrheit widersetzt sich dem Zeugnis der Lüge. Das Wort Jesu ist das Unterscheidungsmerkmal, das Annahme oder Ablehnung bestimmt. "So bewirkt sein Kommen die Scheidung zwischen denen, die seine Stimme hören, die sehend werden, und den andern, die seine Sprache nicht verstehen, die sich sehend wähnen und in ihrer Blindheit gefangen bleiben. "8 Der wesentliche Gegenstand des prozessualen Streites ist also die Rechtfertigung Jesu und die Rechtfertigung der Gläubigen, die für ihn Zeugnis ablegen. Hier kommt der Sinn des johanneischen Begriffs des Sieges über die Welt ins Spiel. "In der Welt habt ihr Angst; abeiseid getr()st, Ich Iiabe die Welfüberwuilden" ,sagt derJohährieische JesuS-·zu seinen Jüngern (Joh lo~33).Für die Gemeinde der Gläubigen heißt es: " ... unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat." (l.Joh 5,4) Man hat erklärt, daß "sieg@~in _~~~~.n_I~x!eI1.~~deut~t, 11lls__einelIl:Prozeß,ger~(;bJf~rtigt uIJ,d _i~~i_~~!~1l~g.~.!!~t:l9. In dem großen Rechtsstreit zwischen Gott und der Welt hat die Welt den Prozeß verloren, Jesus und die, die für ihn Zeugnis ablegen, haben ihn gewonnen. Aber das kann nur im Glauben ergriffen werden, sub contraria specie, in der Hoffnung und Erwartung des Tages der Offenbarung. "Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist." (1. Joh 3,2 b) In der Aussichtl!uf diesen Tag muß man das _Lebeni1ll91atlbeQ J~hJ;"~n. Wenn sie Jesus"fiagen: "Was" sollen WIr-tun; ·um- Gottes Werke zu vollbringen?", antwortet Jesus: "Das ist Gottes Werk, daß ihr an den glaubt, den er gesandt hat." (Joh 6,28-29) Es ist in diesem Zusammenhang der Mühe wert, an das große Kapitel zu erinnern, das Bultmann bei der Behandlung der johanneischen Theologie überschrieben hat: "Der Testament, in Gottesdienst und Menschendienst, E. Thurneysen zum 70. Geburtstag, Zürich 1958, 321; O. Michel, Zeuge und Zeugnis, in Neues Testament und Geschichte, O. Cullmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1972, 14. 7 Th. Preiss, La justification, 107. 8 R. Bultmann, Theo!. NT, 365, zu Joh 9,39. 9 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 434.458; Th. Preiss, La justification, 111; L. Goppelt, Wahrheit als Befreiung - Das neutestamentliche Zeugnis von der Wahrheit nach dem Johannesevangelium, in Was ist Wahrheit? Göttingen 1965, 80ff.
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
Glaube als eschatologische Existenz." "FürJohannes ist wie für Paulus der Gla.ul:J~4(!r Weg zum Heil, und zwar der Ghlube-aliein.-::-Vie Glaubensforderung ist aiso die Forderung an die Welt, ihre M~~st#be und 'Vrteile,ihr bisheriges Selbstverständnis. preiszugeben; . das ganze Gebäude ihrer Sicherheit... in Trümmer gehen zu jassen. Die innere Einheit mit dem Glaubensbegriff des Paulus... ist trotz der anderen antithetischen Orientierung deutlich. Der Glaube ist die Abkehr von der ~!tLc!~r_!\ktßer El1tWe.ltlichul1g,~He_~~~!sga~eder Scheirrsiehe.-m~lrtlJId
Lebenslüge, dieBereitschaft, ausdem Unsichtbaren un
Ehe wir fortfahren, wollen wir die Linie dieser Eingangsüberlegungen unserer Untersuchung ausziehen. Es erscheint uns legitim, festzustellen: wenn man die paulinische Predigt als eindringliche und treue Interpretation der Predigt Jesu bezeichnen kann, wenn selbst die Predigt des Johannes, die offensichtlich so unabhängig ist, sich an die wesentlichen Orientierungen der Predigt Jesu und des Paulus, soweit es die Konstanten der Beziehung zwischen Gott und Mensch betrifft, bindet - sei es auch mit formal völlig verschiedenen Begriffsbildungen und Ausdrücken -, wenn also die Rechtfertigung aus Glauben und das Heil aus Gnade nicht Ausdruck einer zufällige Polemik und einer fixen Idee eines Menschen sind, der in der christlichen Gemeinde des ersten Jahrhunderts isoliert und 10
R. Bultmann, Theo!. NT, 427ff.
Die Rechtfertigung aus Glauben und die Krise des Glaubens
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bekämpft erscheint, kommt man zu dem strengen Schluß, ~!L~h:~yor einer grundlegenden Botschaft stehen, einer Botschaft, die! ,ßl1S", cl~t
Ge-s~mllier.(4e:EWichtigsi~ri3ijiN~tienj'~~~im~nfYQrh~~ge~~!t~~~ims~e
in ihren verschiedenen Ausdrucksfol'JIlen durchqricht. Es kann sich folgIiCli-mchfum-elne'lefztHch' ket~~~isch~ K~n"dgebung eines partikularistischen, konfessionellen Interesses handeln, gebunden an einen begrenzten Augenblick christlicher Geschichte und an einen beschränkten Sektor christlicher Kirchen, die man an den Rand des Interesses und der christlichen Diskussion verbannen kann. Will man sich hier jedoch fragen, welchen Beitrag zur Erhellung und Orientierung für den Glauben und für die Predigt die jüngsten exegetischen Untersuchungen geleistet haben, um dieses zentrale Element der Botschaft genau zu bestimmen, bleibt man verwirrt. Zweifellos hat sie' in der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler einen ziemlich großen Raum erhalten im Vergleich zu dem, der ihr nach der peremptorischen Disqualifizierung durch,Wrede, Wernle und Schweitzer zugedacht zu sein schien1• Aber wenn man das weite Feld der exegetischen Arbeiten in unserem Jahrhundert und ihre komplexe Problematik prüft, bei denen man vielleicht eher von auseinanderlaufenden und manchmal unversöhnlichen Tendenzen als von einer herrschenden Grundtendenz sprechen muß, kommt man zu dem Schluß, daß sich auf der Ebene der Theologie des Neuen Testamentes zerstreute Anstöße finden, die zuweilen ganz anregend sind; man kann jedoch keine Interpretation feststellen, der durch Nähe zu Text und exegetischem Gehalt eine überzeugende Autorität eignete, so daß man sie vorbehaltlos und mit evangelischer Befriedigung annehmen könnte. Geht man von der Exegese aus, was die Rechtfertigung betrifft, solll!t man den Eindruck, daß man der marxistischen Bestreitung und dem ökumenischen" Relatlvisiiiusnichts wahrhaft Gültiges (;!lltgegellkann. Diese"Untersüdiüngen gehen' uns "keine 'genügend wirksalu:eii-'Gegen"gifte an die Hand, um sich die komplexhaften Ängste vom Rücken zu schütteln, man könne dem marxistischen Bewußtsein, der Epo~h~ ,.als_"WQlkenfijI].ger ,J'1ll4 .als~J!üc1itttiig'vor'aer· 'geSchlclliHchen Verantwortung, dem ökumenischen' BeWußtsein der Kirchen aber als verspäteter Polemiker, der sich derbrüderlicheJl Liebe und dem Ver~ ständlli~ für ßie Ü'lJ~~2;~ug!lllgell der artclerenl{0niessionen ye,rs,chli~ßt, erscheinen.. Man gewinnt del1.. verwirrenden Eindruck, daß die Exegese bis iU,rYe.rg~~a.ltigung der Texte ~lisiipt, um sfesagen zu hissen, was. sie nicht sagen, 'Um sie so"iriitdenTendenzen der Epoche iD:GIeldisdirih
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1 J. Schniewind, Die Rechtfertigungslehre des NeuenTestamentes und ihre Bedeutung für die Gegenwart, in H. J. Kraus (Hg.), Julius Schniewind. Charisma der Theologie, Neukirchen 1965. Vgl. den bereits zitierten Artikel: W. Dantine, Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit, VF 11 (1966), 68ff. Ein anderer Gesichtspunkt: A. M. Denis, OP, Saint Paul dans la litterature recente, EThL 26 (1950), 405.
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
zu bringen und sie von dem Verdacht eines geheimen Einverständnisses mit einer Ideologie zu befreien,diedem Individuumun4cif!Ill,S}l:~tem auf der Suche nach religiösen TröstungeIl. dient, umd das eigene schlechte, sOziale Gewissen iuefiragen u.nd Schweigen zu bringen. Das heißt, hinter dem ganzen philologischen und historisch-kritischen Apparat verbirgt sich ein heimlicher MaIlgel anFreiheit,?er der Ex:~g~§.~,yefbi~!et, den Sinn der Botschaft authentisch zu erfassenuhd ihn niit überzeugender Kraft unter dem Volk der Gläubigen zu verbreiten. Dieses Volk der Gläubigen ist bestenfalls aus Konventikeln zusammengesetzt, die wohl mit viel Eifer und Inbrunst beseelt erscheinen können, die aber im konkreten Fall gegenüber den Problemen, die auf dem Spiele stehen, unwissend bleiben. Sie leben am Rande der Geschichte, damit beschäftigt, ihre Interessen zu pflegen, die sich auf den eigenen religiösen Egoismus beschränken. Sie sind unfähig zu lllAssigIlarisc~em Schwung, der mit universalistischer Offenheit begahtwäre, um die-eigene geIstliche Verantwortung gegenüberdemqualVQllen Sichentwickeln derZivilisatlon wahrzunehmen, um so eine nützliche Aufgabe angesichts des Verderbens des Merischen in der Geschichte zu erfüllen. In der Mehrzahl der Fälle ist dieses Volk aus Zerstreuten ohne entschlossene Ausrichtung zusammengesetzt, deren einziges Band in einer sporadischen liturgischen Zusammenkunft besteht und deren gemeinsames Kennzeichen ein Geist der Ungewißheit und der Schüchternheit, ja fast der Scham gegenüber jener Botschaft zu sein scheint, von der sie dunkel bemerken, daß sie die Verantwortung haben, sie der Welt, die sie umgibt, zu übermitteln, ohne jedoch jemals erfolgreich die Kraft der Überzeugung und die fröhliche Freiheit des Glaubens zu erlangen. So kann man die Alternative, die sich unseren Blicken darstellt, in folgenden Worten ausdrücken: Stehen wir vor der Rückkehr einer Erscheinung, die schon einmal im Laufe'derchiistHc:hen GeschiChtefllatz hatte? Wir denken an das christologische und trinitarische Dogma, das die Christen des 4. Jhs. leidenschaftlich bewegte und ihnen als "articulus stantis vel cadentis ecclesiae" erschien. Heute wird es noch nicht einmal mehr verneint oder bestritten; im Grunde·ist~s in 'den Hhitergl'urid ~erbannt und praktisch uribekannt. Wenige erkennen seine bestimmende unaunersetzlic:he Funktion uridwagen, es zu behandeln, wobei sie der Unbeliebtheit ihrer Abhandlungen ansichtig werden. Erleidet die Botschaft der Rechtfertigung_aus Glauben und des Heils aus Gnade dasselbe Schicksal? Wären wir also schicksalhaft einer Folge VOll Teilinteressen unterworfen, so daß wir niemals über einen vollen Glauben verfügen, in dem alle Elemente des Evangeliums ihre Iebendig~.~Ei[l!P~jl.Usüh~l), und über eine Predigt, der die Gesamtheit der christlichen Verkündigung verliehen ist? Hat die Verkündigung, die gestern in einer Epoche, die für die Dimension des Einzelnen offen war, ein unbegrenztes Gehör zustim-
zum
Die Rechtfertigung aus Glauben und die Krise des Glaubens
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mend und ablehnend gefunden hatte, heute in einer Epoche, die für die Dimension des Kollektivs offen ist, ihren Zauber und ihre Kraft verloren? Wird sie als eine Abstraktion betrachtet, die keinem der Faktoren entspttctl:t;·lt!~d~eheutige-W~Ifsorgeiiyölf. bewegen? Wäre also auch das Evangelium selbst in der Authentizität seiner Inhalte durch die geschichtlichen Bedingungen und den kulturellen Rahmen geprägt, um so die Autorität der Überzeugung und schließlich der Wahrheit gemäß den Modeströmungen zu erwerben oder zu verlieren sowie sich immer im Schlepptau fremder Instanzen zu bewegen? Wären also die Korrekturen, die die neuere Exegese angebracht hat, nicht von objektiven Ergebnissen der Exegese selbst geboten, sondern von äußeren Elementen, die dazu neigen, die Exegese unter ihre Voraussetzungen zu beugen und zu versklaven? Oder - das ist die andere Seite der Alternative - erklärt sich auf dem Hintergrund einer viel beunruhigenderen Frage der Eindruck des Anachronismus und der Ungelegenheit, das Zögern, fast das Verbot freimütig und in Freiheit, ohne Scham und Komplexe in der festen Überzeugung und mit ausdauerndem Vertrauen von dieser Botschaft zu reden - einer Botschaft, die doch als absolut grundlegend gilt, die man unterrichten, predigen, und zum Gegenstand des Nachdenkens und der Diskussion machen muß? Ist es die Frage, ob die Unmöglichkeit oder zumindest die Schwierigkeit, die Hemmung zu überwinden, nicht zu tun hat mit etwas, das unvergleich tiefer und ernster ist als die Teclirii~en de~ UDtersüchungen, als diEtTeiidenzen und Gegenhmdenzen de.I K:ultur, als die sozialen Bedürfnisse der Epoch~, u~d~Q~4llJlg~meÜteL\11~ ~i~ J)gJäJifgl{eTCdes." geschiC1itlic~en 'Menschen zum Gleichgewic~t und zur Ganz1i(~lJIJJre'I?iigi{s!.ob"drese'Heriilriurig nlchtlrihder'Krise des Glaubens ~zus_~~~~~gt~.Wenn·däs·Herzüiid 'die -geheime Substanz' dieser' B"ötsenatt der Glaube ist, wie soll es möglich sein, davon in einer festen und freien Sprache zu reden, wenn der Glaube selbst in einer Krise steckt? Ließen wIr 1.1ns· vielleIcht tauschen; als· WIr die theologledesTodes'Gcittes als eine anfechtbare Eigentümlichkeit einer unansehnlichen Gruppe junger amerikanischer Theologen betrachteten, die schnell außer Mode war, während sie unser kollektives Bewußtsein in einer viel tieferen Weise verletzt und zermahlen hat als es die Oberfläche vermuten ließ? Oder hat nicht vielmehr jene Theologie die stellvertretende Aufgabe übernommen, mit lauter Stimme zu sagen, was unser Pharisäismus lieber verschweigt und geheim hält? Man kann auf diese Fragen nur dann mit hinlänglicher Grundlage und kritischer Gewißheit antworten, wenn man sich über den Sinn der Botschaft im klaren ist. Erweist sich die Exegese als unzureichend, um die Elemente für diese Klärung zu liefern, könnte man denken, man habe mehr Glück, wenn man sich der systematischen Theologie zuwendet. Es P
3 Subilia, Rechtfertigung
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Die Diskussion in der neutestamentlichen Forschung
wäre weder der erste noch der einzige Fall, in dem die systematische Theologie den entscheidenden Beitrag zum Entdecken der biblischen Botschaft in ihrer Authentizität leistet, wobei sie eine ihrer Aufgaben erfüllt, nämlich Kritik zu üben und Anreiz für jene Exegese zu sein, von der sie im Prinzip doch abhängt. Der Aufweis philosophischer tlIld selbst ~--politischer und soziologischer Kriechtschäften,cf~n~nsichdieExegese hin und wieder beugt, ist einimschätzbarerDienst, deiThr~r Freiheif-und Autoritätge1eistetwird.Könnenwir also in unserem Fall behaupten, die Sackgasse, die dIe Theologie des Neuen Testaments bei der Anstrengung, die Fülle der Bedeutung der Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben und des Heils aus Gnade zu erfassen, blockiert, sei auf der Ebene der systematischen Theologie zu überwinden? Das heißt, können wir den Anspruch unterstützen, die systematische Theologie sei in diesem Fall ohne Sünde und immun gegen ideologische Kompromisse? Wir werden erst dann in der Lage sein zu antworten, wenn wir die verschiedenen dogmatischen und konfessionellen Typen und Gruppen der Interpretation, die bis in unsere Tage aufeinander gefolgt sind, durchgemustert haben werden2 •
2 Vgl. die einleitenden Betrachtungen von W. Dantine, Die Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen systematischen Arbeit der evangelischen Theologie, EvTh 23 (1963), 245ff.
2.
KAPITEL
Die judenchristliehe Tradition 1. Paulus und Jakobus
Das Reden von der Rechtfertigungslehre und ihren widerstreitenden Ausformungen könnte dazu verleiten, daß man zuallererst denkt, die polemische Antithese, die sie kennzeichnet, müsse auf das 16. Jahrhundert und den Ausbruch der Reformation zurückgeführt und der Trennung der abendländischen Christenheit, die daraus folgte, angelastet werden. Es genügt jedoch eine kurze geschichtliche Besinnung, um die Haltlosigkeit dieser Datierung offenkundig erscheinen zu lassen. Es wäre nur scheinbar paradox und übertrieben, zu behaupten, daß die Antithese auf das 1. Jahrhundert zurückgeht. Wir sagen damit nicht: die katholische Lehre - nicht einmal in nuce -, wohl aber ihre Voraussetzungen, die zur Entwicklung der katholischen Lehre führen werden, finden sich in den Texten des Neuen Testamentes selbst. Mit dem Unterschied, daß das, was im Neuen Testament eine bekämpfte Randerscheinung ist, später die beherrschende Stellung einnimmt und die amtliche Weihe erhält. Vielleicht hat man nicht genügend beachtet, daß Paulus in seinem Kampf für die Rechtfertigung aus Glauben nicht gegen die Juden, sondern die Judenchristen kämpft, gegen Christen jüdischen Ursprungs, die es in einer mehr als relevanten Zahl in den christlichen Gemeinden des ersten Jahrhunderts gab. Die Lehre des Judenchristentums beabsichtigte bestimmt nicht, die Bedeutung des Ereignisses Christus gegenüber dem alten Gesetz zu leugnen, sondern eine Symbiose aus beiden Instanzen zu schaffen, indem es zur gleichen Zeit vomHell aus Glauben und vom Heil aus Werken redete. Typischer Ausdruck dieser Tendenz ist der Jakobusbnef, in dem die paulinische These, nach der "der Mensch durch die Werke des Gesetzes vor Gott nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben" (Gal 2,16, vgl. Röm 3,28), buchstäblich auf den Kopf gestellt und gegen einen ungenannten "törichten Menschen" (Jak 2,20) behauptet wird, daß "der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durclL den Glauben allein" (Jak 2,24; vgl. GaI2,16!). DasgleiChe klassische Beispiel Abrahams wird von Paulus (Röm 4) und Jakobus (Jak 2) in entgegengesetzter Weise mit entgegengesetzten Folgerungen interpretiert. Indem Jakobus den Begriff Synergismus (2,22) benutzt und die Formel "allein aus Glauben"zuruckwelst (2,24), nimmt er in Auffassung und Ausdruck die lange Geschichte der konfessionellen Streitigkeiten der folgenden Jahrhunderte vorweg. Die Formel der Theologie des Sowohl-als auch und der complexio oppositorum ist schon geprägt. Nicht umsonst wird seit
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einigen Jahren auf dem Feld der neutestamentlichen Wissenschaft eine früher unbekannte These diskutiert: Der Frühkatholizismus im Neuen Testament. Die Diskussion innerhalb des Urchristentums muß außerordentlich hart gewesen sein, wenn in einigen {\bionitischen Tex~n der Ungenannte, auf den sich Jakobus bezieht, klar'äIsdie'Pei·son des Rl:ll!h!s, gekennzeichnet wird, der "als Irrgeist (3tAaVO~ tL~ - 2Kor 6,8), als Feind (ExttQ6~- GaI4,16)", ja geradewegs als der Böse (&VtLXEC!LEVO~ - 2 Thess 2,4) diffamiert wird, "der in der Kirche Christi Haeresie gestiftet habe. Seine Lehre verunglimpfen sie als tO E'UaYYEALOv 'ljJE'UÖE~"l. Im übrigen hat sich Marcion, der große Ketzer des 2. Jahrhunderts, vorgenommen, das paulinische Evangelium der freien Gnade wiederherzustellen, die "verführte"2 und "die ,in Judaismus versunkene' Kirche" zu refonnieren3 , wie Tertullian bezeugt. Auch innerhalb der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung wird die These vom Eindringen einer restaurativen Bewegung zur Rejudaisierung des Christentums in die evangelischen Texte selbst vertreten4 • Man kann Jakobus und seinen synergistischen Rechtfertigungsbegriff als offene Opposition gegen Paulus verstehen, wie es Luther tat, der erklärte, der Jakobusbrief, der die Rechtfertigung auch den Werken zuschreibt, widerspreche Paulus und der ganzen Schrift und sei eine "strohern Epistel" ohne jeden evangelischen InhaltS. Man kann Jakobus als Korrektiv eines falsch verstandenen Paulinismus in dem Augenblick, als der Glaube abgenommen hatte, oder bei Personen, bei denen er keinen Bestand hatte, verstehen, wie es Calvin tat, nach dem Jakobus gegen "ein leeres Scheinbild des Glaubens" auf der Seite der Leute kämpfte, die "ein liederliches Leben" unter "einer nackten und eingebildeten Maske des Glaubens" führten; er fordere also von den Gläubigen "eine Gerechtigkeit, die sich durch Werke äußert"6 und habe 1 H. J. Schoeps, Die ebionitische Wahrheit des Christentums, in: The Background of the New Testament and its Eschatology, Studies in Honour of C. H. Dodd, Cambridge 1956, 118. Vgl. vom selben Verfasser die bedeutenden Untersuchungen: Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949; Aus friihchristlicher Zeit, Tübingen 1950; Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis, Tübingen 1955. Weiter J. Danielou, Theologie du JudeoChristianisme, Tournai 1958, 75. Historisch ist es offenkundig zu unsicher, aus den späten Schriften, in denen die zitierten antipaulinischen Ausdriicke vorkommen, Schlüsse zu ziehen, die sich auf die Situation des 1. Jahrhunderts beziehen. 2 Tertullian, Adversus Marcionem 1,20. 3 F, Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte I, Halle 19505, 83. 4 E. Stauffer, Die Botschaft Jesu, Bern-München 1959, 9. Stauffer behauptet, dieser ersten Bewegung der Umformung, d. h. der kulturellen Belehnung des Christentums, seien später andere geschichtliche Prozesse gefolgt, die Hellenisierung, die Romanisierung, die Germanisierung und heute vielleicht die Amerikanisierung des Christentums. Vgl. S. Schulz, Die Mitte der Schrift. Der Friihkatholizismus im Neuen Testament, Stuttgart-Berlin 1976. 5 WADB 6,10; 7,385. 6 Inst. (frz.), In, 17, 11-12.
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sich nicht vorgenommen, die Lehre der freien Rechtfertigung ausdrücklich zu behandeln7 • In diesem Fall, könnte man hinzufügen, wurde das, was damals nur als ein notwendiges Korrektiv beabsichtigt war, wenig später zum -Systems. ~~iichderTübinger Schule und den berühmten Thesen F. C. Baurs, die das ganze Leben des apostolischen Jahrhunderts am judenchristlichpaulinistischen Gegensatz aufhängten, ist auch noch heute eine Kontinuität lutherischer Interpretation zu registrieren, wenn man seitens bedeutender Exegeten wie Bultmann behauptet, im lakobusbrief sei das spezifisch christliche Element "auffallend dünn" vertreten, so daß man denken kann, der Verfasser habe einfach eine jüdische Schrift umgearbeitet 9 , wie schon 1895 1. Massebieau10 und 1896 F. Spittall behaupteten. In dem Brief fehle "jegliches Verständnis für die christliche Situation als die Situation des ,Zwischen"', und er erscheine als in keiner Weise mit der paulinischen Botschaft versöhnbar. Paulus "hätte bestimmt dem Satz zugestimmt, daß ein Glaube ohne Werke tot ist (2,17.26), nie aber der These, daß der Glaube mit den Werken zusammenwirkt (2,22)"12. Man muß jedoch notieren, daß die neuere Exegese mehr der Lösung Calvins zuneigt in dem Sinne, daß der Begriff des Glaubens bei Paulus und Jakobus als ein wesentlich unterschiedlicher Begriff aufgefaßt wird, der in zwei historisch und kirchlich unähnlichen Situationen gedacht worden ist. Dieser Fall bestätigt die zu oft unterbewertete Regel, nach der die Hörer bei der Formulierung der Botschaft mitarbeiten und ihren Ausdruck nicht nur durch verschiedene Akzentsetzungen, sondern auch durch abweichende Aussageformen bestimmen. "Paulus hat seine Front, wenn er den Glauben akzentuiert, die Front einer illusionären spätjüdischen Werkgerechtigkeit. Jakobus hat seine sehr andere Front, die mit der des Paulus nicht verwechselt werden darf, die Front einer gefährlichen Inkonsequenz christlicher Existenz. "13 Wenn es also Polt,!miltgab, gann wäre sie nicht gegen Paulus, sondern gegen falsche Paulinisten gerichtet gewesen, die-sich -die-paulinischen -Formelrt -zunutze -machten; -um ein form.iiustisches und heuchlerisches Christentum zu bekennen, das nichts 7 Vorwort Calvins zum lakobuskommentar, CR 55, 381. K. Barth, Das christliche Verständnis.:ler Offenbarung, München 1948, liegt auf der calvinistischen Linie, wenn er S. 17 bemerkt, daß es im Kanon keinen Platon, sondern einen lakobus gibt! 8 W. Marxsen, Der "Frühkatholizismus" im Neuen Testament, Neukirchen 1958, 36. 9 R. Bultmann, Theo!. NT, 496, 515. 10 L. Massebieau, L'epitre de lacques est-elle l'oeuvre d'un chretien? RHR 32 (1895), 249, zit. bei 1. Marty, L'Epitre de lacques, Paris 1935, 251. 11 F. Spitta, Erklärung des lakobusbriefes als ursprünglich jüdischer Mahnschrift, 1896, zit. bei W. G. Kümmel, Art. Bibelwissenschaft 11, RGG3, 1, 1244. 12 R. Bultmann, Theo!. NT, 514.515. 13 G. Eichholz, Glaube und Werk bei Paulus und lakobus, München 1961, 44-45 (ThExh 88); L. Goppelt, a.a.O., 11, 539ff.
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mehr mit der Predigt des Paulus gemein hatte14 • Es war gerecht und notwendig, diese falschen Gläubigen der zweiten christlichen Generation auf die Probe zu stellen, indem man sie aufforderte, mit konkretem Gehorsam ihren vorgeblichen Glauben zu beweisen, der nichts anderes war als "eine Karikatur des Glaubens "'5. "Ein Glaube, der nicht zur Tat wird, ist für Jakobus eine Unbegreiflichkeit. Jakobus kann ihm kein Existenzrecht in der Kirche zubilligen. "16 Dieser Realismus des Briefes konkretisiert sich auf einem Hintergrund, den man in der Nähe der gegenwärtigen sozialen Sorgen unserer entchristlichten, weil von einem theoretischen Christentum enttäuschten Welt ansiedeln kann. Die Haltu~ der Reichen, die keinen Gedanken an die Lebensbedingungen der Armen verschwenden, die sich in ihrem angeblichen Glauben beruhigen, aus dem sie ein rechtfertigendes Alibi für ihre Tatenlosigkeit machen, statt einen Anreiz für Taten der Gerechtigkeit, wird vor Gott und den Menschen als unerträglich bewertet und als eine Verleumdung des Glaubens verurteilt, die den Aufstand der Unterdrückten und Ausgebeuteten sowie die Unerbittlichkeit des göttlichen Gerichtes provoziert (Jak 2,14-17; 5,1-6)'7. Der soziale Konflikt zeigt auf der Ebene des Feststellbaren den Konflikt zwischen der Zweideutigkeit eines Glaubens, der nicht in seinen Inhalten, sondern für die Außenseite lebt, und der Redlichkeit der Tat. "Ein ,Glaube für sich selbst'(ein Glaube, der sich auf sich selbst zurückziehen könnte und ein Reich nur der Innerlichkeit begründen würde), kann in der Theologie des Jakobusbriefes nicht vorkommen, weil er dem Grundzug des Jakobusbriefes widerspricht. "'8
14 W. Marxsen, a.a.O., 33; G. Eichholz, Jakobus und Paulus. Ein Beitrag zum Problem des Kanons, München 1953, 38 (ThExh 39); E. Lohse, Glaube und Werke. Zur Theologie des Jakobusbriefes, ZNW 49 (1957), 1ff; M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, Göttingen 1959 ' °, 168 (H. Greeven, Hg.). Die These einer antignostischen Polemik, die H. Schammberger, Die Einheitlichkeit des Jakobusbriefes im antignostischen Kampf, Gotha 1936 und H. J. Schoeps, Theol. u. Gesch. d. Judenchr., 343, vertreten, scheint nicht auf einem sicheren und überzeugenden Grund zu ruhen trotz der Abschnitte, die zum Teil sehr unbestimmt sind, Jak 1,13-15 und 3,13-18. 15 G. Eichholz, Jakobus und Paulus, 46. Die Datierungen, die die Kritiker für diesen Brief vorschlagen, schwanken außerordentlich. Sie gehen von der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts bis ins erste Viertel des 2. Eichholz (Jakobus u. Paulus, 23ff, Glaube u. Werk, 37) plädiert für ein Datum, für das nüchterne und haltbare Gründe sprechen, um 80. Der Verfall des christlichen Bekenntnisses und dazu die Polemik gegen die Rechtfertigungslehre paulinischen Ursprungs, die schon falsch verstanden und dazu ihres Inhaltes entleert ist, lassen einer späteren Datierung den Vorzug geben. Außer den verschiedenen Einleitungen ins N.T. vgl. G. Kittel, Der geschichtliche Ort des Jakobusbriefes, ZNW 41 (1942), 71ff; ders., Der Jakobusbrief und die apostolischen Väter, ZNW 43 (1950--1951), 54ff. 16 G. Eichholz, Glaube u. Werk, 44. 17 J. S. Soucek, Zu den Problemen des Jakobusbriefes, EvTh 18 (1958), 460ff. 18 G. Eichholz, a.a.O., 41.
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Was soll man von dieser Lösung halten, die wir als calvinistisch definiert haben? Ihre grundlegende Inspiration scheint auf harmonisierenden Voraussetzungen zu beruhen, die verschiedenen Ursprungs sein können. Aufgrund dieser Voraussetzungen gerät die Opposition zwischen Paulus und Jakobus in die Gefahr, relativiert und auf einen Unterschied der Situation, nicht aber auf einen Unterschied des Bekenntnisses gegenüber gemeinsamen christlichen Bezügen reduziert zu werden, vielleicht weil man im Jakobusbrief keine Theologie, sondern nur eine Ethik findet, wie M. Dibelius und K. Aland behauptet haben19 • Aber auch das Fehlen einer Theologie ist Theologie. Es ist von relativem Interesse, sich zu fragen, welches die Voraussetzungen dieser versöhnlichen Lösung sind. Vielleicht sind die Folgerungen vom apologetischen Interesse an der Ei!lh~tg.es känQris~~L~l"~QI~ßf Dies_e Sm'g~_war zw~ifellos bei Calvin im -Spiel, der, obwohl er genau wußte, daß der Jakobusbrief in der Alten Kirche lange umstritten war und daß die Diskussion über seine Kanonizität auch zu seiner Zeit noch andauerte20 , niemals von einer Haltung strenger Anerkennung des ganzen evangelischen Zeugnisses abwich21• Auch fehlt bei gegenwärtigen calvinistischen Forschern nicht die theologische Verteidigung gegen ein willkürliches und illegitimes Antasten gewisser Teile des Kanons, die sie sich zwingen zu erklären, weil sie vor deren Beseitigung aus dem Kanon zurückschrecken. Das ist keine apologetische Haltung im Interesse vorgefaßter Positionen, sondern eine Haltung, der es darum geht, jedwede Position der Kritik des evangelischen Wortes zu unterziehen, ohne subjektive Entscheidungen zu treffen und ohne das Monopol eines Kanonelementes zum Schaden für andere zu errichten. Dafür dürfte die Anwesenheit des Jakobus im Kanon nicht im Namen eines paulinischen Ausschließlichkeitsanspruchs verworfen werden, sondern müßte als ein Zeugnis aufgenommen werden, das schließlich jenseits geschichtlicher und polemischer Zufälle sich providentiell als propaulinisch .enthüllt, um die paulinische Botschaft vor möglichen entstellenden Interpretationen zu schützen22 • Dieser Versuch kann unter systematischen Gesichtspunkten recht sein. Aber er löst nicht unser Problem und setzt die Textegewissen kritischen und theologischen Zwängen mit harmonisierenden Zielen aus. 19 M. DibeJius, a.a.O., 19.47; K. Aland, Art. Jakobusbrief, RGGl, 3, 527. Zur These des Vorkommens einer Theologie im Jakobusbrief vgl. R. Hoppe, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes, Würzburg 1977. 20 eR 55, 381. 21 Inst. III, 17,11 "Nun lehrt derselbe Geist durch den heiligen Jakobus, daß unsere Gerechtigkeit auf Werken beruhe und nicht nur auf dem Glauben. Gewiß widerspricht der Geist nicht sich selbst: Worin besteht also die Eintracht?" 22 G. Eichholz, Jakobus u. Paulus, 48, "So aber steht Jakobus - für Paulus im Kanon ... Auch Jakobus soll nicht für sich allein stehen."
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Vielleicht sind es zweitens die rekatholisierenden Tendenzen, wie sie Diem nannte23 , die in einigen Teilen des gegenwärtigen Protestantismus nicht fehlen, die die harmonisierende Lösung veranlassen. Als klares Zeichen des Verlustes der evangelischen certitudo zielen diese Tendenzen darauf, die Einheit der Kirche wiederherzustellen oder, wie man sie oft nennt, die evangelische Katholizität. Aber die Absicht, Ökumenismus zu treiben, endet mit der Einführung einer pseudoökumenischen Theologie des Kompromisses. Wir meinen, es handelt sich nicht darum, allzu stark das Prinzip der Kanonizität .im Falle eines· Briefes zu unterstreichen, der im Kanon Muratori fehlt und dessen Kanonizität seit den ersten Jahrhunderten zweifelhaft und diskussionswürdig erschienen ist. Wir nieitietiferner, daß die heutigen verbreiteten Tendenzen zur Versöhnung den Interessen derselben ökumenischen Sache keinen guten Dienst erweisen, wenn sie die Klarheit des theologischen Urteils aus dem Blick verlieren. Jedenfalls ist die Frage des Jakobusbriefes nicht entscheidend, weil der Brief selbst nur ein Fragment eines viel weiteren Kontextes ist, eine einfache Episode in einer Schlacht, die das gesamte apostolische Christentum erschüttert hat: die zähe und ausdauernde Opposition der judenchristlichen Kirchen gegen die paulinische Botschaft der Rechtfertigung, wie sie uns durch den Briefkorpus in allen seinen Teilen bis zu einem späten Brief der Gefangenschaftszeit an die Philipper belegt ist24 • Folglich kann man sagen, abgesehen von der mehr oder weniger überzeugenden Interpretation, die man von der Ausrichtung des Jakobusbriefes und seines Bezuges zum Paulinismus geben kann, bleibt die Tatsache mit vollem Gewicht, daß schon in der apostolischen Kirche der Streit über die Rechtfertigung sehr lebhaft gewesen ist. Ohne die Geschichte zu vergewaltigen, kann man ruhig behaupten, daß die Formeln einer Theologie des aut-aut, des solus Christus, der sola gratia, der sola fides schon vollständig und breit in den 23 H. Diem, Dogmatik - Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, München 1955, 205, benutzt den Ausdruck gerade wegen der Beziehung zwischen der Predigt des Paulus und des lakobus. Cfr. M. Lackmann, Sola fide. Eine exegetische Studie über lakobus 2, Zur reformatorischen Rechtfertigungslehre, Gütersloh 1949. 24 Wir halten diese Behauptung für gültig, auch wenn die historische Forschung nach Baur seine Intewretation in dem Sinne zurechtgerückt hat, daß sie bei der antipaulinischen Opposition größere und geringere Härte unterscheidet. Nach diesen Folgerungen gewinnt die Vemmtung an Raum, daß die Vertreter der treibendsten und radikalsten Tendenzen nicht notwendigerweise mit lakobus und der Umgebung, die sich um ihn sammelte, identifiziert werden können, auch wenn sie sich auf ihn berufen (Gal 2,12 "einige, die von lakobus kommen"). Es kann keine so engen direkten Beziehungen gegeben haben wenigstens am Anfang -, wenn lakobus akzeptiert hat, mit Paulus einen Vertrag zu schließen, um sich die Arbeitsgebiete zu teilen (Gal 2,9). Vgl. 1. Eckert, Die urchristliche Verkündigung im Streit zwischen Paulus und seinen Gegnern nach dem Galaterbrief, Regensburg 1971.
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Texten dokumentiert sind, die uns die paulinische Botschaft überliefert haben, der die Judenchristen mit unbeugsamer Beharrlichkeit die vorbereitenden Formeln einer Theologie des et-et und der complexio oppositorum entgegensetzten. Auch in diesem Fall kann man folglich die These Käsemanns wirklich nicht ernsthaft bestreiten, die uns nur dann paradox erscheinen mag, wenn wir auf den geschichtlichen Sinn verzichten. "Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheitder Kirche", sonae-rnvlelmelir: "die Vielzahl der Konfessionen". In ihm haben "wir nicht nur erhebliche Spariiüingen,sonderilnicht selten auch unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren". Deshalb können wir gegenüber dem neutestamentlichen Zeugnis nie die Sicheren und die beati possidentes, sondern nur unsichere und versuchliche Menschen sein, die als solche ununterbrochen die Scheidung der Geister ausüben sowie sich dem Hören und Glauben öffnen müssen25 • Der Gegensatz zwischen Paulus und Jakobus, allgemeiner zwischen Paulus und den Judenchristen, erscheint uns in keinem Maße dem Unterschied in Perspektive und Sprache dem Gegensatz ähnlich zu sein, der zwischen der paulinischen Literatur und der synoptischen Tradition besteht, wie einige Kritiker behauptet haben26 • Bei diesem Gegensatz stehen zwei Grundrichtungen, was den Bezug des Menschen zu Gott betrifft und die Bedeutung des Ereignisses Christus selbst auf dem Spiel. Sie lassen sich legitimerweise als zwei abweichende Glaubensbekenntnisse bezeichnen. Auch wenn man diesen Gegensatz auf einen Streit der Mentalität zurückführen wollte, indem man einerseits einen theologisch ausgerichteten Glauben, andererseits einen praktisch ausgerichteten Glauben sieht, müßte man doch gewisse genauere Feststellungen erreichen. Der theologisch ausgerichtete Glaube, typisch für den Paulinismus, kann gewiß der intellektuellen Versuchung und Entartung ausgesetzt sein, wenn er von seinen Bezugspunkten abgeschnitten wird, das heißt, wenn er konkret aufhört, er selbst zu sein. Aber in seiner ursprünglichen Authenzität ist die Tat eingeschlossen. Der praktisch ausgerichtete Glaube, typisch für Jakobus 27 , wird von richtigen Sorgen um die evangelische Verwirklichung E. Käsemann, Exeg. Vers. u. Bes. I, Göttingen 1970 6, 221.218.223. W. Schmithals, Paulus und Jakobus, Göttingen 1963, 99. Mit anderen Argumenten behauptet auch J. Munck, PauJus und die Heilsgeschichte, Kopenhagen 1954, die grundlegende Übereinstimmung zwischen Paulus und Jakobus, zwischen den heidenchristlichen und judenchristlichen Kirchen. 27 M. Dibelius, a.a.O., 48, definiert ihn als Laienaktivität, als wäre ein bewußter Glaube den Laien verschlossen, und als hätten sie nicht die Kategorien, um die Grenzen des Pragmatismus zu überwinden: Jesus war ein Laie! Die Tradition aller Kirchen hat Jesus restlos klerikalisiert, wobei sie diese Tatsache vergessen hat und weiterhin vergißt. 25
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bewegt, läuft aber Gefahr, sich in der Tat zu erschöpfen, weil er die Bezugspunkte aus dem Gesicht verliert, die sie bestimmen, und er sich so in eine gesetzliche Praxis und in einem fortgeschritteneren Stadium in Anthropologie und Soziologie auflöst. . . Jenseits der Grenzen einer phänomenologischen Gegenüberstellung muß man sich hier fragen, was das' geschichtliche Schicksal dieses Gegensatzes gewesen ist. Historisch wenigstens muß man feststellen, daß die Instanz Jakobus einem Christentum horizontalen Typs Raum gegeben hat, institutionell und gesetzlich. So kann er auch heute in einem noch größeren Abstand von jenen fernen Ursprüngen und in einem Zustand ausgesprochener Säkularisation einer Gesetzlichkeit soziologischer und politischer Zwangsstrukturen Raum geben.
2. Der Untergang des Paulinismus in der nachapostolischen Generation
Geht man von den harten Gegensätzen des apostolischen Zeitalters ins 2. Jahrhundert hinüber, hat man das Empfinden einer friedlichen und ruhigen Atmosphäre nach dem Sturm. Wenn man sich jedoch fragt, ob eine Übereinkunft zwischen den beiden entgegengesetzten Gesichtspunkten erreicht wurde, wird man enttäuscht. Wegen der bloßen und einfachen Tatsache, daß einer der beiden Gegner verschwunden ist, kann man kein Vorhandensein einer Übereinkunft feststellen. Dies ist -einer der symptomatischen Aspekte dieser beunruhigenden Erscheinung, die beladen ist mit Folgen von säkularem Gewicht, nämlich dem Untergang der . paulinischen Botschaft in der nachapostolischen Generation. Die gleldien Kreise, die er beeinflußt hatte, sinken sehr sdiriell-auf die Stufe einer ethischen und kirchlichen Gesetzlichkeit in vollem Gegensatz·zu seiner Lehre der Gnade und der christlichen Freiheit herab, wie uns dies große Teile der Pastoralbriefe belegen. In diesen Texten klingen noch hier und da zerstreut in unorganischer Weise paulinische Gedanken an, während "wichtige Begriffe der paulinischen Theologie aber teils verschwunden sind, teils ihre alte Bedeutung verloren haben"!. Im einzelnen: Neben der isolierten Behauptung, die sich bei Tit 3,5-7 findet, "rettete er uns -nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit... damit wir durch seine Gnade gerecht 1 R. Bultmann, a.a.O., 533, vgl. 468. Zum Konflikt zwischen Judenchristentum und Paulinismus in der Perspektive der Pastoralbriefe (und der Apokalypse) vgl. die interessante Monographie von U. B. Müller, Zur urchristlichen Theologiegeschichte, Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert nach Christus, Gütersloh 1976.
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geworden, Erben des ewigen Lebens werden, wie es unsre Hoffnung ist" , wird die "Gerechtigkeit" zwischen andere Tugenden und Werke sittlicher Rechtschaffenheit eingeordnet (1. Tim 6,11; 2. Tim 2,22; 3,16) und der "Gerechte" mit einem Menschen identifiziert, der sich gut und anständig führt (1. Tim 1,9; Tit 1,8). Der am häufigsten erhobene Anspruch ist nicht der Glaube, sondern eine ruhige Frömmigkeit, "für den, der genügsam ist" (1. Tim 6,6; 4,7-8), aber auch großzügig unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt der Wohltaten; und sie sollen "sich dadurch einen Schatz sammeln als guten Grund für die Zukunft, damit sie das wahre Leben ergreifen" (1. Tim 6,18-19: ein Gedanke ohne Analogie, sondern in Antithese zu Mt 6,19-21, trotz der terminologischen Affinität, wie auch zu 1. Kor 3,11). Kurz: im Mittelpunkt steht nicht der Gläubige der "Gerechtigkeit", die Gott im gekreuzigten und auferstandenen Christus offenbart hat, sondern der religiöse Mensch, der neben anderen beispielhaften Tugenden wie Liebe, Keuschheit, Beständigkeit, Milde auch Glauben hat und haben muß (1. Tim 4,12; 6,11), einen "ungeheuchelten" Glauben (1. Tim 1,5; 2. Tim 1,5). Die Figur des Paulus selbst, des Predigers einer nicht eigenen Gerechtigkeit, sondern einer "die von Gott kommt, aufgrund des Glaubens" (Phil 3,9), wird entstellt, wenn man sein Verhalten in vollem Gegensatz zu dem darstellt, was seine Predigt gewesen war. Er, der den Gläubigen in Galatien gepredigt hatte: "Seht, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen ... Ihr habt Christus verlo~en, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seil aus der Gnade herausgefallen" (Gal 5,2+4) und ohne Halbheiten erklärt hatte, daß der, der ein anderes Evangelium verkündigt oder ihm folgt, ein Umstürzler sei, der des Bannes würdig ist (Gal 1,6-9), wird nun im Rahmen des versöhnlichen Irenismus, der die Apostelgeschichte durch~~eht, als ein sorgfältiger Erfüller aller Vorschriften des mosaischen Gesetzes geschildert, als einer, der Timotheus, den Sohn eines Griechen, beschneidet (Act 16,3), d~r sich den Kompromissen der Jerusalemer Konferenz (Act 15,5-35) sowie der Zucht des naziräischen Gelübdes und der Reinigung im Tempel· unterwirft, um zu zeigen, daß auch er sich ,.verhält wie einer, der das Gesetz erfüllt, und um die umlaufenden Gerüchte als unbegründet zu erWeisen, nach denen "du alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose lehrst und sagst, sie sollten ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den jüdischen Ordnungen leben" (Act 18,18; 21,20-26)2. G. Harbsmeier sagt etwas 2 Zum Problem müßte man die gesamte Literatur von Baur bis heute erwähnen. Zum Nichtpaulinismus der Apostelgeschichte beschränken wir uns auf Ph. Vielhauer, Zum " Paulinismus " der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950-51), Hf; E. Haenchen, Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte, ZNW 54 (1963), 155; Chr. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas' Darstellun-
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übertrieben, der Katholizismus könne sich selbst legitimieren, wenn er sich auf die Apostelgeschichte berufe3 • Es ist jedenfalls klar, daß der Verfasser des Buches das Kreuz Jesu als einen Justizirrtum und als Schuld der Juden betrachtet (Act 13,27-29), daß er dessen Bedeutung nicht unter dem Gesichtspunkt des Heils und der Rechtfertigung begreift, die er nUr mit wenigen unbestimmten Formulierungen erwähnt (Act 13,28-29; 20,28), und also den Radikalismus der paulinischen Botschaft nicht ver. steht, in der das Kreuz als das Ende aller Wege des Gesetzes und als die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes erscheint, die die Unvereinbarkeit zwischen dem Gesetz und Christus erzeugt 4 • So gilt für die Schriftsteller des 2. Jahrhunderts: "KeineLäer sog. apostolischen Väter verwendet mehr ,Gerechtigkeit Gottes' als Begriff. "5 Die Gläubigen dürfen sich nicht täuschen, schon· die . Rechtfertigung erlangt zu haben (Barn 4,10; 15,7). Nur wenn er die Gerechtigkeit vor Gott übt, wird der Mensch in sein Reich eintreten können und die Verheißungen erlangen (2. Clem 11,1-7); die Rechtfertigung ist nicht so sehr eine Frage des Glaubens, sondern eher des Handeins, um gerettet werden zu können (2. Clem 19,3). Dem Herrn mit reinem Herzen zu dienen, ist die Bedingung, um gerecht zu werden (2. Clem 11,1). Auch wenn ohne eine organische Verbindung mit den Gedanken des Kontextes die Aussage vorkommt, daß man aus Gnade und nicht durch Werke gerettet wird (Polyk 1,3; 1. Clem 32,4) und Christus das Unterpfand unserer Gerechtigkeit ist (Polyk 8,1; Dg 9,3f), ist der Glaube nicht auf Christus als die Eröffnung einer völlig neuen Beziehung zwischen Gott und Mensch konzentriert. Es taucht auch nicht die Spannung Glaube Werke auf und die Rechtfertigung erscheint nicht konzipiert als etwas, was schon geschehen ist, auf der Grundlage des Ereignisses Christus, das im Glauben empfangen wird, sondern als eine Sache, die sich für die Zukunft ~bz~ic1!net und die man erhofft, gewiß auf der Grundlage seines Tödes und seiner Auferstehung, aber auch des Glaubens und der Gebete der Gemeinde (Ign Phld 8,2), oder sogar auf der Grundlage der Großzügigkeit bei Almosen, denen man einen Sühnewert zuschreibt (Did 4,6; 2. Clem 16,4). Letztlich kommt es dazu, daß die Gerechtigkeit "im Sinn der rechten Lebensführung den Sinn von ,Frömmigkeit' gewinnt "6. Die Ethik wird nicht als die fröhliche Verwirklichung der Dankbarkeit und des Dienstes unter der Perspektive der Berufung Gottes und im Bewußtsein gen der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970. Die wesentliche Bibliographie hat B. Corsani, Introduzione al Nuovo Testamento I, Turin 1972, 269ft zusammengestellt. 3 G. Harbsmeier, Unsere Predigt im Spiegel der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950-51), 362. 4 Ph .. Vielhauer, a.a.O., 9-13; G. Harbsmeier, a.a.O., 358. 5 P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1965, 11. 6 R. Bultmann, a.a.O., 561.
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der Sündenvergebung gesehen, sondern als ein Wert, den man vor Gott zur Geltung bringt, um diese Vergebung zu verdienen. Es ist von tiefer Bedeuiiing,",liilrslcb='wie"[oöfs-6emerkt - gerade im Heidenchristenturn, dem Arbeitsfeld, das sich der größte Apostel der "Gerechtig:KeifGbttes" vorbehalten hatte (Gal 2,7-8),.die_pa!l:liniscl:J.~ . Tradition nich(_b~hauptet hat. Die nachapostolische Literatur verrät "zwar--pa:1.iiimschen Einfluß und eine Lektüre paulinischer Briefe", aber man kann bei ihr wirklich kein Verständnis, auch kein allgemeines und entferntes, des paulinischen Denkens feststellen 7 • Das Evangelium des Paulus ist das in seiner Generation unverstandene Evangelium, das in der unmittelbar folgenden Generation vergessen wurde. Auch was die Kirchenväter späterer Epochen betrifft, von Irenäus von Lyon bis Hippolyt von Rom, von Tertullian von Karthago zu Klemens von Alexandrien und Cyprian, "hat keiner der alten Kirchentheologen ein genuines Verständnis der paulinischen Problematik mehr gehabt"8. Diese Erscheinung mag im Licht geschichtlicher Gründe erklärbar erscheinen, insofern als die Problematik nachfolgender Kirchenschriftsteller eine andere war. Sie war nicht und konnte nicht mehr jüdischer Herkunft sein. Ihr Christentum fügt sich in Voraussetzungen ein, die auf die hellenistische und römische Kultur zurückgehen. Die Tatsache bleibt, Paulus blieb "einsam und ohne Nachfolge, und das Schicksal seiner Botschaft wurde tragisch"9. Fünfzehn lange ~ahrhunderte des Schweigens, mit Ausnahme der Entdeckung einiger echt paullnischer Gedanken durch Marcion, dann Augustin, lasten auf der Stimme des Apostels. Die Wiederentdeckung vollzieht sich aber in beiden Fällen in einem komplexen Kontext, der nicht mehr der paulinische ist, und sie wurde in jedem Fall schnell vom kirchlichen Konformismus erstickt. Die Kirche hat seit den Ursprüngen "nur den alten judenchristlichen Einwand gegen Paulus aufgenommen". "Nur ein katholisierter Paulus ... , ist anerkannt und kanonisiert worden. "10 All dies schlägt schwer auf die Übermittlung der Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes zurück. "Das Herzstück der paulinischen Verkündigung: die Rechtfertigung durch den Glauben ... war für die frühkatholische Kirche einfach nicht vertretbar." 11 Ein "christlicher Pharisäismus" hat seinen Platz eingenommen12 • Die Botsclläft -wir((mchfzuruckgewle:
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F. Loofs, a.a.O., I, 66. H. J. Schoeps, Paulus, Tübingen 1959, 290. 9 A.a.O., 290. 10 A.a.O., 291-292. Ich habe diese Gedanken über den Untergang des Paulinismus den maschinenschriftlichen VorJesungsnachschriften entnommen: V. Subilia, Studi paolinici I, Rom 1961-1962, 2; vgl. E. Aleith, Paulusverständnis in der alten Kirche, Berlin 1937; K. H. Schelkle, Paulus Lehrer der Väter, Düsseldorf 1956. 11 H. J. Schoeps, a.a.O., 280. 12 A.a.O., 282. 7
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sen. Man kann ihre Elemente noch verstreut aufspüren, ohne daß aber die Grundvoraussetzungen die notwendige Hervorhebung erfahren: auch wenn ihre charakteristischen Formeln zitiert werden, versteht man sie ganz offensichtlich nicht. Den Beweis für dieses völlige Unverständnis liefert die Tatsache, daß die Formeln der entgegengesetzten Auffassung angeglichen werden, gegen die sich der Apostel Paulus mit ganzer Kraft aufgelehnt hat, weil er sie als Aufhebung des Ereignisses und der Bedeutung Christi betrachtet hat. Die Polemik zwischen den entgegengesetzten Fronten wurde hinfällig, weil die Problematik, die sie hervorgerufen hat, in eine reziproke Symbiose eintrat und der gesetzliche Bestandteil die Oberhand gewonnen hat, so daß das Paradox der Botschaft gezähmt wurde. Offensichtlich ist diese dem Maßstab des Evangeliums widersprechende Zusammenstellung nie einer theologischen Kritik unterzogen worden. Das mangelnde Bewußtsein und die fehlende theologische Wachsamkeit dieser Periode, die das geschichtliche Scharnier zwischen dem apostolischen und nachapostolischen Christentum bildet, hat unabsehbare, verhängnisvolle Folgen für die spätere Entwicklung der Kirche gehabt.
3. Der Kompromiß zwischen den Tendenzen
Die Angleichung zwischen der pharisäischen Frömmigkeit und der Predigt Jesu, zwischen der Gesetzeserfüllung des Judenchristentums und der Freiheit der Gnade und des Glaubens, Eigenheiten des Paulinismus, zwischen dem Leben gemäß der Welt und dem Leben gegen die Welt, einer Eigenheit des johanneischen Evangeliums, stellt die Konstante der gesamten späteren Entwicklung der kirchlichen Lehre und Praxis dar. Die Spannungen des apostolischen Jahrhunderts haben, ehe sie ihre konfessionelle Gestalt annahmen, selbst im Innern der katholischen Kirche ständig wechselnd weiterexistiert; aber im Namen eines als höher angesehenen Bedürfnisses, nämlich der Einheit der Kirche, wurden sie derNiVellierung und Neutralisierung unterworfen. Von der Rechtfertigungslehre im Busen des Katholizismus zu reden, entspricht dem Nachzeichnen der Geschichte zweier entgegengesetzter Tendenzen, deren eine nie ein völliges Übergewicht über die andere gewann, und die unter dem Zurückweichen auf einen ständigen Komprorniß zusammenleben mußten. Diese~ Komprorniß stellt kein zufälliges Akzidens dar, sondern hat langsam dIe Seele des Katholizismus- gebildet, sowohl in bezug auf diese Lehre als auch auf alle anderen Ebenell, wie man zum Beispiel beim Prozeß der Wiedereinführung des Priestertums, bei der GottesdienstordnuIlg, bei der Bindung des Heils an den Sakraments empfang usw: sehen kann. Das hängt nicht so . sehr von äußeren Ursachen einer ethischen Verweltlichung ab, sondern von einem grundlegenden theologischen Mißverständnis. Nach unserem
Der Kompromiß zwischen den Tendenzen
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Urteil handelt es sich um ein mangelndes Verständnis für die Folgen, die sich aus der Ersetzung. der Heilsökonomie des Gesetzes durch die Heilsökonomie Christi ergeben. Der schnelle Untergang des Bewußtseins der Erfüllung und der Erwartung des Gottesreiches, das im apostolischen Christentum so lebendig war, und das immer weitere und spürbarere Eindringen der begrifflichen Kategorien jener hellenistischen Welt, in die man bei der Ausbreitung der christlichen Botschaft gegangen war, haben Veränderungen von unberechenbarer Tragweite erzeugt. Es wäre interessant zu erforschen, ob und in welchem Maße alte Elemente der judenchristlichen Gesetzlichkeit und neue Elemente der sakramentalen Mystik der hellenistischen Mysterien zum neuen Bewußtsein der Rechtfertigung beigetragen haben. An dieser Stelle können wir uns darauf beschränken, zu registrieren, daß die Rechtfertigung einen Prozeß der Individualisierung und Sakrameritalisierong erleidet:-]Jem Sakrameht-wircreine "tiltige Wirksamkeit zugeschrieben in '-der Absicht, die Erlösung zu vergegenwärtigen, wobei das Zeichen seiner Spannung auf eine eschatologische Bestätigung des Glaubens beraubt wird. Dafür wird es mit einem gesetzlichen Wert bekleidet; es wird zur Bedingung für den Eintritt des Eingeweihten ins Gottesvolk. Das ruft die Funktion, die' das Judenchristentum der Beschneidung zuwies, ins Gedächtnis. Die Beschneidung wird christlicherseits nur formal abgelehnt. In Wirklichkeit wird sie in ihrem rituellen Wert, durch hellenistische Elemente vielleicht beschwert, durch die Taufe ersetzt. Die Taufpraxis, die den Bruch mit dem Gesetz' und seiner Gerechtigkeit anzeigen sollte, errichtet im Gegenteil eine Kontinuität mit dem Gesetz. Sie stellt sich als eine christianisierte gesetzliche Frömmigkeit dar; sie wird "tatsächlich Beschneidung"!. Nur der Name ist verändert. VO[l der Taut~.!lffassllng c;les Paulus gibt es keine Spur mehr, und der GIaube an die Gerechtigkeit Gottes läuft Gefahr, sich in eine kirchliche Ideologie im Dienste der sozialen Anpassung zu verwandeln. Parallel dazu entsteht seit Tertullian und Cyprian die neue Vorstellung, die gewisse Werke der Frömmigkeit, die als Ausgleich für die nach der Taufe begangenen Sünden wirken müssen, um den Zorn Gottes zu besänftigen, als zur Rechtfertigung nützliche Verdienste qualifiziert. Man hat gesagt: "Der Ursprung des Verdienstgedankens in der altchristlichen Theologie ist bis heute keineswegs in befriedigender Weise erforscht. "3 Aber es ist klar, daß der Verdienstgedanke das ethische Gegengewicht für die Einführung des rituellen Elementes in die Rechtfertigung ist, d. h. der G. Harbsmeier, a.a.O., 357. A. Benoit, Le bapteme chretien au second siede, Paris 1953, 227f. 3 F. K. Schumann, Reformatorisches und römisch-katholisches Verständnis der Rechtfertigung, Berlin-Hamburg 1969, 69. 1
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Änderung der ursprünglichen, eschatologischen Perspektive. Qa_s Sakrament, das aller christologisch-eschatologischen Spannung beraubt -ist, nimmt den objektiven Wert einer getätigten, verwirklichten Erlösung an. Trotz dieser verändernden Wirksamkeit, die man der Taufezllsdlrelbt, sündigt der Getaufte aber weiterhin. Also kommt die Idee der Genugtuung auf. Nicht umsonst verbinden sich die Begriffe satisfacere und satisfactio mit den zu diesem Zweck für gültig angesehenen Taten eines beginnenden Asketentums, das auf einem anthropologischen Dualismus hellenistischen Ursprungs beruht - gute Werke, Almosen, Gebete, Fasten, Ehelosigkeit, Martyrium -, nicht nur zugunsten der eigenen Sünden, sondern auch zugunsten jener der anderen. Tatsächlich kommt man sehr bald schon bei Cyprian dazu, das Verdienst, ganz besonders das größte Verdienst des Martyriums, als wirksam auch für die Sünden der schwächeren oder weniger begabten Brüder aufzufassen: als eine Art verlängerung der Erlösung, die Christus gewirkt hat, als Werk der Gläubigen, was schließlich eine unvorhergesehene Ausweitung der judenchristlichen Voraussetzungen darstellt4 • In der Tat überschreiten diese Werke, die als verdienstlich und an der endgültigen Rechtfertigung mitwirkend betrachtet werden, die Grenze dessen, was von Gott zwingend verlangt wird, sie sind supererogatoria. Alle diese Taten sind mit der Bußzucht verbunden. Es würde genügen, an den Gebrauch dieses Begriffs in seinen immer komplexeren gesetzlichen Entwicklungen zu denken, um zu ermessen, wie das Verständnis der IlE'tuvOLa, die in der ursprünglichen Predigt Jesu gefordert wurde, der Erneuerung des Sinnes oder des Sinnes Christi, die Gegenstand der Predigt des Apostels Paulus war, der Neugeburt oder der Geburt von oben der johanneischen Predigt, völlig auf den Kopf gestellt wurde. Man versöhnt, was Paulus für unversöhnlich erklärte, außer man hebt die "Gerechtigkeit" auf, die Gott in Christus offenbart hatte. Den Glauben ohne die Werke des Gesetzes ersetzt man durch den Glauben mit den Gesetzeswerken; an die Stelle des Werkes Gottes für den Menschen und im Menschen tritt das Werk Gottes in Zusammenarbeit mit dem Werk des Menschen5 • Aber, wie Käsemann bemerkt hat, hört die Rechtfertigungslehre auf zu 4 J. Riviere, Art. Merite, DThC XII, 574; E. Schott, Art. Verdienst N, RGG3, 6, 1266; G. Aulen, Christus Victor - La notion chretienne de redemption, Paris 1949, 119; F. Loofs, Leitfaden I, 160f; R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte II, Leipzig 19304 ; J. Quasten, Patrology, Utrecht o.J., 340; M. Lods, Precis d'histoire de la theologie chretienne du II.e au debut du IV.e siede, NeuchateI1966, 113; J. N. D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse Geschichte und Theologie, Göttingen 1972; B. Poschmann, Buße und letzte Ölung, Freiburg LBr. 1951, HDG N13. 5 Y. Congar O. P., Merite in L'Evangile hier et aujourd'hui, Melanges offerts au Prof. Fr. J. Leenhardt, Genf 1968, 198.
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existieren, wenn man ihr die sie erhaltende Spannung und den ihr wesentlichen polemischen Charakter nimmt. "Sie bleibt nicht, was sie ist, wenn man ihre Antithetik abschwächt oder aufhebt... Sie wird paralysiert, wenn man ihr die Angriffspitze nimmt, und hat eben deshalb Theologie und Kirche nur selten zu bestimmen vermocht. "6 Es ist in der Tat zweifelhaft, ob man zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert noch mit irgendeinem Grund von Rechtfertigung sprechen kann. Die hebräische Auffassung der "Gerechtigkeit Gottes" verschwindet aus dem Gesichtskreis, und bis zum Streit zwischen Pelagius und Augustin im 4. Jahrhundert gibt es keine Belege, die genügen, um die Rede darauf zu bringen. Ein Forscher, der unserem Thema zahlreiche Arbeiten gewidmet hat, Wilfried Joest, konnte sagen: "In dem Zeitraum von Paulus bis Augustin ist eine theologische Reflexion, in der ein Ausgleich zwischen der Formel ,aus Glauben, nicht durch Werke' und der praktizierten Werklehre gesucht würde, noch kaum erkennbar. "7 .'
4. Die Synthese Augustins
Das Wiederauftauchen paulinischer Gedanken und Ausdrücke in den augustinischen Schriften kann nur als ein positives Ferment, das ungeheure Entwicklungen in sich birgt, begrüßt werden. Man muß es aber ebenfalls mit kritischer Vorsicht werten, wobei man alle Elemente des Kontextes berücksichtigen muß, die es relativieren. Pelagius1 hatte, erschreckt über die Flut Neubekehrter, die in die Kirche eIiifiaten, ohne einer Vorbereitung und evangelischer Zucht unterworfen zu sein, energische Kontrollen und sittliche Garantien gefordert, ohne aber die ethische Erneuerung auf eine solide Glaubensgrundlage stellen zu können, womit er Christus in einen neuen Mose und das Evangelium in ein Gesetz der ethischen Strenge verwandelte, das fähig ist, die Rechtfertigung des Sünders zu erzeugen. In seinem Kommentar zum Römerbrief des Paulus (406-409) erscheint das Evangelium im Grunde als eine Radikalisierung des Gesetzes, und de:r Glaube stellt sich als dif! verantwortliche Annahme der eviliigehschen "nova lex" dar. Augustin wertet gegen Pelagius 6 E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 126. Käsemann fügt hinzu, daß man heute "seine Polemik bestenfalls noch historisch begreift. Dazu trägt bei, daß Toleranz und Neopositivismus gegenwärtig Polemik als Äußerung subjektiver Gefühle werten und ihr die Pflicht zur Objektivität entgegenhalten" (S. 126). 7 W. Joest, Art. Rechtfertigung 11, RGGl, 5, 829. Joest erinnert an gewisse extreme Entstellungen der Botschaft, z. B. an das Wort des Ambrosius, De Elia 20,76: "Du hast Geld, kaufe deine Sünde los." 1 C. de Plinval, pelage. Ses ecrits, sa vie et sa reforme, Lausanne 1943, 119. 2 R. Lorenz, Art.: Pelagius und Pelagianismus, RGGl, 5, 206f; J. Ferguson, Pelagius, A
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machtvoll die Notwendigkeit der Gnade auf, wobei er die Schwere der Sünde und die Unmöglichkeit, sie ohne göttliche Hilfe zu überwinden, unterstreicht3 • Bei der Erörterung der pelagianischen Voraussetzungen zeigt er, daß die Liebe die völlige Erfüllung des Gesetzes ist und der Mensch weder frei ist, Gott, noch seinenNachsten zu lieben. Denri. die sui. Gott allein kann den einzige Kraft, die ihn beseelt, ist der _.Menschen erneuern und neu schaffen. ~r bewirkt dit~se Erneuerurigund Neuschöpfung nicht auf der Grundlage oder in der Voraussicht menschlicher Verdienste, sondern nur kraft der freien Entscheidung seiner Wahl. Augustin behauptet schließlich, "die Gerechtigkeit Gottes heißt hier nicht die Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist, sondern die, die Gott dem Menschen gibt, damit der Mensch bei Gott gerecht wird"4. Er beruft sich auf Röm 1,17, um zu erklären, daß der Gerechte aus Glauben lebe5 , und daß dieser Glaube nicht dem freien Willen, noch vorhandenen früheren Verdiensten irgendeiner Art zugeschrieben werden dürfe,·söfiaern als ein reines Geschenk Gottes betrachtet werden müsse, das er umsonst gibt, das nur von der Gnade und nicht von irgendeinem Verdienst abhängt6 • Jedoch erlaubt er trotz seiner antipelagianischen Polemik, statt die Pflanze des Synergismus an der Wurzel abzuschneiden und den Menschen völlig in Gott zu gründen, eine Doppelheit der Beziehungen, die es ihm nicht gestattet, sich ganz von der judenchristlichen Hypothek zu befreien, die er von der vorausgehenden theologischen Tradition ererbt hat. Augustin fügt die leuchtenden Sterne, die er bei der Erforschung des neutestamentlichen Himmels entdecken konnte, in eine n(!l!pla!on!~che}~.Q.Il~tf;!lla !ion ein, wodurch die Gnade als inspiratio dilectionis und die Gerechtigkeit als Einflößung einer verändernden Kraft erscheint. Diese lIiterpretationhaf philosophische Einflüsse, die früher . sini:rals Augustin, die Augustin jedoch systematisch geordnet hat und die in die Strukturen des gesamten folgenden katholischen Denkens eingegangen sind. pie Auffassung der Gnade als Einflößung übernatürlicher Kräfte ind~I1 Menschen durch die "das liberum· arliitrium unterstützt wird in verdieristlich~m Wirken den -eöhn -des ewigen Lebens"7, geht über Ter6.iIIiiii-auf stoischen Ursprung zurück und nimmt bei Augustin die Farben der
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für
historical and theological Study, Cambridge 1956; T. Bohlin, Die Theologie des Pelagius und ihre Genesis, Uppsala-Wiesbaden 1957; R. F. Evans, Pelagius Inquiries and Reappraisals, New York 1968. 3 A. Guzzo, Agostino contro Pelagio, Turin 19342 ; J. Chene, La theologie des Saint Augustin. Grace et predestination, Lyon 1961; H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, Göttingen 19652 • 4 A. Augustinus, In Johannis Evangelium Tractatus 26, MPL 35, 1607. 5 Ders., Contra duas Epistulas Pelagianorum, 3, 5, MPL 44, 598. 6 Epistula 194, Ad Sixtum presbyterum romanum, MPL 33, 877; De praedestinatione sanctorum, 2, 3, MPL 44, 959f. 7 F. Loofs, a.a.O., I, 126.
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neuplatonischen.Mystik an, deren Urquell man als eine Spiritualisierung der Naturreligion auf pantheistischem Hiritergrund bezeiChhethat8 .Loofs konnte 'biiiimpten: "Augustin hat Pauhis 1m LICht des Neuphitonismus verstanden, nicht nur neuplatonische Vorstellungen als Darstellungsmittel für paulinische Gedanken verwertet." Er hat in die Problematik der evangelischen Botschaft die fremde "Welt der neuplatonischen Mystik" eingefügt, ohne siCh "des unkirchlichen Charakters" der Ei.Irlügung bewußt zu weiden 9.DieAntithesebesteht nicht mehr zwischen den 'Werken der eigenen Gerechtigkeit und dem Glauben an die Gerechtigkeit Gottes, die im Ereignis Christi erschienen ist. Ein langer Prozeß setzt siCh hier in Bewegung, der von der Gnade, die von der lichten Geistigkeit der augustinischen Mystik als gratia infusa, gratia inspirationis, als Grund des adhaerere deo verstanden wurde, zur Gnade der sakra.mtmtal~n Verdinglichung der mittelalterlichen Scholastik führen wird. Diese Gnade wird als eine transzendente und unpersönliche göttliche Kraft verstanden, die mit der menschlichen Natur in einen Zustand der Symbiose eintritt, wodurch diese erhobenundverändert wird. Sie hängt der Seele an und verleiht ihr eine neue Form, eine "göttliche Qualität". Dabei verwirklicht sie eine wirkliche Metamorphose (die griechisch-orientiilische Theologie wird geradezu von einer "VergÖttlichung" sprechen). Der Mensch hört so auf, ein sündiges, von Gott getrenntes Geschöpf zu sein, das dennoch zum Glauben an ihn berufen ist, einem Glauben, der vertrauensvolle Gemeinschaft mit Gott ist,aber auf keine Weise mit dem Göttlichen vermischt ~!r<:l. Im verdorbenen physischen und' sittlichen Organismus des Menschen wirkt ein Stoff fortschreitender Heilung; dadurch erscheinen die "natürlichen Kräfte" des Menschen nicht mehr in dieser ihrer Eigenschaft. ,/ Denn es spielt sich ein Prozeß der Verbindung dieser "natürliche,1). J(räfte" mit "übernatürlichenJ
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ausrichtet, aber ohne daß diese unterschiedliche Orientierung die Wirklichkeit des menschlichen Lebens des Gläubigen in all seiner Relativität und Fraglichkeit auslöscht. Man muß von der Vergegenständlichung dessen im Menschen sprechen, was Gott für ihn vollbracht hat, so daß ein Übergang von der Kategorie des Wortes zur Kategorie des Seins eintritt, von der Kategorie der Gabe und des Glaubens zur Kategorie der Stru.ktur und des Besitzes mit ungeheueren Folgen nicht nur für die persönliche Frömmigkeit, sondern auch für die Stellung der Kirche gegenüber der Gesellschaft. Auf diesem Weg wird sie schicksalhaft dazu geführt, sich aus . der Gemeinde der Gläubigen in eine heilige Institution umzuwandeln, deren Verhaltenimmer gerechtfertigt ist und die in ÜbereinstiinnlU.ng mit ihrer Eigenschaft als Stellvertreterin Gottes und seiner Rechte von der Welt Achtung und Ehre verlangt. Wie wir sagten, handelt es sich um einen Vorgang, der sich über Jahrhunderte erstreckt. Augustin gelangt auf der Spur Plotins dahin, vom Geheimnis der Einwohnung Gottes b~iden Menschen zu reden, durch das sie "participes naturae ipsius"io-werden, "quia etiios ipse sumus"ll, Es ist also verständlich, daß es bei Augustin, den man doch als Lehrer der Gnade betrachtet, eine zweite Argumentationsreihe gibt, in der von einer Mitwirkung mit der Gnade und von Verdiensten seitens des Menschen die Rede ist. Vergegenwärtigt man sich nicht den Hintergrund der augustinischen Mystik, kann man nicht das geheime Band erfassen, das die unter sich widersprüchlich erscheinenden Prinzipien verbindet. Den Thesen Augustins über die ursprüngliche Absolutheit der Gnade und Erwählung, die wir oben angeführt haben, stehen in der Tat in seinem umfangreichen Werk andere Thesen zur Seite, die eine völlig anderslaufende Richtung darstellen, Er verficht die Existenz eines "merügm fidei", obwohl er genau erklärt, daß "cum Deus coronilt merita nostra, nihilaliud coronat quam dona sua"12, Er bestreitet, daß der Glaube ohne Werke erretten kann13 , und verbindet das "iustificari ex fide" mit dem "iustificari caritate", indem er meint, der Glaube rechtfertige nur insofern, als er sei "ea fides quae per dilectionem operatur"14, Er betrachtet die Möglichkeit einer Gewißheit des Glaubens an die rechtfertigende Erwählung als eine überhebliche Anmaßung15 , womit er klar zu verstehen gibt, daß diese Rechtfertigung von ihm nicht so verstanden wird, als sei sie auf den einzigen Grund Christus, sondern auch als sei sie auf die Mitwirkung des --. ~"-
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Epistula 140, 10, MPL 33, 542. In Johannis Evangelium, 140, 6, MPL 35,1929; vgl. H. Rondet, SJ, Gratia Christi, Paris 1948, 99ff. 12 Epistula 194, MPL 33, 877. 13 Contra duas Epistulas Pelagianorum, 3,5. MPL 44, 598f. 14 F. Loofs, a.a.O., 11, 313-321. 15 Ders., a.a.O., 11, 329. 10
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_M~sche~Kegründet, s() daß sie nicht am Anfang, sondern. am Schluß des christlichenWegesaIs Ergebnis aller'seiner Elemente stehf Diese Ergebnisse' werden durch die Tatsache bestätigt, daß die augustinische Erlösungslehre wegen der Überschneidung mit rationalistisch-moralischen als auch ästhetisch-eudämonistischen Fermenten (im Hinblick auf das "Genießen" Gottes als "summa pulchritudo") eine schillernde Struktur hat, die keine klare Hervorhebung der Funktion Christi erlaubt. Auch beim späten Augustin kommt gelegentlich eine sonderbare Unterscheidung zwischen der Gnade und Christus zum Vorschein, als wäre Christus nur der Weg zur Gnade: ein Christus, der folgerichtig als "magister" und "exemplum" verstanden wird, dem man in der "imitatio" seiner "humilitas" folgen-muß"6. Das Hauptwerk der Gnade wird in der Tat als eine "inspiratio bonae voluntatis atque operis" begriffen, und die Rechtfertigung ist "per gratiam reparata natura", damit der Gottlose, zum Gerechten geworden, die Gerechtigkeit wirken könne17 • Diese und ähnliche Auffassungen, die in der zweiten augustinischen Argumentationsreihe verstreut sind, stellen "die Eingangspforte für ,semipel(igillnische'Gedanken" dar, die in der folgenden römischen Theologie niemals besiegt wurden"8 • Wegen der in diesen Auffassungen vorhandenen Ambivalenz konnte Barth die augustinische Gnadenlehre alseinGift bezeichnen, das gemeinsam mit der gesunden Speise des Evangeliums in den Körper der Kirche eingedrungen sei19 • Und zur Lehre, die in der katholischen Kirche daraus abgeleitet wurde, mit ihren zwei Aspekten, deren Voraussetzungen zum ersten Mal im Denken Augustins systematisiert wurden, bemerkt er: "Wieder läßt sich der gemeinchristliche Charakter dieses Glaubens nicht verkennen, sofern hier mit dem Begriff des handelnden Gottes, des grundsätzlichen Außerhalb aller menschlichen Möglichkeiten als der Quelle dogmatischer Erkenntnis wenigstens im Ansatz Ernst gemacht ist. Aber wieder bricht unsere Gemeinschaft mit diesem Glauben ab, angesichts der Art, wie Gnade hier Natur wird, wie hier das Handeln Gottes alsbald verschwindet und aufgeht im Handeln des begnadeten Menschen, wie das Atißerhalb aller menschlichen Möglichkeiten sich hier nun doch sofort wandelt in ein geschlossenes Innerhalb kirchlicher Wirklichkeit und der personale Akt göttlicher Zuwendung in eine kontinuierlich vorfindliche Beziehung. Römisch-katholischer Glaube glaubt diese Wandlung ... Ist dieser Glaube nicht der unsrige ... Gnade ist A.a.O., II, 315f, 324f. R. Seeberg, Grundriß der Dogmengeschichte, Leipzig 1901, 61ff. 18 F. Loofs, a.a.O., II, 330. 19 K. Barth, Der Heilige Geist und das christliche Leben, in: K. Barth - H. Barth (Hg.), Zur Lehre vom Heiligen Geist, München 1930, 61; vgl. A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, I, Gütersloh 1965, 266. 16 17
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Ereignis personaler Zuwendung, nicht übertragener- dinghafter Zustand. "20 5. Die dominikanisch-thomistische Schule In der nachaugustinischen Theologie fehlen nicht Aussagen, die auf die großen augustinischen Thesen zurückweisen. Die Notwendigkeit der Gnade, einerseits um das Heil und die Rechtfertigung zu empfangen, andererseits um im Menschen die Fähigkeit zu erzeugen, Verdienste zu erlangen, die zur wirksamen, endgültigen Verwirklichung dieses Heils und dieser Rechtfertigung mitwirken, - das ist das augustinische Motiv, dessen beide antithetischen Aspekte sich ständig mit größeren oder geringeren Akzentuierungen in der späteren Theologie kreuzen. qabei muß man doch eine entschiedene Abschwächung der augustinischenGlaubenslehre feststellen. Sie verschärft die Widersprüchlichkeit des augustinischenP~lU linismus unheilbar, indem sie auf eine endgültige Weise die Achse der Rechtfertigungsbotschaft verlegt. Es ist symptomatisch, daß die Synode von Karthago 418, die die augustinischen Thesen in ihre Kanones aufnimmt und die pelagianischen Thesen über die Gnade zurückweist, sich dabei nicht über die Frage der Prädestination äußerF. Nun ist die Botschaft vom Heil durch Gnade und von der Rechtfertigung aus Glauben nicht vom paradoxen Grund der Prädestination getrennt denkbar. In der Tat entleeren die späteren Dispute innerhalb des Katholizismus und auch die, die sich nach dem Jahrhundert der Reformation innerhalb des Protestantismus abspielen, diese Botschaft ihres ganzen Gehaltes und ihrer paradoxen Kraft, wenn sie sie in dem Sinne erklären wollen, als habe der Mensch die Freiheit, das Angebot Gottes anzunehmen oder zurückzuwei_sen, so daß es letzten Endes durch die menschliche Entscheidung bedingt .bl~ip!. Dadurch verliert die Gnade einen guten Teil ihrer Bedeutt!~&§ei Glaubey_erwandelt siCh iilein Werk, die Antithese Glaube"':" WerkJlat keinen tatsächlichen Platz mehr, -und so ergibt sich, daß das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes wieder einmal nicht verstanden und praktisch geleugnet wird, sogar unter dem Formalismus seiner eigenen Ausdrücke. Darunter darf man nicht verstehen, daß die Theologie nach Augustin eine Position bedenkenlos pelagianischen Typs und damit eine moralische 20 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik IIl, Zollikon-Zürich 1975 9 , 40-41. Vgl. D. Ritschl, Die Last des augustinischen Erbes, in: Parrhesia, K. Barth zum 80. Geburtstag, Zürich 1966, 470ft. 1 H. Denzinger - A. Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Barcelona- Freiburg i.Br. - Rom - New York 196734 , 227 (erscheint im folgenden Text als DS, Anm. d. Übers.). W. Joest, Die katholische Lehre von der Rechtfertigung und von der Gnade in Quellen zur Konfessionskunde, Reihe A, Römischkatholische Quellen, H. 2, Lüneburg 1954, 4.
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Selbstrechtfertigung des Menschen unterstützt habe. Weiterhin pflegt . wan.ej.J],e Miscl:!p()§!tj.gn, bei der die zwei Elemente, die imSpierslna~ ein: instabiles Gleichgewicht mit dem allmählichen Übergewicht des einen über das andere erreichen. Die verschiedenen Positionen finden ihre systematische Fixierung einerseits im Denken des Thomas von Aquin (1225-1274), andererseits in der franziskanischen Schule, deren größte Exponenten Alexander von HaIes (ca. 1170-1245), genannt "Doctor irrefragabilis", Johannes Fidanza Bonaventura (1221-1274), genannt "Doctor Seraphicus" , und Johannes Duns Scotus (ca. 1270-1308), genannt "Doctor subtilis" sind. Von den beiden Linien der Lehre Augustins überwiegt bei Thomas die erste, die die Gnade herVorhebt, be! den Franziskanern die zweite, die-den menschHchenBeitrag hervorhebt; ohne daß mari·sagen könnte; daß das entgegengesetzte Element, auch wenn es untergeordnet ist, fehlen würde. Bei Thomas "ist die grundlegende Idee nicht mehr wie bei Augustin jene des Abfalls vom Urstand, sondern jene der Zuordnung auf das übernatürliche Ziel hin"2. Hinter der Unterscheidung zwischen natürlichem und übernatürlichem Ziel steht das mystische Schema des Aufstiegs des Menschen zu Gott. Dieses mystische Schema ist aber rational auf aristotelischen Kategorien aufgebaut. Der schwedische Theologe Anders Nygren hat in seiner großen Monographie über die christliche Bedeutung der Agape in bezug zur hellenistischen Bedeutung des Eros festgestellt, daß seit der Epoche jenes geheimnisvollen Verfassers des 6. Jahrhunderts, der bis zur Kritik Lorenzo Vallas und des Erasmus 10 Jahrhunderte lang erfolgreich als der von Paulus bekehrte Athener Dionysios Areopagita galt (Act 17,34), und der mit diesem merkwürdigen Trick einen unberechenbaren Einfluß ausübte3 , "die für die Erosfrömmigkeit charakteristische Stufensymbolik ... ein ganzes Jahrtausend hindurch die allgemeine Auffassung von der christlichen Gottesgemeinschaft ziemlich unbestritten geprägt hat". Im übrigen hatte schon Augustin "das christliche Leben als einen Aufstieg zu Gott auf der Leiter der Tugend, der Spekulation und der f\1ystik dargest~Ut. Vor allem aber darf man hier den gewaltigen Einfluß der Mönchsfrömmigkeit nicht übersehen. Die asketischen Vorschriften für den Mönch werden als eine Leiter von der Erde bis zum Himmel aufgeß:.ßJ. "4 Es genügt, an die Regel des heiligen Benedikt zu denken. Nun hat H. Rondet, a.a.O., 199. R. Roques, L'univers dionysien, Paris 1955; J. M. Homus, Les recherches recentes sur le Pseudo - Denys I'Areopagite, RHPhR 35 (1955), 404ff; J. Vanneste, Le mystere de Dieu Essai sur la structure rationelle de la doctrine mystique du Pseudo - Denys l' Areopagite, Paris 1959; W. Frei, Versuch einer Einführung in das areopagitische Denken, ThZ 1960, 91ff; J. M. Homus, Les recherches Dionysiennes de 1959 a 1960, RHPhR 41 (1961), 22ff. 4 A. Nygren, a.a.O., 468. Vgl. E. Buonaiuti, n misticismo medioevale, Pinerolo 1928; G. Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 517ff. G. Müller, Über den Begriff der "Mystik", NZSTh 13 (1971), 88ff. 2
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mus inspirieren. Die Kultur des 13. Jahrhunderts öffnet sich durch die Vermittlung arabischer Philosophen und die Entdeckung der griechischen Texte, die durch die Kontakte der Kreuzzugsepoche erleichtert wurde, dem Einfluß des Aristotelismus. Der größte Lehrer der Dominikaner, Thomas von Aquin, wurde von derselben Sorge wie auch die sensibelsten Theologen unserer Generation bewegt: das Evangelium i.neiner der Zeit angepaßtenSprache auszudrückerl. Die Sprache der.Kultur seiner E:poche war aristotelisch, lInd Thomas verwandte seine Kraft auf die Übertragung der christlichen Botschaft in die aristotelische Sprache. Nach den aristotelischen Kategorien ist die Materie ohne Wesen und ohne Kraft. Sie ist ein Grenzbegriff, dem man keine wirksame Realität zuschreiben kann, weil sie undifferenziert und formlos ist. Sie erwirbt Lebendigkeit, Energie, Wert und Kraft, wenn sie eine Form erhält, die ihren höchsten Ausdruck in Gott, der reinen Form, ohne irgendeine Verbindung mit der Materie, hat, wähend in dem tieferen Schichten der Skala der Wesenheiten die Materie vorherrscht und die Form unvollkommen ist. In unserem Jahrhundert interpretiert Bultmann den Glauben unter Verwendung der Begrifflichkeit Heideggers als neues Selbstverständnis, Ihomas versteht unter Verwendung der aristotelischen Begriffe - - --.- - den Glauben als Materie. In dem Maße wie er Materie ist, ist der Glaube an sich inhaltsleer und "etwas Wesen- und Kraftloses. Die Liebe ist die Form, das formende Prinzip, das dadurch, daß es den Glauben prägt oder ,formt', ihm Wert tiiia-eigenliches Sein '-------- -_.. - _. verleiht". Wie wir erwähnt haben, ist Gott in der thomistischen Perspektive wesentlich Selbstliebe. "Zuletzt bewirkt also nicht der Glaube, sondern die Liebe, daß der Mensch gerecht wird und in Gemeinschaft mit Gott tritt. "8 Dies geschieht nicht auf. der Grundlage einer fremden Gerechtigkeit, die ihm nichtsel1isCgehört, die er nicht in sich selbst bemerkt und die er nur glauben kann (PhiI3,9), sondern auf der Grundlage einer Gerechtigkeit, die sich in ihm verwirklicht und in der Liebe konkretisiert. Was Gott vom Menschen fordert, ist, ihn mit ganzem Herzen zu lieben; aber die Gedanken und Wünsche des Menschen nach dem Fall sind nicht Gott und den übernatürlichen Dingen, sondern irdischen Dingen der natürlichen Ordnung zugewandt. Deshalb erweisen sich alle seine Anstrengungen als wertlos, sei es in sich, sei es vor Gott. Um Gott lieben zu können, muß seine Natur verändert werden, und dies ist ein Werk, das Gott allein in seiner Gnade vollbringen kann, indem er eine völlige Veränderung in der menschlichen Existenz dadurch bewirkt, daß er die eigene "caritas" in sein Herz einflößt. Die Liebe ist tatsächlich "die Erfüllung des Gesetzes" (Röm 13,10). "Wenn die Liebe dem Wesen eines Menschen einverleibt worden ist, wenn die Liebe die Grundrnacht in -
8
A. Nygren, a.a.O., 518.
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seinem Leben geworden ist, dann ist er, wie Gott ihn haben will. Er ist Gott wohlgefällig, und der Grund zu einem Leben nach Gottes Willen ist gelegt. Wenn er nun von dieser seiner neuen Beschaffenl:!eitL}'oIlJU~sem flg]1itys_der Liebe aus handelt, werden seine Taten Gott wohlgefällig 'tl!ld erhalten sie den Charakter eines wirkliChen Verdienstes." " Wenn diese Llebe--Uri"Menschen vorhanden ist, ist alle Gerechtigkeit erfüllt. "9 Der Mensch wird so würdig, Beziehung zu Gott zu haben, der als ein Gott aufgefaßt wird, der nur zu Heiligen und Gerechten in Beziehung tritt in Übereinstimmung mit seinem göttlichen Ehrenkodex. Der Gedanke des Thomas ist genauj er liebt, sich "semper formalissime" auszudrücken. Das Motiv wird folgendermaßen erläutert: "Der Glaube kann ohne die Liebe den verdienstvollen Akt nicht hervorlocken, den er mit Hilfe der Liebe hervorlockt. Also g1Qt die Liebe dem GlaubeIl_eiQe ge.wis~e,J(raft."l~_ "Sofern der GtäubensakfaüsoefLlebe kommt, wird er vollOöftaiige- nommen. "11 Der Glaube wird also im Zusammenhang der Rechtfertigung betrachtet, nicht weil sie sich auf eine Gerechtigkeit gründet, die aus Gott kommt und die der Mensch in keinem Maße außerhalb des Glaubens besitzt und in keinem Maße als einen eigenen Wert geltend machen kann, sondern weil sie sich auf eine Gerechtigkeit gründet, die aus der Liebe kommt, einer Liebe, die dem Menschen eingegeben wird und die er sich aneignet und bemüht, zu pflegen und zu vermehren wie eine sichere Rendite. Der Mensch wird in dem Maße aus Glauben gerechtfertigt, wie dieser Glaube eine "fides caritate formata" (eindurch die L!el?~$stalte ter Glaube) ist. Der Äusaru'ck wird im-katholiz_i~nil.isj{l~s.~i~ch w~rden. ,;DleTfebe- neißfForm des Glaubens, insofern der Glaubensaktdiirch-die Liebe vollendet und geformt wird. "u Die Erlösung und der Glaube sind nicht mehr "die Gabe Gottes", die nicht vom Menschen kommt, "nicht aus Werken, damit sich niemand rühmen kann" (Eph 2,9), sondern sie werden zu einer Leistung des Menschen, der" von Natur aus der Gnade fähig ist"13. Der Prozeß der Rechtfertigung stellt sich in der Tat in vier Momenten dar: Zunächst schreitet die Gnade ein, mit der Gott den Menschen mittels der ,,,Einflößimg der Liebe" verwandelt; die ein-vieler-EritwIcKlUngen mächtiger Same isf14j sie vermittelt der Seele eine neue "qualitas"15, eine
aucIi
9 Ders., a.a.O., 491, 518. Vgl. J. Auer, Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochscholastik I, Freiburg i. Br. 1942, II, 1951; H. Bouillard, Conversion et gräce chez saint Thomas d'Aquin, Paris 1944, 211ff U.Ö. 10 Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis M. Petri Lombardi, !ib. 3, dist. 23, q. 3, art. 1; quaestiuncula I zitiert nach A. Nygren, a.a.O., 518. 11 Ebd., solutio 1 ad 3. 12 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II, II, q. 4, art. 3. 13 A.a.O., I, II, q. 113, art. 10 14 A.a.O., I, II, q. 114, art. 3, ad 3. 15 A.a.O., I, II, q. 110, art. 2.
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neue Natur16 , einen "inneren Habitus, der uns eingeflößt wird und uns
~ zumncliHgen Handeln leitet"17, mit dem Ziel, die alte, verdorbene Natur
zu heilen und die übernatürlichen Tugenden zu aktivieren18. Da der Mensch auch in seiner Sünde den Gebrauch des freien Willens bewahrt hat, kann er die göttliche Hilfe-aerGnaae verWeigern ödeiannehmen, Wc5durch-etaIi-deriminer völiigeienVerW'i.rklichurig seiner Rechtfertigüng mitarbeitet19 . So schreitet an zweiter Stelle der freie Wille ~iA, der sich auf Gott hin in Bewegüngsetzt.Ati'dritleiSJelle-oeglnnf derselbe freie Wille die _~e\V~gung, sich von der SÜnde zu entfernen. Das vierte und letzte Moment ist das Ergebnis der vorausgehenden und wiro 'von' der Vergebung der Schuld gebildet20 • Erst wenn diese vier Momente verwirklicht sind, kann man von Rechtfertigung reden, die sich auf der Grundlage einer wirklich erlangten und verwirklichten Gerechtigkeit herstellt. Christus ist nicht unsere Gerechtigkeit, sondern die Treppe, deren wir uns bedieneIikönilen,umeirie uns eigene Gerechtigkeit aufzubauen. Durch den Verschleiß von zwölf Jahrhunderten hat man die völlige Umkehrung der apostolischen Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes erreicht: statt von einer erfüllten Rechtfertigung auszugehen, ist es von Eeuem notwenalg~·ziCeirl.erzü'- erfUflerioen RechtfertigUng~:iil' gelangen. Jji~:Rech,tfertigung ist nicht mehr die Rechtfertigung des -Gottl
A.a.O., I, II, q. 110, art. 4. A.a.O., I, II, q. 108, art. 1, ad 2. A.a.O., I, H, q. 109, art. 2, 4. A.a.O., I, II, q. 113, art. 3; q. 114, art. 9. A.a.O., I, H, q. 113, art. 6-8; vgl. R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte m, 472.
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christlichen Evangeliums ein fremdes Schema und mit ihm in dem Maße nicht zu verbinden, als sie die Erfüllung in Christus verkennt und verkennen muß, weil sIe insgesamt auf jene geistigen, ethischen und asketischen Strebungen und Leistungen des Menschen gegründet ist, die nach der Erhebung der eigenen Menschlichkeit und ihrer Auflösung im Göttlichen trachten, was der Apostel Paulus noch brutaler, als er es mit den Judenchristen, die die Gesetze des Bundes sorgfältig befolgten, getan hatte, als "Fleisch" auf der Jagd nach Illusionen qualifiziert hätte, um sich selbst zu verherrlichen und um in seiner ungläubigen Ablehung der Gottesgerechtigkeit zu beharren21 •
6. Die franziskanisch-scotistische Schule
Giovanni Miegge hat bemerkt, daß der Streit zwischen der dominikanisch-thomistischen und der franziskanisch-scotistischen Schule "seine tiefe Wurzel in den unterschiedlichen geistlichen Tendenzen der beiden Orden der Franziskaner und Dominikaner hat. Die Theologie des Thomas von Aquin ist auf der spekulativen Ebene die Verwirklichung des Programms vom Dienst der Kirche durch die Beherrschung der Kultur, das dem Dominikanerorden eigen ist ... Das triumphale Gefühl der Synthese und der Herrschaft, das von der großen begrifflichen Systematisierung des Aquinaten ausstrahlt, mußte den Jüngern des heiligen Franziskus als ein Aspekt jenes Vertrauens auf Reichtümer erscheinen, gegen das der Poverello einen heiligen Krieg erklärt hatte"l. Diesen scharfen Beobachtungen widerspricht jedoch eigenartigerweise das harmlos unkritische, fast pelagianische Vertrauen, das die Franziskaner dem Vermögen des Menschen 21 Urteile dieser Art müssen einfach unpassend erscheinen - wie der Eispickel eines durch die Seilbahn überlebten Bergsteigers auf dem glasierten Fußboden eines modernen Wohn· zimmers - in der theologisch sanften Abdankungsatmosphäre, die ganz idyllisch und diplomatisch ist, die die Beziehungen unter den Kirchen in unserer kirchlichen Gegenwart durchtränkt, auch wenn jene Kirchen, die sich wechselseitig Kniefälle und Lächeln erweisen, von internen Trennungen zerrissen sind, die sich auf andere Instanzen berufen, bei denen die Soziologie über die Theologie das Übergewicht hat, und die die konfessionellen Fronten in Unordnung bringen. Aus den zeitgenössischen Versuchen, das Unversöhnliche zu versöhnen und Übereinstimmung zwischen den Gegensätzen herzustellen, muß man unter diesem Gesichtspunkt erwähnen: Th. Bonhoeffer, Die Gotteslehre des Thomas von Aquin als Sprachproblem, Tübingen 1961; St. Pfürtner, Luther und Thomas im Gespräch, Unser Heil zwischen Gewißheit und Gefährdung, Heidelberg 1961; O. H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei M. Luther und Thomas von Aquin, Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967; ders., Existentielle und sapientiale Theologie Hermeneutische Erwägungen zur systematisch-theologischen Konfrontation zwischen Luther und Thomas von Aquin, ThLZ 92 (1967), 731ff; H. Kasten, Taufe und Rechtfertigung bei Thomas von Aquin und Martin Luther, München 1970. 1 G. Miegge, Lutero I, Torre Pellice 1946, 92.
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entgegenbringen, sein Verhalten dem göttlichen Willen anzupassen und siegreich über seine Grundneigungen des amor sui zu triumphieren, indem er die weltlichen Interessen und die irdischen Reichtümer verläßt, um Gott über alle Dinge zu lieben und in ihm den einzigen Schatz zu finden, der zu Hingabe, Verzicht und Demut eines als Dienst aufgefaßten Lebens reizen kann_ Andererseits wird dieses Vertrauen auf die menschlichen Kräfte im antipelagianischen Sinne durch das Bewußtsein korrigiert, daß, 'Y!~..8!:.§_ .. <Jer Wille zum Gehorsam auch sei, er immer unterhalb dessen bleibt, was Gott rordeii,"badurCh uberschreifendl.e -menschliChen Verdienste nicht afe'Gre~~~'d~r Relativität und Unangemessenheit und müssen von den un_en~i1ich~!l Verdiensten ullq. dem Opfer Christi vervollstärlaigf werden, um so von Gott annehmbar zu sein. Daraus fofgt, daß das menschliche Werk in dem Maße, wie es von der in Christus für die Sünde der Welt angebotetenen Genugtuung abhängt, in den institutionellen Apparat der sakramentalen und hierarchischen Kirche eingefügt werden muß, in deren Bereich der Mensch wirken muß, um "die Gnade entsprechend verdienen" zu können2 • Im übrigen wird der Mensch schon bei seinem Trieb zum Wirken durch die Predigt der Kirche gereizt, die ihm die Forderungen des Gesetzes Gottes darstellt und seinen Willen anspornt, sich zu unterwerfen und bei dem Plan der Gnade mitzuarbeiten. Um diese Verbindung aufzuzeigen, schlägt Seeberg die synthetische Formel vor: "ohneQnadekein Verdienst, aberauch ohne Verdienst keine Gnade"3. Sow1Id das franziskanische Verständnis der"Rechtfertigung insgesamtvon einem §ynergismus inspiriert, den man gleichzeitig als semipelagianisch und semiäugusflniSch definieren könnte, wobei die aktive Instanz offenkundig ein Übergewicht hat, besonders in der ockhamistischen Form des späten Mittelalters (der englische Franziskaner Wilhelm von Ockham ca. 1285-1349)4. Gegen dessen übertriebene Einseitigkeiten hätte sich nach neueren katholischen Forschern Luthers Theologie aufgelehnt, um doch Gefangene seiner Schemata zu bleibens . Diese Auffassung verrät jedoch eine eindrucksvolle theologische Kurzsichtigkeit darin, daß sie nicht den Grund der Frage, die der traditionellen Kirche von der Reformation gestellt wurde, wahrnimmt und ihren Protest zu einem scholastischen Disput relativiert. A.a.O., I, 100. 3 R. Seeberg, a.a.O., m, 469. B. Hägglund, Theologie und Philosophie bei Luther und in der occamistischen Tradition, Lund 1955; H. Junghans, Ockham im Lichte der neueren Forschung, Berlin - Hamburg 1968. 5 J. Lortz, Die Reformation in Deutschland, I, Freiburg LBr. 1940, 172ff; L. Bouyer, Du Protestantisme a l'Eglise, Paris 1954, 164 u.ö.; vgl. W. Joest, a.a.O., 7; R. Stauffer, Die Entdeckung Luthers im Katholizismus, Die Entwicklung der katholischen Lutherforschung seit 1904 bis zu Vatikan 11 (ThSt[B]96), Zürich 1968; M. Bogdahn, Die Rechtfertigungslehre Luthers im Urteil der neueren katholischen Theologie, Göttingen 1971. 2
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7. Die Verkündigung der Waldenser
Man kann in allen theologischen Tendenzen des mittelalterlichen in aufeinanderfolgenden, bemerkenswert unterschiedlichen lfegrifflichkeiten das Fortdauern der judenchristlichen Auffassung der Rechtfertigung feststellen. Dadurch hat sich in jahrhundertelangem Ringen ein zu ausgeglichener Kompromiß zwischen Gnade und Gesetz, Gerechtigkeit Gottes und Gerechtigkeit des Menschen ergeben. Angesichts dessen wäre es interessant zu wissen, wie sich diese Erörterung für die geistlichen Strömungen des parakatholischen Dissenses abzeichnet. Wie stellt sich zum Beispiel im Blick auf unser Thema die Theologie der ursprünglichen Waldenser dar in den Grenzen der Quellen, die auf uns gekommen sind? Ist sie eine wirkliche Alternative zur herrschenden dogmatischen Meinung, die grundsätzlich fest bei den judenchristlichen Prinzipien geblieben ist? Vernünftigerweise sollte man das Glaubensbekenntnis, das unterschrieben ist "Ich, Valdesius, und alle meine Brüder", nicht zu hoch bewerten. Die Fachleute datieren es auf die Jahre 1179-80 und erklären, es handele sich um "eine Art Zusammenfassung der katholischen Dogmatik im Mittelalter, die die römische Kirche gewöhnlich die der Ketzerei Verdächtigen oder jene, die ihren Irrtümern abgeschworen hatten, unterschreiben ließ"l. Nicht nur war in jener Zeit die äußere Gestalt der Bewegung noch nicht klar umrissen, auch der Bruch mit der offiziellen Kirche noch nicht eingetreten; man kann auch klar erkennen, daß es sich nicht um ein spontanes Bekenntnis handelt, das den Glauben der Waldenser widerspiegelt, sondern um einen mehr oder weniger erzwungenen Akt, der die Überzeugung der Unterzeichner nur teilweise und entstellt darstellen kann. Jedenfalls gibt es hier nach einer Reihe von Aussagen, die die offenkundige Aufgaben haben die antikatharische Orthodoxie zu bestätigen, eine Notiz, die in besonderer Weise ein waldensisches Gepräge zeigt. Der Text lautet: ~olizismus
" ... Et quia fides secundum iacobum apostolum >sine operibus mortua est<, seculo abrenunciavimus, et que abebamus, velut a domino consultum est, pauperibus erogavimus et pauperes esse decrevimus, ita ut de crastino solliciti esse non curamus, nec aurum nec argentum vel aliquid tale preter victum et vestitum cotidianum a quoquam accepturi sumus. Consilia quoque evangelica velut precepta servare proposuimus. Remanentes autem in seculo et sua possidentes,
1 G. Gonnet, Enchiridion Fontium Valdensium I, Torre Pellice 1958, 32; A. Dondaine, Aux origines du Valdeisme Une profession de foi de Valdes, AFP 16 (1946), 191ff; R. Manselli, Per la storia dell'eresia nel secolo XII, Rom 1955, 245f; A. Dondaine, Durand de Huesca et la polemique anti-cathare, AFP 29 (1959), 239; J. Gonnet - A. Molnar, Les vaudois au moyen äge, Turin 1974, 54ff.
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elemosinas ceteraque beneficia ex suis rebus agentes, precepta domini servantes salvari eos omnino fatemur et credimus. "2
Wie man sieht, sind wir mitten im gesetzlichen Rahmen der katholischen Ethik der Gebote und evangelischen Räte. Dieses Bekenntnis freiwilliger Armut ist, wie G. Gonnet bemerkte, "im Grunde nicht nur das Bekenntnis zahlreicher mittelalterlicher evangelischer Bewegungen, die in der Folge in die Ketzerei abgleiten, sondern auch das Bekenntnis der Mönchsorden selbst, die im Schoß der Kirche bleiben, der katholischen Armen, der Humiliaten, der Minderbrüder usw. "3. Jedenfalls scheint man an dieser Stelle eine Wärme persönlicher Beteiligung bemerken zu können, die sich gewöhnlich nicht in einem offiziellen Dokument findet. Jedenfalls ist der Bezug auf Jakobus symptomatisch, der sich jedoch auf der normalen Linie der katholischen Frömmigkeit hält, wie dies sich unter anderem aus zeitgenössischen Dokumenten Papst Leos IX. und Innozenz 111. ergibt'. Er drückt das Verhältnis zwischen Glaube und Werken in den Begriffen aus, die in der frühen Scholastik üblich sinds . SeIge, der als kompetenter Erforscher des ursprünglichen Waldensertums gilt, glaubt, daß der Bezug auf Jakobus im Bekenntnis des Waldes kein Ausdruck einer spezifisch waldensischen Auffassung ist. Andererseits erklärt er selbst: "Es ist apriori wahrscheinlich, daß die WaldE;lnser über das Verhältnis von Glauben und Werken nicht anders-denken, als sie e!rin der theologischen Tradition ihrer Zeit lernen konnten. "6 In der Tat erreichen es auch im Liber Antiheresis des Durandus von Osca, der auf dessen waldensische Zeit zurückgeht und vor seiner Unterwerfung unter Rom liegt, die häufigen Pauluszitate nicht, daß der Bezug Glaube - Werke in einer ernsthaft paulinischen Perspektive erscheint. Wenn auch das klassische Zitat des Jakobus nicht vorkommt, so ist doch der Glaube nicht auf Christus als die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes konzentriert, sondern er ist eher als lehrmäßige Rechtgläubigkeit aufgefaßt, und als Bedingung für die Erlangung der Gunst Gottes und des Heils werden Glauben und Werke zusammen dargestellt, mit besonderer Betonung der G. Gonnet, a.a.O., 1, 35-36; K.-V. SeIge, Die ersten Waldenser 11, Berlin 1967, 5. G. Gonnet, Waldensia, RHPhR 33 (1953), 219; ders., Le confessioni di fede valdesi prima della Rifonna, Turin 1967, 38. 4 Brief des Papstes Leo IX. an den Patriarchen Peter von Antiochia (1054), der Pontifex erläutert die "Hauptkapitel" des katholischen Glaubens und folgert, " ... wir wissen sicher, daß der Glaube ohne Werke tot ist (Jak 2)". MPL 143, 773. So äußert sich auch Innozenz III. im Brief 196 von 1208 an den Erzbischof und die Bischöfe von Tarragona, De negotio Durandi de Osca et sociorum eius: "Weil in der Tat nicht nur der rechte Glaube, sondern auch das gute Wirken zum Heil gefordert wird, da es ja ohne Glaube unmöglich ist, Gott wohlgefällig zu sein, ist der Glaube ohne Werke tot." MPL 240, 1512. 5 A. M. Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik 1/2, Regensburg 1952, 7ff. 6 K. V. SeIge, a.a.O., I, 35. 2
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letzteren7 • Durandus sieht die Notwendigkeit, gegen eine im Sinne des fatalistischen Dualismus der Katharer falsch verstandene Prädestination Stellung zu nehmenB. Also häuft er biblische Zitate an, um seine unumstößlichen Folgerungen zu ziehen: "Aus diesen Autoritäten soll man erkennen, daß das ganze Heil in der Beachtung des Gebote Gottes besteht. "9 "Also bestehen Heil und ~erdammnis in den Werken und nicht in der schicksalhaften Prädestination. "10 "Aus diesen und vielen anderen Autoritäten soll man erkennen, daß ein jeder nicht nach der Prädestination, sondern nach den Werken gerichtet wird. "11
Einer aufmerksamen Betrachtung wert ist die Definition, die Durandus im Streit mit den Gegnern von der Kirche und gleichzeitig vom Ursprung der Waldenserbewegung gibt: "Aber sie werden vielleicht sagen: Wo war die Kirche von der Ankunft des Heilands bis zu eurer Ankunft, und wer hat Waldes jenen Weg gelehrt? .. Wir aber sagen, daß die Kirche Gottes immer dort ist, wo die Gemeinde der Gläubigen ist, die den rechten Glauben halten und mit Werken erfüllen. Wenn ihr aber zu wissen begehrt, wer ihn gelehrt hat, sollt ihr wissen, daß es die Gnade Gottes vom Himmel her war und die Stimme des Evangeliums, die sagt: >Selig sind, die geistlich arm sind; denn ihnen gehört das Himmelreich<. "12
Diese Definition zeigt Ankläge an die berühmte Definition der Kirche, die im 7. Artikel der Confessio Augustana von 1530 steht. Aber während die notae der Kirche im lutherischen Text rein objektiv sind (Reinheit der Predigt, rechte Sakramentsverwaltung), besteht hier ein realistisches Gleichgewicht zwischen objektiv Gegebenem und subjektiven Elementen, was eines der feststehenden Kennzeichen der Waldenserbewegung ist. Was die ursprünglichen Waldenser wirklich gepredigt haben, "ist in der Forschung besonders unklar geblieben. Die Quellen waren hierüber wortkarg"13. Diese Quellen erlauben aber die Aussage, daß die Waldenser den Linien gefolgt sind, die "der mehr oder weniger verhüllte Pelagianismus des mittelalterlichen Katholizismus" vorzeichnet14. "Die Waldenser wei7 Ders., a.a.O., I, 37ff. Vgl. G. Miegge, Petms Valdes und seine frühen Freunde der Bibel, ÖP, H. 1/2, 8, Berlin o.J.; G. Scuderi, Studio sulle dottrine vaIdesi (von den Anfängen bis Chanforan 1137-1532), Arbeit für das theologische Lizentiat an der Facolta Valdese di teologia, Rom 1956, 158ff (masch.). 8 K. V. Seige, a.a.O., I, 105. 9 K. V. Seige, a.a.O., II, Der Liber Antiheresis des Durandus von Osca, 89; I, 106. 10 A.a.O., II, 91. 11 A.a.O., II, 92. 12 A.a.O., II, 95. 13 A.a.O., I, 95. 14 A.a.O., I, 112, 317. K.-V. Seige, Caracteristiques du premier mouvement vaudois et crises au cours de son expansion, in Vaudois languedociens et Pauvres catholiques, Toulouse
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sen in ihrer Predigt der guten Werke als des Heilsweges mit pelagianischer Strenge auf den Ernst der Entscheidungsstunde dieses seinem Ende zueilenden Lebens. "15 Ihre Stellung hat Luther zur Kritik Anlaß gegeben. Nach ihm hatten sie den Artikel der Rechtfertigung weder klar noch rein. Erst mit der Reformation haben sie "ihre mittelalterlich-katholischen Grundsätze aufgegeben"16. Andererseits gilt: "So stellt das Waldensertum der ersten Generation sich uns dar als eine geistliche Erweckungsbewegung auf dem Boden der mittelalterlichen Christianitas, die von neutestamentlich-missionarischem Pathos getragen ist, auf einem radikal pelagianischen Schriftverständnis gründet", und in dem "sich ein urchristlicher Impuls in mönchischen und pelagianischen Formen und durch diese Formen hindurch Bahn" bricht17 • Es wäre ungerecht, seine Stellung als eine einfache Gesetzlichkeit zu qualifizieren18 . Seine Öffnung zu einem aktuellen Hören des Wortes des Evangeliums, sein Eifer vorbehaltloser Berufung, seine Freiheit von "irdischen Geschäften "19, wodurch das christliche Leben auf das "göttliche Amt der Predigt" ausgerichtet ist, deuten auf die Verheißung der Gnade, 1967,124 (Cahiers de Fanjeaux 2), geht soweit zu sagen: "Die Predigt der ersten Waldenser ist sozusagen von einem radikalen Pelagianismus, verglichen mit den semipelagianischen Tendenzen des mittelalterlichen Katholizismus, der immer durch Elemente der augustinisehen Tradition gemäßigt wird." Derselbe Verfasser fügt in zwei anderen Artikeln desselben Bandes hinzu: Discussion sur I'apostolicite entre Vaudois, Catholiques et Cathares und L'aile droite du mouvement vaudois et naissance des Pauvres catholiques et des Pauvres reconcilies: "Die Waldenser nahmen das Heil aus Werken ernst: das ist ihr ,radikaler Pelagianismus', der sich vom traditionellen Semipelagianisums unterscheidet" (159). Er spricht vom spezifischen Motiv der Waldenser, "das war der kraftvolle Ruf zur Buße, das heißt, zur Bekehrung zu einem Leben guter Werke, die notwendig sind, um das Heil zu erlangen" (240). 15 K-V. Seige, Die ersten Waldenser I, 145. 16 A.a.O., I, 319. Der Brief Luthers vom 7. September 1523 an den Herzog Karl 111. von Savoyen verweilt fast ausschließlich beim Thema der Rechtfertigung. Er ist abgedruckt bei G. Jalla, Storia della Riforma in Piemonte I, Florenz 1914, 15ff. Aber in einer Tischrede Ende 1532 bemerkt Luther, als er mit großem Lob von den Waldensern spricht, daß sie jedoch den Rechtfertigungsartikel nicht rein haben. "Aber den Rechtfertigungsartikel haben sie nicht rein; sie bekennen freilich, daß die Menschen aus Glauben und Gnade gerettet werden, aber unter Glaube verstehen sie jene Qualität der Wiedergeburt. Sie schreiben es nicht dem Glauben allein an Christus zu. Sie erläutern Glaube und Gnade anders als wir, und schreiben den Werken die Gerechtigkeit zu, wenn sie sagen: Der Glaube ohne Werke ist tot. Welche Stelle sehr gut ist, wenn man sie auf die Ethik und die Predigt des Gesetzes anwendet; wenn wir sie aber für den Rechtfertigungsartikel verwenden wollten, ist sie nicht nur ungeeignet, sondern gottlos." Die andere Version des Gespräches ist noch ernster: "Die Waldenser sagen wie die Papisten, der Glaube ohne Werke sei tot." M. Luther, WATR 3,37. So auch die deutsche Übersetzung: die waldensische Auffassung der Rechtfertigung ist "stracks wider Gott und die heilige Schrift". WATR 3,38. 17 K-V. Seige, a.a.O., I, 318. 18 A.a.O., I, 317. 19 A.a.O., 11, 83. 5 Subilia, Rechtfertigung
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die mit der Glaubensentscheidung und dem Gehorsam, der im Evangelium gefordert wird, im Zusammenhang steht. Die Armut selbst ist kein Wert an sich wie für Franz von Assisi. Sie ist ein Mittel im Blick auf ein Ziel, das sie überragt, die Predigeo• Sie ist ein Indiz der Übereinstimmung mit dem Amt der Verkündigung des Evangeliums, eine Lebensbedingung, die nicht mehr nur fakultativ, sondern normativ für die Prediger ist, so daß sie sich ganz und gar ihrer Mission weihen können, ohne sich Sorgen um den Lebensunterhalt zu machen, in der paradoxen Freiheit des Glaubens, daß Gott selbst für ihren Unterhalt durch die vorgesorgt habe, die ihrem Aufruf Gehör schenken, wie geschrieben steht, "dem Arbeiter steht sein Brot zu" (Mt 10,9) und "so hat auch der Herr befohlen, daß die, die das Evangelium verkündigen, sich vom Evangelium nähren sollen" (1. Kor 9,14)21. Waldes hat entdeckt, daß "die Kirche die apostolische Botschaft nicht vermitteln kann, ohne ihr in ihren entscheidenden Verhaltensweisen gleichförmig zu werden"22. Die Armut, die Machtlosigkeit und das Paradox der Kraft der Schwachheit sind Ausdruck des Gehorsams und der Gleichförmigkeit mit dem Evangelium des gekreuzigten Christus. Es handelt sich nicht um eine dissidente Form der mittelalterlichen Armutsbewegung; das Armutsgelübde wurde vielmehr von den Autoritäten der Kirche jener Epoche gebilligt, weil es in hohem Maße als übereinstimmend mit einer akzeptierten religiösen und ethischen Linie betrachtet werden konnte. Die Schwierigkeiten entstanden wegen der Predigtfreiheit. Der Zusammenstoß und die Krise brachen bei diesem für das Waldens,ertum seit den Anfängen grundlegenden Punkt aus. Es war gerade die Dynamik der Berufung auf die Schrift und des Rufes zur Mission - die es von allen ketzerisclien Gruppen des Mittelalters unterscheidet -, die die Bewegung über gewisse, noch in den Rahmen des mittelalterlichen Katholizismus passende Grenzen hinausführte. Um ein vollständigeres Bild von der Bedeutung der Waldenserbewegung zu gewinnen, sei es auch nur für die Perspektive, die uns hier beschäftigt, muß man auch ein anderes Element berücksichtigen. Die Verweigerung des Eides muß man aller Wahrscheinlichkeit nach einer pragmatisch-buchstäblichen Auffassung als Unterwerfung unter das Diktat der Bergpredigt (Mt 5,33-37) zuschreiben. Jedoch hatte der Eid, wie Molmir gezeigt hat, in der Gesellschaft jener Epoche "eine bemerkens20 Nach der These Selges, a.a.O., I, 3, 314, die sich auch schon bei Ern. Comba, Histoire des Vaudois I, Paris 1904, 34 findet. Die Vermutung R. Mansellis, Il valdismo originario, in Studi sulle eresie deI secolo XII, Rom 1953, 82, nach der das Programm der Waldenser war, alle Menschen zur Armut zu bekehren, die sie für heilsnotwendig hielten, scheint nicht mit Gewißheit von den Quellen bestätigt zu werden. 21 K.-V. SeIge, Caracteristiques, 124, mit Quellenbelegen. 22 A. Molmir, La protesta valdese e la prima riforma, in Quaderni della Gioventu Evangelica Italiana 1966, Nr. 3, 1.
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werte soziale Tragweite. Man weiß, in welchem Maße das Feudalsystem den Eid gebrauchte. Die Lehnsleute waren durch alle Arten von Eidesleistungen gehalten, gegenüber ihren Lehnsherren und den vorhandenen Institutionen ein bestimmtes Verhalt~n zu zeigen. Es heißt, daß diese Eidesleistungen die christliche Gesellschaft schwerwiegend bestimmten. In vielen Gegenden beruhten die politische Einheit und der soziale Friede auf dem persönlichen Eid. Ihn zu brechen, bedeutete, meilleidig und gesetzlos zu w~rden. Eine· solche Halfung brachte schwere religiöse und gericlitliche Strafen mit sich. Die Eidesleistung zu verweigern, bedeutete, sich der vorhandenen Ordnung nicht zu beugen und an ihrer Rechtmäßigkeit zu zweifeln. Mitten im sakralen Feudalismus, als die herrschende Kirche mit Interdikten die Herrschaft schützte, deren Nutznießerin sie war, hatten die Menschen der ersten Reformation den Mut, diesen schmalen Pfad zu beschreiten. Durch ihre Haltung ersetzten sie die vertikale und paternalistische Treue durch eine horizontale und brüderliche Verpflichtung. "23 Diese Weigerung stellt einen mächtigen Hinweis für den Antikonformism~s gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft dar, so daß die Bewegung zu einem Ferment religiös-sozialen Dissenses nicht nur auf der Suche nach einem gerechteren Menschen, sondern auch nach einer gerechteren Gesellschaft wurde. Dies konnte wegen seiner Gefährlichkeit an den Verantwortlichen der religiös-politischen Ordnung der Epoche und der konstantinischen Struktur, die sie einrahmte, nicht unbeachtet vorübergehen. Man muß sich hier jedenfalls klar fragen, ob die ursprüngliche, pragmatisch-pelagianische Wurzel jemals aus der Waldenserbewegung ausgerissen wurde. Darum ist man objektiv genötigt, sei es in bezug auf den Predigtinhalt, sei es in bezug auf die Linie ihrer Praxis, sie trotz allem in die judenchristliche Tradition einzufügen. Schon dreieinhalb Jahrhunderte später, bei den ersten Kontakten mit den Reformatoren, überrascht "'seitens der Waldenser das relative Desinteresse, das sie für den zenlralen (}hiubensartikel der Refprmation zeigen24. "An den in der mittelalterlichen Christenheit herrschenden Semipelagianismus"25 seit Jahrhunderten gebunden, dazu noch durch die moralische Strenge in einer eher pragmatisch-buchstäblichen als theologischen Tendenz in ihrem Protest bestärkt, scheinen sie nicht den theologischen Bezug zu erfassen, der zwischen den evangelischen Aussagen, die das Heil aus Gnade verkünden, und den Aussagen, nach denen das Gericht nach den Werken gesprochen wird, A. Molmir, Sfida al costantinismo, Protestantesimo 20 (1956), llf. V. Vinay, Memoires de Georges More!. L'importanza dei codice c-5-18 (Ms. 259) dei Trinity Collegedi Dublino per la storia dell'adesione dei Valdesi alla Riforma, Bollettino della Societa di Studi Valdesi 93 (1972), Nr. 132, 42; ders., Barba Morel e Bucero sulla giustificazione per fede, Bollettino zit. 94 (1973), Nr. 133, 29ff. 25 G. Gonnet, Le confessioni di fede valdesi, 145. 23 24
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besteht. Sie sehen hier einen Widerspruch und bleiben also ungewiß, welcher Wert der Botschaft vom gekreuzigten Christus zuzuschreiben ist26 , die sie andrerseits offen bekennen, wie die Memoires des Barben Morel beweisen: "Christus allein ist das ganze und vollständige Heil und die Rechtfertigung des ganzen Menschengeschlechts"; "der Glaube rettet uns, nicht die Werke der Gerechtigkeit. "27 Die exegetischen Erklärungen, die die Reformatoren lieferten, scheinen nicht ihre volle Zustimmung zu finden. Es ist symptomatisch, daß die Erklärung der Synode von Chanforan 1532, die man als den klassischen Text der Annahme der Reformation betrachtet, Artikel über die Rechtmaßigkeit des Eides oder das nicht obligatorische Fasten, nicht aber einen Artikel über die Rechtfertigung aus Glauben, jedoch drei über die "Prädestination und die Gnade Gottes" enthält, über deren Interpretation man sich streiten könnte28 • Wenn die drei Artikel im reformatorischen Sinne zu interpretieren wären, bildeten sie ein Element, das gegenüber jeder anthropozentrischen Versuchung konsequenter und von Zweideutigkeit freier als jedwede Erwähnung der Rechtfertigung aus Glauben ist. Jedoch bieten das Schweigen über diese letzte und der Determinismus, der die Artikel über die Prädestination auszeichnet (ein Determinismus, der keinen Anhaltspunkt in irgendeinem Ausdruck des reformatorischen Glaubens findet), Anlaß zu verschiedenen Fragen: wenn sie sich als begründet ergeben sollten, wäre die Unfähigkeit, die Tragweite der Rechtfertigungsbotschaft zu erfassen, nicht allein auf die beiden den Anschluß an die Reformation ablehnenden Barben Daniel von Valence und Johann von Moline beschränkt29 • Insgesamt erscheinen A.a.O., 145ff. 27 V. Vinay, Memoires, 42. Der Text ist in einer Urkundensammlung von V. Vinay, La dichiarazione deI Sinodo di Chanforan 1532, Bollettino zit. 94 (1973), Nr. 133, 37ff und ders., Le confessioni di fede dei Valdesi riformati, Turin 1975, 139ff, abgedruckt. Wir haben nicht das Motiv verstanden, weshalb G. Gonnet, II movimento valdese in Europa secondo le piu recenti ricerche, zit. Bollettino 58 (1956), Nr. 100, 29, die Rechtfertigung aus Glauben unter den Hauptartikeln erwähnt, über die man in Chanforan abgestimmt hat. VgI. G. Gonnet, Les relations des Vaudois des Alpes avec les Reformateurs en 1532, Genf 1961, BibI. d'humanisme et renaissance 23, 34ff; ders., Le developpement des doctrines vaudoises de Lyon a Chanforan (1170-1532), RHPhR 52 (1972), 399, 408. Unsererseits finden wir keine Aussage, die ausdrücklich im Text von Chanforan formuliert wäre. Noch weniger können wir eine in die Artikel über die Prädestination einschließen: theologisch ist die Angleichung legitim. Eine klare Feststellung des Fehlens der Rechtfertigungslehre findet sich im zitierten Artikel V. Vinays, Memoires 46. VgI. auch V. Vinay, Der Anschluß der romanischen Waldenser an die Reformation und seine theologische Bedeutung, ThLZ, 1962, 99 und a.a.O., 18ff, 28, 119. Eine ausdrückliche Erwähnung findet sich im Waldenserbekenntnis, das nach dem Vorbild der Confessio Gallicana abgefaßt wurde und das dem Herzog Emanuele Filiberto im Mai 1560 überreicht wurde, a.a.O., 171. Man darf übrigens nicht vergessen, daß die Waldenser besonders mit den Schweizer Reformatoren Kontakt aufnehmen, die, noch vor Calvin, nicht wie die Lutheraner die Rechtfertigung in die Mitte ihrer Botschaften setzten. 29 A. Molnar, Correspondance entre les Freres tcheques et Bucer, 1540 a 1542, RHPhR 31 (1951),107; ders., Les Vaudois et la Reforme tcheque, Bollettino zit. 77 (1958), Nr. 103,50. 26 28
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die Reaktionen der Waldenser auf die Mahnungen Ökolampads, sie sollten anfangen ihre Irrtümer zu korrigieren30, eher lau, auch wenn einige unter ihnen die Unterscheidungslinien klar gesehen haben müssen, wie zum Beispiel der Barbe Morel, der in Merindol seinen Glaubensgenossen "öffentlich erklärt hat, in wie vielen und wie großen Irrtümern sie schweben, in die sie ihre' alten Pfarrer gestürzt hätten und mit denen sie sie vom rechten Weg der Frömmigkeit weggeführt hätten"31. Die verabschiedeten Dokumente jedenfalls bestehen mehr auf Motiven ethischer als theologischer Art und die Zustimmung zu den drei theologischen Artikeln dürfte nicht sehr verbreitet gewesen sein, wenn Miolo gerade in diesem Zusammenhang sein witziges Urteil äußert, nach dem die Waldenser "noch ein wenig päpstliches Mehl in einigen Punkten ihrer Lehre hatten", auch wenn sie von ihren Gegnern zum Zeichen ihrer völligen Trennung von der christlichen Gemeinschaft beschuldigt wurden, "vier Zahnreihen (wie Monster) und Hörner (wie wilde Tiere) "32 zu haben. Im Abstand von Jahrhunderten, allein in unserem Jahrhundert, zeigen die einander folgenden, sonderbaren Alternativen und Schwankungen Anti-Chanforan, ProChanforan und neuerdings wieder Anti-Chanforan doch etwas an: sie können die Bestätigung für eine Konstante nicht überzeugter Unentschiedenheit sein33 . So könnte das von dem großen Bossuet 1688 ausgesprochene Urteil, nach dem in Chanforan "die Waldenser ein Ende nahmen"34 revidierbar sein. ' 30
V. Vinay, Memoires, 47.
32 G. Miolo, Historia breve
31
V. Vinay, Memoires, 47.
& vera de gl'affari dei Valdesi delle Valli, E. Balmas (Hg.),
Turin 1971, 99.97. Es folgt die witzige Erzählung der Diskussion "einiger Barben" über den freien Willen und die Gnade, eine Erzählung, die durch die Episode des auf die Erde ausgeschütteten Salzfasses illustriert wird. 33 Für die Jahrhundertfeier 1932 zitiert G. Miegge (M.), Chanforan, in Gioventu Cristiana 1 (1932), 135, Gedenkschriften der Vertreter der älteren Generation Emesto Comba, Ugo Janni usw., in denen man "die waldensische Originalität gegenüber der Reformation schützen" wollte und bekräftigte den "heilig revolutionären Wert des asketischen Radikalismus des Waldes: das Prinzip des bedingungslosen Dienstes für Gott und der völligen Rebellion gegen die Tyrannei des Geldes". Aber er bemerkte: "Das ist völlig richtig: Aber ein derartiges reformatorisches Prinzip ist gerade jenes des gesamten katholischen Asketentums und es definiert sich als Antithese zum reformatorischen Prinzip der Reformation. Es ist gerade ein Ausdruck jener mönchischen Geistigkeit, die Luther in seine Krise und Europa zum bitteren Erwerb eines tieferen und weniger einfachen Glaubens führte ... Aber für uns ist nach der Reformation ein anderes Waldensertum als das von Chanforan nicht mehr möglich." In einem späteren Artikel, dessen Tendenz 25 Jahre später überraschende Folgen gehabt hat, Le due riforme in La Luce vom 15. 2. 1949, modifiziert G. Miegge seine Position von 1932: "Es gibt für uns keinen Grund, daß unsere Treue zur Waldenserkirche von NachChanforan uns die Waldenserbewegung von Vor-Chanforan vergessen lassen sollte. Es gibt in der mittelalterlichen Reformation vielleicht Motive, die in dem geschichtlichen Augenblick, in dem wir leben, einen stärkeren Widerhall finden können als das Thema der Rechtfertigung aus Glauben, so notwendig und erhaben es ist." 34 J. B. Bossuet, Histoire des variations des Eglises Protestantes II (Livre XI/CXXllI), Lyon-Paris 1827, 437.
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Gewiß werden die Erwählung und die Rechtfertigung !m Glaubensbekenntnis von 1655 offen ausgesprochen (Artikel 11 und 16)35. Aber die zweite wird in eher kurzen und allgemeinen Begriffen behauptet. Sie stellt einen zu schwachen Reflex, der viel konkreteren und sorgfältiger ausgearbeiteten Artikel 18 und 20 der Confessio Gallicana dar, von der das Bekenntnis abhängt36 • Die Schwäche des Artikels wird noch stärker im Sinne eines semipelagianischen Kompromisses durch einen Synodalbeschluß von 1894 ausgelegt, soweit er die Verderbnis des Menschen und die göttliche Erwählung betrifft37 • Diese Eindrücke werden durch die ständige Erwähnung der Werke, sei es 1532, sei es 1655 (Art. 20, 21, 22), bestätigt. Ein solches Beharren rechtfertigt die Bemerkung, mit derBossuet sein Urteil über die Waldenser aufwog: "Als sie diese neuen Glaubensbekenntnisse ausarbeiteten, die für die Reformation angenehm waren, in die sie die Absicht hatten einzutreten, konnte man sie nicht hindern, immer wieder etwas einfließen zu lassen, was die alte Hefe verriet. "38 Wäre der Rechtfertigungsartikel klarer und mit überzeugterer Entschiedenheit behauptet worden, stellte das Beharren auf den Werken ein ausgleichendes Element dar im Sinne der Fülle der evangelischen Botschaft und der Versöhnung von paulinischer und synoptischer Botschaft, das gewisse Einseitigkeiten der Reformation besonders in ihrer lutherischen Ausprägung aufwiegen könnte39 • Ohne diese Grundlage läuft die Kritik am Katholizismus Gefahr, nur Kritik der ethischen Praxis, nicht aber Kritik der theologischen Voraussetzungen zu sein, also eine zufällige Kritik von disziplinarischem und sektenhaftem Charakter, unfähig zu radikaler Erneuerung und einer wirklichen theologischen Alternative. Diese Gefahr wird deutlich, wenn sich die ethische Praxis des einstigen Gegners bessert: auf die Kritik folgt dann notwendigerweise die Haltung einer evangelischen Abrüstung. Das bestätigte sich jüngst durch gewisse Verwandlungen der konfessionellen Psychologie, die allzu leicht vom polemischen Hader zu zwischenkirchlicher Zartheit überging. Jedoch, auch wenn man beklagen mag, daß der Rechtfertigungsartikel nicht an biblischer Substanz reicher gewesen ist und nicht näher der Fülle von Perspektiven, wie sie die entsprechenden Artikel der Confessio Gallicana von 1559 und der Confessio Helvetica Posterior von 1566 aufwiesen, so ist doch die evangelische Radikalität, die den Motiven der Erwählung, der Prädestination, der Rechtfertigung E. Cornba, Storia dei Valdesi, Torre Pellice 1930, 210-211; V. Vinay, a.a.O., 182, 195. W. Niesel (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Zollikon - Zürich 1948" 70. 37 E. Cornba, a.a.O., 214. 38 J. B. Bossuet, a.a.O., II, 448 (Livre XI/CXXX). 39 H. Stadtland-Neurnann, Evangelische Radikalismen in der Sicht Calvins, Neukirchen 1966,140. 35
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und der Werke zugrunde liegt und die den Menschen völlig auf Gott gründet, in den waldensischen Artikeln von 1655 über den Glauben und seinen Ursprung in Gott klar zu erkennen. Der Artikel 17, nach dem der Glaube "sich auf die Verheißungen des Lebens stützt, die uns im Evangelium gemacht werden", und besonders der Artikel 18, nach dem "jener Glaube aus dem gnädigen und wirksamen Handeln des Heiligen Geistes kommt, der unsere Seelen erleuchtet und sie dahin führt, sich auf die Barmherzigkeit Gottes zu stützen", gemeinsam mit dem starken Artikel 11 von der Erwählung, die Gott gegenüber den Erwählten wirkt, "vor Grundlegung der Welt, nicht weil er bei ihnen irgendeine gute Anlage zum Glauben oder zur Heiligkeit vorhergesehen hätte, sondern wegen seiner Barmherzigkeit in Christus", lösen das Waldensertum nach Chanforan endgültig aus dem judenchristlichen Rahmen und versetzen es offen auf reformatorischen Boden. Diese kurze Analyse der waldensischen Stellung zum Thema der Rechtfertigung aus Glauben mußte notwendigerweise auf der Grundlage von Texten und mit Kategorien der Lehre durchgeführt werden. Aber an diese Stelle gelangt, dürfen wir nicht vergessen, daß die Waldenserbewegung vor ihrem Beitritt zur Reformation sich wegen der ihr eigenen sozialen Zusammensetzung und ihrer verborgenen Lage gewissermaßen in einer vorkulturellen Sphäre bewegt. ~s:WJl!' eHe Reformation, die ihr das theologische Bewußtsein ihres Glaubens gegeben hat: der Punkt, den man bestimmen muß, ist die Ausrichtung ihres Glaubens in dem Zustand, der dem theologischen Bewußtwerden vorausgeht. Die ursprüngliche waldensische Protestbewegung hatte eine vorwiegend ethische Tönung, die noch im Dissens mit dem gesetzlichen Ansatz übereinstimmte, den das Evangelium in einem Prozeß, der vom Judenchristentum des 1. Jahrhunderts bis zur katholischen Frömmigkeit des 12. Jahrhunderts reicht, angenommen hat. Aber der Protest war derartig, daß er die Quellen der Ethik berührte und auf allen Ebenen den Status der Christenheit seiner Zeit angriff. Die geistliche Intuition, die den Protest bewegte, kann man mit folgenden Worten ausdrücken: die Kirche folgt dem Weg der Welt, 'nicht mehr dem Weg des Glaubens, der Jüngerschaft und der Mission. Einer Welt, die sich einbildet, christlich zu sein, und die tatsächlich das Christentum verweltlicht hat, muß man das Evangelium neu predigen. Wenn man im Blick auf das 16. Jahrhundert sagen konnte, daß es die Reformatoren waren und entgegen dem Augenschein nicht die Täufer, die der großartigen Heuchelei des Corpus christianum den Gnadenstoß versetzten, jener apriorischen Voraussetzung der Allgemeinheit des Glaubens, der Zustimmung aller zum Glauben in einer societas christiana40 , so kann man im voraus die gleiche Behauptung für die 40
P. Peachey, Die soziale Herkunft der Schweizer Täufer in der Reforrnationszeit. Eine
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Waldenser im Blick auf das 12. Jahrhundert aufstellen. Gegenüber einer Kirche, die sich zu gut in dieser Welt eingerichtet hatte, indem sie deren Sicherheits- und Machtkriterien übernahm, die in Theorie und Praxis eine großartige Synthese von Natur und Gnade verwirklicht hatte, die den Menschen erlaubte, sich Bekehrung und Buße zu sparen, indem sie sich als Christen bekannten und Weltmenschen blieben, wußte diese Gruppe von Gläubigen alles aufs Spiel zu setzen, um ihren Zeitgenossen anzuzeigen, daß sich als Christ zu bekennen, bedeutete, nicht mehr "sich irdischen Mühen und dem Gelderwerb zu widmen", sondern auf der Spur der ersten Jünger Jesu ein Leben im ausschließlichen Dienst der Predigt zu leben. "Indem wir zur Urkirche zurückgehen, wollen wir hören, welche Arbeit der Herr seine 70 Jünger gelehrt hat. "41 Stellt eine solche Lebensführung, die frei von allen strukturellen Sicherheiten ist, - weshalb diese Männer einem Beobachter auf dem 3. Laterankonzil 1179 als "nudi nudum Christum sequentes", als paradoxe, wandernde Verkündiger dessen, der in der Welt nicht hat, "wo er sein Haupt hinlegen kann" (Lk 9,58), erschienen waren, - nicht vielleicht den besten Ausdruck des sola fide und der auf Gott und nicht auf profane noch auf religiöse Werte des Menschen gegründeten Gerechtigkeit dar?
8. Das Konzil von Trient Die verschiedenen Tendenzen, die sich im Gegensatz und Ausgleich seit den ersten Jahrhunderten durch das ganze Mittelalter hindurch überschneiden, finden ihre vollständige Systematisierung in den Dekreten und Kanones, die das Konzil von Trient (1545-1563) als Antwort auf die Rechtfertigungsbotschaft verabschiedete, die die protestantische Reformation verkündigt hatte und die man als Hauptpunkt der konfessionellen Abweichung betrachtete1 • Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert reift die Krise der katholischen Gesetzlichkeit, aber gleichzeitig haben im Hochund Spätmittelalter augustinische Strömungen, die für die Gnade offen waren, Gestalt angenommen. Die beiden Tendenzen fließen in den Forreligionssoziologische Untersuchung, Karlsruhe 1953, 101; J. H. Yoder, Täufertum und Reformation im Gespräch, Zürich 1968, 147. 41 Liber Antiheresis, cap. 28. Vgl. G. Gonnet, Fonti per la storia deI Valdismo medioevale, Facolta Valdese di Teologia - Vorlesungsschriften Akademisches Jahr 1950-51" Rom 1951, 248. 1 Ein riesiges Material findet sich in CONCILIUM TRIDENTINUM Diariorum, actorum, epistularum tractatum nova collectio, Görres-Gesellschaft, Freiburg i.Br. 1901-1961, 13 Bde.; H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient I, Freiburg i.Br. 1949, 11, 1957; G. Schreiber (Hg.), Das Weltkonzil von Trient, 2 Bde., Freiburg 1951; besonders zur Rechtfertigung: H. Rückert, Die Rechtfertigungslehre auf dem Tridentinischen Konzil, Berlin 1925.
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meIn des Konzils zusammen und erklären deren zusammengesetzten Charakter, den katholische Kommentatoren als "gleich fern vom Neopelagianismus der Humanisten und vom Pessimismus der Reformatoren "2 preisen. Ein zeitgenössischer Beobachter, der weniger idealisiert und vorurteilsloser ist, Fra Paolo Sarpi, notierte, daß während der langen Monate ermüdender Verhandlungen des Dekrets (von Juni 1546 bis Januar 1547) die verschiedenen Fraktionen "in ausgezeichneter Einmütigkeit übereinkamen ... die lutherischen Meinungen zu verdammen". Jedoch "gäbe der vielleicht die Wahrheit wieder, der sagte, daß, indem sich die widerstreitenden Meinungen bei der Formulierung des Dekretes bekämpften, jede Seite die Wörter mit einem ihrem eigenen widerstreitenden Sinn ablehnte, weshalb man bei jenen stehenblieb, von denen jeder annahm, sie seinem Sinn angleichen zu können, woraus sich ein Ausdruck ergab, der widerstreitender Auslegung fähig war"3. Das Ergebnis wäre also kein Meisterwerk an Ausgewogenheit und Harmonie, sondern eineMasse von T~ick~Jlil:d~wei~eu~gkeiten. Jedenfalls war es die Reformation, die die katholische Kirche veranlaßte, die eigene Stellung in der Sache systematisch auszudrücken. Vor dem 16. Jahrhundert haben die scholastischen Traktate "die Rechtfertigungslehre meistens als Anhängsel der Gnaden- oder Sakramentenlehre und in verschiedenen verstreuten Äußerungen behandelt"4. Auf der Spur der Reformatoren sah sich das katholische Denken zum ersten Mal gezwungen, die Rechtfertigung zur Würde zu erheben, "ein umfassendes selbständiges Lehrstück" zu sein. Und ähnlich wie es Jahrhunderte später mit dem Vaticanum 11 geschehen wird, hat der gleiche Wunsch zur Angleichung die katholischen Theologen angeregt, "weitgehend die biblische statt die scholastische Terminologie" zu gebrauchen5 • Nach dieser fcierrrcheriEtklätuI1g, ·die eine offene Verwerfung der reformatorischen Botschaft zum Ergebnis hatte, wurde das Thema Rechtfertigung nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen. Man hat gesagt: "Die Lehrfestsetzungen dieses Konzils sind bis heute im wesentlichen das letzte Wort des katholischen Lehramts über Gnade und Rechtfertigung geblieben. "6 Nicht einmal als Antithese hat das Thema der Rechtfertigung aus Glauben im 2
H. Rondet, a.a.O., 277; vgl. H. A. Obennan, Das tridentinische Rechtfertigungsdekret
im Lichte spätmittelalterlicher Theologie, ZThK 61 (1964), 251ff. 3 Fra P. Sarpi, Istoria deI Concilio Tridentino I, Bari 1935, 368. Anders lautet das Urteil des Kardinals Sforza Pallavicino, Istoria deI Concilio di Trento I, Rom 1664, Libro 8, cap. 18, 852, der von "bewundernswerter Eintracht" redet. Im Sinne einer Bewertung jenseits der Zufälligkeit äußert sich J. B. Bossuet, a.a.O., m, 425ff (Livre 15/CLVIII). 4 H. Küng, Rechtfertigung. Die Lehre Kar! Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 19624, 113. 5 Ders., a.a.O., 113. 6 W. Joest, Die katholische Lehre ... , 9.
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katholischen Bewußtsein Fuß gefaßt. Selbst im tridt;!l1tinischen Katechismus findet man kein Kapitel über die Rechtfertigung, sondern einfach die Behauptung, nur der katholischen Kirche sei die "himmlische Gabe";aie "Macht", "rlieSüriden erlassen und aus ungerechten Menschen gerechte zu machen" mittels der Sakramente, die von rechtmäßigen PrIestern verWaltet werden, anvertraue. Die Ausrichtung des Konzils von Trient kann bei unserer Frage wesentlich vor allem im Sinne des Synergismus gekennzeichnet werden, der auf allen Ebenen eine Konstante der katholischen Theologie darstellt und ihrem Geist zutiefst entspricht. Es ist symptomatisch, daß sich die katholische Polemik von Anfang an in ihren Ausdrucksformen, in der Absicht die protestantischen Thesen zu bekämpfen, auf die judenchristlichen Formeln des Jakobusbriefes bezogen hat. So hat es schon 1523 Johannes Cochlaeus in seiner Polemik Adversus cucullatum Minotaurum Wittenbergensem B und dann ausdrücklich das Konzilsdekret getan 9 • Es ist geboten, die Struktur der beiden konstitutiven Elemente dieses Synergismus näher zu prüfen: die göttliche Gnade und das menschliche Mitwirken. Was versteht man in katholischer Sicht unter göttlicher Gnade? In den tridentinischen Texten kann man entschieden antipelagianische Behauptungen feststellen. Das Konzil will sich über die Ebene einer Alternative Glaube - Werk stellen und lehrt, daß weder der Glaube noch die Werke einen Wert an sich besitzen, weil keines der Dinge, die der Rechtfertigung vorausgehen, einen Anspruch hat, die Gnade der Rechtfertigung selbst zu verdienen. In der Tat wird die Rechtfertigung ganz und gar umsonst gegeben, sonst hätte es keinen Sinn mehr, von Gnade zu sprechen, wie der Apostel gesagt hat (Röm 11,6) und wie "der ewige Konsens der katholischen Kirche" immer geglaubt und gelehrt hat10 • Die Gnade Gottes geht also jeder Bewegung und Leistung des Menschen voraus. Ohne die zuvorkommende Inspiration und Hilfe des Heiligen Geistes kann der Mensch weder so glauben, noch hoffen, noch lieben, noch bereuen, daß er die Rechtfertigungsgnade erlangtl l . Jeder, der lehren sollte, dem Menschen sei es möglich, ohne die Gnade, allein durch seine-riatürlichen Kräfte und seine .eigenen Werke vor Gott gerechtfertigt zu werden, wird
zu
7 Catechismo secondo il Decreto deI Concilio di Trento ai Parrochi, zum ersten Mal auf Befehl des Papstes Pius V. veröffentlicht und dann auf dessen Anordnung hin durch den ehrwürdigen Pater Alessio Figliucci in die Volkssprache übersetzt, Turin-Rom 19313, 110-112. Der Katechismus wurde von Johannes XXIII. auf der römischen Synode 1960 aufgewertet. W. Köhler, Dogmengeschichte als Geschichte des christlichen Selbstbewußtseins Ir, Zürich 1951, 372. B J. Cochlaeus, Adversus cucullatum Minotaurum Wittenbergensem, in Mirbt-Aland', a.a.O., I, 517. 9 DS 1535. 10 DS 1532. 11 DS 1525-1553.
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mit dem Anathemli l:>~l~gt, das heißt, aus der katholischen Gemeinschaft ausgesduossen12 • Sätze dieser Art erlauben katholischen Theologen wie Hans Küng in den triumphierenden Schluß auszubrechen, über das GrundprooIeiii~aer Gnade bestünde zwischen der katholischen Lehre und der Theologie Barths eine wesentliche Übereinstimmung ohne weitere, ernste Unterschiede13 • So kann er feierlich erklären: "Und da ist es doch sicher bedeutungsvoll, daß gerade in der Rechtfertigungslehre, wo die reformatori~~Th~ologie ihreIl Ausgang genommen hatte, heute wieder grundsätzli~e Ubereinstimmung besteht zwischen katholischer und evangelischer Theölogie. '~14Protestantischerseits scheinen gewisse Theologen der Streitigkeiten müde und zu einem kritischen Sinn unfähig geworden zu sein, vielleicht von Bedenken beseelt, nach einem Mißverständnis von Jahrhunderten, den christlichen A.bsichten der Vertreter anderer Konfessionen redlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wobei sie den für gemeinsam gehaltenen Aussagen ein größeres Maß zubilligen15 • Der Unterschied ist zwar fein, aber radikal, sieht man aus der Nähe hin. Wie y~rst~ht man diese "Gnade" und wie kommt sie zustande? Das Konzil erklärt, daß die Rechtfertigung, das heißt der übergang aus dem Stand des Sohnes, des ersten Adam, zum Stand des Gotteskindes mittels des zweiten Adam, Jesus Christus, nicht ohne das Bad der Wiedersagen, die -Taufe sei rocht geburt in der Taufe geschehen kann. hei~n:2J-W:e!i:4igt führt zum Anathema: ohne die Taufe verWirklicht· sich die Rechtfertigung -nicht16. Abstrakt behaujJt~t!llan,_ßaßQe~ M~nsc~ sich vorbereiten und zur eigenen Rechtfertigung mitWirken Inl!ß17. Aber-wenn man-genaulifusieht, -PaiCdes Menschen beschränkt, der sich vom istales-es Prinzip auf Heidentum oder Atheismus zum Christentum bekehrt. Konkret im Fall des bestehenden Christentums ist die Rechtfertigung ja untrennbar mit der Taufe verbunden und wird mittels der Taufe Wirklichkeit. Und da die Taufe ja denl
Zu
eren
DS 1551. H. Küng, a.a.O., 189, 192, 200, 270, 273. 14 Ders., a.a.O., 276. 15 Zum Beispiel: P. Brunner, Die Rechtfertigungslehre des Konzils von Trient, in Pro Veritate, Festgabe für Erzbischof L. Jäger und Bischof W. Stählin, Münster-Kassel 1963, 59ff. Anders ausgerichtet: W. Joest, Die tridentinische Rechtfertigungslehre, KuD 9 (1963), 41ff; A. Peters, Reformatorische Rechtfertigungsbotschaft zwischen tridentinischer Rechtfertigungslehre und gegenwärtigem evangelischem Verständnis der Rechtfertigung, LutherJahrbuch 31 (1964), 77ff. Ich konnte nicht einsehen: W. Joest, Die tridentinische Rechtfertigungslehre und ihr Verständnis in der gegenwärtigen katholischen Dogmatik, Lutherische Rundschau 1962, 261ff. 16 DS 1524, 1618, 1529. 17 DS 1525, 1526, 1527, 1528, 1529. 18 DS 1625, 2626, 1627. 12 13
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ergibt sich, daß die Rechtfertigung, im ursprünglichen und strengen Sinn von Rechtfertigung aus Gnade, jenseits der Bewußtseinssphäre der Gläubigen bleibt, nicht den Prozeß der Reue und des Glaubens voraussetzt und somit nicht als aus Glauben erfolgend erfaßt werden Kini:J.:Diese J'atsache kannzum großen Teil die katholische Unempfindlichkeit für die Frage-tin<:( die wiederkehrenden Mißverständnisse erklären. .. . . Praktisch haben die bewußte Teilnahme und folglich das verantwortliche Eintreten des Glaubens nur während der Phase der Buße die Möglichkeit sich zu verWIrKliChen. Unter Buße versteht die k~thQli~~fi~Tli€iol()gie etwas grundsätzlich anderes als metanoia in den evangelischen Texten: die Vulgata ("paehitehtiam agite"J und die modernen Übersetzungen konkurrieren im Anhäufen von Zweideutigkeiten. Das Konzil von Trient hat mit der Aufnahme eines Begriffs der Alten Kirche bestätigt, daß die c.Jal!§i, das heißt jene, die nach dem Empfang der Rechtfertigungsgnade in Sunde fielen, von neuen ger~chtfertigt .. werdenkönnen, das heißt, . die I Gnade und die verlorene GerechtlgkeitwieclererIangenkönnen; ·hicht mittels des Glaubens, sondern wenn sie sich dem Bußsakramentunterwerfen. Es sieht vor, sich von den Sünden zu enthalten und sie zu verabscheuen, das beinhaltet sakramentale Beichte und Absolution und gleichzeitig "die Genugtuung durch Fasten, Almosen, Gebete und andere fromme ÜbUngen des geistlichen Lebens"19. Es handelt sich um das Sakrament, das Jesus eingesetzt haben soll, als er nach seiner Auferstehung von den Toten sagte: "Wem ihr die Sünden erlaßt, dem sind sie erlassen; und wem ihr sie anrechnet, dem sind sie angerechnet." (Joh 20,23). Man ahnt es angeblich schon aus seinen Worten am Anfang seines Amtes "Tut Buße!" voraus (Mt 4,17). Auch der Apostelfürst Petrus soll es bekräftigt haben, als ermahnte: "Tut Buße!" (Act 2,38)20. "DiesesJ~uJ~sa krament ist nun aber für die Gefallenen nach der Taufe heilsnOtwendig, wie für die noch nicht Wiedergeborenen die Taufe selbst. "21 Denn es versöhnt sie wieder mit Gott und führt sie zur Reclltfertigung22. Mit diesem Sakrament sind die Priester der kaih-olischen Kirche mit der Funktion von "vicarii Christi '~-betraut, als "praesides et iudices, ad quos omnia mortalia cririliiii ·diferantur"iiiit der "potestas" der Schlüssel, die sie befähigt, die Vergebung und die Verurteilung der Sünden auszusprechen23 . Der Mensch auf der Suche nach der Rechtfertigung kann sich nicht mit Glauben auf das Wort der Verheißung und der Vergebung des Herrn beziehen, das ihn rechtfertigt; er ist vom Spruch der Absolution oder 19 DS 1542, 1543, 1579. 20 DS 1542, 1669, 1670. 21 DS 1672, 1706. 22 DS 1670, 1674, 1678. Vgl. B. Poschmann, Buße und letzte Ölung, HDG IV/3, Freiburg i.Br. 1951; R. Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968; H. Karpp, Die Buße, Quellen zur Geschichte des altkirchlichen Bußwesens, Zürich 1969. 23 DS 1670, 1679.
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~icht~b~91utioI1A~~ Priester~ a~!läEgig,der
ihm die Beichte abnimmt und "iure divino" zu richten2 -t. Das Konzil trägt SOIge,:feslzusteHen,
qet allein die Macht hat, ihn
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DS 1706. DS 1600.
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DS 1685, 1709. DS 1606, 1608.
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DS 1685, 1712.
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Die judenchristliche Tradition
mentskirche" zu definieren, ist beeIndruckend. Nach seinem Urteil kann das Dekret über die Rechtfertigung nur in dem ihm eigenen ekkleslologischen Kontext verstanden werden, das heißt, wenn man es nicht isoliert für sich betrachtet, sondern in der Perspektive der anderen Dekrete, die mehr die von einer jahrhundertelangen Tradition gefestigten Denkgewohnheiten der römischen Kirche wiedergeben. Für sie "ist es ziemlich gleichgiltig, wie sie über Rechtfertigung und Erbsünde zu lehren beliebt; denn alle Sätze, die sie hier proc1amirt, mögen sie nun mehr nominalistisch oder augustinisch-thomistisch oder selbst reformatorisch lauten, stehen ja lediglich als Untersätze unter dem Obersatz, daß die Gewohnheiten der römischen Kirche das oberste Qesetz sind". Sie beschloß in Trient, römische Kirche zu bleiben, indem sie es ablehn.te, sich zu reformieren. "So hat sich die Kirche in der specifischen Verweltlichung als Opfer-, Priester- und Sacramentskirche durch das Tridentinum abgeschlossen. .. Alle Auseinandersetzungen über Gnade, Freiheit, Sünde, Gesetz, gute Werke u.s.w. sind im besten FaJHndie zweite Stelle gerückt; denn sie werden nur unter der Voraussetzung geführt, dass die Kirche unter allen Umständen sich als das behauptet, was sie geworden ist, als die päpstliche Opfer- und Sacramentsanstalt. "29 Dennoch gelang es mit all dem dem Kathollzismus noch nicht, sich in den tridentinischen Dekreten gänzlich auszudrücken30 • Es werden noch weitere 400 Jahre vergehen, bis er zu einer systematischeren ekklesiologischen Selbstbehauptung gelangt. Aber schon in Trient hat sich ergeben, daß die Mittlerschaft der Kirche an die Stelle des Mittlers Christus getreten ist, die man~ls aktuelle Fortsetzung des Werkes Christi unter den Menschen betr:
Das Konzil von Trient
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Vermittlung übernommen hat. Die Kirche mit ihrem Charakter der Allgewalt, den sie durch göttliche Verleihung erhalten hat, sorgt dafür, "die Menschen aus Ungerechten zu Gerechten zu machen", indem sie die Rechtfertigungsgnade verwaltet und spendet. Die Sorge des Menschen vor Gott in der Alternative Glaube oder Unglaube löst sich auf in die Unterwerfung und Auflehnung gegenüber den Organen der kirchlichen Institution. . Das Kapitel 7 des Dekrets Über die Rechtfertigung trägt die Überschrift: "Was die Rechtfertigung des Gottlosen ist." Aber der Inhalt des Kapitels und aller anderen, die vorausgehen und es begleiten, entspricht nicht diesem Titel. Der wirkliche Titel hätte lauten müssen: Die Rechtfertigung des Frommen oder die Rechtfertigung des Gerechten. Schon im ersten Abschnitt des Kapitels ist von der Rechtfertigung die Rede, wobei man ausschließt, daß sie einer einfachen Sündenvergebung gleich sei. Vielmehr handele es sich um einen Vorgang, der verschiedene Momente einschließt, "so daß der Mensch aus einem ungerechten zu einem gerechten wird". Im zweiten Abschnitt heißt es genauer, daß wir nicht nur als gerecht betrachtet, sondern daß wir gerecht genaimt werden und es wahrhaftig sind ("non modo reputamur, sed vere iusti nominamur et sumus")31. Es ist tatsächlich von einem Anfang, einer Zunahme und einem Beharren in diesem Werden der Rechtfertigung die Rede. Der Glaube wird als "Anfang des menschlichen Heils, Grundlage und Wurzel jeder Rechtfertigung" betrachtet32 . Es handelt sich keineswegs um jene "fides ex auditu", von der die Apologie der Confessio Augustana spricht, die eine lebendige Beziehung zu Gott herstellt, insofern "Deus non potest apprehendinisi per verbum", so daß "iustificatio fit per verbum "33. Der Glaube steht nicht im direkten Bezug zu Gott und zu seinem Wort: er stellt sich eher als eine gelehrige und gutwillige Annahme der Autorität und der Funktion der Kirche dar, die das Heil verwaltet und vermittelt; das heißt, er bezieht sich auf die Taufe, die als "sacramentum fidei", als Wirkursache der Rechtfertigung quaÜfiziertwird, "olüiedieriiemalsjemandem die Rechtfertigung :Zuteil geworden ist34 ." .Obendrein wird sogleich klargesh~l1t, daß das Allein-aus-Glauben unannehmbar ist, wie man scharfsinnig bemerkt hat. "Da nämlich das Schriftprinzip, concret gefaßt, nichts anderes ist, als die Kehrseite der Lehre vom rechtfertigenden Glauben "3\ ist es also logisch, daß die Zurückweisung des sola Scriptura im Gleichschritt geht mit der Zurückweisung des sola 31 DS 1528, 1529. 32 DS 1532. 33 BSLK3, 173. 34 DS 1529. 35 H. J. Holtzmann, Kanon und Tradition, Ludwigsburg 1859, 22, zit. bei G. Maron, Kirche und Rechtfertigung, Göttingen 1969, 163.
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fide. Wenn der Mensch nicht vom Wort Gottes allein abhängt, hat es keinen Sinn, daß er an das Wort Gottes allein glaubt. Offenkundig faßt man den Glauben als eine Leistung des Menschen auf der Linie seiner frommen und guten Werke auf, die in sich oder aus sich einen Wert haben, nicht extra se, nicht allein auf jenen bezogen, an den der Mensch glaubt36 • Es wird bekräftigt, daß der Glaube allein keinerlei rechtfertigenden Wert hat, wenn man darunter versteht, daß zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade andere mitwirkende Faktoren nicht notwendig seien. Wenn zum Glauben nicht Hoffnung und Liebe hinzutreten, kann man sich nicht einbilden, in die Gemeinschaft mit Christus einzutreten und ein lebendiges Glied an seinem Körper zu werden37 • Zur Erlangung der Rechtfertigung muß man insgesamt die Heiligung und die Erneuerung des inneren Menschen in Rechnung stellen: die Angleichung von Rechtfertigung und Heiligung ist eine Konstante des katholischen Bewußtseins38 • Wenn man die Möglichkeit der Rechtfertigung ernst und konkret darlegen will, ist es unerläßlich, daß die aktive und andauernde Mitwirkung des Menschen beim Vollbringen guter und verdienstlicher Werke hinzukommt. Diese Mitwirkung muß vom ersten Augenblick an ins Spiel kommen, der eine bestimmende Bedeutung hat, um den Menschen für die Gnade vorzubereiten und zu disponieren: das Konzil bekräftigt feierlich, daß der freie Wille nach der Sünde Adams in seiner Kraft gewiß geschwächt, aber keineswegs völlig ausgelöscht ist, so daß ihm die Möglichkeit verbleibt, die Gnade anzunehmen oder zurückweisen39 • Es war auf der Grundlage einer radikalen theologischen Einsicht gewesen, daß Luther seit der Heidelberger Disputation 1518, indem er Augustin zitierte, behauptete, daß nach der Sünde der freie Wille nur noch dem Namen nach ein solcher bleibe, weil er tatsächlich nicht mehr frei sei,
36 Die Erläuterungen katholischer Dogmatiker erscheinen uns weder klärend noch überzeugend: B. Bartmann, Lehrbuch der Dogmatik, Freiburg LBr. 1932 8; 1. Ott, Grundriß der Dogmatik, Freiburg LBr. 19522 ; M. Schmaus, Katholische Dogmatik, München o.J.; H. Küng, a.a.O., 97ff, 294ff. 37 DS 1599, 1564, 1531. 38 DS 1528. Die Unterscheidung von Rechtfertigung und Heiligung, die Küng glaubte als für Barth und den Katholizismus gemeinsam darstellen zu können, wurde von J. Ratzinger, Besprechung von Küngs "Rechtfl1rtigung". ThRv 54 (1958), 33, als "dem Tridentinum und der katholischen Überlieferung fremd" zuriickgewiesen. 39 DS 1521, 1544, 1555. Das Konzil scheut sich nicht, mit irritierender theologischer Inkonsequenz, die eine formale Kontinuität wahren soll, auf das 2. Konzil von Orange von 529 (Arausicanum zu verweisen, das unter augustinischem Einfluß die entgegengesetzte These vertreten hatte: Zu behaupten, nur der Körper sei dem Verderben durch die Übertretung Adams unterworfen, während die Seele unverletzt und der freie Wille wirksam bleibe, so daß er das Wissen um Gott und das Geheimnis des ewigen Heils erlangen könne, bedeutet, daß man durch den Irrtum des Pelagius getäuscht worden ist und im Widerspruch zur Schrift steht. DS 371, 378. Vgl. P. Brunner, a.a.O., 61ff.
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außer zum Sündigen40 , und daß er am Schluß seines Werkes von 1525, das er an seinem Lebensende zusammen mit dem Kleinen Katechismus als "mein richtiges Buch" bezeichnete, De servo arbitrio, Erasmus gedankt hatte, ihn nicht mit abschweifenden Untersuchungen "über Papsttum, Fegefeuer, Ablaß und Ähnlichem - wobei es sich vielmehr um unnützes Zeug als um ernsthafte Dinge handelt" - gelangweilt zu haben. "Einzig und allein du hast den Kardinalpunkt der Sache erkannt", wobei Erasmus den Gegner bei der Kehle packe4i. Alle Bekenntnisse der Reformation, sei es vom lutherischen Zweig oder vom calvinistischen, bestätigen diese Überzeugung. Der Glaube, durch den der Mensch den lebendigen Gott entdeckt und sein Wort der Gnade hört, ist ein Geschenk und eine Tat Gottes am Menschen, die in keiner Weise vom Menschen kommt, weil kein Mensch zu Christus gehen kann, wenn es ihm nicht vom Vater geschen.kt wird (Joh 6,44-65). Keiner kann sagen, ,Jesus ist der Herr', außer durch den Heiligen Geist (1. Kor 12,3); Fleisch und Blut offenbaren nichts anderes als Dinge aus Fleisch und Blut (Mt 16,17); nur wer aus Gott geboren ist, kennt Gott (Joh 3,3-8); der natürliche Mensch kennt nicht und empfängt nicht die Dinge des Geistes Gottes, "es ist ihm eine Torheit"; nur wer nicht mehr vom Geist der Welt beseelt wird, sondern vom Geist, der aus Gott kommt, weiß, "was uns von Gott geschenkt ist" (1. Kor 2,9-13). Das Konzil von Orange war sich dieser Dinge noch bewußt, das Konzil von Trient scheint tausend Jahre später die evangelischen Lehren aus dem Blick verloren zu haben und betrachtet es als eine unerhörte und unerträgliche Verkehrung der "Neuerer", als eine "müßige Überlegung", zu behaupten, daß der Glaube ein Werk des Heiligen Geistes ist, der vom Tode befreit und ein neues Leben erzeugt42 • Es hat vorgezogen, den Glauben_alsejn Werk der Zusammenarbeit zu verstehen, bei der der Mensch mit seinem freien-Willen über die letzte Alternative verfügt, zu 40 M. Luther, Disputatio Heidelbergae habita, WA 1, 354, 359. Erst Leo X. in der Bulle "Exsurge Domine" und dann das Konzil von Trient haben diese Ausdrücke Luthers ausdrücklich zurückgewiesen: DS 1486, 1555. 41 M. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 786 (dt. nach Martin Luther, Ausgewählte Werke, H. H. Borchert - G. Merz (Hg.), Ergänzungsreihe, Bd. 1, München 1962" 248, im folgenden Text als MA bzw. MAE). 42 BSLK, 172f "Die Widersacher haben nichts Gewisses, können nirgend recht sagen oder verständlich davon reden, wie der heilige Geist geben wird. Sie erdichten ihnen eigene Träume, daß durch schlecht leiblich Empfahen und Brauchen der Sacrament ex opere operato die Leut Gnad erlangen und den heiligen Geist empfahen, wenn schon das Herz gar nicht dabei ist; gleich als sei das Licht des heiligen Geistes so ein schlecht, schwach, nichtig Ding." Der Glaube ist "nicht ein müßiger Gedank", "sondern ein solch neu Licht, Leben und Kraft im Herzen, welche Herz, Sinn und Mut verneuert, ein andern Menschen und neu Kreatur aus uns macht, nämlich ein neu Licht und Werk des heiligen Geistes ... (Vgl. lt. Text.)
6 Subilia, Rechtfertigung
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Gott ja oder nein zu sagen. Bei diesem Ansatz wird die Rechtfertigung dem placet oder non placet des Menschen untergeordnet. Dadurch gewinnt sein Eingreifen eine Dimension, die ihren symbolischen Ausdruck im "fiat" Marias findet, mit dem ganzen Raum zu weiterer Ausdehnung, den die Mariologie sich im Katholizismus gesichert hat. Man darf die innige Beziehung nicht übersehen, die zwischen der katholischen Marienlehre und der katholischen Rechtfertigungslehre besteht. Die Mitwirkung, die ihren Anfang beim freien· Willen nimmt, muß bei allen folgenden Phasen der Rechtfertigung fortgesetzt werden und konstant sein: der Prozeß, der die Rechtfertigung fördert, vollendet sich in der Heiligung, das heißt beim Üben guter Werke, die eben eine Vermehrung der Rechtfertigung selbst zum Ziel haben und die sich "durch die Beachtung der Gebote Gottes und der Kirche" konkretisieren43 • Aufgrund der Tatsache, daß die Kirche als "unum corpus mysticum" Christi betrachtet wird 4\ was schon 1302 in der BiiIIe" Unam sanchifu "v()nBonifaz VIII. formuliert worden ist, werden die Amtsträgerder Kirche die Repräsentanten, die Stellvertreter und die Geschäftsführer Christi; der Bezug der Mitwirkung zwischen Mensch und Gott löst sich in den fügsamen und unterwürfigen Gehorsam der Menschen gegenüber den Anordnungen der kirchlichen .Organe auf, die als Mittler Gottes fungieren 45 • So ist der Mensch einmal mehr mit der kirchlichen Institution und nicht mit Gott konfrontiert, und er muß im Bezug zur kirchlichen Institution, nicht im Bezug zu Gott sein Problem des Glaubens oder Unglaubens lösen46 • Dieser Ansatz hat dauernde Auswirkungen auf den Geist des katholischen Menschen: sein christliches Interesse löst sich normalerweise in Unterwerfung' unter die klerikalen Weisungen auf, wOII1itf~st immer theologisches Desinteresse und folgerichtig .Unkenntnis einhergehen; eine antikirchliche Reaktion WIrd verhängnisvoll zu einer antichristlichen Reaktion, ohne die Möglichkeit einer anderen Alternative zu erfassen. Wenn ihm einmal das Vertrauen in die Kirche als eine geschichtliche Institution nach göttlichem Recht fehlt, geht ihm auch. der Grund des Glaubens an Gott und die Möglichkeit einer. Öffnung zu einer anderen DS 1535, 1570, 1574. 44 DS 870. Es ist hier nicht unangebracht, daran zu erinnern, daß in der vortridentinischen katholischen Frömmigkeit Franz von Assisi im Gegensatz zu den Waldensern - die durch den Predigtbefehl gedrängt, den Anordnungen der kirchlichen Autoritäten ihrer Zeit mit dem Satz begegneten, "man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen", - seine Stellung gegenüber jenen Autoritäten so ausdrückte: "Sie und alle anderen will ich achten, lieben und ehren wie meine Herren. Und ich will nicht bei ihnen die Sünde betrachten, weil ich in ihnen den Sohn Gottes sehe und sie meine Herren sind... Alle Theologen und alle, die das allerheiligste Wort Gottes predigen, müssen wir ehren und verehren als soiche, die uns Geist und Leben austeilen." Testamentum 3, zit. nach R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmenge· schichte III, Leipzig 1930" 310 ff. 46 G. Maron, a.a.O., 224; P. E. Persson, Repraesentatio Christi, Göttingen, 1966, 163ff. 43
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Auffassung des Evangeliums verloren. Das ist einer der nicht offenkundigen;jedoch'fürtdamentalen Gründe der ausgebliebenen Reformation in Ländern mit einer nicht nur katholischen, sondern klerikalen Tradition ohne den Vergleich mit konfessionellen Alternativen: die ausgebliebene Reformation findet ihren negativen Ersatz in starken skeptischen und antlklerikalen Strömungen. Der ständige Beitrag 'des Menschen zur eigenen Rechtfertigung führt dazu, ein Vermögen an Gerechtigkeit aufzuhäufen, die nicht anders als iustitia-'propria bezelcluief werd.en kamt. Christus ist für alle gestorben, äDefnur äie könn.en gerecht werden, die zustimmen, daß ihnen die Verdienste des Leidens und Sterbens Christi sakramental vermittelt werden, und die zur Zustimmung die aktive und dauerhafte Mitwirkung der eigenen Verdienste hinzufügen47 . Die Gerechtigkeit Christi, die uns mittels des Sakraments eingeflößt wird, steht nicht im Gegensatz zu unserer Gerechtigkeit, die wir uns mit geistlichen Übungen, die von der Kirche vorgeschrieben sind, verschaffen. Auch diese letzteren tragen dazu bei, die von Gott empfangene Gerechtigkeit zu vermehren, das heißt, sie verdienen eine Vermehrung der Gnade und der ewigen Herrlichkeit48 • Den Menschen, die bis zum Ende gut handeln, ist also das ewige Leben als eine Gnade und zur gleichen Zeit als eine Belohnung verheißen ("tamquam gnitia et tarilquam merces")49. Diese abnorme Zusammenstellung des Gnaden- und Verdienstgedankens erscheint einem nichtkatholischen Beobachter nicht nur überraschend, sondern geradezu unverständlich, da man normalerweise unter Gnade auch im juristischen Sprachgebrauch die Umwandlung einer Höchststrafe in einem souveränen Gnadenakt versteht, den Gnadenspruch gerade für einen Schuldigen, der nur der Verurteilung würdig ist, der kein positives Verdienst, keine Unschuld hat, die zu seinen Gunsten angeführt werden können: wenn er etwas derartiges hätte, wäre er weder zu verurteilen noch zu begnadigen; es gäbe keinen Grund für ein Verfahren. Wo~s den_.V.~:t(l!enstg~da~en .gi:I2!t J!!!t_ß~r G~~~n.ke ßer Gnade ~~~!!~J)l.atz noch Seinsgrund. In den tridentinischen Texten verschiebt sich der Akzent vom Akt der Gnade des rechtfertigenden Gottes auf den Stand der Rechtfertigung des Gerechtfertigten: die Rechtfertigung stellt sich als ein Gegebenes, eine Existenzbedingung, dar,die anwachsen oder aonehmen oder geradezu verlorengehen kann ("amissa iustitia")5o. Es handelt sich also nicht um eine iustitia aliena, extra nos habitans, eine Gerechtigkeit, die völlig auf 47
DS 1523, 1530. 48 DS 1547, 1574, 1582. DS 1545. so DS 1579, 1582, 1600. Vgl. W. Dantine, Die Gerechtmachung des Gottlosen, München 1959,39ff. 49
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Gott und den Verheißungen seiner Erfüllung gegründet ist, also um eine Gerechtigkeit, die nur und ausschließlich im Glauben empfangen werden kann, wie Luther predigte, sondern es handelt sich um einejystitia nostra, die man bei uns feststellen kann, die unser Eigentiü:Ii-geword~ls~-aieuiis innewohnt, weil wir sie durch die Verdienste Christi, die mit unseren Verdiensten verbunden sind, erworben haben51 • Man kann nur schwer leugnen, daß dieser Auffasung jene Tendenz zugrunde liegt, die auf rationale und verifizierbare Motive der Glaubwürdigkeit zielt. Sie entwickelt sich von der Apologetik des 2. Jahrhunderts bis zu den Dekreten des 1. vatikanischen Konzils, nach denen kein wirklicher Gegenslltzz:wischen Vernunft und Glaube bestehenkann52 • In diesem Kontext ist eine GerechtigkeiTunveistanaliCn~(fie--nurgeglaubt wird, ohne eine breite Grundlage rationaler Überprüfbarkeit,diemittels derInstruIllente kirchlicher Disziplin bestätigt wird. Hat nicht ein Theologe unserer Zeit die Kirche als "das sichtbar gewordene Heil" definieren können 53? Wir stehen einem beeindruckenden Phänomen religiöser Säkularisation gegenüber, die die eschatologische Spannung des Glaubens auflöst. Deshalb versteht man nicht mehr, daß Gottes Gabe sich nicht von seiner lebendigen Gegenwart unterscheidet, und daß seine lebendige Gegenwart nur im Glauben immer neu empfangen werden, aber niemals Natur oder Struktur werden kann. Hier vollzieht sich der nach dem Maßstab des Evangeliums illegitime Übergang von der Kategorie des Glaubens, der die Zeiten Gottes erwartet, zur Kategorie des Seins, das hier und jetzt in der gegenwärtigen Zeit der verifizierbaren Erfahrung das Objekt der Verheißung besitzt. Die GerechJigkeitbesteht in re, nicht in ,spe; der gerechtfertige Mensch wiia- als in statu patriae befindlich, nicht mehr in statu viae dargestellt. Man versteht daher die Ablehnung des sola lide sowie den Bedeutungsverlust des Glaubens für die Rechtfertigung, - gleichsam als hätte der Glaube nur am Anfang des Rechtfertigungsprozesses eine zeitliche Funktion, nämlich am Ausgangspunkt eines Weges, den der Mensch dann bis zum Ende durchlaufen muß, ehe er eine Gewißheit erreicht, die ihm weder die Hilfe der kirchlichen Organe, noch die ausdauernde Übung der guten Werke vermitteln können54 • Es ist gerade die Behauptung, die Gerechtigkeit sei nicht im exklusiven Sinne eine Glaubensgewißheit, sondern eine Qualität, die zu einer dem Menschen innewohnenden geworden ist - "divina qualitas in anima inhaerens" -, die ihn verunsichert. Die Wirklichkeit und Fülle der Rechtfertigung können in der Tat DS 1547, 1561. DS 3017, vgl. 1441 (die Bulle Leos X., des Papstes Luthers, von 1513 "Apostolici regimis"). 53 O. Semmelroth, Das Geistliche Amt, Frankfurt a.M. 1958,248. 54 G. Maron, a.a.O., 222; W. Joest, a.a.O. (Nr. 15), 64. 51 52
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erst am Ende des Lebens erreicht werden; die Rechtfertigung ist nicht der Gnina'-soifoern die Folgerung aus Existenz des Gläubigen55 . Streng genommen kann man nicht einmal im Augenblick des Todes davon Gewißheit haben: Nicht umsonst hat man gesagt, daß die tridentinische Rechtfertigungslehre "mit dem Glauben an das Fegefeuer übereinstimmt "56. Schon das erste Konzil von Lyon 1254, das zweite 1274 und das Konzil von Florenz 1439 hatten festgelegt, daß "die Seelen jener, die in der Liebe Gottes als solche sterben, die Buße getan haben, ohne mit würdigen Früchten der Buße entweder für die begangenen oder die versäumten Werke Genugtuung geleistet zu haben, nach dem Tode mit Fegefeuerstrafen gereinigt werden"57. Das Konzil von Trient hatte seinerseits im Dekret vom Fegefeuer 1563 den Bischöfen befohlen, die "heilsame Lehre vom Fegefeuer" gegen die Behauptungen der Reformatoren zu glauben, zu unterrichten und zu predigen, wobei sie darauf achten sollten, "den Aberglauben" oder "die schändliche Gewinnsucht"58 zu beseitigen. Das heißt, sie sollten auf der Ebene der Praxis und des Aggiornamentos Reformismus betreiben, ohne eine Reform der theologischen Voraussetzungen. In dieser Perspektive erscheint die Eschatologie wieder - wenn man so etwas noch Eschatologie nennen kann, die eher durch zwei übereinander gesetzte Ebenen als durch zwei folgende Zeiten strukturiert wird, das heißt, die eher nach einem dualistischen als nach einem apokalyptischen Schema aufgebaut ist -, als das Fegefeuer, das "ein Ort und Zustand zeitweiliger Läuterungsstrafe" ist59, und im Sinne des die Verdienste belohnenden Endgerichtes. Aber diese Eschatologie dient einem Reinigungsapparat, für den nicht nur die unmittelbaren Interessenten während des Lebens mit den eigenen verdienstlichen Werken, sondern auch ihre Verwandten und Freunde nach dem Tode mit Fürbitten, Meßopfern, Gebeten, Almosen und anderen Aufgaben der FrOiiifuigkeit zusammenarbeiten müssen, damit ihre teuren Verstorbenen von den letzten Folgen ihrer Sünden befreit werden und die Vervollständigung ihrer Rechtfertigung erlangen können. War nicht gerade dieser Reinigungsapparat der Funken gewesen, der den Brand-deiRefQI~ation ausbr~Elü~nH~ßL!J:arlli-lüif-bemerkt; daß .die Rechtfertigung in ihrem majestätischen Charakter als göttliches Werk für den Menschen den Konzilsvätern "eine unbekannte Größe" blieb. "Wie hätten sie sie sonst als einen in dem die Segnungen der kirchlichen Heilsordnungen genießenden und ihre Forderungen erfüllenden Menschen sich abspielenden Prozeß beschreiben können? War das etwas wesentlich anderes, als die von Paulus so heftig bestrittene Vorstellung von einer im Rahmen des Instituts
-der
55
W. Joest, a.a.O., 51; A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte TI, Gütersloh 1968,
377.
56 58
H. Rondet, a.a.O., 283. DS 1820.
57 59
DS 838, 856, 1304. L. Ott, a.a.O., 784.
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Die judenchristIiche Tradition
des Gesetzes durch Leistung der in ihm vorgesehenen Werke zu erlangenden Gerechtigkeit?"60 Die verborgene Unsicherheit, die das katholische Rechtfertigungsbewußtsein durchdringt, hängt ganz offenkundig damit zusammen, daß die Rechtfertigung nicht nur von der Gnade, sondern auch großenteils im gegenwärtigen und im sogenannten zukünftigen Leben durch den doppeldeutigen und ungewissen Beitrag.d~r eig~nen Werke bedingt ist, auf die man-nie eine' absolute Gewißheit gründen kann, denn ihre Wirksamkeit bleibt immer unter dem Vorbehalt des Zweifels an ihrem vorläufigen und ungenügenden Charakter. Und es ist gerade die eher virtuos moralische als theologische Auffassung der Sünde und der Rechtfertigung, die das konstante Unverständnis, sagen wir ruhig: das Ärgernis erklärt, das es für das katholische Bewußtsein darstellt, daß man von einer Rechtfertigung des Gottlosen spricht, also eines Menschen, der sich die Rechtfertigung nicht verdient. Aus diesem Unverständnis ergibt sich der Verdacht einer fälschlicherweise religiösen Illusion über sich selbst, die einen geheiIilen Libertiriismuszu verdecken versucht: ein Verdacht, der nicht unähnlich ist der moralischen Entrüstung, mit der die Pharisäer das Verhalten Jesu betrachteten, und mit der die Judenchristen die Predigt des Paulus als doppeldeutig und verdorben schmähten. Auf der Grundlage der Voraussetzungen, die wir dargelegt haben und die im 'Katholizismus konstant geblieben sind, schließt das Konzil die Möglichkeit aus, daß der Mensch die Erkenntnis erreichen kann, "mit Gewißheit des Glaubens, die keinem Irrtum unterliegen kann, die Gnade Gottes erlangt zu haben"61. In einem Kapitel mit der Überschrift "Gegen das nichtige Vertrauen der Ketzer" verurteilt es den Glauben und den Trost, zu wissen, daß die eigenen Sünden vergeben sind und daß das eigene Leben auf den neuen Grund Gottes gegründet ist, als unbegründet und als ein "eitles und von jeder Frömmigkeit fernes Vertrauen" (Kap. 9). Es bezeichnet die Meinung als ketzerisch und schismatisch, "daß der christliche Glaube gerade dessen nicht bedingt, sondern unbedingt gewiß sei, und daß er, sofern er dessen nicht unbedingt gewiß sei, der den Menschen rechtfertigende christliche Glaube nicht sei"62? In seiner Sicht kann ein solches falsches Vertrauen nur auf ein heuchlerisches Urteil gegründet sein, mit dem sich der Mensch von der Bedingung lösen will, die Gebote Gottes und der Kirche zu beachten, als ob das Evangelium eine "nackte und absolute Verheißung des ewigen Lebens ohne die Bedingung, die Gebote zu beachten" , wäre 63 , wodurch der Mensch sich selbst und andere prahlerisch mit einer Religiosität betrügt, der jeder Ernst und jede Askese sittlichen Lebens fremd ist. Durch die katholische Interpretation der protestantischen Theologie_und 60 62
K. Barth, KD IVll, 698. K. Barth, KD IVll, 698.
61 63
DS 1534. DS 1570, 1536.
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Das Konzil von Trient
Ethik scheint seit, Jahrhunderten der argwöhnische Blick des Pharisäers siiiiOriaufc1rvor-ae-d)zene~nlifder'verrufenen d.ie Jesus anI'Ührt(Lk 7;39}: Dies -gilt, noch heute; wenn Diskussionen entstehen, die nach katholischem Empfinden den Gegenstand der Geschlechtlichkeit streifen: von den geschichtlichen Ursachen, die die Reformation bestimmten, bis zur bürgerlich-rechtlichen Regelung der Ehe und der Scheidung. Es handelt sich nicht um polemische Mißgunst, 'die von objektiven Studien überwunden werden könnte, oder von einem neuen Klima der konfessionellen Psychologie. Es handelt sich um Kategorien des theologischen Urteils, deren man sich nicht entledigen kann, ohne die katholische Auffassung des Rechtfertigungsproblems zu verlassen64 . Die Grundlage der Gerechtigkeit Christi wird in ihrem absoluten und bedingungslosen Wert theologisch nicht ernst genommen: Man meint, sie in einer fruchtbaren Synthese mit der Grundlage genugtuender und rechtfertigender Werke verbinden zu müssen. Es ist also-natürli<::h, daß in katholischer Sicht das sola fide als eine unbegründete securitas, das heißt als eine falsche- und -trügerische Einbildung von, Menschen verständen wird, die sich der Täuschung hingeben, sie könnten "apud seinetipsos sfiituere se esse iustificatos"65, da sie vor Gott keine eigene Gerechtigkeit zur· Geltung bringen können. Die These, der Protestantismus sei der Vater Q~s_ m()dem~n Subjektivismus, die sich auf allen Ebenen der katholischen Kultur wiederfindet, und die alle Urteile über den Protestantismus leitet, geht von dieser Prämisse aus 66 . Vater des modernen Subjektivismus zu
Frau,
64 Auch wenn man seitens einiger gegenwärtiger katholischer Forscher anerkennt, daß das Tridentinum die Botschaft der Reformation an diesem Punkt mißverstanden hat: A. Stakemeier, Das Konzil von Trient über die Heilsgewißheit, Heidelberg 1947, 53ff, 86ff, 104ff, 135,175; V. Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre? Die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana (1530) und die Stellungnahme der katholischen Kontroverstheologie zwischen 1530 und 1535, Wiesbaden 1970; O. H. Pesch, Die Rechtfertigungslehre Luthers in katholischer Sicht, zit. bei H. G. Pöhlmann, Rechtfertigung, Die gegenwärtige kontroverstheologische Problematik der Rechtfertigungslehre zwischen der evangelisch-lutherischen und römisch-katholischen Kirche, Gütersloh 1971, 289. Störende Beispiele argwöhnischen Unverständnisses begegnen dagegen imBuch des katholischenTheologen,der meint,er habe sich weiter als alle anderen durch den Willen zur Versöhnung mit dem protestantischen Denken bei unserem Thema treiben lassen: H. Küng, a.a.O., 150, 229 usw. Küng bekl~~ das _~e!tle.!l_~i~~!!~~~sz:wischeI!_~eh~~s~ und Glaub_eJ:!j.m theologischen lIla(;hdenken Barths üoer die ~ecQtf_ertigung. Er behauptet, ein katholischer Theologe müsse schmerzhaft feststellen,--daß bei Barth alles nicht auf der Gnade, sondern auf dem Menschen und seiner Vernunft, nicht'auf dem Glauben, sondern auf dem,Wissen aufbaut, weil,es der Mensch ist, der ~kürfu:hjib~r den Glaubensgegenstahdentscheidet. iiI der Lehre Karl Barths von der Rechtfertigung bemerkt er einen Unchristlichen Kryptohumanismus als ein heimliches Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu beweihräuchern. 65 DS 1534. 66 In dem bereits angeführten Band Das Weltkonzil von Trient 1,147, bietet F. J. Schierse S. J. Das Trienter Konzil und die Frage nach der christlichen Gewißheit, eine symptomatische illustration dieser zählebigen These an, wenn er die lutherische Rechtfertigungsgewiß-
88 i
("
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sein, bedeutet für traditionelles katholisches Denken, für alle religiösen, philosophischen, sozialen und ethischen Übel der zeitgenössisch.en Welt vtmlotwortlich zu sein. Für die philosophischen MOdernismen cles-vergangenen Jahrhunderts und die politischen dieses Jahrhunderts bedeutet es, Urheber der Befreiung von den lähmenden "auctoritates" zusein. Für die laizistische Kllltur bedeutet es, Vorläufer für die Autonomle-aes Menschen, freilich noch verkleidet im mythischen Rahmen, zu sein. Die falsche Voraussetzung führt zum falschen Schluß, der die protestantische Stellung mit der Stellung verwechselt, die die Reformation sowohl beim Katholizismus als auch beim Humanismus schärfstens bekämpft hat. Warum sieht die Reformation so entgegengesetze Stellungen wie die katholische und die humanistische auf derselben Linie? Weil sie in beiden die heimliche Wurzel des Menschen sieht, der vom amor sui, von der unbesi~gbaren Begierde beseelt ist, mit der er sich selbsfllebtuiia sich selbst in den Mittelpunkt aller· Dinge stellt und sowohl die Religion als auch Gott selbst für seine Ziele ausbeutet, indem er Gott nicht um Gottes willen, sondern um seiner eigenen Person willen liebt, um von ihm Wohltaten, Schutz, Heil und Rechtfertigung zu erhalten. Die Anklage gegen den Katholizismus lautet, daß er diese Begierde desalten Menschen religiös legitimiert hat, indem er ihm mit seiner Theorie der Werke und Verdienste versprach, sie nicht allein zu kultivieren, sondern sie schließlich eschatologisch zu verlängern, um nicht nur irdischen, sondern auch ewigen Lohn und Erlösung für das eigene Interesse zu erlangen. Die katholische Theologie hat den christlichen Sinn dieses Kampfes gegen den Menschen nicht verstanden und in Trient den Satz mit dem Anathema verdammt, der Mensch sündige tiicht nur, wenn er das Böse tue,sondern auch wenn er das Gute im Blick auf den ewigen Lohn tue67 , indem er also in Gott immer wieder sich selbst suche. Der ganze meritorische Aufbau des eigenen Gerechtigkeitsbesitzes, zu dem in einer großartigen complexio oppositorum auch das Evangelium von Christus als der Gerechtigkeit Gottes beiträgt, dessen einzige Grundlage und Substanz es aber nicht ist, kann nicht den Anthropozentrismus des religiösen Menschen, der ihn beseelt, und der kirchlichen Institution, auf die er sich stützt, verbergen. Dies ist der schwerwiegendste und beunruhigendste Punkt der Meinungsverschiedenheit. Indem sie das Anathema gegen die These von der Rechtfertigung sola fide schleuderte und sich darum sorgte, die guten Werke mit dem Glauben zu verbinden, hat die römische Kirche nicht verstanden, daß nur der Glaube wirklich gute Werke hervörbringenKann, das heißt solche,' die-fn-all ihrermensclilichen GebrechlicIiI<.eifUila-pragheit auf die Formel verdichtet: Credo ergo iustificatus und in ihr den ersten geschichtlichen Vorläufer der cartesianischen Formel Cogito ergo sum sieht. Vgl. P. Brunner, a.a.O., 79. 67 DS 1581.
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würdigkeit doch nicht mehr im Interesse des Menschen, sondern der Sache des Zeugnisses und des Dienstes Gottes stehen. Und so hat sie sich ~~lb~t- wie Barth festgestellt hat: alle virtuosen Versöhnungsätze Hans Küngs können die Klarheit dieses Urteils nicht trüben, noch seine Kraft schwächen - unter das Anathema gestellt, "mit dem sich Paulus Ga1.1,8f. sogar gegen einen Engel vom Himmel verwahrt haben wollte, dem es beik()mmen möchte, ein ,anderes Evangelium' zu verkündigen als das, das er in jenem Brief gegen die galatischen Irrlehrer verteidigt hat. Es ist schwer, in der Rechtfertigungslehre des Tridentinums etwas Besseres als ein im Sinne des Paulus ,anderes Evangelium' zu erkennen. Ihr fehlt alles Oberlicht. "68
9. Die rechtfertigende Kirche Nachdem der Augenblick der Gefahr vorüber, die Schlacht gegen die Reformation geschlagen war und die Ziele der Verteidigung also weniger dringlich waren, hat das Motiv der Gerechtigkeit aus Glauben im nachtridentinischen Katholizismus tatsächlich kein Gehör mehr gefunden. Die Abtötung der lebendigsten augustinischen Gedanken hatte jedoch im ersten Augenblick die unvorhergesehene Wirkung einer überraschenden Wiederbelebung gewisser Themen, die mit der Rechtfertigung und ihren Voraussetzungen in der Gnadenlehre verbunden sind. Es genügt, an die Dispute und Verurteilungen zu erinnern, die sich um die Gestalten und das Werk des Michael Bajus (1513-1589) und vor allem des Cornelius Jansen (1585-1638) verdichtet haben. Im Zusammenhang mit dem Jansenismus und insbesondere mit dem größten Jansenisten, Blaise Pascal (1623-1662), mußte Adolf von Harnack, obwohl er erkannte, daß jener streng im Rahmen der katholischen Frömmigkeit geblieben war, sein schwerwiegendes historisches Urteil fällen: Wenn der Katholizismus >lurch den Katholizismus korrigiert werden könrl.te;-wäre-dies im Rahmen der jansenistischenBewegung geschehen; aber wie alle Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen innerhalb des Katholizismus endete die Bewegungmit dem Widerruf der Opposition und damit, daß sie die Einheit der Wahrheit vorzog". Die Lehre, die die größte Zustimmung gefunden hat und die mehr denn je im Katholizismus normativ geworden ist, ist vom Orden der Gegenreformation, der Gesellschaft Jesu, vertreten worden. Noch am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts haben die Sätze, mit denen der spanische Jesuit Ludwig Molina (1535-1600) in seinem Werk von 1588 eine "Concordia" zwischen freiem Willen und der Gnade herzustellen 68
1
K. Barth, KD IV/I, 699. A. von Harnack, a.a.O., III, 748ff.
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beabsichtigte, indem er die göttliche Entscheidung der menschlichen Annahme unterordnete und behauptete, der Mensch könne nur unter dieser Bedingung zur heilsamen Rechtfertigung geführt werden, endlose Dispute ausgelöst und anhaltende Vorbehalte seitens des höchsten kirchlichen Lehramtes angetroffen. Aber schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts verurteilte mari mit der Konstitution "Unigenitus" von 1713 unter dem Anschein, Sätze zu verurteilen, die aus dem Werk Pasquier-Quesnels (1634-1719) herausgezogen waren, in Wirklichkeit augustinische-Sätz~~ die der französische Jansenist entweder zitierte oder entwickelt hatte. Jeglicher Überrest an paulinischem Gärstoff schien beseitigt. Der Kampf der Judenchristen gegen Paulus, der mit jahrhundertelanger Zähigkeit geführt worden war, schien seinen siegreichen Abschluß gefunden zu haben. Zweifellos war und ist die Frage der subjektiven Rechtfertigung, das heißt, der persönlichen Aneignung der Rechtfertigung der wahre Unterscheidungspunkt geblieben. Was die gegenwärtige Problematik betrifft, hat dies Hermann Diem zu dem Versuch von Hans Küng angemerkt, Barth und den Katholizismus zu versöhnen. Küng stellt die These auf, daß die katholische und die protestantische Positionsicnvöllig treffen und ergänzen, insofern sie unter einer verschiedenen Terminologie von zwei Aspekten der Rechtfertigung, die beide nötig sind, sprechen, nämlich der objektiven Rechtfertigung, die Gottes Werk ist, und der subjektiven Rechtfertigung, die die Teilnahme des Menschen verlangt3 • Aber Küng, der die Polemiken der Vergangenheit für nunmehr fruchtlos und überwunden erklärt, hat sich entweder nicht darum gekümmert oder es ausdrücklich vermieden, die unerläßlichen Bestimmungen zu)iefern. Wenildie subjektive Rechtfertigung, das heißt die effektive Verwirklichung vom Menschen abhängt, statt Werk des Geistes Gottes zu sein, der im Menschen das Hören und den Glauben schafft, wird alles in Frage gestellt, und die objektive Rechtfertigung selbst bleibt unerreichbar. Der Katholizismus hat in seiner Entwicklung auf Dauer immer mehr die These von der Mitwirkung behauptet. Dem Bewußtsein aufklärerischer 2 Dasselbe Enchiridion von H. Denzinger - A. Schönmetzer (DS), S. 490, erkennt bei der historischen Einführungsbemerkung zu "Unigenitus" offen die Tatsache an, die es jedoch mit diesen symptomatischen Bemerkungen begleitet: "Negari quidem non potest, ad multas propositiones Quesnellii affinitatem et allusionem inveniri in Augustini Hipponensis operibus." Es folgt die Angabe der entsprechenden Werke Augustins. Und dann fügt man hinzu: "Neque tarnen in casu discrepantiae sive verae sive apparentis inter decreta Magisterii ecclesiastici et doctrinam Augustini homo vere catholicus, ad modum Calvini, Baii, Iansenii, Augustino auctoritatem quasi infallibilern et absolutam attribuet, cui ilHus decreta subiuganda sint, sed sibi persuasum erit, omnem Augustini auctoritatem pendere a concedente et interpretante Ecclesiae magisterio, sicut lux lunae a sole." 3 H. Diem, Zur Kontroverse über die Rechtfertigungslehre des Tridentinums, in Was heißt schriftgemäß?, Neukirchen 1958, 73.
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oder romantischer Prägung erscheint die Mariologie wahrscheinlich als mythologische oder poetische Sublimation der menschlichen Werte oder der unterdrückten Instinkte, nach dem Axiom Feuerbachs: "w-as der !VIensclLyermisst - ... - das ist Gott. "4 Protestantischerseits betrachtet man die Marlülogieoft als einen fremden und nicht gut verständlichen Auswuchs des Katholizismus, jedenfalls als eine Randerscheinung, die besonders von der abergläubischen Frömmigkeit der romanischen Völker gepflegt wird, die aber ohne tiefe Verbindung mit der Theologie des Katholizismus ist, aus dessen Körper sie ohne strukturellen Schaden für das System entfernt werden könnte. Die Theorie der "Hierarchie der Wahrheiten"S, die vom 2. vatikanischen KonziIformuliert wurae, wird dann aIS eine Bestätigung dieser Interpretation, nach der die Mariologie unter katholischer Perspektive keinen wesentlichen Bezug zum Grund des Glaubens hätte, betrachtet. Aber die Verkündigung des Dogmas der unbefleckten Empfängnis 1854 und der Himmelfahrt Marias 1950 stellen die Fortführung einer uralten Linie in der fortlaufenden Entwicklung des katholischen Glaubens dar. Und diese Linie ist durchaus nicht, wie man vermuten könnte, von der Problematik unseres Themas getrennt. Es ist symptomatisch, daß einer der ältesten Verfechter der Sündlosigkeit M~lrias-P~lllgius bei seiner Auseinandersetzung mit Augustin gewesen ist, und daß die antiaugustinische Linie der Franziskaner und später die der Jesuiten bei der Gnadenlehre mit der mariologischen Linie zusammenfällt, die seitens der thomistischen Dominikaner, die Erben der augustinischen Tradition der Sünde und der Erlösung sind, auf keine Ablehnung, aber auf ausdrückliche Vorbehalte trifft6 • Schon auf dem Konzil von Trient hatten die Franziskaner und Jesuiten Manöver durchgeführt, um die Definition der unbefleckten Empfängnis zu erhalten, aber für den Augenblick hatten sie das Spiel nicht gewonnen, wie es statt dessen im 19. und 20. Jahrhundert geschah. 1854, drei Jahrhunderte nach der Reformation, und 1950, vier Jahrhunderte nach der Reformation, drückt die Kirche Roms feierlich ihre eigenen konstanten Überzeugungen aus und bekräftigte ihren grundlegenden Gegensatz zum Protestantismus und seiner Botschaft, die verkündigt, daß der Gerechte seines Glaubens lebt. 4
L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Sämtliche Werke, Bd. 6, Stuttgart 19602 ,
90. 5 Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bologna 1973 3 , 915 (Unitatis redintegratio 11). H. Mühlen, Die Bedeutung der Differenz zwischen Zentraldogmen und Randdogmen für den ökumenischen Dialog. Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils von der "hierarchia veritatum", in J. L. Leuba - H. Stirnimann (Hg.), Freiheit in der Begegnung, Frankfurt a.M. - Stuttgart 1969, 220ff, erinnert daran, daß die Dogmen, die "fide divina et catholica" zu glauben sind, die vom kirchlichen Lehramt "tamquam divinitus revelata" verkündigten Wahrheiten sind, und daß die beiden marianischen Dogmen in diese Kategorie gehören. 6 G. Miegge, Die Jungfrau Maria, Studie zur Geschichte der MarienIehre, Kirche und Konfession, Bd. 2, Göttingen 1962, 102, 105, 118.
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Schon Thomas von Aquin hatte behauptet, daß mit ihrem "fiat", mit ihrer Annahme der Fleischwerdung, Maria stellvertretend für die ganze Menschheit gehandelt habe, "loco totius humanae naturae"7. Die Behauptung wird von den Papstenwiederholt, z. B. von Leo XIII. in der Enzyklika "Octobri mense" 1891, nach der Maria "ipsius generis humani personam quodammodo agebat", so daß, wie niemand Zugang zum höchsten Vater haben kann außer durch den Sohn, gleicherweise niemand zu Christus Zugang haben kann "außer durch die Mutter"8. Sie wird von katholischen Dogmatikern wiederholt, die versichern: "Maria ist durch ihr fiat im Namen der ganzen Menschheit kooperierend in die Erlösung eingetreten. "9 Sie sehen eine enge Verbindung zwischen der Menschheit Jesu, dem Eintreten Marias und der Funktion der Kirche in der Heilsökonomie. Wie Congar sagt: "Weil die heilige Menschheit Christi, mit seiner Gottheit ohne Vermischung noch Trennung geeint, das Organ unserer Erlösung und aller Vermittlung der Gnade ist, verhält es sich für uns so, daß Maria mit ihr und die Kirche nach ihr die Funktion haben, die ihnen unsere Lehre zuerkennt. "10 Maria und die Kirche repräsentieren "den Teil der menschlichen Vermittlung der erlösenden Fleischwerdung: die eine, um sie zu besorgen, die andere, um sie zu vermitteln und zu verbreiten" 11. Also hat Barth r~cht, wenn er folgert: "Dieses kraft seiner Zustimmung begnadete Geschöpf ist der eigentliche Gegenstand der Mariologie." Das heißt: "diesem am Werk Gottes schöpferisch mitwirkenden Geschöpf eigentlich gilt die unaufhaltsame Ausstattung der Maria mit jener Würde, mit jenen Privilegien, mit jenen bis an eine relative Konkurrenz mit Christus heranreichenden Aussagen über ihre cooperatio zu unserem Heil. "12 Und einer der scharfsichtigsten protestantischen Erforscher des Katholizismus, Gottfried Maron, hat in einem Buch von großer Bedeutung den Bezug hervorgehoben, der zwischen den marianischen Dogmen und der Rechtfertigung besteht. "Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens ist vielmehr exemplarischer und genauester Ausdruck für eine iustificatio pii! ... Setzt man das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, q. 30, a. l. DS 3274. 9 R. Grosche, Fünf Thesen zur Mariologie, Catholica 1933, 38, zit. bei K. Barth, KD 1/2, 158. Vgl. H. M. Köster, Die Stellvertretung der Menschheit durch Maria, in C. Feckes (Hg.), Die heilsgeschichtliche Stellvertretung der Menschheit durch Maria, Paderborn 1954, 323 ff; T. M. Bartolomei, La cooperazione immediata di Maria alla Redenzione oggettiva a modo di compassione soddisfattoria, Asprenas 12 (1965), 40ff; ders., La cooperazione immediata di Maria alla Redenzione oggettiva a modo di sacrificio, Asprenas 13 (1966), 9ff. 10 Y. M. J. Congar, OP, Le Christ, Marie et I'Eglise, Briigge 1952, 39. 11 A.a.O., 22. Vgl. die Analyse von C. A. de Ridder, Maria als Miterlöserin? Die Diskussion über die Mitwirkung der Mutter Gottes am Erlösungswerk Christi in der heutigen römisch-katholischen Theologie, Göttingen 1965. 12 K. Barth, KD I12, 158, 159. 7
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Mariens zur Rechtfertigungslehre in Beziehung, so kann IIlan in diesem Dogma nur eine deutliche und entschiedene Absage an die reformatorisch~ Rechtfertigungslehre erblicken. "13 Der Stand Marias, die frei von Sünde ist, und ihre Erhebung zum Himmel mit all dem, was diese Dogmen für das Verhalten der Kirche in der Geschichte repräsentieren, bilden den reifsten Ausdruck jener tausendjährigen Bewegung zur Verdrängung und schließlich Verleugnung der Rechtfertigung aus Glauben an die Gerechtigkeit Gottes, die von der empörten Reaktion der Pharisäer auf die Predigt Jesu und der Judenchristen auf die Predigt des Apostels Paulus ausging und die, von pelagianischem Gärstoff genährt, die gesamte Kirchengeschichte durchzieht. Aber Maria ist nur das Bild der Kirche. Als solche vertritt sie nicht die Kreatur, die weiß, daß sie arm an vor Gott werter Gerechtigkeit ist, und daß sie nur in dem Maße bestehen kann, wie ihr Vertrauen und ihre Hoffnung sich ausschließlich auf das freie Eintreten des treuen Gottes stützen, sondern vielmehr die Kreatur, die reich ist an Gerechtigkeit, die wert ist, die Gunst und die Gnade Gottes zu verdienen, die immer bereit und verfügbar ist, allen seinen Geboten zu gehorchen, ausgestattet mit allen natürlichen und übernatürlichen Gaben und Tugenden. So symbolisiert Maria die heilige und siindloseKirche, die den wahren Glauoenund vermittelt, die die Funktion hat, die-crätarifierCdei-Eifösii"ili für die Menschheit die Mittlerin des Werkes Gottes und die Ausführende seiner Pläne zu sein. Indem sie Maria erhöht, erhöht die römische Kirche !lich selb~!~Aus diesem Gründekonnte-KärlBartli-sagen~-dalrwirliier wirklich das beherrschende Merkmal des Katholizismus vor uns haben. "Das Mariendogma ist nicht mehr und nicht weniger als das kritische Zentraldogma der römisch-katholischen Kirche, das Dogma, von dem aus alle ihre entscheidenden Positionen einzusehen sind und mit dem sie stehen und fallen. . .. Eben in der Marienlehre und im Marienkult steckt anschaulich die Haeresie der römisch-katholischen Kirche, von der aus alle anderen verständlich werden. Die ,Mutter Gottes' des römischkatholischen Mariendogmas ist nämlich sehr schlicht das Prinzip, das Urbild und der Inbegriff des bei seiner Erlösung aufgrund der zuvorkommenden Gnade dienend (ministerialiter) mitwirkenden menschlichen Geschöpfs und eben als das auch das Prinzip, das Urbild und der Inbegriff der Kirche. "14 Aus diesem Grunde ist die Entwicklung des Katholizismus nach den mariologischen Dogmen eine ekklesiologische Entwicklung. Auf das Dogma von 1854 folgt auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870 die Verkündigung der Unfehlbarkeit und des päpstlichen Primates, auf dem die 0
hesitz't" und
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G. Maron, a.a.O., 225, 161.
14
K. Barth, KD 1/2, 157.
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"Kraft und Festigkeit der ganzen Kirche" beruhFs. Auf das marianische Dogma von 1950 folgen 1962-1965 die Erklärungen des 2. Vatikanischen Konzils über die Kirche. Am Rande der theologischen Diskussion wäre es interessant, sich zu fragen, ob vom Molinismusstreit des 16. Jahrhunderts an über den Jansenismusstreit um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert das mariologische Dogma, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts verkündigt wurde mitten im Zeitalter des Individualismus, nicht eine katholische Art darstellt, die eigenen konstanten Überzeugungen auf der Grundlage jener historischen Sensibilität auszusprechen, mit der die katholische Kirche begabt ist, und jener Verwandlungskunst, deren Meisterin sie ist und mit der sie glaubt, die christliche Botschaft den Tendenzen der folgenden geschichtlichen Perioden anzupassen. Während das Persönlichkeitsideal triumphiert, mitten in der Zeit der romantischen Erhebung der Frau, verkündigt der Katholizismus das Dogma der unbefleckten Empfängnis Marias, der Jungfrau und Mutter; mitten im 20. Jahrhundert, in einer kollektivistischen Epoche verkündigt sie die Konstitutionen und Erklärungen des? Vatikanischen Konzils, die die höchste Erhebung·der Kirche, die bis dahin erreichfwtirde, ausdrücken16: . Das Thema Kirche, das vor allem das 2. Vatikanische Konzil beherrscht hat, mag fern und ohne Bezug zur Rechtfertigung erscheinen, aber die tiefe Bedeutung dieser ununterbrochenen Ausweitung des Selbstbewußtseins, das die Kirche in der Geschichte des Katholizismus angenommen hat, dürfte nicht entgehen. Gesteht man dem Menschen zu, die eigene anthropozentrische Wurzel zu bewahren, die egoistische Neigung, der Mittelpunkt von allem zu sein, erlaubt man dem Menschen, bei der • Rechtfertigung mitzuwirken, so mußsICllder Mensch zwangsläufig immer zahlreichere Gerechtigkeitszeugnisseausstellen und sich der Beitrag der' Mitwirkung immer weiter ausdehnen, bis er den gesamten Raum belegt und sich als unersetzliche Struktur organisiert. Es ist beeindruckend, die Erklärungen zu prüfen, die die katholische Kirche über sich selbst in der Theologie dieser letzten Jahrzehnte und in den offiziellen Äußerungen des 2. Vatikanischen Konzils formuliert hat. Die alte These der katholischen Tradition, die bis auf die antignostischen Kämpfe des 2. Jahrhunderts zurückgeht, nach der die Kirche die Garantie für das Evangelium und das Evangelium nicht umgekeh·rt die.Garantie für die Kirche ist, hat sich für bestärkt gehalten durch die moaernen kritisc:henFotsthuiigen an den Überlieferungsformen der apostolischen Botschaft und sie hat ihren stärksten Ausdruck in der dogmatischen Konstitution De Divina Revelatione gefunden. In der Konstitution Lumen gentium ist die Weise typisch, in der sich die römische Kirche durch die wiederkehrende Behaupturigihrer eigenen Treue selbst rechtfertigt, bei dem Bezug, 15
DS 3052, 3074.
16
G. Maron, a.a.O., 161ff.
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der zwischen Maria und der Kirche hergestellt wird: bei der Erfüllung des Willens Gottes und beim Empfang seines Wortes, indem sie "jungfräulich einen unversehrten Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe bewahrt" 17. Die Kirche hat schon in Maria die Vollkommenheit erreicht, "in der sie o~ne Fleckenli~d Rüriielisf";aber ma:nversteht offehslc1itlicn"oärunter'dieKlic:ne in' ihren' objektiven, institutionellen Organen. In ihr "bemühen sich die Christgläubigen noch, die Sünde zu besiegen und in der Heiligkeit zu wachsen"18. Die katholische Kirche ist "mit dem ganzen Reichtum der von Gott geoffenbarten Wahrheit und der Gnadenmittel beschenkt"l", so daß Kardinal Jäger kommentieren konnte: "In der katholischen Kirche gibt es zwar keine ,substantielle Untreue gegen die göttliche Absicht ihres Stifters', wohl aber eine Untreue ihrer Glieder gegen die Forderungen des Evangeliums. "20 Diese Objektivierung der Wahrheit und Heiligkeit in der kirchlichen Institution breitet sich weiter aus mit konkreten und juristisch bestimmten Folgen. Die Unfehlbarkeit, ...:. "mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definierung einer Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte", obwohl sie nur ein Vorrecht des römischen Papstes ist, "kraft seines Amtes, wenn er als oberster Hirt und Lehrer aller Christgläubigen . .. eine Glaubensoder Sittenlehre in einem endgültigen. Akt verkündet", - "ist auch in der Körperschaft der Bischöfe gegeben, wenn sie das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger Petri ausübt"2!. Die Unfehlbarkeit, die 1870 in einem Klima antiklerikaler Abgrenzung verkündet wurde, wurde 1962-1965 in einem Klima ökumenischer Öffnung bekräftigt und erweitert. Die Kirche Roms scheint doch mit all ihrer geschichtlichen Sensibilität auf dem Weg der Selbstbestätigung als einer übergeschichtlichen Größe voranzuschrei.ten. Die Entwicklung der Angleichung Marias und der Kirche führt zu einer fortschreitenden Personifikation Marias, der Unbefleckten, des Geschöpfes ohne Sünde, in der Kirche und ihrer tatsächlichen Ausgestaltung als 17 Lumen gentium 64 in K. Rahner - H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg - Basel- Wien 1967. Zu § 63 behauptet mim: "Die selige Jungfrau ist aber durch das Geschenk und die Aufgabe der göttlichen Mutterschaft, durch die sie mit ihrem Sohn und Erlöser vereint ist, und durch ihre einzigartigen Gnaden und Gaben auch mit der Kirche auf das innigste verbunden. Die Gottesmutter ist... der Typus der Kirche. Iot Geheimnis der Kirche, die ja auch selbst mit Recht Mutter und Jungfrau genannt wird, ist die selige Jungfrau Maria vorangegangen, da sie in hervorragender und einzigartiger Weise das Urbild sowohl der Jungfrau wie der Mutter darstellt." "Im Glauben und Gehorsam" wird sie als neue Eva bezeichnet. 18 A.a.O., 65. 19 Unitatis redintegratio 4. 20 L. Kardinal Jäger, Das Konzilsdekret "Über den Ökumenismus", in Konfessionskundl. u. kontroverstheol. Studien 13 (1965), 105, zit. bei G. Maron, a.a.O., 183. 21 Lumen gentium 25.
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mediatrix omnium gratiarum22 • Im übrigen gipfelt die Überlagerung von Mariologie und Ekklesiologie in der Überlagerung von Christologie und Ekklesiologie. Hat nicht das Vatikanum 11 erklärt, daß dieKirche "in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fielscI1gewordenen W.ortes ähnlich")st, so Gaß sie "eine einzige komplexe WIrklichKeit" bildet, "dIe aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst"23? Die Kirche stellt die gegenwärtige Wirklichkeit der Inkarnation dar. "Die Kirche isf diefottdauernde, ganz in die menschlich-geschichtlidie-Natur eingegangene Wirklichkeit der Inkarnation. In ihr allein wird Christus:wirldich greifi>ar. In ihr ist Christus erst ganz unddal.lerl1dlllCile Geschichte eingegangen. "24 Wie die maßgebenden katholischen Theologen unserer Zeit behaupten: "Seit Christi Himmelfahrt ist der unmittelbare, innerweltl. Kontakt mit Christus unmöglich geworden. Und dennoch bleibt Christus auf ewig der einzige Gnadenvermittler. Daher wird seitdem die gegenseitige Bewegung zwischen Christus u. dem Menschen vermittelt durch die innerweltl. Wirklichkeit der sichtbaren, sakramentalen Kirche. Die Kirche übernimmt die Funktion, die Christi Leiblichkeit in der geschichtl. Begegnung mit dem Menschen versehen hat. "25 Die Kirche stellt die immanente Gnade Christi dar, die Gnade Gottes. Diese Gnade "ist dauernd in der Welt, und zwar in geschichtlicher Greifbarkeit, eingestiftet im Fleische Christi als ein Stück der Welt, der Menschheit und ihrer Geschichte selbst"2•. Deshalb hängt die Beziehung des Menschen zu Christus von seiner Beziehung zur Kirche ab und identifiziert sich mit der Beziehung zur Kirche. Und aus einem Kultort läuft die Kirche Gefahr, sich, wenn.auch nicht in Kultgegenstand, wie es Ebelingzu sagen drängt27 , so doch wenigstens in einen Gegenstand jenes demütigen Gehorsams und jener andächtigen Unterwerfung zu verwandeln, die den gläubigen Katholiken auszeichnet uIld mit deren Erlöschen man aufhört, katholisch zu sein28 . Sie läuft Gefahr, aus dem Zeugen des Glaubens sich in .eil1en Gegenstand desTilaubens zu verwandeln, indem sie die alte Formel der christlichen Tradition Credo ecclesiam durch die neue Formel Credo in ecclesiam ersetzt, die, nachdem sie in verschiedenen neueren Werken
-eInen
22 G. Ebeling, Wort Gottes und Tradition, Studien zu einer Henneneutik der Konfessionen, Göttingen 1964, 180. 23 Lumen gentium 8. 24 G. Ebeling, a.a.O., 182. 25 E. Schillebeeckx, Art. Begierdetaufe II Systematik., LThK2, 2, 113. 26 K. Rahner, Kirche und Sakramente, Freiburg i.Br. 1960, 15. 27 G. Ebeling, a.a.O., 181. 28 Die Geschichte wird zeigen, weIches das Schicksal des katholischen Dissenses sein wird: Säkularisation oder Assimilation, Schisma oder Entdeckung der evangelischen Nonn?
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katholischer Theologen29 erschienen ist, in der "Professio fidei" Pauls VI. bestätigt wurde30• Wie ist es also möglich, daß diese Kirche, die in der Geschichte die Würde Christi darstellt, die teilhat an der Sündlosigkeit Marias, die gegenüber den Menschen eine rechtfertigende Funktion ausübt, weil ihr die "Macht" anvertraut wurde, "die Sünden zu vergeben und aus Ungerechten Gerechte zu machen", die sich einer Welt auf der Suche als im sicheren und ruhigen Besitz der unfehlbaren Wahrheit befindlich darstellt, als heiliger Ort, an dem man Gott und die Erlösung mit allen Garantien, sich nicht zu irren, sichtbar antrifft - wie ist es möglich, daß diese Kirche die Menschen ernstlich mit der Frage nach jener Gerechtigkeit Christi beunruhigen sollte, die alle unsere Gerechtigkeit in Zweifel zieht? Wie könnte sie sich zuallererst selbst die Frage ihrer Rechtfertigung stellen im Bewußtsein der eigenen Untreue und der Unangemessenheit jedweden Ausdrucks des Christlichen in der Geschichte, der Untreue, die nur in der Gnade Gottes Zuflucht findet, im Paradox eines Glaubens, der keinen anderen Trost, keine andere Gewißheit, keine andere Hoffnung hat als auf Gott selbst? Im gegenwärtigen ökumenischen Klima gehen die wiederholten Versuche an dem theologischen Grundproblem vorüber, Versuche - auf die wir immer wieder Gelegenheit hatten, da und dort auf diesen Seiten anzuspielen - die Rechtfertigung aus Glauben als eine Lehre darzustellen, die im katholischen Bereich immer existiert hat, das sola fide als eine vorlutherische Formel, die Rechtens zur katholischen Tradition gehört, das simul iustus et peccator als eine Wahrheit, deren beeindruckendster Ausdruck nicht mehr und nicht weniger als die römische Messe isP1. Am Grundproblem vorüber gehen die Anstrengungen, die Rechtfertigung in den katholischen Kontext zu integrieren, der weniger partiell, sondern weiter als der grundsätzlich ketzerische Kontext des Protestantismus sein soll, um so den Weg für eine endgültige Wiedervereinigung zu ebnen32 • Sie sind die geschichtliche Wiederkehr eines alten Unverständnisses. 29 U. Gerber, Katholischer Glaubensbegriff, Gütersloh 1966, 67; V. Subilia, La nuova cattolicita deI Cattolicesimo, Turin 1967, 65ff. 30 Paul VI., Professio fidei, in AAS 60 (1968), 440: "Credimus in unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecelesiam, a Iesu Christo super petram, qui est Petrus, aedifi· catam." 31 H. Küng, a.a.O., 295, 281 u.a. 32 Der verschwommene, ausweichende Charakter der Diskussionen zum Gegenstand erscheint offensichtlich im Maltabericht: Schlußbericht der lutherisch-katholischen Studienkommission "Das Evangelium und die Kirche" (Malta 1971), in Una Sancta 27 (1972), llff. Jede Seite setzt den Akzent auf das Element der anderen Konfession, von dem sie spürt, daß sie es anerkennen könnte, ohne die eigenen Überzeugungen zu verleugnen, die so unausgesprochen bleiben. Das Ergebnis ist, daß man bei den Gesprächen Störungen vermeidet und Übereinstimmungen ausdrückt, die die Unwissenden bewegen. In Wirklichkeit wird aber der
7 Subilia, Rechtfertigung
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Schon 1541 war es legitim erschienen, das Regensburger Buch auszuhandeln, um die widerstreitenden Thesen anzunähern und zu versuchen, sie zu versöhnen33 • Der Einigungsvorschlag, der von den kaiserlichen Gesandten eingebracht wurde, war im Ergebnis eine Summierung von Positionen, die von einem klugen Synkretismus mit typisch katholischen Merkmalen beseelt war. Schon Melanchthon hatte bemerkt, daß die Grund der Fragen vermieden und es spielen mehr die verwirrenden Kompromisse der kirchlichen Diplomatie als die kritischen Synthesen einer an das Evangelium gebundenen Theologie eine Rolle. Im Paragraphen des Schlußberichtes, der von der Rechtfertigung handelt, wird "ein weitreichender Konsens" registriert (§ 26). Die katholischen Theologen geben zu, daß "die Heilsgabe Gottes für den Glaubenden an keine menschliche Bedingungen geknüpft ist" (§ 26). (Es handelt sich um einen augustinischen Satz, der, wie wir wissen, schon in den Dekreten des Konzils von Trient neben Sätzen des semipelagianischen Typs steht: "gratis autem iustificari ideo dicamur, quia nihil eorum, quae iustificationem praecedunt, sive fides, sive opera, ipsam iustificationis gratiam prameretur", DS 1532.) Die protestantischen Theologen erkennen an, "daß das Rechtfertigungsgeschehen nicht auf die individuelle Sündenvergebung beschränkt ist und sehen in ihm nicht eine rein äußerlich· bleibende Gerechterklärung des Sünders. Vielmehr wird durch die Rechtfertigungsbotschaft die im Christusgeschehen realisierte Gottesgerechtigkeit dem Sünder als eine ihn umfassende Wirklichkeit übereignet und dadurch das neue Leben der Glaubenden begriindet" (§ 26). (Sie stimmen also den tridentinischen Erklärungen zu, durch die sie im 16. Jahrhundert verurteilt worden waren und nach denen die Rechtfertigung "non est sola peccatorum remissio, sed et sanctificatio et renovatio interioris hominis per voluntariam susceptionem gratiae et donorum, unde homo ex iniusto fit iustus", DS 1528.) Seitens Roms wurde keine wesentliche dogmatische Position aufgegeben: die Modifizierung bezieht sich nur auf die Sprache und die Psychologie. Seitens der Protestanten sind die lutherischen Positionen Gegenstand einer zähmenden Integration durch die katholische Theologie, wie es sich nicht nur aus den Folgerungen aus der Rechtfertigung, sondern noch viel offener bei jenen aus der Lehre vom Amt, Papsttum und Abendmahl ergibt. Unter anderem darf einem nicht die Tatsache entgehen, daß "eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis der Rechtfertigungslehre möglich erscheint" (§ 28), dies jedoch von einer geschichtlichen Relativierung der Lehre selbst herkommt, die auf die paulinische Polemik gegen die jüdische Gesetzlichkeit (§ 27) und auf den Umkreis der paulinischen Briefe an die Galater und an die Römer beschränkt wird. H. Meyer, Das Gespräch zwischen römisch-katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund (1967-1971), in Una Sancta 26 (1971), 335: (Vgl. vom selben Verfasser einen parallelen Artikel, Le dialogue entre I'Eglise catholique ramaine et la Federation lutherienne mondiale, Positions lutheriennes 20(1972), 185, und besonders den Artikel, La doctrine de la justification dans le dialogue interconfessionnel mene par l'Eglise lutherienne, in RHPhR 57(1977), 19ff.) Diese Elemente haben ausdriick1iche Vorbehalte bei einem der Unterzeichner des Maltaberichtes, H. Conzelmann, hervorgerufen, der dazu auch einen bezeichnenden Artikel geschrieben hat: "Lieber keine gemeinsame Formel", Eine Warnung vor Euphorie in den Gesprächen mit Rom, Luth. Monatshefte 9 (1970), 371ff. Zur gesamten Frage vgl. die Artikel von H. Grate, E. Fahlbusch, R. Frieling, J. Lell, G. Hild, MD 23 (1972), 65ff; und den Band von H. Meyer, Luthertum und Katholizismus im Gespräch, Frankfurt a.M. 1972; die Untersuchung von G. Strecker, Evangelium und Kirche nach katholischem und evangelischem Verständnis, Die Ergebnisse der römisch-katholisch/evangelisch-Iutherischen Studienkommission, Tübingen 1972; Um Amt und Herrenmahl, Dokumente zum evangelisch/römisch-katholischen Gespräch, Frankfurt a.M. 1974. 33 Der Text des Liber Ratisbonensis steht in den Melanchthonis opera IV, 190ff und in den Calvini opera V, 515ff, beide CR 4 bzw. 33.
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diskutierten Fragen in dem Einigungsentwurf aus Gründen der Mäßigung abgeschwächt worden waren, daß aber auch die Mäßigung Grenzen hatte und es notwendig war, bis zur Quelle des Streites zurückzugehen: Der Vorschlag war unannehmbar, weil der Artikel der Rechtfertigung völlig entstellt worden war und man nur widersprechen konnte34 • Der junge Calvin, der an dem Gespräch teilnahm, hatte sein ganzes Mißtrauen kundgetan. Luther erklärte in einem Brief vom 29. Juni 1541, den auch Johannes Bugennigenuiiferzeichnet hatte, mit dem Blick auf die gesamte Frage drastisch, daß, wenn die Katholiken. den Rechtfertigungsartikel annällmen, sie ihre-gesamte Theologie und ihre gesamte kirchliche DiszipliIl' wide~rufen, verütteilen uridverfltichen mußten. Wenn sie es nicht getan hätt'en, sei es ein' gewisses Zeichen gewesen, daß sie sich nicht hätten wirklich mit Gott vergleichen wollen und sie sich mit den Protestanten auf einen falschen Vergleich beschränkt hätten, oberhalb dessen sie die Substanz der Dinge festhielten 35 • Das Prinzip, nach dem der Gerechte seines Glaubens lebt, ist kein Artikel neben anderen, keine partikulare, vielleicht nebensächliche Lehre, die versöhnlichen Kompromissen zugänglich ist, und kein integrierbares Theologumenon. Es ist eine Perspektive, unter der alle Fragen nicht nur der Religion, sondern auch des Lebens und der Geschichte betrachtet werden wollen. Der Mensch und die Kirche befinden sich hier vor dem Entweder-Oder der christlichen Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit und sie werden vor die unausweichliche Forderung einer grundsätzlichen Wahl gestellt.
34
35
J. Calvin, Opera V, 587, 590, 591 (in CR 33). WA Br 9, 459, 463.
3.
KAPITEL
Die lutherische Lehre 1. "Articulus stantis et cadentis ecclesiae" Keine historische oder theologische Untersuchung über Luther unterläßt es, die bestimmende Bedeutung, die die Entdeckung der "Gerechtigkeit Gottes" für ihn und für die Entstehung der Reformation hat, herauszustellen. Die Bedeutung, die Luther und das Luthertum diesem Begriff zuschreiben, ist so umfassend, daß all die anderen Punkte des Glaubens und der christlichen Lehre, der Lebensführung des Gläubigen und des kirchlichen Handeins in der Welt als von diesem Artikel abhängig und in der Perspektive dieses Artikels gedacht werden. Diese Denktradition geht ganz offenkundig auf Luther selbst zurück, der diesbezüglich ausdrückliche und wiederholte Erklärungen im Überfluß bietet. In der Vorrede zu seinem Kommentar des Galaterbriefes von 1531 behauptet er, ohne zu zögern: "Denn in meinem Herz regiert dieser einzige Artikel, das heißt der Glaube Christi, aus dem, durch den und zu dem alle meine theologischen Überlegungen hin- und herfließenj und dennoch erfahre ich, daß ich von der Einsicht in solche Höhe, Breite und Tiefe nur einige schwache und armselige Anfänge, gleichsam Fragmente, verstanden habe. "1 Man muß bemerken, daß er den typisch neutestamentlichen Ausdruck, der_Glaube Christi, benu!~!lJ.nngeIl Rechtfert~gtll}g~~~!i: kel zu bezeichnen. DieWali.rdieses~AUsdrucks ist von einer TragWeite, die uns iilcIiTwl!<:f"eIitgehen dürfen. Nachdem Luther den locus der Rechtfertigung als "diesen einzigen, harten Fels" definiert hat2 , fügt er hinzu: "Deshalb kann diese Lehre niemals genügend behandelt und eingeschärft werden. Wenn sie fällt und zugrunde geht, fällt zugleich die ganze Erkenntnis der Wahrheit und geht zugrunde. Wenn sie wahrhaft blüht, blühen alles Gute, die Religion, der wahre Gottesdienst, die Ehre Gottes, die gewisse Erkenntnis aller Verhältnisse und Dinge. "3 Man muß doch bemerken, daß die Rechtfertigung weder auf die religiöse Sphäre, noch auf das Individuum beschränkt ist. Der Artikel der Rechtfertigung ist "Meister und Fürst, Herr, Leiter und Richter über alle Arten der Lehre, der die ganze kirchliche Lehre bewahrt und leitet"4. Ohne ihn kann man unmöglich weder den römischen Irrtümern, noch den Irrtümern der Fanatiker und Sektierer, noch den Irrtümern der Humanisten widersteWA 40/1, 33 . WA 40/1, 33. Vgl. H. 1951,5, 3 WA 40/1, 39. 1
•2
j,
Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, München 4
WA 39/1, 205.
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Die lutherische Lehre
hen, die, indem sie ihre Gerechtigkeit zeigen, eine verführerische Macht haben, weil die Wahrheit des Evangeliums verdunkelt wird 5 • Gegen Luther und folglich das Luthertum hat nicht de!"_YQXWJlrige~t, ~~eI1Mikel unverhältnismäßig st;;lrk gewichtet zu haben, als er ihn als "articulus stantis et cadentis e-ccIesiae" bezeichnete. Er hätte damit das Gesicht der anderen christlichen Lehren unzulässig entstellt, geradezu eine Art eines exklusiven und totalitären Imperialismus zu seinen Gunsten aufgerichtet, um ihm so ein einzigartiges Recht als Lehrmonopol der Wahrheit zuzuschreiben und den anderen Lehren den legitimen Raum zu nehmen und ihnen nicht ihre richtige Stellung im Gleichgewicht der gesamten christlichen Botschaft zuzugestehen6 • Aufgrund dieser Voraussetzung hat man schließlich im Laufe unseres Jahrhunderts seitens verschiedener Verfasser bemerkt, daß die Schriftbasis für diese Lehre nicht der Aufgabe entspricht, die ihr das Luthertum zuschreibt, um so den fragwürdigen und strittigen Charakter des biblischen Gehaltes selbst zu folgern, oder besser auf den Charakter als eines isolierten und zufälligen Teils zu schließen, den sie im Rahmen des Neuen Testamentes im Vergleich zu der zentralen Absolutheit hätte, die ihr die lutherische Theologie zuschreibe. Diese Kritiken unterschiedlicher Tendenz gehen~_ einer Voraussetzung katholischen oder pietistischen Ursprungs aus: Luther hätte nicht die wirksame Erneuerung, die die Grüide-üri Menschen wirkt, und die aus ihr folgende Möglichkeit wirklichen Gehorsams im christlichen Leben berücksichtigt. Darüber hinaus hätte er eine willkürliche Teilauslegung des Neuen Testamentes geübt, indem er einen besonderen Punkt isolierte, ohne die unendliche Vielfalt und den Reichtum der apostolischen Botschaft zu berücksichtigen, auch wenn der Punkt wichtig sei. Jedenfalls bemerkt man, daß der zufällige und polemische Charakter, WA 40/I, 296. Diese Kritiken sind bei K Barth, KD IVA_5ßJlfLerwähnt.--wobei er sich u.a. auf die Untersuchung von E. Wolf bezieht, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze refonnatorischer Theologie, EvTh 1 (1949-50), 208ff, jetzt in Peregrinatio H, München 1965, 11ff. 7 Siehe die entsprechenden Angaben zu Beginn des 1. Kapitels. Ferner: A. Schlatter, Luthers Deutung des Römerbriefes, Gütersloh 1917; W. Mundle, Der Glaubensbegriff des Paulus, Leipzig 1932; P. Althaus, Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh 1938; ders., Die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott. Zu der heutigen Kritik an Luthers Rechtfertigungslehre, in Das Menschenbild im Lichte des Evangeliums, Festschrift zum 60. Geburtstag von E. Brunner, Zürich 1950, 31ff; ders., Die lutherische Rechtfertigung und ihre heutigen Kritiker, Berlin 1951; W. Joest, Paulus und das Luthersche simul iustus et peccator, KuD 1 (1955), 269; A. Peters, Glaube und Werk, Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der Heiligen Schrift, Berlin 1962; K. Bornkamm, Luthers Auslegung des Galaterbriefs von 1519 und 1531, Berlin 1963; W. Grundmann, Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch M. Luther, Weimar 1964; U. Asendorf, Gekreuzigt und auferstanden, Luthers Herausforderung an die moderne Christologie, Hamburg 1971, 145ff: Exkurs über die neuere exegetische Diskussion zum Thema der Rechtfertigung. 5 6
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den die Rechtfertigungsbotschaft vor allem in der paulinischen Predigt gegen die judenchristlichen Gegner angenommen zu haben scheint, die, noch an die Beachtung des Gesetzes gebunden, zeigten, daß sie die Tragweite des Ereignisses Christus und des Glaubens an ihn nicht begriffen hatten, sich zwar in dem lutherischen Protest gegen die katholische Gesetzlichkeit, die beim Ablaßhandel auftauchte, fortgesetzt hat, daß er aber nicht bis ins Unendliche fortgesetzt werden kann, ohne künstlich zu werden. Einer Lehre, die in besonders spannungsreichen Momenten des kirchlichen Lebens aufgetaucht ist, eine ewige Würde verliehen zu haben, würde also die geringe Empfänglichkeiterklären,iffe1Ili"gegenübeider modeme Gläubige zeigt. Heute sind andere Motivein-aen Vordergrund getreten und beanspruchen die Hauptaufmerksamkeit. Das. schwierige Gegenüber zur ungläubigen Welt verlangt, daß man über das Motiv der Theodizee, die Frage, ob es Gott gibt, diskutiert; der tägliche Kontakt mit der Arbeitswelt in Tuchfühlung mit den sozialen Fragen verlangt, daß man sich für die Veränderung der Strukturen und für die Errichtung einer besseren Gerechtigkeit einsetzt; der ökumenische Dialog gebietet ferner, daß wir uns aktiv mit ekklesiologischen Fragen der Ämter, der Sakramente, der Liturgien, der interkonfessionellen Einheit und einer gemeinsamen christlichen Haltung gegenüber der Welt beschäftigen. Besonders was diesen letzten Bereich betrifft, macht man katholischerseits großzügige Angebote zur Anerkennung, für die man die Gegenleistung erwartet, wobei man sich wegen der noch vorhandenen protestantischen Vorbehalte, sich auf gleichem Gelände zu bewegen, enttäuscht und verwundert zeigt. Man veröffentlicht sensationelle Erklärungen, nach denen die Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben seit eh und je eine katholische Lehre gewesen wäre, deren ständige Präsenz in der Tradition der römischen Kirche man auf der Grundlage von Beweistexten sowohl leh/mäßiger als auch liturgischer Art feststellen könne. Die Tatsache, daß die Reformation sie als eine eigene Lehre verfochten hat, kann man als eine Art unzulässiger Aneignung betrachten, die man jedenfalls nach Maßgabe der verflossenen Zeit für verjährt gelten lassen kann. Heute in einem Klima der Versöhnung und gegenseitigen Anerkennung der Irrtümer der Vergangenheit ist es gut möglich, ihr ein Zeugnis katholischer Legitimität auszustellen, indem man ihr einen ehrenvollen Platz im Rahmen der römischen Kirchenlehren zuweist, jedoch unter der Bedingung, daß sie auf jeden Fall in den Rahmen der "katholischen Fülle" eingefügt wird, "in deren Innern andere Glaubensdefinitionen neben jener der Rechtfertigung anerkannt werden müssen. Nach diesem Urteil stammte die Tragödie der lutherischen Rechtfertigungslehre daher, daß sie der ,katholischen Kirche' entrissen und in der Folge isoliert wurde"8. So hat 8
V. Vajta, L'actualite de la doctrine de la justification par la foi, RHPhR 48 (1968), 201.
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sie eine ketzerische Kraft gewonnen, deren schädliche Folgen noch teilweise wirksam sind. Für die Rechtfertigung aus Glauben wäre also der Augenblick gekommen, in Pension zu gehen. Wie man mit einem Mann verfährt, der von einer gefährlichen Dynamik beseelt war, der zu viele Wahrheiten sagte und vielen ein Ärgernis bereitete: Wenn er schließlich die Altersgrenze erreicht hat, sagt man ihm, er habe wertvolle Dienste geleistet, man feiert ihn, verleiht ihm Auszeichnungen, überträgt ihm einen bescheidenen Platz am Rande, wie es einem Alten zukommt, indem man in dazu bestimmt, wider Willen unschädlich zu werden. Diese Verdrängung würde sich mit einer gewissen Dringlichkeit als notwendig erweisen, weil die Keime eines einseitigen Rechtfertigungsverständnisses in seiner protestantischen Fassung, worauf wir hingewiesen haben, nicht alle neutralisiert wurden. Sie zirkulieren noch immer nicht nur im Organismus der protestantischen Kirchen, sondern auch in dem anderer Kirchen, mit krankhaften Auswirkungen auf die gesamte moderne Gesellschaft, die Mühe hat, sich von der jahrhundertealten Krankheit, die sie sich zugezogen hat, zu erholen. Die ernsteste Rückwirkung dieser Einseitigkeit, die vom exegetischen und theologischen Lager aus den gesamten Bereich der Kultur und Zivilisation des Westens überflutet hat mit allzu offensichtlichen Folgen für die Entwicklung seiner Philosophie, seiner Empfindung und seiner ethischen Praxis, wird mit dem sogenannten lutherischen Subjektivismus, mit jenem "Heilsegoismus"9 Diese Thesen sind Konstanten des neuen Ansatzes der katholischen Kritik von den allgemei· nen Werken wie jenes von W. H. van de Pol, Das reformatorische Christentum in phänomenologischer Betrachtung, Einsiedeln - Zürich - Köln 1956, bis zu den speziellen Arbeiten von H. Küng, Rechtfertigung, Die Lehre Kar! Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 19624; ders., Ist in der Rechtfertigungslehre eine Einigung möglich? Una Saneta 12 (1957), 116; ders., Rechtfertigung und Heiligung nach dem Neuen Testament, in M. Rösle - O. Cullmann (Hg.), Begegnung der Christen, Stuttgart - Frankfurt a.M. 19602, 249; ders., Katholische Besinnung auf Luthers Rechtfertigungslehre heute, in Theologie im Wandel, Festschrift zum 150jährigen Bestehen der kathol.-evang. Fakultät der Universität Tübingen 1817-1967, München - Freiburg 1967, 449ff; D. Bellucci, Fede e giustificazione in Lutero. Un esame teologico dei "Dictata super Psalterium" edel Commentario sull'Epistola ai Romani (1515-1516), Rom 1963; E. Schillebeeckx, Das tridentinische Rechtfertigungsdekret in neuer Sicht, Concilium 1 (1965), 452ff; O. H. Peseh, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Versuch eines systematischtheologischen Dialogs, Mainz 1967; V. Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre? Die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana (1530) und die Stellungnahme der katholischen Kontroverstheologie zwischen 1530 und 1535, Wiesbaden 1970. (In der Reihe könnte man vielleicht auch einen konfessionell protestantischen, theologisch katholischen Verfasser erwähnen: J. Lortzing, Die Rechtfertigungslehre Luthers im Lichte der Heiligen Schrift, Paderborn 1932.) Als ein Kompendium, eine aufmerksame Analyse und eine Bewertung der verschiedenen Gesichter dieser Kritik evangelischerseits vgl. M. Bogdahn, Die Rechtfertigungslehre Luthers im Urteil der neueren katholischen Theologie. Möglichkeiten und Tendenzen der katholischen Lutherdeutung in evangelischer Sicht, Göttingen 1971. 9 W. Eiert, Morphologie des Luthertums I, München 19582 , 61.
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identifiziert, der die Seele der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben ausmachen soll. Nicht umsonst hatte Melanchthon in seinen Loci erklärt: "Die Geheimnisse der Gottheit sollen wir richtiger angebetet als erforscht haben ... Christus zu erkennen, heißt, seine Wohltaten zu erkennen. "10 Indem sich das Interesse von der Betrachtungs des objektiven Wertes des Werkes Christi und in einem weiteren Sinne von der Mittlerschaft und der Anbetung derselben Objektivität Gottes auf die Betrachtung der Wohltaten verlagert, die sich für den einzelnen Gläubigen aus dem Werk Christi und aus der Wirklichkeit Gottes selbst ergeben, wäre das LuJhertum die Ursache jenesunumkehrbaren Prozesses des fort~clIreitenden Subjektivismus, der das gesamte Bewußtsein des modernen Menschen durch· sich geprägt hatl l • Indem man eine Fluchtbewegung von den Geheimnissen der Gottheit begonnen habe, die nur als Objekte einer abstrakten, metaphysischen Spekulation oder bestenfalls einer Anbetung gewertet würden, die nicht auf die Bewußtwerdung oder die theologische Abhandlung übertragen werden könnte, hätten Melanchthon und das Luthertum die Dogmatik auf das Studium der "Wohltaten Christi" und der Arten der "applicatio salutis" mit dem Ergebnis reduziert, di~ Christologie schließlich in Soteriologie aufzulösen. Der so begonnene Prozeß habe sich dann später über ihre Absichten und gegen alle Voraussicht entwickelt. Jedenfalls fiele aber der reformatorischen Botschaft die Verantwortung für jene Verwandlung der Theologie in Anthropologie zu, deren weniger virulente Wirkungen man in der heutigen existentialen Exegese der Bultmannianer antreffe, die die gesamte christliche Botschaft auf ein anthropologisches Selbstverständnis reduziert12 , deren geheimes, verderbliches Gift jedoch im ernsten Angriff Feuerbachs auf das Christentum mit tödlichen Ergebnissen durchsickere, dessen Keime im Gewebe unseres kollektiven Organismus nicht aufhören aktiv zu sein, sei es in der Gott-ist-tot-Theologie, sei es in den Versuchen, den Glauben durch die Liebe, das Gebet durch die soziale Aktion zu ersetzen13 • Unter anderem wäre dieser Subjektivismus für den ernsten Mangel an Sozialethik verantwortlich, der eine der auffälligsten Ursachen für die gegenwärtige Krise des Protestantismus gegenüber der modernen Welt und für sein spärliches Echo mitten unter den Kräften darstellt, die die westliche Gesellschaft nach der industriellen Revolution, und nachdem die proletarischen Massen die geschichtliche Verantwortung übernommen haben, beherrschen. 10 Ph. Melanchthon, Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae 1521, eR 21, 84. 85. n Eine neue Anzeige der dramatischen Folgen dieses Prozesses in katholischer Sicht findet sich in dem Band von M. J. Le Guillou O.P., Le mystere du Pere, Paris 1973. 12 K. Barth, Rudolf Bultmann, Ein Versuch ihn zu verstehen, Zollikon - Zürich 1952,46. 13 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon - Zürich 1947, 484.486.
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Verwechselt diese Kritik aber nicht Erasmusmit Luther' \ das extra nos der Reformation mit dem pro me der Frömmigkeit des Pietismus und der Erweckungsbewegung'5 ? Ohne die Frage von vornherein in einem fur-das Luthertum günstigen Sinne beantworten zu wollen, muß man sich jedenfalls fragen, ob diese Kritik im allgemeinen nicht eherdiespätere Entwicklung des Luthertumsa1saieürsprüngliche lutherische Botschaftt~ifft. Die Frage,die hinter diesen Kritiken steht, ist ernst, und muß ernsthaft durchdacht werden, um ihr Recht oder Unrecht und die Folgerungen zu prüfen, die sich in dem einen oder anderen Sinn daraus ergeben. Man muß hinzufügen, daß sich diese Kritiken nicht auf negative Bemerkungen beschränkten, sondern daß sie konstruktiv zu Ersatzvorschlägen weitergingen, indem sie als Mitte der christlichen Botschaft nicht die Rechtfertigung, sondern nicht mehr und nicht weniger als Christus selbst, seine Person, sein Werk, seinen Tod und seine Auferstehung aufzeigten. Der Vorschlag ist einwandfrei, und es wäre müßig und ausweichend, ihn zu bestreiten. Gewiß: nicht die Rechtfertigung, sondern Christus ist zu jeder Zeit die Mitte des -Neuen Testamentes und der christlichen 139t- . schaft.. Alle christlichen Bekenntnisse, die Theologien jedweden.Typs und jedweder Richtung stimmen bei dieser Behauptung überein, die eine selbstverständliche Klarheit für sich hat, die keiner demonstrativen Stütze bedarf, die aber eben wegen ihrer unbestreitbaren Selbstverständlichkeit nicht demagogisch ausgeschlachtet werden darf, um Thesen zu unterstützen, die nicht ausschließlich in Christus ihre Mitte haben. Die Mitte ist Christus. Aber wie wird Christus interpretiert? Handelt es sich um den Christus, auf den der Apostel Paulus die christliche Botschaft konzentrierte, als er sagte: "Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit" (1. Kor 1,23)? oder um einen anderen, vor- oder nachchristlichen Christus? Vorchristlich im Sinne der jüdischen Eschatologie, die in ihrer ursprünglichen, messiailischen Fassung, wie in ihren gegenwärtigen, säkularisierten Fassungen die Lösungen aller Menschheitsfragen von der Zukunft erwartet? Nachchristlich im Sinne der realisierten Eschatologie der Gnostiker der ersten Jahrhunderte oder der Visionäre und Mystiker jeder Zeit oder einer kirchlichen Wirklichkeit, die die Stelle und die Funktionen des messianischen Mittlers eingenommen hat? Wo verläuft die Scheidelinie zwischen einer Interpretation, die mit der Grundrichtung des Neuen Testaments 14 Dies wurde auch katholischerseits anerkannt: J. Lortz, Die Reformation in Deutschland I, Freiburg i. Br. 1941, 128; vgl. P. Hacker, Das Ich im Glauben bei M. Luther, Graz - WienKöln 1966. Für den Gegensatz Erasmus - Luther ist der Band von E. W. Kohls, Luther oder Erasmus I-Ir, Basel 1972-1978, bedeutsam. 15 H. J. Iwand, Wider den Mißbrauch des pro-me als methodisches Prinzip in der Theologie, EvTh 14 (1954), 120ff; W. Kreck, Christus extra nos und pro nobis, ThLZ 90 (1965), 641.
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übereinstimmt, und einer, die nicht damit übereinstimmt? Welches ist das Kriterium, um die Geister gegenüber dem Humanismus, Katholizismus und dem Täuferturn in ihren Fassungen des 16. Jahrhunderts und in ihren gegenwärtigen Fassungen zu prüfen? Was ist also der notwendige Kanon, um den Kanon zu interpretieren, um die Mitte und die leitende Linie, die die gesamte Heilige Schrift und jede christliche Predigt ausrichtet, zu verstehen16? Man hat richtig gesagt: "Die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft will im Grunde nicht selbst Mitte von Kirche und Theologie sein, sondern sie will dies(u'1itte.,Aif!Christus alleine gebührt, lediglich markieren. "17 :M:ITailderenWorten: sie ist die notwendige Perspektive, um zu verstehen, daß Christus die Mitte ist. Wo diese Mitte verschoben, an den Rand gedrärigt, durch andere Mittelpunkte ersetzt oder in andere Mittelpunkte integriert wird, verlieren der Glaube und die Kirche den einzigen Grund, auf dem sie gegründet sind. Denn alle ihre Werke, die schon für sich anfechtbar sind und bleiben, werden auf einem unsicheren Platz gebaut, der keinen festen und sicheren Grund bilden kann (1. Kor 3,10-15). Es ist keine partikulare Lehre, die sich von den anderen christlichen Lehren unterscheiden könnte. "Sie will nicht eine Lehre neben anderen Lehren sein, das heißt, ein Artikel des Glaubens im Innern eines kirchlichen Dogmensystems"18, in einer solchen Anordnung, die sie anderen Lehren unterordnete, indem sie sich mehr oder weniger harmonisch in deren Kontext einfügte oder auch mit dem Recht, einen Absolutheitsanspruch zum eigenen Vorteil und zum Schaden der anderen Lehren auszuüben. Ausdrücklich wurde die Gefahr erwähnt, gerade die von der Reformation entdeckte biblische Botschaft in eine Lehre und in ein in strengen Formeln fixiertes Theologumenon zu verwandeln, das als Glaubensgegenstand vorgeschlagen und anderen Lehrmeinungen entgegengesetzt werden müßte19 . Während sie kein partikularer dogmatischer locus neben anderen dogmatischen loei ist und sein will, .kein mehr oder weniger anderen Glaubensartikeln integrierbarer Glaubensartikel, sondern die notwendige, kritische Kategorie, um all die anderen Punkte christlichen Denkens und Handeins zu bewerten, von der ausgehend man unterscheiden kann und muß, ob die Kirche die Kirche des Evangeliums oder nur
16 E. Käsemann, Exeg. Vers. u. Bes. I. Göttingen 19602 , 232; ders. (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, 405; H. Diem, Dogmatik, München 1955, 200ff; W. Dantine, Die Gerechtmachung des Gottlosen, München 1959, 115ff. 17 H. G. Pöhlmann, Rechtfertigung, Gütersloh 1971, 47; M. Lienhard, Luther temoin de Jesus-Christ, Les etapes et les themes de la christologie du reformateur, Paris 1973, 273ff. 18 V. Vajta, a.a.O., 201. 19 E. Wolf, "Erneuerung der Kirche" im Licht der Reformation, in Peregrinatio II, München 1965, 151, und der andere, bereits zitierte Artikel des gleichen Bandes II, 13.
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eine Kirche dem Namen nach20 ist, außerhalb deren aber alles, was man denkt, sagt und tut in der christlichen Gemeinde, Irrtum und Gift ist: "Quicquid extra hoc subiectum in Theologia quaeritur aut disputatur, est error et venenum. "21 Das "sola lide", das Bewußtsein der Gerechtigkeit Gottes dürfen deshalb nicht als ein geistlicher und lehrmäßiger Besitz empfunden und dargestellt werden, über den die evangelische Kirche verfügen kann, sondern sie müssen als das Fundament gezeigt werden, das von denen, die sich auf den Namen Christi berufen, immer neu entdeckt werden muß. Es handelt sich nicht um einen strittigen Aspekt eines konfessionellen Heilsverständnisses, der durch die gesamte westliche anthropologische Tradition und durch polemische Umstände des 16. Jahrhunderts bestimmt ist, sondern um einen grundsätzlichen, kritischen Bezugspunkt des christlichen Glaubens, der seinen Sinn und seine Ausrichtung auf die Mitte, die Christus ist, festhä}t22. Mit anderen Worten: hier steht man dem notwendigen kritischen Druck gegenüber, der bewirken kann, daß kein anderer Grund gelegt wird außer dem, der schon gelegt ist, Jesus Christus (1. Kor 3,11). Diese Frage in der Art und Weise eines Handbuches zu erörtern, indem man sie als eine charakteristische Lehre einer partikularen Konfession betrachtet, die sie von anderen Konfessionen unterscheidet und trennt, bedeutet daher, der Frage selbst ihre Dimension christlicher Universalität zu nehmen und zu verkennen, daß es sich um eine wirkliche Frage handelt, die das Evangelium allen Konfessionen stellt. Es ist also nicht legitim, sie als eine reduzierende Einschränkung des Evangeliums in Verruf zu bringen. Es ist erforderlich, sie in ihrer wirklichen Tragweite als typische Konzentration der Problematik des Evangeliums, als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis Christi und der gesamten biblischen Botschaft vom Werk Gottes einzuschätzen23 • Dabei muß der Glaube sich bewußt werden, daß Jesus Christus 20 E. Wolf, a.a.O., 11, 11; H. J. lwand, a.a.O., 5. Luther bemerkte, daß im locus der Rechtfertigung alle anderen Artikel unseres Glaubens enthalten sind: wenn er heil ist, sind auch alle anderen heil, wenn er verloren geht, gehen alle anderen verloren, WA 40/1, 441. G. Ebeling, Luther, Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 124, kommentiert: Wenn Luther, wie er es konkret getan hat, "ein solches Gewicht auf die Rechtfertigungslehre legt, so geschieht das nicht in der Meinung, damit einem von vielen christlichen Lehrinhalten den Vorzug vor anderen zu geben, sondern um zu rechtem Umgang mit allen denkbaren Lehrinhalten überhaupt anzuleiten. Darum ist die Rechtfertigungslehre in dieser ihrer Funktion gleichsam als Lehre aller Lehren nur dann nach Luthers Verständnis richtig erfaßt, wenn sie identisch ist mit dem, was die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als Grundanweisung theologischen Denkens, das heißt aber als entscheidener Gesichtspunkt theologischer Urteilskraft meint." Vgl. auch F. Gogarten, Luthers Theologie, Tübingen 1967. 21 WA 40/11, 328, 17. 22 H. J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube, München 1961; G. Gloege, Gnade für die Welt, in E. Wilkens (Hg.), Helsinki 1963, Berlin - Hamburg 1964, 327. 23 R. Hermann, Luthers Rechtfertigungslehre und ihre Bedeutung für unsere Zeit, in
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"uns von Gott her zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung geworden ist" (1. Kor 1,30); er muß in allen seinen Formen Kundgebung dessen sein, was Christus ausdrückt, wie Luther es für die Schrift wollte. Dies meinte er, als' er erklärte, daß ihm die gesamte Schrift von dem Augenblick an, als er den Sinn des Ausdrucks "Gerechtigkeit Gottes" verstanden hatte, "ein anderes Gesicht" zeigte24 • Vergegenwärtigt man sich diese Betrachtungen, mag man anfangen, die unbeugsame Beharrlichkeit Luthers bei der Gerechtigkeit allein aus Glauben zu verstehen und zu versuchen, an einigen Punkten seine Interpretation zu artikulieren.
2. Die Rechtfertigung Gottes
In den Jugendschriften Luthers erscheint der Begriff der Rechtfertigung Gottes. Dieser Begriff mag auf den ersten Blick zu paradox erscheinen, um leicht begriffen zu werden. In den ersten Ausdrücken des Werkes Luthers ist er jedenfalls in Mustern interpretierbar, die nicht so weit vom typischen Synergismus der katholischen Tradition entfernt sind, wie man vermuten könnte. In den Dictata super Psalterium von 1513-1516 behauptet Luther, die Gerechtigkeit Gottes drücke sich in der tiefsten Demütigung aus und löse sich in ihr auf\ so daß der, der ihr im Glauben anhängt, das heißt, wer sich de.\1lüJj.gt und vor Gott zunichte macht, seine Gnade empfangf2.In~dem Prozeß, der-sichzwisthen Gott und Mensch vollzieht, ist der, der gerechtfertigt wird, letzten Endes nicht der Mensch, sondern Gott. Wenn sich der Mensch anklagt, verurteilt und richtet, tut er nichts anderes als über sich "das Urteil Gottes, indem er es ratifiziert und als wahr anerkennt" 3, anzunehmen. Gott wird gerechtfertigt, wenn er für gerecht gehalten wird. Aber wenn der Mensch Gott rechtfertigt, muß er einfach seinerseits gerechtfertigt werden, weil er nichts anderes tut als das zu sagen, was Gott Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, Göttingen 1960, 368; G. Gloege, Die Rechtfertigungslehre als hermeneutische Kategorie, ThLZ 89 (1964), 161ff. 24 WA 54, 185 ff; H. Strohl, L'evolution religieuse de Luther jusqu'en 1515, StraßburgParis 1922, 140ff; G. Miegge, Lutero, Torre Pellice 1946, 129ff; M. Brecht, Justitia Christi, Die Entdeckung Martin Luthers, ZThK 74 (1977), 179ff. 1 WA, 3, 458, 3f "qui se exaltat humiliabitur. Et qui se humiliat exaltabitur. Sed nunc iustitia Dei est tota hec: scilicet sese in profundum humiliare!" 2 WA 3, 462, 27. 32 "qui ei per fidem adheret, necessario sibi vilis et nihil, abominabilis et damnabilis efficitur. Que est vera humilitas ... Et sic fit Iustitia. Quia qui sibi iniustus est et ita coram deo humilis, huie dat deus gratiam suam". WA 3, 466, 36 "Iucliea me Domine, id est da mihi veram humilitatem et camis mee mortificationem, meiipsius damnationem, ut sie per te salver in spiritu" . 3 G. Miegge, a.a.O., 137.
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Die lutherische Lehre
sagt. "Denn es ist unmöglich, daß, wer seine Schuld bekennt, nicht gerecht ist, da er die Wahrheit sagt. Wo aber die Wahrheit ist, da ist Christus. "4 "Aber wie der Gerechte im Prinzip der Selbstankläger ist, ist der Gottlose im Prinzip der Selbstverteidiger. "5 Luther bezieht sich auf 1.Joh 1,10man hat den Einfluß der johanneischen Botschaft auf sein Denken und nicht nur der paulinischen bemerkt, wie man gewöhnlich meint 6• "Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, dann machen wir ihn zu einem Lügner, und sein Wort ist nicht in uns." Wenn wir uns weigern, unsere Schuld anzuerkennen, verwerfen wir jenes Wort Gottes als falsch, das uns anklagt und uns als Sünder verurteilt. Wir verurteilen also Gott, statt ihn zu rechtfertigen, und mit ihm verurteilen wir uns selbst mit dem Ergebnis, daß wir schließlich nicht gerechtfertigt sind7 • In der Römerbriefvorlesung von 1515-1516 entwickelt sich der Gedanke und wird bei der Fortsetzung alter Motive und der Einführung neuer Stichwörter genauer. "Denn was lehrt die ganze Schrift anderes als Demut?"B Die eigene Gerechtigkeit wird zerstört, wenn die "Gedemütigten" Christus suchen, "sich als Sünder bekennen und so die Gnade empfangen und selig werden"9. "Die allumfassende Gerechtigkeit also ist die. Demut. "10 "Darum tun Demut und Glaube not. "11 Bei den guten W~rKeIlsind es Demut und Reue, die sie Gott angenehm machen12 • Die Bedingung, um bei Gott als gerecht erachtet zu werden, ist das Sündenbekenntnis, so daß wir in der Wirklichkeit Sünder, in der Hoffnung aber Gerechte sind13 • Aber die eigene Schuld zu bekennen, heißt, Gottes Gericht über uns als gerecht anzuerkennen, dascl!eißt,esbedeutet,-Cott zu rechtfertigen, zu glauben, daß Gott gerecht 1St. Der Unglaube richtet Gott, statt ihn zu rechtfertigen, uildbetrachtet ihn als ungerecht. Im Glauben dem Urteil Gottes über uns zuzustimmen, bedeutet im Gegenzug unsere Rechtfertigung: Wer Gott rechtfertigt, wird von Gott gerechtfertigt. Wer ihn statt dessen aus Unglauben richtet, wird seinerseits gerichtet und verurteilt"4 • Was diese Texte anlangt, so scheint es, daß sich eine Korrelation zwischen der Rechtfertigung Gottes und der Rechtfertigung des Menschen festse.t:z;t~ ri~~.~·t _.\T~E.~1,
[email protected]~LMechanism1!~lA~n Gott regelt, der aber gleicbzeitig vom Menschen gehandhabt wird, wobei dem Urteil Gottes über den Menschen die Rechtfertigung entspricht, wenn und wann das WA 3, 29, 40; 30, 1. 5 WA 3, 29, 30. W. von Loewenich, Luther und das johanneische Christentum, München 1935; C. Stange, Der johanneische Typus der Heilslehre Luthers im Verhältnis zur paulinischen Rechtfertigungslehre, Gütersloh 1940. 7 WA 3,284, 34ff. 8 WA 56, 199, 30 (dt. MAE 2,62). 9 WA 56, 207, 9ff (dt. MAE 2, 74). 10 WA 56, 449, 8 (dt. MAE 2, 376). 11 WA 56,218,12 (dt. MAE 2, 89). 12 WA 56,370,20. 13 WA 56, 269, 28ff. 14 WA 56, 212, 213, 214. 4
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Urteil des Richters von dem als gerecht anerkannt wird, der schuldig gesprochen wurde15 . Man hat überhaupt den Eindruck, in einem Raum zu bleiben, der trotz allem der mittelalterlichen Frömmigkeit nicht allzu unähnlich ist und der nicht die Möglichkeit bietet, eine wirkliche theologische Neuigkeit mit reformatorischer Weite zu erfassen. Nun ist die Interpretation dieser Texte umstritten. Eine ganze Reihe von Forschern hatte geglaubt, die Entdeckung des entscheidenden Begriffs der Gerechtigkeit Gottes bis zu diesen Texten zurückverfolgen zu müssen, indem sie sie vielleicht im Lichte späterer Entwicklungen lasen16 . Aber nach der These, die einige neuere Wissenschaftler vertreten1\ wäre das Ergebnis einer aufmerksamen Analyse der Texte eine "Identifikation von Gerechtigkeit unIL[)emllt".18, die sich völlig in "ein Koopenitionsschema,däsgut katholisch bleibt", jedenfalls vorreformatorisch, einfügt19 . Die unersetzliche Grundlage der Rechtfertigung, die Gerechtigkeit Christi, wäre also noch nicht mit klgrer GewißJ1~i.t.gesehen und wäre mit der aktlvenNachahmungderDemut·Christi vermischt, die sich in der Erniedrigung der Inkarnation kundtafo. Der Glaube würde sich gewiß im Verzicht, die eigene Gerechtigkeit geltend zu machen, korrekt ausdrücken, er würde aber die Kategorie des 'Yerkes nicht konkret.iipef\\'iIl~den, indem er sich gerade mit einer DemutshaItUrig-varGottund vor den Menschen identifiziert, die Gott belohnt, indem. ~~ d~,n.MeI!schen .re.(;htfertigt, der gesündigt hat, der sich aber in Anerkennung des göttlichen Urteils demütigt. Kurz gesagt würden uns diese Texte nicht das frohe Evangelium der Gnade und der Vergebung darstellen, sondern immer noch das Gesetz, obwohl es als "Gesetz der Demut"21 verstanden wird, ein Motiv, das von der neuplatonischen und~tlüsierengenMy~j:ik Augustins inspiriert isf2. 15 WA 56, 217 (Der Vergleich mit dem Arzt, der nur handeln kann, wenn sich der Kranke als solcher erkennt). 16 K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, in Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, Tübingen 1927, 111ff; R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/I, Leipzig 19333 , 127ff, 294ff. 17 L. Pinomaa, Der existentielle Charakter der Theologie Luthers, Helsinki 1940, 18ff; R. Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen Theologie Luthers, Uppsala 1952; H. Ostergaard-Nielsen, Scriptura sacra et viva vox, München 1957; E. Bizer, Fides ex auditu, Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 19663 • 18 E. Bizer, a.a.O., 15. 19 G. Hennig, La questione della scoperta riformatrice di Lutero, Protestantesimo 18 (1963), 150; E. Wolf, Staupitz ·und Luther, Leipzig 1927, 102 sprach schon von einer synergistischen Erscheinung in diesen Schriften. 20 E. Bizer, a.a.O., 20-25; M. Kröger, Rechtfertigung und Gesetz, Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther, Göttingen 1968, 38-62. 21 E. Bizer, a.a.O., 31. 22 W. Grundmann, Der Römerbrief des . Apostels Paulus und seine Auslegung durch
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Andere Wissenschaftler haben hiergegen jeden Widerspruch im Bezug von Glaube und Demut negiert und die notwendige innere Beziehung zwischen den beiden Elementen in dem Sinne behauptet, daß die Demütigung nicht als Bedingung, sondern als Folge der geistlichen Gegenwart Christi im Gläubigen dargestellt wäre, der seine Gerechtigkeit glaubf3 • Andere Kritiker reden sogar auch außerhalb der geschichtlichen Grenze dieser Texte von einer unbewußten und dennoch konstanten Doppelheit der Bedeutungen im Ausdruck des Denkens sowohl des jugendlichen wie des reiferen Luthers 24 • Diese Diskussion hat nicht nur ein inneres, gelehrtes Interesse an der biographischen Entwicklung Luthers, sondern vielmehr einen Wert für die theologische Klärung der Bedeutung der Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes. Es ist kritisch nicht legitim, in dem einen oder anderen Sinn die Komplexität dieser Texte einzuschränken, ohne sich von allen Aspekten ihrer Problematik Rechenschaft abzulegen. Eine aufmerksame Analyse zeigt zweifellos eine Verflechtung von teilweise auseinanderlaufenden Motiven, aber gleichzeitig eine mühselige Suche, bei der die zweideutigen Motive, die man in entgegengesetzten Richtungen interpretieren kann, wegfallen und sich neue Motive mit sprengender Kraft bilden, die nach und nach beherrschend werden. Wie schon G. Miegge beobachtete, könnte die Korrelation der Selbstanklage (accusatio sui-humilitas) und der Gerechtigkeit in jüngeren Abschnitten denken lassen, daß Luther "in einem viel feineren Sinn" "auf den Boden seiner neuen Auffassung gerade jene Vorbereitung zur Gnade, die der traditionellen Lehre eigen war", übertragen hätte, "als wäre die Selbstanklage die notwendige und genügende Voraussetzung für die rechtfertigende Gnade. Und vielleicht gerade wegen dieses synergistischen Restes, den sie enthielt, oder wegen dieser Interpretation, die sie noch zuließ, hat Luther diese Auffassung nach und nach fallen gelassen. Sie erscheint noch häufig im Psalmenkommentar, wird im Römerbriefkommentar seltener und erscheint beim
Martin Luther, Weimar 1964, 95; vgl. A. HameI, Der junge Luther und Augustin, Ihre Beziehungen in der Rechtfertigungslehre nach Luthers ersten Vorlesungen 1509-1518 untersucht, 1-11, Gütersloh 1934--1935; A. K. Wood, The Theology of Luther's Lectures on Romans, S1Th 1950, 1ff; B. Lohse, Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, KuD 11 (1965), 116ff; D. Demmer, Lutherus Interpres, Der theologische Neuansatz in seiner Römerbriefexegese unter besonderer Berücksichtigung Augustins, Witten 1968. 23 R. Prenter, Der barmherzige Richter. Iustitia dei passiva in Luthers Dictata super Psalterium 1513-1515, Kopenhagen 1961; M. Lienhard, Christologie et humilite dans la theologia crucis du commentaire de l'Epitre aux Romains de Luther, RHPhR 42 (1962), 304 ff. Die vielleicht schärfste und am weitesten entwickelte Kritik an Bizers Thesen ist die, die H. Bornkamm, Zur Frage der Iustitia Dei beim jungen Luther, I, ARG 52 (1961), 16-29 und 11, ARG 53 (1962), 1-60 formuliert hat. 2. 1. Pinomaa, Sieg des Glaubens, Grundlinien der Theologie Luthers, Berlin 1964.
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späten Luther so gut wie nicht mehr" oder übt jedenfalls keine herrschende Funktion mehr aus 25 . Es ist indessen von großer Bedeutung, daß Luther von seinen Jugendjahren an, obwohl sein Hauptanliegen, seiner mittelalterlichen Spiritualität gemäß, grundsätzlich das Heil des Menschen ist, die Rechtfertigung in der paradoxen Perspektive der Rechtfertigung Gottes denkt2 6 • Die Annahme dieser Perspektive bringt nicht mehr und nicht weniger als die Umkehrung des Mittelpunktes mit sich: die Mitte ist nicht mehr der Mensch, sondern Gott. Dies bringt ein ent~chiedenesAbI"licken jedes theologischen Nachdenkens vom Menschen weg mit sich, von seinen Sünden,_ seiner Angst, seinen Bedürfnissen, seinen Wünschen, seinen Hoffnungen, seinen Enttäuschungen, seiner Erlösung oder seiner Verdammnis, auf Gott hin, der im Leben des Menschen den Raum einnehmen wird, der ihm vom 1. Gebot reserviert ist. Die Ausrichtung des Lebens hört auf, eine subjektivistische, auf den Menschen konzentrierte zu sein, die von der Begierde des Selbst beseelt ist: an die Stelle der herrschenden Interessen, die sich um den Menschen und sein Reich drehen, treten die Interessen Gottes und seines Reiches. Das Evangelium stürzt das Reich des Menschen nicht nur in dem um, was sich auf seine unmoralischen und sündigen Werke bezieht, sondern auch in dem, was seine moralischen und religiösen Werke betrifft, die die subtilste und am wenigsten verwundbare Form der Selbstbehauptung bilden, man könnte mit dem Ausdruck Nietzsches sagen, die Maskierung des Willens zur Macht. In der 3. These der Heidelberger Disputation von 1518 hat Luther, indem er eine berühmte augustinische Formel wiedergab, behauptet, die menschliche Werke, auch wenn sie dem Anschein nach gut ürideinwandfrei sind, seien in Wirklichkeit "peccata mortalia"27. In der Begegnung mit dem Evangelium hört der Mensch auf, an sich selbst zu glauben, er glaubt an Gott gegen sich selbst; er behauptet, erhöht und rechtfertigt nicht mehr sich selbst und seine Gerechtigkeit: er verkündigt Gott und dessen Gerechtigkeit. Dieser Tausch kommt einer Abdankung gegenüber der eigenen Souveränität gleich, um die Souveränität Gottes zu bekennen. Mit dieser Entscheidung scheidetcler Mensch aus der menschlichen Rechtsprechung aus und tritt in die Rechtsprechung Gottes ein: "er rechtfertigt" sein einziges Recht. . In den Jahrzehnten nach Hitler hat man häufig die Frage diskutiert, ob das Luthertum auf der Grundlage der Zwei-Reiche-Lehre die Souveränität Christi nicht zu wenig ernst genommen habe, das heißt, ob es sie nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt, und so im allgemeinen Bewußtsein ein Vakuum habe bestehen lassen, das die Einsetzung anderer Souveränitäten und deren mehr oder weniger bewußte Rechtfertigung begünstigt 25 G. Miegge, a.a.O., 138. Vgl. M. Kröger, a.a.O., 35. 26
M. Kröger, a.a.O., 44.
8 Subilia, Rechtfertigung
27
WA 1, 353.
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habe2s • Die Frage ist sehr komplex, und wir müssen sie innerhalb der lutherischen Ethik behandeln. Jedoch kann man sich fragen, welche andere Bedeutung hat die Botschaft der Rechtfertigung Gottes, wenn nicht die der Verleugnung jeder anderen Gerechtigkeit, um die einzige und souveräne Gerechtigkeit Gottes zu bekennen? Im Lichte dieses Bekenntnisses wird jede andere autonome Grundlage des Lebens in jedem seiner Bereiche in einer kritischen Urteils perspektive gesehen, und der gesamte Raum wird von einem ausschließlichen Vertrauen auf das Paradox der Gerechtigkeit Gottes besetzt. Auf der Grundlage dieses Paradoxes verwirklicht sich ein neuer Bezug zu Gott, der nicht mehr durch die incertitudo gekennzeichnet ist, die von den unsichereri-TeistiingercdesMenschen abhängt, sondern von einer klaren und freien certitudo, die auf die Verheißung Gottes gegründet ist, die im Ereignis Christus und in der Erscheinung seiner Gerechtigkeit greifbar wird29 • Gott ist nicht mehr eine flüchtige Grenze, die man versuchen muß auf einer langen Straße voller Hindernisse zu erreichen~ er ist ein fester Ausgangspunkt, von dem die Gedanken und Taten ausgehen. Die Theologie der Gläubigen ist eine theologia viatorum nicht nur in dem Sinne, daß sie auf dem Wege sind, um Gott zu erreichen, sondern in dem Sinne, daß Gott sie mit seinem Wort erreicht und sie zu seinem Dienst auf den Weg gebracht hat, damit sie mit ihm gehen und am Kampf für seine Sache teilnehmen. Das Wort, das sie geglaubt haben, auf dessen Grundlage sie Gott jetzt rechtfertigen können, das heißt, ihn als gerecht und wahr anerkennen, wird die Norm, die ihr Leben ausrichtet und beherrscht. Gott wird nicht mehr vom Menschen beschuldigt, gerichtet und verdammt, weil man ihn als vom Elend der Welt fern und als unfähig betrachtet, hier seine Gerechtigkeit aufzurichten: Gott wird als gerecht verkündigt, weil er seine Gerechtigkeit offenbart hat. Und diese Gerechtigkeit gilt nicht nur im religiösen Bereich, sondern "unabhängig vom Gesetz" (Röm 3,21) in der komplexen Weltgeschichte, die dadurch in Unruhe versetzt und ständig gereizt wird, ihr gegenüber Stellung zu beziehen, und zwar durch das Wort der Predigt, das ihr diese Gerechtigkeit verkündigt, auch wenn es von jener Weisheit Gottes spricht, die der Welt unbekannt und verborgen ist, "in abscondito est, incognita mundo"30, auch wenn Christus nur mittels der Offenbarung erkennbar ist, "Christus non nisi revelatione cognoscibilis"3\ also auch wenn die Welt in
28 Vgl. M. Lippold, Lutherische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen theologischen Diskussion, in E. Wilkens (Hg.), Helsinki 1963, Berlin - Hamburg 1964,199. 29 O. Bayer, Promissio, 'Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971, 276; ders., Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, ZThK 66 (1966), 115 ff. 30 WA 56, 237, 20. 31 WA 56, 237 y 22.
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ihrem überheblichen Sinn ihm hartnäckig zu ihrer eigenen Verdammnis widerstehen kann32 • 3. Die Gerechtigkeit Christi
Der Begriff der Rechtfertigung Gottes leitet Luther zur Entdeckung, daß die Gerechtigkeit Gottes, die der Glaube erkennt und bekennt, in Christus offenbart ist. In der Tat setzt sich neben dem Begriff der Rechtfertigung Gottes immer stärker die Auffassung einer iustitia aliena und nicht propria, extranea und nicht ·domestica in seinen Schriften durch1• Was will der Reformator mit diesen Ausdrücken sagen? Er ist bestrebt, sich der großen anthropozentrischen Tradition entgegenzustellen, die er in ihren beiden Ausprägungen des 16. Jahrhunderts vorfand: einerseits der Anthropozentrismus des Humanismus, den am besten Erasmus symbolisiert, und der mit fortschreitender Säkularisierung seine lebendigsten Fermente durch die verschiedensten Kulturkreise der folgenden Jahrhunderte bis in unsere gegenwärtige Lage entwickeln wird, andererseits der Anthropozentrismus der mittelalterlichen, katholischen Frömmigkeit, die sich im Westen durch eine Jahrhundertfolge geistlicher Erfahrungen durchgesetzt hat und die nicht ihren Widerruf, sondern eine sublime Bestätigung sowohl in den Ausdrücken der Mystik als auch der ketzerischen Strömungen und Sektenbewegungen fand. Der Kampf Luthers hat zwei Fronten - genauer müßte man sagen drei Fronten -: Humanismus, Katholizismus, Täuferturn. Er führt ihn im Namen einer anderen Instanz, die er erst nach und nach im Evangelium entdeckt. Keine Gerechtigkeit, die aus dem Menschen kommt, sowohl aus dem Menschen, der stolz ist auf seine Autonomie und seine humanistische Vorurteilslosigkeit, der einer laizistischen, moralischen Korrektheit fähig ist, als auch und vor allem aus dem Menschen, der sich als religiös und christlich bekennt, sei es die eingebildete Gerechtigkeit des Pharisäers, der mit dem eigenen geistlichen Verdienst zufrieden ist, das ihn von den Sündern unterscheidet und ihn der Klasse der Gerechten, der Bekehrten und Erlösten zuweist, oder sei es die Gerechtigkeit dessen, der die ruchlosen Werke hinter sich läßt, sich demütig dem Urteil Gottes unterwirft und den Weg des Gehorsams gegen Gottes Willen einschlägt - in jedem Fall rückt keine Gerechtigkeit, die vom Menschen herkommt, den Menschen von seiner Grundlage weg, sondern verwurzelt ihn nur noch tiefer in dieser Grundlage und bringt ihn WA 56, 256, 12ff. G. Pfeiffer, Das Ringen des jungen Luther um die Gerechtigkeit Gottes, LuJ 26 (1959), 25ff; H. Bornkamm, Zur Frage der Iustitia Dei beim jungen Luther I, II, ARG 52 (1961), 16ff, ARG 53 (1962), 1ff. 32
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unter der Decke von Religion und Ethik dazu, sie als von den Menschen und Gott unangreifbar zu erachten. Denn wenn es dem Menschen auch nur im geringsten Maße gelingt, auf seine eigeneWUrdlgkeitzu vertrauen, kann--er sich nicht mit wirksamem und totalem Vertrauen auf Gott verlassen. Wie Luther ausdrücklich sagt: "Wenn er nämlich, solange er überzeugt wäre, er vermöge auch nur das Geringste für sein Heil, in dem Vertrauen auf sich selbst beharrt" (manet in fiducia sui) "und nicht völlig an sich verzweifelt, demütigt er sich deswegen nicht selbst vor Gott, sondern maßt sich an oder hofft oder wünscht für sich zum wenigsten Gelegenheit, Zeit oder irgendein Werk, wodurch er endlich zum Heil gelangen möge. Wer aber in keiner Weise daran zweifelt, daß das Ganze am Willen Gottes hänge, der verzweifelt völlig an sich, wählt nichts aus, sondern wartet auf den wirkenden Gott. "2 Wenige im Jahrhundert der Reformation und noch weniger in den folgenden Jahrhunderten vermochten in der Tiefe die Ausrichtung und die Tragweite der Botschaft Luthers von der Gerechtigkeit Christi zu begreifen: die meisten verloren und verlieren sich mit stumpfsinniger Pedanterie in die sekundären und nebensächlichen Punkte oder in die Folgen seines Protestes, ohne dessen Mitte zu begreifen, oder sie interpretieren ihn oft entgegengesetzt zu seinen Absichten oder reduzieren ihn auf die Dimension eines klerikalen Streites zwischen Schriftgelehrten. Erasmus begriff scharfsinnig und klar, daß sich Luther nicht darauf beschränkte, Alternativen bei der Interpretation alter, in den Hörsälen theologischer Schulen wertvoller Texte zu bieten. Luther schlug keine teilweisen Änderungen vor, die jedenfalls innerhalb der kirchlichen Sphäre geblieben wären, sondern er trug eine Botschaft vor, die einer tausendjährigen Denktradition widerstritt, die die am tiefsten verwurzelten Grundlagen des Menschen, seiner Kultur und seiner Zivilisation anrührte. Erasmus klagte, die neuen Doktoren verträten Thesen, "die beinahe ein größeres Paradox nach allgemeiner Meinung verkünden", und obwohl sie die "zuletzt Gekommenen" seien, würden sie ihre Wahrheit mit dem Anspruch verfechten, sie sei "das Haupt der ganzen evangelischen Lehre", als ob man unterstellen könne, Christus habe den Geist "mehr als 1300 Jahre seiner Kirche verborgen" und "fast 1300 Jahre sei kein Evangelium in der Welt gewesen"3. Gegenüber diesen Interpreten, die aufgrund ihrer Interpretation meinen, "durch den Glauben und nicht durch die Werke gerecht zu sein", als ob diese Lehre ganz frisch und authentisch vom Himmel gekommen wäre, bekräftigt Erasmus fest das Prinzip des freien Willens, das "der ganze Chor der Heiligen" verteidige. M. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 632, 633 (dt. MAE 1, 43). D. Erasmus, Opera omnia 9, London 1962, 1220. In Amsterdam hat seit 1969 die Herausgabe von anderen Opera omnia begonnen. 2
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Seine Definition ist symptomatisch: "Weiter verstehen wir an dieser Stelle unter dem freien Willen die Kraftd~s. mens.chlkJj~nj~rU1iii~~mltder der Mensch sich zu dem hinwenden k~JIJ;l>_was.. zll.Ip ewigen Heil führt, öaersich davon abwenden kann. "4 Die Definition erinnert Jene, die Dialoge Lorenzo VaJlas De libero arbitria steht, und man fühlt sich versucht, sie als die religiöse Übertragung von Giovanni Pico della Mirandolas De hominis dignitate zu bezeichnen. Luther bedenkt seinen Gegner vorbehaltlos mit einem großherzigen Lob, weil er mit solchem Scharfsinn die Mitte aller Fragen aufgefaßt hat, ohne ihn, wie es alle andern machen, mit zweitrangigen Fragen wie Papsttum, Fegefeuer, Ablässe zu quälen, die im Vergleich dazu Kleinigkeiten (nugae) seien. "Einzig und allein du hast den Kardinalpunkt der Sache erkannt. "5 Luther greift die Definition des Erasmus formell wieder auf und bemerkt, daß er sogar auch großenteils die pelagianischen Positionen selbst übertroffen habe: wenn der Mensch tatsächlich mit seinem guten Willen die Macht hat, sich auch in die Angelegenheiten Gottes einzumischen (ea quae sunt aeterna), vermag er also alles, kann er also seine Hand an das Wort selbst, und an das Werk Gottes selbst legen, und er kann geradezu die Stelle Gottes selbst einnehmen, indem er die Gnade und den Heiligen Geist von ihrer Aufgabe entlastet6 • Letztlich handelt es sich darum, zu bestimmen, welches die Autorität ist, die das Leben des Menschen regieren muß? Luther erkannte klarsichtig, daß es notwendig ist "eine ganz bestimmte Unterscheidung" zwischen der Macht Gottes und den menschlichen Möglichkeiten, zwischeiidem·Werk Gottes und unserem Werk zu -erreichen, weil von der richtigen Lösung dieses Problems die Selbsterkenntnis und die Gotteserkenntnis abhängen. Wenn man es zu lösen versucht, indem man sich von den evangelischen Voraussetzungen löst, setzt man ebenso die Erkenntnis des Menschen wie auch die Erkenntnis Gottes aufs SpielB. Nachdem er aufrichtig der klaren, humanistischen Intelligenz des Erasmus die Ehre erwiesen hat, weil er, sei es auch nur, um bei einer entgegengesetzten Lösung anzukommen, die Alternative begriffen habe, kann Luther die gleiche Anerkennung dem römischen Gegner nicht zubilligen. Er erklärt, handele es sich nur um die Artikel "über Papsttum, Fegefeuer,
an
hn
D. Erasmus, a.a.O., 9, 1219. 1220. 1221. WA 18, 786: "unus tu et solus cardinem rerum vidisti" (dt. MAE 1, 248). 6 WA 18,664. 7 Vgl. die Untersuchung von A. Siirala, Divine Faith and Humane Thought: Theological Humanismus in the Light of the Controversy between Erasmus and Luther, wiederabgedruckt in seinem Band: Divine Humaneness, Philadelphia 1970. Wertvoll sind die Arbeiten von E. W. Kohls, Die Theologie des Erasmus, I-II, Basel 1966; ders., Die Einheit der Theologie des Erasmus, in ThLZ 95 (1970), 641ff; ders., Luther oder Erasmus, I und II, Basel 1972 und 1978. B WA 18, 614 (MAE 1, 22). 4
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Ablaß und Ähnlichem - wobei es sich vielmehr um unnützes Zeug als um ernsthafte Dinge handelt"\ müßte man vielleicht die Leichtfertigkeit und das theologische Unverständnis des Papstes und seiner "Jünger" ertragen (levitas et stultitia). Aber bei der Frage des freien Willens und der Gnade, das heißt, ob die Grundlage des Lebens im Menschen oder bei Gott stehtdem Artikel, "der der beste von allen und die Summe unserer Sachen ist" - kann man nur jammern und klagen, daß sie so unsinnig sind, daß sie nicht "ein einziges Jota" des Geheimnisses der Gnade Gottes verstehen"°. Indem sie das menschliche wie auch das christliche Fundament des menschlichen Lebens vor Gott bewahren wollen, finden sie einen allzu klugen Komprorniß zwischen den beiden Instanzen, der damit endet, die Gerechtigkeit Christi in ihrer gesamten befreienden und verändernden Tragweite zu neutralisieren oder geradewegs zu annullieren. Dem Papst und seinen "Jüngern" entgeht die Alternative, die nicht erlaubt zu versöhnen, was kontradiktorisch ist. Die lutherische Polemik gegen die Werke ist kein absurder Angriff auf den inneren Zusammenhang des sittlichen Lebenswandels des Gläubigen: Es ist ein Kampf ohne Waffenstillstand, darniLChristus das Alpha und Omega des Lebens sei und bleibe. In seinem Galaterbriefkommentar von 1535 bemerkt Luther, daß die "Papisten" ihn fälschlicherweise anklagen, die guten Werke zu verwerfen oder zu verbieten. Weil sie nichts anderes als die gesetzliche Gerechtigkeit kennengelernt haben, kann ihr Blick das Gesetz nicht überwinden und bleibt für sie alles, was über das Gesetz hinausgeht, etwas Unverständliches. Sie lassen sich also gerade das entgehen, was die Besonderheit des Evangeliums ausmacht, nämlich etwas zu lehren, was höher ist als die Weisheit, die Gerechtigkeit und die Religion der Weltl l . Sich an die Gerechtigkeit des Gesetzes, an die Gerechtigkeit, die der Mensch verwirklicht, zu halten, bedeutet statt dessen, daß man weiterhin an sich selbst glaubt. Das Muster des Zusammenwirkens von Mensch und Gott, eine Konstante in der katholischen Tradition, wird mit aller Kraft abgelehnt, weil es der Wurzel des Menschen erlaubt, fortzubestehen, sich zu entwikkeIn und zu gedeihen: es bewahrt den alten Menschen vor dem Tode und öffnet der Geburt des neuen Menschen, des Gerechten, der in Gott seines Glaubens lebt, nicht den Weg. Eine erstaunlich ähnliche Reaktion treibt Luther dazu, sich mit parallelen Argumenten der Stellung der Täufer zu widersetzen: weil nach seinem Urteil auch die Täufer denken, "das Werk Gottes hänge von der persönlichen Würdigkeit ab. Denn so lehren die Täufer: Die Taufe ist nichts, wenn die Person nicht gläubig-1st. A1.ls diesem Prinzip (wie es heißt) folgt notwendig, daß alle Werke Gottes nichts sind, wenn der Mensch nicht gut 9
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WA 18, 786 (MAE 1, 248). WA 40/1, 46, 52.
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WA 7,148, 14ff.
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ist". Der Gegensatz, der Katholiken und Täufer trennt, muß folglich als eine nur augenscheinliche, formale Opposition gewertet werden. In Wirklichkeit verteidigen die einen wie die anderen dieselbe These der menschlichen Würdigkeit, indem sie der Gnade den Raum verweigern und die ~nc!i~l1K_<:h~!sti bestreiten, "der älfefriunsei"e Gerechtigkeitist" 12. Zweifellos haben siclidieTätiferinsofern- von den Katholiken getrennt, als sie die großen reformatorischen Themen aufgenommen haben und sich als unabhängige Sekten konstituierten, aber sie überschreiten die Grenzen verbaler Äußerungen nicht und sie erweisen sich als unfähig, den tiefen Grund ihrer Trennung zu begreifen. Sie bleiben letztlich dieselben Menschen, die sie "unter dem Papsttum" waren. Auch wenn sie eine neue Sprache benutzen und andere Werke tun, ändert sich doch die Substanz nicht; sie sind weiterhin Täter des Gesetzes (exactores legis), Forderer von Werken (exactores operum), die argwöhnisch rechnend den Menschen danach beurteilen, ob er bestimmteWerketut oder ob er verm_ei- o". det, andere Werke zu tun, sie sind Menschen nacli-Mose (Mosaistae) , Werker (operarii) einer "aktiven Gerechtigkeit", die noch viel gewissenhafter und fanatischer als die Gerechtigkeit der "Papisten" ist. Diese Gerechtigkeit hängt, kurz gesagt, noch vom Menschen ab, der nicht entmächtigt wird, und der im Kampf zwischen der Gerechtigkeit des Gesetzes und der Christi unfähig bleibt, sich für die radikale Alternative Christi zu erklären, die weiterhin im Dunkel bleibt, ohne daß irgend jemand in der Kirche richtig unterrichtet und erbaut werden könnte l3 • Behaupten die großen lutherischen Bekenntnisschriften etwa nicht, daß in der Sicht der Täufer unsere Gerechtigkeit vor Gott wesentlich in einer inneren Erneuerung besteht, die zu einem solchen Maß an Perfektion gebracht wird, daß die Sünde und ein möglicher Rückfall auszuschließen sind? Und daß eine solche Gerechtigkeit im Grunde nichts anderes ist als die Verwirklichung eines neuen, verfeinerten Mönchtums, das sich Menschen ausgedacht haben (humanitus)14? "Die fanatischen und sektiererischen Geister" lehren nichts, noch können sie etwas recht von der "Gerechtigkeit aus Gnade" lehren. Wenn man nun von der "Gerechtigkeit Christi" absieht, bewegt man sich unvermeidlich auf der Ebene der Werke. Auch wenn einige Strengere "härtere" Werke ausführen, sind es immer noch Werke, daß heißt sie sind immer noch vom Menschen hervorgebracht und sind Kundgabe seiner Souveränität, die er über das Leben ausübt15 • Unter diesen Voraussetzungen bleibt Christus "müßig" und ist zu nichts nutze16 : er ist "vergeblich gestorben", wie der Apostel WA 40/1, 36. 13 WA 40/1,49,250.252. Die Augsburgische Konfession und Die Konkordienformel, in BSLK 67. 71. 823. 1094. 1096. 15 WA 40/1,49. 16 WA 40/1, 251. 12 14
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Paulus jenen Judenchristen in Galatien sagte (Gal 2,21), die Luther als Vorläufer der "Schwärmer" betrachtete17 • Mit beeindruckendem Scharfblick scheint er in einer geschichtlichen Vorwegnahme von Jahrhunderten die großen Linien des auf die Reformation folgenden und des modernen Protestantismus abzustecken, wenn er schreibt: "So zerstören die fanatischen Geister und werden zerstören, die es heute gibt und die uns folgen werden, was wir aufgebaut haben, sie bauen von neuem auf und werden aufbauen, was wir zerstört haben. "18
4. "Amor sui"
Der humanistischen, katholischen und täuferischen Gerechtigkeit schleudert Luther seine aufrüttelnde Anklage entgegen: Trotz ihrer Unterschiede, die ihm nicht entgehen, sieht er jede als von der concupi;: scentia (Begierde) beseelt an. Dieser berühmte Terminus HeB vom 16. Jahrhundert bis zu Denifle ströme polemischer Tinte fließen, indem er die ziemlich klägliche Absicht nährte, eine Erscheinung von der geschichtlichen Dimension der Reformation auf der Grundlage einer mutmaßlichen, sexuellen Unordnung in Luthers Privatleben zu erklären. Um sich klar zu werden, wie eine solch weitreichende Entstellung möglich gewesen ist, muß man zeitlich weit zurück mit Elementen beginnen, die in die kirchliche Tradition eingeführt wurden, obwohl sie der hebräisch~christlichen Gedankenwelt fremd waren. Am Anfang des Mißverständnisses steht jener Prozeß der Angleichung zwischen dem eschatologischen Dualismus der neutestamentlichen Botschaft und dem der hellenistischen Welt eigenen anthropologischen Dualismus, der sehr schnell in den christlichen Bereich eingedrungen sein muß: Der Geist wird nicht mehr als ein eschatologisches Element, sondern aIseill Bestandteil des Menschen, als ein Ausdruck seiner am höchsten erhobenen und unzerstchDai;en Sphäre angesehen;. das Fleisch zeigt die materielle, körperliche, sündige und sterbliche Sphäre des Menschen an. Diese Angleichung leitet alle asketisch-monastische Spiritualität und findet in den bedeutenden manichäisehen Resten des augustinischen Denkens die Kategorien, die im späteren, christlichen Bewußtsein klassisch werden. Deshalb wurde die Konkupiszenz fast restlos mit der Sexualität identifiziert1 • Unter diesen Voraussetzungen kann man etwa erklären, wie der Tiroler Dominikaner Heinrich Denifle2 mit antiprotestantischer Leidenschaft behaupten konnte, wobei WA 40/1, 267. 18 WA 40/1, 263. A. Adam, Das Fortwirken des Manichäismus bei Augustin, ZKG 69 (1958) 5. 2 H. Denifle O.P., Luther und das Luthertum in der ersten Entwicklung quellenmäßig dargestellt, Mainz 1904. 17
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er, ohne auf die Schläge der vergangenen Polemiker wie Johannes Cochläus (1479-1552) und Johannes Pistorius (1564-1608) zu verzichten, die Polemik fortsetzte - im offenen Gegensatz zum Kontext, besessen vom Vorkommen des Terminus -, daß am. Ursprung der Rechtfertigung aus GI~!ll.:len c,lie unbesiegbare Begierde-eine-s Malmes stünde, der unfähig gewesen war, die mönchische Zucht zu ertragen; und der "um seine Entartung vergessen zu lassen" und "um sein ausgelassenes Wesen zu legitimieren", "keinen anderen Ausweg gefunden habe, als sich zum Apostel des Heils ohne Werke zu machen"3. Einer der Aspekte der exegetischen Wiederentdeckung Luthers ist das Auffinden des weiten, hebräisch-christlichen Sinnes der Begriffe Fleisch und Begierde4 : Man hat gesagt, daß er "ein klares Bewußtsein des geschichtlichen Wertes seiner Entdeckung hatte"5 und daß er sich völlig bewußt war, sich in diesem entscheidenden Punkte von Augustinus und der christlichen Jahrhundertetradition zu unterscheiden6 • Bezüglich des Römerbriefes und der Begriffe Geist und Fleisch hat er tatsächlich vor allen Doktoren gewarnt, die sie benutzen, seien es Hieronymus, Augustinus, Ambrosius, Origenes oder noch ansehnlichere. Denn "On solchen verstand diser wortter, wirstu dise Epistel sanet Pauli, noch keyn buch der heyligen schrifft nymer verstehen" 7. Luth~r_~ehauptet, im biblischen Sinne sei der ganze Mensch außerhalb Christi fleischlich; gleichfalls müsse man--deri ganzen Menschen als geistlich ansehen, wenn er in Christus d!!Jf~~er:t _Glaub~n eingefügt ist und von seinem Geist durch das Wort bewegt wird. Der Unterschied, der sie paradoxerweise trennt, besteht in der Tatsache, daß der fleischliche Mensch vorgibt, geistlich zu sein, und daß nur der "geistliche" Mensch, das heißt der, der nach dem Geiste wandelt, weiß, daß er fleischlich ist". Genaue Bestimmungen kommen im Überfluß vor. Zu Gal 3,3 bemerkt Luther, daß man bei der paulinischen Antithese von Geist und Fleisch, unter Fleisch nicht" Wollust, tierische Leidenschaften und das sinnliche VerIangen" verstehen darf. Denn in 3 4
R. Stauffer, Die Entdeckung Luthers im Katholizismus, ThSt (B) 96, Zürich 1968, 7. 10. Die Monographie von W. Braun, Die Bedeutung der Konkupiscenz in Luthers Leben
und Lehre, Berlin 1908, konnten wir nicht einsehen. Vgl. K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, Ges. Aufs. zur KG I, Tübingen 1927, 137ff. 5 G. Miegge, a.a.O., 74. 6 B. Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart 1963, 133. 7 WADB 7, 12. 21. 25. 8 WA 56, 343 und 340: "omnino totus homo caro est, quia non permansit in eo spiritus Dei"; "spiritualis et sapientis hominis est seire se esse camalem et sibi displicere, seipsum odire et legern Dei commendare, quod sit spiritualis. Rursum insipientis et camalis est seire se spiritualem vel sibi placere, amare animan suam in hoc mundo." Vgl. E. Schott, Fleisch und Geist nach Luthers Lehre unter besonderer Beriicksichtigung des Begriffs "totus homo", Leipzig 1928; P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 138ff.
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diesem Abschnitt diskutiert der Apostel nicht "über die Wollust oder die anderen Begierden des Fleisches, sondern über die Vergebung der Sünden, die Rechtfertigung des Gewissens, wie man Gerechtigkeit vor Gott erlangt, die Befreiung von Gesetz, Sünde und Tod". Deshalb muß man unter Fleisch verstehen "die Gerechtigkeit, die Weisheit des Fleisches und die Überlegungen des Verstandes, der durch das Gesetz gerechtfertigt werden will. Was also das Beste und vortrefflichste im Menschen ist, das nennt Paulus Fleisch, d.h. die höchste Weisheit des Verstandes und selbst die Gerechtigkeit des Gesetzes", ja sogar "Religion"9. Schließlich ist fleisch nicht nur "der sinnliche Mensch oder die Sinnlichkeit mit ihren Begierden usw., sondern überhaupt, was außerhalb der Gnade Christi ist... Also ist alle Gerechtigkeit und Weisheit außerhalb der Gna.de Fleisch und fleischlich "10. Unter Begierde darf man nach allgemeiner Bedeutung nicht nur die Antriebe der Sexualität verstehen, sondern alle Gefühle und Haltungen des Menschen. Er macht im gesamten Handlungsfeld nichts anderes, als innerlich auf sich selbst zu lasten; er benutzt die Dinge und Personen als Werkzeuge, um sich selbst zu behaupten und die eigene Herrschaft zu stabilisieren, indem er die anderen nicht als gleich und mitverantwortlich bei der gemeinsamen Aufgabe respektiert, sondern sie sich zugunsten des eigenen Interesses und des eigenen Machtwillens auf allen Ebenen entfremdet. In diesem Sinne als Selbstbehauptungswillen, als unbeherrschbare Neigung, sich selbst als Mittelpunkt aller Dinge und als Bezugspunkt jeder Sache einzusetzen, aufgefaßt, ist die Begierde ein- grundlegender ~usdruck, der den Menschen insgesamt als in sich selbst verkrümmt, incurvatus, und in allen seinen Äußerungen als auf sich selbst hin konvergierend, in se conversus, erfaßt1\ der aus sich selbst das letztendliche Objekt jeder beliebigen Anstrengung und Lage macht. Er ist genau das wahre Götzenbild, dem alle Elemente der Existenz geweiht und geopfert werden und das den Sinn bildet, "um dessentwillen er--alles tut, leidet, denkt, redet. Das allein sieht er für gut an, was ihm dienlich ist, und das allein als böse, was ihm Unheil bringt." "Dies ist die Klugheit, die das Fleisch regiert, d. h. die Begierde und den Eigenwillen." Der Mensch hat bei allen seinen Unternehmungen dieselbe Neigung wie sie: "si~,ß.el1i~ßt' sich selbst und ,gebraucht' alles andere, sogar Gott selb§t.Sie sucht sich selbst und das Ihre in allen Dingen." Diese Konvergenz aller auf sich seIQ$t, diese curvitas, wird in der Schrift ,;Uii.ferd~hi Namen Hurereiund -Äbgötterei "angezeigt12 • Die Ausdrücke Luthers sind in. d.Ieser HInsicht von einer beeindruckenden Hellsichtigkeit. "Wir erfahren alle, daß die WA 40/1, 347. 10 WA 57,77. 11 WA 40/1, 282. J. Ficker (Hg.), Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515-1516 II, Leipzig 1930', 189 (MAE 2, 264). 9
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Begierde völlig unbesiegbar ist. "13 "Denn der Mensch kann nur nach dem trachten, was sein ist; er kann nur sich selbst über alle Dinge lieben. Das ist die Summe aller seiner Fehler. "14 Die große Kraft, die das Leben beseelt und regiert, ist mit anderen Wortenc1ie Selbstliebe, amor sui. Der Mensch liebt sich selbst über alle Dinge, sucht sich in allen Dingen und liebt alle Dinge um seinetwillen, "auch wenn er den Nächsten und den Freund liebt, weil er darinnen das Seine sucht"15. Diese Behauptungen gelten nicht nur im profanen Bereich. Im religiösen Bereich verschwindet diese Liebe, mit der er sich selbst sucht und dient, nicht; sie wird einfach ve.r(eÜterter ulldhe.uchleris<;h(!r, sie erscheint unter der Decke des Gottesdienstes und der Nächstenliebe. In Wirklichkeit bedient sich der Mensch des Nächsten und schließlich Gottes selbst, um sich selbst zu dienen, wobei er seine eigenen, geheimsten Neigungen befriedigt, um sich zu behaupten, um Erfolg zu haben und zu herrschen. Also si!!!digt~erM~nscli-nicht nur, wenn er die Sünde begeht, indem er moralisch schlechte und verwerfliche Werke tut, sondern vielleicht eher indem er das Gute tut und die Religion in allen ihren, auch d-en höchsten Formen übt. Denn alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde, sagt r::Utner, wobei er sich auf die paradoxe Behauptung des Apostels Paulus Röm 14,23 beziehF6. Der Mensch sündigt und fährt fort zu sündigen, auch in seinen besten Werken, die ethisch einwandfrei und religiös hoch erhaben sind, solange er an sich glaubt. Vielmehr wird unter moralischer und religiöser Gestalt - der Apostel Paulus sagt unter dem "Gesetz" - die Sünde "überaus sündig" (Röm 7,13). Auch ist die Religion nicht Glaube, weil in ihr der Mensch "Gott nur egoistisch lieben kann"17: Gottwird für ihnein Mittel, das er versucht als Werkzeug zu gebrauchen, um seine Ziele zu erreichen18 . Auf der Spur Luthers wird Melanchthon im Kommentar zum Artikel "Von der Erbsünde" in der "Apologia der Confession" sagen, die Begierde bedeutet, "auf unser Weisheit und Gerechtigkeit vertrauen, und dagegen Gottes vergessen und wenig, ja gar nichts 13 WA 1,35.374; WA 4, 207; J. Ficker, a.a.O., II, 117. Vgl. V. Vinay, L'uomo nel pensiero di Lutero, Rom 1949, 14. 14 J. Ficker, a.a.O., II, 75 (MAE 2, 109). 15 J. Ficker, a.a.O., II, 304 (MAE 2, 413). 16 WA 56, 512. 513 "Omnis, qui caret fide, dum bene facit, peccat. .. non tarn quia contra conscientiam agit, quam quia non ex fide operatur, ergo etiam peccat, sive manducat, sive non, quia semper manet ibi defectus fidei." In der Apologie IV. 35 u. 33 kommentiert Melanchthon denselben Vers mit folgenden Worten: "vere peccant homines etiam cum honesta opera faciunt sine spiritu sancto." Das Fleisch "certe peccat, etiamsi egregia facta et digna laude iuxta humanum iudicium habet". BSLK 166. Vgl. E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 19483 , 72; H. Fagerberg, Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften von 1529 bis 1537, Göttingen 1965, 146. 17 WA 1, 224ff. 18 H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, München 1951', 22.
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Die lutherische Lehre
achten", weil die Begierde Gott nicht lieben kann 19 . Luther illustriert diese These mit außergewöhnlichem, geistlichem Scharfsinn, wenn er bemerkt, "daß unsere Natur durch die Schuld der ersten Sünde so tief in sich selbst verkrümmt ist" (in seipsam incurva), "daß sie nicht nur die köstlichsten Gottesgaben an sich reißt und genießt (wie man an den Gesetzesmenschen [iustitiarii] und Heuchlern ersehen kann), ja auch Gott selbst ,gebraucht', um jene Gaben zu erlangen, sondern daß sie's sogar gar nicht merkt, daß sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt nach allem, ja sogar auch nach Gott nur um ihrer selbst willen trachtet"20. Das ernsteste Symptom dieses amor sui, seines radikalen Charakters, seiner Allgegenwart in allen menschlichen Äußerungen, ist die Pervertierung, die mit jener Liebe, die sich höchst heuchlerisch als Liebe zu Gott ausgibt, geschieht. Luther wird an diesem Punkt heftig. "Ihn aber um der Gaben und um des Vorteils willen lieben, das heißt, ihn mit der allerniedrigsten Liebe, d. h. mit sündlicher Begier lieben. Das heißt Gott ,gebrauchen' und nicht ,genießen'. "21 Diese Begierde erstreckt sich nicht nur von der Sphäre der irdischen Interessen bis zur Sphäre der Religion, sondern sie erreicht geradewegs die Sphäre der Transzendenz und der zukünftigen Dinge. Jene, "die sich heilig dünken und Gott mit der Liebe sündlicher Begier lieben, d. h. um ihres Heiles und um der ewigen Ruhe willen oder um der Hölle zu entgehen, d. h. nicht um Gottes, sondern um ihrer selbst willen "22, zeigen, daß sich nicht einmal von ferne wissen, was es bedeutet, Gott zu lieben. Sie wissen nicht, daß sie mit ihrer Haltung sowohl an das Wesen der Sünde rühren, als auch unter den geistlichen, religiösen und christlichen Hüllen die teuflisch beseelte Tat des ursprünglichen Geschöpfs wiederholen, die dem Antrieb, sich von ihrem Schöpfer zu befreien und sich selbst zur Norm des Lebens zu setzen, gefolgt ist. Trotz all ihrer Bekenntnisse des Christseins bemerken sie nicht, daß sie nicht dem zweiten Adam folgen, der die subtile, heimtückische und satanische Beeinflussung ablehnt, Gott zum Werkzeug für die eigenen Ziele, auch für die Ziele der eigenen Sendung, ihrer Wirksamkeit und ihres Erfolges zu gebrauchen. Sie unterliegen der Versuchung durch das Brot und den Tempel sowie der messianischen Versuchung (Mt 4,1-11). Auf wirtschaftlicher, religiöser und missionarischer Ebene erwecken sie den Eindruck, an Gott zu glauben, Gott zu lieben und Gott zu dienen: In Wirklic:hk~jt glauben .~iean sich selbst, lieben sie sich selbst und dienen sie sich selbst.
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21 22
BSLK, 152. J. Ficker, a.a.O., II, 136 (MAE 2, 187). J. Ficker, a.a.O., II, 139 (MAE 2, 190). J. Ficker, a.a.O., II, 217 (MAE 2, 301).
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"Metanoia" oder" transmutatio mentis"
5. "Metanoia" oder "transmutatio mentis" Wenn dies die Lage des Menschen nicht nur auf der Ebene der Sünde im geläufigen Wortsinn, sondern auch auf der Ebene der moralischen Korrektheit bis zur religiösen Ebene, ja sogar bis zur christlichen Ebene selbst ist, dann muß diese "Liebe der Begierde, die so tief eingesenkt ist", die auch die höchsten menschlichen, geistlichen und offenkundig altruistischen Äußerungen, die von der Liebe zu Gott und dem Nächsten beseelt sind, beschmutzt, "notwendigerweise ausgerottet werden", weil "nichts Verunreinigtes in das Reich Gottes hineingehen wird"". Luther beruft sich auf die Evangelien und auf jenen Begriff der metanoia, der in der Predigt Jesu eine Konstante darstellt, und übersetzt ihn in einem exegetischen Geniestreich, der für die Epoche einen explosiven Keim darstellt. Indem er den Begriff aus dem sakramentalen Kontext der mittelalterlichen Frömmigkeit und ihrer asketischen Zucht löst, verkündet er seit 1517 von der ersten der berühmten 95 Thesen an, daß Jesus, wenn er sagt: Tut Buße, will, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein solF. Aber gleich in den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute von 1518 läßt er das Latein der Vulgata hinter sich und geht auf das Griechische zurück. Er erklärt, daß der Begriff !-LEl'avoLa nicht nur mit post et mentem, sondern auch mit trans et mentem übersetzt werden" kann, das heißt, er bedeutet h!f!reine Sinnes~Ilg~r:!mg1 transmlltatio mentis. Luther fügt hinzu, daß das Verb-~E~av~Ei1;E, das denursprünglichen,vollmächtigen Aufruf Jesu ausdrückt, streng mit ändert euren Sinn, nepmt eine neue GesiIl,nung an, wiedergegeben werden kann, "was in dem allersfrengsten Sinne übersetzt werden kann mit ,transmentamini', das heißt, zieht einen anderen Geist und Sinn an"3. Luther drückt leidenschaftlich das Erstaunen und die Freude aus, die die Entdeckung für ihn mit sich gebracht hat und objektiv wegen ihres befreienden Wertes gegenüber der Zerknirschlmg und der seelischen Heuchelei mit sich bringt. Dazu nötigen die Beichtpflicht gegenüber dem Priester sowie die Werke der Wiedergutmachung und der Genugtuung, die als Bedingung für die Absolution vorgeschrieben sind wie Fasten, Beten, Almosen und verschiedene Kasteiungen. Sie können rein äußerlich sein und von den "hochmütigsten Heuchlern" geleistet werden. Das Kreuz,das Jesus fordert zuffagen, dis heißt, der Verzicht und der Tod für sich selbst, wozu alle berufen sind, die seinen Ruf, ihm als Jünger zu folgen, aufnehmen, haben nichts und können auch nichts mit der sakramentalen Buße der Beichte und der Genugtuung zu tun haben. Denn dabei ist die Funktion des Büßenden noch zu· "aktiv", um von dem Verdacht frei zu sein, der alte Mensch profitiere davon, so daß er weiterhin unter der religiösen Hülle existiert und so die forderung 1
WA 56, 391.
2
WA 1, 233.
3
WA 1, 530 (MA 1, 143).
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Die lutherische Lehre
nach wirklicher Abtötung des Fleisches, das heißt des Todes für sich selbst und des Endes seiner Herrschaft, umgeht, Die sakramentale Buße, die durch das veränderliche Urteil der Kirche festgesetzt und auferlegt wird, hängt vom priesterlichen Urteil, also von der Macht eines Menschen ab. Sie erweist sich in allen ihren Aspekten als. eine Erfindung der Heuchelei. Die metanoia, die Christus fordert, kann nicht äußerlich und nach einem gesetzlichen Muster priesterlich-sakramentalen Typs aufgebaut sein. Sie kann nicht durch die Vorschrift, daß ihr ganzer Wert hinfälIig ist, wenn die innere Demütigung fehlt, relativiert und ungewiß werden, sie ist vielmehr "innerlich: und kann sehr wohl außerhalb jedes Apparafeslindjeder sakramentalen Vermittlung geschehen. Sie ist auch nicht an besondere Bedingungen eines "religiösen" Lebens gebunden, das sich durch größere Verdienste und christliche Privilegien vom Leben normaler Menschen unterscheidet. Indem er sich auf die hierarchische Struktur der Gesellschaft seiner Zeit bezieht, bekräftigt Luther, daß sie offen ist "für Menschen aller Stände", die in "allen Lebensarten " vom König in seiner Herrlichkeit und den Fürsten in ihrer Würde, bis zum Priester in seiner Reinheit, zum Mönch in seinen Riten und zum Bettler in seiner Armut leben 4 • Die metanoia darf jedoch nicht im spiritualistischen Sinne mißverstanden werden, als ob die "Abtötung des Fleisches" nur die inneren Gefühle ohne wirksame Folgen für das konkrete Leben beträfe. Eine ausschließlich innere Verwandlung ohne eine ausdrückliche Verwandlung der äußeren Haltung und des äußeren Verhaltens ist "nichtig". Wenn es sich um die authentische, von Christus angekündigte metanoia handelt, dann handelt es sich um eine wirkliche und völlige Verwandlung, die eben den ganzen Menschen umfassen und sich vor den Menschen in entsprechenden Folgen äußern mußs. Was impliziert eine solche Verwandlung? Die Frage kann im Rückgriff auf die Lehre des Apostels Paulus präzisiert werden. Parallel zu metanoeite-transmentamini der Predigt Jesu nach den ersten Evangelien erinnert Luther an die apostolische Ermahnung in RÖ.!!lJ~,2 "ändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes", was nach GaI5,24 bedeutet, das Fleisch samt seinen Begie:rcl~!L,zllJ
"Metanoia" oder "transmutatio mentis"
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Dienstes und der Mission gelebt werden6 • Eine solche Verwandlung bei Menschen, die gewöhnt sind, auf sich selbst konzentriert zu leben, in se conversi, ist nur möglich, wenn diese Menschen aus sich selbst und obendrein auch "aus dem Gesetz und den Werken", das heißt aus der Religion und aus ihren gesetzlichen Erzeugern der Heuchelei und der Diskriminierung herausgezogen (nos abstrahere a nobis ipsis) und in Christus umgepflanzt worden sind, um im Angesicht Gottes zu leben7 • Die aber, "die Gott wahrhaftig lieben mit der Liebeeines Kindes und Freundes ... schicken siCh freiwillig in jeglichen Willen Gottes, auch in die Hölle und deIl ewigen Tod, weml es Gott so will, daß sein Wille völlig geschehe; so sehr suchen sie nichts von dem,was das Ihre ist"B. Wie kann sich ein solches Ereignis, das über alle bekannten und experimentellen Daten hinausgeht, bewahrheiten? Handelt es sich um eine Gerechtigkeit von Supergerechten und von Superheiligen, die eine außergewöhnliche Hingabe an die Sache Gottes erreichen konnten, so daß sie die humanistische, katholische und täuferische Gerechtigkeit übertreffen? Sollte sich die lutherische Gerechtigkeit wegen eines besonderen Privilegs der Authentizität und der evangelischen Fülle empfehlen? Dies wollte Luther sagen, als er zu Gal 1,8-9 die gefährliche Behauptung auszusprechen wagte, die als eine unerträgliche Selbstverherrlichung unmittelbar falsch verstanden wurde und nicht nur als "hochmütig, unüberlegt, sehr eitel, sondern auch als lästerlich und teuflisch" gebrandmarkt wurde? "Denn dabei kann ich vertrauensvoll sagen: Es seien meinetwegen die Kirche, Augustin und andere Lehrer, auch Petrus, Apollos, ja sogar der Engel vom Himmel, die anders lehren, so ist dennoch meine Lehre so, daß sie Gott allein lauter predigt und verehrt und jeden Menschen in seiner Weisheit und Gerechtigkeit verurteilt. Hierin kann ich nicht sündigen. "9 Was steht hinter dieser halsstarrigen und unbeugsamen Festigkeit? Luther fügte sogleich hinzu: "Denn man darf weder dem Papst, noch den Vätern, noch Luther usw. glauben, wenn sie nicht das lautere Wort Gottes lehren sollten. "10 Seine Botschaft beugt sich nicht vor der Illusion und der Eitelkeit, einen neuen Typ von Gerechtigkeit eigener Produktion vorzuschlagen und ihn in einer Art Wettbewerb wegen seiner überlegenen Wirksamkeit zu empfehlen und sich dessen zu rühmen. Im Gefolge seiner exegetischen Entdeckung ist sich der Dozent auf dem Lehrstuhl der Lectura in Bibliam an der Universität Wittenberg mit unmißverständlicher Klarheit bewußt, wenn man sich versuchen ließe, irgendeinen Bereich der menschlichen Gerechtigkeit alter oder neuer Prägung positiv, optimistisch bewertend zu betrachten, sei es bei der WA 1,530.531.532. WA 56, 391 (MAE 2,301). 10 WA 40/1,133. 6
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WA 40/1, 272. 284. WA 40/1,131. 132. 133.
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persönlichen und sozialen Ethik, sei es bei der theologischen und konfessionellen Gerechtigkeit, bleibt man verhängnisvollerweise im Umkreis des "Gesetzes" mit unerschöpflichen Überlebensmöglichkeiten für den alten Menschen und seine Anmaßung pharisäischer Würde. Jede Hypothese einer menschlichen Gerechtigkeit muß verworfen werden. "Die Summe dieses Briefes ist" - glossiert Luther zu Beginn seiner Vorlesung 'uber Qefi"Römefötiefvon 1515-1516 -: "zu zerstören, auszurotten und zu vernicht~r.l;:tlle Weisheit und GerechtigReit"aes F1eisclies Triiag sie"in den Aüg~n der Menschen, auch bei unsselbst,nodi!;o grüß"seln), wie sehr sie auch von Herzen und aufrichtigen Sinnes geübt werden mag, ... Denn Gottwill'uns nichtdurch unsere eigene, soridern durch fremde Gerechtigkeit und Weisheit selig machen, durch eine Gerechtigkeit, dieilicht aus uns 'kommt und aus uris erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt; die auch nicht unserer Erde entspringt, sondern vom Himmel kommt. "11
6. "Nos extra nos" Mit dem Terminus Gerechtigkeit und ihrer Auffassung als aliena, extranea und extra nos habitans will Luther den gesamten Inhalt des Evangeliums bezeichnen. Es ist "der Schatz im Acker und die kostbare Perle", deren Erwerb die Mühe lohnt, alles zu verkaufen, was man besitztl. Aber was 1st der Inhalt des Evangeliums, wenn nicht Christus selbst? Wiederholt wird in den Texten der Terminus "Gerechtigkeit" mit einem christologischen Summarium ausgeglichen, in dem die Hauptatsachen des Heilswerkes Christi aufgezählt werden, besonders die Funktion des auferstandenen und lebend~gen Christus, der unser Vertreter bei Gott und unser verborgenes Leben in Gott allen entgegengesetzten Erscheinungen zum Trotz ist (KoI3,1-4)2. Daß die Rechtfertigungsbotschaft mit der Geschichte Jesu, des Christus, sogar mit der Person und seiner Gegenwart selbst oder mit dem typischen Ausdruck, den Luther aus dem Neuen Testament übernimmt, "der Glaube Christi"J, identifiziert wird, erklärt Luthers hartnäckiges Beharren auf seinem "Artikel", der in dieser Perspektive jede Einseitigkeit und Parteilichkeit verliert. Dies muß man sich ständig vergegenwärtigen, um unbegründete Mißverständnisse zu vermeiden. Der ganze Reichtum der neutestamentlichen Formel "in Christus" fließt in den Erläuterungen Luthers. Wenn die Grundlage, die Substanz, die WA 56, 157, 158 (MAE 2, 9, 10). H. J. 1wand, a.a.O., 55. 2 WA 40/1, 47, 15. 21; WA 56, 393. 3 WA 57,69: ,,1ustitia est fides Jhesu Christi." G. Gloege, Die Rechtfertigungslehre als hermeneutische Kategorie, ThLZ 89 (1964), 167ff, 169ff. 11
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"Nos extra nos"
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Ausrichtung des menschlichen Lebens, seine "Gerechtigkeit" nicht mehr in se, in nobis, sondern von nun an extra nos in der Person des lebendigen Christus sind, dann heißt das: zwischen Christus und dem Menschen ist ein Tausch erfolgt und Christus hat die Stelle des Menschen eingenommell. Der Mensch verläßt sich selbst, qui credit InThristum,evacuatur a "se ipso\ der Mensch wird ein Wesen totus extra se positus in DeoS, seinen Platz nimmt Christus ein, der in ihm, das heißt in seinem Glauben, gegenwärtig ist, in ipsa tide Christus adest ... praesens est!'. Es ist nicht mehr er, der lebt und wirkt, sondern Christus, der in ihm lebt und wirkt und ihn mit seinem Geist regiert7 • Es ist ungenau, wenn man sagt, daß der Gläubige, der aufgehört hat, an sich selbst zu glauben, und begonnen hat, an Christus zu glauben, ein neuer Mensch wird: "Christus selbst ist die persona des ,neuen Menschen"'8 im strengsten Sinn der apostolischen Formel: "Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott her zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung geworden ist, damit gilt wie geschrieben steht (Jer 9,22.23): "Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!" (1. Kor 1,30-31). So kann der Mensch, der die Tragweite dieser apostolischen Behauptung verstanden hat, sagen: "Es ist meine Sache, die Christus gelebt, getan, gesagt, gelitten hat, wofür er gestorben ist, gerade als ob ich sie gelebt, getan, gesagt, gelitten hätte und dafür gestorben wäre. "9 Diese ganze Dialektik wird besonders im Kommentar zum Galaterbrief entfaltet, und zwar ganz besonders in jenen Teilen des Galaterbriefes, deren Ausdrücke sich in Begriffsmuster einzufügen scheinen, die man nicht als juristisch, sondern als "mystisch" kennzeichnen müßte, will man eine geläufige Formergehraücheh,die'"iiiicnristlicnen:"Spi"acngebrauch jedoch unangebracht ist. Der Apostel sagt: "Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Solange ich aber in diesem Leib lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat." (Gal 2,20) Der Ausdruck muß in dem Sinne verstanden werden, wenn der Glaube an Christus und an seine Gerechtigkeit auf den Plan tritt, beginnt der, der geglaubt hat, paradoxerweise zu handeln, das heißt, sich selbst zu verleugnen und vor der eigenen Person abzudanWA 2, 564. 5 WA 1,104.139. 6 WA ~O/I, 229. WA 2, 564: "Igitur qui credit in Christum evacuatur a se ipso, fit otiosus ab operibus suis, ut vivat et operetur in eo Christus. Qui lege quaerit iustificari, evacuatur a Christo, fit otiosus ab operibus dei, ut vivat et operetur in seipso, hoc est pereat et perdatur." WA 2, 502: "Turn vivit iustus non ipse, sed Christus in eo, quia per fidem Christus inhabitat et influit gratiam, per quam fit, ut homo non suo sed Christi spiritu regatur. Nam dum nostro agimur spiritu, concupiscentias sequimur, non crucifigimus." 8 E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in Peregrinatio II, München 1965, 16. 9 WA 2,145, Sermo de duplici iustitia, von 1519. 4
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9 Subilia, Rechtfertigung
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ken. "Also, wenn man über die christliche Gerechtigkeit diskutieren muß, muß man die Person völlig aufgeben. Denn, wenn ich an der Person hänge oder von ihr rede, wifd aus der Person, ob ich will oder nicht, ein Täter (operarius), der dem Gesetz unterworfen ist. "10 Gewiß lebe ich als Mensch und lebe weiter, jedoch nicht in mir oder für mich selbst: Christus ist eng mit mir verbunden, weshalb das Leben, das ich führe, als ein Leben, das Christus in mir selbst lebt, bezeichnet werden kannl l . Zwischen Christus und dem Menschen entsteht eine innige Gemeinschaft und es findet ein wirklicher Tausch statt, den Luther mit einer Vielzahl ähnlicher Wörter ausqrückt, die weder immer theologisch geeignet, noch mit der genügenden, kritischen Wachsamkeit verwendet werden (inhaerentia, conglutinatio usw.). Der Mensch wird sich selbst, seiner "Haut" sagt Luther bildhaft, entrissen und in Christus versetzt ullg verpflanzt12 , um sozusagen eine einzige Person mit ihm zu bilden. So kann der Mensch sagen: "Ich bin wie Christus", und umgekehrt kann Christus sagen: "Ich bin wie jener Sünder. "13 Das konkrete und reale Leben des Gläubigen ist kein konkretes und reales Lebenutidaarf deshalb nicht als ein solches betrachtet werden. Es ist nur ein Schein von Leben, larva vitae, "unter der ein anderer lebt, nämlich Christus, der in Wahrheit mein Leben ist, das du nicht siehst, sondern nur hörst, wie ,du den Wind blasen hörst, aber nicht weißt, woher er kommt oder wohin er geht', Joh 3. So siehst du mich freilich reden, essen, wirken, schlafen usw. und dennoch siehst du mein Leben nicht. Denn diese Lebenszeit, die ich lebe, lebe ich zwar im Fleisch, aber nicht aus dem Fleisch und nach dem Fleisch, sondern im Glauben, aus dem Glauben und nach dem Glauben. "14 Der Gläubige bedient sich der Welt und aller geschaffener Dinge und man kann keinen Unterschied zwischen ihm und dem Ungläubigen registrieren, was die Nahrung, die Kleidung, die Art des Zuhörens, des Sehens, des Redens, der Gebärden und der Gewohnheiten betrifft. Und dennoch ist der Unterschied total. Das Leben, das er führt, ist eine vita aliena, die aus einer ganz anderen Quelle stammt15 • Der Gläubige ist also kein einfaches und einheitliches, sondern ein komplexes und geteiltes Wesen, in dem sich eine Zweiheit des Lebens bewegt, duplex vita, ein natürliches und ein anderes Leben, das nicht sein eigenes, sondern das Leben Christi in ihm ist16 • Die Exegese, die Luther zu Röm 7,7-25 auf der Spur des Augustinus der antipelagianischen Kämpfe vorschlägt, isfeinberedtes -Zeichen für sein Verständnis des Menschen im Lichte des Evangeliums und der WA 40/1, 282. WA 40/1, 283: "Christus ergo ... sie inhaerens et conglutinatus mihi et manens in me hanc vitam ago, vivit in me, imo vita qua sic vivo, est Christus ipse." 12 WA 40/1, 284. 13 WA 40/1, 285. 14 WA 40/1, 288. 15 WA 40/1, 289ff. 16 WA 40/1, 287. 10 11
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Schlüssel zur Interpretation seiner Rechtfertigungslehre: Er schreibt den Streit. zwischen dem fleischlichen und geistlichen Menschen nicht ?em JUOeIfPiluTüs iinfei-deiHerischä.ffQe~ Gesetz~siu,:sonderridem Christen Pimhis unter der Herrschaft der Gnade und des Glaubens, wie es durch den paulinischen Kontext belegt wir4: Phil3,4-6 und GaI5,16-18, so daß dasTeben des Gläubigen als eine gleichzeitige Existenz des Fleisches und des Geistes in konstanter ,_~.ech~els~rfig~r:"§F~o:~ü.p.iJ~§!~~jvi~~~~',~;~0l!~ ein und derselbe Mensch zugleich Geist und Fleisch. "17 Die Exegese tIl "Augustins Spätzeit, die durch die Lektüre des Kommentars des unbekannten Schriftstellers, des Zeitgenossen des Papstes Damasus, der gewöhnlich mit dem Namen Ambrosiaster bezeichnet wird, beeinflußt ist'8 , folgt trotz allem einem Begriffsmuster, das immer noch dem hellenistischen, anthropologischen Dualismus verpflichtet ist, nach dem der Geist die Frömmigkeit und Geistigkeit, das Fleisch die Körperlichkeit des Menschen bezeichnet'9 • Luther, der, wie wir beini Begriff Fleisch gesehen haben, der Struktur des biblischen Denkens folgt, faßt den Gegensatz nicht anthropologisch, sondern theologisch auf: Fleisch soll alles bezeichnen, was vom Menschen kommt und dem Menschengemaß ist, Geist dagegen-alles, was von Gott kOlIllllt und Gott gemäß ist. Die Zweiheit ist also die spezifische Charakteristik des christlichen Lebens in der gegenwärtigen Weltzeit: Diese ~weiheit darf nicht in einem anthropologisch-psychologischen Sinn F'" entstellt werden als eine Disharmonie zwischen Wollen und Tun, zwi- \'., ·schen Geistlichem und Sinnlichem:· oder etwas' Ähnlicnem,s6Uaern sie ' wird in dem Sinne in ihrer eschatologischen Dimension festgehalten, daß der Gläubige, was seine geschichtliche Person betrifft, der gegenwärtigen Welt, dagegen, was seinen Glauben an Christus betrifft, der kommenden Zeit angehört20 • In der Tat besteht das größte Paradox dieser Zweiheit des Lebens darin, daß der Gläubige gemäß seinem eigenen Leben einem Prozeß eines wachsenden Todeskampfes unterworfen ist; er ist sogar schon tot: Er lebt aus einem anderen, nicht einem eigenen Leben, und er WA 56, 350 (MAE 2, 250). ,. Die Bezeichnung geht auf Erasmus zurück: A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, Gütersloh 1965, 269; vgl. MPL 17; E. Buonaiuti, S. Agostino, Rom 1923, 47; ders., Pelagio e l'Ambrosiastro, Ricerche religiose 4 (1928), 1ff; A. Pincherle, Sant' Agostino d'Ippona, B~ri 1930, 121; H. J. Vogels (Hg.), Das Corpus Paulinum des Ambrosiaster, Boun 1957; H. Hommel, Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Licht antiker Überlieferung, ThViat 8 (1962), 17
~~ :19
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A. Augustinus, Contra duas epistolas Pelagianorum X,. 17, MPL 46, 559; ders.,
Rectractationes I, 23, MPL 32, 620. 20 Vgl. die erhellende Exegese von A. Nygren, Der Römerbrief, Göttingen 1954, 32ff, 208ff, die reich an interessanten Perspektiven zur geschichtlichen Folge der Interpretationen ist. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 212; W. Grundmann, Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, Weimar 1964, 33; H. Hübner, Rechtfertj.gung und Heiligung in der Römerbriefvorlesung M. Luthers, Witten 1965; E. Käsemann, An die Römer, Tübingen 1973, 182ff.
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Die lutherische Lehre
ist um so lebendiger, je stärker in ihm dieses Leben gegenwärtig ist, das nicht seines isel • Diese Zweiheit erzeugt in ihm keine entmenschlichende Entfremdung, sondern läßt ihn im Gegenteil die Fülle seiner Menschlichkeit, die gegen Gott und die Menschen offen und nicht mehr auf seine eigene egoistische "Besonderheit" gekrümmt ist, völlig entfalten22 • In der Zufälligkeit des Alltags spiegelt sich die tiefe Wirklichkeit, mit der ihn der Glaube verbunden hat: das wirkliche, das wahre Leben des Gläubigen, das Leben, das schließlich vor dem Urteil Gottes zählen wird und das sich im Licht des jüngsten Tages offenbaren wird, ist das Leben, das Christus für ihn zur Rechten Gottes lebt und das der Gläubige in ihm durch den Glauben lebt. Der Tod und die Auferstehung Christi wiederholen sich im Menschen, der an ihn geglaubt hat, in der Dialektik des Todes des alten und des Lebens des neuen Menschen, der im Zeichen des solus Christus lebt. Auf solche Begründungen gestützt, kann Luther in ein Bekenntnis der Gewißheit und Dankbarkeit ausbrechen: "Und dies ist der Grund, warum unsere Theologie gewiß ist: Denn sie reißt uns von uns weg und setzt uns außerhalb unser, damit wir uns nicht auf unsere Kräfte, unser Gewissen, unser Gefühl, unsere Person, unsere Werke verlassen, sondern uns auf das verlassen, was außerhalb unser ist, das ist, auf die Verheißung und Wahrheit Gottes, die nicht täuschen kann. "23 Was die fonnalen Strukturen betrifft, in denen sich diese Gewißheit ausdrückt, ist es vielleicht nützlich, gewisse Fragen zu stellen, die uns zu anderen Schlüsselpunkten der wesentlichen Strukturen des lutherischen Denkens leiten können. Luther ist sich seiner paradoxen Sprache bewußt und schreibt die Vaterschaft dafür der apostolischen Sprache des Paulus und des Johannes zu2\ Handelt es sich um eine mystische Sprache, die Paulus und Johannes aus der hellenistischen und Luther aus der mittelalterlichen Mystik übernommen hätten? Was die apostolische Botschaft betrifft, muß man energisch unterstreichen: trotz gewisser, scheinbarer Verwandtschaft, die in der Vergangenheit selbst Wissenschaftler von hohem Rang hat zu einem Irrtum verleiten können, er:~auben ihre struktur~Uen Verbindungen mit der geschichtlichen Person Jesu, und der eschatol~gischen Erwanungnicht, sie der hellenistisc,hen Mystik anzugleichen, ~e_~ueiner. yölligverschiedenen GedaIlk,el1welt gehört Darf man dann eine Verwandtschaft oder Herleitung zwischen dem Denken Luthers und der deutschen Mystik eines Tauler oder eines Gerson vermuten25 ? Hat WA 4011, 287ff. 22 WA 4011, 281. WA 40/1,589. 24 WA 4011, 285. 25 Es gibt dazu verschiedene Untersuchungen, die wir nur zum Teil heranziehen konnten: A. V. Müller, Luther und Tauler auf ihren theologischen Zusammenhang neu untersucht, 21 23
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insbesondere der typische Ausdruck nos extra nos Anhaltspunkte in der Sprache der Mystik oder genauer im Neuplatonismus des Meisters Eckehare 6? ~uch wenn zuzugebell ist,daß sich Luther in gewissem Maße der Sprache der Mysti~l<:. ):>~Qienth.at._um sein neues Verständnis der Gottesgerechtigkeit zu erläutern, wofür eine literarische Abhängigkeit nicht immer sicher und ohne Vorbehalte nachweisbar ist27 , muß man trotz seinesc.1.9b~~fiiTT~uler28_ sagen, daßer.!\.l1sdrÜcke mit mystischem. . l<:hing inanem von jeder mystischen Voraussetzung entschieden abweichenden $iiiIlbermtzt.Nichtumsonsterklärt er ganz deutlich, daß die mystische Theologie eher in platonische als in christliche RichtungJ~hrt itndfolglich nlChflehrt, Christus zuerkennen, sOIld.erndaß sie Gefahr läuft, ihn zu verlieren, selBst wenn man ihn kenne: Sie ,ist eine Theologie der Herrlichkeit, die nichts vomgekreuzigten Ghristus weiß30. Die Theologie Luthers ist eine Theologie des Kreuzes: Jetzt "müßte die theologia erucis, sollte sie wirklich ein Kind der Mystik sein, sich in unversöhnlichem Gegensatz zu Luthers Glaubenstheologie befinden"31. Sein Verständnis des Begriffes Fleisch, - das heißt, daß der Dualismus Geist-Materie sowie jede Verwechslung zwischen Mensch und Gottheit im Sinne einer Absorption oder einer Sublimation des Menschlichen im Göttlichen fehlen, - und die Bern 1918; O. Scheel, Taulers Mystik und Luthers reformatorische Entdeckung, in Festgabe für A. Kaftan, Tübingen 1920, 298ff; R. Seeberg, Die religiösen Grundgedanken des jungen Luther und ihr Verhältnis zu dem Ockamismus und der deutschen Mystik, Berlin 1931; W. Dress, Gerson und Luther, ZKG 52 (1933), 122ff; H. Quiring, Luther und die Mystik, ZsystTh 13 (1936), 150ff, 177ff; J. von Walter, Mystik und Rechtfertigung beim jungen Luther, Gütersloh 1937; E. Vogelsang, Luther und die Mystik, LuJ 19 (1937), 32ff; ders., Die unio mystica bei Luther ARG 35 (1948), 63ff; W. von Loewenich, Luthers Theologia crucis, München 1954" 197ff; W. Eiert, Morphologie des Luthertums I, München 1958, 146; E. Iserloh, Luther und die Mystik, in I. Asheim (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, 60ff; B. Hägglund, Luther und die Mystik in a.a.O., 84ff; E. Seeberg, Luthers Theologie I, Darmstadt 1967, 107ff; G. Wrede, Unio mystica Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler, Uppsala 1974; G. H. Williams, German Mysticism in the Polarisation of ethical behaviour in Luther and the Anabaptists, in The Mennonite Quarterly Review 48 (1974), 275ff; B. R. Hoffmann, Luther and the Mystics, Minneapolis 1976. . 26 R. Schwarz, Meister Eckharts Meinung vom gerechten Menschen in Geist und Geschichte der Reformation, Festgabe H. Rückert zum 65. Gtlburtstag, Berlin 1966, 15ff. 27 K. H. zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972, 96ff. 28 WA 1,557. 29. 31; WABR 1, 79, 61. 63 (Brief von 1516); E. Vogelsang, Luther und die Mystik 41; K. H. zur Mühlen, a.a.O., 114. 29 WA 6, 562. Vgl. W. Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 19552 , 315ff. 30 J. von Walter, a.a.O., 16. 31 W. von Loewenich, a.a.O., 201. Vgl. zur Frage die Gesichtspunkte bei H. A. Oberman, Simul genitus et raptus: Luther und die Mystik; E. Iserloh, Luther und die Mystik, B. Hägglund, Luther und die Mystik, in I. Asheim (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, 20ff, 60ff, 84ff.
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Die lutherische Lehre
Mittelpunktstellung Christi als einzige Offenbarung Gottes durch das Wort verbieten jede allzu übertriebene Anpassung. Man darf dabei nicht die prädestinatianische. Voraussetzung vergessen, die für ein genaues Verständnis der Rechtfertigungslehre unentbehrlich ist. Deshalb kann man einfach folgern: "Für Luther ist das extra nos die Grundformel einer theologischen Grammatik - im Sinne des recte dicendi - bzw. der Sprache des Glaubens. In ihr verantwortet die Theologie die Freiheit und Notwendigkeit der Gnade"32, ihres völlig unabhängigen Charakters, dem alle Mahnungen und alles Eingreifen des Menschen fremd sind. Luther hält mit unversöhnlicher Härte diesen radikalen Charakter des extra nos der Tat, der Wirklichkeit und der Gegenwart des lebendigen Gottes gegen alle Versuche fest. ihn in ein Element zu verwandeln, das entweder ganz oder teilweise vom Menschen herstammen oder ihm. zur Verfügung gestellt werden kann und über das er für seine vernullfiigen Schlußfolgerungen, für seine institutionellen Regelungen und seine inneren Erfahrungen verfügen kann. Auch hier unterscheidet sich seine Stellung von den täuschenden Ansprüchen des humanistisch-erasmianischen freien Willens, von den immer wieder auftauchenden Anpassungen des katholischen Synergismus, von den Träumen der angeblich Erleuchteten, der "himmlischen Propheten", die das "äußerliche", das geschriebene, gepredigte und sinntragende Wort verachten. Sie betrachten es als "Buchstaben, der tötet", und preisen die Unmittelbarkeit des inneren Wortes und des inneren Lichtes, die keiner materiellen Vermittlung bedürfen. Die Verwandtschaft mit der Frömmigkeit der Mystik, die wegen der Voraussetzungen, die sie mit dem Hellenismus verbinden, die Vermittlung der Inkarnation nicht kennt und zurückweist, liegt ganz offenkundig auf der Seite der vom Geist Erleuchteten, der Schwärmey33. Luthers Stellung ist schlicht antimystisch, auch wenn er gewisse klassische Ausdrücke der Mystik gebraucht, wie jenes nos extra nos. "Das Lutherische extra nos zielt dagegen nicht auf eine bloße Modifikation des Innen, sondern auf die Erfassung des Innen als Externität, als ein Sein extra se ... Luther interpretiert dieses mystische Versetztwerden des Menschen über sich bzw. außerhalb seiner selbst durch die Beziehung von Wort und Glaube, wobei Wort das gepredigte Wort ist. "34 Luther vertritt ganz klar die schöpferische und verwandelnde Funktion des Wortes für den Menschen, indem er jede umkehrbare Möglichkeit ausschließt, daß der Mensch solche Kräfte hätte oder gewönne, um über das Wort zu verfügen. Die Texte zeigen K. H. zur Mühlen, a.a.O., 274. WA 18, 37ff, Wider die himmlischen Propheten. Vgl. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modemen Welt, München - Berlin 1906; ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912; G. Miegge, Protestantesimo e spiritualismo, Turin 19652 • 34 K. H. zur Mühlen, a.a.O., 226. 200. 32 33
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"Simul peccator et iustus"
unter diesem Gesichtspunkt keine Zweideutigkeiten: Gott siegt "il1_seinem Worte, wenn er uns zu Menschen macht, die sind, sein Wort ist,namlichgerecht, wahr und weise. So wandelt er uns um in sein Wort, nicht aber sein Wort in uns"35. Es ist das evangelische Wort, die Verkündigung der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Weisheit Christi, das im Menschen tatsächlich etwas. schafft, was vorher in keinem Maße lri-ilini existierte, nach sich auf irgendeine Weise verwirklichen konnte: der nicht -mehr auf sich selbst, sondern der auf Gott gegründete Mensch. Es lohnt sich, an die Ausdrücke zu erinnern, in denen Luther die doppelte Wirkung der Tat des Wortes auf den Menschen im letzten Abschnitt seines Manifestes von 1520, Von der Freiheit eines Christenmenschen, verdichtet: "Aus dem allenn folget der beschluß, das eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb, sondern ynn Christo und seynem nehstenn, ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe: durch den glauben feret er uber sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe, und bleybt doch ymmer ynn gott und gottlicher liebe. "36 Dieses schöpferische Wirken des Wortes bringt für den Menschen keineswegs irgendeine vergöttlichende, mystische Verwandlung und keine täuschende Vorwegnahme der eschatologischen Erfüllung mit sich. Den überzeugendsten Beweis für den antimystischen Charakter der Theologie Luthers liefert der Realismus des simul, der jede Möglichkeit einer idealistischen Interpretation des Evangeliums der Gerechtigkeit Christi ausschließt.
so
7.
wie
"Simul peccator et iustus"
Um die Formel simul zu verstehen, die Luther zum erstenmal 1515-1516 in seinem Römerbriefkommentar gebraucht und noch weiter fast bis ans Ende seiner theologischen Laufbahn 1545 verwendet, muß man mit Augustin beginnen. Wie bei Röm 7 so ist auch bei der Formel simul der Unterschied zwischen Augustin und Luther trotz der formalen Verwandtschaft der Sprache wesentlich. Dies hat einige katholische Theologen unserer Zeit, die zu ökumenischen Zwecken nach Versöhnungsformeln auf die Jagd gehen, zu einem Irrtum verleitet. Zweifellos kann man bei Augustin dem Gedanken begegnen, daß der Mensch gleichzeitig, simul, gerecht und Sünder ist in dem Sinne, daß es in ihm ein Gemenge aus Gut und Böse, aus Geistlichem und Fleischlichem gibt. Dieser Teilund nicht Totalcharakter des Guten und des Geistlichen kann nur dann im Menschen überwunden werden, wenn er sich nach diesem körperlichen Leben von der sündigen Fleischlichkeit befreien und so die Vollkommen35 36
WA 56, 227 (MAE2, 97). WA 7, 38 Von der Freiheit eines Christenmenschen.
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Die lutherische Lehre
heit erlangen kann!. Augustin denkt die Gleichzeitigkeit des Geistes u~d des Fleisches im psychologischen Sinne auf der Linie des herrschenden Denkens als ethische Vervollkommnung. N_a<:ll ,Augustin ist der Mensch S~lli!er,.~~nlL~rclem Trieb.ger fleischlichen Begierde· nachgibt: Das Fleiscllund der Geist sind gleichzeitig in ihm gegenwärtigllIld"streiten wider einander, caro als concupiscentia und spiritus als die Möglichkeit, den consensus zur concupiscentia zu verweigern"2. Was will Luther mit seiner paradoxen Formel: semper peccator, semper penitens, semper iustus, und mit der anderen, analogen Formel simul peccator et iustus, ausdrücken 3 ? Warum ersetzt er Augustins proficere durch sein semper a novo incipere 4? Aus dem einfachen und entscheidenden Grund, w~il Ll.!!!.!er ~!lt...deraltel\1eI}Scl;1k:i::iJlli.~il:;b..nicl1tY.el"V9ll kommnen, der alte Mensch müsse sterben. Erasmus, der die Notwendigkeit, die Vervollkommnung des Lebens anzuspornen, verteidigte und fürchtete, die neuen Lehren würden die moralische Anstrengung des Menschen lähmen, antwortete Luther brutal, - gewiß alles andere als die Gefahr verkennend, daß seine Behauptung im Sinne einer Aufforderung zur Unsittlichkeit mißverstanden würde, - Gott verlange nicht die Korrektur des Lebens, weil diese Korrektur nur Heuchler erzeuge. Die einzige, evangelisch legitime und wirksame Korrektur ist jene, die sich bei den Erwählten als Werk des Heiligen Geistes verwirklicht5 • Der Mensch ist also nicht dazu berufen, auf der eigenen Linie des Lebens voranzuschreiten, sei es auch nur mit den notwendigen Korrekturen: Er ist Q(!r:uJ~n.J 1>!~llßt~ndigauf~!ne Wirldichkeit zu beziehen, die außerhaIfi-der eigenen Wirklichkeit liegt, um so dauernd denOeigenen-Ufsprun'g {nGott zliIiiiiieo,-von-·demalie··Gerechtigkeit stammt und der die Quelle des neuen Lebens der Gläubigen ist. Aber wenn diese Gerechtigkeit und dieses neue Leben wahrhaftig von Gott stammen, haben sie nicht die Kraft, sich im Leben des Menschen einzunisten und es zu bestimmen? Warum kann der Apostel Paulus beim christlichen Leben von einer Gleichzeitigkeit des Dienstes am Gesetz Gottes und des Dienstes am Gesetz der Sünde sprechen (Röm 7,25)? Warum kann Luther in der Folge, um seine Behauptungen zu erklären, sagen, daß Gott "uns zugleich für Sünder und Nichtsünder ansieht. Zugleich bleibt die Sünde und bleibt sie nicht. ... Zugleich wird ihre Sünde 1 A. Nygren, Simul iustus et peccator bei Augustin und Luther, ZsysTh 16 (1939), 364ff; vgl. F. Lau, Paulus, Augustin, Luther, Rechtfertigung nicht aus dem Werk, sondern aus dem Glauben, Berlin 1961. 2 W. Link, a.a.O., 256. 3 WA 56, 272. 422. Vgl. R. Hermann, Luthers These "Gerecht und Sünder zugleich", Gütersloh 19602 ; M. Byskov, Simul iustus et peccator, StTh 30 (1976), 75ff. 4 J. Ficker, a.a.O., II, 307; W. Link, a.a.O., 256. 5 WA 18, 632.
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abgetan und nicht abgetan"6? Wenn man die Antithesen auflösen wollte, indem man nur sagte, daß der Mensch Sünder ist, oder nur, daß der Mensch gerecht ist, würde man die Wahrheit des Evangeliums nicht in ihrer Vielfalt ausdrücken. Im ersten Fall würde der Glaube in skeptische Ungläubigkeit verwandelt, die die menschliche Lage in ihrem Realismus ohne Veränderungen sanktioniert; im zweiten Fall würde er sich in visionäre Mystik auflösen, die vor der konkreten Geschichte ausweicht. Im ersten Fall wäre das Ergebnis, daß man die Wirklichkeit, die Christus ein für allemal erfüllt, nicht kennt oder unterdrückt, im zweiten Fall wäre das Ergebnis, daß man die Wirklichkeit des Menschen, die niemals ideal ist und nicht idealisiert werden kann, vergißt oder verdeckt. Den Schlüssel zu diesem Widerspruch, nach dem der Mensch Fleisch und Geist, schuldig und unschuldig, Knecht und Freier, weltlich und heilig, Feind Gottes und Sohn Gottes, alter Mensch und neuer Mensch ist, muß man in der anderen Art, ihn zu betrachten, suchen. Es handelt sich um zwei verschiedene Perspektiven: Betrachtet man dik;t
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Die lutherische Lehre
ein selbstvergessenes Leben, das nach menschlichem Urteil verloren ist, das nicht mehr nach innen, sondern nach außen gerichtet und zu Gehorsam und Dienst verpflichtet istB• Man muß die beiden Perspektiven simul, gleichzeitig, berücksichtigen. Diese Gleichzeitigkeit muß solange dauern wie die gegenwärtige Lage9 • Es handelt sich um eine Lage, die Luther ausdrücklich als eine Lage des interim bezeichneFo. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das interim. Christi, die Lage, die in den Untersuchungen der neutestamentlichen Exegeten unserer Generation wirkungsvoll mit den Formeln schonund ~h nich1·wiederg~~~~~:tJ:rde, nämlich die spannungsvolle schen dem, was schon geschehen ist und sich in Christus erfüllt hat, und dem, was sich noch in der am Ende der Geschichte erwarteten Erfüllung offenbaren muß. Diese Lage bestimmt indirekt die Lage des Interim des menschlichen Lebens, die sich gerade als ein interim zwischen dem Ereignis des gekommenen und dem des kommenden Christus darstellt. Man hat richtig bemerkt, daß die Christologie die Grundlage und die tragende Struktur der Lutherischen Rechtfertigungslehre istl l , und daß die Formel simul peccator et iustus nur im Lichte ihres strengen christologischen Bezuges verständlich ist12 • "Beide Urteile, das Bekenntnis des Sünders eins wie das des Gerechtseins, sind vielmehr Implikate des rechten Christusbekenntnisses. "13 Sehr viele Untersuchungen der lutherischen Lehre auf höherem oder niedrigerem Niveau haben auf dem "forensischen" Ch~g15.ter, das heißt, auf dem formalen, äußerlichen, rein erklärenaen; äber nicht tatsächlichen Charakter der Rechtfertigung in der Absicht bestanden, daß der Mensch für gerecht erklärt wird, das heißt betrachtet wird, "als ob" er gerecht wäre, obwohl er schuldig ist. Wir halten diesen zweideutigen Ansatz, der der Hauptlinie des evangelischen Bewußtseins Lllj:lJ.~rs;-lIicl:!t entspricht und eher den Stempel Melanchthons als den Luthers trägt, unter äIfderem für schwerwiegende Mißverständnisse auch bei der interkonfessionellen Diskussion verantwortlich. Es handelt sich nicht um ein problematisches
Läge·zwi-
8 WA 56, 269. 271: "Ergo sibiipsis et in veritate iniusti sunt ... revera peccatores, sed reputatione miserentis Dei iusti ... Sic ergo in nobis sumus peccatores et tarnen reputante Deo iusti per fidem." 9 WA 8, 96: "Et hos duos conspectus non separabis in hac vita." WA 39/1,507: "Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis. " 10 WA 56, 272. 11 WA 11/1, 33: "Nam in corde meo iste unus regnat articulus, scilicet fides Christi." Vgl. H. J. Iwand, Vom Primat der Christologie, in Antwort, K. Barth zum 70. Geburtstag, Zollikon - Zürich 1956, 186. 12 K. o. Nilsson, Simul, Das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie, Göttingen 1966, 327; W. Kreck, Grundfragen der Dogmatik, München 1970, 141. 13 W. Kreck, a.a.O., 142.·
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"als ob", dem keine effektive Wirklichkeit weder in uns noch außerhalb unser entspricht: Es handelt sich um die Person Christi selbst, um das Ereignis, weswegen wir nicht mehr in uns selbst gegründet sind, sondern extra nos gestellt werden. Unsere effektive Wirklichkeit, die letzte Substanz unseres Lebens, unser wifkliChesLeben ist Chrlstus: ~iehat so einen definitiven Charakter daß sie die Zufälligkeiten des täglicnen-LeD~eiis Überwindet. Sie ist im vollen neutestamentlklienWortsimle eschitologisch,das heißt, sie bildet die letzte Erfüllung des Werkes Gottes, das nicht Schein ist und weder Widerruf noch Dementis erleidet. Es ist weder legitim, noch stimmt es mit den Texten überein, der Rechtfertigung eine Art Doketismus zu unterstellen. "Wenn also Luther sagt, daß der Mensch gerecht ist, weil Gott ihn als solchen ,ansieht', will er nicht sagen, daß jene göttliche Bewertung ganz willkürlich ist. Gott sieht die als gerecht an, die gerecht sein werden, die schon virtuell gerecht sind und für deren Gerechtigkeit er letzten Endes der Schöpfer und Garant ist. Das Wort Gottes wird nicht vergebens verkündigt. Wie er sagt, so geschieht's, ja sogar, so ist es schon. "14 Dieses von Gott im gekreuzigten und auferstandenen Christus gewirkte Ereignis, das den Menschen im Wort der Verkündigung und der Verheißung erreicht, und diese Wirklichkeit Christi im menschlichen Leben, in der Lage des interim zwischen der ersten und zweiten Ankunft Christi, können trotzdem nur geglaubt, aber nicht festgestellt werden. Damit nun das ganze Leben des Menschen mit unerschütterlicher Gewißheit auf das Ereignis und die Wirklichkeit Christi bezogen werden kann, darf man diese certitudo nicht der Gefahr aussetzen, sich in securitas zu ver-wruideln, damiTdasex~tianos~iliclifwleder einhIno.~bis wird und sieh die externa et dlierw lustiiian.ichf von neuem in eine propria et domestica iustitia verkehrt. Der Begriff und das Wort "Gerechtigkeit Christi" bezeichnen keine neue menschliche Qualität, die er mit Hilfe der Gnade erwerben und die sein Besitz werden könnte, auf den er sich verlassen kann: Sie bezeichnen eine neue Beziehung des Menschen zu Gott, eiie Gott inder Offenbarung von sich aus dem Menschen ~ln seinen Wort eröffnet15 • Sie beschreiben also keine neue Sicherheit, die der Mensch von sich aus erlangen könnte. 1:)ie~Sicherheit istlJrsache der Heuchelei und Mutter der Heuchler16 • Auf Grund dieser christlich verkleideferCsetDstsiclierhelt wurde die zerstörte Selbstliebe wieder aufgebaut und der Mensch wäre von neuem auf das Gesetz gegründet, das heißt auf etwas, was er zu sein oder zu bewirken vermag, sei es auch nur mit der Hilfe oder durch die Gnade Christi, statt auf Christus gegründet zu sein. h
G. Miegge, a.a.O., 168. W. Kreck, a.a.O., 293; R. Mau, Zur Frage der Begründung von Heilsgewißheit beim jungen Luther, ThLZ 92 (1967), 741ff. 16 J. Ficker, a.a.O., 11, 116. 14
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Auch wenn die Gerechtigkeit eine possessio nostra ist, weil sie uns geschenkt wurde, bleibt sie doch aliena a nobis17 und wird nichts, worüber wir verfügen könnten, nämlich ein habitus und eine qualitas der Seele und der menschlichen Innerlichkeit18 . Also kann man sagen, daß mit dieser These der hellenistisch-aristotelischen Verunreinigung der christlichen Ethik ein Ende gesetzt ist, nach der die Tugend eine moralische Übung ist, die - wenn man sich ihr unterzieht - den gerechten Charakter des Menschen erzeugtt9 • Der Wert des Menschen hängt nicht vom Menschen ab, auch nicht vom christlichen Menschen, der auf seiner Habenseite authentische, christliche Werte einkalkulieren kann, die er bei der Ausübung seines eigenen Christentums mühselig erworben hat, und auf deren Geltung, er nunmehr meint, sich berufen zu können. Der Wert des Menschen ist und bleibt außerhalb des Menschen; er ist und bleibt extra se, in einer res, in einer nicht wahrnehmbaren, unbeweisbaren, unverfügbaren Wirklichkeit, das heißt in Ihm, der, "obwohl man ihn überhaupt nicht sieht, dennoch gegenwärtig ist". DerSl::hllt~ d.~sMellschenisL.l.g~r gegenwärt!lte<::hJ:'i~J1IS" 2 0 . -
Es ist symptomatisch, daß die Notwendigkeit "zu zerstören, auszurotten und zu vernichten alle Weis1ü~iturid-Gefeditigkeit des Fleisches", wie echt und ehrbar sie in den Augen der Leute auch sein können, sogar auch jede christliche Weisheit und Gerechtigkeit, im Rahmen der paradoxen Sprache Luthers, im Gleichschritt mit der Notwendigkeit einhergeht, "einzupflanzen, aufzurichten und großzumachen die Sünde"21.Der Ausdruck liegt auf derselben Linie der wegen ihrer Doppeldeutigkeit berühmteren Ausdrücke in einem Brief Luthers, den er am 1. August 1521 an Melanchthon geschrieben hat, als er auf seiner Zufluchtsstätte Wartburg eingeschlossen war. Es lohnt sich vielleicht, den geplagten Abschnitt ausführlich zu zitieren: "Wenn du ein Prediger der Gnade bist, predige nicht die erdichtete, sondern die wahre Gnade! Wenn es die wahre Gnade ist, soll sie die wahre, nicht die erdichtete Sünde wegnehmen. Gott macht nicht in der Einbildung aus Sündern Erlöste. Sei eiI!_Siind~ruf1(L~ündig~ tapfer, aber sei tapferer im Glauben und der Freude in Christus, der Sieger lsCilber Sünde, Tod und Welt! Man muß sündigen, solange wir hier sind; dieses Leben ist nicht die Wohnung der Gerechtigkeit, aber wir erwarten, sagt Petrus, neue Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt. Es genügt, daß wir durch den Reichtum der Herrlichkeit das Lamm Gottes kennen, das der Welt Sünde trägt; von diesem reißt uns die Sünde nicht weg, auch wenn wir abertausendmal an einem Tag Unzucht treiben und töten. Meinst du, daß der Preis der Erlösung, der für unsere Sünden 17 18 19 21
WA 39/I, 109. H. J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, München 1951, 50. Ders., a.a.O., 50. 20 WA 40/I, 229. WA 56,157 (MAE 2,9).
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bezahlt wurde in einem derartig großen Lamm so gering ist? Bete tapfer, auch wenn du ein sehr tapferer Sünder bist! "22 Wer nicht an das Muster des lutherischen Denkens gewöhnt ist, der kann in der Tat den verwirrenden Eindruck gewinnen, daß hier die Grenzen eines sehr übertriebenen und sehr kühnen Paradoxes überschritten sind und daß eine unerhört ärgerliche Lehre in der Absicht verbreitet wird, um die zügelloseste Erlaubnis zum Sündigen zu autorisieren, die nur von einem abstrakten und trägen Glauben an die Gerechtigkeit Christi abhängt. Die römischen Polemiker (wie die große Mehrheit des Kirchenvolkes jeder beliebigen Konfession, dem ein Sinn für Humor fehlt) haben das nicht verstanden, konnten das nicht verstehen und haben ein verdrießliches Gesicht gemacht. Dabei sind ihnen einige Christen des apostolischen Jahrhunderts vorangegangen, die bei den Zuhörern in den Gemeinden viel Erfolg hatten und die aus der Predigt des Apostels Paulus über die unverdiente Gnade und den unverdienten Glauben den stumpfsinnigen Schluß zogen, wenn es nach den Lehren dieser Botschaft ginge, daß man von dem Augenblick an sündigen könnte, in dem man nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade steht, ja vielmehr noch, daß, nachdem die Gnade im Überfluß dort ist, wo die Sünde im Überfluß war, es notwendig wäre zu sündigen, um die Gnade gerade überschwenglich zu machen, und daß es nötig wäre, schlecht zu handeln, damit daraus das Gute entstünde (Röm 3,8; 6,1; 6,15). Luther hat gezeigt, daß er um die Möglichkeit solch grober Mißverständnisse wußte, als er mit nüchterner Bitterkeit bemerkte, wobei er sich auf die Lesart des 16. Jahr.hunderts der judenchristlichen Gegner des Apostels Paulus bezog, die die Authentizität seines Glaubens beargwöhnten: "Diese sind bösartig und überheblich, die gern die Schrift und die Aussagen des Heiligen Geistes verdrehen. "23 Die Gnade kann nicht auf der Stufe einer billigen Gnade verdorben werden, wie sie Bonhoeffer nannte, sonst löst sie sich wirklich in einen Freibrief für die Sünde und Unsittlichkeit, in die Beseitigung des Ernstes vor Gott, in den Widerruf der Notwendigkeit, Jesus nachzufolgen, auf und wird schließlich zu einem riesigen Selbstbetrug und zum Tod des Glaubens. Das bedeutet, den Satz Luthers in sein Gegenteil zu verkehren, der nichts anderes sagen will als dies: "Du bist ein Sünder, so sei nun auch ein Sünder, wolle nicht etwas anderes sein, als was du bist, ja werde täglich wieder ein Sünder und sei tapfer darin. Zu wem aber darf das gesagt sein als zu dem, der täglich von Herzen der Sünde absagt, der täglich allem absagt, was ihn an der Nachfolge Jesu hindert, und der doch ungetröstet ist über· seine tägliche Untreue und Sünde?"24 Luther meint, die Predigt der Gerechtigkeit und der Gnade Gottes müsse für den verschwenderisch 22 24
WABR 2,372. 23 WA 40/1,286. D. Bonhoeffer, Nachfolge, München 1976' \ 23, 24.
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Die lutherische Lehre
sein mit vertrauensvollen Zusicherungen, den die eigene Unfähigkeit quält, den Willen Gottes treu zu bachten, und der sich mit allen Kräften seines Wesens nach Gott sehnt. Aber er meint auch, daß sich diese Predigt mit aller Wachsamkeit vor der Gefahr hüten muß, ein Evangelium zu verkündigen, das die Menschen in ihrem Leben ohne Gott beruhigt und sie in ihrem Unglauben und in ihrer trägen, problemlosen Gleichgültigkeit bestärkt. Wem geht es so sehr darum, den lebendigen Gott mit einem unruhigen, geplagten und friedlosen Gewissen zu suchen, und wer ist fähig, die Sünde auch unter dem Schein des frömmsten Lebens, das heißt die Begierde, die Selbstliebe, unter den Formen, die ganz der Gottesliebe und der Nächstenliebe geweiht sind, zu erkennen? Luther lehrt auf der Linie seiner konstanten Paradoxe, "wie selten und beschwerlich es ist, ein Sünder zu werden". Und er erklärt sofort: "Deshalb ist der sehr selten, der sich als Sünder erkennt und glaubt." " ... allein aus Glauben müssen wir glauben, daß wir Sünder sind. "25 Das Sündenbewußtsein ist nicht die Voraussetzung, sondern die Folge des Glaubens. Nicht einmal im Negativen kann eine menschliche Leistung sich als Grundlage seines Lebens darstellen oder mitwirken, diese Grundlage zu festigen. Nur wenn Gott es uns offenbart, also im Lichte seiner Gnade, können wir unserer wirklichen Lage innewerden, wie wir nur im Licht die Finsternis sehen können. "Das . heilsame Handeln Gottes besteht vor allem im Verstärken des Sündenbewußtseins: die Sünde selbst, sagt Luther mit einem paradoxen Ausdruck. "26 Das Sündenbewußtsein muß das Rechtfertigungsbewußtsein ununterbrochen begleiten. Wo das Sündenbewußtsein abnimmt, hört die Rechtfertigung auf, wahr und wirklich zu sein, die Stelle der Gerechtigkeit Christi wird erneut vom Gesetz und seinem schicksalhaften Weggefährten, dem Pharisäismus, eingenommen. Eine täuschende oder heuchlerische Verklärung des Wirklichen ist evangelisch nicht legitim. In der säkularisierten Atmosphäre unserer Zeit bleiben diese Motive schwer verständlich, herrschen doch kollektivistische und marxistische Denkmuster vor, die durch von Rousseau stammende Thesen bedingt . sind, nach denen die Wurzel des Bösen nicht im Herzen des Menschen und in der Krise seiner Beziehung zu Gott, sondern in der schlechten Gesellschaftsordnung liegt. Auch hängen sie vom idealistischen Mythos der Geschichte als eines ununterbrochenen Fortschrittes zum 1?~sseren und von der positivistischen Überzeugung ab, daß es möglich ist, die Wirklichkeit einer rationalen Disziplin zu unterwerfen. Unbedachte Menschen können sie den Voraussetzungen zuschreiben, die einer Theologie eigen sind, die durch den Klassenstandpunkt eines Bürgertums beeinflußt ist, das immer noch die Innerlichkeit und den Individuailsmus privilegieren will, um die soziale Trägheit zu sanktionieren und den Zustand zu 25
J. Ficker, a.a.O., II, 71.69.67.174.
26
G. Miegge, a.a.O., 163.
"Simul peccator et iustus"
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erhalten, anstatt ihn zu zerstören. Aber das semper peccator - semper iustus bildet kein statisches Nebeneinander, bei dem sich die beiden Aussagen auf eine bestimmte Weise nivellieren und gegenseitig für ungültig . erklären sowie sich als Grenzbestimmung zweier verschiedener Lebensbereiche darstellen würden, des religiösen und des weltlichen Lebens, wie eine verzerrte Auffassung der lutherischen Zwei-ReicheLehre vermutef7 • Sie kann diesen statischen Eindruck nur in geschichtlichen Umständen gegeben haben und immer noch geben, die die Entartung der Botschaft im Gefolge der Ablösung von ihren evangelischen Wurzeln und von der komplexen geschichtlichen und soziologischen Erscheinungen, die darauf beruhen, bilden . ..Ba}"th bemerkt dazu: "Gottes Gerechtigkeit (und also Gottes Gnade!) wäre nIcht Gottes Gerechtigkeit (und also nicht Gottes Gnade), wenn die durch sie vollzogene Scheidung des Menschen zur Linken und zur Rechten ... den Sinn eines zuständlichen Dualismus hätte, will sagen: wenn ihr Ergebnis betrachtbar wäre als das statische Nebeneinander zweier Menschen, ... Was hatte jene Scheidung mit Gerechtigkeit und was hatte sie mit Gnade zu tun, wenn ihr Ergebnis diese Doppelexistenz des Menschen wäre? ... Kann nun dieser zuständliche Dualismus, dieses statische Auseinander und Nebeneinander von zwei verschiedenen Menschen nur ein Produkt des Mißverständnisses und der Karikatur" sein28 ? Deshalb könnte man meinen, daß es einerseits eine "empirische(n) Wirklichkeit", andererseits eine "ideale(n) Wahrheit" einer Existenz gäbe. Aber dies ist das "Grundschema aller natürlichen Erlösungsreligion und Lebensphilosophie ... Nureben: mit Gottes Gerechtigkeit und Gnade, mit dem, was der Mensch zur Linken und zur Rechten vor ihm ist,}nits~iner Rechtfertigung durch ihn hat dieses Schema ... nichts zu tun .... Des Menschen Rechtfertigungdurch Gott gehört ja weder der empirischen noch einer idealen Welt , an": sie ist "jenseits dieses Gegensatzes "29. ZWIschen dem semper peccator und dem semper iustus gibt es in der Tat die Spannung des semper penitens. Die metanoia der evangelischen Texte ist "die Mitte zwischen der Ungerechtigkeit und der Gerechtigkeit, und so ist er in der Sünde, sofern man auf den Ausgangspunkt und in der Gerechtigkeit, sofern man auf den Zielpunkt sieht"30. Anstatt sich in einem Zustand des statischen Immobilismus zu befinden, der eine Lage idealisiert, weiht und segnet, und anstatt sich daraus zu befreien und sie zu verändern, befindet sich der Mensch ganz im Gegenteil in einem Zustand der Bewegung und des Kampfes. Das Geheimnis des Handeins
w.
Kreck, a.a.O., 141. 28 K. Barth, KD IV/I, 605, 606. K. Barth, KD IV/I, 607, 608. Vgl. P. Althaus, a.a.O., 212. 30 J. Ficker, a.a.O., II, 267 (MAE 2, 369): "Ergo penitentia est medium inter iniustitiam et iustitiam. Et sie est in peccato quoad terminum a quo et in iustitia quoad terminum ad quem." 27 29
I
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Die lutherische Lehre
Gottes, das den Keim eines Bruches in seine Existenz, eine Trennung von seinem alten Leben als Mensch, und gleichzeitig, simul, den Keim eines neuen Lebens voller Dynamik der evangelischen Verheißung eingeführt hat, ist der Ausgangspunkt einer Geschichte, eines Marsches vorwärts, bei dem der Mensch der Vergangenheit den Rücken zukehrt und sich auf die Zukunft Gottes hin in Bewegung setzt. Es ist ein Wandel nicht mehr "nach dem Fleisch", sondern "nach dem Geist" (Röm 8,4; GaI5,16; 5,25). Es ist das Vergessen dessen, "was dahinten liegt", und das Ausstrecken "nach dem, was vor mir liegt" (Phil 3,13) in den Worten des Paulus und ein Wandel nicht mehr "in der Finsternis", sondern "im Licht" und "in der Wahrheit" (l.Joh 1,6-7; 2.Joh 4) der johanneischen Worte. Ohne sich Illusionen hinzugeben, daß dieser Marsch, während er stattfindet, wahrhaftig und vollständig von der Sünde, der Ungerechtigkeit, dem Unglauben befreit, die doch der Vergangenheit und dem Tod angehören, weiß auch der Gläubige ganz realistisch, daß - wie die Dinge auch neugeworden seien (2. Kor 5,17), - die Zeit der letzten Erfüllung noch nicht da ist, und daß er, solange die Zeit des Glaubens und der Hoffnung dauert, nichts anderes ist noch sein kann als ein Büßerl l • Solange die letzten Offenbarungen nicht dazu kommen, "steht der Mensch immer im Nichtsein, im Werden", und doch gleichzeitig "im Sein"; "immer befindet er sich im Zustand des Entblößtseins, der Möglichkeit", und doch "der Tätigkeit", "immer in der Sünde", und doch "in der Rechtfertigung, in der Gerechtigkeit", das heißt semper peccator, semper penitens, semper iustUSJ2. Die neue Existenz ist noch nicht sichtbar, es sei denn durch Zeichen und Widerspiegelungen. Wenn diese Zeichen und Widerspiegelungen eine zu massive Körperlichkeit annehmen, entsteht wiederum unmittelbar und unvermeidlich die Möglichkeit und die Versuchung des Pharisäismus, einer Gerechtigkeit, die propria et domestica ist. "Luthers Hauptargument gegen den katholischen Heiligkeitsbegriff ist gerade dies, daß er auf äußere Heiligung gerichtet ist; das entspricht der Haltung der verblendeten Vernunft, der Einstellung des natürlichen Menschen. Luther wird nicht müde, einzuschärfen, daß der Mensch seiner eigenen Natur nach gern den Weg der Pharisäer und Schwärmer gehen will, indem er Gott seine eigene Heiligkeit anbietet. Die Heiligkeit des Glaubens dagegen ist dem Auge nicht offenbar. Der Glaube erfüllt das erste Gebot und hält an Gott und seiner Heiligkeit fest. "33 Auch wenn das Äußere, der Rahmen, die Berufstätigkeit und die Lebensbedingungen unverändert zu bleiben scheinen, ist in Wirklichkeit von dem Augenblick an alles verändert, in dem der Ruf 31 32 33
93.
J. Ficker, a.a.O., 11, 267: "nihil nisi penitentes." J. Ficker, a.a.O., 11, 266ff. L. Pinomaa, Sieg des Glaubens. Grundlinien der Theologie Luthers, Göttingen 1964,
Die "theologia cruds"
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Gottes den Menschen erreicht (1. Kor 7,17.20.24), weil die Grundrichtung seines Lebens verändert ist. Seine Gedanken, seine tiefen Gefühle, die Entscheidungen und die Wahl, die im Grunde zählt, seine Haltung der Hingabe oder der Ablehnung, die Motive, die ihn bewegen, und die Kriterien, die ihn leiten, haben einen anderen Gang genommen34 • Die göttliche Krise, die in einer Existenz auftritt, ist jedoch im Urteil der anderen, die die Dinge mit dem gängigen Urteil richten, nicht klar und vorbehaltlos zu erkennen. Sie wird höchstens in den Kategorien der religiösen und psychologischen Phänomenologie bewertet.
8. Die "theologia erucis"
Man kann die lutherische Rechtfertigungslehre nicht verstehen, wenn man sie von der theologia erucis isoliert. Man hat gesagt: "Das Kreuz war dem Juden Saulus der große Anstoß, vom Kreuz her erschloß sich dem Christen Paulus ein völlig neues Gottesverständnis" , um so "eine Umwertung aller Werte" zu erzeugen. Von da an und während der ganzen Dauer seines Dienstes gilt: "Das ganze Denken des Paulus ist vom Gedanken des Kreuzes beherrscht, ist theologia cruds." Man kann nun ohne Furcht vor Dementis behaupten: "Bei keinem Theologen der christlichen Kirche haben diese Gedanken des Paulus eine solche Auferstehung erlebt wie bei Luther. "1 Luther hat die programmatische Definition der theologia erucis in seinen Thesen zur Heidelberger Disputation von 1518 geliefert: "Nicht der heißt mit Recht ein Theologe, der Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke wahrnimmt und versteht, sondern der heißt mit Recht ein Theologe, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und im Kreuz dargestellt, begreift. "2
Diese Sätze sind hart zu schlucken und zu verdauen in unserer kulturellen Atmosphäre~ die auf allen Ebenen von der technischen, wissenschaftlichen und soziologischen Voraussetzung der verifizierbaren Wahrheit bestimmt ist, ein Erbe der Aufklärung, das heißt der Wahrheit, die sich 34 K. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 128ff. 1 W. von Loewenich, Luthers Theologia cruds, München 19544, 10.3; B. Gherardini, La Theologia cruds chiave ermeneutica per la lettura e 10 studio di M. Lutero, in Doctor Communis 28 (1975), 252ff; ders., Theologia cruds, Rom 1978. 2 WA 1, 354 (MA 1, 133): "Non ille digne Theologus didtur, qui invisibilia Dei per ea, quae facta sunt, intellecta conspidt, sed qui visibilia et posteriora Dei per passiones et crucem conspecta intelligit." Eine wörtliche Übersetzung der beiden Thesen (19 und 20) ist fast unmöglich. Vgl. u. a. J. E. Vercruysse, Luther's Theology of the Cross at the Time of the Heidelberg Disputation, in Gregorianum 57 (1976), 523ff.
10 Subilia, Rechtfertigung
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Die lutherische Lehre
nur durch die Kontrolle des Gelingens und das Kriterium des Erfolges als solche auf der Grundlage ihrer erwiesenen Funktionalität und ihrer Anwendungsmöglichkeiten erweist. Es handelt sich um eine verbreitete Anschauung, die noch nicht zur Kenntnis genommen hat, daß eine solche Voraussetzung durch die neuere Wissenschaft überwunden ist, die weiß, daß sie sich nicht auf verifizierbare Sicherheiten, sondern nur auf Arbeitshypothesen stützen kann. In der Perspektive Luthers ist das paradoxe Kriterium des Bewußtseins und der Wahrheit auf allen Ebenen die Niederlage am Kreuz, der sich die beruhigende Evidenz und die rationale Beweisbarkeit der theologia gloriae widersetzt. Sie erhebt den Anspruch, die experimentellen Methoden auch auf das Feld des Glaubens auszudehnen, schließlich die letzte Wirklichkeit Gottes zu kennen und daraus die Erkennbarkeit in der Beobachtung und der unmittelbaren Einsicht in die Dinge abzuleiten. Eine solche Theologie neigt nicht dazu, ein wahres Bewußtsein des Geheimnisses Gottes zu erwerben, sondern sie erzeugt eher als unvermeidliche Folge eine Inflation des Menschen. D,eshalb verhärtet er sich, seiner Möglichkeit bewußt geworden, und wird gegenüber der Wirklichkeit und dem Handeln des lebendigen Gottes, die uns durch das Wort des Evangeliums vermittelt werden, verblendet3 • Die Menschen werden durch ihre Unwissenheit und ihre Ablehnung des Kreuzes notwendigerweise dazu verleitet, entgegengesetzte Werte vorzuziehen, das heißt Weisheit, Ruhm und Macht. Aber das Evangelium ruft uns, eine Weisheit zu suchen und zu finden, die für die Welt Torheit ist4 • Der Theologe der Herrlichkeit, der bei den eigenen Aussagen zu sicher ist, findet Gott "allenthalben gegenwärtig "5 und meint, anderen mit überzeugendem Erfolg dessen Evidenz zeigen zu können. Der Theologe des Kreuzes weiß, daß Gott sich nicht in der Reichweite der Sinnlichkeit und der geistlichen Erfahrung findet, die dahin streben, ihn in eine religiöse Psychologie zu integrieren, und daß er sich auch nicht in der Reichweite von Gottesbeweisen findet, die dazu neigen, ihn auf einen Begriff zu beschränken und ihn in den Rahmen eines Lehrsystems einzufügen. Er weiß auch, daß Gott sich nicht in der Reichweite kirchlicher Manipulationen findet, die dazu neigen, ihn in einer Organisation zU disziplinieren und zu institutionalisieren. Gott tut sein Geheimriis auf paradoxe und fragwürdige Arten kund; er entflieht dem Zugriff, seine Wege sind nicht unsere Wege und seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken6 • Es gibt keine Möglichkeit einer unmittelbaren Gotteserkenntnis. Wenn Gott anfängt zu handeln, verbirgt er sich entgegen all seinen 3 WA 1, 354: "Sapientia illa, quae invisibilia Dei ex operibus intellecta conspicit, omnino inflat, excaecat et indurat." 4 WA 1, 362. 363. 5 WA 1, 614 (MA 1, 273). 6 WA 56, 375.376.
Die "theologia cmds"
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göttlichen Kategorien der Größe, der Macht und der Herrlichkeit unter dem entgegengesetzten Schein all unseren Möglichkeiten der Voraussicht und des Verständnisses, er tritt in Kategorien ein, die ständig mit relativen, doppeldeutigen und letztendlich sogar mItiri der Geschichtebankrotten KategOrien vermischt werden können. ~ So-handelt Gott immer sub eontraria speeie: seine Weisheit ist unter dem Schein der Torheit, seine Wahrheit unter der Form der Lüge, seine Kraft unter dem Schein der Schwachheit, seine Treue unter dem Schein desVerlassens, seine Gerechtigkeit unter dem Schein der Ungerechtigkeit, seine Gegenwart unter dem Schein der Abwesenheit verborgen. Um ihn zu verstehen, muß sich unser Urteilsvermögen vollständig und radikal ve:rwandeln: Das ist "das nützlichste WIssen der Gläubigen Christi", daß SIe in seinem Licht eine neue und unbekannte Bedeutung der Dinge sehen lernen, daß sie verstehen lernen, daß das Wort Gottes, jedesmal wenn es zu uns kommt, "in einer Gestalt, die unserem Geist ... stracks zuwiderläuft", kommt, daß sie lernen, zu "wollen wider das eigene Wollen, einsichtig sein wider die eigene Einsicht", zu wagen, einem Willen zu folgen, der nicht der eigene, der unbekannt und dennoch gut ist, d. h. einer paradoxen Weisheit, die dem eigenen Urteil und der Unterscheidungsfähigkeit entgegengesetzt ist. Sie lernen, was es heißt, das eigene Kreuz zu tragen, Jünger Christi zu werden und durch die Erneuerung des eigenen Geistes verwandelt zu werden7 • }'".' . Gott in diesen Kategorien zu erkennen, die allen Kriterien der Welt widersprechen und sie verkehren, bedeutet, die Theologie des Kreuzes zu treiben, die sich als "ein neu es Verständnis dessen, was wir ,Wirklichkeit' nennen", erweist8 • Althaus definiert den Glauben, dessen Charakteristiken er im allgemeinen Rahmen der Theologie Luthers darstellt, als "die Kunst, Gott in seinem Gegensatz zu ergreifen ... Das bedeutet für das Wesen des Glaubens: er steht immer im Kampf mit der Wirklichkeit, welche die Welt, also auch die eigene Vernunft und weltliche Erfahrung sieht. Der Christ ist ständig angefochten. Die Anfechtung als wesentliches Merkmal des Christenstandes gehört mit der Theologia erucis zusammen. Es ist die Not des Christenstandes, daß der Christ mitten in der Wirklichkeit steht unter dem Eindruck dessen, was die Vernunft und ihre Erfahrung ihm zeigen. Glauben heißt, im ständigen Widerspruch zur empirischen Wirklichkeit sich zu der. verborgenen bekennen", indem man standhaft das evangelische Wort· festhält,das davon Zeugnis ablegt9 • WA 56,446.450 (MAE 2, 373. 374. 377). P. Althaus, a.a.O., 40. Zur aktuellen Problematik vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977. 9 P. Althaus, a.a.O., 40. 7
8
/1/ .•.
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Die lutherische Lehre
Man kann aus diesen Erwägungen schließen, daß sich die Rechtfertigung in der Sicht Luthers mit der grundlegenden Struktur der Beziehung zwischen Gott und Mensch identifizierpo, Es ist symptomatisch, daß Luther in diesem Zusammenhang, um seine Stellung zu erklären, auf zwei bezeichnende neutestamentliche Ausdrücke zurückgreift: das Gleichnis vom Himmelreich, das gleich ist einem verborgenen Schatz im Acker, im Evangelium und das paulinische Wort über das "mit Christus in Gott verborgene Leben" (Kol 3,3)11, Wenn der höchste und oberste Gegenstand des Glaubens, Gott selbst, ein verborgener Gotnsf,aer'~Ilfer dem ~ig~.d.eJil}!!l widerspricht, wahrgenorllmen und entdeckt werden muß, leben auch seine Gerechten und Heiligen notwendigerweise kein sichtbares, sondern ein verborgenes Leben, Denn die Wirklichkeit, die es bestimmt, ist und kann nur eine Wirklichkeit des Glaubens sein, also eine .' Wirklichkeit, die in keinem Maße feststellbar und beweisbar ist durch Vergewisserungen und Beweise, sondern verborgen ist "in der Verneinung alles dessen, was man empfinden, haben, begreifen kann"12, Die Kirche ist verborgen, sagt Luther, die Heiligen leben ein völlig unbekanntes Leben13 , Dieses ihr verborgenes Leben ist eine Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit, die ihre Gegenwart und ihre Zukunft bestimmt, aber keine Wirklichkeit, deren man sich äußerlich vergewissern kann, wie man Unterschiede der Rasse oder des Geschlechtes feststellen kann14 , Es ist eine Wirklichkeit, die selbst vor den Augen derer verborgen ist, die sie leben; nur der Herr kennt den Weg der Gerechten15 , Der unbekannte, verborgene Charakter der christlichen Lebensbedingung, für die der neue Mensch ständig unter der Hülle des alten Menschen verborgen lebt, zielt darauf, seinen wesentlichen Charakter zu bewahren, das heißt seinen Charakter als Glauben16 , Einer der Abschnitte, der dazu viel aufklärt und ermöglicht, den Bezug der Rechtfertigungslehre zur Kreuzestheologie zu verstehen, ist im Kommentar zum 9, Kapitel des Römerbriefes enthalten: "Denn unser Gut ist verborgen, und zwar so tief verborgen, daß es unter seinem Widerspiel verborgen ist. So ist unser Leben verborgen unter dem Tode, die Liebe zu uns unter dem Haß wider uns, die Herrlichkeit unter der Schmach, das Heil unter dem Verderben, das Königreich unter dem Elend, der Himmel unter der Hölle, die WeisW. Grundmann, a.a.O., 110. WA 56,393. 12 WA 56, 393 (MAE 2,304). Vgl. H. Bandt, Luthers Lehre vom verborgenen Gott, Eine Untersuchung zu dem offenbarungsgeschichtlichen Ansatz seiner Theologie, Berlin 1958. 13 WA 18, 652: "abscondita est Ecclesia, latent sancti." 14 WA 6, 295, 15 WA 5, 45: "Quia sapientia erucis haec, ideo solus deus novit via justorum, adeo abscondita est etiam ipsis justis." 16 W. von Loewenich, a.a.O., 151. 154ff. 10
11
"Sola fide"
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heit unter der Torheit, die Gerechtigkeit unter der Sünde, die Kraft unter der Schwachheit. Und ganz allgemein all unser Ja zu irgendeinem Gut unter dem Nein, damit der Glaube Raum habe in Gott. "17 Die theologia erucis stellt keinen jugendlichen Augenblick der Entwicklung Luthers dar, noch ist SieII).it dem Mönchsidealder DenlUt, der Selbsttötung verbunden, wie es einige Forscher behauptet haben18 , sondern sie ist eine wahre und geei.gnete, verschiedene und neue Art zu denken und Theologie zu treiben, die theologischen Probleme zu formulieren. Sie ist die grundlegende und konstante Kategorie, die den Schlüssel zum Verstehen nicht nur dessen darstellt, was das Thema Rechtfertigung betrifft, sondern auch für alle anderen theologischen Themen von der Gotteslehre bis zur Lehre von der Kirche19 • Die These der Kreuzestheologie als totaler und unverzichtbarer Instanz der Theologie Luthers sowie der evangelischen Theologie ist mit einer Überfülle von Argumentationen durch von Loewenich in seinem klassischen Werk, das bis heute nichts von seinem Wert und von seiner Überzeugungskraft eingebüßt hat, verteidigt worden20 • Die Fülle der Perspektiven und die bestimmende Fähigkeit der theologia erucis entscheidet sich in der Tat in der sola lides, die neben dem solus Christus und der sola Seriptura das Kriterium biloet, das die gesamte Theologie der Reformation charakterisiert.
9. "Sola [ide"
Bei seinem Hinweis auf Hebr 11,1, nach dem der Glaube "ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht", ist, hat Luther klar und energisch festgestellt: "Damit aber der Glaube Raum habe, muß alles, vv~~ g~g!a\lbt wird, verborgen sein. Es wird aber nicht tiefer verborgen als unter dem Gegensatz zum Gegenständlichen, zur Wahrnehmung; zur Erfafirung. "1 Wie von Loewenich kommentiert: "Der Glaube kann sich nur auf VerborWA 56, 392 (MAE 2, 303). O. Ritschl, Dogmengeschichte des Protestantismus 11/1, Leipzig 1912-1927, 40ff, und neuerdings Bizer, den wir schon gelegentlich zitiert haben. 19 Luther hat einmal erklärt, daß die Kreuzestheologie das verurteilt, was der Papst billigt, und daß es kein kräftigeres Argument gegen die päpstliche Herrschaft gibt als die Tatsache, daß er ohne das Kreuz regiert. Sie verwandelt sich damit in das Reich des Antichristen in dem Maße, wie an die Stelle des Kreuzes die Wollust, an die Stelle des Mangels die Üppigkeit, an die Stelle der Schmach die Herrlichkeit getreten ist. Die Kirche ist viel weltlicher als die Welt und viel fleischlicher als das Fleisch geworden; WA 7, 148. 20 Wie R. Stauffer, La theologie de Luther d'apres les recherches recentes, RThPh 1957, 10 bemerkt hat. Der Artikel ist jedenfalls früher als der Bizers, der von 1958 stammt, erschienen: wie wir gesehen haben, kann man über den Wert von Bizers Thesen diskutieren. 1 WA 18, 633 (MAE 1, 44). 17 18
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Die lutherische Lehre
genes richten; soll etwas Gegenstand des Glaubens werden, so muß es bis zur Unkenntlichkeit, ja unter dem Gegenteil verborgen, verhüllt sein. "2 Wenn nun das grundlegende Zeichen des Glaubensgegenstandes sein verborgener Charakter ist, wenn Gott selbst, gerade der Gott, der sich in Christus offenbart und den wir durch das Evangelium erkennen können, ein Deus absconditus in seiner Offenbarung ist und bleibt, ist auch die Gerechtigkeit Gottes unbegreiflich und kann dies nur sein. "Wenn nämlich seine Gerechtigkeit derartig wäre, daß der Mensch mit seiner Fassungskraft darüber befinden könnte, daß sie gerecht ist, so wäre sie durchaus nicht göttlich und in nichts von der menschlichen Gerechtigkeit unterschieden. Aber da Gott ein einiger und wahrer Gott ist, ferner völlig unbegreiflich und der menschlichen Vernunft unzugänglich, so ist es angemessen, ja vielmehr notwendig, daß auch seine Gerechtigkeit unbegreiflich ist. "3 Zu Beginn dieses Kapitels haben wir bemerkt, daß Luther, um den Rechtfertigungsartikel zu bezeichnen, den typisch neutestamentlichen Ausdruck, Glaube Christi, gebraucht. Wir müssen nun diesen Ausdruck aufnehmen und versuchen, ihn mit gesammelter Aufmerksamkeit zu erklären trotz oder gerade wegen des Bewußtseins, daß eben der Glaube, wie man gesagt hat, "heute zweifellos das größte Rätsel der evangelischen Wirklichkeit ist, jenes das der moderne Mensch am schwersten versteht und am leichtesten als unbedeutend und entfremdend bestreitet", das er in jeder Weise als die "verlorene Dimension" betrachtet4 • Man kann die Situation als bestimmend ertragen, wenn man das Evangelium der Situation anpaßt, oder man kann das Evangelium als bestimmend bekennen, es dabei jedoch von der Situation absondern, das heißt, es seiner bestimmten Macht berauben. Um diese beiden entgegengesetzten Gefahren zu vermeiden, muß man den "Glauben Christi" in der Situation leben: um dieses Bedürfnis zu verwirklichen, muß die Einmaligkeit des Evangeliums erhalten bleiben. Die einzige, begründete Erklärung des Ausdrucks scheint in der Tat diese zu sein: die Ausschließlichkeit des sola lide wird mit der Ausschließlichkeit des solus Christus identifiziert, das heißt, mit Ihm, auf den der Glaube vertraut5 • Sehr häufig hat die Erklärung, die man geboten hat und die in Artikeln, Broschüren und Handbüchern kursiert ist, das Problem umgangen und hat die Lösung gerade in der geistlichen und theologischen Atmosphäre, die dem Pietismus und der Erweckungsbewegung in protestantischen Kreisen W. von Loewenich, a.a.O., 33. WA 18, 784 (MAE 1,244). 4 P. Ricca, L'identita protestante, Turin 1973, 12. Der Ausdruck "die verlorene Dimension" ist der von P. Tillich, Die verlorene Dimension, Hamburg 1962, benutzte Ausdruck, mit dem er die Lage der Religion in unserer Zeit anzeigen will. 5 K. Barth, KD IV/I, 706. 2
3
"Sola tide"
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folgte, in andere Wege geleitet: Man hat Glaube und Werke einander entgegengesetzt, man hat behauptet, daß nicht die Werke rechtfertigen, sondern der Glaube. Beim Versuch oder in der Illusion, alle Aspekte des Problems zu erfassen, hat man gesagt: "Wenn von einem objektiven Gesichtspunkt aus die Rechtfertigung von Gott kraft des Werkes Christi gewährt wird, wird sie von einem subjektiven Gesichtspunkt aus als Antwort auf den Glauben des Menschen gewährt." Der Glaube wird also definiert "als ein Willensakt der Seele, die Gott sucht, als ein Akt des Vertrauens auf das Erlösungswerk Jesu Christi und als ein Akt des Gehorsams gegen ihn, als Gabe seiner selbst", und man zeigt sich davon überzeugt, daß "als Antwort auf einen solchen Glauben Gott nach seiner Barmherzigkeit die Rechtfertigung gewährt"6. Man ist sich nicht bewußt, daß sich dadurch der Glaube in ein Werk verwandelt; und man nicht aus dem Umkreis des Gesetzes und des synergistischen Kompromisses heraustritt. Einen Teil der Rechtfertigung schreibt man Gott zu, nämlich den Teil, den man als objektiv definiert hat, aber eben nur einen Teil; der andere Teil, der die conditio sine qua non darstellt, mit der die göttliche Rechtfertigung den Menschen erreichen und in ihm wirksam werden kann, ist die freie Zustimmung des Menschen, sein Ja, das das Werk Gottes bedingt. Man bleibt im Rahmen des freien Willens, den Luther bei seiner Polemik gegen Erasmus noch jenseits der Gnade, des Glaubens, der wirksamen Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes, sogar in unversöhnlichem Gegensatz zur Gerechtigkeit Gottes zu sein erachtete, weil er vom menschlichen Willen der Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung beseelt ist. Nicht umsonst ist die Rechtfertigung aus Glauben in der lutherischen und noch mehr in der calvinistischen Perspektive nicht von der Lehre der Erwählung zu trennen. Gott liebt uns nicht, weil wir untadelige, seiner Anerkennung würdige Gerechte sind, sondern weil er uns inmitten der Welt erwählt hat. Daran erinnert uns Luther, indem er das Johannesevangelium zitiert7 • Und wenn diese Erwählung der einen und diese Nichter6 D. Bosio, La giustificazione per sola fede, Rom 1948. Dieselbe Position findet man bei Ern. Comba - U. Janni, La religione cristiana, Torre Pellice 193F, 160. Darin wird der Glaube als subjektive Instrumentalursache des Heils betrachtet und definiert, als "das einzige, notwendige und ausreichende Mittel, dureh das die Seele die Gnade erlaßt und sich aneignet". Man präzisiert dann: "Zu sagen, daß nur der Glaube rechtfertigt, kommt gleich zu sagen, nur der intimste und persönlichste, der empfänglichste und aktivste Akt, mit dem das menschliche Ich mit seiner dreifachen Energie des Denkens, Fühlens und Wollens Christus und in ihm Gott erlaßt, nur dieser Akt also kann uns in Christus einpfropfen, indem er die Mächte, die den Zustand des Heils.bestimmen, verinnerlicht und in uns wirken läßt." (225) 7 WA 40/1, 371. Zur Prädestination als Ursache der Rechtfertigung vgl. u. a. K. Schwarzwäller, Theologia erucis, Luthers Lehre von der Prädestination nach De servo arbitrio 1525, München 1970; F. Brosche, Luther on Predestination, Uppsala 1978, 146ff.
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Die lutherische Lehre
wählung der anderen dem menschlichen Urteil als unannehmbare Ungerechtigkeit erscheint, so gehört sie völlig der Kreuzesth~O,logi~,an:I?es halb sind wir berufen, Gott als vollkommen gut und gerecht zu betrachten, den Gott, der uns willkürlich und boshaft zu sein scheint, der Wege verfolgt, die für uns und unser gegenwärtiges Kriterium der Gerechtigkeit unverständlich sind. "So verbirgt er seine ewige Güte und Barmherzigkeit unter dem ewigen Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit. Das ist die höchste Stufe des Glaubens, zu glauben, jener sei gütig, der so wenige selig macht, so viele verdammt; zu glauben, er sei gerecht, der durch seinen Willen uns so, daß es nicht anders sein kann, verdammenswert macht, daß es scheint, wie Erasmus angibt, er ergötze sich an den Qualen der Unglücklichen und als sei er mehr des Hasses als der Liebe wert. Wenn ich also durch irgendwelche Vernunftb_egreif~:tlkQ.q.nte, auf welche Weise dieser Gött barmherzig und gerecht.sei, der so großen Zorn r) und Ungerechtigkeit an den Tag legt, dann wäre der Glaube nicht n6tlg. r Nun, da ich das nicht begreifen kann, ist ein geeigneter Ort, den Glauoeri.-einzuüben, da, wenn solches gepredigt und unter die Leute gebracht wird. "8 Diese Überlegungen erschienen der ausgewogenen, humanistischen Klugheit des Erasmus unerträglich, mehr noch jetzt, in einem geschichtlichen Augenblick, in dem man sorgfältig auf die Notwendigkeit der menschlichen Gleichheit nach Jahrhunderten und Jahrtausenden der Diskriminierung achtet, erscheinen solche Überlegungen als unerträglich, erhebt man doch den Anspruch, alle Arten von Privilegien abzuschaffen, worin die Befreiungsbewegung, die mit der Französischen Revolution begonnen hat, ihre entsprechenden Folgen erweist. Aber müssen diese mehr als begründeten Forderungen, diese Versuche einer größeren sozialen Gerechtigkeit notwendigerweise zur Unterbewertung der tiefen Wirklichkeit des Bösen und der Ungerechtigkeit führen, die weit über die Grenzen des sozialen Übels und der sozialen Ungerechtigkeit geht? Sind sie notwendigerweise mit einer Leugnung des Geheimnisses Gottes und seiner Gerechtigkeit verbunden? Wenn sie es wären, wären sie Gefühle einer Oberflächlichkeit, die die tiefe und vielfältige Problematik des Menschen in der Geschichte ablehnt. Man versteht den Ausdruck "aus Glauben" nicht, wenn der Glaube ein Werk wäre, auf Grund dessen Gott die Rechtfertigung gewähren würde, ein Werk, das sich von den sichtbaren Werken auf ethischer und ritueller Ebene nur wegen seines geistlichen und inneren Charakters unterschiede, das aber doch immer noch Werk bliebe, mit dem sich der Mensch vor Gott Geltung verschaffen könnte. Der Glaube ist kein Wert des Menschen und nicht die Ursache, weshalb der Mensch gerechtfertigt wird. Die Rechtferti8
WA 18, 633 (MAE 1, 44).
"Sola fide"
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gung geschieht aus Glauben, weil die Gerechtigkeit, mit der Gott den Menschen rechtfertigt, unsichtbar und nicht feststellbar ist: Sie ist "verborgen" und nicht offenkundig, solange die gegenwärtige Zeit andauert. Sie kann also nur geglaubt werden. Der Glaube kommt nicht vom Menschen. Der Mensch darf nicht durch religiöse Bestätigungen in seinem Willen bestärkt werden, der Herr seines eigenen Geschicks zu sein, auch nicht in seinem Versuch der Unabhängigkeit von Gott, die ihn von der Fülle seiner eigenen Menschlichkeit entfremdet, statt ihm ihre Wiedererlangung zu erlauben, wie er sich seit Adams Zeiten einbildet. Wir hatten schon Gelegenheit, eine typische Luthersche Aussage zu zitieren: "Also, wer an Christus glaubt, wird von sich selbst entleert, wird müßig bei seinen eigenen Werken, damit Christus in ihm lebe und wirke. Wer sucht, durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden, wird von Christus entleert und wird bei den Werken Gottes müßig, damit er in sich selbst lebe und wirke, das heißt, zugrunde und verloren gehe. "9 Das paradoxe und häufig sogar bewußt rhetorisch übertriebene, feierliche Preisen, das Luther oft beim Glauben bis zu der Aussage steigert, daß er eine allmächtige Wirklichkeit, der Schöpfer der Gottheit in uns ist, und Gott ohne ihn seine Majestät, seine Herrlichkeit, seine Weisheit, seine Gerechtigkeit, seine Wahrheit und seine Barmherzigkeit verliert10 , muß als Ausdruck verstanden werden, der die Kraft Gottes erhöht, der im Menschen die Fähigkeit schafft, sein Wort zu hören und seine Gerechtigkeit zu erkennen. Der Glaube ist in der Tat eine Gabe Gottes, die Gabe einer solchen Wesenheit im Rahmen der Existenz, daß man ihn mit der in der Menschheit Jesu gegenwärtigen Gottheit vergleichen kannl l . Es handelt sich nicht um einen einfachen Vergleich. Der Glaube und Christus sind so fest miteinander verbundenu, daß man sagen kann und muß, Christus ist selbst im Glauben gegenwärtig, auch wenn es nicht möglich ist, die Modalität dieser Gegenwart zu erklären und zu verstehen13 • Christus ist also nicht nur Glaubensgegenstand, sondern er ist auch im Glauben gegenwärtig; wo der Glaube ist, ist Christus; wo Christus ist, ist der Glaube. Er bildet in no bis die Wirklichkeit unserer Gerechtigkeit extra nos: "Also ist der im Glauben ergriffene und im Herzen wohnende Christus die christliche Gerechtigkeit, um derentwillen uns Gott für gerecht hält und das ewige Leben gibt. "14 "Also wird die Gerechtigkeit Christi durch den Glauben an Christus zu unserer Gerechtigkeit und alles, was ihm gehört, ja sogar er selbst wird unser. "15 Die Gerechtigkeit Christi ist nichts anderes als die Person Christi selbst: die WA 2, 564. 10 WA 40/1, 360. WA 40/1, 366. 417. u WA 40/1, 546. 13 WA 40/1, 229; WA 2,502. 14 WA 40/1, 229. 15 WA 2,146. Vgl. H. Bornkamm, Zur Frage der Iustitia Dei beim jungen Luther 11, ARG 53 (1962), 38. 9
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Identifikation geht auf die Botschaft des Apostels Paulus zurück (1. Kor 1,30). Diese Gegenwart ist das Werk und die Gabe Gottes, eine schöpferische Tat im Menschen, die der Mensch nicht von sich aus vollbringen kann, sondern die nur von Gottes Wort gewirkt werden kann, das durch den Heiligen Geist wirksam wird. Luther weiß, daß der Mensch nicht die Möglichkeit hat zu glauben, das heißt aus sich selbst herauszugehen, aus sich heraus zu sterben, von neuem geboren zu werden und ein nicht eigenes Leben zu leben. "Ich gläube" - sagt er im "Enchiridion" oder "Der kleine Katechismus" -, "daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen. "16 Irgendeine Mitwirkung zwischen Gnade und Glaube, gemeinhin als Beitrag des Menschen verstanden, sowie irgendein Verständnis der Rechtfertigung, die kraft menschlichen Glaubens gewährt wird, das heißt durch seine wohlwollende Annahme der Vergebung, sind ausgeschlossen. In der Tat muß man mit aller Klarheit behaupten: "Glaube ist ein göttlich werck in uns, das uns wandelt und new gebirt aus Gott, Johan. 1. Und tödtet den alten Adam, machet uns gantz ander Menschen. "17 Nur aus Glaube ist ein synthetischer Satz, der genau dem Satz nur aus Gnade entspricht18 . Die Formel sola fide und der Satz, "der Gerechte wird seines Glaubens leben", wollen also nicht anzeigen, daß der Mensch gerechtfertigt wird, "weil er glaubt, sondern durch das, was er glaubt"19, dasheißt durch Ihn, an den er glaubt. Dies zu sagen, bedeutet, eHe -ausschließlich christologische Grundlage des Glaubens zu behaupten2o • Was ist in der Tat die Gerechtigkeit Christi, wenn nicht die Person Christi selbst, Er, den Gott bestimmt hat, "um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, daß er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der aus dem. Glauben an J esus lebt" (Röm 3,26)? Diesem Glauben, der den endgültigen Ausschluß jeder autonomen Grundlage der Rechtfertigung mit sich bringt, pflichtet man einzig durch die wirksame Vermittlung des evangelischen Wortes bei, das dem Menschen das eschatologische Ereignis Christus, die Gerechtigkeit, die er 16 BSLK,511f.
17
WADB 7, 11.
,. K. O. Nilsson, a.a.O. 358.
19 H. Strohl, L'evolution de la pensee religieuse de Luther jusqu'en 1515, Straßburg 1922, 146; G. Miegge, a.a.O., 140. P. Tillich, Systematische Theologie H, Stuttgart 1958, 192, bemerkt richtig, daß die Verkürzung des Satzes, ",Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben'" in den Satz ",Rechtfertigung durch Glauben'" gefährlich ist, weil sie den Eindruck erweckt, der Glaube sei ein Akt des Menschen, kraft dessen er die Rechtfertigung verdient. "Eine solche Auffassung wäre eine völlige und verhängnisvolle Entstellung der Lehre von der Rechtfertigung." 20 W. Dantine, Die christologische Fundierung des sola fide, in C. H. Ratschow (Hg.), Der christliche Glaube und die Religionen, Berlin 1967, 28ff.
Die Rechtfertigung des Ungläubigen
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verwirklicht hat und darstellt, verkündigt. Weil der Glaube keinen Wert hat, der dem Herzen des Menschen entspringt oder der aus den Ergebnissen seines· ethischen Handeins stammt, sondern eine Wirklichkeit darstellt, die von außerhalb kommt, extra nos, kann Er, an den der Mensch zu glauben gerufen ist, nur durch das Evangelium verkündet und vermittelt werden. Das heißt, der Glaube kommt nur aus dem Hören der Predigt :' ./,r des Evangeliums (Röm 10,17), das selbst im Höreidie Möglichkeit des Hörens, des Annehmens, des Gehorchens schafft, das heißt des Glaubens an die Botschaft Jesu Christi21 • Das evangelische Wort ist also das einzige Instrument, durch das der Mensch zur Erkenntnis Gottes und seiner Gerechtigkeit - im biblischen und nicht im hellenistischen Sinn des Wortes Erkenntnis - gelangen kann, das heißt zu einer lebendigen und wirklichen Beziehung mit dem gerechten und rechtfertigenden Gott. Der Mensch kann also auf der Grundlage der Gerechtigkeit Christi und im Licht seiner Verheißung gerechtfertigt werden, weil der Geist Gottes selbst in seinem Wort handelt und den Ungläubigen, der sich auf sich selbst und seine Interessen konzentriert, in einen Gläubigen verwandelt, der sich nach außen zu Gott und den Menschen hinwendet, und weil er den Sünder, der durch die Dialektik, alle Dinge auf die Selbstliebe zu beziehen, versklavt ist, in einen Gerechten verwandelt, der in der Freiheit Gottes lebt. Außerhalb des Glaubens gibt es nur die Begierde, die Liebe des Menschen zu sich selbst, das heißt, der Unglaube ist "die Quelle aller Sünden"22. Der Glaube dagegen "ist die Weise, in welcher das Wort und damit Gott selbst in dem Menschen gegenwärtig ist"23.
10. Die Rechtfertigung des Ungläubigen
Unter dieser Perspektive verdient die Modernisierung der lutherischen Rechtfertigungslehre, die Tillich unternommen hat, diskutiert zu werden. Tillich schlägt in Übereinstimmung mit seiner Korrelationsmethode unter dem Gesichtspunkt der Situation eine originelle Erweiterung des ursprünglichen Kernes vor. Die gegenwärtige Lage des Menschen ist durch den Zweifel bestimmtl. Es ist ein Zweifel, dem es gelingt, die grundlegende Voraussetzung der Rechtfertigung, die Gewißheit Gottes selbst, anzugreifen. Der Zweifel gegenüber Gott ist zum Zweifel am WA 17/2,73.176; WA 39/1,83. WA 39/1, 296. 23 P. Althaus, a.a.O., 52. Vgl. H. Asmussen, Sola fide - das ist lutherisch! I, 11, ThExh 49-50, München 1937. 1 P. Tillich, Offenbarung und Glaube, Gesammelte Werke, Bd. 8, Stuttgart 1970, 85, die Untersuchung mit dem Titel: Rechtfertigung und Zweifel. 21
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gesamten Sinn des Lebens geworden 2 • Nach dem Ablauf einer Kultur, in
-der der Mensch gemeint hat, eine autonome Kultur gründen zu können,
die sich in einem ausschließlich horizontalen und immanentistischen Horizont bewegt, die fähig ist, sich nur auf eigene Werte zu beziehen, und die gewohnt ist, in der bürgerlichen Ruhe der eigenen rationalen Organisation der wissenschaftlichen Forschung und des sozialen Zusammenlebens sicher zu leben, ist.~ich unser Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg bewußt geworden, daß sie in eine krisenhafte Konkurssituation eingetreten isP. Man wird sich immer stärker bewußt, daß "die meisten der traditionelfen-Werte und Formen zerbrechen" in einem Zustand der Dinge, in dem der Mensch "oft bis an den Abgrund der völligen Sinnlosigkeit getrieben" wird. Die Desintegration spart keinen Bereich, auch nicht den religiösen, aus: "Diese Inhalte, auch die zentralsten, Gott und Christus und Kirche und Offenbarung sind das, was in der unbedingten Fragwürdigkeit steht." "Es wird nicht von dem Menschen der Gegenwart zu verlangen sein, daß er erst die religiösen Inhalte, und wären es Gott und Christus, annähme. Wo die kirchliche Verkündigung das tut, da nimmt sie die Lage des Menschen der Gegenwart nicht ernst und muß es sich gefallen lassen, von den ernsthaftesten unter ihnen als sie nichts angehend abgewiesen zu werden ... Diese Art der Gesetzlichkeit legt dem Menschen keine geringere Bürde auf als die moralische Gesetzlichkeit. "4 Tillich schlägt deshalb eine neue Interpretation der lutherischen Rechtfertigungslehre vor, um sie so auf neue Weise für unsere Zeit zu verstärken, eine Interpretation, die den Rückgriff auf "eine direkte Verkündigung der damit verbundenen konkreten religiösen Inhalte"s nicht nötig hat. Bei dieser Interpretation müssen wir uns von einem Forschen leiten lassen, das die Rahmen des Supranaturalismus und des Theismus überwindet, das "diese Suche nach dem Gott jenseits dessen, was wir gewöhnlich ,Gott' nennen", wagt6. Indem er die Alternative und die Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube vermeidet, in die die evangelische Predigt stellt, könnte der Mensch unseres Jahrhunderts, der seinem radikalen Skeptizismus verfallen ist, nicht den Gläubigen Abraham, sondern den Skeptiker Pilatus als Prototyp vor sich haben. "Wir", sagt Tillich, "sind Kinder unserer Zeit, wie Pilatus Kind seiner Zeit war. Beide Zeiten sind Zeiten der Auflösung, Zeiten eines weltweiten Verlustes von Wert und Sinn ... Laßt mich jetzt etwas tun, was vom Standpunkt eines Christen aus ungewöhnlich ist. Ich möchte nämlich Pilatus preisen - nicht den ungeP. Tillich, a.a.O., 89. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, Berlin 1926, 17ff. 4 P. Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Ges.W 7, Stuttgart 1962, 79f. 5 H. Zahrnt, Die Sache mit Gott, Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München 1966, 441. 6 P. Tillich, a.a.O., Bd. 7, 185. 2
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rechten Richter Pilatus, sondern den Zyniker und Skeptiker - und ebenso alle unter uns, in denen die Pilatusfrage lebendig ist. Denn auf dem G!:1:l.l!~1! jedes ,ernsten Zweifels und jeder Verzweiflung an:- der Wahrheit', ist immer noch die Leidenschaft für die Wahrheit am Werk. "7 Es zeichnet sich nun als legitim ab, nicht mehr nur von der Rechtfertigung des Sünders, sondern auch von der Rechtfertigung des Zweiflers, des Skeptikers 'reden und die Rechtfertigung von der ethisch-religiösen Sphäre auf die intellektuell-religiöse Sphäre auszudehnen. "Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt. Die Situation des Zweifelns, selbst des Zweifelns an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen. In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche. "8 Dagegen kann die Orthodoxie nur "intellektueller Pharis_äisIDJ.tS" sein: "Niemand, auch kein Gläubiger, auch keine Kirche kann sich der Wahrheit rühmen, wie sich niemand der Liebe rühmen kann. "9 Es kann hier nicht sein, "daß das, was allein göttliche Möglichkeit ist, als mensc~liche / / ,/ ,. Möglichkeit gedeutet werden könne"lo. Der Protestantismus muß in Ubereinstimmung mit seinem Prinzip jede Einsetzung einer vorletzten Instanz aus prophetischem Geist angreifen; er muß beständig den Menschen mit all seinen Sicherheiten, seien sie moralisch, seien sie intellektuell, in die Krise stürzen und ihn auf ein wahrhaft letztes Interesse verweisen. Tillich hat behauptet, diese Entdeckung habe für ihn eine Befreiung mit unabsehbaren Folgerungen dargestellt. Schon 1924 drückt er in einer Untersuchung seine Begeisterung darüber aus, indem er erklärt: die Rechtfertigung des Zweiflers ist "eine Neuschaffung und Wiedergeburt des gesamten Erkennens ... Nur in diesem sich ständig selbst aufhebenden Sinne ist das Christentum Menschheitsreligion und die Bibel Menschheitsbuch. Damit aber bricht der Protestantismus aus seiner Negativität durch zum Universalismus. Die Rechtfertigung des Zweiflers ist dieser Durchbruch ... Das ist protestantischer Universalismus, universaler als der römische, weil ungebunden durch Hierarchie und rechtliche Verhärtung. "11 Wie die ursprüngliche christliche Botschaft im 1. Jahrhundert die Schranke zwischen Juden und Heiden niedergerissen hat, so reißt dieselbe Botschaft im 20. Jahrhundert die Schranke zwischen Religiösen und Nichtreligiösen, zwischen Gläubigen und Ungläubigen nieder, um damit den falschen, begrifflichen "Gegensatz von natürlicher und übernatürlicher Offenbarung" zu überwinden sowie die Wirklichkeit des Atheismus
zu
P. Tillich, Das neue Sein, Religiöse Reden 2. Folge, Stuttgart 1959\ 70ff.' P. Tillich, a.a.O., GesW, Bd. 7, 14; H. Zahmt, a.a.O., 443, B. Mondin, Paul Tillich e la transmitizzazione deI Cristianesimo, Turin 1967, 95. 102. 9 P. Tillich, Auf der Grenze, GesW, Bd. 12, Stuttgart 1971, 33. 10 P.Tillich, a.a.O., GesW, Bd. 7, 255. 11 P. Tillich, Offenbarung und Glaube; GesW, Bd. 8, Stuttgart 1970, 97. 99. 100. 7
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selbst zu entleeren12 • So kommentiert ein überzeugter Anhänger Tillichs, Heinz Zahrnt: "Durch die Ausweitung der Rechtfertigung aufdas Denken "uiia-aamit auf den Zweifler wird das Christentum für Tillich zu einer Botschaft für alle Menschen, nicht nur für die Gläubigen, sondern auch für die Ungläubigen, für die, die am Sinn des Lebens verzweifeln und darum meinen, nicht mehr an Gott glauben zu können. "13 p:s wäre kleinlich, die Faszination dieser großartigen und genialen Konzeption zu leugnen. Trotzdem muß man deren Kritik in Angriff nehmen, auch wenn sich das Unternehmen schwierig gestaltet. Man kann nie sicher sein, ob man das Denken Tillichs tatsächlich mit all seinen Implikationen erfaßt hat: Seine Problematik ist ständig eher philosophisch als theologisch, seine Bezüge werden eher durch eine Vielzahl von Fermenten, die in der modernen Kultur vorkommen, dargestellt als von den alt- und neutestamentlichen Instanzen, deren Ausschließlichkeit, die ihnen die Reformation verliehen hat, offen geleugnet wird. Tillich hat gewiß recht, wenn er im Kielwasser seiner lutherischen Tradition kraftvoll behauptet, die Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben bedeutet, daß keine soziale, politische, kirchliche und theologische Position oder Lehre oder Kategorie des Glaubens würdig sei, noch einen absoluten Wert haben kÖhne, noch indiskutabel sei, noch auf die letzte Gegebenheit verweise, daß Gott allein gerecht ist und er allein seine Gerechtigkeit schenken kann. Aber handelt es sich um den Gott, den das Alte und das Neue Testament bezeugen, der in der Geschichte des Volkes Israel und in der Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth Geschichte wurde, oder handelt es sich um ein Prinzip, um ein Absolutum, um den logos der universalen Offenbarung, um jenen Unterschied zwischen Essenz und Existenz, zwischen essentiellem Sein und existentiellem Sein, der als "Rückgrat des ganzen theologischen Denkgebäudes" hingestellt wird14? Wenn sich die Rechtfertigung in ein Prinzip, in die Überwindung der existentiellen Entfremdung und in das Wiederfinden des Menschen zu sich selbst15 auflösen würde, hätte sie nichts mehr mit dem Neuen Testament zu tun, nachdem sie die Entdeckung des lebendigen Gottes und Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus ist und nur, insofern sie das ist, zieht sie alle Überwindungen und alle Befreiungen nach sich. Wenn der Glaube nicht der Glaube ist, der Christus ergreift, die fides apprehensiva Christi, von der Luther spricht16 , hat der Übergang aus der Selbstherrschaft über sich in die Herrschaft Christi keinen evangelischen Sinn mehr. P. Tillich, a.a.O., GesW, Bd. 8, 37. 13 H. Zahmt, a.a.O., 445. P. Tillich, Systematische Theologie I, Stuttgart 1955, 37, 238, 242ff. 15 P. Tillich, Syst. Theol. II, 191. 16 WA 39/1, 44ff; P. Althaus, Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben in Thesen Martin Luthers, LuJ 28 (1961), 30ff. 12
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Aber wie wir gesehen haben, geht auch Tillich über die Frage des Glaubens hinaus. Man kann sich nun allerdings fragen, ob es evangelisch legitim ist, die paulinische und lutherische Formel der Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben durch die Formel Tillichs zu ersetzen, die eigentlich mit folgenden Worten ausgedrückt werden müßte: Rechtfertigung aus Gnade ohne Glauben. Das sola fide durch ein sine fide zu ersetzen, ist das nicht gleichbedeutend damit, das solus Christus durch ein sine Christo zu ersetzen? Wir haben festgestellt, daß in lutherischer Perspektive der Glaube nicht als Werk des Menschen, sondern als Werk des Geistes im Menschen mittels der Erwählung und Berufung verstanden wird. Wie kann sich ohne dieses Werk der Kontakt, die Gemeinschaft mit der gerechten und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes ergeben, das heißt mit Christus, beim Hören und im Gehorsam gegen sein Wort, in der Umorientierung des Lebens von einem auf das Eigeninteresse gerichteten Leben auf ein Leben des Dienstes und der Hingabe? In dieser Perspektive erscheint es offenkundig, daß die Konzeption Tillichs in der Absicht, die Rechtfertigung von der sittlichen auf die intellektuelle Ebene auszuweiten, wobei er glänzend und eindrucksvoll nicht nur die Rechtfertigung des Sünders, sondern auch die Rechtfertigung des Atheisten verteidigt, Gefahr läuft, den Inhalt Ger Rechtfertigung zu entstellen und zu entleeren. Denn er verwandelt die Rechtfertigung aus Glauben in die Rechtfertigung aus Unglauben, und nimmt ihr also die Grundlage und ihren Sinn als Rechtfertigung kraft der Gerechtigkeit Christi weg, das heißt als Übergang des Menschen aus einem Leben, das sich um die Angel des Glaubens an sich selbst und an die eigene Gerechtigkeit dreht, in ein Leben, das sich um die Angel des Glaubens an Christus und an dessen Gerechtigkeit dreht. Kann und will man diese paradoxe Interpretation verstehen, kann man nicht umhin zu bemerken, daß in ihr tatsächlich der sehr charakteristische Kern der lutherischen Lehre, pas extra nos, beseitigt ist!. das heißt, die Notwendigkeit. der Predigt und 'des Hörens auf das EvangeliulIl und das Wort als Instrument der Vermittlung der Erkenntnis Gottes und seiner Gerechtigkeit. Wenn man die Verkündigung des Wortes und den Glauben an die Verkündigung des Wortes streicht, beseitigt man Christus. Man muß wohl an die typische Beobachtung Luthers denken, als er bei der Diskussion mit seinen Gegnern auf die Frage, ob es möglich sei, daß Gott seine Gerechtigkeit ohne Christus, sine Christo, gewährt, antwortete: "Das will und kann er nicht ... Die Gerechtigkeit wird nur durch den Glauben an Jesus Christus geschenkt. So ist's beschlossen, so gefällt es Gott wohl und daran wird nichts geändert. Wer mag seinem Willen widerstehen? Ist dem aber so, dann ist's ein noch viel ärgerer Hochmut, nicht durch Christus gerechtfertigt werden zu wollen. "17 Dem Wort 17
WA 56, 255f (MAE 2,131. 132).
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Christi nicht zu glauben, bedeutet weiterhin an sich selbst zu glauben. Haben wir hier eine Theologie vor uns, die für das 20. Jahrhundert gültig istt8 , oder einen beunruhigenden Ausdruck des Geistes dieses Jahrhunderts, in dem das, worum es geht, die Krise des Glaubens ist? Überläßt jetzt nicht der Sieg des Glaubens, der die Welt besiegt, den Platz dem Sieg der Welt über den Glauben, dem Konformismus des Glaubens und des unbeugsamen Freimutes seines Bekenntnisses gegenüber der Kultur und ihrer Doppeldeutigkeit, die letztlich doch nur das Verfahren der Philosophie Feuerbachs wiederholen und uns auf das non possumus unseres eigenen Geistes zurückweisen, der so in seinen eigenen Schlußfolgerungen bestärkt und nicht mehr durch das Evangelium beunruhigt wird?
11. Der eschatologische Hintergrund der Rechtfertigung
Das gesamte Gespräch über die Rechtfertigung Gottes, über die Gerechtigkeit, die aliena et non propria, die verborgen und nicht offenbar ist, über den amor sui und den amor Dei, über die theologia crucis, über das extra nos, über das simul peccator et iustus, über das solus Christus und das so la fide kann man nur richtig führen und es hat nur dann einen Sinn, wenn man es vor dem eschatologischen Hintergrund führt. Das wesentliche Element der~ Rechtfertigungsbotschaft ist nicht ihr Bezug auf anthropologische, kulturelle, sittliche und religiöse Instanzen der Gegenwart, sondern ihr Bezug auf die kommende Welt. Barth hat einmal gesagt: "Und wenn man bei den Reformatoren allerdings keine oder wenig Anregung zu einer eschatologisch zentrierten Dogmatik finden sollte, so wäre zu sagen, daß ihr Verhältnis zu den letzten Dingen sicher die schwächste, die am wenigsten nachahmenswerte Seite ihrer Lehre gewesen ist,· so daß wir uns durch sie auf keinen Fall als gebunden ansehen könnten. "1 Dies gilt unter anderem, weil sie in ihrem Zeitbegriff vor allem an der göttlichen Vorzeitigkeit, das heißt an der Prädestination, in einer solchen Weise interessiert sind, daß die Bestimmung des menschlichen Lebens in der Perspektive des kommenden Reiches entschieden in den Hintergrund tritt2 • Man muß sich vielleicht fragen, ob dieses Urteil insgesamt zutrifft und ob die Veränderung des eschatologischen Glaubens in eine Geschichtsphilosophie nicht eher bei Melanchthon beginnr. Der schottische Forscher 18 1 2
R. Bertalot, Paul Tillich: una teologia per il XX secolo, Rom 1971. K. Barth, KD 112, 980. K. Barth, KD 11/1, 712.
A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, Göttingen 1960; M. Greschat, Melanchthon neben Luther, Studien zur Gestalt der Rechtfertigungslehre zwischen 1528 und 1537, Witten 1965. 3
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Torrance hat die mittelalterliche Eschatologie klar der reformatorischen Eschatologie entgegengesetzt. Die mittelalterliche Eschatologie gründet sich auf den statischen Bezug zwischen dem ewigen, himmlischen Modell des Reiches Gottes und seinem irdischen, kirchlichen Spiegelbild. "Hier ist das Eschaton innerhalb der Kirche so gezähmt und untergebracht, daß es die Kirche, weit entfernt davon, unter dem jüngsten Gericht zu stehen, durch Binden und Lösen austeilt. Weit entfernt davon, Buße tun zu können und reformierbar zu sein, kann sich die Kirche nur gemäß ihrer eigenen immanenten Normen entwickeln, die dem festgelegten Modell des Gottesreiches entsprechen." Im Gegensatz zu dieser statischen Welt kann man die Eschatologie der Reformation als eine "Eschatologie der Bewegung" bezeichnen\ die von der Wiederentdeckung des lebendigen Gottes der Bibel ausgeht, der sich aktiv in die menschlichen Angelegenheiten einmischt und der Kirche das Bewußtsein vermittelt, in der letzten Zeit der Geschichte zu leben. Die Genese der theologischen Entwicklung Luthers ist unter diesem Gesichtspunkt äußerst aufschlußreich. Man kann tatsächlich feststellen, daß Luther nicht die notwendige geistliche Kraft gehabt hätte, sich gegen die Kirche als Erbin einer tausendjährigen christlichen Tradition aufzulehnen und das Bild einer anderen Kirche zu entwerfen, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß die traditionelle Kirche unter den Druck von Ereignissen mit letztgültigem Charakter geraten wäre. In der Atmosphäre des angleichenden Synkretismus und des dem heutigen Ökumenismus eigenen diplomatischen Kompromisses, in der man keine Linie mehr zwischen Ketzerei und Bekenntnis zu ziehen weiß5, klingen bestimmte geschichtliche Hinweise als dieser Phase nicht entsprechend. Aber dennoch muß man daran erinnern, daß sich Luther erst dann entschied, mit großem Freimut den römischen Koloß anzugreifen, als er nach seinem Appell vom schlecht informierten an den besser zu informierenden Papst einzusehen begann, daß die Untreue - heute würde man Säkularisation sagen - in der Kirche nicht zufällig war, nicht an Abweichungen einzelner oder von Strömungen oder von geschiehtlichen Perioden gebunden war, sondern Ausdruck eines Abgrundes von Bosheit war, gegen die nicht die Einberufung eines allgemeiIlen Konzils der Kirche nützen würde, sondern nur das Jüngste Gericht Christi im Augenblick seiner Erscheinung6 • Liither 4 T. F. Torrance, Kingdom and Church A Study in the Theology of the Reformation, Edinburgh - London 1956, 2. 5 K. G. Steck, Die christliche Wahrheit zwischen Häresie und Konfession, München 1974. Vgl. R. Bäumer, Martin Luther und der Papst, Münster 1971; W. Lohff, Papsttum und Kirchenspaltung. Wäre für Luther der Papst heute noch immer der Antichrist? Concilium 7 (1971), 260-262; H. Meyer, Das Papstamt in lutherischer Sicht, in: H. Stimimann - L. Vischer (Hg.), Papsttum und Petrusdienst, Frankfurt a.M. 1975, 73ff. 6 WA 12, 232ff; WA 42, 276ff; WA 50, 509ff; WATR 1, §491 zitiert bei T. F. Torrance,
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Subilia, Rechtfertigung
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suchte den Antichrist nicht mehr außerhalb der Kirche, wie. man _~~ im Mittelalter iafcfas seine Gegenwartirn Islarn
:clle
a.a.O., 15; ders., The Eschatology of the Reformation, in Eschatology, SlTh, Occasional Papers 2. 36. 62, Edinburgh - London 0.1. 7 H. Preuß, Die Vorstellung vom Antichrist im späten Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik, Leipzig 1906; W. Nigg, Das ewige Reich, Erlenbach - Zürich 1944, 206. 8 P. Althaus, Luthers Gedanken über die letzten Dinge, LuJ 23 (1941), 31. 9 G. Miegge, a.a.O., 491. 10 G. Miegge, a.a.O., 487. 491. 11 G. Miegge, a.a.O., 513. Vgl. E. Schlink, a.a.O., 364ff; M. Kobialka, Luther und der lüngste Tag, in Luther 47 (1976), H. 3, 132.
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steht12 • Dieses Bewußtsein in der "allerletzten Zeit", in den "allerletzten und äußersten Augenblicken" zu leben, unmittelbar vor dem Hereinbrechen des nahen Tages unserer Erlösung, des Tages, an dem Christus kommt, den wir in Kürze erwarten13 , wird eine Konstante in den Schriften nach 1520, so daß derR~formator den fortgesetzten Bau von Kirchen verhöhnt, als ob -a-er-Jüngste Tag nicht kommen müßte, und er die llo1fnung ausdrückt, daß ihn alle erleben können14 . Dieses Bewußtsein ist keinesfalls an futuristische Rechnungen geknüpft, die den menschlichen, sicherlich täuschenden und trügerischen Aspekt darstellen und die Luther offen zurückweist15 . Die nicht zufällige, theologische Grundlage dieses Bewußtseins ergibt sich daraus, daß sich der Glaube und die Hoffnung auf die Erscheinung Christi beziehen. Karl Barth hat richtig geschrieben: "Der ganze Jesus Christus des Neuen Testamentes kann ja wirklich nur als dieser kommende Erlöser verstanden werden. Ist er nicht der Kommende, dann ist er auch nicht der Gekommene. Wird die in ihm geschehene Versöhnung nicht futurisch verstanden, dann wird sie auch nicht perfektisch, dann wird sie also gar nicht verstanden. "16 Der Bezug zwischen Glaube und Hoffnung ist bei Luther konstant, auch wenn bei ihm das erste Wort dieses Bezuges unvergleichlich stärker als das zweite entwickelt ist. Wenn man diesen Bezug nämlich nicht begreift, versteht man von der ganzen Verkündigung Christi nichts. Luther stellt klar fest, daß gerade jener Glaube, der die Seele der Rechtfertigung ist, _anders nicht begründet und "ohne Hoffnung nichtig ist"17. Was ist denn der Glaube anderes als Glaube an das, was Gott verheißF8? Der Gott, der verheißt, ist ein Gott, der keine Beweise und Garantien dafür liefert, was er verheißt, und keine Möglichkeit gewährt, die Wahrhaftigkeit seiner Verheißung zu verifizieren. Er ist ein verborgener Gott, absconditus, der den Menschen anspornt, seinem Wort zu vertrauen, auch wenn dieses Wort in einer sehr offensichtlichen Weise durch die aktuelle Wirklichkeit Widerspruch erfährt. Seine Gerechtigkeit stellt sich sub contraria specie in einer solch widersprüchlichen Weise dar, daß sie uns als Ungerechtigkeit erscheint. "Siehe, so leitet Gott diese körperliche Welt in äußerlichen Dingen, daß, wenn man das Urteil der menschlichen Vernunft ansieht und ihm folgt, man gezwungen ist zu 12 WA 42, 334. Vgl. J. Tonkin, The Church and the Secular Order in Reformation Thought, New York - London 1971, 88 (auf der Grundlage von WA 43,387). 13 WA 40/1, 35. 627. 647. 14 W. Nigg. a.a.O., 207ff. 15 W. Eiert, Morphologie des Luthertums I, München 19582 , 447. 16 K. Barth, KD I12, 979. 17 WA 40/1, 21: "Fides sine spe est nihil." 18 U. Asendorf, Eschatologie bei Luther, Göttingen 1967, 39. Der Artikel von W. Joest, L'horizon eschatologique de la justificatio sola fide dans la pensee de Martin Luther, EtThRel 43 (1968), 69ff, löst die lutherische Eschatologie existentialistisch auf.
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Die lutherische Lehre
sagen, entweder daß kein Gott ist, oder daß er ungerecht ist. "19 Aber der Gegensatz zwischen dem Deus absconditus und dem Deus revelatus kann sich nicht ins Unendliche verlängern, er muß ein Ende haben: es handelt sich nicht um eine metaphysische, sondern um eine eschatologische Entgegensetzung2o• Wir "können inzwischen nicht glauben, daß er gerecht sei, obwohl er es uns verheißen hat, daß er es sein werde, wenn er seine Herrlichkeit offenbart hat, so daß wir alle es dann sehen und greifen sollen, daß er gerecht gewesen ist und es noch ist". Das eschatologische Licht wird zu den den jetzigen Ergebnissen entgegengesetzten führen und zeigen, daß die Gerechtigkeit Gottes, die sich unseren gegenwärtigen Begriffsmustern als "unverständlich" darstellt, völlig gerecht ist21 • Der Glaube, der seiner Natur nach ein Glaube an Dinge ist, die man nicht sieht und die man nur aufgrund der Verheißung Gottes glaubt, wird auf seinen eschatologischen Begriff gerichtet. Er stellt sich als Erwartung Gottes dar, eine Erwartung, daß Gott sein Wort hält und seine Gerechtigkeit beweist22 • Aber das Wort Gottes ist Christus, die Gerechtigkeit Gottes ist Christus. Christus ist also die Mitte des Widerspruchs zwischen Wort und Wirklichkeit, zwischen Glaube und Erfahrung, zwischen geglaubter Gerechtigkeit und festgestellter und erlittener Ungerechtigkeit. Und der Widerspruch wird erst am Tage seines Erscheinens aufgelöst werden, an dem unser verborgenes Leben offenbar werden wird, an dem die unter der Sünde verborgene Gerechtigkeit, der unter dem Gehorsam verborgene Ungehorsam, die unter der Gottlosigkeit verborgene Heiligkeit und unsere unter unserer Eigenschaft als Kinder Adams verborgene Eigenschaft als Kinder Gottes ans Licht kommen werden. In der Zwischenzeit führt die Rechtfertigungsbotschaft mit ihren eschatologischen Perspektiven ein erwartungsvolles und veränderndes Ferment in die Weltetn, das alles Bestehende iIiFrage stellt und ihm einen unaufhaltsamen Schwung, oasniWorbene zu überwinden, einprägt. Christus als Ereignis der Gerechtigkeit Gottes setzt die ganze persönliche und kollektive Geschichte in Bewegung, indem er alle erreichten und selbstsicheren Stellungen unruhig und unhaltbar macht: den Pharisäismus auf individueller, den Konservativismus auf gesellschaftlicher Ebene. Diese Aussage kann und muß auf der Grundlage der Lutherschen Theologie gemacht werden, wie sie sich aus den Texten ergibt, auch wenn diese Botschaft in der Geschichte durch die Zeitumstände und besonders einen patriarchalischen Begriff der Gesellschaft, der sich in hierarchisch unterschiedenen Ständen ausdrückte, gebremst, ernsthaft entstellt und bloßgestellt wurde. Dieser Begriff ist in der Mentalität Luthers offenkundig und ist in der Praxis kritischer Umstände aufgetaucht. Der aufkläreri20
21
W. von Loewenich, a.a.O., 36. WA 18, 784. 785 (MAE 1, 245).
19 22
WA 18, 784 (MAE 1, 245). WA 43, 367.
Der eschatologische Hintergrund der Rechtfertigung
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sche Begriff, nach dem die menschliche Welt keine schicksalshafte und unveränderliche Gegebenheit, deren Ordnungen und Strukturen durch transzendente Garantien geweiht und nicht Gegenstand von Änderungen sind, sondern eine rationale Organisation, die man nach neuen Bedürfnissen ändern kann, war noch in weiter Ferne. Man kann die Botschaft gewiß nicht aus ihrem geschichtlichen Rahmen lösen, aus der unmittelbaren und folgenden Praxis, die daraus hervorging, aber man kann auch nicht erlauben, daß bei der Bewertung ein Phänomen von Elephantiasis der Praxis zum Schaden der Botschaft vorherrscht: Es stünde im vollen Gegensatz zu den Kriterien, die die Rechtfertigungslehre bestimmen. Sowohl die Botschaft als auch die Praxis drehen sich tatsächlich um die Angel der Dialektik des Ereignisses Christus, das als Ereignis schon erfüllt ist und gleichzeitig ein Ereignis ist, das noch seiner Bestätigung harrt, seiner vollen endgültigen Sanktion, deren Bedeutung und Tragweite Ausdruck und Zeugnis in persönlichen und nachfolgenden geschichtlichen Kontexten finden sowie zur größten und endgültigen Offenbarung durch die fortgesetzte Dialektik der geschichtlich unüberwindlichen Spannung zwischen dem alten und dem neuen Menschen streben müssen. Alles, was der Glaube glaubt, behauptet, ankündigt, ist eine eitle Übertreibung von Illusionisten und Frustrierten, ein ideologischer Überbau, mit dem sie die Wirklichkeit bedeckt und idealisiert haben als einen Ersatz für ihre fehlenden Verwirklichungen, wenn er nicht mit der Offenbarung Christi offenbar werden muß. Die ganze Wirklichkeit wird auf diese Offenbarung bezogen: der Glaube und der Unglaube, die Hoffnung und der Zweifel, die Dialektik des Sinnes und des Unsinnes im Leben der einzelnen wie in der Menschheitsgeschichte. Die Hoffnung und die Verwirklichung der Hoffnung sind die Bedingung für die Wahrheit des Glaubens. "Denn wir warten im Geist durch den Glauben darauf, daß unsere Hoffnung auf Gerechtigkeit erfüllt wird" (Gal 5,5), sagt der Apostel. Der Reformator hat als Kommentar zum Apostel geschrieben, wenn man das Unternehmen des Glaubens in seiner Ganzheit umfassen wollte (totum fidei negotium), sei es notwendig, auch die Hoffnung gleichzeitig, simul, miteinzubeziehen23 • Die Gerechtigkeit konkretisiert sich nicht aktuell in der effektiven Wirklichkeit. Sie ist im tiefen Geheimnis der nicht offenkundigen Dinge verborgen2 \ sie ist "noch in der Hoffnung", nondum est in re, sed adhuc in spe-, "sie hängt noch an der Hoffnung" und muß "zu ihrer Zeit" offenbart werden25 • Voller Erwartung "erträgt und überdauert die Hoffnung das Übel und besiegt es", bis die Gerechtigkeit offenbart wird, "die wir glauben und erhoffen", bis sich jene Offenbarung auswirkt, an der "wir alles haben", weil "in der Theologie Glaube ohne Hoffnung 23
25
WA 40/2, 23. WA 40/2, 24. 25.
24
WA 5,84; U. Asendorf, a.a.O., 39.
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Die lutherische Lehre
nichts ist"26. In der Zwischenzeit, im "interim", in dem wir leben, "lehren wir das Wort und breiten die Erkenntnis Christi bei anderen aus". Wenn wir dieses Zeugnis ablegen, sind wir dem Gegensatz zur Welt und dem Widerspruch in der Kirche ausgesetzt, aber in der Hoffnung auf die Verheißungen der Schrift gestärkt27. In diesem "interim", "werden wir im Schoß der Barmherzigkeit und göttlichen Geduld getragen und gepflegt, bis unser sündiger Körper zugrunde geht und wir an jenem Tage neu auferweckt werden. Dann werden neue Himmel und eine neue Erde sein, in denen die Gerechtigkeit wohnen wird"28.
12. Die Rechtfertigung aus Glauben und das Urteil nach den Werken
Nach achtzig Jahren der Erforschung des eschatologischen Motivs im Umkreis der neutestamentlichen Botschaft kann man leicht dazu gebracht werden, seine Problematik auf anachronistische Weise rückwärts in die Theologiegeschichte zu verlegen, um dann ihr zu seltenes Vorkommen im Denken Luthers zu kritisieren. Man muß jedoch beachten, daß es hier nicht nur eine geschichtliche, sondern auch eine bedeutende theologische Motivation dafür gibt, daß die Eschatologie in der Lutherschen Rechtfertigurtgslehre relativ knapp erscheint. Wenn Luther, gebraucht man die kritischen Worte Karl Barths, das nachzeitliche Moment der Eschatologie in einer für unsere heutige, exegetische Sensibilität unbefriedigenden Weise unterstrichen hat, so liegt das grundsätzlich daran, daß er ein lebhaftes Bewußtsein hatte, daß im Evangelium die jüdische, in die Zukunft gerichtete Eschatologie überwunden wurde. Luther hat sich nach einer christlichen und nicht einer jüdischen Eschatologie ausgerichtet. Denn er hat verstanden, daß das Eschaton in seinem entscheidenden Moment im Ereignis Christus, der die Gerechtigkeit Gottes kundgetan hat, eingebrochen ist, auch wenn diese Offenbarung nicht mit der endgültigen Offenbarung verwechselt werden darf. Ihr gegenüber bildet sich ein unüberwindlicher Spannungs zustand in der gegenwärtigen Heilsökonomie, wovon die "Schwärmer" träumten. Alle Entwicklungen seiner Theologie haben als Mitte und Grund das Bewußtsein des anbrechenden Eschatons in Christus und der Gestalt der Botschaft und des Glaubens in all ihren Aspekten in bezug auf diesen Anbruch, der einmal erkannt, andere konkurrierende Elemente nicht mehr zuläßt. Tatsächlich besteht seine wesentliche Kritik an der katholischen wie auch der humanistischen Ethik, wenn man genau hinschaut, darin, daß sie fest auf vorchristlichen Positionen beharren und kein radikales Bewußtsein des sich in Christus 26
28
WA 40/2,27.29. WA 40/1, 372.
27
WA 40/2, 29.
Rechtfertigung aus Glauben und Urteil nach den Werken
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ereigneten Eschatons haben1 • Die katholische Ethik mit ihrer Synthese aus dem Werk Christi und den Bestandteilen der aristotelischen Ethik, mit ihrer Zucht der wiedergutmachenden Genugtuung und der frommen Übungen des geistlichen Lebens im sakramentalen Rahmen der Beichte und Absolution, verstanden als Wiedererlangung der verlorenen Gnade, sowie mit ihrer TheOlogie der Verdienste und die humanistische Ethik, die das sittliche Leben in der Spannung zwischen wirklichem' Sein und idealem Sollen versteht, setzen sich unter verschiedenen Voraussetzungen, aber mit zusammenlaufenden Perspektiven die Konstruktion des gerechten Menschen als Endziel und Ergebnis einer ständigen Anstrengung, sich den Geboten Gottes oder den Forderungen des Sittengesetzes anzupassen2 • Die Gerechtigkeit stellt das letzte Ziel dar, das man nach einer ermüdenden Reihe vorletzter Etappen erreicht. Es besteht die Möglichkeit, daß sie sich erst am Ende als abschließende Krönung sittlicher Teilerrungenschaften verwirklicht. Die ethische Aktivität neigt als Schöpferin gerechter Werke dazu, den, der sie tut, in Übereinstimmung mit seiner Berufung und Würde als Mensch zu einem gerechten Menschen zu machen: Die Rechtfertigung ist Folge der Heiligung. Luther kehrt dieses Schema um, indem er behauptet, daß der Mensch nicht gerecht sein wird, sondern es schon ist und in dem Maße, wie er es ist, gerechte Werke tun kann: Die Heiligung ist die Folge der Rechtfertigung und nicht umgekehrt; die Rechtfertigung ist nicht End-, sondern Ausgangspunkt; man muß sie nicht erwerben, sondern, wie sie in Christus verwirklicht ist, glauben. Darf man denken, daß die Beharrlichkeit Luthers in der Polemik um das sola lide an dem Punkte übertrieben gewesen ist, wo er die sittlichen Implikationen des Evangeliums nicht energisch genug unterstrichen hat? Stellt der Radikalismus der lutherischen Rechtfertigung die Grundlage der Ethik in Frage? Seit dem 16. Jahrhundert hat man sich seitens der Katholiken, Spiritualisten, Täufer und Humanisten wegen des lutherischen Phänomens über das Gespenst einer Auflockerung der Ethik aufgeregt sowie harte Kritiken und sogar boshafte Anklagen gegen Luther angesammelt. Im 17. Jahrhundert haben die Pietisten, im 18. Jahrhundert die Methodisten in verschiedenen Formen diese Kritik wiederholt und ein vollkommeneres Christen1 Die These ist offenkundig bei der ständigen paradoxen und formal unhaltbar erscheinenden Angleichung der jüdischen, katholischen, sektiererischen und mohammedanischen ("türkischen") Positionen, die man z.B. im Galaterbriefkommentar vorfindet: WA 40/1, 603ff. Luther behauptet, daß für die Anhänger dieser Positionen, wie sehr sie sich auch in ihren Voraussetzungen und äußerlichen, kultischen und ethischen Formen unterscheiden, gilt: "Sie können sich nicht höher erheben als jener Pharisäer bei Lukas" (18,1lff). "Sie kennen die Gerechtigkeit des Glaubens oder die christliche nicht ... Es gibt keinen Mittelweg zwischen menschlichem Wirken und der Erkenntnis Christi; ist das verdunkelt, dann ist es gleich, ob du Mönch oder Heide usw. bist." 2 H. Thielicke, Theologische Ethik I, Tübingen 1965 3 , 79, 85, 87.
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Die lutherische Lehre
turn als jenes verteidigt, das von der Lutherschen Rechtfertigungsbotschaft herstammt. Im angelsächsischen Aktivismus des 19. Jahrhunderts wie im sozialen Christentum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in den gegenwärtigen soziologischen Tendenzen in den Kirchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man diese Botschaft getadelt und tadelt sie wegen ihrer Einseitigkeit und Abstraktheit. Man erachtet sie als ungeeignet für tatsächliche, praktische Verwirklichungen und verdächtigt sie offen eines Idealismus, der für die unmittelbare, geschichtliche Verantwortung unempfänglich sei, man klagt sie als Ursache für sozialen Konservatismus an. Seit Engels sind die marxistischen Verfasser besonders streng mit dieser Anklage gewesen, indem sie Luther als "Repräsentant(en) der bürgerlichen Reform" darstellten3 • Die spätere Entwicklung des Luthertums im deutschen Sprachbereich scheint diese Kritiken sachlich zu bestätigen. Heute will man schließlich katholischerseits - H. Küng! - Karl Barth für die Front gegen die angeblich antiethische Position Luthers in die Reihen des Katholizismus anwerben 4 • Dies hat man einfach nicht verstanden und versteht es nicht: es handelt sich nicht um eine Antiethik, sondern es handelt sich um zwei Ethiken. In dieser Hinsicht gibt es ein außerordentlich klares Wort Luthers in der Schrift von 1520, die gerade die guten Werke behandelt: "Daher kompts, wan ich denn glauben szo hoch antzihe und solch ungleubige werck furwirff, schuldigen sie mich, ich vorbiete gute werck, szo doch ich gerne wolte recht gutte werck des glaubens leren. "5 Um seinen Gedanken besser zu erläutern, greift Luther ein Gleichnis auf, das man in seinen Schriften häufig findet: "Darumb ist die rede, szo etlich sagen, es seyen gute werck vorboten, wan wir den glauben allein predigen, gleich der rede, als wan ich sprech tzu einem krancken ,hettestu die gesuntheit, szo hettestu die werck der glidmasz alle, on welche aller glidmasz wirckenn nichts ist', und er wolte drausz nemen, ich het der glidmas werck vorboten, so ich doch gemeint, die gesuntheit zuvor musz sein und wircken alle werck aller glidmaszen: alszo auch der glaub musz werckmeister und heubtman sein in allen wercken odder sein gar nichts. "6 Es steht ein klarer Gegensatz auf dem Spiel: der Gegensatz zwischen einer Ethik nach eigenen Zielen und einer Ethik nach Gottes Zielen. Die erste ist vom amor sui, die zweite vom amor Dei beseelt. Die erste ist eine Ethik, die nur scheinbar offen auf den Dienst Gottes ausgerichtet und dem Dienst am Nächsten gewidmet ist. In F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 197411 , 54. H. Küng, Rechtfertigung, Die Lehre K. Barths und eine katholische Besinnung, Einsie· dein 1957, 231; H. Beintker, Glaube und Handeln nach Luthers Verständnis des Römerbriefes, LuJ 28 (1961), 53ff. F. Buri, Christlicher Glaube in dieser Zeit, Bern 1952, 82, gießt schließlich noch Öl ins Feuer, indern er behauptet, daß die Predigt der stellvertretenden Gerechtigkeit "zur Aufhebung jeder Ethik, zum Nihilismus" führt. 5 WA 6, 205. 6 WA 6, 213. 3 4
Rechtfertigung aus Glauben und Urteil nach den Werken
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Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine Ethik, die in der Suche nach sich selbst und der Selbstbehauptung tief verwurzelt ist, in der Absicht, die eigene Herrschaft über die anderen aufrechtzuerhalten, ihre geistliche und materielle Armut auszubeuten und dadurch das eigene Gewissen zu befrieden, die eigene Frömmigkeit zu bereichern, den eigenen Einfluß auszudehnen sowie die eigene Gerechtigkeit vor Gott zu sichern. Der Mensch, der wegen der Begrenztheit der eigenen Person die Herrschaft in der profanen Welt nicht erlangt, überträgt diese Neigung in den religiösen Bereich, indem er sie in unverdächtige, sakrale Verkleidungen hüllt: der Wille zur Macht und zur Herrschaft wird zum Paternalismus, aber er ändert und bekehrt seine Natur nicht, er tarnt lediglich seine Methoden. Nicht umsonst erklärt Luther: "Also folgt aus der Gerechtigkeit des Gesetzes nichts anderes als wahrer Götzendienst; und an sich ist Götzendienst Gerechtigkeit aus den Werken, weil sie die Herstellung eines fremden Gottes ist, die nichts anderes macht, als daß ich mich selbst verehre. .. es ist eine unmögliche Zusammenstellung, aus dem Gesetz gerecht zu sein und Gott zu haben. Gott zu fürchten und zu verehren und aus dem Gesetz gerecht sein zu wollen, widerstreiten sich mehr als Feuer und Wasser, als Teufel und Gott. "7 Der Mensch, der auf der Linie und angesichts dieser Ethik wirkt, "beraubt" Gott seiner wahren Gottheit und rückt ihn als Gott zur SeiteB• Seine moralischen, religiösen und christlichen Werke sind also in der Wurzel amoralisch, irreligiös und antichristlich. Die Ethik, die Luther dieser Ethik des auf sich selbst konzentrierten Menschen entgegensetzen will, ist eine von all diesen Sorgen freie Ethik. Der Mensch, der an Gott glaubt, ist ein Mensch, der aufgehört hat an sich selbst zu glauben, der also seiner eigenen Herrschaft abgesagt hat, das heißt, er hat es nicht mehr nötig, sie mit allen verdeckten oder aufgedeckten Mitteln zu stützen. Das Evangelium hat ihn von seiner Konzentration auf sich selbst abgelenkt, es hat ihn endgültig in seinen Gedanken auf Gott gerichtet und sein Handeln auf die Spur des Werkes Gottes gesetzt. In dem vom Evangelium erreichten Leben wirkt sich eine radikale Krise aus, weswegen er nicht mehr für sich selbst, sondern in allen Dingen für Gott lebt, der ihn berufen hat, "non vivimus nec sumus nobis, ... sed omnia Domino"9. Gott als Herrn zu bekennen und Gott als Herrn in einem Geist der Liebe, im Hören und Gehorsam zu dienen, nicht mehr von Eigeninteressen bewegt, sondern im Interesse Gottes und vom Interesse für seine Sache, sind nicht zwei verschiedene Dinge. Wenn sie es sind, so ist es ein Zeichen dafür, daß der Mensch noch jenseits der Anerkenntnis Gottes als des Herrn, noch jenseits des Glaubens, noch im Unkreis der Selbstliebe ist 7
8 9
WA 40/3, 356ff. P. Althaus, Luther und die Rechtfertigung, Darmstadt 1971, 23. WA 56, 505.
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Die lutherische Lehre
und noch an sich selbst glaubt10. Wenn es kein Werk gibt, so ist es ein klares Zeichen, daß es auch keinen Glauben gibt. Luther drückt sich in dieser Hinsicht klar aus; seine Erklärungen dazu sind zahlreich und man braucht nur auszuwählen, was am bedeutungsvollsten erscheint. Der Glaube wäre ein toter Glaube, wenn er keine Werke, keine Ethik, gar etwas noch Radikaleres als isolierte Werke, die aus einem umfassenden Kontext herausgelöst sind, hervorbrächte: eine vom bisherigen Leben völlig unterschiedene Ausrichtung auf Hingabe und Dienst statt auf Egoismus und Gewinn. "Wenn nun die Werke nicht folgen, ist gewiß, daß dieser Glaube an Christus nicht in unserem Herz wohnt, sondern jener tote, d. h. erworbene Glaube. "11 Es überrascht, daß Luther die Formulierungen für die Werke aus dem Jakobusbrief nimmt, den er sosehr kritisiert12 • Wie der Jakobusbrief sehr wahrscheinlich einer Spätzeit, einer theologischen und kirchlichen Lage, in der sich schon Entstellungen und Degenerationen der paulinischen Gnadenbotschaft gezeigt haben, zugerechnet werden muß, so kann auch Luther auf eine analoge Erfahrung gestoßen sein. Gewiß vergleicht er seit seinem Römerbriefkommentar von 1515-1516 den aus Glauben Gerechtfertigten dem Kranken, bei dem durch das Eingreifen des Arztes und durch die Anwendung der Medikamente der Heilungsvorgang beginnt, und er hält daran fest, daß das Leben der Christen nicht in einem Zustand der Ruhe, sondern in der Bewegung vom Guten zum Besseren besteht, wie für den Kranken von der Krankheit zur Gesundheit13 • 1520 ist das Jahr der Schrift "Von den guten Werken", die wir oben zitiert haben. In einer anderen Schrift aus diesem Jahr erklärt Luther offen, daß "der Glaube nicht ohne Werke ist", und "Es ist unmöglich, daß der Glaube ohne unablässige, viele und große Werke ist"14. 1535 bemerkt er lebhaft und energisch, daß, wenn man über das Thema Rechtfertigung debattiere, müsse man vorbehaltlos, und ohne etwas zu verschweigen, die guten Werke verwerfen: Es handelt sich um verschiedene Argumente (loei): "wir dulden nicht, daß sie vermischt werden. Zu seiner Zeit werden wir dieses Argument behandeln, daß das Gesetz und gute Werke getan werden müssen. "15 Luther wußte sehr gut, daß "der Glaube ohne Werke nichtig und unnütz ist", er ist "ein besessener Gedanke, eine bloße Eitelkeit und ein Traum des Herzens; er ist falsch und rechtfertigt nicht"16. Aber aufgrund des Evangeliums konnte er nicht zugeben, daß die Rechtfertigung nicht nur dem Glauben, das heißt dem Werk Christi, sondern auch den menschlichen Werken zugeschrieben würde. WA 56, 512. . 11 WA 39/1,46, These 30. P. Althaus, Die Rechtfertigung allein aus dem Glauben in Thesen Martin Luthers, LuJ 28 (1961), 33, 41. 13 WA 56, 272, 441. 14 WA 7,231. 15 WA 40/1, 253. 16 WA 40/1, 266. 10
12
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Die Behandlung der Notwendigkeit der Werke und des dogmatischen Bezuges zu, Rechtfertigung war vorgesehen. Aber es ist vielleicht kein Zufall, daß 'er besonders hartnäckig und ausführlich das Thema Heiligung gerade zur Zeit seines Kampfes gegen die Antinomer hervorhebt17 • In seinem Werk" Von den Konziliis und Kirchen" spricht er von den Antinomisten, als von Gruppen, die seine Rechtfertigungsbotschaft mißverstanden hatten, als habe er das Gesetz Gottes mit all seinen Forderungen für nichtig erklärt. Er behauptet, daß sie mit überzeugender Beredsamkeit das Thema des zweiten Artikels entfalten können, das heißt die Gnade Christi, die Vergebung der Sünden und alles, was die Erlösung betrifft: sie meinen, die christliche Predigt sei weit davon entfernt, das Volk zu erschrecken und zu betrüben, sie müsse es trösten. Aber sie fliehen vor den Folgerungen wie der Teufel, das heißt vor dem dritten Artikel, der die Heiligung, das neue Leben in Christus, betrifft. "Denn solcher Christus ist nichts und nirgent, der fur solche sunder gestorben sey, die nicht nach der vergebung der sunden von den sunden lassen und ein neues leben führen." Die Überlegung, die sie vor den Menschen anstellen, folgt diesem Schema: "Bistu ein Ehebrecher; ein hurer, ein geitzhals oder sonst ein sunder, gleubestu nur, so bistu selig, darffest dich fur dem Gesetz nicht fürchten, Christus hats alles erfüllet. "18 Das heißt, sie unterstellen die Möglichkeit der Koexistenz von Glaube und Unbeweglichkeit, das heißt moralischer Trägheit; sie wissen nicht, daß die Rechtfertigung "eine Wiedergeburt zu neuem Leben" ist19 • Die Ethik Luthers geht also aus der Mitte seiner Theologie hervor, der Theologie der Gottesgerechtigkeit und des Glaubens. Nicht umsonst greift Luther ständig auf das evangelische Gleichnis des Baumes und der Früchte zurück: Es sind nicht die Früchte, die den Baum erzeugen, sondern es ist der Baum, der die Früchte" nämlich die Werke, erzeugt. "Man muß sie als Früchte der Gerechtigkeit tun, nicht als bewirkten sie die Gerechtigkeit. Als schon Gerechtfertigte müssen wir sie tun nicht umgekehrt, daß wir uns 17 R. Hermann, Zum Streit um die Überwindung des Gesetzes, Erörterungen zu Luthers Antinomerthesen, Weimar 1958; J. Rogge, Johannes Agricolas Lutherverständnis unter besonderer Berücksichtigung des Antinomismus, Berlin 1960; M. Schlömann, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, Eine Studie zur Frage nach der Einheit der Gesetzesauffassung Luthers mit besonderer Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit den Antinomem, Berlin 1961; L. Pinomaa, Sieg des Glaubens, Grundlinien der Theologie Luthers, Göttingen 1964, 95 ff. 18 WA 50, 599; WA 47,672. Luther sagt in den Thesen gegen die Antinomer, man soll sich vor der Lehre der Papisten über die Buße hüten, als ob es sich um die Hölle und den Teufel selbst handele, aber noch viel mehr vor der Lehre jener, die in der Kirche keine Buße mehr gelten lassen und lehren, daß man das Gesetz nicht mehr unterrichten dürfe: WA 3911, 352. 19 WA 39/1,48, These 65; WA 47,673. E. Ellwein, Vom neuen Leben De novitate vitae, Eine systematische und theologiegeschichtliche Untersuchung zur Lehre vom neuen Leben, München 1932.
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als Gerechte darstellen, obwohl wir ungerecht sind. "20 Mit einer noch synthetischeren Formel behauptet Luther: "So lebt der Mensch nicht, weil er handelt, sondern weil er glaubt. Indem er glaubt, erfüllt er das Gesetz. "21 13. Die Grundlagen des Menschlichen
Die universale Tragweite dieser Behauptung darf uns nicht entgehen. Ihre Beschränkung auf die theologische und religiöse Sphäre kommt ihrem Unverständnis gleich. Die lutherische Problematik beim Bezug von Glauben und Werken bestimmt einen radikalen Bruch mit der Darstellung des Menschen, wie sie der gesamten Philosophie eigen ist, die zur Bildung des westlichen Humanismus geführt haF. Auf die Frage, die Gott dem Menschen nach Genesis 3,9 zurief - Adam, wo bist du? -, scheint das abendländische Denken von Aristoteles bis Marx auf der Suche nach der Bestimmung der humanitas eine konstante Antwort zu geben. Nach jener aristotelischen Ethik, die Luther als "die verabscheuungswürdigste Feindin der Gnade" kennzeichnete 2 und die einen tiefen und dauerhaften Einfluß auf die katholische Ethik durch die Einübung tugendhafter Werke gehabt hat, dadurch daß sie sich zur Gewohnheit (habitus) verfestigt haben, formt sich der Charakter, das heißt, bildet sich der gerechte Mensch. Also wird der Mensch dadurch gerecht, wie Moltmann bemerkt hat, daß er das tut, was gerecht ist. Menschlichkeit und Unmenschlichkeit sind in seinen Händen. "Er ist ständig die Möglichkeit seiner selbst." "Ist der Mensch das, was er aus sich macht, dann ist sein Menschsein seinem Tun unterworfen ... Ist also der Mensch das, was er aus sich macht, so ist er seinen eigenen Werken gegenüber gerade nicht frei, sondern von ihnen abhängig und ihnen unterworfen. Sie machen im Grunde ihn, nicht er sie. "3 Man stellt den Primat der Handlungskategorien über die Seinskategorien fest. In der säkularisierenden Entwicklung der Gesellschaft, die auf die industrielle Revolution folgt, hat sich der Mensch als Erzeuger gerechter Werke in den Menschen als Erzeuger wirtschaftlicher Güter verwandelt. Die "ausbeutende Leistungsgesellschaft" des kapitalistischen Systems, in dem der Lohnarbeiter "den Gewinn Anderer" produziert, kann richtig als WA 40/1, 287; WA 56,255; WA 2,492; WA 39/1, 283. WA 40/1, 428: "Sie homo vivit non propter facere, sed credere. Credens autem facit legern." 1 E. Wolf, Menschwerdung des Menschen? Zum Thema Humanismus und Christentum, in Peregrinatio II, München 1965, 135. 2 WA 1, 221ff, These 41. 3 J. Moltmann, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung, Versuche über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, München 1971, 51f. 20
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"institutionalisierte Werkgerechtigkeit" definiert werden4. Marx hat zu Recht bemerkt, daß der Bezug des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit ein entft;emdender Bezug ist, "so ist die Tätigkeit des Arbeiters nicht seine Selbsttätigkeit. Sie gehört einem anderen, sie ist der Verlust seiner selbst"5. Aber die Kritik von Marx schließt die Philosophie der Praxis nicht aus, sondern bekräftigt sie: der Mensch muß aus seinen durch die Produktion enthumanisierten Lebensbedingungen befreit und verantwortliches Subjekt werden; aber er bleibt in den Produktionsprozeß eingegliedert und er strebt danach, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, indem er Natur und Gesellschaft zum Gegenstand seiner verändernden Tätigkeit erhebt, die nun frei und bewußt ist. Damit verwirklicht er sich selbst und das Leben der Gattung 6• Die antike, aristotelische Definition des Menschen als animal rationale, die eine statische Anthropologie verrät, räumt den Platz für jene Definition des Menschen als Arbeiter? Marx hat behauptet, daß "die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit", so daß "er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst" hat und nunmehr "die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen" praktisch als unmöglich betrachten kanns. Moltmann hat beobachtet: "Marx blieb anthropologisch im Banne der aristotelischen Tugendlehre, nach der der Mensch das ist, was er aus sich macht; ein Schöpfer seiner selbst, causa sui ... Der Mensch ist wesentlich ein Produzent ... Doch damit blieb Marx ja im Banne der kapitalistischen Produzentengesellschaft und hielt an ihrem ersten Prinzip fest. Er brach ideologisch nicht mit dem ,Zwang der Werke' (necessitas operum), sondern wollte diesen Zwang nur so umfunktionieren, daß aus der Arbeit unter fremder Zwecksetzung eine Tätigkeit wird, die sich Selbstzweck ist, und aus Fremdbestimmung Selbstbestimmung wird. "9 Die Botschaft der Reformation, die die Alternative zwischen der Werkgerechtigkeit 'Und der Glaubensgerechtigkeit "ohne des Gesetzes Werke" stellt, setzt sich in einen radikalen Gegensatz zur mittelalterlichen Religiosität mit ihrem ganzen Apparat guter Werke, die den gerechten Menschen hervorbringen, und zur hellenistisch-humanistischen Tradition mit ihrem 4
5
J. Moltmann, a.a.O., 56. K. Marx, Texte zu Methode und Praxis, Bd. 2, Pariser Manuskripte 1844, Reinbek 1966,
55. 6 F. van de Oudenrijn, Kritische Theologie als Kritik der Theologie, Theorie und Praxis bei Karl Marx. Herausforderung der Theologie, München - Mainz 1972, 94. 7 A. Rich, Marxistische und christliche Zukunftshoffnung, Zürich 1955, 6; L. Pellicani, Introduzione a Marx, Bologna 1969, 11; G. Girardi, Marxismo e Cristianesimo, Assisi 19705 , 58. 8 K. Marx, a.a.O., 85f. 9 J. Moltmann, a.a.O., 60f.
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System der Tugenden, die den weisen, freien und aut'onomen Menschen erzeugen. Man muß einfach sehen, daß sich diese Botschaft der Reformation ebenfalls der nachfolgenden Wirtschaftsgesellschaft und deren Arbeitsdisziplin entgegensetzt, die einerseits einen Menschen erzeugt, der der Ausbeutung durch den Kapitalisten unterworfen ist, andererseits den Menschen als freien Schöpfer der Welt, der nicht von irgendeiner höheren, göttlichen oder Arbeitgeberinstanz abhängig ist. Die Isolierung zu fürchten, die aus diesen radikalen Gegensätzen stammt, und sich versuchen zu lassen, sich der einen oder der anderen Seite anzugleichen, bedeutet für den Protestantismus, seine eigene Botschaft zu verlieren, das heißt aufzuhören, er selbst zu sein. In der Perspektive dieser Botschaft wird die Behauptung des Menschen als eines Erzeugnisses seiner Werke buchstäblich umgekehrt. In den Thesen De fide von 1535 behauptet Luther: "Es ist deshalb unmöglich, durch Werke gerechtfertigt zu werden, weil es unmöglich ist, daß wir aus unseren Werken geboren werden, sondern die Werke werden eher (sozusagen) aus uns geboren." Es ist eine Lästerung zu meinen, "daß unsere Werke uns erschaffen oder daß wir die Geschöpfe unserer Werke seien" , zu denken, "daß wir uns selbst gemacht haben und daß nicht Gott uns gemacht hat. Wie es also lästerlich ist, zu sagen, man sei selbst sein eigener Gott, Schöpfer und Erzeuger, so ist es lästerlich, zu sagen, man werde aus den eigenen Werken gerechtfertigt. "10. Der Anthropologie des Menschen, der sich aus sich selbst durch Werke der eigenen Religiosität oder der eigenen Arbeit hervorbringt, setzt Luther die Formel entgegen, daß der Mensch aus Glauben gerechtfertigt wird, das heißt, der Mensch lebt nicht für sich selbst und in sich selbst, sondern in Gott und für Gottl l . "Er meinte damit: es führt kein Weg des Tuns von der unmenschlichen zur menschlichen Wirklichkeit des Menschen, denn es führt kein Weg vom Tun zum Sein. Was einer im Grunde ist, geht dem voran, was er tut, und zeigt sich in seinem Tun. Nicht sein eigenes Tun verändert ihn im Grunde. Eine gründliche Veränderung geschieht erst durch das schöpferische Handeln Gottes an ihm. "12 Es handelt sich auch nicht einfach um den Gegensatz von Sein und Tun, sondern um den Gegensatz von Sein und Tun zu dem Glauben. Aber ist der Glaube einmal gegenwärtig, kann er auch nicht für einen Augenblick abstrakt aufgefaßt werden als ein Glaube an sich, ein Glaube ohne Inkarnation, vom Handeln getrennt, der ohne Handeln bestehen könnte wie ein über die Banalität der alltäglichen Praxis zu tröstlichen und entschädigenden Zielen gleitendes Ideal. Das Leben des Glaubens äußert WA 3911, 48. WA 3911,1976, Die Disputation de homine von 1536. Vgl. G. Ebeling, Disputatio de homine, I,Text und Traditionshintergrund, Tübingen 1977. 12 J. Moltmann, a.a.O., 52. 10
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sich im konkreten Handeln, in einer bestimmten persönlichen Existenz und einer bestimmten geschichtlichen Lage, gerade wie das organische Leben eines menschlichen Wesens die eigene Vitalität in der Tätigkeit der verschiedenen Organe zeigt13 • Dieser Realismus des Glaubenslebens steht zu seinem Ursprung nicht in einem Verhältnis des Gegensatzes, sondern der Abhängigkeit.
14. Eine Ethik als Zeugnis in der Weltlichkeit Das ethische Gespräch kann also nicht realistisch, konkret und vor allem mit evangelischer Treue geführt werden, wenn die Theologie, die die Ethik leitet, nicht auch immer die Theologie des extra se ist. Mit anderen Worten: die christliche Möglichkeit der Ethik kann sich nur unter der Bedingung in ihrer Authentizität verwirklichen, daß die Ethik eine Ethik bleibt, die grundsätzlich vom 1. Gebot beseelt ist, das heißt eine Ethik des Zeugnisses 1• Zu sagen, daß die Ethik eine Ethik des Zeugnisses ist, bedeutet vor allem zu sagen, daß sie eine Ethik ist, die Zeichen und Hinweis gibt, die über sich selbst hinausweist, die nicht zum Vorteil dessen geübt wird, der bezeugt, sondern im Interesse dessen, von dem sie zeugt. Sie steht nicht im Dienste des Menschen, seiner Reinigung, seiner Vervollkommnung, seines irdischen und himmlischen Heils, sondern im Dienste Gottes, der den Menschen zum Glauben gerufen hat, das heißt, damit er nicht mehr von der Selbstliebe, sondern von der Liebe zu Ihm beseelt lebt. Der Mensch, den die Liebe Gottes erreicht hat, ist jedoch nicht gänzlich von der Selbstliebe befreit. Vielmehr lebt er in ständigem Streit zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen, die sich in ihm hin und her bewegen. Deshalb muß er einen scharfen Kampf gegen sich selbst führen, um die Selbstliebe zu unterdrücken, um zu wachen, daß sie nicht von neuem die Oberhand über die Gottesliebe gewinnf. Wer nicht männlich zum Angriff gegen sich selbst und die eigenen Neigungen übergeht, hat nicht das Recht, von der Barmherzigkeit Gottes und der Rechtfertigung zu sprechen3 • Aber im Unterschied zu den Pietisten des 17. Jahrhunderts, die gewisse Linien der "Spiritualisten" des 16. Jahrhunderts verfolgen, weiß Luther sehr gut, daß der homo incurvatus in se auch bei der Heiligung noch aktiv sein kann und seine Zeit damit verbringt, seinen Puls als WA 6, 212; vgl. P. Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965, 24. WA 30/1, 139, 181. A. Peters, Glaube und Werk, Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der heiligen Schrift, Berlin - Hamburg 1962, 66. 2 P. Althaus, a.a.O., 26. 3 WA 56, 350; H. Beintker, Die Überwindung der Anfechtung bei Luther, Berlin 1954, 79ff. 13
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Bekehrter zu fühlen, um das Auf und Ab seiner geistlichen Fieberkurve festzustellen. In seinen Texten findet sich aber nie ein Interesse, das sich auf die eigene Frömmigkeit konzentriert, eine Glaubenspsychologie. Es herrscht das heitere und dynamische Bewußtsein des wiederentdeckten Evangeliums und der Notwendigkeit, die Kenntnis der Gottesgerechtigkeit zu verbreiten, die hier trotz aller antiken und neueren Entstellung verkündigt wird. Zweitens ist eine Ethik des Zeugnisses eine Ethik, die sowohl mit dem Glauben als auch mit der Hoffnung verbunden ist, das heißt, sie bezieht sich auf Ihn, an den man glaubt und auf den man hofft: Zwischen der Wirklichkeit und dem Zeichen, das sie darstellt, das heißt zwischen Ihm, der bezeugt wird, und der Art, auf die man Ihn bezeugt, besteht in ihr notwendigerweise immer eine Spannung. Diese Art kann sehr häufig, statt richtungsweisend zu sein, verwirrend sein: die Ethik lebt jeden Tag von der Vergebung der Sünden. Er, der mittels des Zeugnisses der Ethik bekannt wird, wird von ihr sehr oft verleugnet, so daß man ihn nicht wegen jenes Zeugnisses, sondern trotz jenes Zeugnisses suchen muß. Statt daß die Gerechtfertigten in ihrer Ethik seine Gerechtigkeit offenbaren, erfährt sie von ihnen Widerspruch und wird geleugnet. So wird sie zum Gegenstand der Ablehnung und Lästerung. Eine schwerwiegende Verantwortung für den Skeptizismus und den Atheismus lastet auf der Ethik der Gerechtfertigten, die, statt der Gerechtigkeit Gottes, die Ungerechtigkeit des alten Menschen bekennen. Dieser ist unfähig, sich zum neuen Menschen zu erneuern, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und beauftragt ist, die Verwirklichung des Reiches Gottes zwischen der ersten und der zweiten Ankunft Christi in der Vorläufigkeit der Geschichte vorwegzunehmen. Das Werk der Gläubigen kann nie in dem Maße, wie es ein einfaches Zeichen ist, eine Verwirklichung sein, die die Gabe der Fülle, der Vollständigkeit und der unzweideutigen Klarheit besitzt. Aber· sein Hinweischarakter bleibt auch unter gegensätzlichem Schein, der der Gegenwart eigen ist, in der die Gerechtigkeit Gottes gekreuzigt wurde und weiter gekreuzigt wird. Der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes, die kommen soll, kann nicht durch die fanatische Illusion ersetzt werden, die ihre Verwirklichung vorwegnehmen will, statt daß sie sich auf die Verheißung ihrer Ankunft und ihren gärenden Anspruch beschränkt. Ein Lutheraner hat gesagt, die Ethik habe am christologischen und eschatologischen Geheimnis teil und weise Analogien zur sakramentalen Funktion auf4 • Drittens: Eine Ethik des Zeugnisses überschreitet die Grenzen einer klerikalen Religiosität und verweltlicht sich so, wie sie den Umkreis der Interessen und der Vorteile des Ichs überwindet. Das Konzil von Trient 4
H. Thielicke, a.a.O., I, 76ff.
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schreibt im Decretum de iustificatione von 1547 vor, daß der Büßende nach der sakramentale Beichte und Absolution des Priesters Werke der "Genugtuung" vollbringen muß, das heißt "Fasten, Almosen, Gebete und andere fromme Übungen des geistlichen Lebens", die von der Kirchenzucht der vorausgegangenen Jahrhunderte schon im Rahmen der irdischen und überirdischen Reinigung des Sünders vorgesehen warens. Genau im Widerspruch zu diesem traditionellen Begriff des Katholizismus bemerkt Luther im Traktat oder der Predigt "Von den guten Werken": "das sie ... die gute werk szo enge spannen, das sie nur in der kirchen beten, fasten und almoszen bleybenn, die andere achten sie als vorgebenn, daran got nichts gelegen sey, und alszo durch den vordamptenn unglauben gotte seine dienst, dem alles dienet, was ym glauben geschehen, geredt, gedacht werden mag, vorkurtzen und geringem. "6 Luther bezieht sich auf das so freie und heitere Wort des Predigers 9,7-9: "So geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat." Er bezieht sich auch auf das apostolische Wort mit einem so weiten und gesundem Atem, das so immun gegen den Geruch des Weihrauchs und der Sakristei ist: "Ob ihr nun eßt oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre." (1.Kor 10,31) Der Mensch, den die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes von der Sorge um die eigene Gerechtigkeit befreit, muß nicht mehr darauf achten, sich von der sündigen Welt zu trennen, um religiöse, reinigende Werke zu vollbringen, die der göttlichen Bestätigung würdig sind. Die Trennung des Sakralen vom Profanen hat keine Berechtigung, vor Gott zu bestehen, der der religiösen Überlegenheit des Juden ein Ende gesetzt hat, indem er sie als Heuchelei demaskierte, und der den Griechen mit seiner ganzen Weltlichkeit aufgenommen hat, indem er das Evangelium seiner Gerechtigkeit durch den Glauben an Jesus Christus offenbarte. Das Evangelium gilt nicht zum Vorteil der Privilegierten und zum Schaden derer, die nichts haben, sondern ohne Unterschied für alle, die entdecken, daß sie arm an Gerechtigkeit vor Gott sowie in Sünde und Gnade vereinigt sind (Röm 3,9-30). Die durch die paulinische Predigt niedergerissene Trennung zwischen jüdischer und hellenistischer Welt wurde unter veränderten geschichtlichen Bedingungen in jener mittelalterlichen Gesellschaft der konstantinischen Herrschaft auf ihre Weise wiederaufgerichtet, als die Lebensbedingung des Menschen mit der Lebensbedingung des Christen zusammenfiel, nämlich zwischen dem religiösen und dem weltlichen 5
DS 1543, vgl. 856. 1304.
12 Subilia, Rechtfertigung
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WA 6, 205.
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Christen sowie zwischen den Gläubigen der ersten Kategorie, die die "evangelischen Räte" hielten, und den Gläubigen der zweiten Kategorie, die einfach die Gebote der Kirche befolgten. Die Wiederentdeckung des paulinischen Evangeliums führte Luther einfach dahin, zum zweiten Mal die Unterscheidung niederzureißen. Nicht nur die Mönche, sondern die Menschen in allen Lebensbedingungen sind berufen, Gott in ihrem sozialen, familiären und beruflichen Stand zu dienen. Nicht mehr nur die, die zu einer heiligen Kaste gehören, sind Priester, sondern alle Gläubigen sind ein lebendiger Teil des allgemeinen Priestertums. In seinem Manifest von 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" verkündet Luther: "Man hats erfunden, das Babst, Bischoff, Priester, Kloster volck wirt der geystlich stand genent, Fursten, Hern, handtwercks und ackerleut der weltlich stand, wilchs gar ein feyn Comment und gleyssen ist, doch sol niemant darub schuchter werden ... Dan alle Christen sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein unterscheyd, denn des ampts halben allein. "7 Das Berufungs- und Sendungsbewußtsein ist nicht für eine Kategorie von Menschen reserviert, die die Religion zu ihrem Beruf gemacht haben, es wird auf alle Elemente des Profanen angewandt. Alles Profane wird in die Verfügungsgewalt Gottes und in die Erfordernisse seines Dienstes gestellt, weil alles Profane im Glauben gelebt und gedacht werden kann. Es gibt keine reinen und unreinen Berufe, keine heiligen und profanen Berufe. Der Beruf des Vaters und der Mutter der Familie, des Sohnes und der Tochter, des Ehemannes und der Ehefrau, des Leiters des Staatswesens, des Bürgers, des Magistrats, des Angestellten, des Händlers, des Bauern, des Handwerkers, des Arbeitgebers und des Arbeiters, - Luther fügt auch den Beruf des Soldaten hinzu, wobei er Johannes, den Täufer, zitiert, der den Soldaten aufgetragen hat, ihr Amt nicht zu verlassen, sondern es gewissenhaft auszuüben (Lk 3,14)8 - sind alles Berufe, die im christlichen Sinne ausgerichtet werden können und in denen man den höchsten Beruf ausüben kann, den Beruf des Zeugen Christi und seiner Gerechtigkeit. Wir haben hier den großartigen Lutherschen Begriff des Berufes vor uns, der die Umwandlung einer Kultur verkörpert. Er hat das Ende einer christlichen Aristokratie angezeigt, die das Monopol der ethischen Authentizität des Evangeliums innehatte: indem er bewies, daß alle Gläubigen an der aktiven Ausübung der Berufung beteiligt waren, hat er den Laien erlaubt, den Zustand der Minderjährigkeit und moralischen Abhängigkeit zu überwinden, an den sie durch eine jahrhundertelange 7 WA 6, 407; WA 6, 564: "Omnes sumus sacerdotes, quotquot Christiani sumus." WA 12,308; WA 17/2, 6. 30. Vgl. H. Storck, Das allgemeine Priestertum bei Luther, München 1953; G. Eastwood, The Priesthood of all Believers, An Examination of the Doctrine from the Reformation to the present Day, London 1960. B WA 19,657.
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Erziehungsuntertänigkeit gefesselt waren. Er hat so den Ausbruch einer Ethik eröffnet, in der das Handeln nach dem Gewissen und nicht nach einem Befehl, spontan und nicht nach einem gesetzlichen Formalismus geschieht. Das heißt, man handelt nicht aus einem künstlichen, offenkundigen Konformismus heraus, dem jedoch die innere Zustimmung zu einem Gesetzbuch oder einer Sitte fehlt, sondern aus Überzeugung und nicht unter der Aufsicht eines geistlichen Ratgebers, Beichtvaters oder hierarchischen Kontrolleurs. Wie Luther gesagt hat: Das Bewußtsein der göttlichen Gnade "machet fröhlich, trotzig und lüstig gegen Gott und alle Creaturn, welchs der heilige Geist thut im glauben. Da her der Mensch on zwang willig und lüstig wird jederman guts zu thun, jederman zu dienen, allerley zu leiden. "9 Man darf nicht denken, daß diese neue Ethik, die durch Gewissenhaftigkeit und Spontaneität gekennzeichnet ist, nur im Dienst des Individuums verwirklicht wird. Wenn es im Bogen der Erscheinungen und geistlichen Tendenzen, die vom Pietismus des 17. Jahrhunderts bis zum Existenzialismus Bultmanns reichen, so sein wird, ist es ein Zeichen dafür, daß man die Grundmotivation der Rechtfertigungsethik, die durch den Anbruch des amor Dei gekennzeichnet wird, aus dem Blick verloren hat und man zur . Herrschaft des amor sui zurückgekehrt ist. Gerade weil es sich um eine Ethik handelt, die vom 1. Gebot beseelt ist, d. h. um eine Ethik des Zeugnisses, kann es sich nicht um eine in sich verkrümmte Ethik handeln mit der Neigung zur Sorge und Vervollkommnung des Individuums, das sie erfüllt, es muß notwendig erweise eine Ethik der Relation sein. "Der Brennpunkt der Berufsethik ist nicht unsere Heiligung, sondern der Nächste. "10 Luther spricht vom Glauben als einem aktiven "Glauben an den Nächsten "11. Und er fügt über den Gläubigen hinzu: "Er glaubt aber nicht wahrhaft, wenn die Liebeswerke nicht dem Glauben folgen ... Es ist wahr, daß der Glaube allein ohne Werke rechtfertigt. Aber ich rede vom wahren Glauben, der, nachdem er gerechtfertigt hat, nicht müßig schnarcht, sondern durch die Liebe fleißig ist", das heißt in der Liebe "zum Nächsten"12. Alle menschlichen Lebensumstände "neigen dazu, dem anderen zu. dienen "13. Dieser Dienst konkretisiert sich in der Nächstenliebe, die ihrerseits als eine Widerspiegelung der Liebe Gottes zu uns bezeichnet wird14 • 9 WADB 7, 11. In WA 39/1, 46 heißt es zur These 34: "Fatemur opera bona fidem sequi debere, imo non debere, sed sponte sequi, sicut arbor bona non debet bonos fructos facere, sed sponte facit." Vgl. G. Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, München 1952. 10 L. Pinomaa, a.a.O., 196. 11 WA 56, 512. (MAE 2, 448). 12 WA 40/2, 37. 38. 13 WA 15, 625; WA 14, 22 ; WA 10/3, 279; WA 12, 333. 14 WA 7,37; WA 10/3, 223; WA 17/1, 265.
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Aber wenn der Glaube zum Dienst am Nächsten führt, soll das heißen, das Ziel des Dienstes ist "nicht nur, dem Mitmenschen in seiner äußeren Not zu helfen, sondern den Weg zum Glauben zu erleichtern"l5 im Gehorsam gegen jenes 1. Gebot, das die Quelle ist, aus dem alle anderen hervorgehen 16 • Wenn der aktive Dienst des Glaubens zum Ergebnis hätte, den anderen Menschen im eigenen Egozentrismus zu bestätigen, sei es nur um die elementaren Bedürfnisse eines Lebens zu befriedigen, das von der eigenen entfremdenden Entmenschlichung befreit werden muß, stünde er in vollem Gegensatz zu seiner Natur als Glaube, der vom Bedürfnis, den Menschen sich selbst zu entreißen, beseelt ist, um ihn Gott und seine Gerechtigkeit erkennen zu lassen. Der Dienst des Glaubens neigt zur totalen Hilfe für den anderen. Mit anderen Worten: er muß auf der Spur Jesu geleistet werden, der die Sünden vergab und die Krankheiten heilte, das Wort Gottes verkündigte und das zur Ernährung notwendige Brot besorgte: Seine ganze Aktivität stand unter dem Zeichen des Primates des Gottesreiches.
15. Das Bewußtsein des Lebens als Berufung und die Entstehung der modemen Welt
Das Bewußtsein des Lebens als Berufung hat Menschen eines neuen Typs geschaffen, freie Persönlichkeiten, die sowohl stolz auf ihre Unabhängigkeit von aller autoritären und paternalistischen Untertänigkeit als auch für eine gewissenhafte und dienstbereite Verantwortung gebildet sind: Daher stammen die berufliche Effizienz von Spezialisten und die Funktionalität von Dienstleistungen, die sich der Anforderungen der gemeinschaftlichen Solidarität bewußt sind. Auch wenn man zahlreiche Nebenfaktoren, die man nicht unterbewerten sollte, in Betracht zieht, muß man sagen, daß es dieses Bewußtsein gewesen ist, das ein Ferment unübertrefflicher Dynamik für die Entstehung der modernen Welt darstellte. Nur seine liberalen Voraussetzungen konnten Troeltsch dazu führen, das Phänomen überaus stark hervorzuheben, das sich sehr bald als vorübergehend und nebensächlich offenbarte, nämlich die dauerhafte Verbindung der Reformation mit der mittelalterlichen Welt des corpus christianum. So war die These aufrechzuerhalten, nach der die vitalsten Keime der Modernität aus heterodoxen Strömungen stammen, die die Reformation mit der gleichen Kraft bekämpfte, mit der sie die katholische Stellung bestritten hattel. Diese These ist begründet, wenn man unter 1. Pinomaa, a.a.O., 105. 16 WA 30/1, 18I. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München - Berlin 1906. Troeltsch hat seine Thesen auf die Forschungen von Rechtshistori15 1
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Modernität den Anspruch der historisch-philologischen Kritik, die Reduktion der Offenbarung auf Überzeugung sowie auf ein inneres und persönliches Licht, die Verwandlung des Glaubens in rationale und ethische Autonomie sowie die Weltlichkeit des Staates versteht. Aber diese Phänomene, die aus jenen Strömungen und älteren, noch komplizierteren Instanzen stammen, die ihnen vorausgingen, sie begleiteten und ihnen folgten, dürfen den unabsehbaren Beitrag der Lutherschen Rechtfertigungslehre zur Bildung der Völker in der Mitte und im Norden Europas und in Nordamerika weder vergessen lassen noch in Verruf bringen. Dieser Beitrag darf nicht verleumdet und vergeudet werden, wie man es heute von einem unverantwortlichen und demagogischen Bewußtsein gewohnt ist. Bei diesem Gegenstand ist es nicht der Fall, daß man Skrupel haben müßte, einem konfessionellen Pharisäismus zu verfallen: Der Protestantismus lebt im Augenblick in einer so kritischen Lage, daß man erklären muß, diese Gefahr liegt wirklich außerhalb seines Horizontes, was übrigens schon immer für den Stil protestantischer Sensibilität galt. Trotz der sehr weit fortgeschrittenen Säkularisation, auch wenn die Motivation der Ethik völlig aus dem Blick verlorengegangen ist, entgeht das Vorhandensein dieser geistlichen und geistigen Bildung keinem aufmerksamen Beobachter, der aus romanischen und katholischen Ländern kommt, in denen der Protestantismus, auch wenn er vorhanden ist, selbst bei seinen Anhängern höchstens eine Sache der Religion und des Kultus ist, jedoch kein Faktum der Sitte und der Kultur wird. Es handelt sich um die Ausrichtung einer ganzen Kultur bis hin zu ihren geringsten Äußerungen wie jenen des öffentlichen Dienstes oder dem Funktionieren der Büros, in denen man einfach eine Gewissenhaftigkeit und Dienstbereitschaft gegenüber den Bürgern findet, die keinen Anhaltspunkt in der unverschämten Sorglosigkeit der öffentlichen Einrichtungen und der Bürokratie bourbonischer Prägung haben, an die die Romanen gewöhnt sind. Wo diese Verwandlung gefehlt hat, bemerkt man sie noch im Abstand von Jahrhunderten auf allen Ebenen. Es war Burckhardt, der einmal zur Kultur der italienischen Renaissance sagte, daß, wenn ein Volk die Verabredung einer geschichtlichen Stunde versäumt, es eine Wendung nimmt, die die folgenden Jahrhunderte nicht mehr auslöschen können. Ein englischer Geschichtsschreiber hat behauptet: "Damals erhielt die Theorie, daß der Fortschritt, das moderne Denken und die moderne kern gegründet: O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen StaatstheOrien, Breslau 1880, 1913, 3. Aufl., 64; R. Sohm, Kirchenrecht, I, Leipzig 1892, 548, und Weltliches und geistliches Recht, München - Leipzig 1914, 55. Eine ganze Reihe weniger bekannter Forscher haben sich an dieser Linie orientiert. Ihre Abhandlungen wurden zusammengefaßt in der Monographie von K. Matthes, Das Corpus Christianum bei Luther im Lichte seiner Erforschung, Berlin 1929. Im Lichte einer weiteren Problematik erscheint diese These als entschieden bestreitbar.
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Gesellschaftsordnung ihren Ursprung ausschließlich im Protestantismus hätten, eine Theorie, die mit politischen Begriffen von den ,bürgerlichen' Denkern Europas schon lange diskutiert worden war, durch das Werk Max Webers ihren neuen sozialen Inhalt, und nachdem sie so wieder flott gemacht worden war, segelte sie triumphierend ins neue Jahrhundert hinein. Heute ist diese Theorie in ihrer neuen Gestalt so stabil wie nie zuvor. "2 Die These, die von der bürgerlichen Geschichtsschreibung sehr stark unterstützt wurde (dank einer bemerkenswerten Dosis von Verwechslung zwischen dem, was zur Reformation gehört, und dem, was dem erasmianischen Humanismus, den Arminianern und den Sozinianern zugeschrieben werden muß), wird heute polemisch von der marxistischen Geschichtsschreibung hochgehalten. Dies ist einer der Hauptgründe für den Mißkredit, an dem gegenwärtig der Protestantismus bei der jungen protestantischen Generation leidet. Tatsächlich hat der Protestantismus für die marxistische Kritik die Aufgabe einer Ideologie des Kapitalismus übernommen: nachdem die letztere von der Geschichte verurteilt wurde, ist die erstere nur das Überbleibsel auf dem Wege der Liquidation eines unwesentlichen Überbaus3 • Wenn man Parameter des Urteils einer vereinfachten Annäherung übernimmt, denen ein geschichtlicher und kritischer Sinn zu fehlen scheint, kommt für bestimmte Menschen die Ablehnung der kapitalistischen Kultur der Ablehnung der Reformation gleich, die sie hervorgebracht hätte. Ist es annehmbar, die Frage nach der neuen Ethik, die aus der Rechtfertigungsbotschaft geflossen ist, mit der Formel des inneren Priesters zu lösen, der den äußeren Priester ersetzt, der Autorität des Glaubens, die den Glauben an die Autorität ersetzt hat, und der Knechtschaft aus Überzeugung, die die Knechtschaft aus Demut ersetzt hat4? Das Drama dieser großartigen, erneuernden Konzeption der christlichen Ethik in der Welt stammt vor allem aus der geschichtlichen Gelegenheit, daß sich ihre Forderung der Würde der Laienexistenz in einer Aufstiegsphase in die westliche Kultur und in die bürgerliche Welt einfü2 H. R. Trevor-Roper, Religion, Refonnation und sozialer Umbruch, Die Krisis des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. - Berlin 1970, 182. 3 Die These Max Webers (s.o. § 16 Anm. 12) von der Verbindung zwischen Refonnation und Kapitalismus wird weiterhin fröhlich mit einem unkritischen Infantilismus wiederholt, ohne daß man die Tatsache wahrnimmt, daß sie schon seit langer Zeit einer ernsten Kritik unterzogen worden ist, die ihre geschichtliche Unbegründetheit gezeigt hat. Außer TrevorRoper genügt es zu erinnern an: R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism, London 1922; K. Samuelsson, Ekonomi och religion, 19652• 4 K. Marx, Texte zu Methode und Praxis, 2, Pariser Manuskripte 1844, Reinbek 1966, 70; ders., Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, in ders., Die Frühschriften, S. Landshut (Hg.), Stuttgart 1964, 207-224, 217; vgl. H. G. Koch, Luthers Refonnation in kommunistischer Sicht, Stuttgart 1967; H. Trebs, M. Luther heute, Größe und Grenze des Refonnators in sozialhistorischer Sicht, Leipzig 1967.
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gen mußte: Jahrhunderte später sieht sie sich dann der Tatsache ausgesetzt, den Gegenschlag ihres Niedergangs zu erleiden5 • Es wäre jedenfalls nicht legitim die bei den Ebenen wie bei jedwedem anderen geschichtlichen Rahmen zu verwechseln; es ist nicht legitim, die christliche Botschaft mit den Kulturen und der Umwelt zu verwechseln, in die sie sich einzufügen versucht hat und durch die sie von Mal zu Mal bedingt wird. Luther hat einmal erklärt: "Denn wenn ich der einzige auf dem Erdkreis wäre, der das Wort festhält, wäre ich allein die Kirche und würde über die ganze restliche Welt recht urteilen, daß sie nicht die Kirche ist. "6 Man konnte eine Erklärung dieser Art ansehen als Schlachtbanner zur Befreiung des Menschen von allem kirchlichen und sozialen Druck, die der Entdeckung seiner unbezwingbaren Würde im Hören auf das Wort und im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes allein folgt. Aber man konnte sie auch als Manifest des willkürlichsten und unerträglichsten Individualismus, der von jeglicher Verantwortung losgelöst ist, betrachten. Um dieses abenteuerliche Interpretationsvorhaben zu Ende zu führen, mußte man jedoch die Erklärung von der grundsätzlichen Voraussetzung lösen, von der sie in allen ihren Komponenten abhängt: retinere verbum, die vertrauensvolle und gehorsame Unterwerfung unter das Evangelium. In der Perspektive des Glaubens ist der Mensch nicht mehr Gegenstand in der Gewalt von Mächten, die größer sind als er, sondern ein freies und verantwortliches Gewissen, das seine vertikale Dimension kennt. Aber gerade deshalb ist er sich zur gleichen Zeit seiner horizontalen Verantwortung bewußt. Die Synthese zwischen den beiden Instanzen erreicht ihre größte Klarheit in der großartigen Ouvertüre des Traktats" Von der Freiheit eines Christenmenschen" von 1520: "Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und ydermann unterthan. "7
Nicht in apologetischer Absicht, sondern aus der Forderung nach Klarheit stellt sich die Frage: Kann man Luther die Vaterschaft einer Ethik zuschreiben, die aus jenen Voraussetzungen stammt, in denen er die vollkommenste Antithese des Glaubens gesehen hat und gegen die er unbeugsam seinen ganzen Kampf im Namen jenes Evangeliums geführt hat, das das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe in sich zusammenfaßt? Natürlich, wenn der Quell seiner Glaubensinspiration austrocknet, wird die Freiheit des Menschen in Gott wieder zur Willkür des egoistiR. Mehl, Traite de sociologie du protestantisme, Neuchätel 1965, 190. WA 42, 334: "Si enim solus essern in toto orbe terrarum, qui retinerem verbum, solus essern ecclesia et recte iudicarem de reliquo toto mundo, quod non esset ecclesia." Vgl. K. G. Steck, Lehre und Kirche bei Luther, München 1963, 90. 7 WA 7, 21. 5
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schen Menschen, der sich aller Verantwortung gegen Gott und den Nächsten ledig fühlt, des Menschen, der in der Epoche nach der Reformation bei religiösen Fragen Anhänger Voltaires und bei wirtschaftlichen Fragen Kapitalist ist. Wenn dagegen der Glaube begründet ist, sind diese Ableitungen nicht vertretbar. Dennoch: wenn man an das europäische Gebiet, das durch das Luthertum beeinflußt ist, und besonders an das Phänomen des Pietismus denkt, muß man die wirksame Existenz des religiösen und im Innem frommen Menschen, der bewußt oder unbewußt dem Geist und den Gesetzen dieser Welt in "äußerlichen" Fragen, politischen und wirtschaftlichen, unterworfen ist, erklären. Hier muß man das Vorkommen sehr komplexer, theologisch-soziologischer Verflechtungen erkennen, die einen der dunkelsten und am meisten diskutierten Punkte der lutherischen Problematik darstellen.
16. Die" Ordnungen Gottes" Für einen Versuch des Verstehens wollen wir die Spur, der Luthers Denken folgt, möglichst schematisieren. Der Mensch ist nicht nur Christ, wenn er Mönch ist und sich von der Welt trennt, er wird berufen, Christ zu sein, auch wenn er als Laie lebt und seinen weltlichen Beruf ausübt, wie wir schon gesehen haben. Es gibt in der Welt tatsächlich eine Reihe von "Ständen", in denen der Mensch lebt, und in die er das christliche Ferment hineintragen muß. "Das christliche Leben ist ein Leben, das zeitlich in jener Unterscheidung der Stände gelebt wird, die das gesellschaftliche Leben bilden und die man betrachten muß, als seien sie jedem von Gott zugeschrieben, weil hier jeder seine christliche Berufung ausübt. "1 Diese Stände können in drei grundsätzliche Ordnungen eingeteilt werden, in die jeder Mensch je nach der eingenommenen Stellung auf verschiedene Weise eingefügt ist: wirtschaftliches, politisches und kirchliches Leben2 • Man hat darüber diskutiert, aus welchen Traditionen Luther bei dieser Lehre der drei Stände geschöpft habe - oeconomia, politia, ecclesia -, und man hat auf die Hussiten und die Formulierungen des Konzils von Basel von 1431 hingewiesen3 • Jedenfalls ist der neue Begriff der christlichen Existenz in der Welt im Artikel 16 der Augsburgischen 1
R. Mehl, a.a.O., 188.
WA 39/2,42; WA 43, 30; WA 44,440,530. WA 6, 507. Vgl. W. Eiert, Morphologie des Luthertums II, 52ff; J. Küppers, Luthers Dreihierarchienlehre als Kritik an der mittelalterlichen Gesellschaftsauffassung, EvTh 10 (1959), 361ff; E. Thier, Art.: Stand, in F. Karrenberg (Hg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart - Berlin 1965 5, 1198ff; R. Schwarz, Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, LuJ 45 (1978), 15ff. 2
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Konfession kodifiziert, der lehrt, "daß alle Obrigkeit in der Welt und geordente Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt seind, und daß Christen mögen in Oberkeit, Fürsten- und Richter-Amt ohne Sunde sein, nach kaiserlichen und anderen ublichen Rechten Urteil und-Recht sprechen, Ubeltäter mit dem Schwert strafen, rechte Kriege fuhren, streiten, kaufen und verkaufen, aufgelegte Eide tun, Eigens haben, ehelich sein etc. Hie werden verdammt die Wiedertaufer, so lehren, daß der ob angezeigten keines christlich sei. Auch werden diejenigen verdammt, so lehren, daß christliche Vollkommenheit sei, Haus und Hof, Weib und Kind leiblich verlassen und sich der beruhrten Stucke äußern; so doch dies allein rechte Vollkommenheit ist, rechte Furcht Gottes und rechter Glaube an Gott. Dann das Evangelium lehrt nicht ein äußerlich, zeitlich, sondern innerlich, ewig Wesen und Gerechtigkeit des Herzen und stoßet nicht um weltlich Regiment, Polizei und Ehestand, sonder will, daß man solchs alles halte als wahrhaftige Gottesordnung, und in solchen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werk, ein jeder nach seinen Beruf, beweise. Derhalben seind die Christen schuldig der Oberkeit untertan und ihren Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein in allem, so ohn Sunde geschehen mag. Dann so der Oberkeit Gebot ohn Sund nicht geschehen mag, soll man Gott mehr gehorsam sein dann den Menschen. "4 Diese Ausdrücke neigen in ihrer ursprünglichen theologischen Absicht nicht dazu, die bestehenden politischen und sozialen Strukturen im konservativen Sinne zu bestätigen, sondern vielmehr dazu, zu behaupten, daß man das Liebesgebot nicht abstrakt in einer Gefühlsseligkeit ohne Inkarnation übt, sondern daß es wirklich konkret wird: die Berufung Gottes verwirklicht sich nicht in einem heiligen Raum, auch nicht in einer seltenen Innerlichkeit, sondern im Rahmen des gelebten Lebens der Familie, der Arbeit, der sozialen Bezüge und in bestimmten rechtlichen und politischen Strukturen. Tatsächlich behauptete Luther, daß "es niemals einen Heiligen gab, der sich nicht um Politik oder Wirtschaft gekümmert hätte", und in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 präzisierte er, daß die Kirchen nicht nur von der Reinheit des Wortes und dem rechten Gebrauch der Sakramente, sondern auch von der Erkenntnis jeder Art von Berufen und menschlichen Ständen erleuchtet und bestärkt werdens. Wie wir wissen, darf das Handeln in lutherischer Perspektive nicht mehr religiös sein, sondern es muß in die Weltlichkeit des Lebens eingefügt sein. Dieses Einfügen strebt nicht danach, die Berufung in den 4 BSLK, 70-71. (Der italienische Text gibt die Übersetzung des lateinischen Textes und notiert in der Anmerkung die Varianten des deutschen Textes. Anm. des Übers.). 5 WA 40/3, 107; BSLK, 411; vgl. V. Vinay, I due regni nella teologia di Lutero, Rom 1950,12.
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Beruf aufzulösen und zu verweltlichen, sondern dem Beruf die Begeisterung und die Grundlegung der Berufung aufzudrücken. Wie Moltmann - nicht zufällig ein Calvinist, kein Lutheraner! bemerkt hat, gilt jedoch: "Das ,conservare' aus Confessio Augustana 16 hat die protestantische Berufsethik immer sehr konservativ geprägt. "6 Vielleicht findet sich die konservative Neigung eher bei Melanchthon als dem patriarchalischen Luther7 • "Immer wird damit aber der Ort der Berufung als etwas Gegebenes oder Vorbestimmtes angesehen, so daß die Berufung und der Glaubensgehorsam dann nur noch innere Modifikationen im exercitium caritatis ... vornehmen kann." "Damit aber mußte der ,Stand' oder die gesellschaftliche Berufsrolle schöpfungs- oder geschichtstheologisch als Schicksal übernommen und als gottgegeben angesehen werden." So "konnte die Berufung und Sendung des Glaubenden sich nur noch in der inneren Erfüllung der Berufe auswirken "8. Muß man also bei dieser Thematik eine Wurzel unkontrollierter, natürlicher Theologie vermuten, bei der ein Zustand der Dinge, den man für unbeweglich hält, unmittelbar Gott, dem Schöpfer, zugeschrieben würde, ohne ihn ausdrücklich mit dem Wort gerade seitens jenes Luthers zu vergleichen, der doch lehrte, daß man ohne das Wort nur eitle und leere Gedanken über Gott hegen kann9 ? Es wäre vielleicht ungerecht und geschichtlich unzeitgemäß, diesen Tadel gegen die Theologie des 16. Jahrhunderts vorzubringen, wenn man bedenkt, daß sich erst der Mensch der Aufklärung völlig bewußt wird, daß die geschichtlichen Institutionen keine heiligen und unveränderlichen Konstanten sind, sondern rationale Organisationen, die man je nach den Umständen verändern kann. Man muß sich übrigens noch die unkontrollierte, tausendjährige Überlieferung vergegenwärtigen: "Seit der Zeit der Urchristenheit war es weithin die Überzeugung der Christen, daß ihre Aufgabe nicht die Veränderung der Welt, sondern die Vermittlung des Heils an den einzelnen Glaubenden und die Hoffnung auf Gott sei. "10 Es ist schwierig festzustellen, wo wir bei der lutherischen Auffassung eine strittige Exegese gewisser evangelischer Texte (1.Kor 7,17-24!) oder eine natürliche Theologie, die keinem klaren, kritischen Vergleich mit der Theologie des Wortes unterzogen wurde, oder eine unbewußte theologische Legitimation der statischen Strukturen J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964, 307. W. Eiert, a.a.O., II, 52. 8 J. Moltmann, a.a.O., 306ff. 9 WA 40/1, 607ff; M. Schlömann, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, Berlin 1961; H. Olsson, Schöpfung, Vernunft und Gesetz in Luthers Theologie, Uppsala 1971. Vgl. auch G. Wingren, Das Problem des Natürlichen bei Luther; G. Ebeling, Das Problem des Natürlichen bei Luther; W. H. Lazareth, Luther on Civil Righteousne~s and Natural Law, in 1. Asheim (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, 156 ff, 169 ff, 180 ff. 10 M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971, 28f. 6
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der feudalen Gesellschaft vor uns haben. Das unbewußte Vorkommen dieses Fermentes scheint durch folgende Tatsache bestätigt: "Mit dem Untergang der feudalen Gesellschaft verlor diese lutherische Lehre von den Ordnungen und Hierarchien Gottes ihr Fundament in der Realität. "11 Die theologischen Voraussetzungen, auf die man sich stützte, haben sich darüber hinaus als unhaltbar erwiesen. In einem langen geschichtlichen Zeitraum haben sie jedoch dazu geführt, die bestehenden Institutionen im konservativen Sinne zu bestätigen und teilweise dem sozialen Zustand eine Verfassung der Unangreifbarkeit zu verleihen. Diese Würde war der vom Evangelium empfangenen Berufung fast gleich, weil die theologischen Voraussetzungen dazu beitrugen, die Berufung mit dem sozialen Stand und mit der Klasse zu verwechseln, und diese letzteren als Schöpfungsordnungen zu verstehen, die objektiv und unveränderlich von Gott gewollt seienu . Es drohte so die Gefahr, daß man nicht mehr die absolute Neuheit und transzendente Irrationalität der christlichen Berufung fühlte und die Zunftverfassung der Wirtschaft in einem statischen und konservativen Sinne bestätigte in dem Gedanken, daß man an der Lage, in die man von Gott eingesetzt worden ist, nichts ändern dürfe13 • Bei der Behandlung der paulinischen Mahnung, die in 1. Kor 7,20 enthalten ist: "Ein jeglicher bleibe in dem Beruf (XA.~aL~), darinnen er berufen ist (EXA.~{tr])", hat Luther XA.~aL~ mit Beruf übersetzt, was sowohl Berufung als auch Beruf als auch Neigung bedeuten kann. Damit beabsichtigte er der Stelle die Bedeutung zuzuschreiben, "es solle sich ein Jeder an den ihm durch Gottes Disposition zugefallenen weltlichen Arbeitsbereich halten, in ihm seinen Beruf erkennen, in ihm Gott gehorsam sein, und nur ja nicht ein Mönch werden zu müssen meinen, um in einer christlichen Tätigkeit außerhalb jener weltlichen Arbeitsbereiche Gott besser zu dienen"14. Man kann die Frage stellen, ob mit der Lehre vom Beruf als Berufung der Mensch nicht der Versuchung ausgesetzt wird, sich in dieser Welt einzurichten, statt in sie das aufbrechende Ferment des Reiches Gottes einzubringen. Um die mönchische Klerikalisierung der Berufung zu vermeiden und um sie in alle Sphären der menschlichen Wirklichkeit einzuführen, hat er es abgelehnt, sie in einer künstlichen Abteilung, weit entfernt von jedem Rahmen, in dem sich das alltägliche, wirkliche Leben des Menschen abspielt, zu leben. Wurde dadurch nicht unfreiwillig und gegen alle Absichten die laizistische Säkularisation in Gang gebracht, bei der sich auf lange Sicht ihre zerstörende Vertikalität in die ruhige HoriM. Honecker, a.a.O., 29. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904-1905; abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920. 13 M. M. Rossi, L'ascesi capitalistica, Rom 1928, 49ff. 14 K. Barth, KD 111/4, 690. 11
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zontalität der menschlichen Stände aufgelöst hat, wobei sich der außerordentliche Charakter des christlichen Handeins als Berufung in eine gewissenhafte Normalität der Berufsausübung verflüchtigt hat? Der Fehler ist nicht theologisch, sondern geschichtlich, er liegt nicht im Ansatz, dessen Voraussetzungen einwandfrei zu sein scheinen, sondern in der Bosheit jenes alten Menschen, der, obwohl er im Taufwasser ertränkt wurde, wie Luther eines Tages in einem Tischgespräch sagte, schwimmen gelernt hat. Jedes beliebige, ursprünglich evangelische Ferment, wenn es seine Glaubensaufgabe verliert, die ihm Leben gab, wenn es aus seinem Kontext gelöst wird, kann nicht dem Prozeß der lehrhaften und praktischen Verwandlung in Faktoren entgehen, die mit dem Evangelium nichts mehr zu tun haben. Genauer gesagt: man kann sich die Frage stellen, ob nicht der Keim eines Dualismus zwischen dem Berufungsbewußtsein und dem Berufsleben eingeschleppt wurde. Die Gefahr nimmt nicht nur darin Gestalt an, was als die idealistische Umdeutung des Lutherschen Berufsbegriffes. von Holl durchgeführt, definiert wurde"5 • In seiner klassischen Monographie über die Geschichte des Begriffes Beruf spricht Holl von der inneren Berufung, die man im Evangelium wahrnimmt, und von der Stimme, die aus den Dingen und ihrer Notwendigkeit stammt"6 • Aber schon in den ursprünglichen Texten des 16. Jahrhunderts kann man diese Spannung zwischen den beiden entgegengesetzten Instanzen antreffen.
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Alle Verhältnisse und Berufe des profanen Lebens haben tatsächlich ihre eigenen Gesetze, und für den Gläubigen kann sich im Augenblick der Entscheidung über die eigene Lebensführung die Möglichkeit einer Alternative bieten. Es ist bestimmt nicht das Evangelium, das dem Arbeiter die Werkzeuge zeigt, die er bei seinem Handwerk benutzen muß, und die Methoden, um sie mit der erforderlichen Wirksamkeit zu handhaben. Es sind vielmehr jene Werkzeuge und die technischen Kriterien zu ihrer Benutzung, seine berufliche BibeF. Es kann einen christlichen Bäcker geben, aber kein christliches Brot. Das Brot muß nach den Regeln der Broterzeugung gebacken werden. Der christliche Bäcker wird diese Regeln ehrlich und gewissenhaft anwenden können, sein Brot liebevoll und mit einem Sinn für den Dienst am Nächsten vorbereiten und verkaufen können. A. de Quervain, Ethik I, Zollikon - Zürich 19462 , 67. K. Hall, Die Geschichte des Wortes Beruf, SAB 1924, 57, jetzt in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III, Darmstadt 1965, 219. 1 WA 32,495; P. Althaus, Die Ethik M. Luthers, 46. 15 16
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Besteht also nicht doch, wenn man diese Linie fortsetzt, im gleichen Menschen die Gefahr einer wechselseitigen Entfremdung des christlichen Gewissens und des Berufsgewissens, als ob sich die christliche und die berufliche Forderung auf zwei verschiedene Bereiche beziehen würden, von denen jeder von zwei verschiedenen Herrschaften geleitet wird? Wenn es sich um verschiedene Herrschaften handelt, die sich auf verschiedene, normative Bezüge berufen, kann in dem Augenblick, in dem sich das christliche Ferment in Ausübung seiner eigenen Funktion einbringt, ein Streit zwischen dem Gesetz, das nach seiner eigenen Aufgabe leitet, und dem evangelischen Gesetz entstehen, das heißt, zwischen dem Menschen, der die eigene bürgerliche, wirtschaftliche, politische Tätigkeit ausübt, und dem Gläubigen, der sich vom Glauben beseelen läßt. Wenn man also im gleichen Menschen die Existenz zweier Personen vermuten muß, die zwei verschiedenen Herren untertan sind, muß man sich fragen, ob eine einzige der beiden Instanzen das Übergewicht haben wird, oder wenn nicht, ob sich die Möglichkeit einer Verdoppelung der christlichen Existenz in einer doppelten, widersprüchlichen Sittlichkeit abzeichnet. Luther fand die entscheidende Grundlage dieser Alternative in der Schrift selbst. In der Schrift heißt es, daß die Jünger Jesu berufen sind, sich nicht vom Machtwillen beseelen zu lassen und keine Macht auszuüben, dem Übel und der Gewalt nicht zu widerstehen, sich nicht zu rächen, ihr Recht nicht gegen jene, die ihnen widerstreiten, geltend zu machen, sowie unter allen Umständen sich gegenüber dem Nächsten liebenswürdig zur Verfügung und zum Dienst bereit zu halten 2 • Diese ganze Reihe von Ermahnungen, die vor allem, aber nicht ausschließlich in der Perspektive der Bergpredigt vorkommen, "scheinen ein einziges Nein zum Staat, zum Handeln der Obrigkeit zu sein"3. Andererseits schärft die Schrift eine offenkundig positive Haltung gegenüber dem Staat und seinen verschiedenen Organen ein. Sie empfiehlt die Anerkennung, den Gehorsam und die Unterwerfung unter die politischen und juristischen Autoritäten und ihre Aufgaben: Es genügt an Röm 13 und 1. Petr 2,13 ff zu denken. Wie lassen sich diese beiden Linien versöhnen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen? Muß man sich für die eine oder die andere entscheiden, oder gibt es ein geheimes Band, das sie in ihrer Widersprüchlichkeit vereint? Handelt es sich um zwei unversöhnliche Tendenzen oder findet diese Doppelung ihre Erklärung in einer tieferen Motivation? Die Täufer haben sich in einer ausschließlichen Weise für die erste Instanz entschieden; Luther hat gemeint, um der Fülle des Evangeliums treu zu sein und zur Situation des Gläubigen in der Welt zu stehen, müsse man sich der einen und der anderen bewußt sein. 2
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WA 11, 248. P. Althaus, a.a.O., 49; WA 10/3, 251.
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In seinen Schriften kann man zwei bezeichnende Beispiele finden. Das erste Beispiel ist jenes der Mutter. "Was were das fur eine torichte mutter, die nicht wolte jr kind fur einem hund odder wolff schutzen und retten und darnach sagen, ein Christ solt sich nicht weren?"4 Das zweite Beispiel ist stärker mit Implikationen beladen, die uns Menschen eines Jahrhunderts, das zwei Weltkriege gesehen hat, und in dem die traditionelle Unterscheidung zwischen einem gerechten Verteidigungskrieg und ungerechten Kriegen doppeldeutig und mehr als problematisch geworden ist, desorientieren. Es handelt sich jedenfalls um den gleichen Grundsatz, der im Falle der bewaffneten Macht und des Krieges in seinen Voraussetzungen besser geklärt wird als im Falle der Mutter. In der Schrift von 1523 "Von weltlicher Obrigkeit" behauptet Luther: "Hie müssen wyr Adams kinder und alle menschen teylen ynn zwey teyll: die ersten zum reych Gottis, die andern zum reych der welt. Die zum reych Gottis gehören, das sind alle recht glewbigen ynn Christo unnd unter Christo .... Und wenn alle welt rechte Christen, das ist, recht glewbigen weren, so were keyn furst, könig, herr, schwerd noch recht nott odder nütze. .. Denn syntemal wenig glewben und das weniger teyl sich hellt nach Christlicher art, ... hat Gott den selben . .. eyn ander regiment verschafft unnd sie unter das schwerd geworffen, das, ob sie gleych gerne wollten, doch nicht thun kunden yhr bosheyt, ... gleych wie man eyn wild böße thier mit keten und banden fasset, das es nit beyssen noch reyssen kan nach seyner artt, wie wol es gerne wollt ... Denn wo das nicht were, Syntemal alle wellt böse und unter tausent kaum eyn recht Christ ist, würde eyns das ander fressen, das niemant kund weyb und kind zihen, sich neeren und Gotte dienen, damit die welt wüste würde. Darumb hatt Gott die zwey regiment verordnet, das geystliche, wilchs Christen unnd frum leutt macht durch den heyligen geyst unter Christo, unnd das welltliche, wilchs den unchristen und bößen weret, daß sie eußerlich müssen frid hallten und still seyn on yhren danck ... Wenn nu yemand wollt die wellt nach dem Euangelio regirn und alle welltliche recht und schwerd auffheben" ... würde er "den wilden bößen thieren die band und keten aufflößen, das sie ydermann zft ryssen und zft byssen ... wie itzt schon ettlich toben und narren ... Darumb muß man dise beyde regiment mit vleyß scheyden und beydes bleyben lassen: Eyns das frum macht, Das ander das eusserlich frid schaffe und bösen wercken weret. Keyns ist on das ander gnftg ynn der wellt. "5 Diese Unterscheidung mag theoretisch überzeugend erscheinen: dennoch wird das Problem in dem Maße kompliziert, wie die Gläubigen dem einen und dem a:nderen der beiden Regimente angehören. Wie müssen sie sich also unter dem doppelten Verhältnis als Untertanen Christi und 4
WA 32, 391.
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WA 11, 249-252.
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Untertanen Cäsars verhalten, die sich auf entgegengesetzte Kriterien berufen? Was ihn selbst und die eigenen Angelegenheiten betrifft, muß der Christ sich dem Wort Christi anpassen, es annehmen, die andere Wange hinzuhalten, zur Jacke auch den Mantel zu schenken, Ungerechtigkeit zu dulden, Böses nicht mit Bösem zu vergelten und keinen Widerstand zu leisten. Aber was das Wohl seines Nächsten betrifft "zur halltung schutz unnd frids der andern", kann er nicht die Lage dieser Welt vergessen und die menschliche Solidarität brechen. Er ist gehalten, "dem schwerd zft dienen" und es zu unterstützen 6 • In seinem Büchlein von 1526 "Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können « heißt es, die Christen "sind nach dem geiste niemand denn Christo unterworffen. Aber dennoch sind sie mit leyb und gut der weltlichen oberkeit unterworffen und schuldig gehorsam zu sein. Wenn sie nu von weltlicher oberkeit zum streyt gefoddert werden, sollen sie und mus sen streyten aus gehorsam, nicht als Christen sondern als gelieder und unterthenige gehorsam leute nach dem leybe und zeitlichem gut ... Denn ·er hat zweyerley regiment unter den menschen auff gericht. Eins geistlich, durchs wort und on schwerd, da durch die menschen sollen frum und gerecht werden, also das sie mit der seI bigen gerechtickeit das ewige leben erlangen. Und solche gerechtickeit handhabet er durchs wort, wilchs er den predigern befolhen hat. Das ander ist ein weltlich regiment durchs schwerd, auff das die ienigen, so durchs wort nicht wollen frum und gerecht werden zum ewigen leben, dennoch durch solch weltlich regiment gedrungen werden, frum und gerecht zu sein für der Welt. Und solche gerechtickeit handhabet er durchs schwerd. "7 Wie kann man diesen Gedanken bewerten, mit dem Luther die "gerechtickeit, die für Gott frume person macht", in Beziehung setzt zur "eusserlichen gerechtickeit, die ynn den ampten und wercken stehet und gehet"?8 Bestimmt also ein solches Koordinatensystem, wie wir uns bereits auf diesen Seiten gefragt haben, eine Haltung des Glaubens und des evangelischen Gehorsams in der religiösen Sphäre, während in der beruflichen, wirtschaftlichen und politischen Sphäre statt dessen eine konformistische Haltung vorherrscht, die keine Kritik an den Mächten dieser Welt üben kann, und die statt dessen zu einem überzeugten und gewissenhaften Vasallenturn, dem jedoch Initiative und evangelische Dynamik fehlen, fähig ist? Sollte Luther, nachdem er die mittelalterliche Klerikalisierung des Evangeliums bekämpft hatte, nichts anderes vermocht haben als eine andere, durchgesehene und auf den neuesten Stand gebrachte Version zu liefern, ohne zu einer wirklichen Fleischwerdung des Evangeliums in der Welt voranzuschreiten? Sollte die Gerechtigkeit Gottes fatalerweise dazu 6 8
WA 11, 254-255. WA 19, 624, 625.
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WA 19, 629.
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bestimmt sein, ein Idealismus zu bleiben, der sich nicht verwirklichen kann? Man muß offen zugeben, daß die von Luther ausgearbeitete Unterscheidung zwischen Person und Funktion eher beunruhigend ist. Dies ist einer der dunkelsten und schwierigsten Punkte bei der Interpretation des lutherischen Denkens. "Auffs erst ist der unterscheid für zu nemen, das ein ander ding ist Ampt und person. "9 Luther zögert nicht, von zwei Personen und zwei Arten von Funktionen zu sprechen10 • Der Christ bewegt sich in zwei Handlungssphären und in ihm wirken "zwo unterschiedliche person jnn einem menschen"ll, " ,Christ' und ,Weltperson',; oder ,Person für sich selbst' und ,Person für andere' ... ; oder: ,private' und ,öffentliche Person'" und " ,unter weltlich Regiment'" gestellte Person in Beziehung zu anderen Personen in Ausübung ihrer eigenen Funktion von jener des Vaters bis zu der des Fürsten12 • Dennoch, wenn er nicht in seiner Eigenschaft als einzelner Christ, sondern in seiner Eigenschaft als "eine welt person" handelt, muß sein Christentum rein in seinem Herzen bleiben, wie es Christus fordert und wie es die Welt mit all ihren Geboten und Rechten nicht verwirklichen kann, und dem sie nur widerstreitet. "Also wenn ein Christ jnn einen krieg zeucht odder sitzet und recht spricht und straffet odder verklagt sein nehesten, das thut er nicht als ein Christ sondern als ein krieger, Richter, Jurist etc. behelt aber gleichwol ein Christlich hertz ... Und lebt also zugleich als ein Christ gegen jdermann gleich, der allerley fur sich leidet jnn der welt, und doch daneben auch als eine welt person allerley helt, brauchet und thut, was land odder stad recht, burger recht, haus recht foddert." Seine Lage als Gläubiger gestaltet sich also in widersprüchlichen Begriffen: " ... ein Christ sol keinem ubel widderstehen, widderumb eine welt person sol allem ubel widderstehen ... Also auch sol ein Christ mit niemand rechten, sondern beide den rock und mantel lassen faren ... Aber eine welt person sol sich mit dem rechten schutzen und verteidingen, wo er kan widder gewalt und frevel. Summa jnn Christus reich heisst es allerley leiden, vergeben und guts fur böses vergelten, Widerumb jnns keisers regiment sol man kein unrecht leiden sondern dem bösen weren und straffen und das recht helffen WA 19,624. WA 32, 390: "die zwo personen odder zweyerley ampt auff einen menschen ... " Man bemerke diesen Gegensatz: "Ein Christ bistu für deine person, aber gegen deinen knecht bistu ein ander person und schuldig in zu schutzen. Sihe so reden wir itzt von einem Christen in relatione nicht als von einem Christen, sondern gebunden inn diesem leben an ein ander person, so er unter odder ober im odder auch neben im hat, als herrn, frawen, weib, kind, nachbar etc. da einer dem andern schuldig ist zu verteidigen, schutzen und schirmen wo er kan." 11 WA 32, 316, 390; WA 34/1, 121ff. 12 P. Aithaus, a.a.O., 72f. 9
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schutzen und erhalten, darnach eines iglichen ampt odder stand foddert. "13 Die Lage des Gläubigen kann kurz mit diesem synthetischen Satz ausgedrückt werden: der Christ "hat beide Bürgerschaften; er ist Untertan Christi im Glauben und Untertan des Kaisers mit dem Leib"l\ Man hat richtig bemerkt: Wenn die Entscheidung in der Dogmatik gegen Luther bei der Frage des sola fide fällt, fällt sie, was die Ethik betrifft, bei der Frage der Zwei-Reiche15 • Um unbegründete InterpretaWA 32, 393, 394. WA 39/2,81: "Christianus ... habet utrumque politeuma, subjectus Christo per fidem, subjectus Caesari per corpus." 15 H. Thielicke, a.a.O., I, 589ff. Vgl. G. Ebeling, Die Notwendigkeit der Lehre von den zwei Reichen, in: Wort und Glaube I, Tübingen 19622, 409. Wir zitieren hier einige Titel, die nicht in anderen Anmerkungen erscheinen: Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers, Nachdruck von Harald Diem, Luthers Lehre von den zwei Reichen (1938), Hermann Diem, Luthers Predigt in den zwei Reichen (1947), Mit einer kommentierten Bibliographie der Literatur zur ZweiReiche-Lehre bis zur Gegenwart, München 1973; G. Wingren, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, ThZ 3 (1947), 263ff; G. Törnvall, Der Christ in den zwei Reichen, EvTh 10 (1950), 66ff; F. Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1953; J. Heckel, Lex caritatis, Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie M. Luthers, München 1953; G. Hillerdal, Luthers Lehre von der Obrigkeit und die modeme evangelische Staatsethik, Göttingen 1954; P. Althaus, Luthers Lehre von den beiden Reichen im Feuer der Kritik, LuJ 24 (1957); J. Heckel, Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre, München 1957; G. Törnvall, Die sozialtheologische Hauptaufgabe der Regimentenlehre, EvTh 17 (1957), 407ff; H. Bomkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie, ARG 49 (1958), 26ff; F. Lau, Die Königsherrschaft Jesu Christi und die lutherische Zweireichelehre, KuD 6 (1960), 30ff; E. Wolf, Königsherrschaft Jesu Christi und Zweireichelehre, in: Festschrift für H. Vogel, Berlin - Stuttgart 1962, 277ff, und in etwas anderer Form in: Peregrinatio 11, München 1965, 207ff; W. Trillhaas, Ethik, Berlin 19703 , 455ff; H. D. Wendland, Thesen zur Zwei-Reiche-Lehre und ihrer Bedeutung für die Zukunft, in: H. D. Wendland (Hg.), Sozialethik im Umbruch der Gesellschaft, Göttingen 1969; F. Beißer, Zur Deutung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, KuD 16 (1970), 229ff; W. Pannenberg, Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Stellung in der Geschichte der christlichen Reichsidee, in: Gottesreich und Menschenreich, Regensburg 1971, 73ff; A. Hakamies, "Eigengesetzlichkeit" der natürlichen Ordnungen als Grundproblem der neueren Lutherdeutung, Studien zur Geschichte und Problematik der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, Witten 1971; H. Bomkamm, Der Christ und die zwei Reiche, Luther 1972, 97ff; M. Lienhard, La "doctrine" lutherienne des deux regnes et sa fonction critique: Istina 1972, 157ff; U. Duchrow - H. Hoffmann (Hg.), Die Vorstellung von den zwei Reichen und Regimenten bis Luther, Gütersloh 19782 ; U. Duchrow - W. Huber (Hg.), Die Ambivalenz der Zweireichelehre in lutherischen Kirchen des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 19772 ; U. Duchrow - W. Huber - L. Reith (Hg.), Umdeutungen der Zweireichelehre Luthers im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1975.; J. Lell, Zur Zweireichelehre, in: Im Lichte der Reformation 19, Göttingen 1976, 71ff; I. Ludolphy, Reformation und Gegenwart, Die Aktualität der Zweireichelehre, in: Luther 47 (1976), 38ff; G. Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der deutschen Reformation, in: Denkender Glaube, Festschrift C. H. Ratschow, Berlin 1976, 49ff; U. Duchrow (Hg.), Zwei Reiche und Regimente, Ideologie oder evangelische Orientierung?, Gütersloh 1977; M. Honecker, Sozialethik zwischen Tradition und Vernunft, Tübingen 1977 (das Kapitel: Zwe\reichelehre und Sozialethik); ders., Thesen zur Aporie der Zweireichelehre, ZThK 78 (1981). 129ff; H. A. Oberman, Werden und Wertung der 13
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13 Subilia, Rechtfertigung
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tionen zu vermeiden, darf man zunächst die Position Luthers nicht mit späteren Positionen vermischen: mit der Position der unpolitischen Innerlichkeit des Pietismus (der Pietismus konnte zwar nur auf lutherischem Boden entstehen, stammt aber nicht aus lutherischen theologischen Voraussetzungen) und nicht mit einer Position, die die Autonomie des Politischen verfocht, das heißt "die Emanzipation der Staaten und ihrer Politik von den sittlichen Bindungen" 16. Eine solche Position geht nicht auf Martin Luther zurück, sondern auf die Renaissance und hat in Machiavelli ihren "ideologischen Papst"17. Außerdem genügt es, etwas mit den Schriften Luthers vertraut zu sein, um den Verdacht auszuräumen, ihn habe ein kompromißlerischer Geist beseelt. Wäre er es nur im geringsten Maße gewesen, hätte er das Banner seines "Ich kann nicht anders" gegen Papst und Kaiser, gegen Kirche und Reichstag aufrichten können, hinter denen sich eine ehrwürdige und unbestrittene Tradition von 1500 Jahren erhob? Männer, die zum Komprorniß bereit sind, arbeiten für die Karriere, schließen Verträge und Konkordate, treten in die Geschichte ein, ohne sie zu verändern, machen weder Reformation noch Revolution. Die von Müntzer18 vorgebrachte Anklage, die bei Engels 19 Widerhall fand, Luther sei ein Fürstenschmeichler und Fürstenknecht gewesen, kann man nur erklären, wenn man sie in der vom Kampf aufgewühlten Atmosphäre erfaßt, in der sie formuliert worden ist, oder nur, wenn man die Komplexität und den Pluralismus der Geschichte auf einen einzigen Faktor reduziert. Man kann sie aber legitimerweise weder auf geschichtliche und noch weniger auf ernste theologische Beweggründe gründen. Zweifellos hatte Luther eine autoritäre Vorstellung der politischen Strukturen und innerhalb gewisser Grenzen kann man verstehen, daß die marxistischen Historiker ihn unter ihrem soziologischen Gesichtspunkt abqualifiziert haben, ohne zu verstehen, Reformation, Tübingen 1977; K. Nowak, Zweireichelehre Anmerkungen zum Entstehungsprozeß einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre, ZThK 78 (1981), 105 ff. 16 P. Althaus, a.a.O., 87. 17 H. Thielicke, a.a.O., I, 596. 18 Th. Müntzer, Hochverursachte Schutzrede, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, Kritische Gesamtausgabe, G. Franz (Hg.), QFRG 33, Gütersloh 1968, 341: "Das du zU' Worms vorm Reich gestanden pist, danck hab der Teütsch adel, dem du das maul also wol bestrichen hast und hönig gegeben." M. Luther, WA 17/1, 266: "Das man aber sagt, ich heuchele den fürsten und herrn, yhe sage ymer hyn, was frag ich darnach?" WABR 3, 517. 19 F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1974"\ 55: "Luther selbst wurde mehr und mehr ihr Knecht, und das Volk wußte sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die andern. " Die neueste marxistische Kritik schwächt dieses Urteil ab: G. Zschäbitz, Martin Luther, Größe und Grenze I, Berlin 1967, 208. Vgl. die bedeutsame, kritische Dokumentation zusammengestellt in dem Band von: H. Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung, Martin Luther als politischer Berater seines Landesherrn und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, Stuttgart 1976, 136ff.
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daß der Mensch die Botschaft nicht erschöpft20 . Um die Botschaft verstehen zu können, muß man aber auch den Menschen verstehen. Andererseits werden seine autoritären Vorstellungen von einem lebendigen, antikonformistischen Gewissen berichtigt, - Berichtigungen, die vielleicht zu sehr am Rande bleiben, - das die Grenzen der Autorität sehr wohl kennt und ihr gegenüber auch die Waffe einer beißenden Ironie zu nutzen weiß21. Sie sind in allen Aspekten tatsächlich von sehr klaren theologischen Voraussetzungen bestimmt. 20 WA 19, 636: "Ich sehe aber kein bestendiger regiment, denn da die oberkeit ynn ehren gehalten wird." WA 19,641-642: "Wenns so solt gehen, das ein iglicher, der do recht hette, mocht den ungerechten selbs straffen, was wolt daraus ynn der welt werden? Da würde es gehen, das der knecht den herrn, die magt die frawen, kinder die eltern, schüler den meister schluge. Das solt ein lobliehe ordnunge werden." 21 Luther mahnt zur Wachsamkeit, damit die weltliche Gewalt nicht zu weit gehe und ihre Arme zu weit ausstrecke. WA 11, 261, 262: "Denn untreglich und grewlich schaden drauß folget, wo man yhr ztf weyt raum gibt." "Darumb wo welltlich gewallt sich vermisset, der seelen gesetz ztf geben, do greyfft sie Gott ynn seyn regiment und verfuret und verderbet nur die seelen." WA 11, 264: "Gedancken sind zoll frey." Wer die Herrschaft auf das Feld des Denkens ausdehnen will, treibt "die schwachen gewissen mit gewallt zft liegen, zuverleucken unnd anders sagen, denn sie es ym hertzen hallten". WA 11, 265: Die Herrn der Erde "kunden nicht mehr denn schinden und schaben ... Datzu kein recht trew noch warheytt bey yhn lassen funden werden und handelln, das reuber und buben ztf viel were." WA 11, 265-268: Der Christ muß wissen, daß Gott der zeitlichen Obrigkeit Grenzen gesetzt hat, daß sie "nicht solle haben den glawben ztf gepieten, ßondernn von eusserlichen giittern, die selben ztf ordenen unnd ztf regirn auff erden". Wenn der Vertreter der Obrigkeit diese Grenze überschreitet und ein Tyrann wird, "laß yhn nur toben den narren, Er wirtt seynen richter wol finden. nenn ich sage dyr, wo du yhm nicht widdersprichst und gibst yhm raum, das er dyr den glawben odder die Bücher nympt, so hastu warlieh Gott verleucket ... Denn solch Tyrannen hand~lln, wie welltlich fursten sollen. Es sind welltliehe fursten, Die wellt aber ist Gottis feyndt, darumb müssen sie auch thun was Gott widder, der wellt eben ist ... Sie sind gemeyniglich die grösten narren odder ergisten buben auf erden. " Für den Grenzfall des Krieges, bei dem gewöhnlich zu allen Zeiten die Macht von ihren Untertanen die größte Loyalität fordert, hat Luther schließlich einen entscheidenden Vorbehalt: WA 19, 656, 659, 660: "Wie, wenn mein herr unrecht hette zu kriegen? Antwort: Wenn du weist gewis, das er unrecht hat, so soltu Got mehr furchten und gehorchen denn menschen, Acto. 4., und solt nicht kriegen noch dienen; denn du kanst da kein gut gewissen für Gott haben." "Derhalben ist ein gros teyl des kriegsvolcks des teuffels eigen ... Es ist ein verlorner hauffe. " Wenn "die öberkeit zwingt unrecht zu thun", muß man jede Gefahr auf sich nehmen und widerstehen. Auf dieser Rechtspflicht des Widerstands beharren: R. Prenter, L'interpretation de la doctrine des deux regnes, RHPhR 48 (1968), 239ff; G. Hillerdal, Röm 13 und Luthers Lehre von den zwei Regimenten, in: H. H. Schrey (Hg.), Reich Gottes und Welt, Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969, 356; W. Künneth, Die evangelisch-lutherische Theologie und das Widerstandsrecht, KiF. Stolzenau, Die Frage des Widerstandes gegen die Obrigkeit bei Luther zugleich in ihrer Hedeutung für die Gegenwart, E. Weymar, Martin Luther: Obrigkeit, Gehorsam und Widerstand, in: G. Wolf (Hg.), Luther und die Obrigkeit, Darmstadt 1972, 104ff, 196ff, 303ff. Mit größeren kritischen Vorbehalten behandelt die Frage B. Lohse, Das Evangelium von der Rechtfertigung und die Weltverantwortung der Kirche in der lutherischen Tradition bei Luther und in der Reformationszeit, in: J. Baur - L. Goppelt - G. Kretschmar (Hg.), Die Verantwortung der Kirche in der Gesellschaft, Stuttgart 1973, 143ff.
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Ein schwedischer Forscher, der einen der bedeutendsten Beiträge zur Klärung der Zwei-Reiche-Lehre geliefert hat, Gustav Törnvall, hat gezeigt, daß es von den Texten her ungenau ist, von zwei Reichen zu sprechen. Man muß vielmehr von zwei Regimenten oder besser von zwei Weisen der einen Regierung, mit der Gott die Welt regiert, reden. Luther selbst sagt klar: "Also ist Gott selber aller beyder gerechtickeit, beyde geistlicher und leiblicher, stiffter, herr, meister, födderer und belohner. Und ist keine menschliche ordnung odder gewalt drynnen, sondern eytel Göttlich ding. "22 Es handelt sich also überhaupt nicht darum, die hierarchische Struktur der Gesellschaft, wie sie das Mittelalter schuf, auf der Grundlage hellenistischer Voraussetzungen wiederaufzubauen, nach denen die bürgerliche Gesellschaft der kirchlichen Gesellschaft untergeordnet ist und ihr dienen muß, "wie der Körper geringer als die Seele und die Materie geringer als der Geist ist". "Die ideale politische Gesellschaft soll jener vom Klerus beherrschte, das heißt klerikale Staat sein. "23 Es gibt keine Überlegenheit und keine Unterlegenheit, es gibt keine Überschneidung zwischen dem Regiment Gottes und dem Regiment seiner Repräsentanten, die wie alle anderen Menschen seine Untertanen sind. So herrscht auch nicht die Idee des modernen, antithetischen Gegensatzes, der auf den mittelalterlichen Gegensatz der Abhängigkeit folgte, nämlich zwischen einer Sphäre religiöser Menschen, die sich nicht für Politik interessieren, und einer laizistischen Sphäre verweltlichter Menschen, die sich nicht für Religion interessieren. "Die prinzipielle Scheidung zwischen den Regimenten hat deshalb nicht zum Ziel, eine ethische Differenz zu beschreiben, sondern will nur ausdrücken, daß der Mensch in seinem Gottesverhältnis zwei verschiedene Stellungen einnehmen muß. "24 Es handelt sich also nicht um zwei Kategorien von Menschen, sondern um zwei im gleichen, gläubigen Menschen koexistierende, ethische Praktiken, der einerseits jenem Regiment, das Luther das Regiment zur rechten Hand Gottes nennt, andererseits dem Regiment zur linken Hand untertan isfs. Aber es handelt sich immer um das Regiment Gottes und um den Gehorsam, der ihm von den Gläubigen mit unterschiedlichen Äußerungen geleistet wird, je nachdem, ob es sich um Dinge handelt, die das geistliche Regiment, das heißt das Evangelium betreffen, oder um Dinge, die das zeitliche Regiment, das heißt das Gesetz betreffen. Ein anderer schwedischer Wissenschaftler, Anders Nygren, hat behauptet, niemand habe so wie Luther geltend gemacht, "daß das weltliche Regiment ebensowohl WA 19,629-630. V. Vinay, a.a.O., 5ff. 24 G. Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, Studien zu Luthers Weltbild und Gesellschaftsverständnis, München 1947, 8I. 25 WA 36, 385. 22
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wie das geistliche Gottes eigenes Regiment ist, und daß Gott auch niemals die Zügel aus den Händen gibt"26. In dem einen und dem anderen bedient sich Gott des Menschen als seines Dieners. In dem einen und dem anderen strebt dieser Dienst einem Ziel, der Liebe zum Menschen, zu, auch wenn diese Liebe, "um den Nächsten zu schützen, die Mittel der irdischen Ordnung, des öfteren einschließlich der Gewalt, gebrauchen" muß, um das gemeinsame Leben der Menschen zu ermöglichen. "Die Liebe kann und muß also in der Welt auch die Form der Härte, ja der Gewalt annehmen, wenn es sich um den Nächsten oder eine ganze Gemeinschaft handelt. Luther hat die Schwere des Konfliktes deutlich gemacht. Auch strafend kann das Amt der Liebe sein. Was der Liebe zu widersprechen scheint, die Gewaltanwendung, kann nach Luther zum Werkzeug der Liebe werden. "27 Luther benutzt einen anschaulichen Vergleich, um in bestimmten Fällen die Notwendigkeit auszudrücken, die Liebe nicht sanft und rücksichtsvoll, sondern unter Anwendung von Zwang und Gewalt gerade in Hinsicht auf das Wohl und den Schutz des eigenen Nächsten zu verwirklichen. Es ist der Vergleich mit den Chirurgen. "Denn gleich wie ein guter artzt, wenn die seuche so böse und gros ist, das er mus hand, füs, ohr odder augen lassen abhawen odder verderben, auff das er den leib errette, so man an sihet das gelied, das er abhewet, scheinet es, er sey ein grewlicher, unbarmhertziger mensch. So man aber den leib ansihet, den er wil damit erretten, so findet sichs ynn der warheit, das er ein trefflicher, trewer mensch ist und ein gut, Christlich (so viel es an yhm selber ist) werck thut. "28 Der Vergleich wird angestellt, um die Notwendigkeit des Waffengebrauchs in seiner schlimmsten Form zu illustrieren: im Krieg. Der Hinweis verstößt gegen unsere gesamte Sensibilität als Menschen des Atomzeitalters, für die der Krieg ein anachronistisches Ereignis ist, insofern er einer völligen Vernichtung bei der Seiten ohne weitere Unterscheidung zwischen Front und Hinterland gleichkommt, und er also auch nicht mehr als Alternative, sondern nur noch als Anreiz für eine realistische Diplomatie bei politischen und wirtschaftlichen Verhandlungen erwogen werden kann. Die Ansicht Luthers im Rahmen örtlicher, kriegerischer Handlungen von kurzer Dauer, wie sie im 16. Jahrhundert vorkommen konnten, ist offensichtlich ganz anders. Er nährt gewiß keine Illusionen über den Krieg und läßt sich wirklich nicht dazu verleiten, den Krieg zu idealisieren, wie es in unserer Generation in der Atmosphäre vaterländischer und nationalistischer Ideologien geschehen konnte. "Das man nu viel schreibt und sagt, wilche eine 26 A. Nygren, Luthers Lehre von den zwei Reichen, ThLZ 74 (1949) 5, jetzt auch enthalten in der zu diesem Thema an Beiträgen reichen Sammlung von H. H. Schrey (Hg.), Reich Gottes und Welt, 285. 27 H. D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 19783, 2l. 28 WA 19,625,626.
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grosse plage krieg sey, das ist alles war", bemerkt Luther. Wie die Amputation des Chirurgen ist auch der Krieg, wenn man auf die angewandten Methoden sieht, "gar ein unchristlich werck" "und aller dinge widder die Christliche liebe", aber nicht wenn man auf den Zweck der Operation schaut .. "Was ist krieg anders denn. unrecht und böses straffen? Warumb kriegt man, denn das man fride und gehorsam haben wil?" Es handelt sich um die Ausweitung einer normalen Polizeioperation. "Denn was ist recht kriegen anders denn die ubelthetter straffen und fride halten? Wenn man einen dieb, mörder odder ehebrecher strafft, das ist eine straffe uber einen entzelen ubeltheter. Wenn man aber recht kriegt, so strafft man einen gantzen grossen hauffen ubelthetter auff ein mal, die so grossen schaden thun, so gros der haufe ist." Die Folgerung ist, wenn es keine andere Lösung gibt, ist es besser, "ein klein unglück", nämlich "ein kleiner, kurtzer unfride", wird ins Auge gefaßt, um die Gesamtheit vor schlimmeren und allgemeineren Übeln zu retten29 • Muß man diese Beharrlichkeit bei dem Recht zur Rechtfertigung der Gewalt interpretieren, indem man die geschichtliche Lage berücksichtigt, in die die Behauptungen Luthers eingebunden sind, wie Duchrow empfiehlt? "Luther greift hier ganz offensichtlich in die Debatte um die Aufhebung des einstmals legitimen Rechtsinstitus der Fehde ein." Er habe damit "die institutionelle Komponente der Weltverantwortung" erfaßt30 und einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Bekräftigung und Entwicklung des Rechtes geleistet: von sich aus darf niemand mehr sich selbst Gerechtigkeit verschaffen, alle müssen sich der Norm des Rechtes unterwerfen. "Ja mehr, rechte Werke tun heißt, von sich als Person wegsehen und sich das Handeln allein von sozialen und politischen Verpflichtungen 29 WA 19, 625-628. Vgl. H. Kunst, Martin Luther und der Krieg, Stuttgart 1968. Erasmus war vielleicht realistischer und menschlicher, als er beobachtete, gaß nicht leicht in einen Krieg eintritt, wer sich ernsthaft um das öffentliche Wohl kümmert. "Im Gegenteil, wir haben ja gesehen~ daß die Ursachen fast aller Kriege in Dingen liegen, die mit dem Volk nichts zu tun haben." (441) Und er fügt s~inem humanitären Nachdenken das Motiv der Ehre der Christenheit hinzu. "Was aber sollen die Feinde des christlichen Namens denken und sprechen und welche Schmähungen sollen sie gegen Christus ausstoßen, sobald sie sehen, daß die Christen untereinander kämpfen, aus unbedeutenderen Ursachen als die Heiden, grausamer als die Gottlosen und mit abscheulicheren Kriegsmaschinen als sie selbst? Wessen Erfindung sind die Kanonen? Nicht der Christen? Und damit die Sache noch abscheulicher wird, geben sie ihnen die Namen der Apostel und meißeln Heiligenbilder ein." (441-443) "Wenn wir die Türken zur Religion Christi führen wollen, seien wir erst selbst Christen! Niemals werden jene glauben, daß wir das sind, da nirgends mehr gewütet wird als bei den Christen, das einzige, was Christus am meisten verflucht hat." (443): Erasmus von Rotterdam, Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde (Querela pacis), G. Christian (Hg.), in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, lt.dt., W. Welzig (Hg.), Bd. 5, Darmstadt 1968, 359-45l. 30 U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung, Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970, 545, 530.
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vorzeichnen lassen, die von sich selbst her auf den Nächsten weisen. Das Zentrum der Rechtfertigungslehre selbst also zwingt dazu, die Ethik nicht vom Subjekt, sondern von den wahren Bedürfnissen der Mitkreatur aus zu entwerfen. "31 Deshalb besteht man lutherischerseits darauf, daß man die Aussagen Luthers nicht in der Perspektive einer späteren bürgerlichen Wirklichkeit beurteilt, die die Trennung des privaten vom wirtschaftlichpolitischen Leben legitimiert. Man sagt, man habe es nicht mit einer "Gesinnungsethik ", sondern mit einer "Verantwortungsethik " zu tun. "Gerade die Betonung des Amts, der Institution, des Berufs bei Luther zeigt jedenfalls, daß es ihm bei den Werken und bei der Rechenschaft darüber im Gericht um die Welt, um das Gute für den Nächsten, nicht um die handelnde Person geht. "32 Trotzdem: auch wenn man alle Elemente, die einem unter günstigen, geschichtlichen Umständen eingeflüstert werden, berücksichtigt, bleibt die Schwierigkeit bestehen; und die Frage, die sich schon mehrfach deutlich stellte, kann man schießlich nicht mehr umgehen. Zeigt sich uns hier nicht das beunruhigende Phänomen einer doppelten Moral, das Ernst Troeltsch voraussetzte, insofern es sich in beiden Regimenten um den für Gott geleisteten Dienst handelt, wenn in einem die Methode des Handeins die Predigt des Evangeliums und die Ethik der Bergpredigt ist, in dem anderen die Macht und das Schwert? Troeltsch sagte zur Ethik: "Sie gilt wohl an sich innerlich für die Person und die Gesinnung und die rein persönliche Wechselbeziehung. Aber außerdem ist der Christ in eine weltliche Natur- und Vernunftordnung gesetzt. .. Das aber heißt, daß die christliche Ethik im Sündenstande überhaupt eine doppelte ist, eine rein und radikal christliche Ethik der Person und der Gesinnung einerseits und eine natürlich-vernünftige, nur relativ christliche... Ethik des Amtes andererseits ... Das ist in aller Form eine doppelte Moral nach geradezu entgegengesetzten Prinzipien." Sie bedingt "den schroffen Widerspruch "33. Inwieweit die spiritualistischen Positionen Troeltschs bei diesem Urteil einfließen, ist schwer zu sagen34 • Zweifellos liegt hier eine Radikalisierung der Stellung Luthers vor, der, wie wir gesehen haben, die Spannung zwischen den beiden Polen mit dem Geist der Liebe und des
u.
Duchrow, a.a.O., 530. U. Duchrow, a.a.O., 530. 33 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 485, 486, 488 Anm. K. Matthes, a.a.O., 99, hat bemerkt, daß die These Troeltschs einer doppelten Moral, einer staatlich-zivilen-öffentlichen und einer privaten, Luther "blasphemisch" erschienen wäre. Vgl. G. Jakob, Weltwirklichkeit und Christusglaube, Wider eine falsche Zweireichelehre, Stuttgart 1977. 34 K. O. Nilsson, Simul, a.a.O., 10, 16, bezeichnet die von Troeltsch vorgeschlagene Alternative als nicht lutherisch und folglich als unlösbar und geht bis zur Christologie zurück, um die lutherische Position zu erklären ( die communicatio idiomatum, der Bezug zwischen dem Göttlichen und Menschlichen in Christus, 29, 31). 31
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Dienstes vereinigt, der die eine und die andere Ethik leiten muß. Aber das Problem, daß das laienhafte, berufliche, 'politische, wirtschaftliche und juristische Handeln durch Kriterien, die der Sphäre eigen sind, in der der Gläubige handelt, unvermeidbar stärker als durch die Liebe beseelt wird, bleibt. Man fragt sich, wo die Scheidelinie zwischen evangelischem und weltlichem Einfluß verläuft. Und im Hintergrund jeder kritischen Diskussion taucht im Geist der Menschen unserer Generation, die das europäische Drama von 1939-1945 durchlebt haben, wie ein Gespenst die Gestalt des Deutschen auf, der zu Kindern, Blumen und Tieren zärtlich sowie in der Musik und in der Dichtung romantisch ist - und der militärische Befehle erbarmungslos ausführt:s. Man hat den verwirrenden Eindruck, keine befriedigende Erklärung geben zu können, daß hier eine Aporie zwischen Lutherscher Theologie und Lutherscher Ethik, zwischen der Gerechtigkeit des Glaubens und der Gerechtigkeit der Werke vorliegt. Trotz allem wird eine Erklärung versucht. Halten wir fest, daß die These, die am meisten erklärt, in einer eschatologischen Perspektive zu suchen ist. Wenn man sagt, der Christ habe eine doppelte Bürgerschaft, er sei aus Glauben Untertan Christi und für den Körper Untertan des Kaisers, will man weder seinen Glauben spiritualisieren, indem man von der alltäglichen Wirklichkeit absieht, noch sein Handeln den Gesetzen unterordnen, die die Welt beherrschen. Man will sagen, daß der Christ in all dem, was er ist, denkt und tut, zwei Heilsökonomien angehört, der Heilsökonomie der gegenwärtigen und der Heilsökonomie der zukünftigen Welt, und daß er dadurch auf allen Ebenen bestimmt wird. Diese Dualität gründet sich auf die Antithese des alten und neuen Menschen, des Fleisches und des Geistes, des semper peccator und des semper iustus, das heißt auf das Bewußtsein, daß die Antithese nicht gänzlich zu überwinden ist, bis daß Christus kommt - donec apparebit in illo die 36 - und die erneuernde Kraft seiner Gerechtigkeit offenbart, die das Evangelium verkündigt und der Glaube geglaubt hat. In Erwartung jenes Tages ist ein völlig einheitliches, christliches Leben, in dem man die Harmonie zwischen Gebot und Gehorsam erreicht, nicht zu verwirklichen. Der Gläubige lebt folglich in einer vorläufigen und widersprüchlichen Lage: Aber dieses Vorläufige und Widersprüchliche können nur dann einen trägen Quietismus erzeugen, wenn er die Voraussetzungen vergißt, die seinen Glauben bestimmen und ihn zum Mitkämpfer Christi gegen die Mächte des Bösen gemacht haben, - Luther sagt "widder des 35 Auch wenn Ausnahmen nicht fehlen: der Verfasser hat mehr als eine gekannt und verdankt einer dieser Ausnahmen sein Leben. Die Ausnahmen bestätigen in diesem Fall nicht die Regel: sie erhellen das, was Luther beabsichtigte, im Gegensatz zu den Entartungen, die daraus stammen. (Der Verfasser wollte die Anmerkung und den entsprechenden Satz im deutschen Text streichen. Anm. d. Übers.). 36 WA 49,13.
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teuffells lere und werck"37 - die sein Leben aus der Verschlossenheit in sich selbst herausgerissen haben und ihm die Bewegung des Gottesreiches aufgedrückt haben. Gerade weil er sich seines Status als Fremder und Pilger bewußt ist, weiß der Christ, daß er seine Berufung in allen Ordnungen der Welt ausüben muß, ohne irgendeine von ihnen übernehmen zu können38 . Hierzu gehört der Streit mit den "Schwärmern". Die Schwärmer täuschten sich in der Meinung, die gegenwärtige Lage des Kampfes und der Spannung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit überwinden zu können, indem sie die Gerechtigkeit aufrichteten. Aber da die Antithese zwischen Glaube und Unglaube noch voll gültig ist und die Gläubigen in der Welt nur eine kleine Minderheit bilden, wie kann man dann die Gerechtigkeit aufrichten, wenn man das Evangelium nicht ins Gesetz verwandelt, das heißt, wenn man den, der nicht glaubt, in Form einer "die menschliche Vergangenheit besiegelnden Revolution", die das Ziel erreicht, zwingt, ein diesseitiges Gottesreich zu gründen39? Die beiden Flügel des Täuferturns, der gewaltlose, der vorschreibt, sich von jeder Mitverantwortung im Staat und beim Recht zu enthalten und sich von der Welt zu trennen, indem er das Reich der "Heiligen" errichtet, und der gewalttätige, der den Willen Gottes gegen die "Gottlosen" verwirklichen will, indem er deren Institutionen umstürzt, fließen bei dem Versuch zusammen, die gegenwärtige Dualität zwischen dem Reich Gottes und der Welt zu überwinden sowie die Eschatologie zu antizipieren, wobei sie die letzten Dinge mit den vorletzten verwechseln und die Unterscheidung zwischen den beiden Reichen im ideologischen Sinne mißverstehen40 • Aus diesem doppelten, nur scheinbar antithetischen Angriff auf die Eschatologie Luthers werden auf deutschem Boden durch eine Entwicklung von Jahrhunderten der Pietismus und der Marxismus entspringen. Man hat bemerkt: "Es ist nicht Luther, der die Lehre von den beiden Reichen, dem geistlichen und dem weltlichen Regiment, erfunden hat. Hinter Luther steht Paulus und das Neue Testament überhaupt. "41 Kann man kritisch behaupten, daß der ethische Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes, wie er sich in der Lutherschen Lehre darstellt, wirklich die Linien der eschatologischen Botschaft des Neuen Testaments nachzeichnet? Wenn es legitim ist, die Eschatologie des Neuen Testamentes in der 37 38
WA 10/2, 37. . E. Troeltsch, a.a.O, 487 Anm., zitiert ein Wort Luthers, nachdem die Christen "das Alles als Pilgrime und Fremdlinge und Gäste der Herberge" tun. 39 C. Hinrichs, Luther und Müntzer, Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, AKG 29, Berlin 19622 , 147, 150. 40 U. Asendorf, Eschatologie bei Luther, Göttingen 1967, 277. 41 A. Nygren, a.a.O., 286; vgl. R. Bring, Der paulinische Hintergrund der lutherischen Lehre von den zwei Reichen oder Regimenten, in StTh 27 (1973), 107ff.
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bekannten Formel Cullmanns des "schon" und "noch nicht" zu verdichten, kann man vielleicht sagen, daß Luther in der Dogmatik ein entscheidendes Gewicht auf das "schon" gelegt hat, und daß er in der Ethik wahrscheinlich übertrieben und zu zaghaft das "noch nicht" gewichtet hat. Diese zuerst unmerkliche Verlagerung der Akzente führt zu der Frage, ob mit der Zwei-Reiche-Lehre die Institutionen dieser Welt nicht der Versuchung ausgesetzt werden, ein gutes Gewissen wegen ihrer Notwendigkeit und Stabilität zu haben, statt von dem Bewußtsein beunruhigt zu werden, daß sie nicht mehr die Ordnungen der geschaffenen Welt darstellen und noch nicht die Ordnungen der erlösten Welt sind, sondern nur die Ordnungen der abgefallenen Welt, die einen unerträglichen Gegensatz zum Willen Gottes verbergen. So können die Christen ihnen gegenüber weder eine Haltung konformistischer Unterstützung, noch weniger die einer unkontrollierten Verherrlichung, sondern nur eine Haltung der Kritik, des Widerstandes und des verändernden Willens einnehmen. Luther hat zweifellos ein klares Bewußtsein von der vorläufigen und relativen Funktion der institutionellen Strukturen besessen: Er hat sie als Zeichen der Geduld Gottes in der gegenwärtigen Ökonomie der Sünde betrachtet, nicht unter dem Gesichtspunkt, das Bestehende zu "bewahren" (das Wort konnte jedenfalls im Rahmen des 16. Jahrhunderts nicht die antirevolutionäre Bedeutung haben, die es im 20. Jahrhundert angenommen hat), sondern um die Aufgabe einer Regelung in der Unordnung der Welt auszuüben. Denn ihr ist es gegeben, bis zum Tag der Erlösung zu bestehen, und man kann ihr in der Zwischenzeit das Evangelium predigen. Er hat vielleicht kein gleichermaßen klares Bewußtsein davon gehabt, daß sich das Evangelium nicht darauf beschränken darf, den Menschen im Innern der Ordnungen zu problematisieren, sondern daß es sich einsetzen muß, die Ordnungen zu problematisieren, in denen der Mensch lebt42 • Seine Überzeugung, daß das Evangelium den Menschen außerhalb des Glaubens nicht umgestalten kann, mündet in den Gedanken, daß die Welt und die in ihr bestehenden Mächte, wenn sie bleiben, was sie sind, nichts anderes tun können als dem eigenen Geist und Gesetz zu folgen. So wie die bestehenden Mächte nach der Schrift, wie sie Luther erklärt, eingesetzt sind, um die Ordnung, den Frieden und das Recht in der Welt zu erhalten, ergibt sich daraus eine Harmonie des Widerspruchs zwischen dem anti weltlichen Glauben der Christen und der Weltlichkeit der Repräsentanten der Welt. Diese Harmonie mildert schließlich die 42 H. Thielicke, a.a.O., I, 606; W. von Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker, München 1954, 235, J. Kiss, Luther als Sozialreformer der Kirche, Comrnunio Viatorum 10 (1967), 165ff; A. Molnar, Apropos de la doctrine lutherienne des deux regnes, RHPhR 48 (1968),216; H. Ringeling, Rechtfertigung und Sozialethik, in W. Lohff - Ch. Walther (Hg.), Rechtfertigung im neuzeitlichen Lebenszusammenhang, Gütersloh 1974.
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Ernsthaftigkeit der evangelischen Predigt gegenüber der Welt und ihrer Ordnung und drückt eine zu positive Anerkennung des Staates und seiner Aufgaben aus. Das Evangelium versetzt sie nicht mehr in eine Krise, sondern verfestigt und anerkennt sie in gewissem Maße gerade auf der Grundlage ihrer Unversöhnbarkeit mit dem Evangelium. Man muß sich fragen, ob Luther trotz seiner heftigen Abwehr der Philosophie zugunsten des Evangeliums bei dieser Frage nicht einem unkontrollierten Rest eines platonischen Dualismus seinen Tribut entrichtete. Er arbeitete tatsächlich eine saubere Unterscheidung zwischen dem geistlichen Reich, das durch das Evangelium regiert werden muß, und dem weltlichen Reich, das sich einfach nach rationalen Kriterien regelt, aus. "Denn das Reich des menschlichen Verstandes ist ganz weit von dem geistlichen Reich zu trennen. "43 Und er behauptet: "Aber in jenen äußerlichen Angelegenheiten, das heißt bei politischen und wirtschaftlichen Dingen, ist der Mensch nicht Diener, sondern Herr über jene körperlichen Dinge. "44 Ist diese Abwertung des Äußeren, des Körperlichen und des Zeitlichen, diese Behauptung, daß der Mensch, ohne auf andere Instanzen zurückzugreifen, die Fähigkeit hat, das gesamte Umfeld, das an jedem Tag sein konkretes Leben bildet, zu regeln und beherrschen, auf hebräischchristlicher Grundlage zu rechtfertigen? Wenn alles, was de politicis, oeconomicis et naturalibus handelt4S, mit rationalen Kriterien und nicht aus Glauben geregelt werden kann und muß, bedeutet das, daß also die Vernunft, was die Regierung über die weltlichen Dinge betrifft, von der Familie bis zum Beruf und zum Staat, vor der Kritik des Evangeliums flieht und von der Möglichkeit einer Bekehrung ausgeschlossen wird? Hat der Glaube nicht die Autorität und die Kompetenz schöpferische Beiträge und richtungsweisende Kriterien zu den Fragen, die das menschliche Zusammenleben betreffen, beizusteuern? Die unvermeidliche Folgerung, die man daraus zieht, ist die, daß man die begrifflichen Kategorien, die das Handeln beherrschen, zwangsläufig aus der Sozialphilosophie und der profanen Politik schöpft46 • Die Herleitung dieser Prinzipien ist nach einem Urteil eines Schülers der soziologischen Schule Troeltschs, Wünsch, das Scheitern des Luthertums als sozialer Erscheinung gewesen47 • In dem leidenschaftlich polemischen Urteil von Leonhard Ragaz hat sich das Luthertum selbst als eine Stütze und Zuflucht der Reaktion und der Ungerechtigkeit der Welt gekennzeichnet48 • Karl Barth hat in seinem berühmten Brief an die Protestanten Frankreichs offen vom "Irrtum Martin Luthers hinsichtlich WA 40/1, 293. 44 WA 40/1,293. 45 EA 40/1, 292. M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, Grundfragen evangelischer Sozialethik, Tübingen 1971, 54. 47 G. Wünsch, Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, Tübingen 1921. 48 L. Ragaz, Die Geschichte der Sache Christi, Zürich 1945, 31, 61. 43
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des Verhältnisses von·'t-esetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht" gesprochen, von einem Irrtum, auf den man zurückgehen muß, um sich die Tatsache zu erklären, daß das natürliche "Heidentum" des deutschen Volkes "nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist"49. Die unleugbare soziale Trägheit des Luthertums übrigens - die gewiß mehr dem späteren Luthertum und seiner Entwicklung im pietistischen Sinn als der Zwei-Reiche-Lehre zuzuschreiben ist - kann man als eine der Hauptursachen für die geschichtliche Abwesenheit des Protestantismus bei den sozialen Fragen unserer Zeit erachten, wie dies Paul Tillich angezeigt hat. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, daß bei diesem Urteil Leidenschaft, folglich Übertreibung und Ungerechtigkeit mitspielen, die sich ein wenig wie Anathemata ohne Vergebung darzustellen scheinen. So, wie man die unvermeidliche Überschneidung der zwei Welten und die Abstraktheit einer christlichen Haltung, die nicht von geschichtlichen Einflüssen bedingt ist, zugeben muß, kann man sich hier vielleicht darauf beschränken, nüchtern, aber standhaft festzustellen, daß aufgrund aller Voraussetzungen der lutherischen Botschaft, die wir durchgemustert haben, eine Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre undenkbar ist, nach der ein so wichtiger Lebensbereich wie der politische, soziale, wirtschaftliche, berufliche und familiäre grundsätzlich als vom Glauben nicht bestimmbar erklärt werden könnte. Eine solche Interpretation stünde im Gegensatz zur gesamten, christlichen Auffassung Luthers, der im Glauben das Alpha und Omega des Lebens erkennt. Gerade im Namen der notwendigen, eschatologischen Gliederung der Ethik muß man der These Gollwitzers zustimmen: "Der Christ erkennt als Hörer des Evangeliums unsere Zeit als Zeit ,zwischen den Zeiten', d.h. als Zeit, die herkommt von der schon geschehenen Offenbarung der Liebe Gottes zur Welt in der Erscheinung Jesu Christi und die hingeht auf die noch nicht geschehene Vollendung des göttlichen Heils im Reiche Gottes. "50 Es ist nicht bedeutungslos, daß mit einem wachen Bewußtsein von der Fülle geschichtlicher und ethischer Implikationen der Theologie besonders nach 1945 das Thema oft diskutiert wurde. Man versuchte, seine Schwierigkeiten dadurch zu überwinden, daß man die Problematik auf den Boden der Herrschaft Christi verlagerte, das heißt, man betonte stärker die Einheit als die Verschiedenheit der beiden Reiche. 51 Dieser Ansatz, der der K. Barth, Eine Schweizer Stimme, Zürich 19532 , 113. H. Gollwitzer, Forderungen der Umkehr, Beiträge zur Theologie der Gesellschaft, München 1976, 17; G. Müller, Luthers Ethik und die ethische Situation der Gegenwart, ThZ 39 (1973), 117ff. 51 Wir beschränken uns auf: K. Barth, Rechtfertigung und Recht, Zollikon 1945; W. A. Visser't Hooft, La royaute de Jesus-Christ, Genf 1948; O. Weber, Die Herrschaft Jesu 49
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calvinistischen Lösung des Problems entspricht, besitzt zweifellos eine größere, einigende Kraft für die christliche Haltung. Ist er aber die Lösung für den Bezug Glaube - Werke, Kirche - Welt, zwei Wesenheiten, die von so widersprüchlichen Gesetzen regiert werden, wie Luther wohl wußte? Keine Theologie und keine christliche Kirche sowie kein einzelner Gläubiger können sagen,. das Problem der Ethik mit gutem und befriedigtem Gewissen gelöst zu haben. Es handelt sich nicht um ein Scheitern der Botschaft und ihrer Voraussetzungen in der Gerechtigkeit Gottes: es ist die Bestätigung, daß es keine Ethik gibt, die die Gerechtigkeit verwirklicht. Jede beliebige einzelne oder kollektive Verwirklichung kann nur die eigene Grenze der Untreue bekennen und gespannt sein in der Erwartung dessen, was noch kommen soll. Wir können nie am sicheren Ufer einer Ethik landen, die auf eine abschließende Weise gültig ist. Wir sind immer auf dem Schiff bei der Suche nach einer Ethik. Der Vorbehalt ist kein Motiv für das Aufgeben, sondernJür die Ausdauer. Wir stehen immer vor einem offenen Problem, bei dem man die Verantwortung und den Gehorsam des Glaubens üben muß, indem man vermeidet, das Handeln in den Käfig einer neuen Gesetzlichkeit mit Vorschriften und vorgebildeten Lösungen einzuschließen.
18. Das Urteil Gottes und das Urteil der Welt über die Ethik der Gläubigen Dieser offene Charakter des Problems darf nicht dazu führen, seine Lösung aufzugeben, sondern immer von neuem zu versuchen. Niemand kann sich das Recht anmaßen, die Ernsthaftigkeit des Urteils Gottes und die Ernsthaftigkeit des Urteils der Welt über die Ethik der Gläubigen zu gering zu bewerten. Was das Urteil Gottes betrifft, heißt es: "Man könnte fragen, wozu das Gericht nach Werken dienen soll, wenn die Entscheidung über das ewige Heil schon durch den Glauben bzw. den Unglauben Christi im Umbruch der Weltgestalt, Neukirchen 1956; E. Wolf, Die Königsherrschaft Christi, Der Christ und der Staat, München 1958; G. Forck, Die Königsherrschaft Jesu Christi bei Luther, Berlin 1959; ders., Die Königsherrschaft Christi und das Handeln des Christen in den weltlichen Ordnungen nach Luther, KuD 3 (1957), 23ff; E. Mülhaupt, Herrschaft Christi bei Luther, NZsystTh 1 (1959), 165ff; H. D. Wendland, Die Weltherrschaft Christi und die zwei Reiche, in Botschaft an die soziale Welt, Hamburg 1959, 85ff; F. Lau, Die Königsherrschaft Jesu Christi und die lutherische Zweireichelehre, KuD 6 (1960), 306ff; B. Schüller, Die Herrschaft Christi und das weltliche Recht, Die christologische Rechtsbegründung in der neueren protestantischen Theologie, Rom 1963; H. G. Jung, Befreiende Herrschaft, Die politische Verkündigung der Herrschaft Christi, München 1965; J. M. Lochmann, Herrschaft Christi in der säkularisierten Welt, Zürich 1967; I. Asheim (Hg.), Humanität und Herrschaft Christi, Göttingen 1969 (105ff: Ein Studiendokument aus der DDR); R. Ohlig, Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers in der Auslegung der deutschen lutherischen Theologie der Gegenwart seit 1945, Bem 1974.
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Die lutherische Lehre
gefallen ist. Gott kennt ja die Seinen durch den Glauben und bedarf keines Gerichtsverfahrens mit Anhörung von Zeugen. "1 Und doch ist auch bei Luther das paradoxe, neutestamentliche Motiv der Verbindung, die zwischen der Rechtfertigung mittels Glaubens und dem Urteil nach den Werken existiert, völlig gegewärtig. Albrecht Peters konnte schließlich sagen: "Sein gesamtes Schrifttum ist nur zu verstehen, wenn man diese Einsicht nicht aus den Augen läßt ... Hinter jedem Wort Luthers steht die ganze Schwere des Wissens um das Gericht. "2 Luther behauptet das klare Bewußtsein, daß sein gesamtes Unterrichten, daß "der glawb alleyn fur Got rechtfertig machet, ist on zweyffel war". Aber es ist auch wahr, daß "Gott nach den wercken richtet", und daß "die werck alleyn früchte sind des glawbens, bey wilchen man sihet, wo glawb odder unglawb ist. Drumb wirtt dich Gott auß den wercken urteylen und ubirtzeugen, das du glewbt odder nicht glewbt hast. "3 Die Werke sind die Bestätigung, sozusagen die Gegenprobe des Glaubens in seinem Charakter einer letzten Entscheidung, die unsere Existenz in ihrer Gesamtheit umgreift, wie die Früchte die Bestätigung der Natur und der Lebenskraft eines Baumes sind. Die Werke verursachen nicht das Heil, sie sind aber heilsnotwendig, weil sie das Vorhandensein des Glaubens, das heißt die Gegenwart Gottes in der Existenz eines Menschen bestätigen4 • Hier setzt das Urteil der Welt ein. Wenn die Werke ein Zeugnis des Glaubens, das heißt ein Zeugnis für die Gegenwart Gottes sind, dann bietet oder entzieht jedes Werk des Glaubens der Welt die Möglichkeit, an den lebendigen Gott zu glauben oder nicht zu glauben. Die Ursache des Atheismus ist nicht Gott, sondern es sind die, die an Gott glauben. Der Unterschied zwischen Religion und Glaube ist nicht nur ein Motiv, auf dem man in unserer Generation im Umkreis Barths beharrt, sondern es ist ein Kampfmotiv der Reformation und dahinter des Neuen Testaments von der antipharisäischen Predigt Jesu bis zur. antijudenchristlichen Predigt des Paulus. Religion ist die Heuchelei, den anderen zu dienen, während man sich selbst dient, wobei man sie zu Werkzeugen für die Zwecke des eigenen Herrschaftswillens unter der Decke der Wohltätigkeit macht. Im Glauben hat der Mensch aufgehört, von der Selbstliebe beseelt zu sein. Er hat sich der Dimension Gottes geöffnet, der einzigen Bedingung, die die Nächstenliebe ermöglicht. 1 o. Modalsli, Das Gericht nach den Werken, Ein Beitrag zu Luthers Lehre vom Gesetz, Göttingen 1963, 89. 2 A. Peters, Glaube und Werk, Luthers Rechtfertigungslehre im Licht der Heiligen Schrift, Berlin - Hamburg 1962,118; vgl. R. Bring, Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie, München 1955. 3 WA 12, 289-290; P. Althaus, Die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott, Zu der heutigen Kritik an Luthers Rechtfertigungslehre, in: Das Menschenbild im Lichte des Evangeliums, Festschrift zum 60. Geburtstag von E. Brunner, Zürich 1950, 40. 4 WA 3911, 96.
Das Urteil Gottes und das Urteil der Welt
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Gerade deshalb behauptet Luther energisch, daß kein Mensch dem Nächsten ohne den Glauben wahrhaftig dient. Denn er fährt fort, er selbst zu sein, das heißt, sich selbst zu lieben, wobei er diese Selbstliebe mit dem Mantel der Hingabe an den Nächsten zudeckt. Gerade deshalb behauptet er, daß die Gott geleistete Verehrung und der Kult gleich dem für den Nächsten geleisteten Dienst sind5 : nach seiner Erklärung werden die für den Nächsten vollbrachten Werke in der großen Gerichtsszene Mt 25,31-46 von Christus als für ihn vollbrachte erklärt6 • Im Gericht kann man nicht ohne Werke der Liebe erscheinen, um so mehr als die Liebe, die für den Nächsten geübt wird, Zeichen und Gleichnis der Liebe Gottes ist. Die Menschen beobachten und urteilen, und infolge dieser Beobachtung und dieses Urteils über das Leben und die innere Konsequenz der Gläubigen entscheiden sie sich für die Haltung, die sie gegenüber Gott einnehmen sollen7 , indem sie sich einer Theologie des Lebens Gottes oder einer Theologie des Todes Gottes öffnen. Gewiß bleibt das letzte und wahre Urteil Sache Gottes; das Urteil auf der Ebene der Geschichte hört nicht auf zweideutig und ambivalent zu sein. Wenn das Christentum auf der Grundlage seiner geschichtlichen Wirksamkeit beurteilt werden müßte, wäre es nicht mehr mit der paradoxen Mitte seiner Botschaft verbunden, die nicht den messianischen Erfolg, sondern die Niederlage seines Christus am Kreuz verkündet. "Christus wird viele Werke verurteilen, die nach dem Maßstab dieser Welt anerkennenswert und lobenswürdig sind, und er wird Werke anerkennen, die in dieser Welt verworfen werden. "8 Duplex enim est forum, politicum et theologicum9 : Gegenüber diesem doppelten Gerichtshof könnte die Verantwortung der Gläubigen, die die Gerechtigkeit Gottes bekennen, nicht größer sein: Zeugen Gottes zu sein, die in ihrer Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes bezeugen.
5 7 9
WA 23,358. WA 32, 352ff. WA 39/1,230.
6
WA 45, 324ff.
8
O. Modalsli, a.a.O., 68.
4.
KAPITEL
Die reformierte Lehre 1. Die dogmatische Einordnung
In Calvins Unterricht in der christlichen Religion findet man einen Satz, den man versucht ist, als Schlüssel zum Verständnis der calvinistischen Rechtfertigungslehre zu übernehmen. Calvin behauptet, daß "diese Frage der Rechtfertigung aus Glauben" "der Hauptartikel der christlichen Religion" ist1 • Der Satz bildet ein offensichtlich lutherisches Überbleibsel, und es wäre irreführend, ihn als einen wesentlichen Angelpunkt zu kennzeichnen, um all die anderen Elemente der calvinistischen Theologie zu strukturieren, die sich in diesem Falle als nichts anderes als eine Wiederholung der lutherischen Thematik darstellen würde, während sie in Wirklichkeit eine originale Neubearbeitung der Fülle der evangelischen Botschaft bildet, die gründlich durchdacht ist. Wenn man die Originalität dieser Strukturierung nicht zur Kenntnis nähme und sich, um das Denken Calvins über die Rechtfertigung kennenzulernen, darauf beschränkte, die 1 J. Calvin, Institution de la Religion Chrestienne m, 11, 1. (Der italienische Text beruht auf der Institutio von 1560. Der deutschen Übersetzung liegt folgende Ausgabe zugrunde: J. Calvin, Institution de la Religion Chrestienne, J.-D. Benoit [Hg.], Bibliotheque des Textes philosophiques, Paris, Bd.1 1957, Bd.3 1960, Bd. 4 1961, Bd.5 1963. Es ergeben sich Abweichungen gegenüber J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, O. Weber [Hg.], Neukirchen 19632 • Anm. d. Übers.). In Inst. m, 15, 7, wird die Rechtfertigung aus Glauben als "die Summe aller Frömmigkeit" definiert, und in m, 15, 8, trifft man auf eine analoge und noch stärkere Behauptung: "Deshalb dulden wir es keineswegs, daß man uns von diesem Fundament abbringt, und sei es nur um eine Stecknadelspitze, denn auf ihm muß alles ruhen, was zur Erbauung der Kirche gehört. " Im Brief an den Kardinal Sadoleto 1539 wird die Rechtfertigung als das "in der Religion höchste Dogma" dargestellt; ohne dessen Kenntnis "ist die Ehre Jesu Christi ausgelöscht, die Religion abgeschafft, die Kirche zerstört, die Hoffnung auf das Heil völlig zugrunde gerichtet". J. Calvin, Opera selecta, P. Barth - W. Niesei (Hg.), Bd. 1, München 1963, 469 (OS). In der ersten Predigt über die Rechtfertigung heißt es: "Denn hier ist der Schlüssel, der da ist, um alles zu eröffnen, was für unser Heil erforderlich ist ... hier ist das Fundament der wahren Religion, kurz, hier sind die Himmel, die uns offen sind." CR 51, 688. In der Predigt über Lk 1,5-10 heißt es: "Und dies ist das Prinzip der ganzen Heilslehre und das Fundament der gesamten Religion." CR 74, 23. Im Kommentar zu Joh 20, 23 steht: "Also ruhen die ganze Lehre der Frömmigkeit und der geistliche Aufbau der Kirche auf jenem Fundament, daß Gott uns, die von allen Sünden freigesprochen wurden, umsonst an Kindes Statt annimmt." CR 75, 440. Im Kommentar zu Röm 3,21 heißt es: "Und wenn Paulus lehrt, daß Gott die Menschen rechtfertigt, ohne ihnen die Sünden anzurechnen, hält er eine Predigt, die man täglich in der Kirche wiederholen muß." CR 77,59. Aus diesen Behauptungen haben vereinzelt Forscher gefolgert, was man jedoch schwerlich aufrechterhalten kann, daß Calvin "gut lutherisch seine Theologie zentral von der Rechtfertigungslehre her verstanden wissen will". T. Stadtland, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, Neukirchen 1972, 115.
14 Subilia, Rechtfertigung
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Die refonnierte Lehre
acht Kapitel zu lesen, die in der Institutio ausdrücklich davon handeln, bestätigte sich vielleicht der enttäuschende Eindruck, daß man zweifellos eine weniger kraftvolle Behandlung vorfindet, auch wenn sie systematischer ist als die Luthers, als hätte das Thema der Rechtfertigung das Genie Calvins nicht angeregt, so daß er sich damit zufrieden gegeben hätte, es überzeugend, aber ohne Leidenschaft zu bestätigen. Ohne schließlich noch ein unpassendes, nationalistisches Element in die theologische Bewertung einzubringen, wie es Hermann Bauke und Hermann Weber im Sinne einer vergleichenden Völkerpsychologie in einer von der unseren völlig verschiedenen, kulturellen Atmosphäre tun konnten, als sie behaupteten, der Formalismus lateinischer Oberflächlichkeit könne nicht mit dem "deutschen" Tiefsinn Luthers verglichen werden2 , könnte man jedoch vorläufig schließen, daß wir es jedenfalls mit einer typischen Behandlung der zweiten reformatorischen Generation zu tun hätten. Die expressive Paradoxität der Anfänge erschiene abgemildert, die Formulierungen hätten ihre schöpferische Kraft verloren und wären nur noch scholastische Wiederholung. Man muß mit aufmerksamer Klugheit vorgehen: Weil Calvin zum romanischen Kulturkreis gehört, scheint er, wenn nicht ausgeschlossen, so doch wenigstens an den Rand gedrängt zu werden von den großen Strömungen der protestantischen dogmatischen und dogmengeschichtlichen Forschung, die ihren höchsten Entwicklungsstand im lutherischen Deutschland und im lutherischen Skandinavien erreicht haben. Was ihn betrifft, stößt man nicht auf die Schwierigkeit, wenigstens alles Wesentliche zu konsultieren, wie es bei der grenzenlosen Aufsatzproduktion über Luther der Fall ist, man stößt im Gegenteil nicht auf eine Überfülle, sondern eine Knappheit an Monographien zum Thema der Rechtfertigung, die darüber hinaus wegen ihrer Datierung nicht immer erreichbar sind und in Zeitschriften mit beschränkter Verbreitung verstreut sind, wovon man sich durch einen Blick in die vorhandenen Calvinbibliographien einfach überzeugen kann3 • Dieser spürbare Mangel an verfügbaren 2 H. Bauke, Die Probleme der Theologie Calvins, Leipzig 1922, 14; H. Weber, Die Theologie Calvins, Berlin 1930, 51ff; vgl. J. Pannier, Recherches sur la fonnation intellectuelle de Calvin, Paris 1931, 55; W. Niesei, Calvin und Luther, RKZ 81 (1931), 195ff. 3 A.Erichson,Bibliographia calviniana,Berlin 1900 - Nieuwkoop 1960, 111: es fehlt ein besonderer Paragraph zur Rechtfertigung. Im etwas allgemeinen Teil "De redemptione, salute, fide" sind insgesamt 14 Titel verzeichnet. W. Niesei, Calvin - Bibliographie 1901-1959, München 1961, 86: es erscheinen 8 Titel. J. N. Tylenda, Calvin Bibliography 1960-1970, Calvin Theological Journal 6 (1971), 182: im Abschnitt Prädestination Rechtfertigung werden nur 5 Titel zur Rechtfertigung aufgeführt. Vgl. auch a.a.O., 7 (1972), 221-250; a.a.aO., 9 (1974), 38-73; a.a.O., 11 (1976), 199ff; P. Fraenkel, Petit supplement aux bibliographies Calviniennes 1901-1963, in Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 23 (1971),385-413; D. Kempff, A Bibliography of Calviniana 1959-1974, Leiden 1975. Von den alten Monographien zum Thema erwähnen wir: Ch. Lelievre, La doctrine de la
Die dogmatische Einordnung
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Arbeitsmitteln macht eine angemessene Problematisierung der Fragen schwierig. Wir meinen, man muß klar festhalten, daß Calvins Erörterung der Rechtfertigung, um verstanden und in ihrem ganzen Gewicht gewertet zu werden, in ihrem genauen dogmatischen Kontext dargelegt werden sollte. Eine Betrachtung dieser Art ist für jedwede Art von Literatur selbstverständlich. Aber in unserem Fall bildet die Aufgabe der Einordnung ein an sich theologisches Problem. Es ist wesentlich dies zu klären, wenn man etwas verstehen will. Diese Einordnung muß den Leser und aufmerksamen Erforscher des calvinistischen Denkens überraschen bis dahin, daß sie ihn bei seinem Bemühen um Verständnis ablenkt. Wenn er sich für ein wenig in der Logik dieses Denkens bewandert hält, wie es von den Handbüchern dargestellt wird, kann er leicht dazu geführt werden, zu vermuten, daß das Schema, dem man folgt, mit aller Wahrscheinlichkeit das folgende sein müßte: Prädestination - Rechtfertigung - Heiligung, das heißt, der souveräne Akt der Erwählung des unergründlichen Gottes bestimmt den Gläubigen, der so gerechtfertigt wird, zum Gehorsam des christlichen Lebens. Entgegen aller Erwartung ist das Schema, das man antrifft, völlig verschieden, vielmehr geradewegs umgekehrt, und es scheint jede theologische Logik, die aus der lutherischen Rechtfertigungsbotschaft stammt, die als Prämisse und nicht als Folge der Werke verstanden wird, zu verletzen. Die Verknüpfung ist folgende: die Wiedergeburt, das christliche Leben, die Rechtfertigung aus Glauben, die ewige Erwählung. Welches ist der Grund für diese überraschende und allererst einmal unverständliche Verlagerung? Um sich davon Rechenschaft abzulegen, ist es nicht nur nötig, auf den unmittelbaren Kontext zu achten, sondern den ganzen Aufbau der Institutio zu betrachten. Das erste Buch handelt von der Erkenntnis Gottes, die man nur, wenn die Schrift unsere "Leiterin und Lehrerin" ist, erlangen kann kraft des geheimen Zeugnisses des Geistes, mit dem Gott in uns die Gewißheit und die Autorität seines Wortes wirksam besiegelt. Das zweite Buch entfaltet unter der gegenwärtigen Wirklichkeit der Sünde, die uns von Gott trennt, die biblische Unterweisung über die Person und das Werk Christi in seinem dreifachen Amt als Prophet, Priester und König. Das dritte Buch beginnt mit den Worten: "Jetzt müssen wir zusehen, wie denn jene Güter, die der Vater seinem eingeborenen Sohn anvertraut hat, auf uns kommen." Tatsächlich ist alles, was Christus für das Menschengeschlecht getan und erlitten hat, "für uns nutzlos und bedeutungslos", solange "Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind". Um den justification par la foi dans la theologie de Calvin, in RThPh 1909, 699-710 u. 767-776; W. Lüttge, Die Rechtfertigungslehre Calvins und ihre Bedeutung für seine Frömmigkeit, Berlin 1909.
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Die refonnierte Lehre
Abstand der Jahrhunderte, die uns vom Ereignis Christus trennen, zu überwinden, damit sein Werk für uns gegenwärtig greifbar und bedeutsam werden kann, ist es notwendig, daß der auferstandene und lebendige Christus "unser Eigentum wird", und wir "mit ihm eins werden". Dies kann nur kraft der "verborgenen Wirksamkeit" des Geistes geschehen, der "das Band bildet, durch das uns der Sohn Gottes wirksam mit sich verbindet" 4. Ohne das Eingreifen des Geistes kann das Kommen Christi nur "eitel und nutzlos", nur "betrüglich" sein, Christus kann nur mit "kalter Spekulation" betrachtet werden. Er muß folglich als "Müßiggänger" fern und außerhalb von uns bleiben, und wir können nur Gefangene unseres Unglaubens bleibens . Wenn der Geist eingreift, ist sein Hauptwerk der Glaube 6 , durch den sich die Gemeinschaft des Menschen mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus einstelle: "Jesus Christus wird uns so mit allen seinen Gütern vermittelt, daß alles, was er hat, unser wird", "sogar mehr noch, er macht uns nicht bloß zu Teilhabern an allen seinen Gütern, sondern auch an sich selbst"B. In einem nüchternen und dichten Vorwort für den Leser der Institutio, verfaßt am 1. August 1559 in Genf, erklärt Calvin: "Denn ich glaube, die Summe der Religion in allen Teilen so dargestellt und angeordnet zu haben, daß es dem, der die Form des Unterrichts, der ich gefolgt bin, gut verstanden hat, leicht fällt, zu urteilen und zu entscheiden, was man sowohl in der Schrift hauptsächlich suchen als auch auf welches Ziel hin man das, was in ihr ist, beziehen muß. "9 Für das theologische Bewußtsein Calvins ist der wesentliche Punkt der Perspektive nicht diese oder jene Lehre, dieses oder jenes Prinzip, um das herum man das gesamte theologische System organisieren könnte, sondern ER, der für das Neue Testament, vielmehr für die Gesamtheit des alt- und neutestamentlichen Zeugnisses die Mitte und den Gegenstand der Botschaft bildet: Christus!o. Umsonst haben sich viele Forscher abgemüht, in dem Monumentalwerk Calvins das Kriterium der Lehre zu suchen, das das Ganze ordnet. "Theologische Begriffe, ja sogar die Frucht theologischer Begriffsbestimmung, die kirchlichen Bekenntnisse, dürfen nicht mit der Sache selber verwechselt werden. Sie stehen nur im Dienste der Wahrheit. Darum Inst. III, 1, 1. lnst. III, 1, 2, 3, 4. 6 Inst. III, 1, 4. P. Brunner, Vom Glauben bei Calvin, Tübingen 1925; W. E. Stünnann, A Critical Study of Calvin's concept of Faith, Tulsa 1952; J. Boisset, Sagesse et saintete dans la pensee de Calvin, Paris 1959, 75; H. SchützeicheI, Die Glaubenstheologie Calvins, München 1972; P. l. Packer, Sola fide: the refonned doctrine of justification, in: R. Ch. Sproul (Hg.), Soli Deo gloria, Essays in reformed Theology, Nuthley/N. J. 1976, l1ff. 7 W. Kolfhaus, Christusgemeinschaft bei Johannes Calvin, Neukirchen 1939. B Inst. III, 2, 24; vgl. auch lnstitutio von 1536, OS 1, 41, 88. 9 lnst. Bd. 1, 24; vgl. OS 3, 6. 10 W. NieseI, Die Theologie Calvins, München 1957", 30. 4
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Die dogmatische Einordnung'
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müssen sie in der Kirche in Freiheit gebraucht werden, und es darf keine Tyrannei mit ihnen ausgeübt werden. "11 Wenn Christus der Gegenstand, die Mitte und das Kriterium jeder theologischen Abhandlung ist, kann im Grunde die Anordnung des Stoffes, wenn nicht gleichgültig, so doch nicht an ein strenges Schema gebunden sein. Nicht umSonst folgt der Katechismus von 1537 dem Aufriß: Prädestination, Rechtfertigung, Heiligung, Buße und Wiedergeburt, Einklang zwischen der Gerechtigkeit aus guten Werken und der Gerechtigkeit aus Glauben12 • Die Institutio von 1559 folgt, wie wir gesehen haben, dem genau entgegengesetzten Aufriß. Die Anordnung kann verschieden sein, weil Christus die Mitte ist. Die Tatsache, daß Christus die Mitte ist, verhindert, daß man einem bestimmten Aspekt der Botschaft oder einer besonderen Lehre die Vorherrschaft einräumt. Diese Entfernung der Rechtfertigung aus der Mitte ist aus unterschiedlichen Beweggründen von verschiedenen Forschern aufgezeigt13 oder beklagt worden14 . Man hat auch behauptet, das einseitige lutherische Beharren auf der Rechtfertigung sei seitens Calvins durch ein gleichfalls einseitiges Beharren auf der Heiligung ersetzt worden. Er wiederhole einen· Vorgang reduktiver Konzentration des Evangeliums, den man immer wieder in anderen Augenblicken der theologischen Entwicklung verifiziert hat, und der sich ständig wiederholt15 : um ein Beispiel aus den ersten Jahrhunderten anzuführen, zitiert man die Konzentration auf die Inkarnation bei Athanasius, um ein aktuelles Beispiel anzuführen, könnte man die Konzentration auf die Sozialethik erwähnen. Die Gründe, die Calvin zu diesem Gegensatz gereizt haben, seien polemischer Natur gewesen. In der Absicht einerseits den beharrlichen römischen Einwand gegen das sola fide Luthers als eines verdächtigen Brunnens von Trägheit und sittlicher Passivität zu bekämpfen, vielmehr um ihm zuvorzukommen, um ihm von vornherein jeden Anhaltspunkt zu entreißen, habe er gegenüber einer Rechtfertigungslehre, die in Worten W. Niesei, a.a.O., 54; vgl. CR 38, 2, 120. CR 50, 33ff. 13 R. Freschi, Giovanni Calvino H, Mailand 1934, 460; A. Göhler, Calvins Lehre von der Heiligung, München 1934, 85; F. Wendel, Calvin, Paris 1950, 195. 14 E. Kinder, Art. Rechtfertigung H, RGG3, 5, 837; ders., Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung, QKK, Reihe B, Heft 1, Lüneburg 1957, 10. 15 K. Barth, KD 1/2, 228. Eine katholische Untersuchung stellt Calvin als den "Verteidiger des Realismus der Heiligung" dar und scheint von da aus eine Annäherung an katholische Positionen abzuleiten: J. Larriba, Justificacibn y regeneracibn en Calvin: Burgense Collectanea scientifica 15-1-1974, 79. Tatsächlich schreibt er Calvin eine Glaubensauffassung zu, die er als "einzigen menschlichen Beitrag zur Rechtfertigung" mißversteht, 92. Die Perspektive einer Versöhnung mit der katholischen Lehre hat schon dargestellt G. Bavaud, La doctrine de la justification d'apres Calvin et le concile de Trente: une conciliation est-elle possible? in: Verbum Caro 22 (1968), 83ff. Einen Vergleich der lutherischen mit der calvinistischen Lehre bietet katholischerseits Ch. Boyer, Calvin et Luther, Accords et differences, Rom 1973. 11
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Die reformierte Lehre
dargestellt wird, die sich nicht von jenen der lutherischen Theologie unterscheiden, unmißverständlich die Notwendigkeit der Heiligung als eines untrennbaren Aspekts der Rechtfertigung sowie als eines integrierenden Bestandteils der Wirklichkeit des GI~ubens und des christlichen Lebens behauptet16 • Andererseits sollen sie die Gefahr einer möglichen Versuchung durch den Quietismus, der aus der lutherischen Lehre stammt, vermeiden, die sich später in der pietistischen Innerlichkeit und in der konservativen Trägheit der Sozialethik wirklich kundtat, wie es einerseits Kierkegaard und Bonhoeffer, andererseits Tillich, Ragaz und die marxistische Kritik angezeigt haben17• Aber die zufälligen Gründe, die Calvin gereizt haben mögen, sind nicht so wichtig: wichtig, entscheidend ist vielmehr die theologische Voraussetzung, die zu dieser Nachordnung der Rechtfertigung hinter die Heiligung oder zu dieser Angleichung von Rechtfertigung und Heiligung führt. Es scheint legitim zu sein, zu vermuten, daß der calvinistische Ansatz, sei es auch nur im Lichte der geschichtlichen Umstände, - die antilutherischen Formulierungen des Konzils von Trient im auf Luthers Tode folgenden Jahr, ein beginnender Rückbildungsprozeß im Innern des Protestantismus der zweiten Generation - von einer reiferen und weniger einseitigen Betrachtung der Fülle evangelischer Daten bestimmt wurde, um so der doppelten Herausforderung zu entsprechen, die Wiederentdeckung der Rechtfertigung sola fide zu bewahren und sie gegen Einwände und Mißverständnisse aller Art zu sichern18 • Es ist eine Tatsache, daß die Konstante der calvinistischen Lehre nicht ein Beharren nur auf dem Glauben oder nur auf den Werken, nur auf der Rechtfertigung oder nur auf der Heiligung ist. Calvin hätte nicht wie Luther höhnisch wegen seines Beharrens auf dem Wort sola angeklagt werden können, ein solarius zu sein 19 • Sein Interesse und die Sorge für den Gehorsam und das Handeln des Gläubigen im persönlichen Leben und in der Gesellschaft stehen 16 Die Sorge Calvins in dieser Hinsicht taucht wiederholt auf, z. B. im Brief an Sadoleto, OS 1, 40: "Freilich führen unsere Gegner ständig die Verleumdung im Munde, wir beseitigten den Eifer für Wohltaten aus dem christlichen Leben durch den Hinweis auf die Rechtfertigung aus Gnaden: Sie ist aber zu armselig, als daß sie uns bedriicken könnte." Und dennoch erwähnt er noch 20 Jahre später (in der Zwischenzeit - 1547 - ist das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient erschienen!) Inst. III, 16, 1 "die Unverschämtheit irgendwelcher Ruchloser, die uns unterstellen, d~a ... die guten Werke zerstört werden, wenn man die Rechtfertigung aus Glauben predigt ... ", daß er die Menschen verleite "zum Übeltun, wozu sie von Natur aus schon zu sehr neigen". Vgl. F. Wendel, a.a.O., 175; W. Niesei, a.a.O., 131; ders., Das Evangelium und die Kirchen, Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirehen 1953, 159; P. Marcei, Les rapports entre la justification et la sanctification dans la pensee de Calvin, RR 5 (1954), N. 4, 7ff; J. Boisset, Justification et Sanctification chez Calvin, in W. H. Neuser (Hg.), Calvinus Theologus, Neukirehen 1976, 131ff. 17 E. Kinder, RGG3, 5, 837, a.a.O., 10; T. Stadtland, a.a.O., 13. 18 T. Stadtland, a.a.O., 14; W. A. Hauck, Calvin und die Rechtfertigung, Gütersloh 1938. 19 WA 40/1, 241; WA 30/2, 636ff; BSLK, 174.
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außer Zweifel. Aber es wäre schwer, in seinem Denken eine Hinwendung zu dem einen oder dem anderen der evangelischen Elemente zu beweisen. Typisch ist der wiederholte Bezug auf 1. Kor 1,30, die synthetische Formel, in der der Apostel die Summe der Gaben, die uns Gott in Christus schenkt, darstellt: "Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung geworden ist." Calvin bemerkt, daß es schwierig würde, in der Schrift einen anderen Abschnitt zu finden, der "deutlicher alle Ämter Christi beschreibt"20. Die Anfangsbedingung ist, den Blick auf Christus zu konzentrieren und Teilhaber Christi zu sein21 . Wenn Christus sein Reich unter uns aufrichtet, und der Geist das Ereignis Christus in uns wirkt, folgt der ganze Rest: die Herrschaft über unser Leben hat sich geändert. Wir sind nicht mehr die Herren unseres Lebens, sondern Christus ist der Herr unseres Lebens: "oh, welchen Nutzen hat der Mensch, der erkannt hat, daß er nicht sich gehört - und der deshalb seiner eigenen Vernunft Herrschaft und Regiment über sich selbst entzogen hat, um sie Gott zu überantworten!" schreibt Calvin im Kapitel über die Hauptsumme des christlichen Lebens 22 . "Wir gehören nicht mehr uns, sondern dem Herrn" , "non nostri sumus sed Domini", fügt Calvin im selben Kapitel hinzu, und auf seinen Spuren legt der Heidelberger Katechismus dem Gläubigen das schöne Bekenntnis in den Mund: "Was ist dein einiger trost in leben und in sterben? Antwort. Das ich mit Leib und Seellbeyde in leben und in sterben a nicht mein b/sonder meines getrewen Heilands Jesu Christi eigen bin", "der uns mit seinem wort und geist regiert."23 Wenn man Christus gehört, wenn man in Christus alles besitzt und wenn Christus mehr als alles andere ist, hat es also keinen Sinn, den Primat dieser oder jener Gabe, die wir von ihm empfangen, den Vorzug einzuräumen oder ihr den Primat zu übertragen, weil alle diese Gaben ihm untergeordnet und auf ihn bezogen werden: Christus umfaßt sie alle und von ihm hängen alle ab. "Denn diese Gnaden hängen wie durch eine unzertrennliche Fessel zusammen, so daß der, der sie zu trennen trachtet, gewissermaßen Christus zerreißt. "24 Die Voraussetzung der Diskussion über den Primat der Rechtfertigung oder der Heiligung, des Glaubens oder der Werke ist also sinnlos, weil es keine Alternative gibt. Es wäre so, als wollte man darüber diskutieren, ob 20 CR 77, 332. Seit der Widmung für Galeazzo Caracciolo hat Calvin die zentrale Stellung Christi hervorgehoben, als er auf die Berufsentscheidung des neapolitanischen Adeligen hinwies (Kommentar zu 1. Kor 1,30). 21 Inst. III, 16, 1. n Inst. III, 7, 1. 23 W. Niesei (Hg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Zollikon - Zürich 0.J.2, 149, 157 (Frage 1 und 31) (Niesei, BS). 24 CR 77, 331.
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Die refonnierte Lehre
man das Sonnenlicht von der Sonnenwärme trennen könnte: es gibt keinen passenderen Vergleich, um zu beweisen, daß die Diskussion gegenstandslos ist25 • Die zwei entgegengesetzten Thesen lösen sich auf einer höheren Ebene: der Ebene Christi. "Die Lehren von der Heiligung und von der Rechtfertigung" sind "bei Calvin nichts anderes ... als Entfaltung der uns zugewandten Christuswirklichkeit ... Gerechtigkeit und Heiligung sind in Jesus Christus Wirklichkeit und bilden in ihm eine Einheit. "26 Die neue Existenz in Christus', die der Heilige Geist im Menschen verwirklicht, indem er ihm das Hören des Wortes, das heißt den Glauben ermöglicht, bringt gleichzeitig sowohl die Rechtfertigung als auch die Heiligung mit sich.
2. Die Gleichzeitigkeit von Rechtfertigung und Heiligung In dieser Hinsicht drückt sich Calvin ganz klar aus. Die Abschnitte seiner Werke, in denen er diese Gleichzeitigkeit bekräftigt, sind zahllos, und wir müssen uns darauf beschränken, einige davon zu zitieren, die am bezeichnendsten erscheinen. "Denn wer Gerechtigkeit erlangt hat, besitzt Christus; Christus aber kann nirgends ohne seinen Geist sein: daraus folgt, daß die Gerechtigkeit aus Gnaden notwendigerweise mit der Wiedergeburt verbunden ist. Will man demnach recht verstehen, wie Glaube und Werk untrennbare Dinge sind, muß man auf Christus schauen, der, wie der Apostel lehrt, uns zur Gerechtigkeit und Heiligung gegeben ist (1. Kor 1,30). Wo also jene Glaubensgerechtigkeit, die wir aus Gnaden verkündigen, ist, da ist Christus. Wo Christus ist, da ist der Geist der Heiligung, der die Seele zu einem neuen Leben wiedergebiert. Und andererseits: wo der Eifer für Heiligkeit und Unschuld nicht herrscht, da ist weder der Geist Christi noch Christus selbst. Wo Christus nicht ist, da ist weder Gerechtigkeit noch Glaube, der Christus zur Gerechtigkeit ohne den Geist der Heiligung nicht ergreifen kann. "1 " ... und wie man Jesus Christus nicht in Teile reißen kann, sind auch diese beiden Dinge untrennbar, da wir sie in ihm zusammen und verbunden empfangen, nämlich Gerechtigkeit und Heiligung. "2 "Denn wir träumen nicht von einem Glauben, der aller guter Werke entleert ist, oder von einer Rechtfertigung, die ohne diese bestehen könnte; aber darin besteht Inst. I1I, 11, 6. W. Niesel, Das Evangelium und die Kirchen, Ein Lehrbuch der Symbolik, Neukirchen 1953, 159 (19602). 1 I. Calvinus lacobo Sadoleto Cardinali, OS 1, 470. Vgl. den Kommentar zur Antwort Calvins über das Thema Rechtfertigung von l. Cadier, Sadolet et Calvin, in Regards contemporains sur lean Calvin, Actes du Colloque Calvin, Straßburg 1964 - Paris 1965, 246. 2 lnst. I1I, 11, 6. 25 26
Die Gleichzeitigkeit von Rechtfertigung und Heiligung
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der Knoten bei diesem Stoff, daß wir bekennen, daß der Glaube und gute Werke notwendigerweise zusammen verbunden sind; jedenfalls setzen wir die Gerechtigkeit auf den Glauben, nicht auf die Werke. Der Grund dafür ist leicht zu erklären, dadurch daß wir auf Christus schauen, an den sich der Glaube wendet und von dem er seine Kraft nimmt. Denn woher kommt, daß wir durch den Glauben gerechtfertigt werden? Weil wir durch diesen die Gerechtigkeit Christi erlangen, die allein uns mit Gott versöhnt. Nun können wir diese Gerechtigkeit nicht erlangen, ohne auch die Heiligung zu haben. Denn wenn es heißt, daß uns Christus zur Erlösung, Weisheit und Gerechtigkeit gegeben wird, wird parallel dazu hinzugefügt, daß er uns zur Heiligung gegeben wird (1.Kor 1,30). Daraus folgt, daß Christus niemanden rechtfertigt, den er nicht gleichzeitig heiligt ... Wollen wir also Gerechtigkeit in Christus empfangen? Zuerst müssen wir Christus besitzen. Nun können wir ihn nicht besitzen, ohne daß wir Teilhaber seiner Heiligung sind ... der Herr, Jesus, gibt niemals jemandem den Genuß seiner Wohltaten, ohne sich selbst zu geben; er breitet sie alle beide zusammen aus und niemals die eine ohne die andere. Von daher ergibt sich, wie sehr dieser Satz wahr ist, daß wir nicht ohne die Werke gerechtfertigt werden, wie dies auch nicht durch Werke geschieht, um so mehr als in der Teilhabe an Christus, in der unsere Gerechtigkeit ruht, nicht weniger die Heiligung enthalten ist. "3
Schon in diesen Abschnitten ist es offenkundig, daß es auf calvinistischem Boden nicht möglich ist, zuerst den Glauben und dann die Werke zu behandeln: die Erörterung der Rechtfertigung mittels des Glaubens geschieht gleichzeitig mit der Erörterung der Heiligung mittels der Werke. Darf man vielleicht annehmen, daß diese Koppelung eine Milderung des lutherischen Radikalismus oder eine Gefahr gesetzlicher Verschrnutzung der Rechtfertigungsbotschaft aus Gnade mittels des Glaubens mit sich bringt, wie die Lutheraner traditionell geneigt sind zu vermuten? Wir meinen vielmehr, daß wir hier ein systematisches Phänomen der Radikalisierung des sala gratia, des sala tide und schließlich des salus Christus vor uns haben. Dies gilt für das sola gratia in dem Maße, wie nicht nur die Rechtfertigung, sondern auch die Heiligung als Werk Gottes, nicht nur als eine mit dem Werk Gottes übereinstimmende Folgerung, die der Verantwortung des Gläubigen anvertraut wird, sondern als eine Gabe betrachtet werden. Diese Gabe ist in der grundlegenden Gabe, Christus, impliziert und wird als solche durch jene Lehre der Erwählung stark hervorgehoben, die verstanden wird als "die ganze Sache unseres Heils auf Gott allein zu setzen"4. Für das sala tide gilt, auch wenn die Formel nicht ebenso häufig wie bei Luther auftauchts : der Glaube wird gewiß nicht synergistisch Inst. III, 16, 1. 4 Inst. III, 21, 1. Im Kommentar zu Gal 5,6, CR 78, 246, wagt Calvin den Satz: "Denn wir lehren auch nicht, daß der Glaube, der rechtfertigt, allein sei; sondern wir erklären, daß er ständig mit guten Werken verbunden ist. Wir dringen nur darauf, daß er allein zur Rechtfertigung gilt ... Aber wenn es sich um die Sache der Rechtfertigung handelt, dann schließen wir alle Werke aus .... Wenn du dich also mit der Sache der Rechtfertigung beschäftigst, hüte dich, daß du 3
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gesehen als Antwort des Menschen auf das Handeln Gottes; "zu glauben ist eine Gabe", es ist unmöglich zu erforschen, warum sie dem einen, nicht dem anderen gegeben wird. Dies ist "ein tiefes Geheimnis des Kreuz~s, ein Geheimnis der Ratschlüsse Gottes", der Glaube ist "Werk Gottes"/;, eine himmlische und übernatürliche Gabe7 , die "uns vom Tode zum Leben durchdringen läßt"8, Werk und Schöpfung des Geistes, ohne die die Menschen Gefangene ihres Unglaubens bleiben9 , weil das Wort Gottes in unseren Geist nicht eindringen kann, ohne daß "der Geist, der der innere Meister ist, ihm durch seine Erleuchtung Zugang verschafft"lo. Damit liegt letztlich eine Radikalisierung des solus Christus vor. Wie wir gesehen haben, betrachtet Calvin die Gemeinschaft mit Christus als die Bedingung und das Wesen jeder Verwirklichung Gottes im Menschen. Die christologische Konzentration hindert ihn, die evangelischen Motive wie Gnade, Heil, Rechtfertigung, Heiligung und Wiedergeburt als abstrakte Wesenheiten für sich selbst zu verfolgen. Alle diese Motive können nichts anderes sein als religiös und ethisch autonome Werte ohne christlichen Sinn, wenn sie von Christus getrennt werden. Sie erwerben ihren Sinn und ihre Wahrheit nur, wenn sie auf Christus bezogen werden: Christus ist ihr Inhalt.
3. Die theozentrische Linie der Rechtfertigung "Es ist Gott allein, der rechtfertigt." In dieser Formel könnte man die gesamte calvinistische Rechtfertigungslehre zusammenfassen, wenn man berücksichtigt, daß sich die Formel in dem Maße konkretisiert und präzisiert, wi~ sie unmittelbar auf Christus bezogen wird, der "uns gegeben wurde zur Gerechtigkeit "1. Man könnte bemerken, daß es sich um ein großartiges Korrektiv handelt, das dazu bestimmt ist, die Mißverständnisse zu beseitigen, denen die lutherische Lehre oder eine ihrer systematischen Vervollständigungen ausgesetzt sein konnte oder sein kann. Es sollte die letzte Versuchung eines Anthropozentrismus ausreißen, die sich im sola fide verhüllen konnte und kann. So hat es Karl Barth in einer nicht irgendeine Erwähnung der Liebe oder der Werke zuläßt, sondern halte die exklusive Partikel mit den Zähnen fest" (d.h. allein). 6 Inst. IlI, 2, 35. 7 Inst. III, 1, 4. 8 Inst. IlI, 2, 13. 9 Inst. III, 1, 4. 10 Inst. III, 2, 34; III, 1, 4. Vgl. P. Brunner, Vom Glauben bei Calvin, Tübingen 1925; W. E. Stürmann, A Critical Study of Calvin's Concept of Faith, Tulsa 1952. Eine qeuere Arbeit, die auch ausführlich die Beziehung zwischen Glaube und Rechtfertigung untersucht, die aber Calvins Auffassung in dem Maße entstellt, wie sie ihn in einer katholischen Begriffsstruktur denkt, ist die von H. SchützeicheI, Die Glaubenstheologie Calvins, München 1972. 1 Inst. IlI, 11, 7.
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seiner besten Schriften, in der er das Wesen und die Aufgabe der reformierten Lehre behandelt, klar gesehen: " ... nicht sowohl darauf legt das reformierte Bekenntnis den Nachdruck, daß der Mensch statt durch Werke durch den Glauben gerechtfertigt werde, als darauf, daß es Gott sei und nicht der Mensch, der diese Rechtfertigung vollziehe. "2 Nicht nur das, aber man muß hinzufügen: in der calvinistischen Perspektive ist die wesentliche Frage weder die Rechtfertigung des Menschen, noch sein ewiges Heil, noch seine sittliche Besserung, noch seine Sicherheit und sein innerer Friede: dies sind Fragen, die immer noch den Menschen betreffen. Es ist wohl eine Verkettung von Ursache und Wirkung, daß auf lutherischem Boden (nicht wegen lutherischer theologischer Voraussetzungen) das Beharren auf der Rechtfertigung das Phänomen des Pietismus hervorgebracht hat, dessen späterer, verweltlichter Ausdruck auf kulturellem Gebiet die romantische Empfindsamkeit gewesen ist: beide teilen die Verantwortung, einen Menschen geformt zu haben, der auf sich selbst zurückgebogen gegenüber den gesellschaftlichen Problemen verschlossen isf. Die wesentliche Frage, die alle anderen bedingt, umfaßt und löst, ist die Gottesfrage, die Verlagerung des Menschen aus der Mitte seiner selbst und seiner Interessen auf Gott und die Hingabe seines Lebens an die Sache Gottes. Luther - wir haben es belegt - ~at mit unvergleichlicher Energie gegen die Begierde des amor sui gedonnert, aber das Beharren auf der Rechtfertigung konnte dem Gegenangriff eines sublimierten amor sui das Tor öffnen. Calvin hat die Gefahr gesehen. Im Brief an Sadoleto bemerkt er schon 1539, daß es kein Anzeichen eines gesunden, theologischen Bewußtseins ist, wenn sich der Mensch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. "Denn wir sind vor allem für Gott und nicht für uns geboren." Die Berufung des Christen besteht darin, die Ebene zu überwinden, auf der er nur "die Seligkeit der eigenen Seele" zu erwerben sucht4 • Die durch den evangelischen Bußruf erzeugte Reue führt den Menschen zu einer neuen Gesinnung, die ihn dahin ausrichtet, sich selbst, das eigene Leben, die eigene Aktivität, nicht länger in den Dienst für sich selbst, für den eigenen wirtschaftlichen oder geistlichen Gewinn, für das eigene berufliche oder soziale Fortkommen, für das Gedeihen und den Wohlstand der eigenen Familie zu stellen5 • Aus Liebe zum Evangelium, das ihn erreicht und ergriffen hat, wird der Mensch dazu gebracht, sich selbst und allem abzusagen, was ihm gehört, nämlich seinen Plänen von Karriere und sozialer Bestätigung sowie "Macht zu erstreben, Reichtümer anzuhäufen "6. Was seinen praktischen Lebensunterhalt betrifft, vertraut K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, München (1924) 1929, 200. V. Subilia, n pietismo. Conseguenze attuali di un fenomeno inattuale, Protestantesimo 18 (1963), 9. 4 OS 1, 463. 5 Inst. m, 7, 9. 6 Inst. m, 7, 8. Theologisch und geschichtlich verantwortungslos, inspiriert von einer antievangelischen Allergie, die sich auf Voltaire stützt, hat man behaupten können und kann 2
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er sich selbst und die eigenen Lieben "dem Schutz Gottes" im Bewußtsein an, daß all das, was ihm plötzlich zustoßen kann, nicht aus seinem eigenen Fleiß oder Glück kommt, sondern vielmehr von dem guten Willen des Gottes, der alle Dinge zum besten jener wirken läßt, die er nach seinem Vorsatz berufen hat. Er wird ihnen "immer etwas geben, um davon zu leben"? Seine Berufung besteht übrigens darin, sich nicht mehr dem Schema dieser Welt anzupassenB, sondern "sein Leben nach der Gesetzesregel Gottes einzurichten" (compasser und für den erkannten und bekannten Herrn zu leben und zu sterben. Er will die ganze Kraft des eigenen Verstandes "zum Dienst für Gott" einsetzen, "um fortan nichts mehr zu denken, reden, sinnen, tun, außer zu seiner Ehre", als völlig Bekehrter, dem Geist Unterworfener und von ihm Regierter. "Denn es ist nicht erlaubt, eine heilige Sache zu profanem Gebrauch zu verwenden "10: der Gläubige gehört nämlich nicht mehr sich selbst, sondern er wird zur Seite gestellt, das heißt im biblischen Wortsinn dem Herrn geheiligt. Es gibt keinen Bereich mehr in seinem Leben, der sich dem Zugriff des Evangeliums und der Herrschaft Gottes entziehen könnte. Gott "befiehlt uns ohne Ende und ohne Unterlaß, unser ganzes Leben zu arbeiten" in einer Perspektive der Buße. Wir können nicht daran denken, daß wir befreit sind, "uns täglich zu Gott zu bekehren "11, wobei man seinen eigenen Eifer einbringt, sich zu verändern12 • In dem Wissen, berufen zu sein, sich völlig dem Dienst Gottes zu weihen und zu widmen, hat der reformierte Gläubige kein Interesse mehr an sich selbst und seinem eigenen geistlichen Schicksal bis dahin, daß er kein Interesse 'an der eigenen Rechtfertigung hat, "weil hier in der Tat letztlich von Gott und nur von Gott, dem schenkenden und fordernden, nicht aber mit jener herzbewegenden Einlinigkeit Luthers vom Glauben und nur vom Glauben die Rede sein soll"13. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung allein aus Glauben erscheint eine Relativierung nicht wegen eines verminderten
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man ständig wiederholen, daß das Christentum die "spezielle Religion des Kapitals" ist, vor allem, daß der Protestantismus (besonders der Calvinismus) als bürgerliche Entwicklung des Christentums betrachtet, die dem Kapitalismus mehr entsprechende Form der Religion ist. K. Marx, Theorie über den Mehrwert, in: Das Kapital, Bd. 4, Teil 3, Berlin 1968, 442. Vgl. 1. Colletti, Il marxismo eHegel, Bari 1973<, 423ff. Die These, die auf der Grundlage der "Idealtypen" Max Webers verbreitet wurde, ist ein soziologisches Dogma geworden, das im Klima der nachfolgenden Konformismen, von denen sich unser Jahrhundert nicht befreien konnte, kritiklos weiterhin wiederholt wird: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20 u. 21 (1904/ 1905), Wiederabdruck der überarbeiteten Fassung in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920. Vgl. H. R. Trevor-Roper, Religion, Reformation und sozialer Umbruch, Die Krisis des 17. Jahrhunderts, Frankfurt - Berlin 1970. Vgl. im vorausgehenden Kapitel Anmerkung 3 zu § 15. ? Inst. III, 7, 9, 10. 9 Inst. III, 3, 16. 8 Inst. III, 7, 1. 10 Inst. III, 7, 1. 11 Inst. III, 3, 18. 12 Inst. III, 3, 1. 13 K. Barth, a.a.O., 207.
Die christologische Konzentration
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Bewußtseins seiner evangelischen Grundlegung, sondern vielmehr wegen einer strengeren Übereinstimmung mit seiner Bedeutung und Tragweite, weil die Größe Dessen, an den der Glaube glaubt, den gesamten Raum einnimmt. Dies ist im Grunde die notwendige Bewahrheitung der wahren Buße und des wahren Glaubens, wie Calvin in seiner Abendmahlsschrift von 1541, dem Petit traicte de la saincte cene, sagt: "Folglich müssen wir prüfen, ob wir in uns selbst wahre Buße und wahren Glauben an unseren Herrn Jesus Christus haben. Sie sind zwei so verbundene Dinge, daß das eine nicht ohne das andere bestehen kann. Denn wenn wir meinen, daß unser Leben in Christus liegt, müssen wir erkennen, daß wir in uns tot sind. "14. Der Gedanke wird in der Institutio wieder aufgenommen und entwickelt. Was ist die Buße anderes als eine völlige Verwandlung der Inspiration des Lebens in seinem Zweck und in seiner Führung? "Die Summe der Buße ist, daß wir von uns selbst auswandern und zu Gott bekehrt werden; und daß wir unsere Pläne und unseren ersten Willen ablegen und einen neuen annehmen!" "um Gott und dem Weg zu folgen, den er uns zeigt", "bereit und fertig zu folgen", wohin er uns ruft. Wir führen ein Leben, "das in allen seinen Handlungen zeigt und bezeugt" den Radikalismus einer geänderten Ausrichtung15 • Man könnte also diesen Fixpunkt festhalten, wenn, wie der lutherische Theologe Althaus geurteilt hat, zwischen der lutherischen und calvinistischen Theologie beim Thema Rechtfertigung "kein wesentlicher Unterschied" besteht, "die theozentrische Linie der Rechtfertigungslehre" hat nur in der calvinistischen Theologie voll "die maßgebende Bedeutung erlangt, die ihr zukommt", während sie in anderen Zweigen der evangelischen Theologie und der konfessionellen Ausprägungen des evangelischen Glaubens nicht mit der gleichen, klaren Strenge entfaltet werden konnte16 •
4. Die christologische Konzentration
Aber einmal mehr ist die theozentrische Linie nur dann evangelisch legitim, wenn sie sich in der christologischen Linie konzentriert. Es ist symptomatisch, daß in der calvinistischen Perspektive der gekreuzigte und auferstandene Christus die Achse des radikalen Wandels ist, der sich in der Ausrichtung des Menschen niederschlägt, wenn er mit dem Evangelium und Christus in Berührung kommt. Calvin stellt fest, "eine wahre Bekehrung unseres Lebens, um Gott zu folgen und dem Weg, den er uns OS 1, 512. 15 Inst. 111, 3, 5. P. Althaus, Gottes Gottheit als Sinn der Rechtfertigungslehre Luthers, in Luther und die Rechtfertigung, Darmstadt 1971, 29ft. 14
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zeigt", "umfaßt sowohl das Absterben des Fleisches und unseres alten Menschen als auch die Lebendigmachung im Geiste"l. Jetzt kommt die eine und die andere dieser Wirklichkeiten zu uns "durch die Gemeinschaft, die wir mit Christus haben. Denn wenn wir an Christi Tod wahrhaftig Anteil haben, dann wird durch dessen Kraft unser alter Mensch gekreuzigt und die Masse der Sünde, die in uns wohnt, wird abgetötet, so daß die Verderbnis unserer ersten Natur ihre Kraft verliert (Röm 6,6). Wenn wir seiner Auferstehung teilhaftig werden, dann werden wir durch sie zu neuem Leben erweckt, das Gottes Gerechtigkeit entspricht. "2 Christus ist in der Tat nicht zu seinem privaten Nutzen, sondern für uns gekreuzigt worden und auferstanden3 • Nur wenn man den Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus heftet, kann das Heil gegründet und fest sein'. Wie Otto Weber zu Calvin bemerkt hat: "Die Soteriologie ist nichts anderes als recht verstandene und aufgenommene Christologie. "5 Die systematische, christologische Konzentration Calvins wird dadurch bewiesen, daß sich der Bezug zwischen Rechtfertigung und Heiligung nach dem Schema des munus triplex, dem dreifachen Amt Christi, gliedert, dessen erste Erwähnung in der kirchlichen Tradition auf Euseb zurückzugehen scheint6 und dessen Motiv in den Abhandlungen Calvins beharrlich wiederkehrt. Auch bei den Funktionen Christi geht Calvin wie beim Bezug zwischen Rechtfertigung und Heiligung vor. Das Gleichgewicht des theologischen Bezugs hätte verlangt, daß die priesterliche Funktion Christi, die ganz offenkundig bei der Rechtfertigung des Menschen vorangeht, zuerst erwähnt und behandelt worden wäre. Das Versöhnungswerk Christi ist tatsächlich die Bedingung der Versöhnung und der Gemeinschaft mit Gott, folglich der Berufung, des Glaubens und der Sendung7 • Calvin folgt statt dessen einer unvorhersehbaren Ordnung: das Amt des Propheten, des Königs, des Priesters'. Der Dienst Christi, der viel unmittelbarer die Lebensbedingung, das Wohl und das Heil des Menschen betrifft, ist auf die letzte Stelle verbannt, fast um zu unterstreichen, daß man den Akzent stärker auf das extra nos als auf das in nobis, mehr auf die Sendung als auf das Heil setzen muß. Unseres Wissens begründet Calvin die Wahl der befolgten Anordnung nicht ausdrücklich. Offenkundig ist für ihn die Anordnung der Motive nicht relevant. Aber es ist die Gelegenheit, um sich mit Otto Weber zu fragen: Was will er festlegen, wenn er dieser Ordnung folgt? lInst. III, 3, 5. VgI. J. Boisset, Sagesse et saintete dans la pensee de Calvin, Paris 1959, 65. Inst. III, 3, 9. 3 Inst. II, 17, 6. 4 Inst. II, 16,3,5. 5 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirehen 1962, 200. 6 F. Wendel, a.a.O., 169; J. T. Jansen, Calvin's doctrine of the work of Christ, London 1956, 23ff. 7 Inst. II, 17, Hf. 8 Inst. II, 15, Hf. 2
Die christologische Konzentration
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Zunächst will er uns davor bewahren, das Werk Christi einseitig zu verstehen im Bewußtsein, daß sich die Lehre des munus trip lex wunderbar zu diesem Zweck eignet. Otto Weber hat eine Reihe geschichtlicher Beispiele für einseitige Versionen des munus verzeichnet9 • Beharrt man in zu ausschließlicher Weise auf dem prophetischen Amt, dann verwandelt man Christus in einen Meister, der gnostisch die Geheimnisse Gottes lehrt, der aufklärerisch die Gebote der Sittlichkeit verteidigt und existentialistisch Anreize für ein neues Selbstverständnis liefert. Beharrt man andererseits ebenso ausschließlich auf dem königlichen Amt, setzt man das Evangelium der Gefahr aus, sich in einen Messianismus aufzulösen, der es in einer geschichtlich bedingten Befreiungsbewegung wie der Bewegung der Zeloten verbraucht. Die Alternative des Glaubens und des Unglaubens verwandelt sich dann in eine Wahl zwisc~en dem einen und dem anderen gesellschaftlichen und politischen System, die einer neuen Gesetzlichkeit tributpflichtig ist. Dabei wird das eine System auf grob manichäische Weise der Ungerechtigkeit der Gottlosen, das andere der Gerechtigkeit Gottes gleichgestellt. Beharrt man endlich gleichermaßen ausschließlich auf dem priesterlichen Amt, wird ein Vorgang mystischer, psychologischer oder liturgischer Verinnerlichung der Erlösung unvermeidlich, bei der der Glaube nur noch am Heil des gläubigen Einzelnen interessiert ist und die Gemeinde zum Treffpunkt der Erlösten, die ihre eigene, introvertierte Frömmigkeit pflegen wollen, oder zur heiligen Institution wird, die das Monopol des Göttlichen hat und Versöhnungsriten zelebriert. Die Eschatologie verwandelt sich in eine Abstraktion von der Geschichte, die ethischen Aufgaben in der Geschichte werden als profan und entheiligend zur Seite gerückt. Calvin will uns ganz offensichtlich davor bewahren, das Werk Christi einlinig zu verstehen. Indem er an der Komplementarität der drei Ämter Christi festhält, vermeidet er, die Daten der evangelischen Botschaft partiell und damit fehlerhaft und entstellt mißzuverstehen. Als Ausdruck seiner systematischen Begabung kann er dann gleichzeitig den richtigen Bezug zwischen Rechtfertigung und Heiligung mit der schönen Formulierung "eine Melodie und ein Akkord", die zwischen Gottes Gerechtigkeit und unserem Gehorsam bestehen, festhalten10 • Alles neigt also dem Realismus und der Wirksamkeit der Rechtfertigung zu, die sich auf das Werk Christi als Priester gründet, die sich in der Unterwerfung unter Christus als König verwirklicht, die sich im Hören auf Christus als Propheten kundtut, ohne einer Spannung zwischen Dogmatik und Ethik Platz zu lassen.
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O. Weber, a.a.O., II, 200ff. Inst. III, 6, 1.
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Die refonnierte Lehre
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Hinter der Korrelation zwischen den verschiedenen Ämtern Christi und der Korrelation, die daraus zwischen Rechtfertigung und Heiligung folgt, steht ein starkes, theologisches Bewußtsein der Korrelation zwischen Christus und Heiligem Geist, das heißt zwischen der Heilsökonomie der Inkarnation und der Heilsökonomie des Geistes. Sie gründet sich auf die typische Theologie der Himmelfahrt, die das calvinistische Denken auch in anderen Bereichen von der Christologie bis zur Ekklesiologie und zur Sakramentenlehre wesentlich bestimmt, und die die reformierte Konfession von den anderen Konfessionen unterscheidetl. Alles, was aus dem Werk Christi in seinem dreifachen Amt stammt, wird im Menschen durch den Geist verwirklicht: der Geist ist "der Urheber der Versöhnung"2, er bewirkt die Versöhnung des Menschen mit Gott. Der Geist "schenkt den ganzen Christus, also nicht nur die Zurechnung der Gerechtigkeit, auch die reale Lebenserneuerung. Rechtfertigung und Heiligung gehören untrennbar zusammen... Christus rechtfertigt keinen, den er nicht zugleich auch heiligt, und umgekehrt. Dieser christologischen Begründung der Einheit von Rechtfertigung und Heiligung entspricht die pneumatologisehe, daß Christus nicht von seinem Geist getrennt werden kann. Denn Gemeinschaft mit Christus heißt immer auch zugleich Gemeinschaft mit seinem erneuernden Geist. "3 Den Gläubigen einzig in den Bezug zu Christus und seiner Gerechtigkeit stellen zu wollen, bedeutete nicht nur, ihm nicht zu erlauben weder zu Christus noch zu seiner Gerechtigkeit zu gelangen, sondern auch ihn künstlich aus seiner gegenwärtigen Lage zu entfernen, die sich in die Heilsökonomie des Geistes eingliedert. Die Heilsökonomie des Geistes nimmt ihren Anfang mit dem Ende der geschichtlichen Gegenwart Christi und stellt seine geistliche Gegenwart dar. Nur der Geist kann im Menschen verwirklichen, was Christi ist, indem er den alten Menschen, der vom ersten Adam abstammt, in einen neuen verwandelt, der durch den zweiten Adam bestimmt ist. Gewiß bleiben im Menschen, in dem der Geist sein erneuerndes Handeln zu üben beginnt, in beunruhigender Weise, was Calvin "die Überbleibsel "4 einer Existenz nennt, die von ganz anderen Kriterien, nämlich vom Geist dieser Weltzeit inspiriert sind. Der Artikel 13 der Confessio Scotica behauptet: "Denn sobald der Geist des Herrn Jesus, welchen 1 W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Göttingen 1957, 140ff; P. M. Hoogland, Calvin's Perspective on the Exaltation of Christ in Comparison with the PostRefonnation Doctrine of the Two States, Kampen 1966. Zum trinitarischen Hintergrund dieser Korrelation vgl. P. Jacobs, Prädestination und Verantwortlichkeit bei Calvin, Neukirchen 1937, 106ff. 2 CR 83, 111 (Kommentar zu Hebr 9,14). 3 T. Stadtland, a.a.O., 129-130. 4 lnst. III, 3, 11.
Die Leitung des Geistes
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Gottes erwählte Kinder im wahren Glauben empfangen, vom Herzen eines Menschen Besitz ergreift, kann es nicht anders sein, als daß er diesen Menschen von neuem geboren werden läßt, so daß er beginnt, zu hassen, was er zuvor liebte, und beginnt zu lieben, was er zuvor haßte. Von daher kommt der dauernde Kampf zwischen dem Fleisch und dem Geist in den Kindern Gottes (Ga!. 5,16f) .... Wogegen der Geist Gottes, der unserem Geist Zeugnis gibt, daß wir Gottes Kinder sind (Röm. 8,16), uns dem Teufel widerstehen, vor der unreinen Freude uns fürchten, uns in Gottes Gegenwart nach Befreiung von der Knechtschaft des Verderbens seufzen und uns endlich so über die Sünde triumphieren läßt, daß sie in unseren sterblichen Leibern nicht regieren kann. Der fleischliche Mensch kennt diesen Kampf nicht, da er von Gottes Geist verlassen ist. "5 Wie Barth in seinem glänzenden Kommentar zu diesem reformierten Bekenntnis von 1560 sagt: Christus ist "die große Veränderung unseres Lebens". Die radikale Veränderung im Gegenstand unserer Gefühle, die sein Geist in uns erzeugt, ist das Zeichen "der göttlichen Krisis, die über unsere Existenz hereingebrochen ist"6. Die Formulierungen der Confessio Scotica sind charakteristisch für die reformierte Linie: das klassische simul peccator et iustus wird ganz offenkundig bekräftigt. Es schleicht sich keine täuschende oder beruhigende Idealisierung des neuen Lebens des Christen ein. "So sind wir noch weit von der Vollkommenheit entfernt", "es bleibt uns noch immer viel Schwachheit"; "wir sind in allerlei Laster verstrickt". "Daraus folgt, daß wir sorgfältig wachen müssen, um uns zu schützen, damit wir nicht vom hinterhältigen Verrat unseres Fleisches überrascht werden, und daß wir nicht ausruhen dürfen, als wären wir nicht in Gefahr. "7 " ••• unsere Lage ist elend während des gesamten Verlaufes unseres gegenwärtigen Lebens, wo wir unter dem Kreuz kämpfen müssen. "8 Jede Möglichkeit eines Nachgebens gegenüber einem gewissem Quietismus, einer gewissen statischen Ethik, wird ohne Nachsicht und Schwäche ausgelöscht. Der Ton fällt energisch auf die Tatsache, daß der Kampf gegen den alten Menschen und den Geist der Welt keine Ruhe kennt. Die Sünde, das Fleisch, die Welt können nicht mehr die totale Herrschaft über den Menschen haben, um so seine Existenz und sein Betragen in der alten Richtung zu bestimmen, weil das Evangelium sie entmächtigt, wenn auch noch nicht zerstört hat. "Es ist unser Beruf dagegen anzukämpfen. "9 Die Gläubigen üben gegenüber sich selbst und gegenüber den Tendenzen ihrer Zeit einen konstanten Dienst der Wachsamkeit und kritischen Kontrolle, um ihnen gegenüber die Freiheit des Glaubens kundzutun und nicht von ihnen überwältigt zu werden. Gott 5 K. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach refonnatorischer Lehre, Zollikon 1938, 20-21; Niesel, BS, 95-96. 6 K. Barth, a.a.O., 115, 132. 7 Inst. III, 3, 14. 8 Inst. II, 15, 4. 9 Inst. III, 3, 14.
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Subilia, Rechtfertigung
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Die refonnierte Lehre
gewährt ihnen "die Kraft seines Geistes, um sie in dem Kampf, den sie gegen sich haben, zu überlegenen Siegern zu machen, aber die Sünde hört bloß auf, in ihnen zu herrschen, nicht aber in ihnen zu wohnen. Deshalb sagen wir, der alte Mensch wird so gekreuzigt, und in den Kindern Gottes ist das Geseti der Sünde so abgetan (Röm 6,6), daß in ihnen trotzdem noch Reste bleiben, nicht um in ihnen zu herrschen, wohl aber, um sie durch das Bewußtsein ihrer Schwachheit zu demütigen. "10 Wenn das Evangelium bei einem Menschen eingreift, bewirkt es eine andere Ausrichtung: er erfährt eine wirkliche, keine teilweise, sondern eine totale Veränderung nicht nur der Ethik, sondern auch der Gesinnung. Es handelt sich um "eine wahre Bekehrung unseres Lebens, um Gott und dem Weg, den er uns zeigt, zu folgen", um "eine Veränderung nicht nur in den äußeren Werken, sondern auch der Seele"ll. Dies gilt nicht in dem Sinne, daß der bekehrte Mensch gerecht und gegen die Sünde unempfänglich würde: Wie er zum Leben im Glauben auf der Grundlage der Gerechtigkeit Christi gekommen ist, so muß er in seinem Leben als Gerechtfertigter immer wieder von neuem von der Gerechtigkeit extra se, von der Vergebung der Sünden, leben. Es handelt sich auch nicht im geringsten darum, die Lehre des Konzils von Trient zu assimilieren, nach der sich die Rechtfertigung teils auf die Vergebung der Sünden und teils auf die geistliche Wiedergeburt gründet. Man muß behaupten, "daß sie eine einzige und einfache" Gerechtigkeit ist, "die ganz in der Annahme durch Gott beinhaltet ist, die umsonst ist, ... denn wir sind in Christus allein gerecht" 12. Dies ist die mögliche und notwendige Unterscheidung, die man treffen muß, die einige Forscher verführt, von einer doppelten Rechtfertigung zu sprechen, die das Spezifikum des calvinistischen Denkens wäre. Es ist die Unterscheidung "zwischen der ,iustification du commencement' und der ,iustification apres': zwischen der Rechtfertigung des noch nicht wiedergeborenen und der Rechtfertigung des wiedergeborenen Sünders. Wohlgemerkt: hier wie da ist es eine Rechtfertigung des Sünders! "13 Es ist im allgemeinen nicht nur der Mensch, der der Rechtfertigung bedarf; auch die vom Geist im gerechtfertigten Menschen bewirkten Werke bedürfen der Rechtfertigung14 • Die Formel der Rechtfertigung lautet nicht teils aus Gnade, teils aus Werken: die einzig evangelisch gültige Formel für den Menschen vor dem Glauben und für den Menschen im Glauben lautet sola gratia, erst recht wenn sein Leben unter der Herrschaft des Geistes steht 15 • "Deshalb können wir mit gutem Recht sagen, daß nicht nur der Mensch, sondern auch seine Werke durch den Glauben allein gerechtfertigt werden. Oder wenn solche Gerechtigkeit der 10
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lnst. III, 3, 11. 11 lnst. III, 3, 5, 6. CR 35, 448 (Acta Syn. Trid.). 13 W. Krusche, a.a.O., 279. CR 51, 213, 718ff, 726; T. Stadtland, a.a.O., 199. W. Krusche, a.a.O., 280.
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Werke, so wie sie ist, von dem Glauben und der Gerechtigkeit aus Gnaden herrührt, darf man sie nicht nehmen, um die Gnade, von der sie abhängt, zu zerstören oder zu verdunkeln; sondern sie muß vielmehr in ihr eingeschlossen sein und sich auf sie beziehen wie die Frucht auf den Baum". Es ist notwendig, daß sie "der Glaubensgerechtigkeit unterworfen ist, auf die sie gegründet ist und der sie alles verdankt, was sie ist"16. Auch unter diesem Aspekt stellt die Rechtfertigung nicht nur einen anfänglichen Bezugspunkt des christlichen Lebens, sondern ein konstantes Motiv dar, das das Leben in all seinen Kundgebungen und Äußerungen begründet und bestimmt. Sie ist jedoch als dogmatischer locus kein isoliertes Element der evangelischen Botschaft, das zu einem beherrschenden Element befördert wird, insofern sie sich mit der Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus in einem Leben identifiziert, das insgesamt im Glauben und Gehorsam zu Christus geführt wird. Wenn ein Mensch Christ ist, ist es notwendig, daß bei ihm "ein Zeichen der Verbindung mit dem Tode Christi erscheint" 17. Die Auferstehungswirklichkeit ist noch nicht in ihrer ganzen Kraft offenbar, aber sie ist schon gegenwärtig und wirksam. Das, was dorther kommen muß, ist schon gegenwärtig und wirksam in dem, was hier und jetzt, im "Fleisch", ist. Calvin versteht den Begriff biblisch, nicht im Sinne einer sexuellen Sittenpredigt nach dem Muster einer dualistischen Anthropologie heidnischen Ursprungs. Unter "Fleisch" versteht er "alle Begabungen der menschlichen Natur, ausgenommen die Heiligung durch den Geist"18. Das gleiche kann man für" Sünde" sageri, unter dem Calvin alles das begreift, was aus dem Unglauben und nicht aus dem Glauben kommt, "alles was nicht durch das Wort Gottes gestützt und gebilligt wird"19. Jetzt, da der Geist Gottes eingebrochen ist, werden das "Fleisch" und die "Sünde", das heißt die Welt, die Geschichte, die Situation, die Kriterien, die in der Umwelt gelten, und die Gesinnung, die in der Zeit, in der man lebt, wirkt, vom Thron gestürzt. Sie haben ihre verführerische Macht und ihre richtungsweisende Autorität verloren und üben keinen Einfluß mehr aus, der das Denken und Handeln bestimmen könnte. Ihnen gegenüber übt der Gläubige eine wirkliche, wenn auch immer relative, kritische Freiheit. Wie Werner Krusche bemerkt: "Das geschieht da, wo der von der Sünde besessene Mensch im Glauben an das Evangelium Christo einverleibt wird, und in dieser Gemeinschaft Christi Gerechtigkeit empfängt und der Heilige Geist in ihm die Wiedergeburt beginnt. Hier wechselt der Mensch seinen Herrn: besaß ihn bis dahin die Sünde, so wird sie nun entthront, lnst. m, 17, 10. eR 77,107 (Kommentar zu Röm 6,7). 18 eR 77,132 (Kommentar zu Röm 7,18). Vgl. eR 51,114; eR 75, 56; eR 77,128,133, 348; eR 78, 68, 346; eR 80, 44. 19 eR 77, 269 (Kommentar zu Röm 14,23). 16
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und der Geist Christi, des als König Herrschenden, übernimmt die Regierung. Nicht, daß die Sünde nicht mehr in uns wohnt (R 7,20!) -, sondern daß sie nicht mehr auf dem Thron sitzt, daß ihre Herrschaft gebrochen ist (R 6,12); nicht, daß uns die Sünde nicht mehr versucht-, sondern daß sie uns nicht mehr knechtet; nicht, daß der Heilige Geist schon ganz und gar von uns Besitz genommen hat -, sondern daß er die Herrschaft angetreten hat: das ist die Situation des wiedergeborenen Menschen. "20 In exegetischen Begriffen heißt das: die Exegese, die die Reformation von den Schlüsselabschnitten des Römerbriefes erarbeitet hat, wird wieder bestätigt; Römer 7 mit seinen widersprüchlichen Spannungen stellt das Leben eines Christen, nicht das Leben eines Ungläubigen dar; aber der calvinistische Spürsinn meint, daß Römer 8 in Übereinstimmung mit der Bewegung in dem apostolischen Brief das Übergewicht habe. Nach Calvin beweist eine aufmerksame Lektüre des Briefes, daß Römer 7 vom wiedergeborenen Menschen handele1 : tatsächlich existiert der Kampf, von dem der Apostel spricht, "nicht eher im Menschen, als er durch den Geist Gottes geheiligt worden ist". Die Trennung im Menschen beginnt erst, wenn "er von Gott berufen und vom Geist geheiligt wird. Denn in diesem Leben beginnt nur die Wiedergeburt: der Rest des Fleisches, der bleibt, ... treibt zum Kampf gegen den Geist. "22 Der vom Evangelium erreichte Mensch ist also ein Mensch, in dem ein pausenloser Krieg begonnen hat, der ihm schließlich den Frieden nimmt. Statt ein ruhiger Mensch zu sein, ist er ein Mensch, der seine Ruhe verloren hat; von nun an ist er als Mensch "wie zweigeteilt"23: einerseits reizt ihn der Geist "zum Gehorsam gegen das göttliche Gesetz", andererseits bremst das Fleisch seinen Schwung und versucht, ihn in die entgegengesetzte Richtung zu schleppen, der der Großteil der Menschheit folgt. Sie stellt ihren normalen Lebensstil sowie die Gesamtheit ihrer Interessen dar. Es ist ein Mensch, der als "doppelt", "durch verschiedene Willensregungen in verschiedene Richtungen gezogen" in einem Zustand konstanten "Widerspruchs" erscheint24 : als durch die Gnade Gottes "reformiert" und doch durch die "Überbleibsel" seiner Natur bedingt25. Im Urteil Calvins verfolgt der Perfektionismus der Schwärmer, - "ces phantastiques", die sich auf die Erklärungen des 1. Johannesbriefes gründen, nach denen der Mensch, wenn er von neuem geboren worden 20 W. Krusche, a.a.O., 282-283. Die Ausdrücke Krusches sind übrigens nichts anderes als Paraphrasen oder Zusammenfassungen verschiedener Abschnitte bei Calvin: CR 35,204; CR 51, 90; CR 77, 346; CR 78, 252; CR 79, 27; CR 87, 6; OS 4, 66, 24. 21 Inst. III, 3, 1l. 22 CR 77, 129f (Kommentar zu Röm 7,15). 23 CR 35,205 (Contre la secte des Libertins). 24 CR 77, 133f (Kommentar zu Röm 7,22). 25 CR 35, 205.
Die Leitung des Geistes
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ist, nicht mehr sündigt, - den Traum einer menschlichen Lebensbedingung, für die es seit der Erschaffung der Welt "kein einziges Beispiel gibt "26. Zuerst sind die Pelagianer, dann die Katharer, schließlich die Täufer von der Möglichkeit einer "engelhaften Reinheit in dieser Welt" überzeugt: aber diese Überzeugung steht im Widerspruch zur Klarheit und zum Realismus des sittlichen Urteils27 und läßt sich nicht mit einem theologischen Verständnis der gesamten biblischen Botschaft versöhnen. Sich tatsächlich einzubilden, man könnte in dieser Welt eine Vollkommenheit verwirklichen, die das Urteil Gottes befriedigt, bedeutet seine Barmherzigkeit als "überflüssig" zu erweisen2B , das heißt, die Mitte des Evangeliums zu untergraben. Andererseits: die widersprüchliche Lage anzuerkennen, in der der Gläubige lebt, ist nicht gleichbedeutend damit, dem Ungehorsam im Christentum Bürgerrecht zu gewähren. Wie wir schon wiederholt Gelegenheit gehabt hatten zu erwähnen, legt die calvinistische Botschaft den Ton kraftvoll auf den Primat des Geistes, der herrschen und die Oberhand haben muß29 • Calvin wird nicht müde zu behaupten, daß der apostolische Ausdruck "in seinem Geiste wandeln" nicht Menschen bezeichnet, die "völlig die Sinne des Fleisches abgetan haben, so daß ihr ganzes Leben außer der himmlischen Vollkommenheit nichts verrät, sondern die fleißig am Zähmen und Abtöten des Fleisches arbeiten". Der Apostel sagt, daß solche Menschen nicht "nach dem Fleische wandeln, weil, wo immer ernste Gottesfurcht herrscht, sie die Herrschaft des Fleisches beseitigt, auch wenn sie nicht alle seine Verdorbenheiten vernichten kann"30. In der apostolischen Sprache werden die Menschen "fleischlich" oder "geistlich" nach dem Element genannt, das als das "hauptsächliche" die "Oberhand" hat und "das stärkste ist". Und unter Geist darf man nicht den Verstand oder die Seele oder den höchsten Teil der Seele verstehen, sondern "die himmlische Gabe", den "Geist der Wiedergeburt", der im Menschen weilt, den Gott "leitet". Calvin versäumt keine Gelegenheit, um seinen besonderen Ansatz bei der Rechtfertigungslehre zu bekräftigen, wobei er sich bemüht, eine größere Übereinstimmung mit dem Neuen Testament herzustellen. "Es ist freilich wahr, daß wir allein durch die Barmherzigkeit Gottes in Christus gerechtfertigt werden: gleichermaßen ist auch das wahr und gewiß, daß alle, die gerechtfertigt werden, von Gott berufen sind, würdig nach ihrer Berufung zu leben." Der Glaube kann kein "halber Glaube" sein: Glaube bedeutet, Christus zu umarmen, "nicht nur in der Gerechtigkeit, sondern auch in der Heiligung", anders "wird die leere 26 27
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eR 35, 205. eR 83, 335 (Kommentar zu 1.Joh 3,8). eR 80, 90 (Kommentar zu Kol 1,22). eR 77,133 (Kommentar zu Röm 7,22). eR 77, 136f (Kommentar zu Röm 8,1).
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Die reformierte Lehre
Prahlerei der Heuchler, die ohne die Sache das Ansehen sich anmaßen, abgeschüttelt" ähnlich einem Rauch, der in der Atmosphäre verschwindet. Jene, die "sich mit der Glaubensgerechtigkeit ohne den Geist Christi brüsten", können nicht der Zahl der Gläubigen zugerechnet werden: "Die Herrschaft des Geistes ist die Abschaffung des Fleisches: Jene, in denen der Geist nicht herrscht, gehören nicht zu Christus." So können als "Kinder Gottes" nur jene betrachtet werden, die "von seinem Geist geleitet werden": dies ist" das Zeichen, an dem Gott die Seinen erkennt" , das heißt jene, bei denen sein Geist "den Sieg erlangt und der stärkste ist" und sein Reich aufrichtet, so daß sie "von seiner Herrschaft" abhängig sind31 . In der Tat "werden die Herzen der Frommen vom Geiste Gottes wirksam geleitet, daß sie seiner Führung mit unbeugsamer Leidenschaft folgen"32. 6. Das Leben als Dienst der Freiheit
Besteht man auf dieser kraftvollen Einheitsperspektive, ist es klar, daß man unmöglich das Leben in Bereiche unterteilen kann die von widersprüchlichen Gesetzen geleitet werden, die nicht zu verbindenden Sitten führen. Man kann die Einheit des Gehorsams, zu dem der Gläubige berufen wird, nur stark hervorheben. Das Leben und das Handeln des Glaubens stellen ein völliges Vergessen des amor sui dar. Glauben bedeutet, das Bewußtsein zu erwerben, daß man nicht sich selbst gehört. Wer glaubt, der hat "seiner eigenen Vernunft Herrschaft und Regiment entzogen ... , um sie Gott allein zu überantworten". Eine radikale Wandlung hat sich in seiner Gesinnung vollzogen. Deshalb kann er sich nicht mehr den Mustern dieser Weltzeit anpassen, sondern er strebt danach, "den Willen Gottes zu suchen und zu erkennen". "Nun, wenn wir nicht mehr uns, sondern dem Herrn gehören, sind wir dem Herrn geheiligt und geweiht, von jetzt an nichts mehr zu denken, zu reden, zu sinnen und zu tun außer zu seiner Ehre. Denn man darf eine heilige Sache nicht zu profanem Gebrauch verwenden ... Wir gehören dem Herrn, daß alle Teile unseres Lebens auf ihn bezogen sind als ihrem einzigen Ziel", "um alle Kraft unseres Verstehens zum Dienste Gottes zu verwenden. "1 Gott "befiehlt jedem von uns, in seinem ganzen Handeln auf seine Berufung zu achten". Jeder soll sie sich als eine konstante Regel so vergegenwärtigen, daß kein Bereich der eigenen Aktivität seiner Herrschaft entflieht, und daß es einen festen Zusammenhalt und eine feste Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Teilen unseres Lebens gibt, so daß sich ein geordnetes 31 32 1
CR 77, 144-147 (Kommentar zu Röm 8,9.10.12.13.14). CR 83, 336 (Kommentar zu 1.Joh 3,9). Inst. III, 7, 1.
Das Leben als Dienst der Freiheit
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Leben und kein Raub der Zerstreuung ergibt. Die Berufung Gottes wird das Prinzip und der Grund, der alles beherrscht. Und "es wird kein so verachtetes und geringes Werk geben, das nicht vor Gott leuchtet und für sehr köstlich gehalten wird unter der Bedingung, daß wir damit unserer Berufung dienen"2. Eine unverwechselbar verschiedene Ausrichtung bestimmt das Leben des Menschen, der geglaubt hat: "Das Leben eines Christenmenschen ist eben ein dauernder Krieg. "3 Der Zweck der Rechtfertigung strebt also nicht sosehr zum Heil des Menschen und zu seinem Frieden als vielmehr dazu, seine Existenz zu bestimmen, die völlig darauf ausgerichtet ist, den Namen, die Güte und die Souveränität Gottes bekannt zu machen und zu verherrlichen sowie dafür zu kämpfen, daß sein Wille getan und seine Gerechtigkeit in der Welt aufgerichtet wird. Man wird gerechtfertigt, um die Gerechtigkeit Gottes bei sich, im eigenen, persönlichen Leben und in der Gesellschaft, in der man die menschlichen Beziehungen lebt, erscheinen zu lassen. Der Zeugendienst, zu dem die Gläubigen, die die Gerechtigkeit Gottes erkannt und bekannt haben, berufen sind, - wenn er sein und bleiben muß, - kann nicht geübt werden, indem man uneinheitliche Kriterien anwendet oder bruchstückhaft und zusammenhanglos handelt, wobei man jedoch der eigenen willkürlichen Auswahl oder den herrschenden Tendenzen eines Jahrhunderts folgt. Im Abschnitt 21 des Katechismus von 1542-1545 wird nach der Feststellung, daß man im Dienst Gottes vom Geist beherrscht und geleitet wird, einfach und fest erklärt: "Der wahre und legitime Gottesdienst besteht darin, daß wir seinem Willen gehorchen." "Warum?" "Zumal er nicht will, daß wir ihm nach unserer Phantasie, sondern nach seinem Gefallen dienen." "Welche Regel hat er uns gegeben, um uns zu regieren?" "Sein Gesetz. "4 Lutherische Theologen kritisieren gewöhnlich die sogenannte calvinistische Gesetzlichkeit. Sie beruht ihrer Meinung nach auf einem ungenügend dialektischen Bewußsein des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, nämlich auf der These ihrer "wechselseitigen Eintracht" und ihres "heiligen Bandes". Sie stimmen darin überein, auf Gott als ihren gemeinsamen und einzigen Urheber hinzuweisen5 • Die Folge sei eine Verwechslung der Ebenen und Heilsökonomien, das heißt, dem Gesetz würde ein evangelischer und dem Evangelium ein gesetzlicher Charakter zuge-
Inst. In, 10, 6. CR 78,114 (Kommentar zu 2.Kor 10,4). Ch. A. M. Hall, With the Spirit's Sword. The Drama of Spiritual Warfare in the Theology of J. Calvin, Richmond 1970. 4 J. Calvin, Le Catechisme de l'Eglise de Geneve 1545, CR 34, 51; K. Barth, Gott erkennen, Gott ehren, Gott vertrauen nach Calvins Katechismus, München 1935; D. Schellong, Das evangelische Gesetz in der Auslegung Calvins, München 1968. 5 CR 73, 107 (Kommentar zu Mt 5,17). 2
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Die reformierte Lehre
schrieben6 • Das soll sich in der Errichtung einer theokratischen Herrschaft auswirken, bei der der im Widerspruch und Geheimnis des Kreuzes verborgene, d.h. der nur im Glauben erkennbare Christus, der Welt auch als Gesetzgeber auferlegt würde 7 • Diese Kritiken erfassen nicht die überwältigende Fruchtbarkeit des Begriffes der Einheit Gottes und seines Bundes, der dieser Auffassung zugrunde liegt8 • Sie registrieren nicht den tatsächlichen Text, daß im calvinistischen Denken die Herrschaft des Geistes die innere Wiedergeburt ohne irgendwelche Zweideutigkeiten voraussetzt, nämlich das vorausgehende Bekenntnis des Glaubens und seine fortgesetzten, verwandelnden Anstrengungen, wobei jede mögliche formale und heuchlerische Zustimmung ausdrücklich ausgeschlossen ist. Vor allem bei unserem Thema bemerken sie offenbar nicht die Anstrengung Calvins, einen Freiheitsbegriff zu formulieren, der mit den paradoxen Formulierungen übereinstimmt, die das Evangelium bietet, und der sich sowohl von der römischen Gesetzlichkeit als auch von der humanistischen Autonomie unterscheidet. Calvin erhebt seinen kräftigen Protest gegen die tyrannische Unterdrückung, mit der man schließlich "die armen Seelen" erwürgt und eilig unbegrenzte Traditionen und Gebote auferlegt, von denen uns Christus befreit hat 9 • Andererseits erzeugt die Verkündigung der Befreiung durch Christus die unverantwortliche Reaktion derer, die "unter dem Deckmantel dieser Freiheit jeden Gehorsam gegen Gott zurückweisen"lD. Wie kann man aus einer solchen Alternative ("solch ein Engpaß") herauskommen? Die geistliche Freiheit muß "unverletzt" bleiben und darf nicht unter verschiedenen Vorwänden "unterdrückt und vernichtet" werden, damit die Gewissen der Gläubigen nicht "unter irgendeine Knechtschaft gezwungen werden - noch von irgendwelchen Fesseln gefangen werden "11. Andererseits darf die "Freiheit des Gewissens"12 nicht libertinistisch entstellt werden, indem man die Gesetzgebungsgewalt von einer sakralen Institution auf den einzelnen und auf die 6 Vgl. besonders die Beobachtungen von H. Thielicke, Theologische Ethik II, 2, Tübingen 19662 , 721ff; H. Stadtland-Neumann, Evangelische Radikalismen in der Sicht Calvins, Neukirchen 1966, 97ff. 7 H. Thielicke, a.a.O., II, 2, 724, 727ff; H. A. Oberman, Die ,Extra'-Dimension in der Theologie Calvins, in: Geist und Geschichte der Reformation, Festgabe H. Rückert zum 65. Geburtstag, Berlin 1966, 323ff, betrachtet dagegen die These von der theokratischen Diktatur in Genf als in den Prinzipien und Fakten unbegründet. Vgl. M. E. Cheneviere, La pensee politique de Calvin, Genf - Paris 0.1., 244. 8 Vgl. dazu die Beobachtungen von H. Thielicke, a.a.O., I, Tübingen 19653 , 216; H. H. Wolf, Die Einheit des Bundes, Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament bei Calvin, Neukirchen 1958. 9 Inst. IV, 10, 1. 10 Inst. III, 19, 1. Vgl. für einen interessanten Aspekt dieser Reaktion: V. Subilia, Liberal e dogma secondo Calvino e secondo i Riformati italiani, in: Ginevra e I'Italia. All'Universita di Ginevra nel N centenario della sua fondazione, Florenz 1959, 193ff, besonders 206ff. 11 Inst. IV, 10, 1. 12 Inst. N, 10, 31.
Das Leben als Dienst der Freiheit
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Subjektivität seiner rationalen und ethischen Wahl verlagert. Die Bedingung und die Garantie, sei es um die autoritäre und paternalistische Ausbeutung, sei es um den dreisten und unverantwortlichen Libertinismus zu vermeiden, ist das Bewußtsein der Gerechtigkeit Christi und seiner sowohl von der eigenen Willkür als auch von der Willkür der anderen befreienden Macht. Nicht umsonst steht in der Institutio das Kapitel "Von der christlichen Freiheit" gleich hinter einer Reihe von acht Kapiteln, die "Von der Rechtfertigung durch den Glauben" handeln. Das alte, christliche Paradox, daß der sein Leben findet, der es verliert, und nicht der, der es bewahrt, wird in calvinistischer Perspektive in dem Sinne bekräftigt, daß nicht der seine Freiheit findet, der sie bewahrt, sondern der, der sie in Gott aufs Spiel setzt. Also müssen die Gewissen "als ihren König und Befreier einen einzigen Christus anerkennen, und daß sie durch das einzige Gesetz der Freiheit regiert werden, das das heilige Wort des Evangeliums ist, wenn sie die Gnade behalten wollen, die sie einstmals in Christus Jesus erhalten haben "13. Nur wenn man in Christus seine Gerechtigkeit erkannt und in ihm die Befreiung erfahren hat, die sie mit sich bringt, wird man frei, "freiwillig und mit aufrichtigem Herzen dem Willen Gottes zu gehorchen"1\ und man kann dann Gott "rein und entsprechend dem, was er befohlen hat, dienen"1s. Wie NieseI kommentiert: "Christliche Freiheit bleibt immer Freiheit unter Gott und daher Bindung an seinen gnädigen Willen. "16 Diese engagierte Freiheit, die sich auf die Gerechtigkeit Christi gründet, oder besser gesagt, die Gerechtigkeit Christi, die sich ihrerseits in einer engagierten Freiheit übt, offenbart sich vor allem, wie bereits erwähnt, in sich, im eigenen, persönlichen Leben. "Nur di~ können für Jünger Christi gehalten werden, die seine wahren Nachfolger sind, und die bereit sind, in der gleichen Bahn zu laufen", das heißt in der Bahn der Gerechtigkeit, die sich nicht um die Selbstbehauptung und die Behauptung des eigenen Willens dreht, sondern um den Verzicht und das Kreuz sowie den Tod seiner selbst, damit "Gott in uns lebe und regiere"17. Gott führt die Gläubigen auf den Weg des christlichen HandeIns, wobei er alle Widerstände überwindet, "um in ihnen sein Wollen zu vollenden"18. Zweitens muß sich die Gerechtigkeit Christi uns in den sozialen Beziehungen zeigen. Dieses Zeigen ist weder leicht noch selbstverständlich. "Die Gerechtigkeit wird in der Welt nicht ohne großen Kampf und ohne große Anstrengung aufgerichtet." Um sich zu verwirklichen, verlangt sie Zähigkeit und Mühe, weil sich alle möglichen Hindernisse und Schwierigkeiten ihrem Fortschritt in den Weg legen, so daß sie nur mit Gewalt 13 15 17
lnst. IV, 10, 1. lnst. IV, 10, 1. CR 73, 481 (Kommentar zu Mt 16,24).
14 16 18
lnst. III, 19, 4. W. Niesei, Die Theologie Calvins, 141. lnst. III, 18, 1.
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Die reformierte Lehre
fortschreitet und aller Gegnerschaft widersteht. So verlangt sie gegen gewisse Hartnäckigkeiten "wie mit schweren Hammerschlägen zu kämpfen"19. Wenn das Luthertum, wie wir gesehen haben, aus Gründen, die seinen Voraussetzungen zu widersprechen scheinen, geschichtlich dazu neigt, sowohl auf politischem als auch auf sozialem Gebiet konservativ zu sein, beweist der Calvinismus in allen seinen Äußerungen eine erneuernde Dynamik und einen zähen Willen, die Hindernisse und die Widerstände zu überwinden, um das zu verwirklichen, was er für den gerechten Willen Gottes hält, auch wenn sich die Ungerechtigkeit unter legitimistischen Erscheinungen verhüllt. Seit dem Widmungsbrief der Institutio für den französischen König Franz 1. beweist Calvin ein klares Bewußtsein gegenüber der vom Herrscher seit 1535 in einem Brief an die Reichsstände verbreiteten Anklage, die den Protestanten in Frankreich anarchistische Neigungen zuschrieb, - sie zielten auf "den Umsturz" der Gesellschaft und "den abscheulichsten Aufstand "20 ab, - die geforderte soziale Ordnung könne in Wirklichkeit "die Bewahrung der etablierten Unordnung" sein, so daß es legitim ist, auf "die wahren Begünstiger der Unordnung" unter den konservativen Reaktionären hinzuweisen21 • Calvin bezieht sich auf biblische Vorgänger unbestrittener Autorität: "Elia wurde angeklagt, ob nicht er es wäre, der in Israel Verwirrung stiftete (l.Kön 18,17). Christus galt den Juden als Aufrührer (Lk 23, Joh 19); den Aposteln hängte man das Verbrechen der Volksempörung an (Act 24). Was machen die anderes, die uns heute alle Unruhen, Aufstände und Kämpfe, die unter uns ausbrechen, anrechnen? Was man aber solchen Leuten antworten muß, hat uns Elia gelehrt: nicht wir sind es, die Irrtümer verbreiten und sogar Aufstände anzetteln, sondern sie selbst sind es, die gegen die Kraft Gottes kämpfen (1. Kön 18,18). "22 Wie Bieler freilich mit einigen geschichtlichen Übertragungen, denen gegenüber ein gewisser Vorbehalt ratsam ist, bemerkt, scheint in diesen Äußerungen eine Überzeugung durch, "daß die gläubigen Christen in der Tat immer im gewissen Maße die soziale Ordnung stören, weil sie, indem sie das Wort Gottes ernst nehmen und danach leben, explizit oder implizit die Ungerechtigkeit und die Sünde· der Gesellschaft, in der sie sich befinden, gleichermaßen wie die Unreinheit der üblichen Religion ins rechte Licht rücken". Aber "die wahren Unruhestifter sind jene, die die religiöse und soziale Unordnung verlängern, indem sie sie schützen; dies sind die konservativen Reaktionäre, die durch ihre Ungerechtigkeit und Gewalt die Lüge verbrei19 CR 73, 333 (Kommentar zu Mt 12,19-20). Vgl. H. Berger, Calvins Geschichtsauffassung, Zürich 1955, 162. 20 A.-L. Herminjard, Correspondance des reformateurs dans les pays de langue fran~aise, Bd. 3, Genf - Paris 1866-1897, 251. 21 A. Bieler, La pensee economique et sociale de Calvin, Genf 1959, 75. 22 Brief an den König Frankreichs, Inst. Bd. 1, 46; OS 1, 34.
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ten und sich weigern, die Wahrheit zu hören"23. "Die authentische Ordnung existiert nur unter der Bedingung, daß die Reformen, die das Evangelium gebietet, ohne Unterlaß durchgeführt und erneuert werden. "24 Es ist symptomatisch, daß ein reformiertes Bekenntnis wie die Confessio Scotica von 1560 unter den Werken, die Gott als gut beurteilt, den politischen und den sozialen Umsturz aufzählt: den Tyrannen zu widerstehen und die Bedrückten zu verteidigen25 • Aber man darf bei keinem Versuch, die Gerechtigkeit Christi kundzutun, vergessen, daß auch die gerechteste Sozialreform, die einmal verwirklicht wird, nicht anfangen kann, ihre eigene Gerechtigkeit zu verteidigen, um sich dann den unerschöpflichen Anreizen und der unvermeidlichen Kritik des Evangeliums zu verschließen, wobei sie konservativ wird. Auch in den Sozialbeziehungen darf die Rechtfertigung aus Glauben nicht von neuem zu einer Rechtfertigung aus Werken werden, indem sie die erreichte Gerechtigkeit rechtfertigt. Das Evangelium der Rechtfertigung aus Glauben muß jede geschichtliche Gerechtigkeit zur Buße rufen, um die eigenen Verwirklichungen in einem kritischen Licht zu sehen und unter dauerndem Druck auf die Gerechtigkeit des Reiches Gottes hinzustreben. Keine Lage kann vom Evangelium geheiligt und geweiht werden: im calvinistischen Bewußtsein ist diese Unruhe des Forschens und der Erneuerung niemals geringer geworden. Denn dieses Bewußtsein ist von der Überzeugung beseelt, daß die Wirtschaft, wie die Politik und die Soziologie im Dienste des Menschen und der Mensch im Dienste Gottes stehen; nur in Gott findet er seine Gerechtigkeit, das heißt die Rechtfertigung und den Sinn seines Lebens. Es bleibt die Tatsache, daß die calvinistische Ethik durch die verschiedenen geschichtlichen Kontexte hindurch immer eine aktivistische Dynamik bewiesen hat, die ihre theologische Grundlage in der einheitlichen Auffassung der Rechtfertigung und der Heiligung und in ihrem gemeinsamen Bezug zur Christologie hat. Es besteht weder im Prinzip noch in der Tat eine Trennung zwischen Glauben und Werk, zwischen Theorie und Praxis: "Gotteserkenntnis ist Gehorsam gegen Gott". Nach dem reformierten Dogma, das heißt nach der Ausrichtung, die der Calvinismus dem eigenen Bewußtsein beim Verstehen des Evangeliums einprägt, sind Erkenntnis Gottes und Dienst Gottes untrennbar. Damit wendet man sich "gegen den Irrtum, als ob Gotteserkenntnis eine Theorie, die unverbindliche, unsere Existenz noch nicht berührende Anschauung eines Gegenstandes wäre, der dann eine Praxis, der Gottesdienst als Sache unseres eigenen Beschließens und Wollens selbständig folgen könnte. Diese Meinung kann nur auf Grund eines Selbstrnißverständnisses des Glaubens 23 25
A. Bieler, a.a.O., 80. W. Niesei, BS 96.
24
A. Bieler, a.a.O., 75; vgl. 301.
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Die reformierte Lehre
Platz greifen. Wo Gott recht erkannt wird, da hört der Mensch auf, sein eigener Herr zu sein, da geschieht sein Beschließen und Wollen nicht mehr in seiner eigenen Freiheit, sondern in der Freiheit des Heiligen Geistes. "26 In calvinistischer Perspektive ist es unmöglich von Glauben und Werken als einer Alternative oder einer Folge zu sprechen: alles ist aus Glauben, weil alles in Christus ist, weil an Christus und an seine Gerechtigkeit zu glauben, bedeutet, Christus zu gehorchen und zu kämpfen, um seine Gerechtigkeit kundzutun. Die Ethik läßt sich nicht von der Dogmatik trennen27 • Nicht umsonst finden diese Unterordnung der Rechtfertigung und der Heiligung unter die Christologie und diese Abhängigkeit des Gesetzes vom Evangelium im Bewußtsein des Lebens als Zeugnis und Sendung ohne irgendein Interesse an einem soteriologischen Anthropozentrismus ihre moderne Fortsetzung im größten calvinistischen Theologen nach Calvin: Karl Barth28 • K. Barth, Gotteserkenntnis, 127. K. Barth, KD I/2, 876; W. Kolthaus, Vom christlichen Leben nach J. Calvin, Neukirehen 1949; R. S. Wallace, Calvin's Doctrine of the Christian Life, Edinburgh 1959; R. A. Gessert, The Integrity of Faith: an Inquiry into the Meaning of Law in the Thought of J. Calvin, SJTh 1960, 247; A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte II, Gütersloh 1968, 351; R. Mehl, Ethique catholique et ethique protestante, Neuchätel 1970, 19ff. 28 K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 1963 (Nachdruck der 1. Auflage von 1919), 23ff, 43ff, 84f, 90ff (die 2. Auflage von 1922, München, ist völlig neubearbeitet); K. Barth, KD I/ 2, 387ff; IIIl, 422ff; IV/I, 102ff, 573ff; IV/2, 565ff; K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924 (die erste Untersuchung behandelt die Gerechtigkeit Gottes, die letzte die reformierte Lehre); ders., Reformation als Entscheidung, München 1933; ders., Offenbarung, Kirche, Theologie, München 1934; ders., Evangelium und Gesetz, München 1935; Rechtfertigung und Recht, Zollikon 1938; ders., La Confession de Foi de l'Eglise, Neuchätel- Paris 1943, 88ff. Zur Auffassung BaIths von der Rechtfertigung vgl. L. Ragaz, Von der schweizerischen religiös-sozialen Bewegung zur dialektischen Theologie, in: G. Wünsch (Hg.), Reich Gottes - Marxismus - Nationalsozialismus, Zürich 1931, 34-51 usw.; G. Miegge, La soteriologia di Kar! Barth, Protestantesimo 9 (1954), 64ff; H. Gollwitzer, Zur Einheit von Gesetz und Evangelium, und G. Wingren, Evangelium und Gesetz, in: Antwort, K. Barth zum siebzigsten Geburtstag, Zollikon - Zürich 1956, 287ff u. 310ff; G. C. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theologie K. Barths, Neukirehen 1956; G. F. Wingren, Justification by Faith in Protestant Thought, SJTh 1956, 344ff; H. Bouillard, S. J. Kar! Barth, 2. Bd., Paris 1957, 53ff; E. Kinder, Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung, QKK, Reihe B, Heft 1, Lüneburg 1957, 13-83ff; H. Küng, Rechtfertigung, Die Lehre Kar! Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 1957, 19624; J. Alfaro, Justificacion barthiana y justificacion catolica, in: Gregorianum 1958, 757ff; K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 4, Einsiedeln 1960, 237ff; T. F. Torrance, Justification: its radical nature and place in reformed doctrine and life, SJTh 1960, 225ff; W. Dantine, Die Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen systematischen Arbeit der evangelischen Theologie, EvTh 23 (1963), 245ff; H. Diem, Christologie und Rechtfertigung bei K. Barth, EvTh 23 (1963), 197ff; M. Lippold, Lutherische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen theologischen Diskussion, in E. Wilkens (Hg.), Helsinki 1963, Beiträge zum theologischen Gespräch des Lutherischen Weltbundes, Berlin - Hamburg 1964, 179ff, 186ff; M. Storch, Die Umformung der Rechtfertigungslehre, in: Exegesen und Meditationen zu Kar! Barths kirchlicher Dogmatik, 26
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Das Leben als Dienst der Freiheit
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München 1964, 36ff; P. Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit bei Paulus, Göttingen 1965, 57ff, 71ff; W. Dantine, Rechtfertigung und Gottes Gerechtigkeit, VF 11 (1966), 68ff; W. Dantine, Verheißung der Lehre von der Rechtfertigung in der Gegenwart, ThZ 22 (1966), 279ff, 286; M. Barth, Gottes und des Nächsten Recht, Eine Studie über den sozialen Charakter der Rechtfertigung bei Paulus, und U. A. Wolf, Gottes Recht und Menschenrecht, in: Parrhesia, K. Barth zum 80. Geburtstag, Zürich 1966, 447ff (vgl. 450) und 522ff (vgl. 532); W. Schlichting, Biblische Denkformen in der Dogmatik, Die Vorbildlichkeit des biblischen Denkens für die Methode der ,Kirchlichen Dogmatik' K. Barths, Zürich 1971, 269ff; B. Klappert, Promissio und Bund, Gesetz und Evangelium bei Luther und Barth, Göttingen 1976.
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KAPITEL
Nichtkonfessionelle Interpretationen der Rechtfertigung Neben den klassischen Interpretationen der Botschaft der Gottesgerechtigkeit, wie sie in den Synthesen großer Theologenpersönlichkeiten, die die Jahrhunderte beherrschen, und in konfessionellen Erklärungen konzentriert sind, die den Glauben der Gläubigen in den beiden wesentlichen Zweigen des westlichen Christentums bestimmen, gibt es Nebeninterpretationen, die weder den katholischen noch den protestantischen Interpretationen angepaßt werden können, die unter sich in gewissen Grenzen gemeinsame Charakteristiken aufweisen und die doch nicht verwechselt werden können noch dürfen, weil sie deutlich unterschiedlichen Richtungen folgen. Es handelt sich um Interpretationen, die bei Minderheitsströmungen mit einem fast immer außerkirchlichen Charakter auftraten und die doch stark die Frömmigkeit selbst innerhalb der Kirchen, die sich auf sehr unterschiedlich ausgerichtete Glaubensbekenntnisse berufen, gekennzeichnet haben und weiterhin kennzeichnen. Beim Umfang dieser Arbeit können wir keine ausführliche Behandlung dieser verschiedenen Tendenzen bieten. Wir müssen uns darauf beschränken, eher summarische Hinweise zu geben, die in das Verständnis ihrer Art, die Frage der Rechtfertigung zu betrachten, einführen sollen.
1. Die täujerische Linie Ein ausgezeichneter Historiker des Täuferturns hat behauptet, daß Luther "niemals sehr klare Vorstellungen" von den Täufern hatte. Man müßte diese Unklarheit der Tatsache zuschreiben, daß er "ihre Lehren nicht kannte". Seine Polemik gegen das Täuferturn hätte sich also aus "Doktrinarismus und Abstraktheit" verfehlt. Denn sie gründete sich nicht auf eine unmittelbare Kenntnis, sondern auf einen beschränkten und entstellten Überblick als eine Folge von Vorurteilen vor allem in der Absicht, "die extremen Maßnahmen zu rechtfertigen, die von den bürgerlichen Gewalten gegen die Täufer ergriffen wurden"'. Auf der Grundlage 1 u. Gastaldi, Storia dell'anabattismo dalle origini a Münster 1525-1535, Bd. 1, Turin 1972, 432ff. Leider kann ich dem Urteil nicht zustimmen: Mit Prof. Gastaldi verbinden mich nicht nur herzliche Achtung und Freundschaft, sondern ich schulde ihm auch Dank gerade bei diesem Thema meiner Arbeit, insofern er mir in seiner unvergleichlichen Beherrschung des Stoffes großzügigerweise wertvolle bibliographische Angaben geliefert hat.
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von Texten Luthers halten wir es für unmöglich, diesem Urteil zuzustimmen. Wiederholt haben wir bei der Behandlung des Luthertums schon Luthers theologische Wertung der täuferischen Position angetroffen. Um sich von der glänzenden Sachkenntnis Luthers Rechenschaft abzulegen, soll das Zitat eines einzigen Abschnittes genügen. "Denn die Täufer haben in ihrer Lehre nichts blendenderes, als daß sie das Beispiel und das Kreuz Christi so betonen, zumal Sätze offenkundig sind, in denen Christus seinen Jüngern das Kreuz empfiehlt." Um dieser zauberhaften, dem Evangelium gemäßen Erscheinung zu widerstehen, gibt es nur ein einziges Mittel: unterscheiden zu lernen "zwischen Christus, der bald als Gabe, bald als Beispiel gepredigt wird. Beide Arten der Predigt haben ihre passende Zeit; wenn man sie nicht beachtet, wird aus der Predigt des Heils die Pest. "2 Das Motiv des Gegensatzes hängt also von einer Frage der Auslegung ab, genauer von einer unterschiedlichen, dogmatischen Einordnung der evangelischen Daten, von der die Grundinterpretation der Botschaft abhängt, nämlich die Interpretation, die zu den Teilinterpretationen führt. Wenn uns das Neue Testament Christus als Gabe und Beispiel darstellt, ist es unerläßlich, klar den. Bezug zwischen diesen beiden Aspekten der Botschaft zu sehen, um sie in einer evangelisch gültigen Struktur verbinden zu können, die mit der Hauptlinie der apostolischen Botschaft übereinstimmt. Andernfalls verwandeln sich selbst die Elemente der Wahrheit und der Treue in Werkzeuge des Irrtums und der Untreue, und statt zur richtigen Interpretation des Evangeliums zu führen, verhindern sie sie. Luther verbindet bei der Verwechslung der beiden Momente die Judenchristen zur Zeit des Galaterbriefes mit den Papisten und den Täufern. Und er stellt als Unterscheidungsmerkmal die klare Alternative zwischen donum und imitatio heraus. Vielmehr wäre es genauer, statt von der Alternative, von der Unterordnung der imitatio unter das donum zu sprechen. Indem er die Folgerungen, zu denen die heutige neutestamentliche Wissenschaft nach den Ausschließlichkeiten der liberalen Theologie gelangt ist, vorwegnimmt, erkennt Luther das Wesen des Evangeliums in der Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Christus, und er arbeitet auf dieser Grundlage die Synthese zwischen der Lehre der synoptischen Evangelien sowie der paulinischen und der johanneischen Lehre aus. Sowohl die paulinischen Briefe als auch die johanneischen Schriften wie auch die synoptischen Evangelien selbst werden in der Anordnung und Form des Stoffes, im Verständnis und in der Darbietung der Worte und Taten Jesu durch jene Botschaft bestimmt: so sagt man heute in der Phase der Forschung, die von den Folgerungen der Formgeschichte abhängt~ Luther behauptet in einem völlig verschie2
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denen, kritischen Kontext die gleiche Sache. Nur jenseits Christi, das heißt der Erkenntnis der Gerechtigkeit Christi und des Glaubens an den rechtfertigenden Christus, kann sich die Jüngerschaft gründen, die imitatio Christi: der Glaube geht voraus und bestimmt den ethischen Gehorsam, das evangelium de Christo geht paradoxerweise voraus und bestimmt das evangelium Christi. Mit anderen Worten: Luther bemerkt bei den Täufern das mangelnde christologische Bewußtsein und fehlende Beziehungen zur Totalität der christologischen Botschaft des Neuen Testamentes. Der von den Täufern gepredigte Christus betont vielmehr Christus als Meister, während Christus als gekreuzigter und auferstandener Herr im Dunkel bleibt. Ist diese Kritik objektiv begründet? Ein erster Hinweis für die Ausrichtung der Täufer ist die Tatsache, daß sie das Thema grundsätzlich nicht behandeln. Ist das vielleicht kein offenkundiges Symptom für das Desinteresse? "Es gibt keine entfaltete, täuferische Lehre der Rechtfertigung aus Glauben. In den Quellen (Lehrschriften, Disputationsprotokolle, Glaubensbekenntnisse usw.) erscheinen sowohl das Wort als auch der Begriff selten, obwohl bei ihnen trotz häufiger Ungenauigkeit der Begriffe und der Zweideutigkeit im Ausdruck klar genug eine Lehre von der Erbsünde, der Gnade, der Wiedergeburt und der Gerechtigkeit auftaucht... Bei den wichtigeren, täuferischen Schriftstellern fehlen jedoch keine Stellungnahmen (Denck, Hubmaier, Rink, Marpeck, Riedemann), sei es polemisch gegen den lutherischen Rechtfertigungsbegriff (oder vielmehr gegen die praktische Anwendung, die sie in der Volkskirche zu sehen glaubten), sei es zur Verteidigung ihrer täuferischen Auffassung der Rechtfertigung, die sie unlösbar mit der Heiligung verbtinden haben will. "3 Die Polemik ist gewöhnlich eher wild, wie dies il.1. Th€>mas Müntzers "Hochverursachte Schutzrede " der Fall ist, der Luther in bezug auf die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi zuschreibt, er "tregt Paulum herfürer mit einem sölchen tölpischem verstandt, daß es den kindern auch zum poppenspill wirdt"4. Bei den Disputationen gibt es eine gewisse Zurückhaltung in der offenen Aussprache über den Gegenstand, wie zum Beispiel beim Frankenthaler Gespräch 1571, das veranstaltet wurde, um Reformierte und Täufer zu versöhnen. Den Täufern wurde eine Liste mit 13 Punkten vorgelegt: nach denen, die sich auf die gleiche Autorität von Altem und Neuem Testament und den trinitarischen Gottesbegriff bezogen, betraf einer das Recht auf Eigentum, ohne die christliche Liebe zu verletzen, ein anderer, ob es erlaubt ist, die Übeltäter mit dem Schwert zu strafen, ein anderer, ob der Eid erlaubt ist, Ich entnehme diese Sätze mit Erlaubnis Prof. U. Gastaldis einem Privatbrief. Th. Müntzer, Schriften und Briefe, Kritische Gesamtausgabe G. Franz (Hg.), QFRG 33, Gütersloh 1968, 325. 3
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ein anderer, ob es erlaubt ist, die Kinder der Christen zu taufen, der sechste betraf die unverdiente Rechtfertigung. Ein Wortführer, Rauff Bisch, brachte das Unbehagen der Delegierten der Täufergemeinden gegenüber solchen Fragen zum Ausdruck und erklärte: "Wir wissen nicht unser Gewissen mit einigen Artikeln, die wir mit gutem Gewissen nicht glauben können, zu beschweren. "5 Aber was das Heil betrifft, stimmen die Täufer mit den Reformierten in der Behauptung seines Grundes im absoluten Gehorsam gegen Christus überein 6 • Ist es also erlaubt, die Frage zu stellen, wie sich das täuferische Rechtfertigungsverständnis gestaltet? Eine erste, nur formale Schwierigkeit für die Antwort ist dadurch gegeben, daß die täuferischen Texte, wenn es sich darum handelt, theologische Themen aus der Nähe zu erfassen, gewöhnlich einen allgemeinen und flüchtigen Charakter haben und fern von der entschiedenen Konkretheit sind, mit der sie ethische Themen. aufgreifen. Sie lassen einen an fundamentalistische Predigten denken, die sich für biblisch halten, weil sie eine Wiederholung aufeinanderfolgender biblischer Zitate ohne die geringste theologische Reflexion sind. Auch wenn sie von der Erniedrigung, vom Kreuz, von der durch Christus bewirkten Erlösung reden, beweisen sie nicht, ein Bewußtsein von deren Bedetung zu haben; sie verstehen sie vor allem als für ethische Zwecke wertvolle "Beispiele"7. Eine zweite Schwierigkeit stellt die Ausrichtung der täuferischen Interessen dar, die ganz offensichtlich vielmehr praktisch als theologisch sind. Hans Denck gibt, als er im Oktober 1527 an Ökolampad schreibt, die Möglichkeit zu, "in dogmatibus" geirrt zu haben und irren zu können, aber er scheint zu sagen, daß das, was ernstlich zählt, das Handeln ist, das Gute statt des Bösen, das daraus folgen kann 8 • Man muß anerkennen, daß zu diesem Streben nach unmittelbarer, ethischer Praxis der harte Druck der Verfolgung und die daraus folgende Heimlichkeit beigetragen haben, die eine angemessene Überlegung und noch viel mehr eine systematische Geschicklichkeit unmöglich gemacht haben; aber man muß andererseits festhalten, daß es sich vor allem um einen Ansatz handelt9 • Was man im allgemeinen sagen muß, muß man für 'die spezielle Frage der Rechtferti5
Ch. Hege, Art.: Frankenthaler ReIigionsgespräch, in Mennonitisches Lexikon, Bd. 1,
677. 6 C. Bergmann - H. S. Bender, Art.: Disputationen, in Mennonitisches Lexikon, Bd. 1, 452ff. 7 Vgl. z.B.: P. Riedemann, Die erste Rechenschaft, in R. Friedmann (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 12, Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, II, Heidelberg 1967, 26-45. 8 H. Denck, Schriften, W. Fellmann (Hg.), QFRG 24/3, Heidelberg 1960, 134. 9 J. C. Wenger, The Doctrinal Position of the Swiss Brethren as revealed in their Polemical Tracts, The Mennonite Quarterly Review 24 (1950), 65; J. A. Oosterbaan, The Reformation of the Reformation: Fundamentals of Anabaptist Theology, in The Mennonite Quarterly Review 51 (1977), 171ff.
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gung bekräftigen. Wenn sie eine Zusammenfassung der Glaubensartikel aufstellen, erwähnen sie die Rechtfertigung auch dann nicht, wenn sie von der Versöhnung und Erlösung reden10 • Man kann sich also mit gutem Recht fragen, ob es möglich ist, einen expliziten täuferischen Begriff der Rechtfertigung zu bestimmen. Unseres Wissens erlaubt kein Text die direkte Darlegung positiver Aussagen zur Sache: man kann Aussagen nur dem Gegensatz entnehmen. Die katholische Tradition hatte auf dem Synergismus bestanden, das heißt auf dem doppelten Handeln Gottes und des Menschen, weshalb die von Christus objektiv bewirkte Erlösung subjektiv ergänzt wird durch die Mitwirkung des frommen Menschen mit seinen Verdiensten. Der lutherische Protest hatte darauf reagiert, indem er behauptete, die Beziehung zu Gott hängt ganz vom Glauben ab, den der Geist im Menschen schafft, um ihn auf das Wort aufmerksam zu lassen, d. h. auf das Evangelium dessen, was Christus für ihn gewirkt hat, um so in ihm ein neues Leben des Gehorsams und des Dienstes zu bestimmen. Die Täufer unterscheiden sich sowohl von der einen als auch von der anderen Position durch unverwechselbare Charakteristiken. Man kann diese Charakteristiken konkretisieren, indem man sagt, es handelt sich eher um "persönliche Äußerungen des Glaubens" als um "Lehraufstellungen" 11, eher um einen "gelebten" Glauben als um einen nur "geglaubten" Glauben12 • Das ist zu summarisch und zu allgemein: eine solche Qualifizierung wendet man für jeden beliebigen Gläubigen einer jeden Kirche an, kaum daß sein Glaube aus dem Konformismus der Tradition herausragt und zum Bekenntnis wird. Man muß dies genauer ausführen. Bezeichnend kann ein Text von Melchior Hoffmann sein, vielleicht eine strittige Randgestalt des Täufertums 13 • Er offenbart mit einem sarkastischen Sinn seiner Meinung nach die Eitelkeit des neuen Prinzips der Reformation Luthers: "Die ganze Welt ruft: Glaube, Glaube, Gnade, Gnade, Christus Jesus!" Er erinnert an Jak 2,17 - die Erinnerung an Jakobus ist immer bezeichnend für das Wiederauftauchen judenchristlicher Tradition -: "Der Baum mit sehr schönen Worten oder grünen Blättern ohne Frucht ist verflucht von dem Herrn und würdig des ewigen 10 Vgl. die beiden Texte von 1527: B. Jenny, Das SchleitheimerTäuferbekenntnis 1527, in Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 28 (1951), 5-81, und D. Cantimori, Gli Anabattisti, in: Grande Antologia Filosofica 8, Mailand 1964, 1479-1488, beide bei U. Gastaldi, a.a.O., 216 zitiert. B. Hubmaier, Die Zwelff Artickel Christenlichs Glaubens, in: Schriften, G. Westin - T. Bergsten (Hg.), QFRG 29, Gütersloh 1962. 11 C. Krahn, Prolegomena to an Anabaptist Theology, The Mennonite Quarterly Review 24 (1950), 5. U R. Friedrnann, Anabaptism and Protestantism, ebd., 12-24; ders., Theology of Anabaptism, Scottdale 1973. 13 J. H. Yoder, Täufertum und Reformation im Gespräch, Zürich 1968, 82.
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Feuers, wenn auch hätte und wüßte er schon allen Glaubens. "14 Gegen Luther, der "nur immer: ,Glauben ... glauben! '" sagen kann, erinnern die Täufer mit energischer Beharrlichkeit an die Notwendigkeit der WerkeIs. Es ist offenkundig, daß sie dazu neigen, "die Rechtfertigung im Sinne von Heiligung zu :interpretieren"16. Es wäre vielleicht ungerecht, zu behaupten, sie hätten eine Rechtfertigung aus Werken gelehrt: auf diese Anklage reagierten sie kraftvoll 17 • Gewiß gibt es Texte, in denen der Glaube definiert wird: "der glaub ain gerechtmachung, dann durch den glauben in Christum werden wir frumb und gerecht vor Got an allen verdienst." Diese Definition begleitet eine ähnliche, andere, nach der der Glaube ist "ain versicherung der Hoffnung und rainigung des hertzens, auf das ein mensch Gotes werde gantz rain, heillig und gotsellig"18. Man muß sich an das Urteil Zwinglis halten, nach dem die Täufer zwar nicht die Gerechtigkeit aus Werken lehrten, aber tatsächlich glaubten19 . Sie tragen Sorge zu erklären: "Darum wir dan darneben auch umer bekennen, das alle unsere gute werk gottes wirkung und geschenk in uns seind. "20 Es scheint also eher mit den Dokumenten übereinzustimmen, daß das Beharren auf den Werken nicht im Blick auf das Heil und als dessen Bedingung verstanden wird, sondern als Beweis des Glaubens, von dem sie stammen, und als Erweis seiner Wirklichkeit. Muß man also annehmen, daß dieses Beharren auf den Werken die Täufer dem Calvinismus näherbringt als dem Luthertum mit dessen Beharren auf dem Allein-aus-Glauben, auch wenn das lutherische Allein-aus-Glauben, wie wir wissen, die guten Werke nicht aus-, sondern einschließt und begründet? Wäre Idelette de Bure, die Witwe eines (bekehrten!) Täufers, nachdem sie Calvins Frau geworden war, ein Symbol für diese Verwandtschaft? Man darf nicht vergessen, daß Calvin gegenüber dem Täufertum nicht weniger hart und streng als Luther ist, gerade was das spezifische Argument der Rechtfertigung und der Heiligung des Gläubigen betrifft, wie es zahlreiche Abschnitte der Institutio, die Kommentare (über 1. Joh!) und besonders seine Abhandlung von 14 Zitat nach G. J. Neumann, "Rechtfertigung" und "Person Christi" als dogmatische Glaubensfragen bei den Täufern der Reformationszeit, ZKG 70 (1959), 67. 15 G. J. Neumann, a.a.O., 68. Vgl. E. Schott, Rechtfertigung und Zehn Gebote nach Luther, Stuttgart 1971; R. Stauffer, L' "aile gauche de la Reforme" ou la "Reforme radicale" , in Hokhma N. 3/1976, 4. 16 G. H. Williams, Sanctification in the Testimony of several so-called Schwärmer, in I. Asheim (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, 206. 17 J. H. Yoder, a.a.O., 203; G. J. Neumann, a.a.O., 69. 18 P. Riedemann, a.a.O., 15. 19 H. Zwingli, Sämtliche Werke Bd. 6,109 nach J. H. Yoder, a.a.O., 203; A. J. Beachy, The Concept of Grace in the Radical Reformation, Nieuwkoop 1977. 20 Das Bekenntnis von Peter Tesch von 1538 in G. Franz (Hg.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 4, Wiedertäuferakten 1527-1626, Marburg 1951, 250.
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1544 Gegen die Wiedertäufer beweisen21 . Von einer teilweisen Berührung darf man keine grundsätzliche, theologische Gemeinsamkeit ableiten. Als Beweis genügt, daß die Problematik von Römer 7 - Römer 8, die der Schlüssel für das theologische Bewußtsein sowohl der lutherischen als auch der calvinistischen Reformation ist, um in dem einen oder dem anderen Sinn die Frage der Rechtfertigung zu lösen, im Täuferturn feh{t22 oder in dem Sinne eines Strebens zur Vollkommenheit, also in einer zur Botschaft von der Rechtfertigung aus Glaube antithetischen Weise gelöst isf3 • Wir meinen, daß das spezifische Motiv, das für das Täuferturn charakteristisch ist, nicht in einer Rechtfertigung durch die Werke, um sich so das Heil zu verdienen, besteht, sondern eher in einer Theologie der Jüngerschaft, auch wenn diese Jüngerschaft, wie es einige neuere Untersuchungen ans Licht gebracht haben, sich nicht in einer individualistischen Übung erschöpft, sondern "Bedingung und Grundlage" der Teilnahme an einem regen Gemeindeleben ist. Die Gemeinde wird gerade von" wahren und ernsten Jüngern" gebildet, die den Ruf Christi gehört und ihr gesamtes Leben im brüderlichen Einsatz in der Gemeinschaft der Geistesgaben gestaltet haben, um das Evangelium "in einer Welt, auf die das Gericht Gottes zukommt", zu bezeugen24 . Was muß man nun unter der Theologie der Jüngerschaft verstehen? Der Ausdruck ist uneigentlich. Denn der täuferische, christliche Einsatz drückt sich in einem ethisch-praktischen Christentum aus, das auf einer fundamentalistischen Lektüre der Bibel beruht, das ein theologisches Nachdenken, besonders Synthesen dogmatischen Typs meidet und mehr auf subjektive Rü~kwirkungen, die durch das Evangelium erzeugt werden, als auf seine objektiven Elemente achtet, die vorausgehen und die persönliche Stellungnahme bestimmen. Dieser Ansatz hat eine Konzentration auf die neutestamentliche Botschaft der Gerechtigkeit Christi und eine ihr folgende Entfaltung nicht ermöglicht. Beim Nachzeichnen dessen, was er für den zentralen und normativen Begriff des Täuferturns hält, also die Jüngerschaft als das Wesen des Christentums, führt Bender den Begriff auf die täuferische Weigerung zurück, dem Alten Testament die gleiche Autorität wie dem Neuen Testament zuzubilligen, wie dies in der Theologie der beiden anderen Zweige der Reformation der Fall ist. "Diese wichtige Grundhaltung gegenüber den beiden Testamenten hat bezeichnende, theologische Fol21 J. Calvin, Brieve instruction pour armer tous bons fideles contre les erreurs de la secte commune des Anabaptistes, CR 35,45-142. 22 R. Friedmann, Das täuferische Glaubensgut, ARG 55 (1964), 150. 13 J. Calvin, Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituelz, CR 35, 205. 24 U. Gastaldi, a.a.O., 31. Vgl. F. H. Littei, The Anabaptist View of the Church, Boston 1958 2 •
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gen im Bezug zum Kirchenverständnis (l.B. die Kirche setzt sich nicht aus ganzen Familien oder Völkern zusammen wie im Falle des altestamentlichen Gottesvolkes, sondern aus wiedergeborenen Einzelnen, und die Taufe ist deshalb nicht das Gegenstück zur Beschneidung), wie zu ethischen Fragen, wie z. B. zum Staat und zur Gewaltlosigkeit. "25 Die täuferische Theologie der Jüngerschaft setzt "die Untrennbarkeit von Glaube und Praxis, von Glaube und Leben" voraus. Wie Hans Denck erklärte: "Niemand vermag Christum wahrlich zu erkennen, es sei denn, dass er ihm nachfolge im Leben. "26 Die Nachfolge Christi bringt die Verwirklichung der "außerordentlichen" Forderung der Bergpredigt, die Unmöglichkeit von Versöhnungen und Kompromissen mit sich. "In den Antithesen der Bergrede sahen die Täufer das, was man tun müsse, um Jesus nachzufolgen und gerettet zu werden. "27 Gegenüber der allgemeinen, anpassenden Sittlichkeit der Christenheit, die seit Jahrhunderten in jener konstantinischen Herrschaft geregelt war, die auf dem zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung geschlossenen Bündnis zwischen Kirche und Staat aufgebaut war, entdeckten die Täufer den Radikalismus der evangelischen Forderungen wieder, die auf den Voraussetzungen eines Bruches mit der Welt, ihren Instanzen und Institutionen gegründet sind. Sie haben sich enttäuscht und wütend gegen die vom Luthertum für das Problem der Ethik angebotene Lösung aufgelehnt: mit einer Haltung tiefen Unverständnisses, das nicht ohne Verwandtschaft zu den katholischen Mißverständnissen ist, haben sie in der Rechtfertigung aus Glauben eine heuchlerische Flucht vor dem unerbittlichen Realismus des evangelischen Gebotes gesehen. Sie haben geargwöhnt, die lutherische Botschaft sei eine Hülle, um unter dem Mantel der Schrift ein leichtes, zurückhaltendes und idealistisches Christentum und eine billige Gnade zuzulassen, um den Menschen beruhigende Freibriefe auszustellen, um so mit gutem Gewissen die Strenge des Gehorsams zu vermeiden. Besonders der lutherische Versuch, das evangelische Ferment in die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens einzubringen, wobei die Abtrennung der Privilegierten, die ihr Christentum in den Hallen des Heiligtums ohne weltliche Verantwortung leben wollen, vermieden wird, erschien in ihren Augen als eine tiefe Untreue, die die Authentizität des christlichen Lebens bedrohte. Vor allem die fragwürdige, man kann sogar geradewegs sagen, "die pseudotheologische Unterscheidung zwischen ,privat' und ,amtlich' erschien ihnen allzu befremdlich "28, weil sie die Einheit des christlichen Lebens zu sprengen schien. Denn sie teilte es in einen intimen Bereich, der 25 H. S. Bender, The Anabaptist Theology of Discipleship, The Mennonite Quarterly Review 24 (1950), 25. 26 H. S. Bender, a.a.O., 3lf. 27 C. Bauman, Gewaltlosigkeit im Täufertum, Leiden 1968, 309. 28 C. Bauman, a.a.O., 178.
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der Autorität des Evangeliums unterworfen ist, und in einen beruflichen, wirtschaftlichen und politischen Bereich, der dem profanen Einfluß der Gesetze der Welt untergeordnet ist29 . Gegenüber der lutherischen These, die auf der paulinischen Lehre gegründet sein wollte und behauptete, jeder müsse in seinem Beruf bleiben und in ihm seine christliche Berufung leben, entgegnete Hans Hut mit entwaffnender Einfachheit: "Ist im also, warumb blib Petrus nit ein fischer, Matheus ein zellner, warumb haist Christus den reichen jüngling verkaufen und armen leuten geben?"30 Die Täufer meinten, die christliche Berufung bringe einen rücksichtslosen· Bruch mit der Welt und ihren Einrichtungen mit sich, um der paradoxen Botschaft Jesu im Gegensatz zu den Menschen, zu ihren vertrauten Gefühlen und ihren wirtschaftlichen Interessen zu folgen. Der Gehorsam gegenüber dieser Botschaft mußte die Auflösung aller früheren Bindungen und die Ableugnung aller Kriterien, die normalerweise das Leben der Menschen regulieren, mit sich bringen. Der Mensch, der sich nach täuferisehern Verständnis zum Evangelium bekehrte, konnte weder für sich, noch für die anderen die Bedingungen der Existenz rechtfertigen, die das allgemeine Bewußtsein für die Familie, die Arbeit, den Verdienst, die Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft akzeptiert hatte. Er wurde zu einem Typ unabhängigen Verhaltens geführt, das von den bei der Gesamtheit akzeptierten Gesetzen getrennt ist. Sich vor der verlorenen Welt zu retten, ist die Sehnsucht, die den Täufer in seiner Überzeugung bewegt. "In suma der welt freundschaft ist Gottes Feündschafft. "31. Der Täufer weiß: "Welt ist Welt und bleibt Welt. Der Christ ist aber von der Welt abberufen und aufgefordert, sich der Welt nimmermehr gleichzustellen ... Wer der Welt Freund ist und ihr gefällt, der ist kein Knecht Christi, welchem an allen Enden widersprochen wird ... "32 In den Artikeln von Schleitheim heißt es, Gott ermahnt "uns darum von Babilon und dem irdischen Egypti uß zU' gan", und zu fliehen "alle bäpstlich und widerbäpslich (widerbäpstliche) werck und gottesdienst, versamlung, kilchgang, winhüser, burgschaften und verpflichten des ungloubens (bürgerschaften und verpflichtung) und andere mer derglichen, die dan die welt für hoch halt, und doch stracks wider den befelch gotzs gehandlet werden, nach der maß aller ungerechtickeit, die in der welt ist"13. Gastaldi erklärt, "Bürger-
29 C. Bauman, The Theology of "The Two Kingdoms": a Comparison of Luther and the Anabaptists: The Mennonite Quarterly Review 38 (1964), 37ff. 30 L. Müller, Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 3, Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, 1938, 22, zit. nach C. Bauman, Gewaltlosigkeit, 178. 31 L. Müller - R. Friedmann (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 7, Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, Bd. 2, 219, zit. bei C. Bauman, a.a.O., 293. 32 R. Friedmann, a.a.O., 160 (aus dem Hutterischen Artikelbuch von 1577). 33 B. Jenny, a.a.O., 12-13.
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schaft" bedeutet "Bindungen an die städtischen Anordnungen durch Bürgereide und den Einsatz im öffentlichen Leben"34. Also gibt es keine Zusammenarbeit mit der Welt und ihren Einrichtungen, kein stillschweigendes Einverständnis mit ihren Gewohnheiten, kein Nachgeben gegenüber dem Geist, der sie bewegt. Die Folgerung aus dieser Haltung ist die Bildung von Gemeinden, die sowohl von der Welt als auch von den Massenkirchen, die als verweltlicht beurteilt werden, getrennt sind und von persönlich bekehrten Gläubigen gebildet werden, die sich völlig im christlichen Sinne einsetzen. Diese Gemeinden wollen die Gerechtigkeit des kommenden Gottesreiches in ihrem Bereich ins Werk setzen und verwirklichen, indem sie sich von ihrer gesamten Umgebung unterscheiden. Jedwede mitverantwortliche Solidarität gegenüber gemeinsamen Aufgaben wird verdammt, weil man bei ihr eine schuldige Befleckung mit der Ungerechtigkeit der Weltkinder verspürt. Die Erörterung der Schöpfungsordnungen ist bei den Täufern undurchführbar. Denn der Täufer weiß, daß die geschaffene Welt in Sünde gefallen ist und die einzige Hoffnung auf das Heil über die Verleugnung der Welt, die Wiedergeburt, die Erweckung der Seele und die Geburt Christi in ihr geht. Es gibt einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Gerechtigkeit Gottes und der Ungerechtigkeit dieser Welt, die in die Verdammnis fortgeht und dem Gericht nicht entfliehen wird. Also ist die einzige, christlich legitime Haltung das Unpolitischsein des Gläubigen, der vermeidet, seine Gründe mit Macht zur Geltung zu bringen, und der, ohne darauf zu reagieren, die Unterdrückung und Verfolgung der Welt erleidet, die sich gegen das Evangelium auflehnt, das sie in eine Krise versetzt, und die die Anfechtung durch die treuen Christen nicht erträgt. Die Theologie der Jüngerschaft artikuliert sich so in einer Kreuzestheologie, weil der Jünger nichts vermag, als dem Schicksal seines Meisters zu folgen. Diese Kreuzestheologie hat einen von der theologia erucis Luthers völlig verschiedenen Ansatz. Luthers Kreuzestheologie hängt völlig von der Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben ab, das heißt der Gerechtigkeit Christi, die eine fremde und nicht eigene, also eine verborgene und nicht offenkundige Gerechtigkeit ist, die nur durch den Glauben geglaubt werden kann. Die täuferische Kreuzestheologie liegt auf der Linie einer Gehorsamsethik als der Zugangsbedingung zum Reiche Gottes, wobei man das Neue vom Alten unterscheiden kann, das heißt das, was christlich ist, von dem, was weltlich ist, sowie das, was gerecht ist, von dem, was ungerecht ist. Das Kreuz wird nicht mit dem Widerspruch des Glaubens, sondern mit dem Nonkonformismus des Verhaltens identifiziert, weswe34 U. Gastaldi, a.a.O., 217; R. Stauffer, Zwingli et Calvin, critiques de la confession de Schleitheim, in: M. Lienhard (Hg.), The Origins and Characteristics of Anabaptism, Den Haag 1977, 126ff.
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gen die Jünger Jesu wie Christus zurückgewiesen und verfolgt werden und die Leiden Christi ertragen müssen, weil dies die Bedingung und gleichzeitig der Erweis einer wahrhaftigen Gemeinschaft mit ihm ist. "Das Gottesvolk müsse mitgekreuzigt sein als Sühnopfer für die Sünden der Welt. Und diese Schicksalsgemeinschaft mit Christo sei für den Gläubigen immer zugleich eine heilsnotwendige. "35 Wenn man nur dem Namen nach Christ ist, trifft man auf keinen Gegensatz, vielmehr wird man in der Welt gut aufgenommen und vielleicht auch gelobt, weil sie das aufnimmt und liebt, was wie sie ist; aber dieses Paradechristentum nützt nichts. Wie es in einem Text von 1533 heißt: ", ... ja Maulchristen, aber nicht Kreuzchristen wollt man gern sein, es wird aber nicht helfen"'36, weil Christus gesagt hat, wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und ihm nicht nachfolgt, ist seiner nicht würdig, der ist kein wirklicher Christ, sondern ein heuchlerischer Christ, und die Heuchelei hat kein Bürgerrecht im Reiche Gottes. Wie sich die Theologie der Jüngerschaft in die Kreuzestheologie auflöst, so übersetzt sich die Kreuzestheologie als Grenzfall in die Theologie des Märtyrertums, die für die Täufer konkret die Bedeutung hat: Verlust des Hauses und des Besitzes, der Familie und der Heimat, Gefängnis, Folter und Scheiterhaufen aus Liebe zu Christus. Dieser starke, christliche Einsatz spiegelt ein aufmerksames, aktuelles Hören auf den Ruf Jesu in die Jüngerschaft wider, der sich aus den Texten der synoptischen Evangelien ergibt. Man hat bei dieser Haltung auch den Einfluß der johanneischen Überzeugung bemerkt: "die ganze Welt ist in der Gewalt des Bösen" (I.Joh 5,19), und die Welt kann den "Geist der Wahrheit" nicht empfangen, weil sie ihn nicht kennt (Joh 14,17), also verfolgt und tötet sie die Zeugen Gottes, statt sie zu hören, und ist damit reif für das Gericht. Auf dem Hintergrund dieser Überzeugung erhebt sich der Dualismus Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Gewalt und Liebe, wie er in der klaren, täuferischen Trennung zwischen der Gemeinschaft der Heiligen und der Gesellschaft der Gottlosen widerhallt37 . Die großen, zentralen Themen der paulinischen Lehre werden nicht hervorgehoben, sondern das Randmotiv der Nachahmung Christi. Sie wird jedoch nicht als das paulinische extra nos des Lebens des Glaubens verstanden, als das Sein "in Christus" und als die Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, sondern vielmehr in den synoptischen Kategorien der Jüngerschaft und der Nachfolge in der Lebensführung des Meisters seitens der Jünger und in der Treue zu seinem Schicksal der Verwerfung gedacht und empfunden. Von Loewenich hat den Unterschied klar gesehen, wenn er zwischen imitatio und confonnitas unterscheidet: "Der Begriff der imitatio bleibt durchaus in den Schranken 35 37
c.
Bauman, a.a.O., 183ff. C. Bauman, a.a.O., 292.
36
C. Baurnan, a.a.O., 184.
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des Moralischen; es handelt sich bei ihm um ein Tun des Menschen. Der Begriff der conforrnitas sprengt diese Schranken ... Bei der conforrnitas handelt es sich nicht in erster Linie um ein Tun des Menschen, sondern um ein Handeln Gottes. "38 Luther bemerkt dazu im Kontext der Gedanken, die wir am Anfang dieses Paragraphen zitiert haben: "Es ist nötig, daß ich Christus als Gabe begreife. Da gibt es keinen Mangel. Wenn ich ihn als Vorbild begreife, erreiche ich ihn während meiner gesamten Lebenszeit nicht; aber wenn ich glaube, begreift der Glaube Christus völlig... Ich brauche notwendig einen Erlöser, keinen Lehrer. "39 War der lutherische Eindruck ganz ohne Grund, das Phänomen eines neuen Mönchtums vor sich zu haben, das eine Gerechtigkeit vor Gott verficht, die nicht ausschließlich auf dem Gehorsam Christi, sondern wesentlich auf der inneren Erneuerung und auf der frommen Disziplin des Gläubigen, auf der Beachtung besonderer Vorschriften und auf dem Erwerb einer außergewöhnlichen Frömmigkeit beruht4°? Die Kritik Luthers ist hart und treffend. Auf die hämmernde, täuferische Verdrehung, die sich dem lutherischen Motiv des "Glaube, Glaube" widersetzte, das man als ungenügend und ausweichend anzeigte, auf das "es ist notwendig zu leiden, Blut zu vergießen, es ist notwendig die Gebote zu erfüllen, die Menschen sind müßig geworden", auf das Luther lehrt nichts vom Kreuz ("Lutherus nihil de cruce") und auf das "es ist notwendig, sein Blut zu vergießen und alles zu verlassen", "Haus, Frau und Kinder", "viele Nachteile und endlich den Tod selbst" zu leiden, antwortet der Reformator mit trockener Nüchternheit: "Sie sind Juristen. Von Christus schicken sie zu Mose und zum Gesetz: Du mögest sein, tue es und du wirst leben; das ist der Hauptpunkt: von der Gnade schicken sie zum Gesetz und machen aus dem Gesetz die Gnade und nicht umgekehrt. "41 Muß man denken, daß Luther ungerechterweise polemisch war und die geistliche Größe seiner Widersacher nicht erfaßte? Oder ging er auch
w. von Loewenich, Luthers theologia cruds, München 19544, 166. WA 40/2, 41, 42, 43. 40 BSLK 1094, 1096. 41 WA 40/1, 250, 605. W. Joest. Das Heiligungsproblem nach Luthers Schrift "Wider die himmlischen Propheten", in: I. Asheim (Hg.), a.a.O., 190, bemerkt, daß hier das Beharren der Täufer auf der Innerlichkeit seinen Ort hat gegenüber dem Beharren Luthers auf der Äußerlichkeit, das von ihnen völlig mißverstanden wurde, das heißt auf der Objektivität des Werkes Christi und des Wortes, das es verkündigt, des Wortes, das nicht Buchstabe und geistloser Ritus ist, sondern die gewisse Verheißung Gottes, auf die sich Glaube und Gehorsam gründen. Es handelt sich um jenen Streit, bei dem nicht die Heiligung und deren Notwendigkeit auf dem Spiele stehen, worin die Lutheraner, Reformierten und Täufer einer Meinung sind, sondern deren Grund. Diese Unterschiedlichkeit der Standpunkte werden nicht nur theologische, sondern auch sehr weitreichende, kulturelle Folgen haben, die sich bis in unsere Tage auswirken. 38
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hierbei in die Schule des Neuen Testaments, das wirklich nicht zart mit Pharisäern und Judenchristen umgeht, die den Täufern sicher nicht in ihrem religiösen Eifer und sittlichen Einsatz nachstanden? Unverkennbar liegt hier ein Wiederauftauchen des judenchristlichen Fermentes vor: nicht im Sinne einer gewollten und bewußten Aufwertung des Alten Testamentes, weil vielmehr das Gegenteil wahr ist, sondern im Sinne einer Haltung, die dem Gesetz zuschreibt, was dem Glauben gehöft42 , und die deshalb in der Absicht, Christus zu verherrlichen und eine bedingungslose Treue zu seinen Geboten zu fördern, gerade nicht die Mitte und das Wesen Christi und des Evangeliums, nämlich den gekreuzigten und auferstandenen Christus in Betracht zieht. Schon Paulus erklärte, als er an die Galater schrieb, die sich vom Eifer derer verführen ließen, die "von Jakobus kamen", daß sie seiner Meinung nach damit enden, daß sie "das Evangelium Christi verdrehen wollen", "wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, dann ist Christus vergeblich gestorben". "Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade herausgefallen." (Gal 2,12; 1,7; 2,21; 5,4) Zweifellos liegt der Ton zwischen den beiden Antagonisten einerseits auf der Bergpredigt, andererseits auf dem gekreuzigten Christus, einerseits auf der Predigt Jesu, der vorwiegend als Meister verstanden wird, andererseits auf der Predigt des Apostels Paulus; einerseits auf dem Gesetz, das der Mensch erfüllen muß, andererseits auf dem Evangelium, das die Vergebung Gottes bei der Nichterfüllung seines Gesetzes seitens des Menschen verkündigt und das ihn befähigt, aus Liebe und Dankbarkeit, nicht aber aus Zwang zu gehorchen. Stehen wir hier vor zwei Einseitigkeiten, zwei Ausschließlichkeiten, die ihre Verbindung in der Einheit der christlichen Botschaft hätten finden müssen oder finden müßten - oder stehen wir vor einer unvermeidlichen Wahl? Die versäumte Versöhnung von Reformation und Täufertum verdankt man nicht nur einem zufälligen, polemischen Mißverständnis des 16. Jahrhunderts oder soziologischen Faktoren, die die beiden Gesprächspartner in einem entgegengesetzten Sinn bestimmt hatten. Auf dem Spiel steht das Problem der Beziehung zwischen Jesus und Paulus, das nicht nur eine Erfindung der modernen Kritik ist, sondern das auf das apostolische Jahrhundert zurückgeht und auf die Interpretation des Wesens der christlichen Botschaft einwirkt. Um geschichtlich und dogmatisch über die evangelische Begründetheit oder Unbegründetheit der Positionen der Reformation und des Täufertums zu entscheiden, muß man zuerst exegetisch entscheiden, ob Saulus von Tarsus ein Zerstörer des Evangeliums Jesu oder dessen getreuer Ausleger ist. 42 Gutachten der Nürnberger Prediger über das Bekenntnis Dencks 1525, in H. Denck, a.a.O., 140.
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Alles was bis hierher dargestellt wurde, gilt für den Zweig des Täuferturns, den Calvin trotz häufiger Unmäßigkeiten - "daß man mit großer Mühe einen Kopf unter den Wiedertäufern finden könnte, der nicht einige Phantasie für sich hätte" - als mit der Schrift verbunden und als von einer "sehr großen Einfachheit" beseelt betrachtet43 . Da ist aber noch jener radikale Flügel des Täuferturns, der mit Thomas Müntzer in Allstedt 1523-1524, in Mühlhausen 1524 und in Frankenhausen 1525, mit Jan Matthys 1534 und Jan Bockelson 1536 in Münster seinen tragischen Epilog gefunden hat, und den ein Spezialist wie Gastaldi im offenen Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung als eine der "degenerierten und unechten Formen des Täufertums"44 beurteilt, die "mit der Wechselbürgschaft eines falschen, heiligen Geistes" verwirklicht wurde, die aber fern ist von den "wahrhaft charakteristischen und grundsätzlichen Prinzipien des Täufertums"45. Es ist undenkbar, im radikalen Täuferturn eine spezifische Version der Rechtfertigung aus Glauben zu erkennen. Wenn man die Bewegung unter diesem Aspekt in Betracht ziehen muß, dann nur wegen der Kritik, die radikale Täufer in bezug auf die lutherische Lehre geäußert haben, eine Kritik, die ausführlich durch die marxistische Problematik aufgenommen wurde, die ihre Thesen als abhängig von der Bedingtheit durch die Klasseninteressen hinstellt und im Aufstand der Bauern eine geschichtliche Vorwegnahme der Forderungen der sozialen Revolution sieht46 . Die revolutionären Täufer beschränkten sich nicht wie die zeitgenössische und spätere katholische sowie die gemäßigte, täuferische Kritik, die Rechtfertigung als eine Abstraktheit zu betrachten, die "die Laxheit und die Illusion, Christen zu sein", ermutigt gleich einem "Plenarablaß", der von jeder Bedingung seines Erwerbs entbunden ist47 . Sie greifen offen den "falschen Glauben" der "schrifftgelerten" in Wittenberg an, wobei sie ihn als eine heuchlerische und interessierte Flucht vor dem Gesetz Gottes zum Vorteil der Mächtigen und Reichen hinstellen. Luther "heüchelt durch den allerthewristen schatz der gütigkeyt Christi und machet den vatter mit seinem ernst des gesetzs zu schanden durch die gedult des sones"48. Tatsächlich gilt nach seiner falschen Lehre die Gnade, die aus dem Gericht befreit, für die Herren und die Fürsten, die "die grundtsuppe des wuchers, eR 35, 53. 44 u. Gastaldi, a.a.O., 68, 577. U. Gastaldi, a.a.O., 580. Vgl. S. Tanaka, Eine Seite der geistigen Entwicklung Thomas Müntzers in seiner "lutherischen" Zeit, LuJ 40 (1973), 76. 46 Grundlage ist das Urteil: "Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie." K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, a.a.O., 217. Vgl. M. M. Smirin, Die Volksreformation des Th. Müntzer und der große Bauernkrieg, Berlin 19562 ; M. Steinmetz, Das Müntzerbild von M. Luther bis F. Engels, Berlin 1971; W. Eiliger, Thomas Müntzer, Leben und Werk, Göttingen 1975. 47 U. Gastaldi, a.a.O., 21, 46. 48 Th. Müntzer, a.a.O., 331. 43
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der dieberey und rauberey" sind und die zum eigenen Vergnügen jede Willkür üben. Wenn sich aber der arme Bauer und Handwerker den kleinsten Fehler zuschulden kommen läßt, "so muß er hencken". "Es ist der allergröst greüel auff erden, das nyemant der dürfftigen not sich wil annemen, dye grossen machens, wie sye wöllen. "49 Mit einem sarkastischen Wortspiel wird Luther, Dr. Luther, Dr. Lügner genannt, weil er "den gotloßen schelmen heüchelt", "denn er trotzet darauff, daß seyn predigen darumb das rechte wort Gottes sey", während er "einen mörderischen, hynderlistigen schaden" zugefügt hat50 • Er hat die Hand der Gottlosen gestärkt, damit sie nicht von ihrem falschen Wege abgebracht werden: man kann zu dem Volk nicht von Gott reden, solange es die Herren beherrschen; aber von jetzt an gilt, "daß ein gantze gemayn gewalt des schwertz hab". Wenn es sich wird erhoben haben und Gerechtigkeit verschafft haben, dann wird es von· der Tyrannei der Fürsten und Luthers, ihres Propheten, "des teüffels sicherlieher ertzkantzler", befreit sein51 • Es ist klar, daß die Interessen in eine ganz andere Richtung weisen: Man kann nicht sagen, daß wir hier eine Kritik der lutherischen Rechtfertigungsbotschaft aus Glauben oder einen Korrekturvorschlag oder eine Alternative vor uns haben. Hier herrschen ein wütender Überdruß und eine gewalttätige Unverträglichkeit gegen alle von der reformatorischen Theologie verteidigten Thesen sowie gegen deren eschatologischen Hintergrund und der explosive Versuch, eine nicht mehr geglaubte und erwartete, sondern eine wirksame und verwirklichte Gerechtigkeit unmittelbar, mit jedwedem Mittel aufzurichten, das heißt mittels des Umsturzes der Ordnungen der verdorbenen Welt und des Aufstandes gegen die Privilegierten, die sie unter ihrer Herrschaft halten. Das neutestamentliche Begriffsmuster, das älter als das lutherische ist, - der Glaube an die Verwirklichung der Gerechtigkeit in Christus allein, die Erwartung seiner eschatologischen Verwirklichung in uns und in allem Geschaffenen, die ethische Praxis der Zeichen, die die Gerechtigkeit, die gekommen ist und kommen soll, offenbaren - erscheint in seinen verschiedenen Momenten als eine eitle und flüchtige Erörterung und wird verworfen. Die Lage ist nicht ohne Analogien mit unserer Gegenwart. Sie erlaubt in gewissen Grenzen, die Behauptung zu verstehen, daß zum Beispiel in den Augen Thomas Müntzers, des "Knechtes Gottes gegen die Gottlosen", des GrünTh. Müntzer, a.a.O., 329. Th. Müntzer, a.a.O., 327, 333, 334. 51 Th. Müntzer, a.a.O., 328, 338; 343; 454-456. Vgl. B. Lohse, Luther und Müntzer, Luther 45 (1974), 12ff; E. Mülhaupt, Martin Luther oder Thomas Müntzer, LUther 45 (1974), 55ff; G. Maron, Thomas Müntzer in der Sicht Martin Luthers, ThViat 12 (1975), 71ff; E. W. Gritsch, Luther und die Schwärmer, Luther 47 (1976), 105ff, B. Lohse, Luther und der Radikalismus, LuJ 48 (1977), 7ff. 49
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ders des "Bundes der Erwählten", in dem sich die Mitglieder einsetzten, "um die Waffen zu ergreifen, um das tausendjährige Reich der Gerechten aufzurichten "52, die lutherische Rechtfertigungslehre "eine ideologische Funktion" einer Stütze der bestehenden Gesellschaftsordnung hatte und daß die lutherische Formel sola lide "als Instrument der Unterdrückung aus Klasseninteressen" diente 53 • Es ist nicht unsere Aufgabe, an diesem Ort festzustellen, ob es kritisch richtig ist, die Ideen und Programme eines Thomas Müntzer oder eines Jan Bockelson mit Kategorien zu interpretieren, die drei oder vier Jahrhunderte später in einer religiösen, kulturellen und sozialen Lage, die nicht mit jener des 16. Jahrhunderts vergleichbar ist, entstanden sind. Uns scheint, dies führt zu gewissen Zwängen, die nur auf Geister ohne geschichtliche und theologische Bildung Eindruck machen können. Wir können einfach die Wirklichkeit eines unüberwindlichen Unverständnisses feststellen. Die revolutionären Täufer haben in der gewaltsamen Trennung von Korn und Spreu, im bewaffneten Aufstand und in der Ausrottung der Gottlosen durch die Gerechten in einer Atmosphäre apokalyptischen Überschwangs das einzige, wirksame Instrument gesehen, um die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Sie haben nicht verstanden, daß Luther empfahl, sich nicht gegen die Ungerechtigkeit aufzulehnen, nicht um die Interessen der Fürsten zu verteidigen, sondern gehorsam gegenüber den evangelischen Motiven der Bergpredigt zu sein: dem Paradox, die andere Wange hinzuhalten und dem Übel nicht zu widerstehen, der Seligkeit der Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen werden, und der Friedensstifter, die Gottes Kinder heißen werden54 • Die Behauptung der Gerechtigkeit aus Glaube wird von ihm konkret in der Methode der Gewaltlosigkeit als ein ethischer Aspekt der Kreuzestheologie betrachtet. Tatsächlich konnte diese Ethik, wie wir wissen, zum Anlaß für die Versuchung oder die Entartung durch den sozialen Quietismus werden. Das Luthertum fand in der Geschichte nicht die Möglichkeit, ihn zu vermeiden, während die Reformierten ohne apokalyptischen Überschwang, aber mit konstruktivem Realismus zur Schaffung eines neuen Rechtes in der sich verändernden Welt beitrugen. Während des 16. Jahrhunderts beanstandeten nicht nur die Lutheraner und die Reformierten, sondern auch die Zürich er Täufer bei Müntzer die Nichtanerkenntnis 52 U. Gastaldi, a.a.O., 59. Vgl. U. Gastaldi - L. Santini - E. Campi, Il dibattito su Al).abattismo e Riforma. Chiesa e potere, Turin 1973. H. Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seiner Landesherrn und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, Stuttgart 1976. 53 E. Campi, Thomas Müntzer: teologo e rivoluzionario, in: Gioventu Evangelica 20 (1970), N. 5, 15. 54 P. Althaus, Luthers Haltung im Bauernkrieg, Basel 1953; ders., Luther und die Bergpredigt, Luther 27 (1956), 4; ders., Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1969, 67ff.
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des absoluten Widerspruchs zwischen Kreuz und Schwert, also das Mißverständnis des Wesens des Evangeliums. Konrad Grebel, der Gründer der ersten Täufergemeinde, tadelte bei Thomas Müntzer Verhaltensweisen, für die er weder irgendeinen schriftlichen Hinweis, noch ein Beispiel im Neuen Testament fand 55 • Die Mittel, die man gebrauchen muß, um die Gerechtigkeit in der Weit aufzurichten, sind im Blick auf das zu erreichende Ziel nicht sekundär. Eine ohne Freiheit erlangte Gerechtigkeit ist nichts anderes als eine neue Auflage der Ungerechtigkeit. Schon auf der Schwelle des Evangeliums wurde Jesus vor die Wahl gestellt, das Ziel, die Aufrichtung seines Reiches in der Welt, dadurch zu erreichen, daß er weltliche Mittel benutzte (Mt 4,8ff). Jesus hat sie zurückgewiesen, wohl wissend, daß die Mittel unheilbar den Zweck bedingen. Wenn der gerechte Wille Gottes auf Befehl geübt werden muß, wird die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie einmal wird aufgerichtet sein, eine neue Unterdrükkung darstellen und sich das Reich Gottes aus einem Heer von Heuchlern zusammensetzen, in dem der Bezug zu Gott aus Liebe zu Gott wird keinen Platz haben können, sondern durch eine Notverordnung wird aufgerichtet werden müssen. Wenn der Glaube nur unter gerechten UmweItbedingungen Platz haben und sich ausdrücken kann, wie Müntzer im Aufruf an die Bürger Mühlhausens donnerte, nachdem man die bestehende Gesellschaftsordnung zerschlagen und eine neue aufgerichtet hat, in der das Grundhindernis für den Glauben beseitigt ist, das die Vorherrschaft der Reichen und der mühselige und geduldige Eifer der Armen bildet, kann man gleichermaßen sagen, daß der Glaube nur dann beginnen kann, wann ihm bestimmt wird, zu enden, das heißt, wenn die Widersprüche der Geschichte ein Ende genommen haben werden. Wenn es an der Stelle des Ärgernisses des Kreuzes, wofür Jesus bis ans Weitende mit dem Tode ringt, eine Theodizee der Evidenz geben muß, dann müssen wir das Evangelium vom Messianismus des Gekreuzigten reinigen und den Messianismus der Zeloten annehmen. Bei einer Wahl zwischen Jesus Barabbas, der dem Volk Garantien für eine wirksame, politische Befreiung anbietet, und zwischen Jesus Christus, der sich nur auf das Wort der Predigt und auf die Zeichen verläßt, die sie begleiten, und der von der Übermacht der eingesetzten Autoritäten verjagt wurde, müssen wir unsere Stimme für den ersteren abgeben56 • Die tausendjährige Mühe des C. Bauman, a.a.O., 34, 126. Es ist bekannt, daß nach einigen griechischen Handschriften des Neuen Testamentes, die durch das Zeugnis des Origenes bestätigt werden, der Name des Barabbas auch Jesus war. So daß Mt 27,17 lautete: " ... sprach Pilatus zu ihnen: Wen wollt ihr, daß ich euch losgebe, Jesus Barabbas oder Jesus, den sogenannten Messias?" E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 331, vgl. 332. Man verstünde dann viel deutlicher die von Pilatus angebotene Alternative, deren erstes Wort, Jesus, man vielleicht später aus einer falsch verstandenen, sakralen Rücksicht auf den Namen Jesus ausfallen ließ. 55
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Glaubens, der akzeptiert zu glauben, daß Gott in dem Maße gerecht ist, wie seine Gerechtigkeit in der Welt Widerspruch findet, verdammt und gekreuzigt wird, und der akzeptiert zu glauben, daß Gott der Lebendige und der Triumphator in dem Maße ist, wie er als der Tote und der Besiegte erscheint, hat dann keinen Sinn mehr. Wenn man genau hinsieht, sind die Lösungen, die für das Problem der Rechtfertigung seitens der bei den Zweige des Täufertums angeboten werden, nicht so weit voneinander entfernt, wie es scheinen könnte: für die Gemäßigten muß die Gerechtigkeit im persönlichen Leben sichtbar sein, wobei man die Gottlosen ignoriert und sich von ihnen in der Gemeinde der Heiligen trennt - für die Revolutionäre muß die Gerechtigkeit in der Geschichte und in der Gesellschaft durch das Werk der Erwählten sichtbar gemacht werden, wobei man die Ungerechten mit Gewalt ausschaltet. Die Voraussetzung, daß Gerechte - mit einer eigenen und innewohnenden Gerechtigkeit - unterschieden von den Gottlosen existieren, ist den beiden Zweigen des Täuferturns gemeinsam; sie spielt auf die manichäische Unterscheidungen an, die die Atmosphäre unserer gegenwärtigen, sozialen Beziehungen verunreinigen.
2. Die erasmianische Linie Man hat über die Quellen der täuferischen Theologie der Jüngerschaft diskutiert, die sie von der reformatorischen Botschaft der Gerechtigkeit Christi unterscheidet: während einige zu einem Pluralismus von Motiven neigen, der in der Bildung des täuferischen Bewußtseins zusammengeströmt sei\ haben andere behauptet, Erasmus, dessen Schriften den Täufern bekannt gewesen sind, sei der Haupturheber2 • Nach Davis gilt: "Viele der Grundmuster täuferischer Anthropologie und Soteriologie, die sich auffallend von denen der maßgebenden Reformatoren abheben, kann man bei Erasmus finden. "3 Tatsächlich meinte Erasmus in dem Maße, wie er allgemein das Motiv der Rechtfertigung aus Glauben akzeptierte4, daß der wahre Glaube mehr als eine Anrechnung der Gerechtigkeit sei und 1 H. Fast, The Dependence of the First Anabaptists on Luther, Erasmus and Zwingli, The Mennonite Quarterly Review 27 (1953), 110. 2 K. R. Davis, Erasmus as Progenitor of Anabaptist Theology and Piety, The Mennonite Quarterly Review 47 (1973), 163. Der Einfluß des erasmianischen Humanismus auf das frühe Täufertum ist als Frage noch weit von einer Lösung entfernt. Man hat klug bemerkt, daß sich die Täufer, auch wenn sie unter dem Einfluß des Erasmus stehen, auf einen evangelischen Biblizismus stützen, der nicht mehr jener erasmianische ist. Vgl. U. Gastaldi, a.a.O.,73. 3 K. R. Davis, a.a.O., 164. 4 R. H. Bainton, The Paraphrases of Erasmus, ARG 57 (1966), 67, 70.
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eine aktive Jüngerschaft erzeuge, die ihrerseits beinhaltet "willentlichen Gehorsam, Abtötung des Fleisches, Triumph des Geistlichen und Beharrlichkeit auf dem Weg zu einer Vollkommenheit"5. Im Handbüchlein eines christlichen Streiters lehrt er, daß wer den Weg des Heils betreten will, bereit sein muß, "für Christus Gut oder Leben zu verlieren": "Du mußt die Kette der irdischen Beschäftigungen zerschneiden", wenn man beabsichtigt aus dem Ägypten und dem Babyion der Welt zu fliehen. Wenn man "in der Welt" ist, ist man nicht "in Christus": es ist notwendig, der Welt gekreuzigt zu sein, weil Christus gesagt hat, "daß der seiner nicht würdig ist, der sein Kreuz nicht auf sich nimmt und seinen Spuren folgt". Nur unter dieser Bedingung ist es möglich, "zur vollkommenen Nachfolge des Hauptes zu kommen"6. Im Prolog, der dem Benediktinerabt von Hugshofen im Elsaß, Paul Volz, gewidmet ist - er steht in der Ausgabe Frobens - und der ein wenig sein Programm darstellt, enthüllt Erasmus das Muster, das sein Denken leitet: "Bist du weit vom Urbild entfernt? Du wirst nicht zurückgeworfen, sondern angestachelt, Fortschritte zu machen. Bist Du nicht weit entfernt? Du wirst ermahnt, näher heranzukommen. Und niemand ist so weit gekommen, daß es nichts gibt, wodurch er Fortschritte machen könnte. "7 Dieses Grundmuster des Strebens zum Ideal, in dem Erasmus seine Synthese der Klassik und des Christentums, der humanitas und des Evangeliums, zu verdichten scheint, verkleidet sich wieder mit Formen der mittelalterlichen Mystik wie mit jenen, die aus der Imitatio Christi stammen. Dieser Text hat das gesamte, religiöse Leben des späten Mittelalters beherrscht. Er wird Thomas von Kempen zugeschrieben, den einige als den Verfasser, andere dagegen im Umkreis der devotio moderna des 15. Jahrhunderts als den einfachen Abschreiber eines früheren Werkes betrachten, das auf die benediktinische Umwelt des 12. Jahrhunderts zurückgeht. Ihm wurden viele erasmianische Sätze nachgeahmt. Aber das Interesse an den ethischen Motiven wird nicht zögern, die Oberhand zu gewinnen und als das zentrale Thema jener philosophia Christi sichtbare Formen anzunehmen, in der Erasmus sein Verständnis der Schrift zusammenfaßt, das nicht auf die Botschaft des Paulus, sondern auf die Bergpredigt ausgerichtet istB• Dieser Begriff wird nicht als ein Lehrsystem, sondern als eine Veränderung des Lebens gedacht, bei der die paulinische Antithese von Sünde und Gnade eine leichte Veränderung erleidet und auf den "neuplatonischen Aufstieg vom K. R. Davis, a.a.O., 167. Erasmus von Rotterdam, Handbüchlein eines christlichen Streiters, W. Welzig (Hg.), in Ausgewählte Schriften, lat.-dt. W. Welzig (Hg.), Bd. 1, 55-375, Darmstadt 1968, 155, 159, 161. 7 Erasmus von Rotterdam, Brief an Paul Volz, in Ausgew. Schriften 1, 31. 8 O. Schottenloher, Art.: Erasmus, Desiderius, von Rotterdam, RGG', 2, 535; R. H. Bainton, Erasmus Reformer zwischen den Fronten, Göttingen 1972, 60ff. 5
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Fleisch zum Geist" reduziert wird. "Der Glaube soll zur wahren Weisheit führen. Die Heilsgeschichte wird in Anlehung an die griechische Idee der JtaLOda als eine groß angelegte Erziehung des Menschengeschlechts betrachtet. "9 Das Erbgut des christlichen Denkens scheint bei Erasmus in "einem aufgeklärten Kulturideal "10 aufgelöst zu sein, aber man muß vielleicht mit einer weniger modernisierenden Interpretation sagen, daß es sich eher um ein Bündnis als um eine Auflösung handelt in Übereinstimmung mit jenem versöhnenden, synkretistischen Geist, der Luther sosehr abstieß, und der im Rahmen jener complexio oppositorum blieb, die zur Bildung des Katholizismus geführt hatte. Auch wenn man in den Texten des Erasmus auf christliche Begriffe stößt, kann man tatsächlich nie entscheiden, ob der Inhalt, der sie füllt, christlich oder heidnisch istl l . Jedenfalls ist sein Hauptanliegen nicht dogmatisch, sondern pragmatisch12 • Es ist typisch, daß Erasmus das gute Leben als das Wesen des Christentums, als einzigen, wirkungsvollen Beweis für die Rechtgläubigkeit und als der Ketzerei unverdächtig kennzeichnet13 • Man hat behaupten können, daß selbst die "Person Christi einer idealen Umwertung hier unterworfen wird"14: der grundlegende Bezugspunkt der christlichen Botschaft und des theologischen Bewußtseins scheint mitunter an sittliche Tugenden und Werte angeglichen zu werden. Wie es im Handbüchlein heißt: "Du sollst Christus aber nicht für ein leeres Wort halten, sondern für nichts anderes als die Liebe, die Aufrichtigkeit, die Geduld, die Reinheit, kurz für alles das, was er gelehrt hat." Was schließlich von Bedeutung zu sein scheint, ist der Unterricht, nicht der, der unterrichtet. Er kann in der Tat sagen: "Zu Christus strebt, wer zur Tugend allein hingezogen wird. "15 Was zählt, ist das Beispiel eines reines Lebens. Man muß sich jedoch vor einer immanentistischen, also antigeschichtlichen Interpretation der theologischen Position des Erasmus hüten, als ob sie ein Entweichen aus dem christlichen Lager darstellte, während sie das traditionelle Muster des Synergismus nicht überwindet, das Muster der Mitwirkung des Menschen mit der Gnade, auch wenn die ethischen Akzentuierungen ein größeres Übergewicht gewinnen 16 • Das Angebot der O. Schottenloher, a.a.O., 535. 10 O. Schottenloher, a.a.O., 536. S. A. Nulli, Erasmo eilRinascimento, Turin 1955, 31. 12 J. Huizinga, Erasmus, Basel 1951'. 13 R. H. Bainton, Erasmus and the "Wesen des Christentums", in G. Müller - W. Zeller (Hg.), Glaube - Geist - Geschichte, Festschrift für E. Benz, Leiden 1967, 203. I, 1. Borghi, Umanesimo e concezione religiosa in Erasmo da Rotterdam, Florenz 1935, 57. 15 Erasmus von Rotterdam, a.a.O., Bd. 1, 169. 16 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, O. Schumacher (Hg.), Göttingen 1956 2 , 79ff; E. W. Kohls, La position theologique d'Erasme et la tradition dans le "De libero arbitrio" , in Colloquium Erasmianum, Mons 1968, 72, 78, 84. 9
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Gnade und die Freiheit der Annahme sowie der Ablehnung sind die Angelpunkte seines De libero arbitrio, dessen Ausrichtung schließlich nicht mit den Positionen der Autonomie des Willens verwechselt wird, die in De dignitate hominis des Giovanni Pico della Mirandola verteidigt werden. "Die Zusammenarbeit mit der Gnade ist selbst eine Gnadengabe" , insofern der Mensch ihr gegenüber seine Entscheidungsmöglichkeiten ausüben müsse: neuere Untersuchungen haben die Abhängigkeit des Erasmus vom theologischen Gedankengut des Thomas von Aquin bewiesen17 • Dies gilt auch dann, wenn Erasmus in seinem gesamten Werk eine Erneuerung der Theologie auf der Grundlage der Heiligen Schrift zum Ziele hatte18 . Doch wenn es einfach so wäre, hätte es keinen Sinn, das Denken des Erasmus gesondert zu behandeln, weil sich seine Position mit der des Katholizismus vermischte, sei es auch nur mit der eines aufgeklärten und reformistischen Katholizismus. Das Ergebnis dieser Treue zum katholischen Erbe und dieser Öffnung zur Schrift könnte nur eine noch verfeinertere complexio sein. Wie kann man also den erasmischen Begriff der Rechtfertigung umreißen? Die Anwort hängt davon ab, für welche Interpretation man sich entscheidet, um das theologische Denken des Erasmus in seiner Gesamtheit einzuführen. Wir stehen heute in der Tat vor dem Problem zweier entgegengesetzter Interpretationen. Da gibt es einerseits die von Wilhelm Dilthey vorgeschlagene Interpretation, der Historiker vom Kaliber eines Adolf von Harnack, Friedrich Loofs, Paul Wernle, Ernst Troeltsch und Walter Köhler gefolgt sind. Dilthey hatte in seinen Aufsätzen Erasmus als den "Voltaire des 16. Jahrhunderts"19 bezeichnet, wobei er seine Vorstellungen folgerichtig als die ersten Erscheinungen des theologischen Rationalismus sowie eines undogmatischen und immanentistischen Christentums darstellte. Wernle hat das erasmianische Christentum als ein "Christentum der Bergpredigt" charakterisiert, das auf die Ethik Jesu konzentriert sePO. Troeltsch sah "bei Erasmus ,einen Übergang von Paulus zu der Religion der Bergpredigt und des schlichten Jesusglaubens"'21. Entgegen dieser Interpretation, die Erasmus in den Gewändern eines liberalen Theologen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts malt, steht die Interpretation des Kenners der Werke des 17
E. W. Kohls, a.a.O., 82, 83, 84; ders., Die Theologie des Erasmus Bd. 1, Basel 1966, 33,
77. E. W. Kohls, Die Einheit der Theologie des Erasmus, ThLZ 95 (1970), 641ff. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Göttingen 19709 , 42; vgl. E. W. Kohls, Luther oder Erasmus, Bd. 1, Basel 1972, 182: Exkurs I, Erasmus von Rotterdam in der Deutung Wilhelm Diltheys. 20 P. Wemle, Die Renaissance des Christentums im 16. Jahrhundert, Tübingen - Leipzig 1904, 16ff, zit. E; W. Kohls, Die Theologie des Erasmus, Bd. 1, 4. 21 E. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in Die Kultur der Gegenwart, Berlin - Leipzig 1909, 475, zit. E. W. Kohls, a.a.O., Bd. 1, 5. 18.
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Erasmus, Kohls, der eher dazu neigt, das in seinen Schriften immerhin vorhandene, christliche Element hervorzuheben. Dazu werden alle, auch kleine, formale Andeutungen, die nicht entfaltet werden (dies ist gerade zum Beispiel beim Thema Rechtfertigung im Handbüchlein der Fall), als Beweis für die biblische Grundlage seines Denkens dargestellt, so daß, auch wenn sich die Alternative Luther oder Erasmus stellt, die gewaltsame Polemik des Reformators sowohl geschichtlich als auch theologisch kaum verständlich erscheint22 • Wir meinen, weder der einen noch der anderen dieser entgegengesetzten Interpretationen vorbehaltlos beipflichten zu können. Sowohl die eine als auch die andere haben Beweggründe, die sich auf die Doppelheit der Fermente gründen, die das Denken des Erasmus bewegen. Diese Doppelheit selbst trennt und entfernt ihn von der Ausschließlichkeit der Botschaft der Gerechtigkeit Christi. Die Synthese von Theologie und Philosophie, die Mischung aus Skeptizismus und Tradition, die fortgesetzt in eine Haltung der Toleranz und Gleichgültigkeit mündet, die wiederkehrende Neigung, die Tatsachen des biblischen Zeugnisses zu allegorisieren und zu verinnerlichen sowie das Christentum auf eine umfassende Sittlichkeit von universalem Wert zu reduzieren, die Leichtigkeit, mit der sich Tugend und Frömmigkeit, der Glaube und die Kunst des guten Lebens und guten Sterbens, der Heilige Geist und die Vernunft, Christus als Erlöser und Christus als Vorbild, wechselseitig vertauschen 23 , scheinen ein Urteil Luthers zu bestätigen, das er nicht erst 1525 vor der Diatribe über den unfreien Willen, sondern schon vor den 95 Thesen gefällt hat. In einem Brief vom 1. März 1517 schrieb Luther: "Das Menschliche hat bei ihm viel mehr Gewicht als das Göttliche ... Denn anders lautet das Urteil jenes, der der Willens entscheidung des Menschen noch etwas zuschreibt, anders das Urteil dessen, der außer der Gnade nichts kennt. "24 Zweifellos erreicht es die Lehre des Erasmus wegen ihres ständigen Schwankens zwischen verschiedenen Instanzen nicht, die Grundlage des Menschen allein in Gott zu errichten, die der Botschaft der Gerechtigkeit aus Glauben zugrunde liegt. So erscheint trotz aller klugen Ergebenheitserklärungen gegenüber der traditionellen Lehre von der Objektivität der Erlösung die Gerechtigkeit nicht als eine verwirklichte Gerechtigkeit, als Gegenstand des Glaubens, sondern als ein zu verwirklichender Prozeß. Erasmus steht "ganz in der Tradition der via antiqua": "es geht ihm thomistisch um die Vergöttlichung des Menschen durch purificatio cordis und opera caritatis. Bei der Rechtfertigung - die Erasmus sowohl foren22 Vgl. die Schlußfolgerungen bei E. W. Kohls, a.a.O., Bd.1, 197ff, und in dem Artikel Die Einheit der Theologie des Erasmus, 646. 23 Diese Charakteristika sind klar dargelegt in dem Artikel von H. Bornkamm, Erasmus und Luther, LuJ 25 (1958), 3ff. 24 WABR 1, 90.
Die erasmianische Linie
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sisch wie imputativ wie effektiv verstehen kann - geht es im Grunde nur um die Ermöglichung ethischer Betätigung des gerechtfertigten Menschen. "25 Die Behauptung der Gnade hat keine authentisch religiöse Dimension, auch wenn sie mit irreführenden, biblischen Zitaten bemäntelt wird. Erasmus "verteidigt den freien Willen, weil er ein Stärkungsmittel für den sittlichen Willen ist, und lobt gleichzeitig die Gnade, weil sie den Stolz des Menschen mäßigt. Sein Interesse ist psychologisch und sittlich. "26 Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seiner Gerechtigkeit, nicht Gott mit seiner Gerechtigkeit. Gegen diesen grundlegenden Skeptizismus des Humanisten donnerte Luther: " ... du zolle deinen Skeptikern und Akademikern Beifall, bis dich Christus auch wird gerufen haben. Der Heilige Geist ist kein Skeptiker ... "27 Aufgrund dieser Voraussetzungen erklärt es sich, daß gerade auf der erasmischen Linie noch im Umkreis des 16. Jahrhunderts jene spiritualisierenden Interpretationen der Rechtfertigung vorkommen, die zum Beispiel bei Juan de Valdes, einem begeisterten Bewunderer des Erasmus, ihren Ausdruck finden, wie auch bei seinem Bruder Alfonso, der aus der Rechtfertigungslehre niemals die letzten Schlüsse zog, wie es sich aus der Aussage Pietro Carnesecchis vor der Inquisition ergibt 2B • "Subjektivismus und Irenismus nach erasmischem Geschmack antworteten auf die geistlichen Bedürfnisse einer gebildeten Gesellschaft, die die Suche nach der Wahrheit liebt, jedoch fern von einem Bruch mit der römischen Kirche ist, der von der strengen, dualistischen Vision der Reformatoren geboten wird. "29 Es war vielleicht jener verfeinerte, aber dem Evangelium ausweichende Geist, der Theodor Beza sagen ließ, daß die berühmten Cento e dieci Considerazioni divine von Valdes die bei den Italienern aufkeimende Reformation vergiftet hätten 30 • Auf die gleiche Inspiration beruft sich die gesamte Interpretation der Rechtfertigung im theologischen Liberalismus, der immer dazu neigt, aus dem religiösen Bewußtsein die Elemente der Objektivität und die dogmatischen Rahmenbedingungen zu tilgen sowie die Aufmerksamkeit auf die geistlichen Werte und den sittlichen Einsatz zu konzentrieren. Eine ähnliche Erörterung, auch wenn der rationalistische Skeptizismus viel ausgeprägter ist, an dem nach Luthers Meinung schon Erasmus krankte, muß in bezug auf die idealistische Interpretation angestellt T. Stadtland, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, Neukirchen 1972, 60. G. Miegge, Einleitung der Ausgabe von Il servo arbitrio di Lutero contro Erasmo, Rom 1930,5. 27 WA 18, 605 (MAE 1,14). 28 E. Rodocanachi, La Retorme en Italie, Bd. 1, Paris 1920, 226. 29 S. Caponetto, in seiner Rezension, Protestantesimo 13 (1958), 249, des Werkes von Fr. Domingo de S.ta Teresa, O.C.D., Juan de Valdes. Su pensamiento religioso y las corrientes espirituales de su tiempo, Rom 1957. 30 H. Meylan, "Martyrs du diable", RThPh 9 (1959), 127. 25 26
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werden. Sie findet ihren exemplarischen Ausdruck in einer Definition, die in einer berühmten Monographie Benedetto Croces steht. Bei seiner Behandlung Galeazzo Caracciolos, des neapolitanischen Adeligen, der wegen seiner Religion nach Genf geflüchtet war, und dort ein enger Freund Calvins wurde, fragt er sich: "Was bedeutete in moderne philosophische Begriffe übersetzt die Rechtfertigung aus Glauben tatsächlich? Nicht mehr und nicht weniger als die einzige Autorität des sittlichen Bewußtseins, dieser inneren Stimme, an deren Stelle sich keine andere setzen kann noch darf, und die allein den Willen regiert, die allein billigt und verwirft, die all eine erlöst und allein stark macht. "31. Hier wird die Grundlage der lutherischen Rechtfertigung, das Axiom des ponit nos extra nos, radikal psychologisiert und subjektiviert. Anstelle der Gerechtigkeit Christi nimmt man unter dem Vorwand der Modernität und der philosophischen Entmythologisierung das vorchristliche, hellenistische Muster des Strebens zum Ideal, das einen flüchtigen Trost im Gegensatz zum praktischen Alltagsleben sowohl unter körperlichen als auch unter beruflichen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten darstellen kann. Die Gerechtigkeit Christi erleidet eine völlige Verwandlung, sie wird wieder die ewige Überlegenheit des Geistes und des sittlichen Bewußseins über die Zufälligkeit und die Äußerlichkeit der "Werke" und die Enttäuschungen der Existenz. Eine jüngere Version der erasmischen Interpretation kann man vielleicht in der existentialistischen Auffassung erkennen, die die Rechtfertigung vom Handeln Gottes in Christus zu lösen scheint und sie letzten Endes auf einen anthropologischen Satz reduziert. Ihre Vertreter leugnen diese Ergebnisse und behaupten: "Der methodische Bezug der theologischen Aussagen auf das Selbstverständnis des Menschen bedeutet daher nicht etwa eine Reduktion der Theologie auf Anthropologie. "32 Er bildet keine subjektivistische Entmächtigung ihres objektiven Inhaltes; vielmehr darf der Zusammenhang zwischen dem objektiven und dem subjektiven Aspekt des Heilsereignisses, zwischen der Offenbarung, die in der Geschichte geschehen ist, und der Offenbarung, die gegenwärtig im Glauben geschieht, zwischen Versöhnung und Rechtfertigung in keinem Fall zergliedert werden33 • Hat nicht aber Bultmann, das Schulhaupt der existentialistischen Exegese, in seiner Theologie des Neuen Testaments schon den paulinischen Begriff der Gerechtigkeit auf den Unterschied zwischen dem Sein des Menschen vor dem Glauben und dem Sein des Menschen unter 31
B. Croce, Un caIvinista italiano. Il marchese di Vico Galeazzo Caracciolo, Bari 1933,
15. 32 W. Lohff, Die Bedeutung der "existentialen Interpretation" für die evangelische Theologie und Kirche, in: Theologische Strömungen der Gegenwart, Göttingen 1965, 5I. 33 G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem, Tübingen 1954, 61ff.
Die pietistische Linie
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dem Glauben reduziert34? Wenn man von Jesus als dem Zeugen des Glaubens spricht, geschieht da nicht eine Umkehrung der neutestamentlichen Muster, nach denen der Glaube Zeugnis von Jesus ist35 ? Die extreme Schwierigkeit und, sagen wir es doch, die mitunter wahrhaftig ärgerliche Zweideutigkeit der exitentialistischen Thematik erlaubt keine klaren Schlußfolgerungen. Aber es scheint, man könne sagen: "Rechtfertigung ist hier verstanden als Befreiung aus der Verfallenheit und Versetzung in die eschatologische Existenz und geschieht in der Verwandlung des Menschen zu einem Glaubenden. Konnte man bei Barth sagen, daß das per fidem von dem propter Christum verschlungen wird, so geht hier das propter Christum umgekehrt im per fidem auf... Das Heilshandeln Gottes in Christus ante nos und extra nos ist eingegangen in das pro nobis unserer glaubenden Existenz. "36
3. Die pietistische Linie Ein konstantes Kriterium, die Ausrichtung der Rechtfertigungslehre dogmatisch zu werten, ist die Erklärung, die man in der Exegese dem 7. Kapitel des Römerbriefes gibt. Es ist symptomatisch, daß Jakobus Arminius (Jacob Harmensz 1560-1609) in seiner De vero et genuino sensu Capitis Septimi Epistolae ad Romanos Dissertatio behauptet, daß der Apostelnicht von dem schon durch den Geist Christiwi~4ergebOrenen MensChen,'sondern von deIIl noch nicht wiedergeborenenMenschen ha.riden~- der deshalb unter das Gesetz gestellt wird 1 • Gegen die Anklage, seme"'Interpretation widerstreite allen reformierten Bekenntnissen in Europa, bestreitet Arminius, daß in allen Bekenntnissen, "Gallica, Belgica, Helvetica, Sabaudica, Anglicana, Scotica, Bohemica, Augustana" , ein einziger Artikel vorkomme, der ihr widerspreche2 • Johann Arndt (1555-1621), der großen Einfluß auf die Entstehung des Pietismus ausgeübt hat, war trotz der starken, erlebten mystischen Nei34
R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1965 5 , 271.
G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1963, 48ff; E. Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1965 2, 238ff; J. M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 19672 ; W. Lohff, a.a.O., 59. 36 M. Lippold, Lutherische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen theologischen Diskussion, in E. Wilkens (Hg.), Helsinki 1963, Berlin - Hamburg 1964, 191, 193. Die "eschatologische Existenz" darf man nicht als die Folge der zukünftigen Heilsökonornie auf die gegenwärtige Heilsökonomie, die jetzt schon im Glauben geglaubt und in der Hoffnung erwartet wird, verstehen, sondern "als Existenz des die Verkündigung hörenden und in solchem Hören zur neuen Existenz befreiten Menschen" (192). 1 I. Arminius, De vero et genuino sensu Capitis Septimi Epistolae ad Romanos, Lugduni Batavorum 1612, 5, 27f, 34, 54, 82. 2 I. Arminius, a.a.O., 157. Wir haben uns neugierig gefragt, was man unter Confessio Sabaudica verstehen soll: das Waldenserbekenntnis? 35
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gungen noch zu sehr Lutheraner, um den Streit zwischen Fleisch und Geist in Röm 7 zu leugnen und um die Rechtfertigung durch die Bekehrung und die Wiedergeburt zu ersetzen. Er hataber schon kräftig. die Unve.reinbarkeit zwischen altem und neuem Menschen unterstrichen3 • Vor allemh
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Die pietistische Linie
Daraus folgt, daß die ei'!2:!ge, als solche betrachtete Wirklichk(!it ciaIlll q~e Praxis wird. DieWtrIdlchkeif1.inCfmJTfiir'eHeWaiidltd.t der Botschaft wird derPraXis untergeordnet, statt jJl:I,&.. di~ Praxis der Wirklichkeit und Wahrheit. der Botscnaft. untergeordIlef Wird. Die' WÜrde geht von der Botschäft der-Gert:lchtigkelt Christi, die im Glauben geglaubt wird, zu den gerechten und frommen Werken über, die einfach von ihr zeugen müssen. Die \:Y~rkge!,~~!ttigkeit tritt an d~e ~telle ~~rGlaubensgerechtigkeit. An d~_§!~!!~_!I~!_~~c:1!~~ltigung.,tritt.d~-Wiede:t:gebur1.de~. be:kebJ:ten Mensc!t~n,-,!kr VQ):l p.euern.geboJ:'enwurde,.und,der,sichdurch.seine."fr9rnmigkeit~_Q!!.4~L_\\,!!ltlic:b,(!n. Urngebl,mg unterscheidet, in den Vordergrund. Die Qllelle der Gewißheit ist nicht mehr das Evangelium mit seiner Verküridigung'aesWerkes Christi und der Verheißung seiner gegenwärtigen und zukünftigen Erfüllung bei uns, sondern gerade die Feststellung de~..~ig_e!l:~!!, rE~Il~J,l,!ig~eitspegels, der täglich in allen seinen Formen, auch den geringsten, mit gesetzlichen Verfahren kontrolliert wird, wobei gilt: we~~ man g~~s~eQl!?-ge._l?:icht,_~!!:i~!·~sel.ll :Zei~hen; daß man sich bekehrt hat, tut man sie aber, ist es ein Zeichen, daß mä:tüioch unter den uribl~~h~~J:l_.i~tJ die zur Welt und zur Verdammnis gehören. Diese Notwendigkeit der Selbstkontrolle als Quelle der Gewißheit führt dazu, alle eigenen, inneren Reaktionen und die Gefühle, die sie begleiten und die göttlichen Einflüssen zugeschrieben werden, zu analysieren: die Erfahrllng bestimmter, religiöser ?ust~I).ge_.I!~~gtd~~ll,deI).Glauben zu ve~~il:-DäsExpeiimentleren wird "der neue Kanon"B. Gerade als Reaktion auf die gelehrte Abstraktheit der protestantischen Scholastik, gerade in der Verneinung der Vernunft ,,,offenbaren sich unvorhergeseh~~~!1ru!l:~eWiIßre'Verblnd~rigenmit -demkaIten,experimenteIlen und ungläubigen Verstärid der aufklärerischen Wissenschaft, die vor den Toren steht"9. In der Reduktion des Glaubens, den die Reformation ganz als Funktion des Worteswo1fie, auf das Gefühl und die Intuition ist schon de.!!~I!!~J:l!is~?:~l<_~!!!!_~.I).t~1ten. Wennslch'CiieRechtfertigungsgewißheit auf Selbstbeobachtungen des eigenen, geistlichen Zustandes sowie der Übereinstimmung mit der eigenen Bekehrung gründen muß, die'-s"Qr,gf~ltig als B_~~~ll, ~~n:~,~~~~~~~J~~l!sA!!ti.~r:Lw:trg~~.k~i~u~~mi!tigendes_simu.l kefiitt und sogar nichts mehr mit dem vorausgehenden Leben des UnbeKehrten zu tun hat, ist das doch ein Zeichen, daß man die theozentrische _,_,_~
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8 G. Necco, a.a.O., 100; W. Hossbach, Philipp Jakob Spener und seine Zeit, Bd. 2, Berlin 1861, 261; E. Hirsch, Geschichte der neuem evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 1975" 95, 108; K. Holl, Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus, in Ges. Aufsätze zur KG, Bd. 3, Dannstadt 1965, 525ff; J. Baur, Salus christiana, Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte des christlichen Heilsverständnisses, Gütersloh 1968, Bd. 1, 89; G. Müller, Die Rechtfertigungslehre, Geschichte und Probleme, Gütersloh 1977. 9 V. Subilia, a.a.O., 5.
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Perspektive verfehlt hat10 • Nicht mehr der rechtfertigende Gott, sondern dergei~echtfertigte. Mensch wird zur zentralen Größe.' ' In diesem Zusammenhang lohnt es sich, den Umriß des typischen 13..e..&Jjffs.J~"~k~!:!!?-.&.,oder Wiedergeburt genau nachzuzeichnen, denn er tritt im Pietis~us di~" tatsächliche Nachfolg~, q~~ß~griff~Q~L~echt;erti gung 'ä:r~~ llidel1 ititheriscnenBekerintiifssen kommen die Wörter converswimpiioder poenitentia vor, die mit der Reue über die Sünde und das Vertrauen auf die Vergebung Gott~~gleiClibedeJitend_-sind, oder die Wörtermortificatiö;" exsp6liclfiocorporis peccatorum, renovatio, vivificatio, resuscitatio ll , die das paulinische Begriffsmuster von Tod und Auferstehung in Christus nachzeichnen. Die Bekehrung wird ausschließlich dem \Verk Gottes zugeschrieben und der Auferstehuni(aerToteri' angeglicherrw:-"':Aith-ausc""steÜCiii"einem punktuellen Vergleich zwischen der lutherischen und pietistischen Auffassung fest, daß die lutheris<::h.ei\uffassung sowohl die Grenze einer sittlichen, Bekehrung als auch die Grenze einer religiösen Bekehrung überschreitet. Das typische, neutestamentliche Beispiel, das des Apostels Paulu~, zeigt keine Bekehrung von den schlechten Werken zu Christus, sondern von den guten Werken, auch nicht auf der Grundlage einer mangelnden Sittlichkeit, sondern eines Überflusses an Sittlichkeit. Es ist eine Bekehrung von einer sittlichenSelbstsicherheit und Selbstverherrlichung zum Glaubep; es ist eine Bekehrung von der S_ündegegen das erste Gebot, die darin besteht, die eigene Gerechtigkeit aufzurichten, statt sich der Gerechtigkeit Gottes-'zu' unterwerfen (Röm 10,3).E5 ist also ausgeschlossen, daßeiIle so1che'Bekehrimg den Menschen auf eine Grundlage eigener sittlicher Werte gerade in Konkurrenz zur durch das Evangelium offenbarten Gerechtigkeit gründen könnte. Sie hat als ausschließliche Grundlage Christus. Eine ähnliche Erörterung kann man bei der Bekehrung von der Gleich_, gültigkeit und vom Unglauben zu religiösen Wertei1'a~stelIeri:-einesolche -', "A,>aekehrung kann vollkommen ohne Christusgeschehen,mimkaiulsehr guT religiös sein';'onne-Christ'zu se1ii,' und eine grüße -Religiosität kann noch mehr als die weltlichen Sünden und der geistliche Skeptizismus ein Hindernis sein, die Gerechtigkeit Christizu erkennen. Das Ich des Menwiderspenstiger, sich Gott' ergeben und ihn als den schen ist um ersten und den letzten anzuerkennen und nur seine Gerechtigkeit als wertvoll zu bekennen, je höher es auf der Stufenleiter der religiösen Spiritualität steht. Diese Vorstellung, die gewissermaßen den sittlichen und religiösen Lesarten des Menschen mehr mißtraut als seinen unsittlichen und irreli-
so
10 11 12
zu
E. Kinder, Art. Rechtfertigung, 11. Dogmengeschichtlich, RGG3, 5, 838. Apologia Confessionis Augustanae, BSLK, 259, 260. Formula Concordiae, BSLK, 909.
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Die pietistische Linie
giösen, hindert uns, von der Existenz von "Bekehrten" zu sprechen, als bezeichne-Clfe-'RekenrungoerCZiigang"zu'einem ---Zustanii der -ein für allemal bekehrten Menschheit. "Die Bekehru1!g~~q~pte.tgewiß.,das.J\~:ein ~l!m alt~!!.~M~l1§c;Q~I1,-~_~:"'t\
[email protected]~]q~iis~b.J~U~g~!L1'!l$ aufs Neue wieder.j.~. Der homo renatus ist und bleibt ein Sünder, weil er"äucn'iiöch ~Mensch ist. So hat das Nein zu ihm zwar totalen Charakter, aber es ist solches jeden Tag aufs Neue gefordert. "13 Wie es die Schmalkaldischen Artikel ausdrücken: "Und diese Buße währet bei den Christen bis in den l.wi~14 Jede falsche SielierlieIf,-altesStfebenQes'clirTsmcheii'-üiid~lieKehrten Menschen, sich auf sich selbst zu gründen, das Ziel als erreicht sowie den eschatologischen Vorbehalt als zweitrangiu anzuseheii;"weraenener-
gI'sai'aiisgesaifösseri:',,'bemgemalnsnfie'Struktlir<~~s]!~ig~§.g~!.~~~.~.l;1- lL·'("/~""
~,..täglicher Sfreifdes 'dürch' GoHes""Geist gesetzten neuen Menschen des Glaubens wider den alten; tägliche konkrete handelnde Buße, tägliches Erwecktwerden zum Glauben ... Nur in diesem Kampfe, nur als kämpfender ist der neue Mensch wirklich ... Dem entspricht es, daß die Reformatoren Rm 7 und 8 nicht als sukzessiv im zeitlichen Sinne versteh~Q,liondernals simultan, freilICh nldlfifi statischen Nebeneinander, sondern in einem dynamisdien Widereinander: das Christenleben ist ein immer neuer Gang durch Rm 7 zu Rm 8. "15 Der pieti!>Ji§~lle B~griffist völlig an_ ~u!ig~ri<:hte,t:R.teJ~e~t:hrung ist ein ei!1Il1aliges. ~reigIl!!i, das eine Würde und Bedeutu~,gewinnt gleich der, die das Ereignis Christus in dernelltestameiitlichen Botscnäfil1iCEs vet'WlrKIic1irslal'em"futalIemarmrfaer'Sarbu~g'der':Üiiwie(ferhölbarkett, und es ist biographisch bestimmbar als ein einmaliger "Bruch mit der Vergangenheit, ei?e_e.~.~lige._}n sich, a!JgeSc:lllo~!>e_n~Erfahrung" 16. Die unvergleichliche und unwiederholbare Einzigartigkeit Christi geht von der geschichtlich-eschatologischen Ebene im Neuen Testament auf die psychologische über. In Übereinstimmung mit der mY.stischen.Tradition wird die Geburt Jesu, die Fleischwerdung Christi, spiritualisiert und findet
eiiiem
ilire:währsfe~'VerwirklicliWigiri-derSeele'des
Wiedergeborenen17:Dieses
einzigartige~-durch--dle -Bekehrtenerprobfe Ereignis· steckt .eine klare
Tre~nun.Kslinie~wischen iEnen u~ .,gen Unbekehrten ab, die nicht nur ]:! ~/ /;/ ( Vertreter der WeIfkinder, sondern auch Kirchenleute, Pfarrer einge- ,,,,,/' . schlossen, sind. Die Bekehrten unterscheiden sich von den Unbekehrten durch_"4~gJ~1"!lJl!J!lliLdli~Str~p~.ilirei~chrisi~ntupis; dü~ch- die I~biunst ,-~
13
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P. Althaus, Die Bekehrung in reformatorischer und pietistischer Sicht, NZSTh 1 (1959),
7. Artikel christlicher Lehre, BSLK, 447. P. Altbaus, a.a.O., 7, 13. 16 P. Altbaus, a.a.O., 14. 17 M. Schmidt, Wiedergeburt und neuer Mensch, Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969, 181, 184. 14
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ihrer Überzeugungen sowie durch die Zucht ihres sittlichen Lebens und ihrer Heiligung. Deshalb setzen sie sich nicht nur ein, um die schlechten Dinge, sondern auch die Dinge, die man als frivol und eitel, jedenfalls als nicht zu Frömmigkeit und Erbauung gehörig ansieht, zu vermeiden. Die Rechtfertigung alJs. Glauben an Christus wird zwar nicht geleugnet, aber sQzusagen an den Randgediängt. 'Sie erscheint in einem verschwommenen GcIif,'w~elJsie iiiCIifiii'enrdie Mitte besetzt. Man behauptet, daß sie wegen ihres forensischen Charakters integriert werden muß. "Mit dem neuen Menschen ist eine Wirklichkeit ins Leben getreten, die aus der Rechtfertigung als einem bloßen juristischen Spruche nicht hervorgehen kann. "18 Nicht Christus und seine Gerechtigkeit, die den Menschen in seiner Ungerechtigkeit rechtfertigt, stellen das Hauptinteresse dar, sondern der bekehrte und wiedergeborene Mensch, in dem sich eine neue menschliche Natur verkörperF9. Es handelt sich also nicht mehr um eine nicht eigene Gerechtigkeit und um aas, was nur geglaubt werden kann, sollaeriil:r'mei'ne im·Ürsprüng der göttlichen Gnade verdankte Gerechtigkeit, die dann aber eine eigene wurde, die man Tag für Tag mit unanfechtbaren Äußerungen der Authentizität übt und die gerade wegen ihres kontmllierbaren Charakters ein Gefühl des Friedens und der Sicherheit y~r:leiht. Gerade weil 'sich die Rechtfertigung in all ihren Momenten in die Wiedergeburt auflöst, verliert sie ihren problematischen und dialektischen Charakter, der aller Wirklichkeit eigen ist, die Gegenstand des Glaubens, aber nicht der Vision, der Hoffnung, aber nicht des Besitzes ist: man bezieht sicb. nicht mehr auf eine Gerechtigkeit,die extra nos besteht, sondern auf eine Gerechtigkeit, die im Bekehrten vorhanden und feststellbar ist. Nur bei den Bekehrten kann man das Vorkommen des wahren und lebendigen Glaubens behaupten, der nicht mit einem sündigen Leben koexistieren kann20 • "Gott kann eine unvollkommene Gerechtigkeit, wie sie die Rechtfertigung als Glaubensgerechtigkeit schafft, nicht anerkennen. "21 Diese Voraussetzungen führen mit innerer Not\V~!Hlig~~it :z;u einem " 'tendenziellen Perfektionismus. Spener'behauptet bei den Bekehrten die "/ wirkurtg;;on'e~-vofirge"B~fr~iung von der Sünde, aber er zieht daraus noch nicht die extreme, perfektionistische Schlußfolgerung22 • Wenig später M. Schmidt, a.a.O., 173, 176. 19 M. Schmidt, a.a.O., 172ff, 238ff. M. Schmidt, a.a.O., 177. 21 M. Schmidt, a.a.O., 180. 22 M. Schmidt, a.a.O., 177; Ph. J. Spener, Auslegung des Briefes an die Römer, Halle 18614 , 143ff. Es fehlen jedoch nicht Texte von Spener und anderen Pietisten, die geradewegs von einer Teilnahme des Wiedergeborenen an der göttlichen Natur sprechen: M. Schmidt, Teilnahme an der göttlichen Natur 2.Petr 1,4 in der theologischen Exegese des Pietismus und der lutherischen Orthodoxie, in Dank an Paul Althaus, Gütersloh 1958, 171ff; ders., Speners Wiedergeburtslehre, ThLZ 56 (1951), 24, jetzt in M. Greschat (Hg.), Zur neueren Pietismusforschung, Darmstadt 1977; J. Baur, a.a.O., I, 91, 95ft. 18
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zeigt jedoch ein lutherischer Polemiker, V. E. Löscher (1673-1749), bei einer Aufzählung der "Mali Pietistici", nachdem er über die ,,vennengung der Glaubensgerechtigkeit mit den Werken" geklagt hatte, daß man gelehrt hat, "ein Frommer werde für Gottes Gericht gerecht durch seine justitiam inhaesivam oder Frömmigkeit". Er prangert den Perfeetismus an, der der pietistischen Art anhaftet, die Rechtfertigung einzuordnen. "Die Ausbrüche des schädlichen Perfectismi sind insonderheit folgende dogmata: Daß ein wahrer Christ ohne alle Sünde sein kann und müsse; daß ein Christ so vollkommen 'werden könne, daß er Vergebung der Sünden nicht brauche; daß die Wiedergeburt nirgends sei, wo nicht die Vollkommenheit des Lebens ist und daß jene die letzte in sich schließe; daß die Wiedergeburt eine solche wesentliche Veränderung sei, darinnen der ganze Mensch völlig fromm werde; daß sich ein Christ in diesem Leben völlig von allem Bösen aktiv reinigen könne; daß es ein Christ so weit bringen könne, daß~r gar keine bösen Lü~t~,1l1€?hf.J~ihre oder daß sie sicllgar-mclifmenr bei ihm regten; daß man zu dem gradu der Vollkommenheit, welche der absoluten oder höchsten am allernächsten ist, kommen könne; daß ein Christ vor Gottes Gericht mit seiner Vollkommenheit bestehen könne und sonst gar nicht. "23 Die Bewertung muß berücksichtigen, daß es sich nicht um eine direkte, sondern um eine polemische Quelle handelt. Auf jeden Fall taucht die perfektionistische Schlußfolgerung in Weiterführung der pietistischen Lime"aurch'rue Veriiii.ft1uriifderHerrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert im angelsächsischen Raum auf: der Methodismus. In den Texten Wesleys trifft man auf jene mißtrauische Spannung zwischen Theorie und Praxis, die wir schon in den pietistischen Texten vorgefunden haben. Wir halten es in diesem Zusammenhang für notwendig, sich klarzumachen, daß die antitheologischen Behauptungen nicht völlig autonom sind, sondern daß sie außertheologisch durch die kulturelle Atmosphäre der Zeit bedingt sind. In der geistlichen Bewegung, die vom Pietismus des 17. Jahrhunderts bis zur Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts reicht und den Methodismus des 18. Jahrhunderts streift, muß man den religiösen Aspekt eines Kampfes gegen die tausendjährige ",
Vor1leITSC1iatCaes'Wfslanöes
'efKeDiien~'-aerslaiin--efriemgroßereri
'kurzen' .
KontexfabspieU'-üiid'oer einer Saison der Vorherrschaft des Gefühls im 19. Jahrhundert die Tore öffnen mußte24 • Aber wenn man, 23 V. E. Löscher, Vollständiger Timotheus Verinus, 1726, 43lf, 709, zitiert nach R. H. Grützmacher - G. G. Muras, Textbuch zur deutschen Systematischen Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Bd. 1, Gütersloh 1955 4, 31, 33. 24 Vgl. in diesem Zusammenhang die sorgfältigen Untersuchungen von C. Antoni, Dallo storicismo alla sociologia, Florenz 1940; ders., La lotta contro la ragione, Florenz 1942. Auf
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ohne sich dessen bewußt zu sein, das Prinzip anwendet, den Verstand, den man als dürr und abstrakt betrachtet, unterzuordnen, läuft man da im christlichen Lager nicht Gefahr, das Evangelium auf eine Psychologie des Gefühlslebens und eine Praxis ohne Norm zu reduzieren, wobei man die Tore einerdog1lla.tischen Gleichgültigkeit öffnet, die jedwedem Lehreinfluß ohne kritische Kontrolle erliegen kann? Dies geschieht ebenso, wenn man sich auf Grund einer vermeintlich unpolitischen Stellung der Täuschung hingibt, politisch frei zu sein. Auf einer enthüllenden Seite seines Journal, geschrieben am 1. Dezember 1767, bemerkt JomLWesley (1703-1791), daß man keine klare Vorstellung von der zUg~reduietEm Gerechtigkeit haben muß, um gerettet zu werden: "Daß ein frommer Kirchenmann, der nicht einmal klare Vorstellungen von der Rechtfertigung aus Glauben hat, erlöst werden mag ... Daß ein Mystiker, der die Rechtfertigung aus Glauben leugnet, ... erlöst werden mag. Aber, wenn das so ist, was wird aus dem articulus stantis vel cadentis ecclesiae? Wenn es so ist, ist es nicht hohe Zeit für uns - Projicere ampullas et sesquipedalia verba; und zu dem einfachen Wort zurückzukehren, ,wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm'?"25 Es handelt sich um eine gegen jede Lehre gerichtete Voraussetzung, die, ohne es zu bemerken, Gefahr läuft, das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes seines Inhaltes zu entleeren, und die offenkundig weit von den PosItionen eines Apostels Paulus wegführt. Gegenüber den Galatern, die unter dem Einfluß der judenchristlichen Propaganda standen, die eine Rechtfertigung einschärfen wollte, die durch die Beachtung des Gesetzes Gottes bedingt ist, behauptete er nicht, daß die eine oder die . andere "Vorstellung" der Rechtfertigung vor Gott gleichgültig wäre, sondern er sagte ohne Umschweife: "Ihr habt Christus verloren, ... , und seid aus der Gnade herausgefallen." (Gal 5,4) In der Abhandlung "Der Charakter eines Methodisten" legt Wesley genau dar: "Das unterscheidende Merkmal eines Methodisten besteht nicht in seinen Meinungen. Er mag diesem oder jenem Glaubensbekenntnis zustimmen, besondere Ansichten hegen ... , aber alles das berührt nicht den Kern der Sache. Wer sich einbildet, ein Methodist sei ein Mensch, der sich durch . eigentümliche Lehren VOll anderen Christen unterscheide, verrät damit nur seine großeUnoekänntschaft mit der Sache umfist weit }1OJ1
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Gott inspiriert ist und unterscheidet sich darin von Juden, Türken und Ungläubigen; daß das geschriebene Wort Gottes die einzige und genügende Norm des Glaubens und der Praxis ist, und er unterscheidet sich darin von den Anhängern der römischen Kirche; daß Christus der ewige und höchste Gott ist, und darin unterscheidet er sich von den Sozinianern und den Arianern. "Aber hinsichtlich aller Meinungen, die den Grund des Christentums nicht berühren, halten wir es mit der Regel: Denken und denken lassen. Mögen diese Meinungen sein, wie sie wollen, wahr oder falsch, sie sind nicht die eigentlichen Kennzeichen eines Methodisten." Wird die Botschaft der Gere~htigkeit Christi und der Rechtfertigung aus Glauben dlesen-,~Melnuiigenl' ziigerechnet?Wenn irgend jemand dem Methodistendle"Beliäüptllngzllschreiht, "daß wir allein durch den Glauben selig werden, so antworte ich: Du verstehst die Ausdrücke nicht! Unter der Seligkeit verstehen wir zunächst Heiligkeit des Herzens und Lebens, und diese ist nach unserer Überzeugung allein die Frucht des wahren Glaubens." Man darf das Werk Gottes weder wegen Meinungsfragen noch wegen Wortklauberei zerstören: "Liebst du Gott, und dienst du ihm? Das ist genug. "26 Mit der Rechtfertigung setzt er sich mit bezeichnenden Worten in einer Predigt über den Weinberg des Ewigen (Jes 5,4) auseinander, in einem Abschnitt, der es verdient, ausführlich zitiert zu werden. Nach einer unbegrenzten Lobrede auf den Grafen Zinzendorf beobachtet Wesley: "Man hat häufig bemerkt, daß sehr wenige in ihrem Urteil sowohl in bezug auf die Rechtfertigung als auch auf die Heiligung sicher waren ... Wer hat geschickter als Martin Luther über die Rechtfertigung allein aus Glauben geschrieben? Und wer wußte weniger über die Lehre von der Heiligung oder war verworrener in seinen Vorstellungen von ihr? ... Andererseits wie viele Schriftsteller der römischen Kirche (besonders Franz von Sales und Juan de Castaniza) haben stark und schriftgemäß über die Heiligung geschrieben, die nichtsdestoweniger überhaupt nichts von der Natur der Rechtfertigung wußten! So sehr, daß ihre gesamte Geistlichkeit auf dem Konzil von Trient in ihrem Catechismus ad Parochos (ein Katechismus, den jeder Priester seine Gemeinde lehren soll) Heiligung und Rechtfertigung völlig miteinander vermischt. Aber es hat Gott gefallen, den Methodisten volle und klare Erkenntnis beider und des großen Unterschiedes zwischen ihnen zu schenken. Sie wissen in der Tat, daß zur selben Zeit, wenn ein Men~ch gerechtfertigt wird" die Heiligung eigentlich be~innt . .. sie wissen, -daß die Wiedergeburt einen so. großen Wechsel inder Seele beinhaltet ... Nicht nur eirien äußeren Wechsel wie aeiCvbhTrürtksüdif zur Nüchternheit, von Räuberei und Diebstahl zur 26 C. Fabricius (Hg.), Corpus Confessionum, Die Bekenntnisse der Christenheit, Abteilung 20, Bd. 1, Die Bischöfliche Methodistenkirche, Berlin - Leipzig 1931, 709, 710, 711, 719.
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Rechtschaffenheit ... sondern einen inneren Wechsel von allem unheiligen zu allem heiligen Wesen - von StölzzurDemut, von Leidenschaft zur Sanfmüit,von -Verdrießlichkeit und Unzufriedenheit zu Geduld und Ergebenheit; mit einem Wort, von einem irdischen, sinnlichen, teuflischen Sinn zu dem Sinn, der ip., ChrisiiisJesus war."27 Es gibt-also Keine Entwertung oder Ablehnung der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben in Christus. Wesley_ Will einfach die rechte Beziehung zwischen Rechtf.~~r!~gl1!lR!!:'1QJjemgt}!!g}~s~a1ten,ohiie daß die eine-dü; Stelle der anderen einnimmt, "indem sie der einen und der anderen gleichen Wert zuschreiben"28. Aber es ist klar, daß das hervorragende Interesse auch bei dieser Forderung nach Vollständigkeit in Richtung Heiligung geht. Das Interesse ist so folgerichtig und stark entwickelt, daß es in Richtung Perfektionismll,~, Nhrt. ' Man hat gesagt, daß "die Vollkommenheitslehre dem Motiv, daß das Heil in seiner Gesamtheit, in seiner umfassenden Bedeutung und Wirkung gewahrt werden muß, Ausdruck geben will "29. Im Katechismus der bischöflichen Methodistenkirche wird auf die Frage: "Was ist die völlige Heiligung oder christliche Vollkommenheit?" folgende Antwort gegeben: "Sie ist jene erreichbare Gnade, worin der Gläubige, frei geworden von der Schuld und Knechtschaft der Sünde in der Rechtfertigung, und vom Tode in der Sünde durch die Wiedergeburt, ein Knecht Gottes wird und seine Fl1!Ghthat, daß er heilig wird. Der innere Kampf Zw!Scl1E!~l Fleisch und-Geist wird endgültig, üb~tWundeIl' so daß die pflicht zum Recht wird und ,- Gottes Kind den Vater lieb(von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele und von allen Kräften, und seinen Nächsten als sich selbst. "30 Wesley erklärt seinerseits, was die Früchte der Heiligung betrifft: "Wer ,Gott liebt, hält seine Gebote', und niclltnureinige, oder viele, sondern~n~,.'yonaen· geringsten lJ!S jijß:em größten. Er begnügt sich' nicht mit dem Bewußsem;--däs·ganze Gesetz gehalten und nur in einem Stück es übertreten zu haben, sondern er ,übt sich, in allen Stücken ein unverletzt Gewissen zu haben gegen Gott und Menschen'. Was Gott verboten hat, meidet er; was Gott geboten hat, tut er, ... " Der wahre Methodist "ist innerlich und.. -.-..äußerlich in Harmonie mit dem in dem .-.-".-. ... -. ---._-_.-.. .. ~
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27 The works of the Rev. John Wesley, Bd. 7, London 31829-1831, 204-205, Sermon 107, 5--6; vgl. R. Kissack, Giovanni Wesley, la vita eil pensiero, Turin 1966, 87. 28 J. Wesley, a.a.O., 205. Es ist auch nützlich in Works, Bd. 10, 312ff zu lesen; Thoughts on the Imputed Righteousness of Christ; 316ff: Preface on a Treatise on Justification; Works, Bd. 11,188: A Word to a Protestant. Vgl. W. R. Cannon, The Theology of John Wesley, with special Reference to the Doctrine of Justification, Nashville 1946; H. Lindström, Wesleyand Sanctification, London 1956; S. Carile, Attualita deI pensiero teologico metodista, Turin 1971, 111ff; F. Heyer, Konfessionskunde, Berlin 1977, 599. 29 D. Lerch, Heil und Heiligung bei John Wesley, Zürich 1941, 133. 30 J. Wesley, Standard-Katechismus der Bischöflichen Methodistenkirche, in C. Fabricius (Hg.), Corpus Confessionum, a.a.O., 708.
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geschriebenen Worte Gottes geoffenbarten Willen Gottes. Er denkt, redet' "~''''''l/'' und lebt nach der Methode, die in der Offenbarung Jesu Christi niederge'~l legt ist. Seine Seele ist erneuert nach dem Ebenbilde Gottes, in rechtschaffener Gerechtigkeit urid HeiligKeif; uild~weIT-eT~Chi'isti Sinn hat, so ,:t . wandelt er, wie Christus selbst gewand~lt ist." Die Schlußfolgerung ist ~~;",< gleiclifalk klar: "Durch diese Kerinz'eicb.'en, 'durch diese Früchte eines lebendigen Glaubens trachten wir uns von der unglaubigeriWeTfiindalTeh denjenigen, deren Sinn und Leben' dem Evangelium chrIsti fifail gemäß ist, zu unterscheiden. "31 WlrJiaI)eii-'üns'''darauf beschränkt, die Texte ausführlich zu zitieren, ohne sie zu problematisieren, weil sie in sich selbst Probleme bereiten. Dieses Bewußtsein, ausgestattet mit dem vollen Wissen um die eigene Integrität, diese Sicherheit, alle Gebote Gottes erfüllen zu können und zu erfüllen, im Denken und Handeln ein Leben in völliger Übereinstimmung mit seinem Willen zu führen, in dem es nichts Tild~lns'\Y~rt~s.._w.ed,et: vor Gott noch vor den Menschen gÜit, 'diese Überwindung jeder Spannung uriOjederi' Gegensatzes, diese Existenz, die sich jenseits der Sünde und der Notwendigkeit der Sündenvergebung und der Barmherzigkeit Gottes stellt, dies~s G~f~hl, einer"aI1:df!ren Mens~1Weit~.u~)l$~ME~n~~~e<;;?,~ ~er übrigerilVtensdiheifdeiUnbekehrtengetrennt~t, diese Empfindung, daß dTe'tirenzen zWischen Welt und Reich Gottes überschritten sind und daß die Zeit der Erfüllung und der Fülle erreicht ist, ohne daß es nötig ist, sich er,~~!~El..Ks:,l:lI.1~ ~offnungsvoll an die yerheißung zu hiffen'::wiewreinbart sich dies, sagen wir, nicht mit der Lehre der lutherischen und calvinistischen Reformation, sondern mit der Botschaft des Neuen Testaments? Wir gestehen, daß es uns nicht gelingt, das zu begreifen. Die Fortsetzung der pietistischen Linie des 19. Jahrhunderts stellt die Theologie der Erweckungsbewegun& dar (italienisch Risveglio; englisch Revival, französisch~''Revezn:'-trotzder großen Veränderungen in der kulturellen Atmosphäre, in der sie sich entwickelte, meinen wir nicht, daß es sich um solche Voraussetzungen handelt, die eine differenziertere 31 J. Wesley, a.a.O., 715, 718. Eine analoge Thematik findet man in Works 11, 366ff: A Plain Account of Christian Perfection (typisch die Erklärung von 1.Joh 1,8-10, mit der Schlußfolgerung, 376: "Deshalb halten wir in Übereinstimmung sowohl mit der Lehre st. Johannes als auch dem ganzen Tenor des Neuen Testamentes diesen Schluß fest:ßiI!- Christ ist,s2,weit vollkc:lrnrn~Q1Al!~,!flk~jl1€L~iin~2~K~i1,L' 378: "Es bleibt dann, daß' Christen in dieser-werrvön allen Sünden, von aller Unredlichkeit erlöst sind; daß sie jetzt in einem solci1e!1_SiI1l1~,yg!lkoll@~JlsiI1d, daß sie keine Sünde begehen, und daß sie von bösen Gedanken und bösen Wesenszügen befreit sind." 383 und 394 heißt es genauer, daß diese Vollkommenheit nicht "eine völlige Befreiung weder von Unwissenheit noch Irrtum in Sachen, die für die Erlösung nicht wesentlich sind, noch von mannigfachen Versuchungen, noch von zahllosen Schwachheiten" beinhaltet). 446: Brief Thoughts on Christian Perfection; 448: On Christian Perfection.
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Darstellung erfordern. Karl Barth hat bemerkt, daß die Theologie der Erweckungsbewegung, deren typischsten und reinsten Ausdruck er in Fr. A. G. Tholuck sieht, nicht aus dem Rahmen der religiösen Problematik der Epoche herausfällt, die ihre Mitte in Schleichermacher hat32 • Schleiermacher .Wies . .tatsäcp.Iich ger .. R~ch.tfertigup.g eiJ!~ ..s_ekundäre . F1inJ<:tion zu, indem er sie der Bekehrung unterordnete, und er kennzeichnete die Wiedergeburt _als die unmittelbare Erfahrung der Gemein§cllaft lllit Chrirrtethodologischen Ausstqs, als die Mitte der Frömmigkeit- ünd -als' gangspunkt der Theologie33 • Auf die theologische Umstellung, die in drei Jahrhunderten nach der Reformation in der Theologie geschah, weist Schleiermachers Aussage hin: ,,§ 109 Da.ß Gott den _§l,~JIJ~~~~hrenden L~.ctlt~rJig1,"34 Zur Verteidigung der Theol6g1e der Erweckungsbewegungwollte Karl Heim behaupten, daß ihre Heilsgewißheit niemals Heilssicherheit und ihre Frömmigkeit niemals individualistisch, sondern gemeinschaftlich ist. Er meinte, daß die These, nach der sie die Rechtfertigung durch die Bekehrung ersetzt und aus der Bekehrungserfahrung ein Dogma gemacht hätte, wobei sie der irrigen pelagianischen Lehre verfallen sei, man könne zu seinem Heil bei der Bekehrung und Heiligung mitwirken, auf einem Mißverständnis beruht35 • Aber seine Berufung auf das innere Zeugnis des Heiligen Geistes überzeugt nicht. Es ist klar, daß bei der Interpretation der Rechtfertigung durch die Bekehrung die Mitte des Schwergewichtes in der Beziehung zwischen Gott und Mensch völlig auf den Menschen verlagert wurde36 • In vorher unerhörter Weise hat gerade "die Erweckungstheologie den Menschen dazu angeleitet", "sich mit sich selbst zu beschäftigen, um sich selber zu rotieren, sich selber wichtig, ja tragisch zu nehmen", so daß sich die Frage stellt, ob sie nicht als "der höchste Gipfel des modern theologischen Anthropologismus" zu betrachten seP7. Wir halten dieses harte Urteil für unvermeidlich, auch wenn es durch die Überlegung abgeschwächt wird, daß die Theologie der Erwek-
elen
32 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon - Zürich 1947, 461. Ein anderer typischer Theologe der Erweckungsbewegung ist A. Neander mit seiner berühmten Formel: "pectus est quod theologum facit." 33 P. Althaus, a.a.O., RGG 3 , 5, 838. 34 Fr. Schleiermacher, Der christliche Glaube H, Berlin 19607 , 171, (§ 109). 35 K. Heim, Die dogmatische Grundlage des erweckIichen Zeugnisses, in O. Schmitz (Hg.), Pietismus und Theologie, Neukirchen 1956, 36ff. 36 W. Michaelis, Zum Problem Pietismus und Theologie, in O. Schmitz (Hg.), a.a.O., 120. 37 K. Barth, a.a.O., 465. Auch K. Barth, KD IV/2,626ß spricht kraftvoll. von Erweckung und Bekehrung in Beg,riffeIl,. di~ sich von jenen der pietistischen, erweckIichen Theologie zf~mHcliiintersc&eideri.Es liegt nicht außerhalb des Themas, an das Wort zu erinnern, das Barth eiillhal imVerIauf eines Pfarrkonventes sagte: "Meine Herrn, ich muß Ihnen etwas sagen. Für Sie wird im allgemeinen die Erweckung dann sein, wenn Ihre Kirchen voll sein ,.' werden und Sie alle Leute auf der Straße grüßen werden und sagen: Guten Tag, Herr . Pfarrer! ... Nun, vielleicht werden sich Ihre Kirche leeren, werden sie Steine nach Ihnen werfen und Sie werden denken: alles ist verloren, wenn die Erweckung kommen wird ...
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kungsbewegung äUßerst ernsthaft die wesentlichen, evangelischen Wahrheiten bewahrt und verfochten hat, wodurch sie die christliche Kirche hinderte, im Strudel der Aufklärung zu versinken und in der relativierenden Kritik des theologischen Liberalismus zu vertrocknen38 • Dies zu sagen bedeutet nicht, daß es legitim ist, eine erweckliche Evangelisation beizubehalten, ohne sich ihrer tiefen Unzeitgemäßheit und ihre Unpassendheit in der Gegenwart bewußt zu sein, insofern sie durch die kulturellen Beweggründe überlebt wurde, die ihre Ursprünge bestimmten39 • Wiederholt heißt es, das pietistisch-erweckte Bewußtsein stelle in seinen extremen Punkten el~en H~!~,~~gQi~.mu~~i!!.t:.~~~!!E.1C?,g!~~~~J:Iyper trophie dar40 , die sich typisCKlii der Frage kundtue, die der Pietist einem anaerenMenschen stellt: "Bist du erlöst?" Man hat hinzugefügt, daß eine solche Konzentration auf den eigenen geistlichen Zustand z:u.ein~:r:J~Qlie rung und zu einem Abwesends~iIliRderWeltffihrt, die man als Ort der Verdammnis oefriichtet:-Oi.ese' Meinung ist begründet: ihr Begründetsein läßt sich gut jenseits der frommen Konventikel in der Qual einer Gesellschaft beweisen, die des theologischen Fermentes beraubt ist, das allein ihren Problemen eine andere Weite geben könnte. Die ~ecp.!-fe!1igungs botschaft, die auf eine private Intimität reduziert wird, 'ist nichts anderes als 'der-widerspruch' gegen jene Gerechtigkeit Gottes, die verkündet wurde;-aamitsiefür die Welt eine radikale Kriseihreriliten rosungenund den anregenden, dynamischen Beginn eines neuen Lebens bildet. Jedoch soll dieses Urteil vielleicht wenigstens teilweise revidiert werden. Man hat beobachtet, daß es nicht ganz exakt ist zu behaupten, in der pietistischen Perspektive werde die Welt geleugnet: man übernimmt ihr gegenüber die Voraussetzung, daß nur eine Veränderung der Einzelnen eine Veränderung der Gesellschaft erzeugen kann41 • Heute erwartet man außerhalb der Kirche und sogar in ihr das Heil und die befreiende Aber Gott im Himmel wird sagen: endlich, ich habe eine Kirche!" Zitiert von F. Klopfenstein, L'absence de Dieu: La Vie Protestante vom 8. 1. 1971. 38 E. Beyreuther, Art.: Erweckung I. Erweckungsbewegung im 19. Jh., RGG3, 2, 627. Vgl. W. Warren, Revival, An Enquiry, London 1954; F. W. Kantzenbach, Die Erweckungsbewegung, Neuendettelsau 1957; O. Weber - E. Beyreuther (Hg.), Die Stimme der Stillen, Ein Buch zur Besinnung aus dem Zeugnis von Pietismus und Erweckungsbewegung, Neukirchen 1959. 39 Zum Einfluß der Theologie der Erweckungsbewegung auf die evangelische Preäigt in Italien und Frankreich vgl. die hochinteressanten Untersuchungen: G. Gangale, Revival. Saggio sulla storia deI Protestantesimo in Italia dal Risorgimento ai nostri tempi, Rom 1929; J. Cadier, La tradition calviniste dans le reveil du XIXe siede, EtThR 27 (1952), 9ff. 40 Diese bedeutsamen Formulierungen stammen von dem Wiener Dogmatiker W. Dantine, Krise der Lehre von der Rechtfertigung in der Gegenwart, ThZ 22 (1966), 189ff; ders., Über den protestantischen Menschen. Kritik und Erwartung, Hamburg 1959, 27ff, 33ff. 41 M. Schrnidt, Das Evangelium von der Rechtfertigung und die Weltverantwortung der Kirche in der lutherischen Tradition vom 17. bis 19. Jahrhundert, in J. Baur - L. GoppeltG. Kretschmar (Hg.), Die Verantwortung der Kirche in der Gesellschaft, Stuttgart 1973,116.
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Gerechtigkeit von der Veränderung der Strukturen, und folglich ist es leicht, gegenüber dieser Voraussetzung vorweg Verachtung und Hohn zu empfinden. Zweifellos hat die marxistische Kritik, die die Unmöglichkeit bewiesen hat, die Sozialethik auf die Normeifdes individuellen Gewissens zu reduzi~ren, ein Gewicht, das heute niemand mehr verneinen kann 42 . Dennoch sollte man den pietistischen Vorbehalt ernsthafter beaeiiken. Er trägt eine alte Tradition christlicher Weisheit in sich. Der Pessimismus gegenüber der Welt der alten Strukturen dürfte sich nicht kritiklos ineil!~nQptimismus gegenüber der Welt der neuenStr.ukturen verkehren. Man braucht Keine große Einbildungskraft, um sich die herben Erittiuschungen vorzustellen, denen eine Änderung der Strukturen begegnen würde, die nicht von einer Änderung des Menschen zum Beispiel in einem Lande wie Italien begleitet würde. Einer derHalJptpfeiler der Rechtfertigungsbotschaft ist, daß das Gesetz nicht die Möglichkeit bietet, die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Ein lutherischer Theologe wie Gollwitzer ;der gegenÜber der sozlaiistischen Problematik notorisch offen ist, hat verständnisvoll ausgeglichen bemerkt, daß sich der christliche Glaube viel weniger idealistisch darstellt als die marxistische SozÜ~1()gie43. Verbirgt sich nicht hinter dem marxIstischen Dogma, nach dem der Mensch das Produkt der gesellschaftlichen Strukturen ist, woraus folgt, daß sich die Strukturen verändern müssen, wenn man den Menschen verändern will, das Dogma Rousseaus, nach dem der Mensch gut ist, die Gesellschaft jedoch ihn verdirbt? Man darf jedoch nicht vergessen, daß Rousseau im Contrat Social dem Mythos vom glücklichen Wilden den Rücken kehrt und ihn in die völlige Entfremdung des Menschen zum Staat hin auflöst, indem er die Hypothese einer bürgerlichen Religion aufstellt44 • Verbirgt nicht andererseits das pietistisch-erweckte Mißtrauen gegenüber einer Gesellschaftsveränderung, der nicht die Veränderung des Menschen vorausgeht, einen anthropologischen Optimismus, der durch eine optimistische Ader gekennzeichnet ist, die mit der perfektionistischen Überzeugung verbunden ist, die sich gleichfalls mit der Botschaft 42 R. Mehl, Pour une ethique sociale chretienne, Neuchatel1967, 10. 43 H. Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, Tübingen 1962. 44 J. J. Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique, 1762. Vgl. die eindringlichen Analysen von A. Passerin d'Entreves, La dottrina dello Stato, Turin 1962, 221. Zur Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen als Voraussetzung für die Veränderung des Menschen: H. D. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, Hamburg 1960, 202ff; H. Dombois, Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967; H. Schulze, Gottesoffenbarung und Gesellschaftsordnung, Untersuchungen zur Prinzipienlehre der Gesellschaftstheologie, München 1968; H. Thielicke, Können sich Strukturen bekehren? Zu einem Grundproblem aktueller Sozialethik, ZThK 66 (1969), 98ff; E. Grässer, Die politische Herausforderung an die biblische Theologie, EvTh 30 (1970), 235; W. Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, München 1975, 204ff.
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der radikalen Verderbnis des Menschen und der Rechtfertigung aus Gnaden schlecht vereinbart? "Die Welt war für die Pietisten nicht entscheidend bestimmt durch Institutionen, ... , sondern durch die Menschen, die diese Institutionen mit christlichem Geiste erfüllten und sie dadurch entscheidend umbildeten. "45 Schon Spener blickte in seinen Pia Desideria auf eine Welt voraus, die durch die Liebe geleitet wird und in der man verstehen könnte, daß alles, was der Mensch hat, eine Gabe Gottes ist, und daß er nut Verwalter ist, also, wie es in der Urkirche mit ihrer Gütergemeinschaft geschah, daß er das, was er hat, nicht als sein Eigentum betrachten darf, damit nicht "ein hindernuß der brüderlichen Liebe" entstünde 46 • Ist jetzt nicht Gelegenheit an jene, die man als die erste soziale, christliche Utopie definiert hat, zu erinnern, die von Johann Valentin Andreä (1586-1654) in seinem Werk von 1619 Reipublicae christianopolitanae descriptio vorausgesehen wurde, an ähnliche Versuche August Hermann Franckes (1663-1727), der "eine Generalreformation der Welt aus den Kräften eines Erweckungschristentums" proklamierte4 ?, und an die Pläne und Verwirklichungen von Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf (1700-1760)? Es herrscht ein Optimismus gegenüber den erneuernden Möglichkeiten neuer Strukturen wid nel.ler· Menschen sowIe eine f{offiiilng,mif den einen oder den anderen die Gerechtigkeit inder-Welt auIztiiichten. Muß man--mlt der Strenge eines lutherischen Kritikers sagen: ,,:bü~se Äuffassung führte verhängnisvoll in die Richtung der Werkgerechtigkeit und verletzte den Rechtfertigungsglauben an der Wurzel", wobei man sich zu sehr der "Dämonie, die Welt und Menschen bedroht", bewußt ist, um dem Zauber dieser Traume zu weiClien48? -Oder muß man doch nüchtern mit calvinistischem Realismus sagen, daß die Botschaft der Gerechtigkeit Christi im Kontext menschlicher Untreue und Ungerechtigkeit fordert, daß man ständig versucht, ihr Ferment fest und vertrauensvoll, ohne Utopien und Trugbilder von Geschlecht zu Geschlecht in den nachfolgenden geschichtlichen Rahmen bis zum Ende der gegenwärtigen Weltzeit zum Zeichen des Reiches, das kommen muß, zu konkretisieren?
45 M. Schmidt, a.a.O., 166; V. Subilia, 11 Protestantesimo moderno tra Schleiermacher e Barth, Turin 1981, vgl. die Kap: La coscienza risvegliata und La coscienza sociale. 46 Ph. J. Spener, Pia Desideria, 31. 47 E. Beyreuter, Art.: Francke, 1. August Hermann (1663-1727), ev. Theologe, RGG3, 2, 1014. 48 M. Schmidt, a.a.O., 168, 171.
6.
KAPITEL
Die gegenwärtige Bedeutung der Rechtfertigung 1. Die Unzeitgemäßheit der Rechtfertigung
Als Luther im Jahre 1531 an seinen Vorlesungen über jenen Galaterbrief arbeitete, den er seinen Brief, den Brief, den er geheiratet hatte, seine Katharina von Bora nanntet, erklärt er, daß, wenn man den Artikel verliert, der die Gerechtigkeit Christi lehrt, und wenn man sich wieder dem eigenen Vertrauen und der eigenen Hoffnung auf eine vom Menschen bewirkte Gerechtigkeit zuwendet, man gleichzeitig Christus und das ganze christliche Evangelium verliere. Wenn der Rechtfertigungsartikel verkehrt wird, werden alle Dinge verkehrt3 • An diesem Punkt ist es höchst notwendig, unbeugsam und hart zu sein'. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 bekräftigt Luther, daß bei diesem Artikel kein Nachgeben und kein Zugeständnis selbst auf die Gefahr hin annehmbar ist, Himmel und Erde in Trümmer gehen zu lassen: auf ihm "stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum mussen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist's alles verlorn, und behält Bapst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht. "5 Wenig mehr als vier Jahrhunderte sind vergangen und die Botschaft der Gerechtigkeit Gottes, die den Funken bildete, der den Brand der Reformation ausbrechen ließ und der die religiöse, philosophische und politische Geschichte Europas veränderte, stößt heute selbst in protestantischen Kreisen an eine schwere und kalte Schranke der Gefühllosigkeit. Um die gegenwärtige Lage zu dokumentieren, soll es genügen, zwei im Protestantismus der letzten Jahre am häufigsten gehörten Stimmen zu zitieren: zwei lutherische Stimmen! Paul Tillich hat behauptet, die Rechtfertigungslehre betreffend: "Was ... alle Häuser und Werkstätten, alle Märkte und Dorfschenken Deutschlands erfüllte, das ist jetzt selbst den Spitzen der geistigen Bildung kaum mehr zugänglich. Ein Abbruch der 1 WA 2, 437: "Epistola ad Galatas ist meine Epistola, der ich mich vertraut habe, meine Kethe von Bora"; WA 40/1,2. 2 WA 40/1, 48: "Amisso articulo iustifieationis amissa est simul tota doctrina Christiana. Et quotquot sunt in munda qui eam non tenent, sunt vel Iudaei, vel Tureae, vel Papistae, vel Sectarii, quia inter has duas iustitias, activam legis et passivam Christi, non est medium. Qui ergo aberraverit a iustitia Christiana, hune oportet in aetivam relabi, hoc est, oportet eum amisso Christo ruere in fiduciam operum." 3 WA 40/1,72. 4 WA 40/1,193. 5 BSLK,416.
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Die gegenwärtige Bedeutung der Rechtfertigung
Tradition ohnegleichen liegt hier vor." "Dem Menschen der Gegenwart und selbst dem kirchlichen Protestanten ist dieser Begriff fremd, so fremd, daß es ... fast keinen Weg gibt, ihn verständlich zu machen. "6 Dietrich Bonhoeffer fragt sich aus seinem Berliner Gefängnis: "Ist nicht die individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil uns allen fast völlig entschwunden? Stehen wir nicht wirklich unter dem Eindruck, daß es wichtigere Dinge gibt. .. ?"7 Welche sind diese wichtigeren Dinge, die dem Empfinden des zeitgenössischen Menschen unmittelbar zugänglich sind? Dies sind keine isolierten Stimmen. Dieselben Kirchen lutherischer Tradition, die 1963 in Helsinki ihre 4. Vollversammlung abhielten, veröffentlichten die folgende eindrucksvolle Erklärung: "Der Mensch von heute fragt nicht mehr, wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du, Gott? Er leidet nicht mehr unter dem Zorn Gottes, sondern unter dem Eindruck von Gottes Abwesenheit, er leidet nicht mehr unter seiner Sünde, sondern unter der Sinnlosigkeit seines Daseins, er fragt nicht mehr nach dem gnädigen Gott, sondern ob Gott wirklich ist. "8 Was steht hinter dieser Gottesfinsternis ·im Bewußtsein des modernen Menschen, weshalb verlagert dieser moderne Mensch sein Interesse auf Dinge, die er für sich lebenswichtiger als Gott und seine Gerechtigkeit hält? Warum ist dieser moderne Mensch, für den jeder von uns ein mehr oder weniger bewußter, ein mehr oder weniger aufrichtiger Exponent ist, nicht nur unfähig, Gott zu finden, sondern sogar ihn zu suchen? Wenn er noch einen Rest religiösen Empfindens und irgendeine Kenntnis der Dialektik des Alten Testamentes hat, kann er sich vorstellen, aus der glücklichen Zeit der Gnade, in der man Gott finden konnte, in die traurige 6 P. Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Schriften zur Theologie I, Ges. W. Bd. 7, Stuttgart 1962, 74. 7 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, E. Bethge (Hg.), München 1970, 312. Dieser Text findet sich in einem Brief vom 5. 5. 1944. In dem der Verhaftung vorausgehenden Werk klingt das Urteil anders: ders., Ethik, E. Bethge (Hg.), München 1966 7, 124ff. 8 E. Wilkens (Hg.), Helsinki 1963, Berlin - Hamburg 1964, 456. Im gleichen Band beobachtet W. Metzger, Die Rechtfertigungslehre als Christusbekenntnis, 200, daß der Satz "Allein aus Glauben Gerechtfertigte werden leben" in den Ohren der gegenwärtigen Generation wie Kirchenlatein klingt, das er mehr oder weniger glücklich zu übersetzen versucht mit "Allein durch den Anschluß an Jesus kommt das Leben in Ordnung." (204). A. Peters, Das Ringen um die Rechtfertigungsbotschaft in der gegenwärtigen lutherischen Theologie, in Theologische Strömungen der Gegenwart, Göttingen 1965, 24, drückt die Lage so aus: "Uns erscheinen die überlieferten Formeln weithin als leer und hohl, als altertümelnd und verstaubt. Wer fragt noch nach dem gnädigen Gott? ... stellen wir nicht zuerst die zagende Frage: Steht hinter diesem dunklen Weltgeschick überhaupt ein göttliches Du? Verhallt unser Notschrei, unser Sehnsuchtsruf ungehört in den unendlichen Weiten des Kosmos, oder trifft er das Herz eines gottheitlichen Wesens, welches uns nicht stumm bleibt?"
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Zeit des Gerichtes, in der man Gott nicht mehr finden kann, versetzt worden zu sein9 • Wenn es möglich ist, eine Antwort auf diese verwirrenden Fragen zu geben, und eine Ursache der Erscheinung zu kennzeichnen, die für alle Kirchen, aber in ganz besonderer Weise für den Protestantismus eine Krankheit darstellt, die zum Tode führen kann10 , sind wir geneigt, die folgende Hypothese zu formulieren: Es handelt sich um eine tausendjährige Krise der Müdigkeit, der Frustration und der Auflehnung wegen einer nicht verwirklichten Erfahrung. Wo ist das Versprechen Seines Kommens, Seines Reiches und Seiner Gerechtigkeit? hat man seit der zweiten christlichen Generation angefangen zu flüstern (2.Petr 3,4) und das Flüstern wurde durch die Jahrhunderte zu einem Schrei und in unserer Generation zu einem Geheul, Orkan und Sturm. Camus hat die tiefen Strömungen, die sich im Untergrund unserer Generation bewegen, interpretiert, als er im L'homme revolte die Definition eingefügt hat: "Die Revolte ist eine der wesentlichen Dimensionen des Menschen. Sie ist unsere geschichtliche Realität. "11 Die Revolte ist eine leidenschaftliche Revolte gegen die Ungerechtigkeit, im Bewußtsein, daß auch in einer sogenannten freien Welt die Freiheit ein Gefängnis ist, solange ein einziger Mensch auf der Erde versklavt ist12 • In einer Welt, in der man durch die Schnelligkeit und Fülle der Informationen und Statistiken bestürzt gelernt hat, daß zwei von drei Menschen nicht in einem biologisch erträglichen Maße essen, wagt man nicht mehr ernsthaft und überzeugend die Worte des Evangeliums zu wiederholen: "Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; ... Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten 9 M. Luther, Rationis Latomianae confutatio, WA 8 (1521), 68; R. Hermann, Luthers Rechtfertigungslehre und ihre Bedeutung für unsere Zeit, in Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, Göttingen 1960, 367ff; A. Peters, Zur Predigt der Rechtfertigung in einer sich wandelnden Welt, in E. Wilkens (Hg.), a.a.O., 149; V. Vajta, Gelebte Rechtfertigung, Göttingen 1963; Rechtfertigung heute, Studien und Berichte, Stuttgart 1965; G. Gloege, Die Grundfragen der Reformation heute, KuD 12 (1966), 1ff; V. Vajta, L'actualite de la doctrine de la justification par la foi, und Th. Süss, Actualite de la justification par la foi, RHPhR 48 (1968), 197ff und 203ff; K. Glaser, Lebensraum Gnade, Die Bedeutung des Rechtfertigungsgeschehens für Leben und Sendung der Kirche heute, Stuttgart 1970; W. Lohff - Ch. Walther, Rechtfertigung im neuzeitlichen Lebenszusammenhang, Studien zur Neuinterpretation der Rechtfertigungslehre, Gütersloh 1974; G. Müller, Rechtfertigungslehre heute, Eine moderne Interpretation, in Luther 46 (1975), lff. Schon 1907 wurde von K. Holl die Frage der Bedeutung der Rechtfertigung im neuen kulturellen Kontext gestellt, Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?, in Ges. Aufsätze zur KG Bd. 3, Darmstadt 1965, 558ff. 10 G. Maron, Kirche und Rechtfertigung, Göttingen 1969, 222. 11 A. Camus, L'homme revolte, Paris 1962, 35. 12 A. Camus, Les justes, Paris 1950. Vgl. W. Dantine, Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit, VF 11 (1966), 77.
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nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch .... Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Denn nach dem allen trachten die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß ja, daß ihr das alles braucht. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen." (Mt 6,25-33) Die Menschen haben sich auf der Spur der christlichen Unterweisung jahrhundertelang gut oder schlecht angestrengt, zuerst die Gerechtigkeit Gottes zu suchen. Aber die menschliche Gerechtigkeit ist nicht unerwartet dazugekommen. Jetzt sind sie müde, vergeblich dieser Werthierarchie zu folgen, und wollen sIe umkehren. Sie denken und sprechen folgendermaßen: zuerst suchen und richten wir die menschliche Gerechtigkeit auf, dann werden wir gelegentlich die göttliche Gerechtigkeit suchen. Einstweilen wollen wir nichts mehr von diesem Christentum wissen, das "aus einer Ungerechtigkeit den Schlußstein seiner Erlösung gemacht hat"13, und sein Hauptsymbol im Schauspiel der Ungerechtigkeit eines Unschuldigen, der ans Kreuz genagelt wurde, ausgedrückt hat. Dieses Symbol zu preisen, ist in ihren Augen gleichbedeutend damit, die Allmacht der Ungerechtigkeit zu kanonisieren und sich auf die Seite der Reichen zu stellen, die die Macht in Händen haben und die den Menschen als Ware zur Ausbeutung über alle erträgliche Grenze hinaus zum Vorteil des eigenen wirtschaftlichen Gewinns benutzen. Wie Camus gesagt hat: "Die Erhebung gegen die Lebensbedingung wird als eine maßlose Expedition gegen den Himmel organisiert. Die menschliche Rebellion endet als eine metaphysische Revolution. "14 Die Revolte der Enterbten unserer Generation ist eine Revolte im Namen der Gerechtigkeit gegen das Kreuz und gegen Ihn, der dort gekreuzigt wurde, den man als ohnmächtig bei der Lösung ihrer Probleme betrachtet: Sie wählen die Barabbasse unseres Jahrhunderts, die Sozialmessiase, die ihnen eine sichere und unmittelbare Gerechtigkeit versprechen, die mit ihren Händen erreichbar ist, das heißt mit Gewerkschaften, mit ihren Gehaltsforderungen, mit ihren Streiks, die die Produktion und das Leben eines ganzen Landes lähmen, wenn die Forderungen nach Verbesserungen des Lohnniveaus und der Arbeitsbedingungen nicht angenommen werden. Alles das ist die Voraussetzung der Revolution und das Vorspiel der Systemveränderung. Die Menschen unserer Generation mit ihren Massen haben über alle Maßen die Menge J. Onimus, Camus, Brügge 1968, 49. A. Camus, a.a.O., 39ff. Wie H. Schulze, Gerechtigkeit Gottes als Motiv für Revolutionen, ZEE 13 (1969), 195 bemerkt, ziehen die Nichtchristen aus der geduldigen, ehrerbietigen und nicht revolutionären Redlichkeit der Christen, die für die eingesetzten Autoritäten beten, die Schlußfolgerung, daß Gott mit dem status quo identifiziert werde, 'so daß die Revolte gegen den status qua sich in eine Revolte gegen Gott auflöse, der ihn von der Haltung der Gläubigen aus zu bestätigen scheint. 13
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derer vergrößert, die an einem Nachmittag des Jahres 30 an einem Ort, genannt Golgatha, vorüberging und murmelte: "Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben." (Mt 27,42). So setzen sich an die Stelle der Theologie des Heils aus Gnaden und der Rechtfertigung aus Glauben eine Theologie der gesellschaftlichen Befreiung, eine Theologie der menschlichen Hoffnung und eine Theologie des geschichtlichen Heils 15 • Es handelt sich nicht um eine Verlängerung und eine Integration der Theologie der Gnade und der Rechtfertigung auf ethischer Ebene, sondern um einen Ersatz, eine Antithese. Mit einem Mißbrauch der Begrifflichkeit, der den Verschleiß der traditionellen Sprache und ihre Banalisierung andeutet, spricht man von Heil, um die Pläne und Anstrengungen zu kennzeichnen, die das Leben des Menschen humanisieren sollen. Man unterstreicht den säkularen Charakter des Heils, wobei das Heil weder innerlich noch geistlich sein darf, sondern es muß als Lösung politischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Fragen der Gesellschaftsstrukturen verstanden werden. Man sagt, daß die Welt "voller Fragen ist, auf die die christliche Botschaft letztlich nicht mehr konstruktiv antworten kann; das Heil, zu einer Zeit Mitte und Existenzberechtigung dieser Botschaft und ihrer Ausbreitung, ist nicht mehr Gegenstand unbestrittenen Glaubens und Vertrauens". Heute "geben sich die Menschen nicht mehr mit dem Seelenheil zufrieden ... Die Rechtfertigung vor Gott kann nicht die materielle Grundlage des Heils ersetzen: Heim, Nahrung und ein Mindestmaß an Leben. "16 Das Heil muß wirklich sein und darf nicht nur in Worten bestehen, wie es in der christlichen Botschaft der Fall zu sein scheint. In seiner berühmten 11. These über Feuerbach hatte Marx gesagt: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden 15 Die Literatur hierzu beginnt unter dem besonderen Beitrag seitens der Forscher Lateinamerikas uferlos zu werden. Wir beschränken uns darauf zu zitieren: R. A. Alves, A Theology of human Hope, Washington 1969; J. Alfaro, Speranza cristiana e liberazione dell'uomo, Brescia 1972; C. Mesters, Deus, onde esbis? Belo Horizonte 1971; F. Herzog, Liberation Theology, New York 1972; G. Gutierrez, Theologie der Befreiung, Mainz München 1973; J. Moltmann, L'esperance en action. Traduction historique et politique de l'Evangile, Paris 1973. Dann die gesamte Dokumentation über die Konferenz von Bangkok "Das Heil der Welt - heute" (29. 12. 1972 - 12. 1. 1973), die Kritiken der deutschen evangelischen Kirchen, verschiedene Artikel: Th. Wieser, Heilserfahrung heute, Una Sancta 27 (1972), 153 ff; J. Moltmann, Bangkok 1973, EvTh 33 (1973),209 ff; M. Zago, La salvezza di Cristo 0 la salvezza di Mao? "La salvezza oggi" alla Conferenza mondiale di Bangkok, Mondo e Missione 102 (1973), 195ff (ein Gesichtspunkt als katholischer Konferenzbeobachter). Über diese Verfasser und diese neueren Bewegungen hinaus ist die Hegeische Wurzel der Historisierung der Eschatologie und folglich der Politisierung der Theologie und der Kirche offenkundig. Vgl. P. Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung, Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegeischen Schule, Göttingen 1971; V. Subilia, La redenzione storica, Protestantesimo 27 (1972), 75-100. 16 K. Blaser, Le salut et l'experience contemporaine, RThPh 23 (1973), 1, 2, 9.
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interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. "17 Heute wiederholen die Christen auf seinen Spuren, daß die Kirchen bis jetzt die Welt in ihren verschiedenen Theologien und Bekenntnissen nur interpretiert haben: jetzt handelt es sich darum, sie zu verändern. Deshalb wollen sie sich nicht mehr dabei aufhalten, mit Worten ein geistliches Heil zu predigen, das man im Glauben haben muß, der der konservativen und anti proletarischen Heuchelei verdächtigt werden kann und der vor der politischen Verantwortung ausweichen will, um die Revolution zum vollen Vorteil der Herren des Systems zu bremsen. Statt fernerhin den traditionellen Begriff des Heils und der Rechtfertigung zu verbreiten, der als eine Ideologie "westlichen und weißen Ursprungs"18 verstanden wird, um den status quo zu erhalten, wollen sie politische Handlungen unternehmen, die die Welt verändern sollen. Um diese Handlungen auszuführen, meinen sie, sei es das wirksamste Mittel, sich in die Organisationen des Proletariats, des unterdrückten Volkes, einzureihen, das ein südamerikanisches Dokument als "Herrn der Geschichte" definiert. "Christus ist im Volk Fleisch geworden, deshalb ist Christus das Volk, und man kann nicht Christ sein, ohne im Volk und in seinen Kämpfen Fleisch geworden zu sein, weil die Armen der geschichtliche Christus sind", "der auferweckt wurde, um im ganzen Volk Fleisch zu werden und von da an das Volk, das Christus-Volk, zu sein". Es sagt: "Entweder mit mir oder gegen mich. "19 So sind die konkret empfundenen Spaltungen nicht mehr die konfessionellen Spaltungen zwischen dogmatisch verschiedenen Kirchen, sondern soziologische Spaltungen im Innern aller Kirchen, in denen man eine gegenseitige Exkommunikation aufgrund entgegengesetzter Geschichtsphilosophien als Interpretationskriterien der Wirklichkeit und als Normen des Handeins übt. Diese Lage im Namen des Evangeliums zu kritisieren, bedeutet, sich sowohl die infame Anklage eines Reaktionärs zuzuziehen,
17 K. Marx, Die Deutsche Ideologie (1845/46), Thesen über Feuerbach, a.a.O., 341. 18 K. Blaser, a.a.O., 6. 19 Popolo oppresso signore della storia und Leggere il cristianesimo in chiave rivoluzionaria, in Il Regno - Documentazione, 1973, 140, 141, 151. Zum philosophischen Ursprung des Begriffs vgl. G. Müller, Die Welt als "Sohn Gottes", Grundstrukturen der Christologie des deutschen Idealismus, NZSTh 10 (1968), 89ff. In Kreisen der linken Katholiken kann sich leicht eine Verbindung zwischen dem augustinisch·möhlerianischen Kirchenbegriff als einer Fortsetzung der Fleischwerdung Christi und dem marxistischen Begriff des Proletariats, das mit einer messianischen Aufgabe belehnt wird, ergeben. Im Protest gegen die offizielle Kirche, die als mit den wirtschaftlichen Mächten kompromittiert bloßgestellt wurde, kann es logisch erscheinen, daß der Begriff des Christus, der in den Armen und Ausgebeuteten gegenwärtig ist, die Nachfolge des traditionellen Begriffs Christi übernimmt, der in den Organen der kirchlichen Institution gegenwärtig ist. Das Vertrauen, das man in die gerechte und rechtfertigende Kirche gesetzt hat, verwandelt sich in ein Vertrauen, das man in das Proletariat und seine geschichtliche Sendung der Gerechtigkeit ~etzt. Wir stehen vor neuen Übertragungen des christologischen Problems.
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der die Gerechtigkeit des Klassenkampfes unterdrücken will, als auch die Anklage, das Christentum mit der privilegierten Kaste der Reichen und Mächtigen zu prostituieren. Zitieren wir noch einmal Dokumente, die aus jenem Kontinent in Aufwallung, Lateinamerika, stammen: "Das Christentum hat seine ursprüngliche, umstürzlerische Kraft verraten und sich in . eine Religion verwandelt, die die Mächtigen legitimiert. Es ist die Ideologie der Reichen und der herrschenden Klasse ... Die Entdeckung Gottes, Jesu Christi und seines Evangeliums ereignet sich in der Revolution, ereignet sich im Kampf des unterdrückten Volkes für seine völlige Befreiung. Jede Suche nach Gott außerhalb der Revolution ist Götzendienst, Ketzerei und ideologische Manipulation der Religion. "20 Das ,Heil und die Rechtfertigung im Innersten eines persönlichen Glaubens zu suchen, bedeutet, eine unverzeihliche Tat sozialen Streikbrecherturns zu begehen. Der zeitgenössische Mensch erkennt sich in der Erklärung Martin Bubers wieder, der sich weigert, in einer unerlösten Welt mit einer erlösten Seele herumzulaufen. Ein Heil aus besonderer Gnade und eine Rechtfertigung aus Glauben für einige ist nicht mehr denkbar: entweder kommen alle um oder es werden alle gerettet. Wir leben "auf einem unteilbaren Planeten, auf dem das Schicksal der einen vom Handeln der anderen abhängt. Heil und Unheil sind eine Angelegenheit der weltweiten, globalen Ordnung geworden. "21 Im Lied eines argentinischen Sängers, der unter dem Künstlernamen Atahualpa Yupanqui bekannt ist und der die Seele eines Indios interpretiert, wird jedenfalls die Wertordnung für Heil und Unheil angezeigt. Sein Vater ist an Tuberkulose gestorben wie auch sein Großvater, die sie sich in den Bergwerken zugezogen haben: "Es gibt ein Geschäft auf der Erde viel wichtiger als Gott. Das ist, daß niemand Blut spuckt, damit andere besser leben. "22 Die Folgerung scheint also klar zu sein: Heil und Verdammnis, Rechtfertigung und Verurteilung scheinen sich nicht mehr auf der Grundlage der Beziehung des Glaubens zu Gott, sondern auf der Grundlage von sozialen und politischen Stellungnahmen zu den menschlichen Fragen, das heißt konkret im Marxismus und im Antimarxismus, zu ereignen.
20 Popolo usw., a.a.O., 154. VgL R. Frieling, Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, MD 23 (1972), 26ff; ders., Christen für und gegen den Sozialismus, MD 24 (1973), 24 ff. 21 K. Blaser, a.a.O., 10. 22 Le salut aujourd'hui: Reforme vom 23. 12. 1972, 8.
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2. Die Rechtfertigung des Menschen und die Rechtfertigung der Gesellschaft
Wie kann man diese gärenden, neuen Gedanken, die den einen ein Ärgernis sind, und die die anderen in Überschwang versetzen, bewerten, ein Gären, das die Fundamente des Christentums umzuwälzen oder ihm ein neues und dynamisches Gepräge zu verleihen scheint, das sich nicht in die traditionellen Kategorien einfügt, sondern mit erneuernden Versprechen befrachtet ist? Handelt es sich um einen Abfall der Christen, der einer apokalyptischen Vision1, einer kollektiven Kapitulation, eines Kniefalls vor der Welt und einer Verweltlichung des Christentums würdig ist, wie es Jacques Maritain2 definiert hat, für den sie des Glaubens müde geworden sind? Nachdem sie sich von der Welt zu Gott bekehrt hatten, haben sie sich wieder von Gott zur Welt bekehrt und die Suche nach einem gerechten und barmherzigen Gott aufgegeben und sich statt dessen daran gemacht, eine gerechte und barmherzige Gesellschaft zu bauen3 • Vielleicht registriert man heute aus diesem Grund keine Bekehrung und keine Lossagung, weil die Frage nach Gott im Hintergrund steht und niemanden beunruhigt. Was die Menschen heute plagt und in Leidenschaft versetzt, ist das Problem ihrer Gesellschaft, nicht das Problem des ersten, sondern das Problem des zweiten Gebotes. Muß man alles dem Unglauben und dem Agnostizismus der säkularisierten Welt zur Last legen, die den Widerstand der Kirche gebrochen haben und die kraftvoll in ihre Mauern eingebrochen sind, bis sie die Herrschaft über das Feld erlangten, um so den Glauben unter den Zeitgeist zu beugen? Oder stehen wir an der Schwelle eines neuen Verständnisses und einer neuen Verwirklichung des Christentums, von der alle christliche Generationen der vorausgehenden Epochen in zweitausend Jahren nicht einmal eine Vorstellung hatten, und die das Gewissen der Welt weder aus Furcht noch in Hoffnung jemals erwartete? Verwirklicht sich für uns zum ersten Male in der Geschichte die universale christliche Fülle unter den Menschen und eröffnet die Möglichkeit, sich zu lieben, als Brüder solidarisch und miteinander vereint zu leben, statt Fremde, Feinde und Unterdrücker zu sein? Wir meinen, daß diese beiden Fragen schlecht gestellt sind. Unsere Gesellschaft ist voller Spannungen geteilt zwischen den Gerechten der Rechten, die die Werte der Person, der Freiheit, des Geistes, der Kultur, der Religion unter Mißachtung der materialistisch bestimmten Werte preisen, die sie besitzen, und die die anderen, die sie zurückfordern, entbehren - und zwischen den Gerechten der Linken, die Werte suchen, .' Die These wird von Rechtskatholiken unterstützt: L. Coache, Vers l'apostasie generale, Paris 1969. 2 J. Maritain, Le Paysan de la Garonne, Paris 1966, 85, 88. 3 A. Peters, Rechtfertigung - heute, Luther 39 (1968), 51.
Rechtfertigung des
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die der nicht Fleisch gewordene Glaube und die egoistische Geistlichkeit der ersten vergessen haben, nämlich die Werte Brot, Wohnung, Arbeit, sicheres Einkommen, Rente, die ein ruhiges Alter garantiert, Würde, menschliche Gleichheit, Gerechtigkeit und soziale Befreiung. Jede der beiden Seiten ist davon überzeugt, in seinen eigenen Forderungen gerechtfertigt zu sein, jede beansprucht, das Monopol der Rechtfertigung zu besitzen, jede teilt unter ihrem Gesichtspunkt die Welt manichäisch auf: alles Gute auf die eine Seite (die eigene natürlich), alles Schlechte auf die andere Seite, alles Licht auf die eine, alle Finsternis auf die andere Seite, alle Gerechtigkeit auf die eine, alle Ungerechtigkeit auf die andere Seite. Auf die Gefahr hin, die einen und die anderen zu enttäuschen, sagen wir, daß die einen wie die anderen unrecht und recht haben, und daß die einen die anderen brauchen. Es ist unangebracht, zu gewichtige und feierliche Wörter wie Abfall, Verweltlichung und Atheismus zu gebrauchen sowie das Gespenst gegenseitiger Exkommunikation zu schwenken. Es handelt sich sehr viel einfacher uni einen Mangel an Gleichgewicht. Was ist die Weltgeschichte anders als ein unaufhörliches Schwanken zwischen zwei Polen entgegengesetzter Werte? Und was ist die Kirchengeschichte anders als ein Schwanken von Ungleichgewichten und eine fortgesetzte Unfähigkeit zur Fülle und evangelischen Ganzheit? Wenn die Pietisten nur den religiösen Egoismus ihres Heils und ihrer persönlichen Rechtfertigung verfolgen, dabei jedoch die Welt und ihre Lebensprobleme ignorieren und sie ihrer alten Verdammnis überlassen, werden sie sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, trotz ihres Biblizismus als Antipoden zur biblischen Botschaft vorfinden, die nicht die Selbstliebe, sondern die Liebe zu Gott und zum Nächsten einschärft. Sie werden sich dann trotz ihres Protestantismus als Antipoden zur Botschaft der Reformation vorfinden, die das Zurückweichen, die incurvatio, des Gläubigen auf sich selbst verdammt hat; und die ihn angeregt hat, sich nicht vom amor sui, der Gott nicht um Gottes willen, sondern um des eigenen Friedens und der ewigen Erlösung willen sucht, sondern vom amor Dei dahin bewegen lassen, sogar die eigene Verdammnis und den ewigen Tod· anzunehmen, wenn solches der Wille Gottes wäre 4 • Diese Botschaft der Reformation hat ihn angespornt, sein eigenes Leben extra se auf die Gerechtigkeit Gottes in Dienst und Sendung typisch calvinistisch im tätigen Wissen zu gründen, daß vom Augenblick an, als wir gläubig wurden, gilt, "non nostri sumus, sed Domini", "wir gehören nicht uns, sondern dem Herrn" , weil es uns nicht möglich ist, "uns von uns selbst zurückzuziehen, um die ganze Kraft unseres Verstehens für den 4 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515-1516, lateinisch· deutsche Ausgabe, Bd. 2, Weimar 1960,142; WA 56, 391.
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Dienst Gottes einzusetzen. "5 Gleichzeitig wird die Suche nach der Gerechtigkeit und nach der neuen Welt, die Gott unter den Menschen aufrichten will, notwendigerweise, wie es übrigens schon weltweit geschehen ist, aus den christlichen Kirchen in die großen nichtchristlichen Bereiche unserer Zeit auswandern. Die Menschen werden eine Welt ohne Gott aufbauen und sie uns dann aufzwingen. Der Protestantismus der letzten drei Jahrhunderte trägt mit seinem Rückzug auf die Innerlichkeit, wodurch er die Beziehung zwischen Gott und Welt auf die Beziehung zwischen Gott und Seele eingegrenzt hat, wie es Tillich klar gesehen hat6 , eine schwere, geschichtliche Verantwortung für den unchristlichen Charakter der modernen Sozialethik und die Trennung der proletarischen Massen von der christlichen Botschaft. Wenn die chnstliche Linke nur ihre Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaftsordnung verfolgt, ohne ihre grundlegende Inspiration und ihren kritischen Sinn aus dem Glauben an die Gerechtigkeit Gottes zu schöpfen, wird sie unvermeidlich Opfer der Ideologien und Methoden unseres Jahrhunderts werden, weil sie das Kriterium der Botschaft, des Zeugnisses und des Gebetes durch das Kriterium der Gewalt und der Macht ersetzt. Sie wird kein Gespür mehr für die Spannung zwischen dem irdischen Staat und dem Gottesstaat haben, noch wird sie auf das Urteil Gottes achten, das jede menschliche Verwirklichung in der Geschichte erwartet. Sie wird deshalb selbst entsetzlichen Enttäuschungen entgegengehen und uns nicht eine Welt der Freiheit und Gerechtigkeit, sondern der Unterdrückung und Sklaverei bereiten. Luther hat 1520 in seiner Schrift" Von der Freiheit eines Christenmenschen" gesagt: "Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan. "7 Spricht nicht die tiefste theologische und politische Weisheit in unserer geschichtlichen Stunde aus diesem maßgebenden Wort, an das man religiöse und politische Christen erinnern muß? Man darf keine Antithese, sondern man muß eine Korrelation zwischen den einen, die das persönliche Heil, und den anderen, die die soziale Gerechtigkeit verfechten sowie zwischen der These der geistlichen Befreiung und der These der wirtschaftlichen Befreiung herstellen. Das Evangelium ist viel größer als die einen und die anderen und weigert sich, ihre Reduktionen zu erdulden. Die einen meinen, wegen ihrer gerechten religiösen Werke gerechtfertigt zu werden, die anderen meinen, wegen ihrer gerechten, sozialen Werke gerechtfertigt zu werden. Beide Positionen, die die Kirchen unserer Zeit teilen, das religiöse und das soziale Christentum, können sich in einer 5 7
J. Calvin, Inst. m, 7, 1. WA 7, 21.
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P. Tillich, GesW 7, 99.
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Perspektive, die von den aktuellen Leidenschaften frei ist, als ein großer Prozeß der Rechtfertigung aus Werken enthüllen. Deshalb sind die einen überzeugt, wegen der eigenen Frömmigkeit, wegen der eigenen Religiosität, wegen der eigenen Anlage zur Anbetung und zum Gebet, wegen der eigenen religiösen Aktivität, wegen der Tatsache, daß sie nicht weltlich sind und keine Politik machen, wie es statt dessen die anderen machen, auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen - die anderen sind überzeugt, auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen, gerade weil sie politisch aktiv sind und meinen, so dem Willen des Gottes zu antworten, der die Welt erneuern und die Menschen befreien will, die unter der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit seufzen, und sie sind überzeugt, mit ihrem Einsatz seine Gerechtigkeit und Liebe auszudrücken, die sie in den Kategorien unserer Zeit und ihrer kollektiven Strukturen verstehen, wobei sie den abstrakten und kurzsichtigen Egoismus jener vermeiden, die sich in Fragen der Frömmigkeit, der Kirche und des Gottesdienstes verkriechen und sich so aus der geschichtlichen Verantwortung des menschlichen Zusammenlebens ausschließen. Wenn man genau hinsieht, handelt es sich um zwei Linien, die sich beständig in verschiedenem Maße auch in der Vergangenheit das Feld streitig gemacht haben. Angefangen mit dem Jakobusbrief durch die ganze judenchristliche Tradition, das Mönchtum, das asketische Mittelalter und den erasmianischen Humanismus bis hin zum Pietismus und dann zur protestantischen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts hat die eine christliche Linie ihre Interessen auf die Rechtfertigung des Menschen konzentriert: die Suche nach dem gerechten Menschen ist die beständige Sorge dieser Strömungen, die von tiefer Frömmigkeit und ethischer Strenge beseelt sind. Die Verschiedenheit der dieser Suche eingeprägten Ausrichtungen und der gelieferten Lösungen darf uns nicht daran hindern, diese Konstante zu erkennen, die dazu neigt, die Gerechtigkeit Gottes individualistisch zu interpretieren. Heute scheint dieses Interesse erschöpft zu sein: bis dahin, daß die Rechtfertigung in dieser Perspektive zu interpretieren, das heißt zu aktualisieren, sich als ein verzweifeltes Unternehmen darstellt. Auch wenn man von der ursprünglichen, nicht zu beseitigenden, evangelischen Notwendigkeit der Rechtfertigung des einzelnen überzeugt ist, bemerkt man, daß diese Notwendigkeit die Totalität der im Evangelium vorkommenden Forderungen nicht für sich beanspruchen kann. Vom Messianismus der hebräischen Prophetie und der jüdischen Apokalyptik sowie dem Experiment der Gütergemeinschaft in der Jerusalemer Gemeinde über die mittelalterlichen Organisationsformen des Zusammenlebens, die waldensisch-hussitisch-täuferische Tradition, die Utopien, die die Ankunft des Reiches Gottes auf Erden ankündigten, und die chiliastischen Ketzereien bis zum Sozialismus hat eine ganz andere christliche Linie, in der ursprünglich hebräisch-christliche Bedürfnisse 19 Subilia, Rechtfertigung
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gären, ihre Interessen auf die Rechtfertigung der Gesellschaft konzentriert. Sie hat dies gewiß nicht mit der Absicht getan, die bestehende Gesellschaft zu billigen und zu heiligen, sondern gerade im Gegenteil im Sinne des Protestes und, wenn möglich, des Umsturzes. Die beständige Sorge dieser Strömungen, die von einer leidenschaftlichen Hoffnung auf eine radikale Erneuerung und vom zähen Willen beseelt sind, sie zu verwirklichen, ist die Suche nach einer gerechten Gesellschaft, in der die ärgerlichen Gegensätze zwischen der Lebensbedingung der Reichen, die im Überfluß leben, und der Armen, die nicht das Notwendigste zum Leben haben, aufgehoben sind, in der die Möglichkeit für die einen, die anderen zu unterdrücken und auszubeuten, ausgeschlossen ist, und in der die Organisation der Bedürfnisse und Pflichten zum gemeinsamen Nutzen auf der Grundlage einer rationalen Planung geregelt wird. Diese Tendenz, die darauf abzielt, die Gerechtigkeit Gottes kollektivistisch zu interpretieren, scheint sich heute unaufhaltsam auszubreiten, so daß jede andere Frage schließlich, willentlich oder nicht, durch ihre Voraussetzungen bestimmt, und selbst die Möglichkeit eines freien Hörens auf das Evangelium letztlich dadurch gehemmt wird. Zweifellos stammt ihre ursprüngliche Begeisterung aus dem Evangelium, so daß, wer ihr gegenüber eine ablehnende oder einfach eine kritische Stellung einnimmt, Gefahr läuft, sich dem Evangelium und einer seiner Grundforderungen zu widersetzen. Das Leiden für die Gerechtigkeit, die Ablehnung der Privilegienund die Entlarvung der Heucheleien, der Angriff auf die Anhäufung von Reichtümern und die Verteidigung der Niedrigen und Enterbten, die Anstrengung, in der Struktur Ausdruck der Nächstenliebe zu finden, die Spannung auf eine messianische Zukunft der Befreiung hin, die die marxistische Revolution kennzeichnen, scheinen Motive der christlichen Botschaft widerzuspiegeln. Sie haben tatsächlich viele Christen verführt und vor allem die Jungen überzeugt. Sie bekennen sich als Christen und nennen sich Marxisten. Sie nehmen für ihr Denken und Handeln eine doppelte Norm an, sie meinen, in der aktuellen geschichtlichen Lage könne man nicht auf der Seite des Evangeliums von Christus stehen, ohne gleichzeitig auf der Seite jenes Proletariates zu stehen, das die marxistischen Texte als Heiland und Messias unserer Gesellschaft darstellen. Ihre Entscheidung bedeutet eine Rechtfertigung der marxistischen Gerechtigkeit. Besteht da nicht vielleicht unter denen, die den gerechten Menschen, und denen, die die gerechte Gesellschaft suchen, die Aufgabe der Zeugen des Evangeliums, auf eine Gerechtigkeit hinzuweisen, die diese beiden Gerechtigkeiten nicht aus-, sondern einschließt, sie aber gleichzeitig überwindet und deren belebendes Motiv bildet: die Gerechtigkeit Gottes? Was will die Gerechtigkeit Gottes besagen?
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3. Die Rechtfertigung Gottes Sie könnte vielleicht als eine dritte Linie oder Tendenz bezeichnet werden, die jedoch keine sichere, in der vergangenen Geschichte systematisierte Tradition hat. Sie scheint uns aber die der Hauptrichtung der biblischen Botschaft entsprechende Instanz darzustellen und sie könnte sich gleichzeitig als der Ausgangspunkt des christlichen Zeugnisses enthüllen, der zu den Forderungen unserer Epoche und zur geheimen Qual des Menschen unserer Generation, eines Erben von zwei Jahrtausenden enttäuschter Hoffnungen, paßt. Der Mensch unserer Generation ist gerade deshalb ein Agnostiker und Atheist geworden, weil er sich das Problem der Rechtfertigung Gottes gestellt und keine Antwort gefunden hat: er hat versucht die Gerechtigkeit Gottes theologisch zu interpretieren, aber Gott erschien ihm ungerecht, und dann hat er Ihn unter Anklage gestellt. In der Erwartung, der Angeklagte habe mit Erfolg irgendeinen Rechtsanwalt gefunden, der beweisen kann, er sei gerecht, hat der Mensch den Angeklagten vergessen. Er ließ sich von Freud zerstreuen, der ihn überzeugte, die Tiefenprobleme seien für Krankheiten symptomatisch, die man mit psychoanalytischen Methoden heilen muß; er ließ sich von Nietzsche und Sartre zerstreuen, die ihn von der Notwendigkeit der Auflehnung gegen Gott überzeugten, weil Gott nach dem Scheitern seines Unternehmens tot sei und nunmehr ein unnützes Problem darstelle; er ließ sich von Marx zerstreuen, der ihn überzeugte, die rationale Lösung der Probleme, die die Religion verdeckt habe, statt sie zu lösen, sei die organisierte Suche nach der gerechten Gesellschaft mittels der Revolution der Strukturen, wobei man den unnützen, ideologischen Überbau zur Seite räumt. Aber das Problem ist ungelöst geblieben. Man sagt heute allerseits, daß die Beseitigung Gottes aus dem menschlichen Bewußtsein ein neues, in der Geschichte der Zivilisation unerhörtes Problem darstellt. Aber was ist trotz so unterschiedlicher Ausschnitte die Geschichte anders als eine Reihe aufeinanderfolgender Termine in einem großartigen Prozeß, bei dem man über das Für und Wider des Protestes gegen Gott und sein Recht auf den Menschen und die Gesellschaft debattiert? Was ist sie anders als die Ausweitung jenes Prozesses von Jerusalem, der mitten im umfangreichen Aktenbündel des Gerichtes steht, das aus den Dokumenten des Alten und des Neuen Testamentes gebildet wird, auf alle menschlichen Geschlechter? Diese Dokumente enthalten die Zeugenaussagen. Jetzt handelt es sich darum, ihre Zuverlässigkeit und ihren Zusammenhang mit den Fakten zu bewerten. Der wesentliche Gegenstand der Prozeßdebatte ist die Rechtfertigung Jesu und die Rechtfertigung der Gläubigen, die für ihn zeugen und die die Ankunft seiner Gerechtigkeit predigen. Die schwere und verwirrende Frage, die einem beim Urteil ungewiß und unschlüssig sein läßt, ist, daß eine beeindruk-.
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kende Wolke von Tatsachen dieser Gerechtigkeit zu widersprechen scheint, daß es keine nach menschlichen Kriterien zu verifizierende Gerechtigkeit ist und daß sie unfähig zu solchen Verwirklichungen ist, die beeindrucken und überzeugen. Sie ist also im Urteil der Welt unglaubwürdig und nach ihren Wertungen nicht nutzbringend. Aus diesem Grunde hat sie sich durch den Verschleiß der Jahrhunderte entwertet. Und heute erleben wir vielleicht den Prozeßtermin, an dem die Spannung schärfer geworden ist und die Belastungszeugen zahlreicher geworden sind, bei denen sich die Enttäuschung, Wut und das Mißtrauen ganzer Geschlechter aufgehäuft haben. Die Entlastungszeugen sind wenige, voller Komplexe und ärmlich, ohne Glaubensgewißheit und unfähig zu einem offenen Zeugnis. Ihre evangelischen Aussagen - einschließlich derer, die wir uns hier bemühen zu formulieren - kommen so ungeschickt und verlegen aus ihrem Mund und ihren Federn, daß man entweder an ihrer Begründetheit oder ihrer Aufrichtigkeit zweifeln muß. Auch wenn sie authentisch und wahrheitsliebend sind, werden sie verdreht und zu einer anderen Sache in dem Augenblick, in dem sie in der gegenwärtigen, kulturellen Atmosphäre geäußert werden: wir leiden an einer theologischen, nicht nur an einer atmosphärischen Umweltverschmutzung. Der Angeklagte und seine Mitangeklagten werden isoliert und argwöhnisch betrachtet. Die angestellten Nachforschungen und die gehörten Zeugenaussagen, alle Umstände und Beweise sprechen gegen sie: es scheint nichts anderes übrigzubleiben, als sie als unzeitgemäß und von der Kulturentwicklung überwunden zu betrachten, und sie zum endgültigen Ausschluß aus der Vereinigung der Menschen zu verurteilen, die für die Regelung der heutigen Gesellschaft und für den Aufbau der von morgen nützlich sind. Dennoch haben sie den Auftrag, fest und ruhig in ihrem Zeugnis zu beharren, um die Tatsachen wieder aufzurichten und um das, was die Wahrheit ist, aufzuhellen. Wer hat recht: Gott, der seinen Christus gesandt hat, um der Weg, die Wahrheit und das Leben der Welt zu sein, oder die Welt, die ihn ausschließt und verurteilt? Wo ist die Gerechtigkeit und wo die Ungerechtigkeit? Wo ist die Wahrheit und wo die Lüge? Ist der Angeklagte schuldig, die Menschen aller Geschlechter betrogen und getäuscht zu haben, oder ist er der einzige Gerechte und Währe? Beim feierlichen Rechtsstreit dieses Gerichtshofes, dessen Hallen kosmische Dimensionen und dessen Sitzungen Jahrhunderte dauern, handelt es sich darum zu sehen, wer gerechtfertigt und siegreich aus dem Gericht herausgehen wird. Das eigene Zeugnis abzulegen, um Gott und seine Gerechtigkeit zu rechtfertigen, bedeutet folgerichtig, sich zu weigern, andere religiöse, theologische, kirchliche, rassistische, klassistische, soziale und politische Gerechtigkeiten zu rechtfertigen. Die Entscheidung, an die Gerechtigkeit Gottes zu glauben, ist gleichbedeutend damit, gegenüber den geschichtli-
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chen Gerechtigkeiten ungläubig zu werden. Muß man jetzt den Einflüsterungen, die man uns vorträgt, zuhören und eine Ausnahme für die marxistische Gerechtigkeit machen? Behält die soziologische Theorie, die alle Privilegien angreift, vielleicht als einziges Privileg für sich selbst die Behauptung zurück, daß sie der Rechtfertigung nicht bedarf, weil sie das Monopol in der Sache der Gerechtigkeit innehat? Zwischen dem Evangelium Christi und den Evangelien der Geschichte gab es immer Gegensätze: kann es da zwischen dem Evangelium Christi und dem Evangelium des Proletariats ein Bündnis geben? In der Vergangenheit wurden schon andere Bündnisse geschlossen und andere rechtfertigende Urteile gefällt. Auch in der kurzen Spanne unserer Generation wurden uns Synthesen mit verschiedenen anderen Gerechtigkeiten angeboten. Gegenüber der aufklärerischen und liberalen Gerechtigkeit, die sich schon gut in ihrem Kulturbewußsein festgesetzt hat, waren die protestantischen Christen vor fünfzig Jahren überzeugt, daß einige ihrer Motive die laizistische Lesart bestimmter evangelischer Motive darstellten: zum Beispiel das Motiv des Gewissens, der persönlichen Verantwortung, des mündigen Menschen, der zu eigenen, freien Meinungen fähig ist, der nicht äußeren, zwingenden Autoritäten unterworfen ist, der freien Prüfung der Ideen und Tatsachen, der wohlwollenden Toleranz, die die Beweggründe des Nächsten versteht und zum Zusammenleben in Demokratie und achtungsvoller Harmonie befähigt, sowie des Unternehmungsgeistes, der mit der notwendigen Dynamik begabt ist, um die Wunder jenes wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritts zu erzeugen, der das Niveau der Menschlichkeit heben sollte. So dachten sie, auch das Christentum wäre, alles zusammengenommen, eine Religion des Geistes und nicht der Autorität, und böte keine wesentlichen Unterschiede zur Religion der Freiheit1 • Und schließlich haben sie die aufklärerische und liberale Gerechtigkeit gerechtgesprochen: sie haben sich als Christen bekannt und Liberale genannt. Heute beurteilen gläubige Marxisten diese Rechtfertigung der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft als eine schändliche Untreue und eine Verkehrung, von der man sich befreien muß. Um diese Befreiung zu bewerkstelligen, schließt man ein neues Bündnis und verordnet schon im voraus die Rechtfertigung der sozialistischen Gesellschaft von morgen, indem man die Sache des Proletariats vorbehaltlos umarmt, praktisch jedoch die Sache der Parteien, die es organisieren und repräsentieren, wobei man das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes schon jetzt, ohne 1 Wir spielen offenkundig auf Motive an, die die berühmten Werke inspirieren von A. Sabatier, Les religions d'autorite et la religion de I'esprit, Paris 1903, 1956" und von B. Croce, Storia d'Europa nel secolo decimonono, Bari 19323 (das Anfangskapitel trägt die Überschrift: Die Religion der Freiheit) und die Untersuchung: Perche non possiamo non dirci "cristiani", Bari 1943.
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dazu gezwungen zu sein, einem Prozeß der völligen Politisierung unterwirft. Muß das Volk Gottes immer zwischen dem Bündnis mit Ägypten und dem Bündnis mit Assyrien schwanken, ohne zu lernen, daß sowohl Ägypten als auch Assyrien Stützen aus zerbrochenem Rohr sind, und daß der Ewige sein einziger Verbündeter ist, der einzige, der es rettet und rechtfertigt? Wir meinen gewiß nicht, daß es sich darum handelt, alle geschichtlichen Gerechtigkeiten in einem einzigen, negativen Urteil einander anzugleichen, als ob sie alle gleich wären, sondern eher darum, ihnen gegenüber nicht fanatisch überschwenglich, sondern nüchtern mit einer kritischen und oft polemischen Haltung in der wohl erwogenen Überzeugung zu reagieren, daß keine von ihnen unanfechtbar ist. Sie sind alle wegen der einen oder anderen Wendung dem Urteil des Evangeliums unterworfen. Wenn ein religiöses Gefühl, eine Kirche, eine Theologie, ein System, eine Rasse, eine Klasse, eine Gesellschaftstheorie oder politische Lehre den Anspruch erhebt, einen absoluten und endgültigen Wert zu besitzen, der fähig ist, die Probleme des Menschen in der Geschichte zu lösen, kann der Glaube, der die Gerechtigkeit Gottes erkannt und geglaubt hat, nur noch protestieren, indem er die Täuschung oder den Betrug anzeigt und weiter darauf hinweise. Gott zu rechtfertigen, bedeutet zu entdecken, daß der Grund und der Sinn der Existenz in all ihren Aspekten in Gott und nicht in den Werten des Lebens und der Gesellschaft besteht. Es bedeutet, zu verstehen, daß im Wort des Evangeliums die höchste Weisheit enthalten ist, die uns befähigt, die verschiedenen Systeme, die in der Geschichte aufeinanderfolgen, kritisch zu betrachten und paradoxe Kriterien zu kennzeichnen, um die Probleme aufzugreifen, die den Menschen bewegen. Wie Luther richtig sagte: "Aber dann wird Gott in seinen Worten gerechtfertigt, wenn sein Wort von uns als gerecht und wahrhaftig anerkannt und angenommen wird.Das geschieht durch den Glauben an sein Wort. Dann aber wird er in seinen Worten gerichtet, wenn sein Wort für falsch und lügnerisch gehalten wird. Das geschieht durch den Unglauben .... Gerechtfertigt also wird er bei denen, die gedemütigt ihren Eigensinn aufgeben und ihm glauben .... So ist auch die Rechtfertigung Gottes in seinen Worten vielmehr unsere eigene Rechtfertigung. "3 Wenn das Evangelium in der Art des Denkens und HandeIns eines Menschen seine Herrschaft aufrichtet, wird für ihn seine Lebensperspektive umgestürzt. Er ist ein Mensch, der davon befreit wurde, Gott aus gewinnsüchtigen Motiven zu suchen und ihm zu fluchen, wenn er nicht seinen persönlichen Wünschen antwortet und weder für sein Privatleben noch für das Leben der Gesellschaft seine Gerechtigkeit aufrichtet. Gewiß 2
P. Tillich, a.a.O., 163.
3
WA 56,212-213 (MAE 2,82-83).
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fragt er sich: "Warum sind von dem Allmächtigen nicht Zeiten vorbehalten, in denen er Gerechtigkeit schafft, und warum sehen die, die ihn kennen, seine Tage nicht?" (Hi 24,1) Aber er glaubt nicht an Gott, weil Gott Gerechtigkeit schafft, und er weigert sich nicht zu glauben, weil Gott die Ungerechtigkeit erträgt und sich nicht um jene soziale "Schande" zu kümmern scheint, die Hiob schon mit einem Vorsprung von 25 Jahrhunderten vor den Marxisten angezeigt hat (Hi 24,12). Für ihn ist Gott nicht "der, dessen man sich bedient, damit es zu etwas nützt"\ weil man in ihm einen nützlichen und vorteilhaften Gott gefunden hat, bei dem man auf seine Rechnung kommt. Er fordert nicht von Gott, seine Existenz mit sichtbaren und überzeugenden Beweisen seiner göttlichen Wirksamkeit zu rechtfertigen, seine Nützlichkeit, seine Macht, seine Fähigkeit zur Lösung der persönlichen, sozialen und politischen Probleme zu beweisen, die ihm am Herzen liegen, indem er ihn mit der Drohung erpreßt, ihn zu verleugnen, wenn er ihm ein Schnippchen schlägt. Auch wenn ihm die Genossen seines geschichtlichen Abenteuers in höchsten Tönen gesagt haben, Gott sei geistig überflüssig, gefühlsmäßig nutzlos und sittlich unerträglichS , ist mit ihm etwas geschehen, weswegen sein Leben ohne Gott seine Grenze und sein Ende gefunden hat. Denn Gott hat ihn mit seinem Wort erreicht und ergriffen, und er hat verstanden, daß er ihn nicht mehr loslassen wird. Der Glaube hat ihn von der Sünde befreit, die der Ursprung und Mutterboden aller Sünden ist, dem Unglauben, der das Wort nicht ernst nimmt, das Gott sagt: jeden Morgen zeigt er ihm den Weg, nach dem der Gerechte aus Glauben, aus jedem Wort, lebt, das aus dem Munde Gottes kommt. Sein Leben des Glaubens ist eine beständige Rechtfertigung Gottes, in jeder Weise kummervoll, und dennoch voll ungeheuren Vertrauens, verwirrt und geplagt mit jeder Art von Problemen und Ratlosigkeiten, und dennoch heiter durch eine geheime Fröhlichkeit, die alle Vernunft übersteigt (2. Kor 4,8; Phil4,7). Gott zu rechtfertigen und an Gott zu glauben, ist die gleiche Sache6 • Das sofa tide steht nicht im Dienst der Rechtfertigung des Gläubigen, sondern der Rechtfertigung Gottes, der den Menschen gerufen und ihm die Gabe des Glaubens so geschenkt hat, daß er ihn erkennen und als den einzigen Herrn bekennen kann, indem er jeder anderen Herrschaft abschwört; daß er ihn als den einzigen Lehrer bekennen kann, indem er jedem anderen Lehramt abschwört; daß er ihn als den einzigen Heiland bekennen kann, indem er jedem anderen Heil abschwört. Dies gilt überall auf der religiösen Ebene wie auf der Ebene philosophischer Schulabhängigkeit und politischer Gefolgschaft. Aus der Rechtfertigung Gottes erheR. de Pury, Job ou l'homme revolte, Genf 1955, 36. J. A. T. Robinson, The New Reformation? London 1965. 6 M. Luther, WA 56, 226: "Denn Gott rechtfertigen und glaubend ihm trauen, ist ein und dasselbe." (MAE 2, 96). 4
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ben sich Menschen, die nicht mehr auf das Interesse an einer Karriere als Weltmenschen, noch auf das geistliche und religiöse Interesse von Kirchenleuten ausgerichtet sind, also Menschen, die ihr Leben gewinnen, indem sie es verlieren, die nach einem drastischen Ausdruck Luthers von sich selbst entleere und zum Dienst berufen und gesandt werden. Es handelt sich also nicht sosehr darum, den Ton von den Werken, auf denen er nach der katholischen These liegt, auf den Glauben allein, auf dem er nach der lutherischen These liegt, sondern auf Gott, auf Gott allein, zu verlagern, der ausschließlich im Mittelpunkt stehtB. Er schafft im Leben konkreter Menschen der Verwirklichung des 1. Gebotes Raum\ der sie ohne Götzenverehrung und Utopien, gleichzeitig ohne Enttäuschungen und Frustrationen der Verwirklichung des 2. Gebotes öffnet. Es geht um das Abenteuer, Menschen zu sein, die von den Begriffsmustern des Jahrhunderts unabhängig sind, die sich nicht an den Rand des Lebens, an eine kirchliche Peripherie zurückziehen und nicht auf die Trägheit der Neutralität und des Nichteingreifens zurückweichen, sondern die sich bei der Erfindung - die kummervoll und selten zu verwirklichen ist - von Anzeichen und christlichen Fermenten einsetzen, die nicht dazu dienen, . die beherrschenden Motive der Zeit und der Umwelt ins Schlepptau zu nehmen, sondern die eine Ursprünglichkeit haben, die Erstaunen zu erregen vermag. Sie werden vom Glauben an die Gerechtigkeit Gottes gedrängt, die gegenwärtige Ungerechtigkeit nicht zu dulden und Formen der Gerechtigkeit zu suchen, die die evangelische Weisheit und Freiheit haben, nicht Vorschläge menschlicher Gerechtigkeit nachzuzeichnen, die fatalerweise dazu bestimmt sind, sich in neue Unterdrückungen des Menschen aufzulösen. Sie werden Ausdrucksformen einer fröhlicheren und volleren Menschlichkeit versuchen, ohne andrerseits perfektionistischen Illusionen zu folgen. Man hat bemerkt: "Die theozentrische Linie der Rechtfertigungslehre hat dennoch in der evangelischen Theologie nicht die maßgebende Bedeutung erlangt, die ihr zukommt. "10 Man kann unmöglich voraussehen, ob die Gläubigen unserer Generation diese Linie erahnen können. Alles führt M. Luther, WA 2, 564: "Wer an Christus glaubt, wird von sich selbst entleert." K. Barth, Reformierte Lehre, ihr Wesen und Aufgabe, in Das Wort Gottes und die Theologie, München (1924) 1929,200-207. Vgl. H. Asrnussen, Sola fide - das ist lutherisch, Bd. 1 u. 2, ThExh 49-50, München 1937; W. Dantine, Die christologische Fundierung des Sola Fide, in C. H. Ratschow (Hg.), Der christliche Glaube und die Religionen, Berlin 1967, 28. 9 P. Althaus, Gottes Gottheit als Sinn der Rechtfertigungslehre Luthers, in Luther und die Rechtfertigung, Darmstadt 1971, 9. 10 P. Althaus, a.a.O., 29. Vgl. W. Andersen, Das trinitarische Verständnis der Christusoffenbarung, ein Beitrag zur evangelischen Interpretation der Rechtfertigung, Festgabe für A. Köberle, Die Leibhaftigkeit des Wortes, Harnburg 1958, 180; ders., Das theologische Gespräch über die Rechtfertigung in Helsinki, in E. Wilkens (Hg.), a.a.O., 42. 7
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zu entgegengesetzten und beunruhigenden Vorhersagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird unsere Generation keine zweite Zeit des Überflusses an Gottes Wort kennenlernen, und es kann sein, daß verschiedene Generationen mit einem Mangel am Worte Gottes werden leben müssen. Und dennoch darf apriori keine völlig unvorhersehbare Reaktion ausgeschlossen werden. Sie kann unvorbereitet wie ein kräftiger Nordwind auftauchen, der alle Wolken wegfegt und die Sonne nach tagelangem Nebel und Regen in einer reinen und klaren Luft glänzen läßt: die menschliche Geschichte wird nie nur von Menschen gemacht. Man darf jedenfalls entschieden behaupten, daß die Authentizität des Amtes der Christen in unserer Zeit im Blick auf das Heil der Welt von ihrer Fähigkeit abhängt, den Primat der Rechtfertigung Gottes gegenüber der Rechtfertigung des Menschen und gegenüber der Rechtfertigung der Gesellschaft festzuhalten l l . Die Aufgabe unserer und vielleicht der nächsten christlichen Generation ist vielleicht die Wiederentdeckung der Beziehung zwischen diesen beiden Gerechtigkeiten. Vorläufig durchleben wir eine kritische und unruhige Übergangszeit, die durch Revision und Forschung gekennzeichnet ist. Kein aktuelles christliches Gewissen ist in der Lage, Lösungsmuster zu liefern, die über genügend Autorität und evangelische Konkretheit verfügen. 11 In seinem glänzenden Vortrag auf dem Kongreß Christen für den Sozialismus in Bologna vorn 21. bis zum 23. September 1973, veröffentlicht in Nuovi Tempi vorn 30. September 1973, der eine erstaunliche Fähigkeit zeigt, die christliche Problematik in marxistische Muster zu zwingen, hat G. Girardi behauptet, für eine ganze Epoche habe sich der Primat des Geistlichen über das Zeitliche "sehr oft, objektiv und unbewußt" in "eine Verteidigung der herrschenden Klasse" verwandelt. Heute stünden wir dagegen vor der geschichtlichen Notwendigkeit, den Primat des Zeitlichen über das Geistliche zu behaupten, das heißt, den grundlegenden Einfluß der profanen, materiellen oder auch wirtschaftlichen Faktoren bei der Interpretation der Geschichte anzuerkennen. "Es ist leicht, die unberechenbaren Folgen dieses Prinzips einzusehen. Es bietet den Schlüssel für eine neue Lektüre der Bibel unter dem Gesichtspunkt der Armen und der Klassen, die ihnen im sozialen Kampf Ausdruck verleihen. Es steht am Anfang einer ganz neuen theologischen Richtung und eröffnet den Christen ein ungeheures Forschungsgebiet, das die Aufgabe einer Epoche sein wird." Wenn man geistlich und zeitlich im Sinne des Dualismus der griechischen Anthropologie versteht, die in den christlichen Umkreis eingedrungen ist (die Vermischung der Motive ist Jahrhunderte alt!), sprächen wir nicht vorn Primat eines Elementes über das andere, sondern eher von Gleichwertigkeit, von der Notwendigkeit, ihre Beziehung wieder ins Gleichgewicht zu bringen sowie dem einen und dem anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn das Geistliche eine Umschreibung für Gott ist und das Zeitliche für den Menschen in all seinen geistigen, physiologischen und wirschaftlichen Bestandteilen, kann man diese Verkehrung des Kriteriums nicht als christlich akzeptieren, auch wenn es eine christliche Notwendigkeit gibt, in der Geschichte dringend die Verunreinigungen zu verdeutlichen, die es in der Vergangenheit erlitten hat, und die es noch in der gegenwärtigen christlichen Praxis sowohl in ihren konservativen als auch in ihren revolutionären Tendenzen erleidet. Diese Unterscheidung nicht beizubehalten bedeutet, das Evangelium unter fremde Voraussetzungen und Kriterien zu versklaven.
Namenregister Abraham 28, 35, 156 Adam 80, 153 Adam, A. 53, 85 120, 131, 236 AJand,K.39, 74, 78,264 AJeith, E. 45 Alexander von Hales 55 Alfaro, J. 236, 283 AJthaus, P. 102, 121, 131, 143, 147, 155, 158, 162, 169-70, 175, 188-9, 192-4, 206,221,254,266-8,274,296 Alves, R. A. 283 Ambrosiaster 131 Ambrosius, A. 49, 121 Andersen, W. 296 Andreä, J. V. 277 Antoni, C. 269 Apollos 127 Aristoteles 57, 172-3 Arminius, J. 263 Arndt, J. 263-4 Asendorf, u. 102, 163, 165, 201 Asheim, I. 133, 186, 205, 244, 250 Asmussen, H. 155,296 Athanasius 213 Auer, J. 58 Augustin,A.45,49-55,80,90-1,111,121, 127, 131, 135-6, 284 Aulen, G. 48 Bainton, R. H. 256-8 Baird, J. A. 22 Bajus, M. 89-90 Balmas, E. 69 Bandt, H. 148 Barabbas 255, 282 Barr, J. 28 Barth, H. 53 Barth, K. 17, 28, 37, 53-4, 75, 80, 85-7, 89-90, 92-3, 102, 105, 138, 143, 145, 150, 160, 163, 166, 168, 187, 203-4, 206,213,218-20,225,231,236-7,263, 274,296 Barth,M.17,28,237 Barth,P.209 Bartmann, B. 80 Bartolomei, T. M. 92 Bauke, H. 210 Bauman,C.246-7,249,255
Bäumer, R. 161 Baur, F. C. 37, 40, 43 Baur,J.195,265,268,275 Bavaud, G. 213 Bayer, O. 114 Beachy, A. J. 244 Beintker, H. 126, 168, 175 Beißer, F. 193 Bellucci, D. 104 Bender, H. S. 242, 245-6 Benedikt von Nursia 55 Benoit, A. 47 Benoit, J.-D. 209 Benz, E. 258 Berger, H. 234 Bergmann, C. 242 Bergsten, T. 243 Berkouwer, G. C. 236 Bertalot, R. 160 Bethge, E. 280 Beyreuther, E. 275, 277 Beza, Th. 261 Bieler, A. 234-5 Bisch, R. 242 Bizer, E. 111-2, 149 Blaser, K. 283-5 Bockelson, J. 252, 254 Bogdahn, M. 61, 104 Bohlin, T. 50 Boisset, J. 212, 214, 222 Bonaventura, J. F. 55 Bonhoeffer, D. 141, 214, 280 Bonhoeffer, Th. 60 Bonifaz VIII. 82 Bonnard, P. 13, 15 Bora, K. von 279 Borchert, H. H. 81 Borghi, L. 258 Bornkamm, H. 102, 112, 115, 153, 193, 260 Bosio, D. 151 Bossuet, J. B. 69-70, 73 Bouillard, H. 58, 236 Bousset, W. 10, 11 Bouyer, L. 61 Boyer, Ch. 213 Braun, H. 15 Bra,un, W. 121 Brecht, M. 109
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Namenregister
Bring, R. 201, 206 Brosche, F. 151 Brunner, E. 102,206 Brunner,P. 75, 80,88,212,218 Buber, M. 285 Bugenhagen, J. 99 Bultmann, R. 12-5, 17-8, 21-3, 28-30, 37, 42,44,57,105,179,262-3 Buonruuti,E.55,131 Burchard, Chr. 43 Burckhardt, J. 181 Bure, 1. de 244 Buri,F.168 Burnier, E. 28 Byskov, M. 136 Cadier, J. 216, 275 Calvin, J. 36-9, 68, 90, 98-9, 209-36, 244-5,252,262,288 Campi, E. 254 Camus, A. 281-2 Cannon, W. R. 272 Cantimori, D. 243 Caponetto, S. 261 Caracciolo, G. 215, 262 Carile, S. 272 Carnesecchi, P. 261 Castaniza, J. de 271 Cbene,J.50 Cheneviere, M. E. 232 Christian, G. 198 Coache, 1. 286 Cochläus, J. 74, Ul CoIIetti, 1. 220 Comba, Ern. 66 Comba, Ern. 69-70, 151 Congar, Y. M. J. 48, 92 Conzelmann, H. 11, 13, 26, 98 Cornehl, P. 283 Corsani, B. 44 Cremer, H. 14 Croce, B. 262, 293 Cullmann, O. 24, 29, 104, 202 Curnock, N. 270 Cyprian,T. C. 45,47-8 Damasus 1. 131 Daniel von Valence 68 Danielou, J. 36 Dantine, W. 14, 31, 34, 83, 107, 154, 236-7,275,281,296 Davies, W. D. 11
Davis, K. R. 256-7 Deißmann, A. 11 Demmer, D. 112 Denck, H. 241-2, 246, 251 Denifle, H., O. P. 120 Denis, A. M. 31 Denzinger, H. 54, 74-7, 79-88, 90, 92, 94, 98, 177 Diaz, J. A. 25 Dibelius, M. 12, 38-9, 41 Diem, Har. 193 Diem, Her. 14, 28, 40, 90, 107, 193, 236 Dilthey, W. 259 Dionysios Areopagita 55-6 Dobschütz, E. von 12 Dodd, C. H. 36 Dombois, H. 276 Dorningo de S.ta Teresa, O. C. D. 261 Dondrune, A. 62 Dress, W. 133 Duchrow, U. 193, 198-9 Duns Scotus, J. 55 Durandus von Osca 63-4 Eastwood, G. 178 Ebeling, G. 17, 96, 108, 174, 186, 193, 262-3 Eckehart 133 Eckert, J. 40 Eichholz, G. 12, 25, 37-9 Eiert, W. 104, 133, 163, 184, 186 Elia 234 EIliger, W. 252 EIlwein, E. 171 Emanuele Filiberto von Savoyen 68 Engels, F. 168, 194 Erasmus, D. von Rotterdam 55, 81, 106, 115-7, 131, 134, 136, 151-2, 198, 256, 258-61 Erichson, A. 210 Eusebios von Cäsarea 222 Eva 95 Evans, R. F. 50 Fabricius, C. 271-2 Fagerberg, H. 123 Fahlbusch, E. 98 Fast, H. 256 Feckes, C. 92 Feine, P. 15 FeIlmann, W. 242 Ferguson, J. 49
Namenregister F~uerbach, 1. 91, 105, 160, 283 FIcker, J. 122-4 136 139 142-4 Figliucci, A. 74 ' , , Flückiger, F. 11 Forck, G. 205 Fraenkel, P. 210 Francke, A. H. 277 Franz I. 234 Franz, G. 194, 241, 244 Franz von Assisi 60, 66, 82 Franz von Sales 271 Frei, W. 55 Freschi, R. 213 Freud, S. 291 Friedmann,R. 242-3, 245,247 Friedrich,J.12 Frieling, R. 98, 285 Froben, J. 257 Fuchs, E. 17-8,263-4
Gangale, G. 275 Gastaldi, U. 239, 241, 243, 245, 247-8, 252,254,256 Gaugier, E. 12 Gerber, U. 97 Gerson, J. 132 Gessert, R. A 236 Gherardini, B. 145 Gierke, O. von 181 Girardi, G. 173, 297 Glaser, K. 281 Gloege, G. 108-9, 128, 281 Gogarten, F. 108 Göhler, A 213 Gollwitzer, H. 204, 236, 276 Gonnet, G. 62-3, 68, 72 Goppelt,1. 12-3, 29, 37, 195, 275 Grässer, E. 17,276 Grebel, K. 255 Greeven, H. 38 Greschat, M. 160, 268 Gritsch, E. W. 253 Grosche, R. 92 Grote, H. 98 Grundmann, W. 12,15, 102, 111, 131,148 Grützmacher, R. H. 269 Gutierrez, G. 283 Guzzo, A. 50 Gyllenkrok, R. 111 Hacker, P. 106
301
Haenchen, E. 43 Hägglund, B. 61, 133 Hakamies, A 193 Hall, Ch. A. M. 231 Hamei, A 112 Harbsmeier, G. 43-4, 47 Harnack, A. von 77-8,89,259 Hauck, W. A 214 Heckei, J. 193 Hege, Ch. 242 Hegel, G. W. F. 283 Heggelbacher, O. 20 Heidegger, M. 57 Heim, K. 274 Heitmüller, W. 11 Hennig, G. 111 Hermann,R. 108, 126, 136, 171,281 Henninjard, A-1. 234 Herzog, F. 283 Heyer, F. 272 Hieronymus 121 Hild, G. 98 Hillerdal, G. 193, 195 Hinrichs, C. 201 Hiob 295 Hirsch, E. 265 Hitler, A. 113 Hofer, H. 12 Hoffmann, B. R. 133 Hoffmann, H. 193 Hoffmann, M. 243 Holl, K. 111, 121, 188, 265, 281 Holtzmann, H. J. 79 Hommel, H. 131 Honecker, M. 186-7, 193, 203 Hoogland, P. M. 224 Hoppe, R. 39 Horaz,270 Hornus, J. M. 55 Hossbach, W. 265 Huber, W. 193 Hubmaier, B. 241, 243 Hübner, H. 131 Huizinga, J. 258 Hut, H. 247 Hyppolit von Rom 45 Innozenz 111. 63 Irenäus von Lyon 45, 51 Iserloh, E. 133 Iwand, H. J. 101, 106, 108, 123, 128, 138, 140
302
Namenregister
Jacobs, P. 224 Jäger, L. 75, 95 Jakob, G. 199 Jakobus 35-42, 62-3, 74, 170, 243, 251, 289 Jalla, G. 65 Janni, U. 69, 151 Jansen, C. 89, 90 Jansen, J. T. 222 Jedin, H. 72 Jenny, B. 243, 247 Jeremia 129 Jeremias, J. 9, 15, 19, 24-6 Jesaja 271 Joest, VV.49,54,61, 73, 75,84-5,102, 137, 163,250 Johann von Moline 68 Johannes XXIII. 74 Johannes, Evangelist 20, 27-30, 76, 81, 110, 130, 132, 144, 151, 154, 228, 234, 240,244,249 Johannes, der Täufer 28, 178 Jonas, H. 50 Jung, H. G. 205 Jüngel, E. 17, 21-4, 147 Junghans, H. 61 Kaftan, A. 133 Kantzenbach, F. VV. 275 KarllII. von Savoyen 65 Karpp, H. 76 Karrenberg, F. 184 Käsemann, E. 12-8,22,24, 41, 48-9, 107, 131 Kasten, H. 60 Kelly, J. N. D. 48 Kempff, D. 210 Kertelge, K. 19 Kierkegaard, S. 214 Kinder, E. 213-4,236,266 Kiss, J. 202 Kissak, R. 272 Kittel, G. 38 Klappert, B. 237 Klein, G. 15, 16 Klemens von Alexandria 45 Klempt, A. 160 Klopfenstein, F. 275 Köberle, A. 296 Kobialka, M. 162 Koch, H. G. 182 Koepp, VV. 264
Köhler, vv. 74, 259 Kohls, E. VV. 106, 117,258-60 Kolfhaus, VV. 212, 236 Köster, H. M. 92 Krahn, C. 243 Kraus, H. J. 31 Kreck, VV. 106, 138-9, 143,276 Kremer, K. 56 Kretschmar, G. 195,275 Kröger,M. 111, 113 Krusche, VV. 224, 226-8 Kümmel, vv. G. 12, 14-5, 37 Küng, H. 9, 14, 19, 73, 75, 80, 87, 89, 90, 97,104,168,236 Künneth, vv. 195 Kunst, H. 194, 198, 254 Küppers, J. 184 Lackmann, M. 40 Lampe, G. 19 Landgraf, A. M. 63 Landshut, S. 182 Larriba, J. 213 Lau,F. 136, 193,205,264 Lazareth, VV. H. 186 Leenhardt, Fr. J. 48 Le Guillou, M. J. 105 Lelievre, Ch. 210 Lell,J. 98, 193 Leo IX. 63 Leo X. 78, 81, 84 Leo XIII. 92 Lerch, D. 272 Leuba, J. L. 91 Lienhard, M. 107, 112, 193, 248 Lindström, H. 272 Link, VV. 133, 136 Lippold, M. 114, 236, 263 LittelI, F. H. 245 Lochmann, J. M. 205 Lods, M. 48 Loewenich, VV. von 28, 110, 133, 145, 148-50,164,202,249,250 Lohff, vv. 161, 202, 262-3, 281 Lohmeyer, E. 11 Lohse, B. 112,121,195,253 Lohse, E. 19, 38 Lönning, I. 14 Loofs, F. 36, 45, 48, 50-3, 259 Lorenz, R. 49 Lortz, J. 61, 106 Lortzing, J. 104
Namenregister Löscher, V. E. 269 Ludolphy, 1.193 Lührmann, D. 12 Lukas20,23,25-6, 72, 87, 167, 178,234 Luther, M. 11, 36, 61, 65, 69, 78, 80-1, 84, 99, 101-2, 106, 108-56, 158-9, 161-72, 174-5, 177-81, 183-207, 210, 213-4, 217,219-20,240-1,243-4,246-8,250, 252-4, 258, 260-2, 271, 279, 281, 287-8,294-6 Lüttge, W. 212 Luz, U. 12 Machiavelli, N. 194 Manselli, R. 62, 66 Marcel, P. 214 Marcion 36, 45 Maria 82, 91-7 Maritain, J. 286 Markus 20, 25 Maron, G. 79, 82, 84, 92-5, 253, 281 Marpeck, P. 241 Marty, J. 37 Marx,K.172-3,182,220,252,283-4,291 Marxsen, W. 37, 38 Massebieau, L. 37 Matthäus 20, 24-5, 43, 66, 76, 81, 124, 247, 255,282-3 Matthes, K. 181, 199 Matthys, J. 252 Mau, R. 139 Mehl,R.183-4,236,276 Melanchthon, Ph. 98, 105, 123, 138, 160, 186 Menoud, Ph. M. 24, 28 Merz, G. 81 Mesters, C. 283 Metzger, W. 280 Meyer, H. 98, 161 Meylan, H. 261 Michaelis, Wal. 274 Michaelis, Wil. 11 Michel, O. 29 Miegge, G. 60, 64, 69, 91, 109, 112-3, 121, 134,139,142,154,162,236,261 Miolo, G. 69 Mirbt, C. 74, 78 Modalsli, O. 206--7 Möhler, J. A. 284 Molina, L. 89 Molnar, A. 62, 66--8, 202 Moltmann, J. 172-4, 186, 283
303
Mondin, B. 157 Moraldi, L. 15 Morel, G. 67-9 Mose 43, 49, 119, 250 Mühlen, H. 91 Mühlen, K. H. zur 133-4 Mülhaupt, E. 205, 253 Müller, A. V. 132 Müller, Ch. 17-8 Müller, G. 55, 193, 204, 258, 265, 281, 284 Müller, L. 247 Müller, U. B. 42 Munck, J. 41 Mundle, W. 12, 102 Müntzer, Th. 194, 241, 252-5 Muras, G. G. 269 Muratori, L. A. 40 Neander, A. 274 Necco, G. 264-5 Neumann, G. J. 244 Neuser, W. H. 214 Niederwimmer, K. 17 Niesel, W. 70, 209-10, 212-6, 225, 233, 235 Nietzsche, Fr. 113, 291 Nigg, W. 162-3 Nilsson, K. O. 138, 154, 199 Nowak, K. 194 Nulli, S. A. 258 Nygren, A. 51, 55-8, 131, 136, 196--7, 201 Oberman, H. A. 73, 133, 193, 232 Ockham, Wilhelm von 61 Ohlig, R. 205 Ökolampad, J. 69, 242 Olsson, H. 186 Onimus, J. 282 Oosterbaan, J. A. 242 Origenes 121, 255 Ostergaard-Nielsen, H. 111 Ott, L. 80, 85 Oudenrijn, F. van de 173 Packer, P. I. 212 Pallavicino, P. S.73 Pannenberg, W. 193 Pannier, H. 210 Pascal, B. 89 Passerin d'Entreves, A. 276 Paul VI. 97 Paulus 9-24, 26--7, 30, 35-46, 48-51, 54-7, 59,60,63,66,74,81,85-6,89,90,93,
304
Namenregister
98, 103, 106-10, 114, 120-3, 126-7, 129-32, 135-7, 141, 144-5, 148, 154-5, 159, 165, 177, 186-7, 189, 201, 206, 209, 215-7, 222, 225-6, 228-9, 240-1, 245, 247, 249, 251, 257, 259, 263-4, 266-7,270,295 Peachey, P. 71 Pelagius 49, 64-5, 80, 91, 274 Pellicani, L. 173 Perrin, N. 26 Persson, P. E. 82 Pesch, O. H. 60, 87, 104 Peter von Antiochia 63 Peters, A. 75, 102, 175, 206, 280-1, 286 Petrus, 76, 95, 97, 127, 140,247 Petrus Lombardus 58 Pfeiffer, G. 115 Pfnür, V. 87, 104 Pfürtner, St. 60 Pico della Mirandola, G. 117, 259 Pilatus 156-7, 255 Pincherle, A. 131 Pinomaa, L. 111-2,144,171,179,180 Pistorius, J. 121 Pius V. 74 Platon 37 Plinval, C. de 49 Plotin 52 Plutta-Messerschmidt, E. 18 Pöhlmann, H. G. 87, 107 Pöhlmann, W. 12 Pol, W. H. van de 104 Poschmann, B. 48, 76 Preiss, Th. 28-9 Prenter, R. 112, 195 Preuß, H. 162 Prierias, Silvestro Mazzolini 78 Pury, R. de 295 Quasten, J. 48 Quervain, A. de 188 Quesnel, P. 90 Quiring, H. 133 Rad, G. von 9, 14 Ragaz, L. 203,214,236 Rahner, K. 95-6, 236 Ratschow, C. H. 154, 193, 296 Ratzinger, J. 80 Reith, L. 193 Ricca, P. 150 Rich, A. 173
Ridder, C. A. de 92 Ridderbos, H. 19 Riedemann, P. 241-2, 244 Ringeling, H. 202 Rink, M. 241 Ritschl, A. 264 Ritschl, D. 54 Ritschl, O. 149 Riviere, J. 48 Robinson, J. A. T. 295 Robinson, J. M. 21, 263 Rodocanachi, E. 261 Rogge, J. 171 Roloff, J. 21 Rondet, H. 52, 55, 73, 85 Roques, R. 55 Rösle, M. 104 Rossi, M. M. 187 Rostagno, S. 21 Rousseau, J. J. 142, 276 Rückert, H. 72, 133, 232 Sabatier, A. 293 Sadoleto, J. 209, 214, 216, 219 Samuelsson, K. 182 Santini, L. 254 Sarpi, P. 73 Sartre, J.-P. 291 Schammberger, H. 38 Scheel, O. 133 Schelkle, K. H. 45 Schellong, D. 231 Schierse, S. J., F. J. 87 Schillebeeckx, E. 96, 104 Schlatter, A. 11, 102 Schleiermacher, Fr. 274 Schlichting, W. 237 Schlink, E. 123, 162 Schlömann, M. 171, 186 Schmaus, M. 80 Schmidt, M. 264, 267-8, 275, 277 Schmithals, W. 12, 26, 41 Schmitz, O. 274 Schnacken burg, R. 19 Schniewind, J. 31 Schoeps, H. J. 11,36,38, 45 Schönmetzer, A. 54, 74-7, 79-88, 90, 92,
94, 98, 177 Schott,E. 48, 121,244 Schottenloher, O. 257-8 Schreiber, G. 72 Schrey, H. H. 195, 197
Namenregister SchülIer, B. 205 Schulz, S. 15, 36 Schulze, H. 276,282 Schumacher, O. 258 Schumann, F. K. 47 SchützeicheI, H. 212, 218 Schwarz, R. 76, 133, 184 Schwarzwäller, K. 151 Schweitzer, A. 10-1, 22-3, 31 Schweizer, E. 12, 255 Scuderi, G. 64 Seeberg, E. 133 Seeberg,R. 48, 53,59, 61, 82, 111, 133 SeIge, K.-V. 63-6 Semmelroth, O. 84 Siirala, A. 117 Simon 87 Smirin, M. M. 252 Sohm, R. 181 Soucek, J. S. 38 Speiser, R. 28 Spener, Ph. J. 264,268,277 Spitta, F. 37 Sproul, R. Ch. 212 Stadtland, T. 209,214,224, 226, 261 Stadtland-Neumann, H. 70, 232 Stählin, W. 75 Stakemeier, A. 87 Stange, C. 28, 110 Stauffer, E. 36 Stauffer, R. 61, 121, 149, 244, 248 Steck, K. G. 161, 183 Steinmetz, M. 252 Stendhal, K. 11 Stimimann, H. 91, 161 Stolzenau, K. F. 195 Storch, M. 236 Storck, H. 178 Strecker, G. 12,26, 98 Strohl, H. 109, 154 Stuhlmacher, P. 11-2, 16-8, 20, 44, 237 Stünnann, W. E. 212, 218 Subilia,V.28,45,97,219,232,264-5,277, 283 Süss, Th. 281 Tanaka, S. 252 Tauler, J. 132-3 Tawney, R. H. 182 Tertullian, Q. S. F. 36, 45, 47, 51 Tesch, P. 244 Thielicke, H. 167, 176, 193-4, 202, 232, 276
305
Thier, E. 184 Tholuck, Fr. A. G. 274 Thomas von Aquin 55-60, 92, 259 Thomas a Kempis 257 Tillich, P. 150, 154-9, 204, 214, 279-80, 288,294 Timotheus 43 Tonkin, J. 163 Tömvall, G. 193, 196 Torrance, T. F. 161-2, 236 Trebs, H. 182 Trevor-Roper, H. R. 182, 220 Trillhaas, W. 193 Troeltsch, E. 134, 180, 199, 201, 203, 25~ Tylenda, J. N. 210 Vajta, V. 103, 107,281 Valdes, A. de 261 Valdes, J. de 261 Valla,1. 55, 117 Vanneste, J. 55 Vercruysse, J. E. 145 Vielhauer, Ph. 43-4 Vinay, V. 67-70, 123, 185, 196 Vischer, 1. 161 Visser't Hooft, W. A. 204 Vogel, H. 193 Vogels, H. J. 131 Vogelsang, E. 133 Voltaire 184, 220, 259 Volz, P. 257 Vorgrimler, H. 95 Waldes, P. 62-4, 66, 69 Wallace, R. S. 236 Wallmann, J. 264 Walter, J. von 133 Walther, Ch. 202, 281 Wamack, V. 19 Warren, W. 275 Watts, M. R. 270 Weber, E. 264 Weber, H. 210 Weber, M. 182, 187, 220 Weber, O. 204, 209, 222-3, 275 WeineI, H. 15 Weiß, J. 22 Welzig, W. 198, 257 Wendel, F. 213-4, 222 Wendland, H. D. 12, 193, 197, 205, 276 Wenger, J. C. 242 Wemle, P. 10-1,31,259
306
Namenregister
Wesley, J. 269-73 Westin, G. 243 Weymar, E. 195 Widengren, G. 55 Wieser, Tb. 283 Wilckens, U. 12, 17 Wilkens, E. 108, 114, 236, 263, 280-1, 296 Williams, G. H. 133, 244 Wingren, G. 179, 186, 193, 236 Wolf, E. 102, 107-8, 111, 129, 172, 193, 204 Wolf, G. 195 Wolf, H. H. 232 Wolf, U. A. 237 Wolter, M. 12
Wood, A. K. 112 Wrede, G. 133 Wrede, W. 10-2, 31 Wünsch, G. 203, 236 Yoder, J. H. 72,243-4 Yupanqui, A. 285 Zago, M. 283 Zahrnt, H. 156, 158 Zeller, W. 258 Ziesler, J. A. 14 Zinzendorf, N. L. 271, 277 Zschäbitz, G. 194 Zwingli, H. 244