— DESIGN – EINE EINFÜHRUNG
BEAT SCHNEIDER
GESTALTUNG: JIMMY SCHMID / DANIEL CHRISTEN
— DESIGN – EINE EINFÜHRUNG ENTW...
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— DESIGN – EINE EINFÜHRUNG
BEAT SCHNEIDER
GESTALTUNG: JIMMY SCHMID / DANIEL CHRISTEN
— DESIGN – EINE EINFÜHRUNG ENTWURF IM SOZIALEN, KULTURELLEN UND WIRTSCHAFTLICHEN KONTEXT
BIRKHÄUSER – VERLAG FÜR ARCHITEKTUR BASEL • BOSTON • BERLIN
— Impressum
— Text Beat Schneider — Gestaltungskonzept Jimmy Schmid Daniel Christen, Dani Klauser Flavia Mosele, Robert Bossart — Gestaltung / Layout Christen Visuelle Gestaltung, Zug Petra Dollinger, Dani Klauser — Papier Munken Lynx, 130g/m2, Munken Print, 90g/m2 — Schriften Akkurat, Minion — Titelbild Kalendertitelblatt für Standard Elektrik Lorenz AG von Anton Stankowski, 1957 (mit freundlicher Unterstützung der Stankowski-Stiftung, Stuttgart) — Buchsponsoren
Hochschule der Künste Bern HKB
— Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2005 Birkhäuser – Verlag für Architektur, Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff ∞ Printed in Germany ISBN-13: 978-3-7643-7241-5 ISBN-10: 3-7643-7241-9 987654321 http://www.birkhauser.ch
— Inhalt
Vorwort
9
Teil I Geschichte des Designs im Kontext
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
Einleitung Industrialisierung und Beginn des Designs Industriekritik von Arts&Crafts bis zum Jugendstil Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus Avantgardekunst und Grafikdesign Design im Faschismus Styling: Design in den USA Die Goldenen Fünfziger in Europa Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung Swiss style. Der internationale typografische Stil Krise des Funktionalismus Postmodernes Design. Alchimia und Memphis Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design» Neue Einfachheit Digitale Revolution und Design
11 15 27 37 45 55 75 83 93 103 111 125 137 147 163 173 181
Teil II Design im Kontext: Debatte
17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
Einleitung Design – Begriffe Design – Corporate Identity Design – Kunst Design – Geschmack und Kitsch Design – Dritte Welt Design – Gender Design – Theorie Design – Forschung und Wissenschaft
193 195 213 221 229 237 249 257 273
Teil III Anhang A B C D E
Design Bibliografie Design Zeitschriften Design Museen Design Organisationen Personenregister
290 292 294 296 298
9 — Vorwort
Design ist zu einem Modewort geworden. Es weckt Assoziationen mit Schick, schönen Formen, ästhetischen Lebenshaltungen und zivilisatorischem Komfort. Design fasziniert – zumindest die Menschen in der wohlhabenden nördlichen Hemisphäre, aber immer mehr auch die Bewohnerinnen und Bewohner der südlichen Halbkugel. Designobjekte erobern die Herzen: Sie sind oft schön und praktisch. Manche geniessen Kultstatus. Für viele ist Design die lebendigste und auch populärste Kunst der Gegenwart. Mehr noch: Es ist ein massenkulturelles Phänomen, das die Wahrnehmung prägt und deshalb massgeblich am Zustandekommen allgemeiner Geschmacksurteile beteiligt ist: Baseballmützen, Bluejeans, Coca-Cola, Disney, Hollywood, Mac Donald's und Nike wirken weltweit nachhaltig auf den kollektiven Geschmack ein, und Microsoft liefert das digitale Design für die Mehrheit der Computerbenutzer. Design, so kann verallgemeinert werden, hat den Anspruch, die Welt zum Wohl der Menschen besser zu gestalten. Doch hinter dem Begriff verbirgt sich weit mehr als eine attraktive Objektwelt. Design gestaltet Kommunikation und schafft Identität. Es ist bewusstes Handeln zur Herstellung sinnvoller Ordnung und somit Teil unserer Kultur. Andererseits: Die schöne Gestaltung des Alltags ist vor allem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in einer Realität, in welcher der Unternehmensprofit die fast ausschliessliche Massgabe für den Erfolg des Designs darstellt. Und gehört die grosse Mehrzahl der designten Gegenstände nicht in die Kategorie überflüssig? Wirkt die flotte Gestaltung nicht wie ein Marketingtrick, mit dessen Hilfe die Welt mit albernen Angeboten überschwemmt wird, auf die niemand gewartet hat? Design gestaltet Luxusspielzeuge in einer sinnentleerten Konsumwelt. Der Wahn einer schönheitssüchtigen Gesellschaft lässt Konsumobjekte zu Fetischen werden und erzeugt einen Schönheitsschild, der die Hässlichkeit der existierenden Armut und Umweltzerstörung überblendet. Dabei werden die kulturellen Standards der industriellen Imperien wie selbstverständlich in die unterentwickelten Gesellschaften exportiert. Design wird vorwiegend von (weissen) Männern produziert, welche die Frauen primär als Konsumentinnen und Werbeträger im Blick haben. Design hat also zwei Seiten – eine negative und eine positive. Grund genug, um uns intensiv mit ihm zu beschäftigen. Die negative Seite verhindert, dass wir uns nur wohlwollend mit Designklassikern, mit der Stilentwicklung des guten und schönen Designs befassen; denn das liefe auf eine naive Verklärung und Entstellung der Realität hinaus. Gefragt ist vielmehr die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand! Und das bedeutet, das Design im Kontext und in seinen sozialen Qualitäten zu erkennen und darzustellen und den Verstand für die übergeordneten Zusammenhänge zu schärfen, in denen Design steht. Dazu dienen der Geschichtsteil und der Debattenteil in diesem Buch. Ich habe es in der Hoffnung verfasst, einen bescheidenen Beitrag gegen die ständige Kommerzialisierung des Visuellen und die Entmündigung der Konsumenten und Konsumentinnen und letztlich auch der Designer und Designerinnen zu leisten.
1. INDUSTRIALISIERUNG UND BEGINN DES DESIGNS
16 1. Industrialisierung und Beginn des Designs
— Wirtschaftliches und Soziales
Design und Industrialisierung Die industrielle Revolution des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts wälzte die materielle und geistige Landschaft Europas und Nordamerikas gründlich um. Der Siegeszug der Dampfmaschinen war nicht aufzuhalten, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feierte die Technik auf immer mehr Gebieten Triumphe. Die Folge: Industrie und Wirtschaft wuchsen immer schneller. Die industrielle Fertigung von Produktions- und Konsumgütern breitete sich aus. Die neue industrielle Produktionsweise veränderte die meisten Aspekte des Lebens grundsätzlich. Mechanisierung und Arbeitsteilung Die Industrialisierung mechanisierte viele der bis anhin handwerklichen Tätigkeiten. Mit der Mechanisierung ging eine radikale Arbeitsteilung einher, denn bei der industriellen Herstellung von Produkten fiel die handwerkliche Einheit von Entwurf und Ausführung mehr und mehr auseinander. Die Gestaltung der Gegenstände (Kopfarbeit) und ihre Fertigung (Maschinenarbeit) wurden zu getrennten Tätigkeiten. Hier, in der industriellen Arbeitsteilung, begann die moderne Entwurfstätigkeit, begann das industrielle Design. Es waren nun nicht mehr die Handwerker, welche die meisten Dinge herstellten und ihnen individuelle Formen gaben. Unternehmer liessen in ihren Manufakturen und Fabriken durch so genannte «Entwurfszeichner» oder «Mustermacher» (auch «Dessinateure» oder «Modelleure» genannt), die Produkte entwerfen, die dann maschinell hergestellt wurden. Diese Entwurfszeichner genossen ihre Ausbildung zum Teil in Zeichen- und Kunstschulen oder bezogen ihre Geschmacksurteile aus dem Umfeld von Kunstakademien. Um 1800 wurde der Entwurfszeich-
ner ein selbständiger Beruf. Bald sollten Reformbewegungen aus kunsthandwerklichen Kreisen und aus dem Bereich der angewandten Künste den Gestaltungsanspruch stellen und das «schöne» Design der Gegenstände für sich reklamieren (vgl. Kapitel 2). Wirtschaftlicher Wettbewerb und Reformen Die Industrialisierung verschärfte den wirtschaftlichen Wettstreit unter den Nationen. Der internationale Wettbewerb bekam seinen sichtbarsten Ausdruck in den im 19. Jahrhundert aufkommenden Weltausstellungen. Die erste fand 1851 in London statt (Abb. 1, 2). Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Ausstellungen nationaler Leistungsfähigkeit zu internationalen Marktplätzen. Hier mussten sich die nationalen Wirtschaften der Frage nach Eigenart, Güte und dem Typischen ihrer Produkte stellen, hier war der grösste Umschlagplatz für gestalterische Ideen, denn bei den Weltausstellungen war jeweils die nationale EntwerferElite vertreten.1 In den einzelnen Ländern führte der verschärfte internationale, aber auch der binnenwirtschaftlich nationale Wettbewerb zu Bestrebungen, die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern. Unter dem Druck von Industrie und Gewerbe kam es mit staatlicher Hilfe zu Initiativen im Bildungs-, Ausstellungsund im Museumswesen, die nicht zuletzt auch durch die Weltausstellungen beeinflusst waren und deren gemeinsames Ziel es war, die Erzeugung von konkurrenzfähigen Konsumgütern zu sichern. Damit rückte die Gestaltung der Konsumgüter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Erste zaghafte Reformen oder Korrekturen des Fabrik-Kunstgewerbes fanden statt. Im Schulwesen gab es zum Beispiel in der Schweiz schon im ausgehenden 18. Jahrhundert Versuche, Ausbildungsstätten für Handwerk und Gewerbe (private Zeichen- und Kunstschulen) einzurichten. Im 19. Jahrhundert entstanden neue technische Fachschulen, polytechnische Hochschulen und Kunstgewerbeschulen. Auch sie sollten dazu beitragen, die Produkte international konkurrenzfähig zu machen. Angeregt durch das Vorbild der Weltausstellungen, wurden vielerorts nationale und regionale Gewerbeausstellungen
17
durchgeführt. In der Schweiz fand die erste 1862 in Lausanne statt. Diese Gewerbeausstellungen wurden zu öffentlichen Diskussionsforen, auf denen über die Güte der gewerblichen und industriellen Produkte debattiert wurde. Im Sog dieser Konkurrenz-Schauen entstanden in den europäischen Metropolen bald gewerbliche oder kunstgewerbliche Museen. Auch in ihnen fand die kompetitive Gegenüberstellung der besten Güter und ein Diskurs über Design statt. Zum ersten Mal wurde die Gestaltung von Alltagsgegenständen zu einem öffentlichen Thema. Die ökonomische Bedeutung des Designs wurde erkannt. Den Museen wurden übrigens da und dort zur gegenseitigen Befruchtung gewerbliche Schulen angegliedert, die vom Staat oder von den Höfen gefördert wurden.2 Die Gründung von Schulen und Museen vergrösserte den Fundus der Entwürfe und machte die Gestaltung zum Gegenstand ideologisch geprägter Debatten.3 Fazit: Die Industrialisierung hatte neben den ökonomischen vielfältige bildungspolitische und kulturelle Auseinandersetzungen zur Folge. Produktgestaltung wurde zu einem bewusst wahrgenommenen Faktor. Die technologische Triebfeder des Designs Nachdem durch die Mechanisierung der Produktion die Grundlage für die moderne Entwurfstätigkeit einmal gelegt worden war, gab es in der technologischen Entwicklung immer wieder Innovationsphasen, welche die Triebfeder für eine schubartige Entfaltung des Designs waren. Grundlage war das Aufkommen und die Nutzung von neuen Leittechnologien. Eine solche Phase war die Mechanisierung des Maschinenbaus in den letzen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die mechanische (!) Herstellung von Maschinen für die Produktion von Gebrauchsgegenständen und Druckmaschinen sorgte für eine grosse Ausdehnung der Entwurfstätigkeit im Bereich des Produkt- und Grafikdesigns.4 Die wirtschaftliche Triebfeder des Designs Die wirtschaftliche Triebfeder des industriellen Designs, der Gestaltung von seriengefertigten und deshalb standardisier-
ten Industrieprodukten, liegt im kapitalistischen Prinzip des Wirtschaftens: Kapital wird in den Wirtschaftskreislauf investiert, um Rendite abzuwerfen. Der Kapitalgeber ist daran interessiert, möglichst viele Waren auf den Markt zu bringen und zu verkaufen, um eine möglichst hohe Rendite zu erzielen. Doch dazu muss er seine Konkurrenten aus dem Markt verdrängen, indem zum Beispiel die Produktionskosten unter das Niveau der Konkurrenz gedrückt werden. Wie ist das möglich? Der auf dem Markt realisierte Erlös aus den Waren, der Gewinn, wird nicht ausgegeben, sondern zum guten Teil wieder in die Produktion investiert. Mit dem zusätzlichen Kapital können kosten- und zeitsparende Produktionsmittel entwickelt und eingesetzt werden, womit die eigene Position im Verdrängungswettbewerb verbessert wird. So kommen immer mehr und immer neue Waren auf den Markt. Es liegt in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise (im Gegensatz etwa zur mittelalterlichen feudalistischen oder der so genannten asiatischen Produktionsweise), sämtliche Gebrauchsgüter zu Waren zu machen und alle erdenklichen Waren zu erfinden, mit denen ein zusätzlicher Profit realisiert werden kann. Das Kapital ist also nicht primär an der Art der Güter, an deren Gebrauchswert, sondern vor allem an deren Tauschwert interessiert. Ohne permanentes Wachstum, ohne ständige Vergrösserung des Tauschvolumens kann die Profitrate nicht gesteigert werden und ist das investierte Kapital nicht gewinnbringend angelegt. Die Massenproduktion, also die Serienfertigung von standardisierten und günstigen Produkten, gehört zum Wesen des Kapitals. Sie ist der Grund für die Entstehung der Massenkultur. Um die Konsumenten und Konsumentinnen dazu zu bringen, immer neue Gebrauchsgüter in Warenform zu kaufen, müssen die Güter nicht nur einen Zweck erfüllen, sondern verlockend und attraktiv gestaltet werden und sich von Konkurrenzprodukten positiv unterscheiden. Die am Verkauf orientierte Industrie hat deshalb sehr rasch die grossen Möglichkeiten — 1 2 3 4
Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 55. Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 44. Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 45. Reinhart Kössler, Informationszeitalter, in: Widerspruch 45, Zürich, 2003, S. 29.
18 1. Industrialisierung und Beginn des Designs
erkannt, welche die Gestaltung für eine wirksame Verkaufssteigerung bieten kann. Denn die Industrieprodukte erhalten durch immer neue Gestaltung der äusseren Form wirksame Anreize zum Kauf, ohne dass damit zugleich eine Verbesserung des Gebrauchswerts verbunden wäre. Hier liegt der Ursprung des Produktdesigns, eines Grossteils des Grafikdesigns und des im 20. Jahrhundert entwickelten Corporate Designs. Im Gestaltungsprozess «revolutionieren» die Designer und Designerinnen die Produkte als Ganzes oder an ihrer Oberfläche immer wieder neu, sie versehen diese mit anderen Worten mit der immer gleichen «konservativen» Botschaft: Kauf mich! (Vgl. dazu auch die Abschnitte «Design und Warenästhetik» und «Aufgabe des Industriedesigns» in diesem Kapitel.) Fazit: Design heisst zuerst einmal Integration der Ästhetik in die Herstellung und den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen zwecks Verkaufsförderung. Es dient der Behauptung gegenüber konkurrierenden Angeboten und der Verwertung von Kapital.
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Meilensteine
Theorie
Abb 1: Joseph Paxton: Der Londoner Kristallpalast für die Weltausstellung von 1851 nach dem Wiederaufbau in Sydenham 1854. Hier wurden erstmals mechanisch hergestellte Patentmöbel ausgestellt. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 21.
Abb. 2: Charles Dutert et al.: Maschinenhalle der Pariser Weltausstellung, 1889. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 29.
Die Anfänge des industriellen Designs
Historismus und Warenästhetik
Neue Bauaufgaben Der Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert brachte eine Vielfalt von neuen Gestaltungsaufgaben mit sich. Die Bauaufgaben in den Nationalstaaten erreichten ein bis dahin nicht gekanntes Ausmass: Schulen, Spitäler, Parlamentsgebäude, Justizpaläste und (National-) Museen schossen aus dem Boden. Darüber hinaus entstanden allerorten neue Fabriken, Bürogebäude, Kaufhallen, Passagen, Bahnhöfe, Eisenbahnbrücken, Ausstellungshallen und Hotels. Bei all diesen Bauten wurden die bisherigen Dimensionen gesprengt – sowohl in Bezug auf ihre Grösse wie auch in Bezug auf die Ansprüche. Die neuen Bauaufgaben verlangten nach radikal neuen Lösungen. Sie wurden mit Hilfe von rationellen Methoden und neuen Materialien wie Gusseisen, Stahl, Glas und Beton bewältigt (Abb. 1, 2). Die Materialien wurden von der jungen Industrie geliefert, die Methoden wurden von Ingenieuren neu entwickelt. Die interessantesten Bauwerke des 19. Jahrhunderts stammten deshalb nicht von Architekten, sondern von Ingenieuren. Der Ingenieur des frühen Maschinenzeitalters gehört zu den Pionieren des industriellen Designs. Er war der Prometheus des 19. Jahrhunderts.1 Die schöpferischen Kräfte in der Baukunst konzentrierten sich auf die technische Entwicklung und Beherrschung der neuen Mittel. —
Historismus Mit «Historismus» werden allgemein stilistische Rückgriffe auf historische Kulturepochen bezeichnet. Historismus im eigentlichen Sinn ist eine Strömung des 19. Jahrhunderts, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs andauerte. Historistische Werke in der Architektur, in der bildenden Kunst und im Kunsthandwerk leiteten ihr stilistisches Formenvokabular direkt aus vergangenen Epochen ab (Neoromanik, Neogotik, Neorenaissance usw.). Dabei wurden die historischen Stile häufig leicht modifiziert oder verschiedene Stile miteinander kombiniert (Stilpluralismus). Das Kunsthandwerk orientierte sich bevorzugt an aussereuropäischen Vorbildern (zum Beispiel an indischer und japanischer Kunst). Der Historismus ist aber auch Ausdruck der stilistischen Unsicherheiten und kulturellen Orientierungsschwächen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (vgl. den Abschnitt «Wirtschaftliches und Soziales» in diesem Kapitel). Mit dem Rückgriff auf bereits «bewährte» historische Stilmuster wollte man der Unsicherheit stabile Werte entgegensetzen. Vergangene Kulturleistungen genossen also höhere Priorität als die Bemühungen um neue, der Zeit entsprechende Kunstformen.
1 Im 20.Jahrhundert wird ihn Le Corbusier als «gesund und männlich, aktiv und nützlich, ausgeglichen und glücklich» preisen (zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, Bern, 1999, S. 267).
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Meilensteine
Theorie
Abb. 3: Underwood-Schreibmaschine, 1900. Dieses Modell wurde durch seine nachhaltige norm- und stilbildende Wirkung das erfolgreichste seiner Art. Quelle: Volker Albus et al., Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 14.
Abb. 4: Michael Thonet: Stuhl Nr. 14, 1859. Material: Bugholz und Buche (Firma Gebrüder Thonet, Wien). Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z, München, 1999, S. 108.
Abb. 5: Carl und Victoria Elsener: Schweizermesser, 1891. Das legendäre Objekt beruht auf drei Prinzipien: hohe Qualität, vielseitige Verwendbarkeit (Funktionalitätsgrad) und exzellentes Design. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z, München, 1999, S. 218.
Industriell gefertigte Alltagsgegenstände Obwohl die Alltagsgegenstände noch lange von handwerklichen Produkten dominiert wurden, fanden Industrie und Technik allmählich ihren Niederschlag auch im Design des Alltags. Nach und nach kamen maschinell gefertigte Geräte auf den Markt – vor allem Gegenstände des täglichen Bedarfs in Haushalt und Beruf. Am weitesten fortgeschritten war die industrielle Massenproduktion von Alltagsgegenständen in den USA. Dort wurde schon 1851 die erste Haushaltsnähmaschine von Singer zum Verkauf angeboten. 1874 fuhr in New York die erste seriengefertigte elektrische Strassenbahn. Auf der Weltausstellung in Philadelphia wurde 1876 das erste Telefon ausgestellt, und ab 1876 wurden die ersten mechanischen Schreibmaschinen produziert (Abb. 3). Eine Pionierrolle in der industriellen Herstellung von Möbeln kommt Michel Thonet (1796–1871) zu. Thonet gelang es, neue produktionstechnische Verfahren im Möbelbau zu nutzen, die auch zu neuen einfachen Formen führten. Er kaschierte die industrielle Herstellungsweise der Möbel nicht, sondern machte sie zum Prinzip der Formgebung und entwickelte ein Verfahren, um massive Buchenholzstücke unter Dampfeinwirkung in geschwungene Formen zu biegen. Der ThonetStuhl Nr. 14 (1859) wurde zum Inbegriff des Bugholzstuhls und Prototypen moderner Massenmöbel. Bis heute wurde er über 100 Millionen Mal verkauft (Abb. 4). Einer der ältesten industriell hergestellten Gegenstände, der bis heute ein Beispiel für die symbolbildende und andauernde Kraft des Designs ist, ist das Schweizer Taschenmesser (Abb. 5). Es ist tatsächlich noch ein Produkt des 19.Jahrhunderts, denn es wurde 1896 von Carl und Victoria Elsener entworfen und für die Armee als «Offiziersmesser» serienmässig
Der Historismus wurde in der Moderne durchgängig negativ beurteilt. Das änderte sich in der Postmoderne, als sich der Historismus steigender Beliebtheit erfreute. Die postmodernen Strömungen pflegten im Gegensatz zur Moderne das Spiel mit vergangenen Stilen und Ornamenten (vgl. Kapitel 13). Design und Warenästhetik Die Funktion des Industriedesigns hat Wolfgang Fritz Haug in seinen Arbeiten analysiert 1 und dadurch besondere Bedeutung erlangt. Die von ihm entwickelte «Kritik der Warenästhetik» untersuchte den Doppelcharakter der Waren im kapitalistischen Wirtschaftssystem, der sich mit Gebrauchswert und Tauschwert bestimmen lässt. Haug zeigte an verschiedenen Beispielen auf, dass das Design vor allem als Mittel der Tauschwerterhöhung fungiert – dass also durch die ästhetische Gestaltung der Gegenstände nicht primär eine Gebrauchsverbesserung erzielt wird. «In kapitalistischer Umwelt kommt dem Design eine Funktion zu, die sich mit der Funktion des Roten Kreuzes im Krieg vergleichen lässt. Es pflegt einige wenige – niemals die schlimmsten – Wunden, die der Kapitalismus schlägt. Es betreibt Gesichtspflege und verlängert so, indem es an einigen Stellen verschönernd wirkt und die Moral hochhält, den Kapitalismus wie das Rote Kreuz den Krieg.»2
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Abb. 6: Robert Thorne: Fette Buchstaben, 1821. Die erste fette Schrift für Poster, Anzeigen und Werbung wurde zu Beginn des industriellen Zeitalters 1821 in England von Robert Thorne entworfen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S.127.
Abb. 7: S. Frizzali und J. H. Bufford: Plakat für den Präsidentenwahlkampf von Cleveland und Hendricks, 1884. Zu beachten ist der extreme Realismus der Porträts. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 147.
hergestellt. Doch es sollte weit mehr als nur ein Taschenmesser werden: ein kompakter Werkzeugkasten, ein Qualitätsbesteck und ein weltbekannter Werbeträger für schweizerische Qualitätsarbeit. Heute sind mit ihm die meistgenannten Konnotationen mit dem Namen «Schweiz» verbunden. Steigendes Kommunikationsbedürfnis Vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war die dominante Form der Verbreitung von schriftlichen Informationen das Buch. In der industrialisierten Gesellschaft nahm der Bedarf an Kommunikation sprunghaft zu. Die nötigen technologischen Voraussetzungen wurden mit der Erfindung von dampfbetriebenen Druckmaschinen, mechanisierten Satzmaschinen und Papierherstellungsmaschinen geschaffen. Reklameposter und Zeitungen konnten nun leichter hergestellt werden, und mit der Fotografie wurde ein völlig neues Kommunikationswerkzeug entwickelt. Eine neue Ära des Wissens, der Bildung und der Literalität wurde eröffnet, und die globale Verbreitung von Wörtern und Bildern wurde möglich. Das Zeitalter der Massenkommunikation hatte begonnen. Die Buchtypografie, die aus der Handschrift entwickelt worden war, genügte den neuen Anforderungen nicht mehr. Das Alphabet mit seinen sechsundzwanzig Buchstaben konnte nicht mehr nur als phonetisches Zeichensystem funktionieren. Das industrielle Zeitalter entwickelte diese Zeichen weiter zu abstrakten visuellen Formen, die grosse kraftvolle, kontrastreiche und fette Charaktere auf die Reklametafeln projizierten. Die Innovation von neuen Schrifttypen nahm ihren Lauf (Abb. 6). Bald nach der Erfindung der Fotografie wurde in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Fotodruckverfahren
Abb. 8: Forst, Averell & Co.: Plakat für die Hoe-Druckpresse, 1870. Diese Presse machte eine Massenauflage von Chromolithografien möglich. Das Plakat demonstriert die neue Freiheit im Umgang mit Schriften und Buchstaben. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 150.
Die Aufgabe des Industriedesigns F. Mercer definierte die Aufgabe des Industriedesigners 1947 so: «Der Industriedesigner ist ein technischer Experte für visuelle Wirkung. (Er) wird von einem Hersteller nur aus einem Grund beschäftigt: Er soll die Nachfrage nach Produkten durch ihre stärkere Anziehungskraft für die Konsumenten erhöhen. Der Hersteller bezahlt ihn nach Massgabe seines Erfolges bei der Erreichung dieses Ziels. Der Industriedesigner steht und fällt mit seiner Fähigkeit, Handelsgewinne zu erzeugen und zu erhalten. In erster Linie ist er ein Industrietechniker und nicht vorwiegend ein Geschmackserzieher der Öffentlichkeit. Unter den vorherrschenden Bedingungen muss sein Ziel in der Profitgewinnung für seine Arbeitgeber liegen.»3
— 1 Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M., 1971. 2 W.F.Haug, in: Bernhard Bürdek, Design, S. 176. 3 F. Mercer, in: Walker, Designgeschichte, S. 41.
22 1. Industrialisierung und Beginn des Designs
Meilensteine
Abb. 9: Verpackungen für Tabakdosen und Nahrungsmittelbehälter, die mit Chromolithografie bedruckt sind. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 151.
Abb. 10: Henri Labrouste: Lesesaal der Bibliothèque Nationale in Paris, 1861–69. Gusseiserne Säulen mit korinthischen Kapitellen und gotischen Kreuzrippengewölben. Foto: Beat Schneider.
entwickelt und damit die Vielfalt der Illustrationstechniken weiter vergrössert (Abb. 7, 8). Die bereits 1796 erfundene Lithografie wurde in Boston zur Chromolithografie weiterentwickelt, was dem farbigen Illustrationsdesign ein neues Feld eröffnete. Neue Anwendungsgebiete wurden unter anderem Poster, Etiketten und bedruckte Verpackungen (Abb. 9). Imitation und Dekoration Wie wurden die Gestaltungsaufgaben im beginnenden Maschinenzeitalter stilistisch gelöst? In den Werken der Architektur fand der wirtschaftliche Reichtum der neuen industriell-bürgerlichen Schichten seinen direkten Ausdruck in reichem Dekor und üppiger Ornamentik. Das Bedürfnis der neuen Schichten nach Repräsentation wurde aber nicht durch ein neues Design, sondern durch den Rückgriff auf die Formensprache einst herrschender Schichten befriedigt. Deshalb erschöpft sich die Architektur des 19. Jahrhunderts, wie übrigens die Kunst auch, weitgehend in Nachahmungen vergangener Stile. Kirchen, öffentliche Gebäude und die Häuser der Gutsituierten wurden in den verschiedenen Neostilen und oft auch in einer Mischung der verschiedenen Stile gebaut: Neo-Romanik, Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Barock und Neo-Klassizismus (vgl. den Abschnitt «Historismus» in diesem Kapitel). Auch die neuen Bauten, von den Fabrikgebäuden bis hin zu den Brücken, wurden an der Oberfläche mit einem historischen Dekor versehen (Abb. 10). Das Design der industriell gefertigten Alltagsgegenstände ahmte in der beginnenden Massenproduktion zunächst die Formen der früher handwerklich hergestellten Produkte nach, so dass sich die maschinell gefertigten von den handwerk-
Abb. 11: Stuhl aus dem Biedermeier-Zimmer des Oldenburger Stadtmuseums, um 1840. Kirschbaumholz furniert. Quelle: Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, Köln, 1987, S. 162.
lich hergestellten Gegenständen lediglich durch ihre schlechtere Qualität unterschieden. Viele der Massenprodukte wurden ebenfalls mit historischen Ornamenten dekoriert. Bürgerliche Ästhetik Zaghaft entwickelte die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert in einigen Ländern eigenständige ästhetische Leitbilder, die sich allmählich vom Rückgriff auf vergangene Stile lösten und sich von den Leitbildern des Adels und des bürgerlichen Geldadels unterschieden. «Biedermeier» – ursprünglich eine satirische Bezeichnung für die bieder-wohlanständige Kultur des Bürgertums zwischen 1814 und der Revolution von 1848 – war eine bürgerliche Gegenrichtung zu dem bis 1814 vorherrschenden feudalen Empire-Stil. Sie zeichnete sich durch eine rationale Grundhaltung aus. BiedermeierMöbel waren stark dem Ideal der Schmucklosigkeit und einfachen Formen verpflichtet (Abb. 11).2 In einigen protestantischen Gebieten Europas waren die neuen bürgerlichen Leitbilder von besonderer Sachlichkeit und Bescheidenheit gekennzeichnet. Hier ist auf den Zusammenhang zwischen Moral/Religion und Gestaltung, beziehungsweise auf die Entsprechung von puritanischer christlicher Ethik hinzuweisen. Immer wieder hat im Laufe der abendländischen Geschichte die durch Askese geprägte christliche Ethik zu puristischen Gestaltungsformen geführt: Im Mittelalter war es etwa die Ästhetik des Zisterzienserordens, die sich in der Innen- und Aussenarchitektur der Klöster durch strenge, fast funktionalistische Merkmale hervortat (Abb. 12). Für das 19. Jahrhundert ist die puritanisch-protestantische Religionsgemeinschaft der Shaker in den USA zu nennen, deren Alltagsgegenstände sich durch schlichte Schönheit auszeichnen (Abb. 13).
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Abb. 12: Kirche der Zisterzienser-Abtei Fontenay im französischen Burgund, 12./13. Jahrhundert. Foto: Beat Schneider.
Abb. 13: Ein original eingerichteter Innenraum im ShakerDorf Hancock in Massachusetts, um 1840. Die Shaker nahmen mit ihrem religiös motivierten Streben nach Einfachheit wichtige Züge des modernen Designs vorweg. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 13.
Im Gegensatz zum prunkvollen Empire-Stil der Oberschichten verzichtete die bürgerliche Wohnkultur des 19. Jahrhunderts grossenteils auf üppige Stoffe, Intarsien und ähnlichen Luxus und bevorzugte einen bescheiden-einheitlichen Gesamteindruck der Räume. Als Folge der Industrialisierung fand sich unter den Möbeln bereits standardisierte «Konfektionsware», welche sich durch schlichte Formen, Funktionalität und das industrielle Furnieren mit einheimischen Hölzern charakterisierte (Abb. 14). Die genannten ästhetischen Leitbilder des Bürgertums sollten das Design bis in die Gegenwart beeinflussen. Noch heute gehört zu den wichtigsten Anforderungen des modernen Designs Funktionalität, Schlichtheit und Sachlichkeit. Andererseits muss an dieser Stelle betont werden, dass das moderne Design mehr aus den Voraussetzungen der industriellen Produktionstechnik als aus der bürgerlich-protestantischen Ethik stammt.3 Denn der industrielle Zwang zur seriengefertigten und deshalb standardisierten Herstellung von Produkten war schliesslich der ausschlaggebende Grund oder «Humus» für die Durchsetzung eines schlichten, sachlichen und funktionellen Designs. — 2 Bis heute ist umstritten, ob das Biedermeier nur eine bürgerliche Werthaltung verkörperte; die Tatsache, dass viele frühe und bedeutende Biedermeier-Möbel zuerst in adeligen Haushalten standen, steht dieser These entgegen (vgl. auch: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 12). 3 Dies vertritt Thomas Hauffe, in: Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 22.
Abb. 14: Magazinsofa mit zwei Schubladen, München, um 1820. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 25.
24 1. Industrialisierung und Beginn des Designs
— Kommentar
Der ewige Zwang zum Neuen Design als Entwurf von Gebrauchsgegenständen ist ein kulturelles Phänomen, das seit den altsteinzeitlichen Kulturen bekannt ist. Design als ästhetische Gestaltung von Waren und als Gestaltung der Kaufanimation und der gesellschaftlichen Kommunikation ist eine Hervorbringung der abendländischen industriellen Gesellschaft der Neuzeit. Erst diese trennte den Gebrauchswert und den Tauschwert der Produkte und schuf das Universum der Waren. Design ist ein Ergebnis des ökonomischen Zwangs zur ständigen Revolutionierung der Warenwelt und zur standardisierten Massenproduktion. Der ständige Formwandel ist in den kapitalbasierten Wirtschaften und Kulturen ein unverzichtbares Bedürfnis und der ewige Zwang zum Neuen ein kulturelles Grundmuster geworden, das sämtlichen Lebensbereichen seinen Stempel aufdrückt. Neues Maschinenzeitalter – alte Ästhetik Die industrielle Produktion führte zunächst nicht zu einer neuen technischen Ästhetik, die sich aus den neuen konstruktiven und technischen Möglichkeiten abgeleitet und dem neuen kulturellen Selbstverständnis des Maschinenzeitalters entsprochen hätte. Stattdessen begnügte man sich einerseits mit der blossen Imitation handwerklich hergestellter Produkte durch die Maschinenarbeit und andererseits mit dem Rückgriff auf historische Stile und Dekorformen. Wie ist das zu erklären? Die Imitation handwerklicher Produkte hängt vermutlich mit der anfänglich besseren Verkäuflichkeit der so designten neuen Produkte zusammen. Mit der Nachahmung der Formensprache einst herrschender Schichten hingegen demonstrierte die neue Klasse ihren
eigenen Machtanspruch.1 Mit dieser Scheinwelt geborgter Formen bewirkte die neue industrielle Klasse die ästhetische Einschüchterung des Kleinbürgertums. Es gilt als ein soziologisches Faktum, dass «das klassenspezifisch differenzierte Produktangebot und der nachgeahmte feudalistische Prunk an den Gegenständen des täglichen Gebrauchs und den privaten und öffentlichen ‹environments› Kapitalisten und Kleinbürger im Bewusstsein vereinte.»2 So gesehen ist die schwülstige Produktsprache mit feudalistischem Prunk nicht einfach sinnlose Dekoration, sondern erhält im Prozess der Herstellung kultureller Vormacht ihren Sinn. Gleichzeitig – und das steht nicht im Gegensatz zum bisher Ausgeführten – ist die historische Stilmaskerade ein Zeichen der ästhetischen Unsicherheit der damaligen bürgerlichen Klasse. Denn die geistige und kulturelle Entwicklung hatte in den Jahrzehnten der rasenden industriellen Revolution Mühe, mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten. Das Primat der wirtschaftlichen Werte brachte die überkommene Kultur durcheinander. Das Bürgertum, immer mehr von den neuen Generationen industrieller Unternehmer geprägt, war zur tragenden gesellschaftlichen Schicht geworden. Es hatte jedoch Mühe, sich kulturell zu orientieren, eine eigenständige Ästhetik zu entwickeln und diese mit dem wirtschaftlichen Prozess in Einklang zu bringen. Die kulturelle Situation stellt sich deshalb sehr widersprüchlich dar. — 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 41ff. 2 Ebenda, S. 43.
2. INDUSTRIEKRITIK VON ARTS & CRAFTS BIS ZUM JUGENDSTIL
28 2. Industriekritik von Arts & Crafts bis zum Jugendstil
— Wirtschaftliches und Soziales
Unmenschliche Verhältnisse «Aus dieser schmutzigen Kloake (gemeint ist Manchester, B.S.) fliesst pures Gold. Hier erreicht die Menschheit ihre vollständigste Entwicklung und ihre niedrigste, hier vollbringt die Zivilisation Wunder, und gleichzeitig wird der zivilisierte Mensch fast in einen Wilden verwandelt.»1 Mit diesen Worten fasste der französische Staatsdenker Alexis de Tocqueville bereits 1835 mit grossem Weitblick den grundsätzlichen Widerspruch der industrialisierten Welt zusammen: einerseits die schier grenzenlose Entfesselung von Produktivkräften, welche die Welt mit Waren, Maschinen, Bauten und einem immensen materiellen Reichtum versieht, und andererseits die Erzeugung von Herrschaftsverhältnissen, welche immer mehr Menschen und Völker in Abhängigkeit bringen und in Massenelend und kulturelle Armut stürzen. Die Industrialisierung schuf für einen grossen Teil der Bevölkerung unmenschliche Verhältnisse. Mit der technischen Revolution, der Erfindung der Maschinen, wurde aus ehemaligen Bauern, Handwerkern und deren Frauen eine neue gesellschaftliche Klasse, das Proletariat der Arbeiter und Arbeiterinnen. Massenweise wurde Arbeit von handwerklicher Fertigkeit auf mechanische Manipulation mit Geräten und Maschinen reduziert. Die Arbeitskraft wurde zur Ware auf dem industriellen Arbeitsmarkt. Die Lohnarbeiter wurden einem anhaltenden Verelendungsprozess ausgesetzt. Eine auf 14–16 Stunden ausgedehnte Arbeitszeit pro Tag, unzulänglicher Schutz vor Arbeitsunfällen, geringe Entlöhnung, fehlende soziale Sicherung gegen Krankheit und Alter sowie weit verbreitete Kinderkrankheiten und völlig unzulängliche Wohnverhältnisse kennzeichneten die Lage der proletarischen Massen. Die sich verschärfenden Konflikte zwischen den
kapitalbesitzenden Unternehmern und den Arbeitern und Arbeiterinnen entluden sich in Aufständen und führten in der zweiten Jahrhunderthälfte zur Bildung von proletarischen Selbsthilfeorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen Bewegungen. Die industrielle Revolution machte aus der Welt eine sozial hässliche Welt. Zur Hässlichkeit des sozialen Elends, der Elendsviertel der Städte und Fabriken und der wachsenden Umweltverschmutzung kam – in den Augen vieler Zeitgenossen – noch die Minderwertigkeit der qualitativ oft schlechten und unpraktischen Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände aus der Massenproduktion dazu.2 Die Produktqualität hatte gegenüber der früheren handwerklichen und manufakturellen Fertigung infolge der maschinellen Serienproduktion und der Verwendung von billigen Materialien nachgelassen. Widerspruch Die unmenschlichen Lebensbedingungen, die damals schon verunstaltete Umwelt, die Unzahl minderwertiger Produkte und der gleichzeitig zur Schau gestellte Reichtum provozierten Widerspruch und waren der Anstoss zu Reformideen und Reformbewegungen. Der Ruf nach Reformen kam aus verschiedenen Lagern: 1. Die Gewerkschaften und die Sozialisten kämpften für bessere Arbeits-, Wohn- und Bildungsverhältnisse und forderten einfache «preiswerte» und «ehrliche» Gebrauchsgegenstände für die Arbeiter und Arbeiterinnen. 2. Das Bildungsbürgertum wurde durch die sozialen Missstände sensibilisiert. In so genannten Bildungsvereinen wurde deshalb versucht, zur Hebung des Bildungsniveaus der arbeitenden Massen beizutragen. Die «Geschmacksverirrungen» der industriellen Massenproduktion und der «Niedergang der Kunst» wurden beklagt. 3. Der ästhetische Widerspruch gegen die Folgen der industriellen Revolution bestand in künstlerischen und kunsthandwerklichen Bewegungen, welche die hässlichen Produkte der industriellen Massenproduktion bekämpften und eine Wiederbelebung des Kunstgewerbes anstrebten. Sie wandten sich gegen die schlechte Gebrauchsqualität und man-
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gelnde Haltbarkeit der industriellen Produkte und gegen die Verhüllung der technischen Formen mit «unehrlichem» Dekor aus historischen Formen. Sie wollten den Standard der Produktion und den Geschmack der Verbraucher und Verbraucherinnen heben. Die Reaktion auf die Industrialisierung kann man auch als Verteidigung des angestammten Platzes verstehen: In vorindustriellen Zeiten hatten sich das Kunstgewerbe und die dekorative Kunst um die Verzierung und Ornamentierung der Gebrauchsgegenstände gekümmert. Diese Kompetenz wurde dem Kunstgewerbe nun durch die dominant werdenden industriell gefertigten Massenprodukte streitig gemacht. 4. Die Qualität der industriellen Waren war auch für Vertreter von Gewerbe, Industrie und Handel ein Thema. Sie beklagten sich über die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der schlechten und durch historische Ornamente verzierten Massenprodukte. Das Formengemisch des Historismus wurde zunehmend als ästhetisches Hemmnis in der internationalen Konkurrenz empfunden.3 Die gewerblichen Forderungen, die durch den Wettbewerb der Weltausstellungen an Bedeutung gewannen, mündeten in den Ruf nach besseren Materialien und technischen Produkten sowie nach Reformen im Produktionsprozess und Ausbildungswesen (vgl. Kapitel 1). 5. Daneben gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitere Reformbewegungen wie die Gartenstadtbewegung4, die Natur- und Heimatschutzbewegung, die Gesundheitsreformbewegung sowie die Bewegungen zur Boden- und Wohnungsreform. Umfassende Bewegungen Diese verschiedenartigen Reformbewegungen agierten nicht unabhängig voneinander! Im Gegenteil, die Überschneidungen und Vernetzungen waren vielfältig. Zum Beispiel verstanden sich kunsthandwerkliche Bewegungen wie die britische Arts & Crafts immer auch als soziale oder sozialästhetische Initiativen, welche die Gestaltungsaufgaben als soziale und moralische Aufgabe auffassten. Das verwundert nicht angesichts der Tatsache, dass die sozialen und ästhetischen Missstände eng zusammenhingen. Die Reform bei der Gestaltung
von Möbeln und Gebrauchsgegenständen war also oft Bestandteil einer umfassenderen Bewegung, welche die Wohn-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung in den Städten verbessern wollte. — 1 2 3 4
Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 266. Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 30. Ebenda, S. 34. Der Engländer E. Howard entwarf die ersten Pläne für so genannte «Gartenstädte», das heisst Siedlungen, die mit viel Grün die bisherigen grossen Mietskasernen ablösen sollten. Die englischen Arbeitersiedlungen wurden auf dem Kontinent zum Vorbild für ähnliche Reformen.
30 2. Industriekritik von Arts & Crafts bis zum Jugendstil
Meilensteine
Theorie
Abb. 15: Philipp Webb: Das Rote Haus in Kent, 1859. Hier entstand Morris’ Firma nach mittelalterlichem Bauhütten-Vorbild. Obwohl es ein mittelalterliches Aussehen hat, ist die Struktur funktional. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 42.
Abb. 16: William Morris: Rosentextildesign, 1883. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 64.
Abb. 17: William Morris: Armstuhl, 1858. Der Rahmen ist aus geschnitztem Holz, das Dekor ist aufgemalt. Dieser von mittelalterlichen Möbelformen beeinflusste Entwurf wurde früher als «Webstuhl» bezeichnet, obwohl er sich aufgrund seiner Form zum Weben gar nicht eignet. Er wurde vermutlich von Morris für seine Wohnung am Red Lion Square entworfen. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 51.
Reformbewegungen im gestalterischen Bereich
Beginn der Designtheorie
Von den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts interessieren in einer Designgeschichte vor allem diejenigen, welche sich der Gestaltung des Alltags annahmen. Das sind insbesondere die britische Arts & Crafts-Bewegung, die europaweite Jugendstilbewegung und später der Deutsche Werkbund.
William Morris, der Industriekritiker In den kunstgewerblichen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts wurde erstmals der Zusammenhang zwischen industrieller Herstellung und gestalterischer Form wahrgenommen und die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Industrie theoretisch erörtert. In Grossbritannien führte der Kreis um William Morris (1834–96) die theoretische Debatte um Kunst und Industrie. William Morris war ein vehementer Gegner der maschinellen Massenproduktion. Er beklagte den Verlust der künstlerischen Qualität in der Produktion von Gebrauchsgütern und erinnerte daran, dass «einst jedermann, der ein Ding machte, es als Kunstwerk und zugleich als nutzbares Hausgerät schuf, während heute nur sehr wenige Dinge auch nur den geringsten An– spruch darauf haben, als Kunstwerk angesehen zu werden.»1 Nach Morris waren für die Zerstörung des Verhältnisses von Schönheit und Nützlichkeit bei der Erzeugung eines Gebrauchsgegenstandes die entfremdete Maschinenarbeit und die Profitinteressen der kapitalistischen Unternehmer (Morris: «unnatürlicher Industrialismus») verantwortlich. Die kapitalistische Produktionsweise sei zudem auch für die Umweltverschmutzung verantwortlich. Morris träumte sich an die Stelle
Die Arts & Crafts-Bewegung Die britische Arts & Crafts-Bewegung war in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Reaktion auf die industrielle Massenproduktion und die Verdrängung der handwerklichen und kunsthandwerklichen Produktionsweise. Sie forderte eine Rückkehr zu handwerklicher Qualität, Materialgerechtigkeit und schlichtem Formenvokabular. Ihr bekanntester Exponent und geistiger Vater, William Morris (1834–96) (vgl. den Abschnitt «Beginn der Designtheorie» in diesem Kapitel), schuf mit anderen zusammen nach dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten die Firma Morris & Co. welche ab 1861 gediegene und relativ teure handwerklich gefertigte Möbel, mit Pflanzenfarben bedruckte Stoffe, handgewebte Teppiche, bemalte Kacheln und Glasfenster herstellte (Abb. 15–17). Dem Formengemisch des Historismus wurden klare Formen und Materialien sowie Ornamente aus der Natur entgegengestellt. Für Morris & Co. lag die Antwort auf die industrielle Revolution in einer Kunstgewerbereform, die sich auf das Mittelalter zurückbesann, wo Handwerk und Kunst, Nützlichkeit und Schönheit noch eine Einheit gebildet hätten. Morris & Co. wurde zum Vorbild für zahlreiche Künstlergilden, aus denen die Arts & Crafts-Bewegung entstand (Abb. 18).
31
Abb. 18: Arthur H. Mackmurdo: Stuhl, 1881. Als Mackmurdo diesen Stuhl entwarf, achtete er sorgfältig auf die Qualität des visuellen Designs und auf die funktionalen Kräfte. Die Vereinigung von Konstruktion und Ornament wurde ein Charakteristikum des Jugendstils. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 164.
Abb. 19: Lucien Pissaro: Zwei Seiten aus Verse von Christina Rosetti, 1903 (Privatdruckerei). Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 173.
Arts & Crafts hatte auch grossen Einfluss auf das Grafikdesign. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Qualität des Buchdesigns ein Opfer der industriellen Revolution. Der Niedergang der Buchkultur wurde erst Ende des Jahrhunderts gestoppt, als durch die Arts & Crafts-Bewegung eine Buchrenaissance ausgelöst wurde. Zu nennen sind hier wiederum William Morris, dann Arthur H. Mackmurdo (1851–1942), der die Designer-Gilde «The Century Guild Hobby Horse» initiierte, welche ein neues, künstlerisch inspiriertes Grafikdesign und die Kelmscott Press propagierte. Sie alle liessen sich vom vergangenen Handwerk und von der mittelalterlichen Buchkultur inspirieren und produzierten in privaten Druckereien («private Druckbewegung») anspruchsvolle Bücher (Abb. 19). Die britische Buchrenaissance beeinflusste das Buchdesign auch auf dem europäischen Kontinent. Dort machte sich der Deutsche Rudolf Koch (Abb. 20) mit seinen Schriftentwürfen einen Namen. Durch Morris & Co. und Arts & Crafts erlebte das Kunstgewerbe einen grossen Aufschwung. Aus der Reform entstand zwar kein neues Industriedesign – die industrielle Produktion wurde mehrheitlich abgelehnt –, aber ein Kunsthandwerk von hoher Qualität, ein handwerkliches Elitedesign für den privilegierten Teil der Gesellschaft. Mit der Ablehnung des Historismus, der Rückbesinnung auf das Handwerk, der grossen Bedeutung, die man der Kunst im Entwurf zumass, und mit der Vorliebe für einfachere und organische Formen aus der Natur hatte die Arts & Crafts-Bewegung Einfluss auf den Jugendstil, den Deutschen Werkbund und das Staatliche Bauhaus in seiner Anfangsphase.
Abb. 20: Rudolf Koch: Halbfette deutsche Schrift, 1911; eine deutsche Schrift, 1906; schmale deutsche Schrift, 1910. Deutschland war übrigens das einzige europäische Land, das Gutenbergs Textura nicht durch römische Stile ersetzte. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 174.
des hoch industrialisierten, natur- und menschenausbeutenden Kapitalismus fiktive Gartenstädte und sozialistische Lebens- und Produktionsgemeinschaften.Konsequenterweise wurde er Sozialist; für ihn stand fest, dass erst in einer sozialistischen Gesellschaft wieder unentfremdet produziert und künstlerische Qualität, die für alle nützlich ist, gewährleistet werden könne. So wurde Morris (zusammen mit John Ruskin [1819–1900 ]) zum Begründer der ersten sozialen Theorie des Designs.2 Er stellte die These auf, dass vor allem die Lebensbedingungen der Menschen geändert werden müssten, um ihren Sinn für Schönheit und ihr Verständnis für die Kunst zu wecken. Seine Kritik der gesellschaftlichen Zustände mündete jedoch nicht im Kampf für revolutionäre sozialistische Veränderungen, sondern im Einsatz für eine Kunstgewerbereform. Morris wartete nicht etwa neue Lebensbedingungen ab, sondern entwarf und produzierte in seiner Bauhütte nach mittelalterlichem Vorbild eine Vielzahl von verschiedenen gediegenen Objekten. Er stand damit im Konflikt zwischen Theorie und Praxis: hier revolutionäre politische Theorie, dort Entwurf und Herstellung von konkreten Gegenständen. Morris blieb im Denken und
— 1 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 282. 2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Designs, S. 49.
32 2. Industriekritik von Arts & Crafts bis zum Jugendstil
Meilensteine
Theorie
Abb. 21: Victor Horta: Wohnungsmöbel im Hortamuseum in Brüssel, 1898–1901. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 109.
Abb 22: Hector Guimard: Stuhl, 1900. Der Rahmen ist aus Birnenholz geschnitzt, das Sitzpolster mit geprägtem Leder bezogen. Guimards Jugendstilformen wurden so populär, dass man vom «Stil Guimard» sprach. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 74.
Abb. 23: Alphonse Mucha: Plakat für JOB-Zigarettenpapier, 1898. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 194.
Jugendstilbewegungen Zwischen 1890 und 1914 fand die künstlerische und kunsthandwerkliche Reformbewegung statt, die in Frankreich als «Art Nouveau», in England als «Modern Style», in Österreich als «Secessionsstil», in Spanien als «Modernismo» und in Deutschland als «Jugendstil» bekannt wurde (Abb. 21, 22). Die kunsthandwerkliche Renaissance der Morris-Zeit mit ihrem Qualitätsdenken war die Voraussetzung für die sprunghafte Entwicklung des internationalen Jugendstils. Auch dieser lehnte den Historismus ab. Aber er verleugnete die dekorative Tendenz der historistischen Epoche nicht, sondern setzte an ihre Stelle ein überzeugenderes und originelleres Dekor: einfachere und konstruktionsgerechtere Ornamente, die sich nach dem Vorbild der Natur richteten. Als Antwort auf die industrielle Massenware machte sich der Jugendstil eine umfassende künstlerische Durchgestaltung aller Lebensbereiche zum Ziel. Der Raum wurde als Gesamtkunstwerk betrachtet, in dem das Zusammenspiel aller Künste und die wechselseitige Durchdringung von Kunst und Handwerk stattfinden sollten. Das Ornament diente als verbindendes Glied. Es sollte anders als im Historismus nicht beliebig aufgesetzt sein, sondern «organisch» aus der Konstruktion eines Gegenstandes erwachsen. Zuerst und am leichtesten verwirklichte sich der Jugendstil mit seiner Vorliebe für lineare, oft asymmetrische Ornamentik floralen und geometrischen Ursprungs im Grafikdesign (Abb. 23–25) und generell in der Kleinkunst, dann in der Innenausstattung von Bürgerhäusern und zuletzt in der Architektur. Es war das Grafikdesign, das die Anhängerschaft des Jugendstils stetig anwachsen liess, so dass immer mehr Plakate gedruckt werden mussten.
Handeln inkonsequent und löste diesen Konflikt nicht. Als Entwerfer gestand er sich selbst ein, «dem schweinischen Luxus der Reichen zu dienen».3 In seiner rückwärts gewandten Utopie war er in den Augen des im 20. Jahrhundert lehrenden Philosophen Ernst Bloch «ein romantischer Antikapitalist».4 Befürworter der Industrie Nicht alle Arts & Crafts-Vertreter teilten die Haltung von William Morris, was die Industrie betrifft. H. Cole, Mitinitiator der Weltausstellung von 1851, O. Jones und Ch. Dresser waren explizit keine Gegner der industriellen Produktion. Christopher Dresser (1834–1904) war unter den britischen Designern des 19. Jahrhunderts eine besondere Erscheinung. Er entwarf zu einer Zeit, in der Zeitgenossen wie William Morris die Rückkehr zur mittelalterlichen Gilde forderten, schlichte funktionale Objekte, die zum ersten modernen Industriedesign gehören. Seine Botschaft an Morris war: Die industrielle Entwicklung kann nicht verhindert werden. Es ist daher besser, mit den neuen Techniken und Materialien vorbildlich designte Objekte zu schaffen, als sich der Zeit entgegenzustellen (Abb. 26, 27). Gottfried Semper, der Reformer In Deutschland und in der Schweiz bestimmte Gottfried Semper (1803–79), der Architekt
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Abb. 24: Will Bradley: Plakat für Bradley: His Book, 1898. Das Plakat ist von Mittelalter-Romantik und «Art Nouveau» geprägt, die Muster scheinen von Arts & Crafts inspiriert zu sein. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 197.
Abb. 25: Peter Behrens: «Der Kuss» 1898. Sechsfarbiger Holzschnitt. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 204.
Innerhalb der Jugendstilbewegungen gab es eine Minderheit, welche die einfache Linie bevorzugte, die Gebrauchsgegenstände stark unter dem funktionellen Aspekt entwarf und die Oberfläche der Gegenstände einfach und glatt und also ohne viel Ornamente gestaltete. Zu diesem «strengen Jugendstil»1 gehörte zum Beispiel die schottische Gruppe um Mackintosh oder die späten Wiener Werkstätten und zum Teil auch Vertreter der Darmstädter Künstlerkolonie (vgl. Kapitel 3). Die Gegenstände, die sie schufen, waren zur Zeit ihres Entstehens zwar auch künstlerische Beispiele eines hoch stehenden Handwerks, in ihrer Einfachheit und Funktionalität waren sie aber Vorformen einer neuen Ästhetik der industriellen Produktgestaltung. Die Minderheit half später den Jugendstil zu überwinden. Die Hauptströmung des Jugendstils war und blieb eine künstlerische Bewegung. Bei ihr dominierte die Ästhetisierung der Gebrauchsformen über den funktionellen Aspekt. Um den Entwerfer im Jugendstil vom späteren Industriedesigner abzuheben, wurde in der Geschichtsschreibung vorgeschlagen, ihn «artist-designer» zu nennen.2 «Im Wesentlichen ist der Jugendstil eine private Mäzenaten- und Künstler-Kunst, mit der sich Teile der Geld- und Adels-Aristokratie ein kulturelles Sonderprivileg verschafften. In der Eleganz der Formensprache spiegelte sich das kulturelle Selbstverständnis einer dünnen Elite-Schicht, die den Stil der Verfeinerung als angemessen empfand und entsprechend honorierte.»3 Sie konnte sich das Vorrecht der Befreiung aus der historistischen Enge und den erstarrten Konventionen der Vergangenheit leisten. — 1 Beat Schneider, Penthesilea, S. 266. 2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 30. 3 Ebenda, S. 34.
des im historistischen Stil gebauten Polytechnikums in Zürich (heute ETH), die theoretische Debatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Semper gehörte zu den Ersten, die sich dafür einsetzten, die ästhetische Qualität der Erzeugnisse des Industriezeitalters zu verbessern. Er kümmerte sich um die Reform des Unterrichts, plädierte für eine Lehre von «hoher und industrieller Kunst» und verlangte für den Entwurf «kunsttechnischer Produkte» die Einheit von Form, Material und Funktion. Er nahm damit Ideen und Unterrichtskonzepte der Kunstgewerbeschulen des 20. Jahrhunderts, namentlich des Bauhauses, vorweg.5 Jugendstiltheoretiker Henry van de Velde (1863–1957) war mit seinem grossem Einfluss auf die Theorie die zentrale Figur des internationalen Jugendstils. Er forderte die Kunst in der Gestaltung und strebte den Raum als Gesamtkunstwerk an, doch er verband das organische Ornament stärker als andere mit dem Gedanken der Funktion. In der Theorie ging er über Morris hinaus und stand auf der Schwelle zum
— 3 Zitiert aus: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Designs, S. 50. 4 Zitiert aus: Ebenda, S. 51. 5 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 46.
34 2. Industriekritik von Arts & Crafts bis zum Jugendstil
Meilensteine
Abb. 26: Christopher Dresser: Suppenkelle, 1879. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 166.
Abb. 27: Christopher Dresser: Teekanne, 1879. «Electroplated» (versilbert), schwarz gebeizter Griff. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 108.
Die lohnabhängigen Massen mussten sich im besten Fall mit industriell produzierten Jugendstil-Imitaten zufrieden geben. Der Wunsch nach einem von edler Kunst und überirdischer Schönheit durchdrungenen Dasein war im Treibhausklima der satten und dekadenten Zeit um die Jahrhundertwende aufgekommen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die schöne Dekoration des gehobenen Alltags jäh abgebrochen. Der Jugendstil erwachte aus seinem Traum: 1914 wurde die Schönheit durch die Wirklichkeit eingeholt. Wir können uns dem folgenden Urteil von Thomas Hauffe anschliessen: «Der internationale Jugendstil war eine Reformbewegung, die heute als eigentlich gescheitert angesehen werden muss. Der berechtigte Aufstand gegen den Historismus und die schlechte industrielle Massenware führte in vielerlei Hinsicht auch rückwärts und verzögerte die Entwicklung des modernen Industriedesigns.»4 — 4 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 51.
Theorie
Industriedesign, wie folgende Äusserung belegt: «Ich (…) wollte nicht die Maschine und die maschinelle Herstellung diskreditieren, im Gegenteil: Wir waren der Meinung, dass die Schöpfung von Modellen und die Wahl der Materialien beim industriellen Herstellungsprozess Künstlern anvertraut werden müssten. Wir sahen darin weder Abstieg noch Erniedrigung.»6 Und der Schweizer Jugendstilvertreter Hermann Obrist (1863–1927) führte aus: «Wir sind uns alle klar darüber, dass ein gesundes Volkshandwerk nur möglich ist aufgrund einfacher, ehrlicher, praktischer, unbedingt zweckmässiger Formen.»7
— 6 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 57. 7 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 48.
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— Kommentar
Das Grunddilemma des Designs Die gestalterischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts machen ein Grunddilemma deutlich, in dem die Designer und Designerinnen bis heute stehen: Wie verhält sich das Design gegenüber der Industrie oder, genauer, gegenüber dem realen industriellen Verwertungsprozess ? Ignoriert es diesen, oder bäumt es sich gegen ihn auf? Oder geht es von der realen Entwicklung der Produktivkräfte aus? Otl Aicher, ein Vertreter der Ulmer Schule, sollte dieses Dilemma später so formulieren: «ist design angewandte kunst (…) oder eine disziplin, die ihre kriterien aus ihrer aufgabenstellung, dem gebrauch, aus der fertigung und technologie bezieht?»1 Die Vertreter von Arts & Crafts und Jugendstil lösen das Dilemma mehrheitlich so, dass sie die industrielle Entwicklung zur Massenproduktion, die ihnen als Künstler fremd ist, ablehnen. Sie gehen stattdessen einen Schritt zurück in das vorindustrielle Kunsthandwerk und haben damit kurzfristig Erfolg, wenigstens auf dem gehobenen Markt. Diese romantische Regression musste aber notwendigerweise scheitern, weil sie auf etwas rekurrierte, dem in der historischen Entwicklung ökonomisch der Boden unter den Füssen weggenommen worden war. Nicht nur ökonomisch, sondern auch ästhetisch erwies sich dieser Versuch als überholt, denn schon bald gab es Designvertreter, die funktionale Formprinzipien entwickelten, welche rasch auch eine maschinelle Produktionsweise erlauben sollten. 2 Das Dilemma wird durch eine soziologische und psychologische Komponente verstärkt: Da viele Designer und Designerinnen als selbständige Künstler in die Profession gelangen, betreiben sie diese auch aus einem künstlerisch-individualistischen Rollenverständnis heraus. Sie haben zur industriel-
len Produktion in der Regel keine Affinität. Diejenigen, die nicht von der Kunst her kommen, projizieren sich – psychologisch gesprochen – zumindest gern in die sozial honorierte Rolle des Künstlers hinein. Sie pflegen im Design den Mythos des genialen Künstler-Entwerfers. Dieser Mythos hat in den allermeisten Fällen mit der Realität nicht viel zu tun. Neben dem Grossteil der Reformbewegungen können auch andere historische Bewegungen aufgezählt werden, die die künstlerisch-kunsthandwerkliches Lösung bevorzugten: — im Deutschen Werkbund und dann auch im Staatlichen Bauhaus das künstlerisch orientierte Lager; die Antidesignbewegung der sechziger Jahre des 20.Jahrhunderts; — das Studio Alchimia und Memphis sowie weitere Teile des postmodernen Designs. Für die industrielle Lösung lassen sich jedoch auch Anhänger aufzählen: — die Minderheit der Arts & Crafts- und Jugendstilbewegung, die sich auf die Industrie zu bewegte; — im Deutschen Werkbund das industrieorientierte Lager um Muthesius, Behrens und andere; — im Staatlichen Bauhaus das konstruktiv orientierte Lager und die Vertreter der Neuen Typografie; — die Bewegung um die Ulmer Hochschule für Gestaltung; — das Bel Design in Italien; — die Neue Grafik in den fünfziger und sechziger Jahren. — 1 Otl Aicher, Bauhaus und Ulm, in: Herbert Lindinger (Hg.), Hochschule für Gestaltung Ulm. Die Moral der Gegenstände. Berlin, 1987, S. 126. 2 Wolfart Henckmann, Konrad Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, München, 1992, S. 40.
3.VORMODERNE IN CHICAGO, GLASGOW UND WIEN
38 3. Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien
— Wirtschaftliches und Soziales
Design und Massenproduktion Entscheidend für die Entstehung des Designs in seiner Anfangsphase war es, das Verhältnis der Beteiligten zur industriellen Produktion zu klären. Wichtige Impulse gingen – wie in Kapitel 2 beschrieben – von den künstlerischen und kunsthandwerklichen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts aus. In der Arts & Crafts- wie auch in der Jugendstil-Bewegung endete die Kritik an der industriellen Massenproduktion jedoch meist im Rückzug in die Vergangenheit und in der Pflege kunsthandwerklicher Befindlichkeit. Trotzdem fanden wichtige Vertreter des Jugendstils wie Henry van de Velde zu einer sachlichen Formensprache, und Designer wie Peter Behrens wandten sich neuen Aufgaben in der Industrie zu. Der Weg zur wirklichen Gestaltung von Massenprodukten des Alltags – zum modernen Design also – wurde um die Jahrhundertwende an verschiedenen Orten und von verschiedenen ProtagonistInnen geebnet.
39 3.Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien
Meilensteine
Theorie
Abb. 28: Louis H. Sullivan: Pieri & Scott-Warenhaus in Chicago, 1894–1904. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 36.
Abb. 29: Frank Lloyd Wright: Stühle für das Isabel Roberts House und für das Francis Little House, 1908 und 1902. Von Stühlen wie diesen wurde später Rietveld (De Stijl) beeinflusst. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 139.
Abb 30: Charles Rennie Mackintosh: Rekonstruktion des Gastschlafzimmers in 78 Derngate Northampton, 1919. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 148.
Die Schule von Chicago Chicago, ein bedeutender Standort für Schwerindustrie und Stahlerzeugung, Hauptumschlagplatz für Getreide und Vieh aus dem Mittelwesten, wurde zu einem der Zentren der frühen Moderne. Sullivan, Burnham, Cooldige, Le Baron Jenney, Hollabird, F.L. Wright und andere, die zusammen die so genannte Schule von Chicago bildeten, nutzten nach dem Stadtbrand von 1871 die einmalige Gelegenheit des Neuaufbaus der Stadt und unterwarfen sich dem Gebot der Bodenknappheit in der Innenstadt, um mit Stahlskelettkonstruktionen die ersten Verwaltungs- und Geschäftshochhäuser zu bauen. Die Skelettkonstruktionen prägten auch die Fassaden dieser ersten Wolkenkratzer. Sie wurden streng vertikal und horizontal gegliedert. Die Bauästhetik wurde vorwiegend von der Konstruktion bestimmt (Abb. 28) (vgl. nebenstehenden Abschnitt «Form follows function»). Der Einfluss der Schule von Chicago beschränkte sich nicht auf die Architektur, sondern erstreckte sich auch auf die Innenarchitektur und das Design. Frank Lloyd Wright Frank Lloyd Wright (1867–1959), ein ausgebildeter Ingenieur und früher Mitarbeiter von Louis H. Sullivan (1856–1924), wurde einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Er kombinierte einfache und naturnahe Materialien mit modernen Baustoffen, zum Beispiel Glas und Beton mit Holz und Naturstein. Er wurde ab 1910 zum wichtigen Impulsgeber der europäischen Moderne. Wright war Vorbild für Gropius, Mies van der Rohe, Behrens und auch für die De-Stijl-Bewegung. Er bekannte sich zumindest theoretisch zur maschinellen Produktion von Möbeln (Abb. 29).
Form follows function: Funktionalismus Louis H. Sullivan (1856–1924) wurde einer der Väter der modernen Architektur und ein früher Theoretiker des Funktionalismus. Von ihm stammt der oft missverstandene, aber viel zitierte Satz «Form follows function», der für die moderne Baukunst, das Design und die Moderne des 20. Jahrhunderts insgesamt richtungsweisend wurde. Die ästhetische Form ergibt sich aus der funktionellen Aufgabe der einzelnen Bauelemente und des gesamten Bauwerks. Auf diese Grundidee bezogen sich die Vertreter des Funktionalismus vom Deutschen Werkbund über das Staatliche Bauhaus und die Hochschule für Gestaltung in Ulm bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sullivan übertrug auf die Architektur, was Gottfried Semper bereits 1852 für das handwerkliche Produkt gefordert hatte: dass die Form «jedes technischen Erzeugnisses das Resultat von Zweck und Material» sei. 1896 behauptete Otto Wagner (Wiener Moderne): «Nichts, was nicht brauchbar ist, kann auch schön sein.» Bruno Taut (Staatliches Bauhaus) formulierte noch später: «Die Brauchbarkeit wird zum eigentlichen Inhalt der Ästhetik.»1 Mit anderen Worten: Was brauchbar ist, ist wahr und folglich auch schön.
— 1 Zitiert aus: Walter Ammann, Baustilkunde, 1988, S. 35.
40 3.Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien
Meilensteine
Theorie
Abb. 31: Charles Rennie Mackintosh: Plakat für «The Scottish Musical Review», 1896. Solch abstrakte Interpretationen der menschlichen Figur wie die auf dem 2, 46 Meter grossen Plakat waren vorher nicht gesehen worden. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 212.
Abb. 32: Edward Johnston: Das U-Bahn- Logo, 1908. Quelle: Volker Albus et al (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 50.
Abb. 33: Otto Wagner: Majolikahaus, Wien, 1898–99. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 63.
Die Glasgow School of Art In der von Architekten und KünstlerInnen in der schottischen Hafenstadt Glasgow in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründeten Glasgow School of Art entstanden in der Blütezeit des Jugendstils neue sachliche Formen. Ornamente (florale Kurven) und Symbole wurden sparsam eingesetzt, bevorzugte Farben waren vor allem Schwarz und Weiss. Die zentrale Figur dieser Gruppe war Charles R. Mackintosh (1868–1928), dessen geometrische Formen, flächige, brettartige Konstruktionen mit Waagrechten und Senkrechten, zum wichtigen Impulsgeber für das moderne Design wurden (Abb. 30). Seine strengen Möbelformen nahmen die konstruktivistischen Tendenzen des späteren niederländischen «De Stijl» vorweg. Mit seinen Veröffentlichungen und Ausstellungen hatte Mackintosh auf dem europäischen Festland Einfluss auf die Wiener Moderne (vgl. unten). Das Grafikdesign der Glasgower Schule zeichnete sich durch symbolische Bildwelten und stilisierte Formen und Figuren aus (Abb. 31) (vgl. den Abschnitt «Charles R. Mackintosh»). Die Londoner U-Bahn 1890 wurde das erste elektrische U-Bahn-System in London eröffnet, und für die Underground Electric Railway wurde viel Werbung gemacht. In den ersten beiden Jahrzehnten war die Plakatwerbung eklektisch. Es war ein Direktor der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) in Berlin (vgl. Kapitel 4), der die Londoner zum Entwurf eines verständlichen Firmendesigns brachte. Ab 1908 machte ein einfaches Logo mit einer funktionalen Schrift, beides von Edward Johnston (Abb. 32), an den Eingängen und auf Plakaten auf die U-Bahn aufmerksam.
Der Funktionalismus ist nichts prinzipiell Neues. Schon immer wurde für einen bestimmten Zweck, sei es für Gebrauchsgüter, sei es für Häuser, die ideale Form gesucht. Es ist eine Grundkonstante des Kunstschaffens, einem Gegenstand zur Befriedigung der Bedürfnisse der BenutzerInnen auch eine ideale Form zu geben. Doch im industriellen Zeitalter dringt der Funktionalismus am besten durch. Bei Fabrikgebäuden ist der Zweck ausschlaggebend. In der Architektur tritt der Funktionalismus nur zögernd in Erscheinung, am ehesten jedoch bei den Wohnbauten. Bei Kirchen und staatlichen Gebäuden überwiegt die repräsentative (Fassaden-) Funktion. Charles R. Mackintosh Das künstlerische Glaubensbekenntnis von Macintosh kommt am besten in einem Brief an Fritz Waerndorfer, einen Vertreter der Wiener Werkstätte, von 1903 zum Ausdruck: «Jeder Gegenstand (…) muss eine ausgesprochene Marke von Individualität, Schönheit und exakter Ausführung tragen. Ihr Ziel muss von allem Anfang an das sein, dass jeder Gegenstand den Sie erzeugen, für einen bestimmten Zweck und Platz gemacht wird. Später, wenn Ihre Hände und Ihre Position durch hohe Qualität Ihres Produkts und durch finanzielle Erfolge gekräftigt sind, dann können Sie kühn in
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Abb. 34: Otto Wagner: Armstuhl für den Büroraum des österreichischen Postamtes, 1905–06. Der Stuhl zeichnete sich durch seine Modernität aus. Die Beschläge aus Aluminium fungierten nicht nur als Schmuck, sondern schützten die Möbel auch an ihrer empfindlichsten Stelle. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 115.
Abb. 35: Josef Hoffmann: Schrank für Schlafzimmer, 1904. Grau lackiert, innen mit Ahorn fourniert. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 46.
Die Wiener Moderne und die Wiener Werkstätte Wie die anderen Jugendstilbewegungen war die Wiener Künstlervereinigung «Secession» gegen die traditionellen Kunstakademien und den Historismus gerichtet. Auch die Wiener Moderne beruhte auf dem Gedanken des Gesamtkunstwerks und der Handwerksreform. Ihre bekanntesten Vertreter waren der Maler Gustav Klimt (1862–1918) (Abb. 37) und der Architekt, Möbeldesigner und Stadtplaner Otto Wagner (1841–1918) (Abb. 33, 34). Otto Wagner entwickelte den so genannten «Nutzstil», eine von Funktion, Material und Konstruktion bestimmte Architektur. Aus den Reihen der «Secession» ging die 1903 gegründete Wiener Werkstätte hervor, eine «Productiv-Genossenschaft von Kunsthandwerkern». Wichtige Vertreter waren: Koloman Moser (1868–1918) (Abb. 36, 38, 39) und Josef Hoffmann (1870–1956) (Abb. 35). Die Wiener Werkstätte entwickelte nicht zuletzt unter dem direkten Einfluss von Charles Mackintosh und in krassem Gegensatz zum üblichen floralen Ornament des Jugendstils eine klare Formensprache, welche durch Rechtwinkligkeit und strenge Linienführung geprägt war. Das Quadrat wurde zum alles beherrschenden Designelement für Grafik, Schmuck und Möbel (vgl. den Abschnitt «Wiener Werkstätte»). Der Jugendstil wurde langsam überwunden. Das berühmteste Gesamtkunstwerk der Werkstätte ist das Palais Stoclet von Josef Hoffmann, das 1906–1911 in Brüssel errichtet wurde. Auch die Wiener Werkstätte verstand sich als Enklave inmitten des «grenzenlosen Unheils der Massenproduktion» (Josef Hoffmann). Sie teilte das Schicksal der Jugendstilbewegungen: die Produktion von kunstvollen Einzelstücken für die Elite, Design für den Bürgersalon. Die Konfrontation mit der
Abb. 36: Koloman Moser: Armstuhl für die Haupthalle des Purkendorfer Sanatoriums, 1902. Der Stuhl nimmt in seiner kubischen Gestalt und dem sparsamen Einsatz von Farbe die Moderne vorweg. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 116.
das volle Licht der Welt hinaustreten, den Fabrikhandel auf seinem eigenen Grund und Boden angreifen, und das grösste Werk, das in diesem Jahrhundert vollbracht werden kann, können Sie vollbringen: nämlich die Erzeugung aller Gebrauchsgegenstände in herrlicher Form und zu einem solchen Preis, dass Sie in dem Kaufbereich der Ärmsten liegen, und in solchen Mengen, dass der gewöhnliche Mann auf der Strasse gezwungen ist, sie zu kaufen, weil er nichts anderes bekommt und weil er nichts anderes wird kaufen wollen.»2 Wiener Werkstätte 1903 gründeten K. Moser und J. Hoffmann die Wiener Werkstätte. 1905 beschrieben sie die Zielsetzung der Manufaktur im Arbeitsprogramm: «Wir wollen einen innigen Kontakt zwischen Publikum, Entwerfer und Handwerker herstellen und gutes, einfaches Hausgerät schaffen. Wir gehen vom Zweck aus, die Gebrauchsfähigkeit ist uns erste Bedingung, unsere Stärke soll in guten Verhältnissen und guter Materialbehandlung bestehen. Wo es angeht, werden wir zu schmücken suchen, doch ohne Zwang und nicht um jeden Preis.»3
— 2 Zitiert aus: Art. Das Kunstmagazin 1, 2004, S. 42. 3 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Designs, Frankfurt a.M., 2000, S. 75.
42 3.Vormoderne in Chicago, Glasgow und Wien
Meilensteine
Theorie
Abb. 37: Gustav Klimt: Plakat für die erste Ausstellung der Wiener «Secession», 1898. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 215.
Abb. 38: Koloman Moser: Plakat für die fünfte Ausstellung der Wiener «Secession», 1899. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 215.
Abb. 39: Koloman Moser: Plakat für die 13. Ausstellung der Wiener «Secession», 1902. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 219.Der Vergleich der Plakate (Abb. 37, 38 und 39) zeigt die rapide Entwicklung der Gruppe vom illustrativen allegorischen Stil der symbolistischen Malerei über den französisch inspirierten floralen Stil hin zum späten Stil, der deutlich den Einfluss der Glasgower Schule zeigt.
Industrie wurde kaum gesucht. Anders als der Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, Peter Behrens (vgl. Kapitel 4), war die Wiener Werkstätte nie am Design von Massenkonsumgütern interessiert. Der Architekt Adolf Loos (1870–1932) (Abb. 40) führte eine scharfe Polemik gegen die Wiener Werkstätte. In einem Vortrag über das «Wiener Weh» kam Loos zum Kern der Sache: «Der moderne geist ist ein sozialer geist, moderne gegenstände sind nicht nur für eine oberschicht da, sondern für jeden.»1 (Vgl. den Abschnitt «Ornament und Verbrechen».) Adolf Loos wurde mit Bauten wie dem Café-Museum in Wien (1899) zu einem der Wegbereiter der strengen Formensprache des Funktionalismus. Wiener Moderne wie Glasgow School gehörten zum Jugendstil, bildeten aber eine Minderheit. Auch sie verstanden sich als Künstler, die auf ein hoch stehendes Handwerk abzielten. Doch die Einfachheit und Funktionalität ihres Designs trugen dazu bei, den Jugendstil zu überwinden und Vorformen einer neuen industriellen Ästhetik zu schaffen. Die Darmstädter Künstlerkolonie Um die Jahrhundertwende initiierten Joseph Maria Olbrich (1867–1908), Mitbegründer der Wiener Secession, und Peter Behrens (1868–1940), einer der Begründer der Münchner Werkstätten, auf Einladung des Grossherzogs Ernst Ludwig von Hessen die Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe. Der Grossherzog wollte bezahlbare Häuser für den Darmstädter Mittelstand und träumte von einer neuen, reformierten Wohnkultur. Der Architekt Olbrich, der zwischen spielerischer Dekoration und funktionalem Aufbau schwankte, schuf die Mathildener Anlage samt Ateliers,
Ornament und Verbrechen Adolf Loos (1870–1933), österreichischer Architekt und Theoretiker, der das Ornament vehement ablehnte, forderte in seinen zahlreichen stiltheoretischen Veröffentlichungen eine rein funktionale Formgebung in Architektur und Design. Er war ein Gegner dekorativer Strömungen innerhalb der Wiener «Secession» und stellte sich 1908 in seiner berühmten Schrift Ornament und Verbrechen gegen sie. Zu seinen bekanntesten Werken zählen das Café-Museum in Wien (1899) und die Villa Karma in Clarens (Schweiz, 1906). In Ornament und Verbrechen bekennt Loos: «Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit (…) Heute bedeutet es auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital (…) der moderne mensch, der mensch mit den modernen nerven, braucht das ornament nicht, er verabscheut es.»4 Für Loos bedeutete das «entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstand» auch sozialen Fortschritt. Er ging dabei von dem Gedanken aus, dass bei der Herstellung einfacher, zweckmässiger Gebrauchsgegenstände ohne sinnlos repräsentierende Ornamentik (und deren modische Wechsel im Sinne des Styling) der Arbeitsaufwand geringer, die Arbeitsproduktivität und sogar der Arbeitslohn aber höher sein müssten. Lebensdauer und Gebrauchs-
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Abb. 40: Adolf Loos: Wohn- und Geschäftshaus Goldman & Salatsch in Wien, 1909–11. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 88.
Abb. 41: Joseph Maria Olbrich: Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, 1900–1908. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20.Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 85.
Ausstellungshalle und Wohnhäusern (Abb. 41). Behrens, der später einer der ersten modernen Industriedesigner wurde (vgl. Kapitel 4), entwickelte während seiner Darmstädter Zeit in seinem vom Grundriss bis zum Geschirr entworfenen Haus eine sachliche Formensprache. Die Künstlerkolonie präsentierte 1904 das Ergebnis ihrer Arbeit in einer Ausstellung: einfache, behagliche Wohnräume und künstlerisch geprägte Serienfabrikate. — 1 Zitiert aus: Art. Das Kunstmagagzin,1, 2004, S. 42.
wert der Produkte werden für ihn zum ausschlaggebenden Faktor.5
— 4 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 56. 5 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 93.
4. DEUTSCHER WERKBUND ZWISCHEN KUNST UND INDUSTRIE
46 4. Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie
— Wirtschaftliches und Soziales
Deutsches Reich: durch Design konkurrenzfähiger Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte unter den Nationalstaaten Europas ein heftiger wirtschaftlicher und politischer Konkurrenzkampf um die Eroberung neuer und den Ausbau bestehender Märkte. Am deutlichsten kam das bei den Weltausstellungen, den internationalen Wettbewerbsschauen, zum Ausdruck. Deutsche Produkte hatten damals wegen ihrer Qualität einen schlechten Ruf. 1876 hatte der offizielle deutsche Berichterstatter der Weltausstellung in Philadelphia (USA) «von der schwersten Niederlage Deutschlands» gesprochen, die Folge der Devise «billig und schlecht» sei.1 Durch zeitgemässe und gute Gestaltung sollte nun dem schlechten Ruf deutscher Industrieerzeugnisse begegnet werden, damit sie auf dem Binnen- wie vor allem auf dem Weltmarkt wieder konkurrenzfähiger würden. Industrielle Massenware sollte mit künstlerischem Anspruch gestaltet werden, qualitätsvoll, schlicht und auch für die Arbeiterhaushalte erschwinglich sein. Der Ort, an dem dafür gesorgt wurde, dass es nicht beim Appell blieb, war der 1907 gegründete Deutsche Werkbund. Diese bald sehr einflussreiche Organisation unterstützte an vorderster Front die Umsetzung der gestalterisch-wirtschaftlichen Ziele. Einer ihrer Wortführer, Hermann Muthesius (1861–1927), preussischer Staatsbeamter und Architekt, formulierte unverblümt die wirtschaftlichen und nationalistisch-imperialistischen Motive des Werkbundes: «Von der Überzeugung ausgehend, dass es für Deutschland eine Lebensfrage ist, seine Produktion mehr und mehr zu veredeln, hat der Deutsche Werkbund als eine Vereinigung von Künstlern, Industriellen und Kaufleuten sein Augenmerk darauf zu richten, die Vorbedingungen für einen kunstindustriellen
Export zu schaffen.» Er fuhr fort: «Es gilt, mehr als die Welt zu beherrschen, mehr als sie zu finanzieren, sie zu unterrichten, sie mit Waren und Gütern zu überschwemmen. Es gilt, ihr das Gesicht zu geben. Erst das Volk, das diese Tat vollbringt, steht wahrhaft an der Spitze der Welt, und Deutschland muss dieses Volk werden.»2 — 1 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 51. 2 Zitiert aus: Julius Posener, Anfänge des Funktionalismus, Frankfurt a.M., 1964, S. 205 und Julius Posener, Der Deutsche Werkbund. Beilage zu Werk und Zeit Nr. 5, 1970, S. 42.
48 4. Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie
Meilensteine
Abb. 42: Ludwig Mies van der Rohe: Miethausblock mit 24 Wohnungen, 1927. Er überragt das Gelände und bildet den Mittelpunkt der Weissenhofsiedlung und das Kernstück der Stuttgarter Werkbundausstellung «Die Wohnung». Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 163.
Der Deutsche Werkbund Der Deutsche Werkbund wurde 1907 als Vereinigung von Unternehmern, Architekten, Künstlern und Kunsthandwerkern von Peter Behrens, Hermann Muthesius, Henry van de Velde, Joseph Olbrich (Abb. 41)und anderen gegründet. Werkbünde wurden 1910 auch in Österreich, 1913 in der Schweiz1, 1915 in Grossbritannien («Design and Industries Association») und 1917 in Schweden ins Leben gerufen. In der Satzung des Deutschen Werkbundes von 1908 wurden hehre Ziele formuliert: «Der Zweck des Bundes ist die Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen.»2 Darin klingt an, was der Werkbund auch in Realität war: eine Vereinigung von einander widersprechenden, traditionellen wie zukunftsweisenden Vorstellungen von gestalterischen Funktionen.3 Im Unterschied zu seinem Vorbild, der Arts & Crafts-Bewegung, liess sich der Werkbund auf die modernen industriellen Produktionsbedingungen ein. Er war mehrheitlich nicht maschinenfeindlich, sondern suchte die Reform auf dem Weg über die Industrie. Allerdings war man sich uneinig über die Richtung, die die Produktgestaltung einschlagen sollte (vgl. unten). Der Werkbund verstand sich als Instrument, das den deutschen «kunstindustriellen Export» verbessern sollte. Die sozialen Theorien und Sozialutopien eines W. Morris und J. Ruskin (vgl. Kapitel 2) machten einem «volkswirtschaftlichen Realismus»4 Platz. Forderten jene die Aufhebung der entfremdeten Industriearbeit durch Rückkehr zur kunsthandwerklichen Produktion, so vertrat der Werkbund die Qualitätssteigerung der nationalen (Export-)Produkte und die Ausweitung des Warenverkehrs.
Theorie
Abb. 43: Hermann Muthesius: Seidenweberei Michels & Cie, Neubabelsberg, 1912. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 95.
Die zwei Standpunkte in der Werkbund-Kontroverse Über den Weg, der in der Produktgestaltung eingeschlagen werden sollte, herrschte im Deutschen Werkbund Uneinigkeit. Die Positionen der beiden Lager formulierten Muthesius und van de Velde: Hermann Muthesius: «Die Architektur und mit ihr das ganze Werkbundschaffensgebiet drängt nach Typisierung und kann nur durch sie diejenige allgemeine Bedeutung wieder erlangen, die ihr in Zeiten harmonischer Kultur eigen war (…) Nur mit der Typisierung, die als Ergebnis einer heilsamen Konzentration aufzufassen ist, kann wieder allgemein geltender, sicherer Geschmack Eingang finden.»1 Und Henry van de Velde hielt dagegen: «So lange es noch Künstler im Werkbund geben wird und so lange diese noch einen Einfluss auf dessen Geschicke haben werden, werden sie gegen jeden Vorschlag eines Kanons oder einer Typisierung protestieren. Der Künstler ist seiner innersten Essenz nach glühender Individualist, freier spontaner Schöpfer (…) Deutschland hingegen hat den grossen Vorzug, noch Gaben zu haben, die den anderen älteren, müderen Völkern abgehen, die Gaben der Erfindung, der persönlichen geistreichen Einfälle. Die Anstrengungen des Werkbundes sollten dahin abzielen, gerade diese Gaben der individuellen Handfertigkeit,
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Abb. 44: Peter Behrens: Wertheim-Stuhl, 1902. Behrens’ strenge Formgebung löste sich von der Formensprache des Jugendstils und wurde typisch für sein weiteres Werk. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 93.
Abb. 45: Peter Behrens: Das Turbinenwerk der AEG in Berlin. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 92.
Der Deutsche Werkbund pflegte ein grosses Elite- und Sendungsbewusstsein. Sein Ziel war die Auslese der besten Kräfte aus Kunst, Industrie und Handwerk und die kulturelle Spitzenstellung in der Gestaltung durch das deutsche Volk. Als Gütezeichen schuf er den Begriff der «Deutschen Wertarbeit». Der Werkbund organisierte 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkriegs) die «Erste Deutsche Werkbundausstellung» in Köln, wo die Pläne und Arbeiten der Mitglieder auf grosses Publikumsinteresse stiessen (Serienmöbel, Haushaltsgegenstände, Schlafwageneinrichtungen usw.). Die Ausstellungsgebäude wurden von Peter Behrens, Walter Gropius, Bruno Taut und Henry van de Velde entworfen. Mit der Kölner Ausstellung erreichte der Werkbund den Zenit seines Einflusses. 1915 erschien das «Deutsche Warenbuch», eine katalogähnliche Zusammenstellung vorbildlich gestalteter Gebrauchsgüter. Nach dem Ersten Weltkrieg, unter dem Eindruck wachsender sozialer Spannungen, wandte sich der Werkbund dem Arbeiterwohnungsbau und dem Entwurf von preiswerten Einrichtungsgegenständen zu. Höhepunkt der «sozialen Ausrichtung» war die berühmte Werkbund-Ausstellung «Die Wohnung» (1927) mit der Weissenhofsiedlung in Stuttgart (Abb. 42). Die Ausstellung wurde zum internationalen Forum der Moderne und des «Neuen Bauens». In der Weissenhofsiedlung wurde unter der Leitung Mies van — 1 Der Schweizerische Werkbund (SWB) gab die Verbandszeitschrift «Das Werk» heraus und organisierte 1918 in Zürich die erste Ausstellung. 2 Zitiert aus: Schwarz, Gloor (Hg), Die Form. Stimme des Werkbundes 1925–34, Gütersloh, 1969, S. 59. 3 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 82. 4 Ebenda, S. 83.
die Freude und den Glauben an die Schönheit einer möglichst differenzierten Ausführung zu pflegen und nicht durch eine Typisierung zu hemmen, gerade in dem Moment, wo das Ausland anfängt, an deutscher Arbeit Interesse zu empfinden.»2 Peter Behrens: Behrens formulierte 1907 den für sein Schaffen wichtigen Satz: «Es gilt, Verzicht auf die Kopie handwerklicher Arbeit, historischer Stilformen und anderer Materialien zu leisten.» Und drei Jahre später, 1910, ergänzt er: «Gerade bei der Elektrotechnik handelt es sich nicht darum, die Formen durch verzierende Zutaten äusserlich zu verschleiern, sondern, weil ihr ein vollkommen neues Wesen innewohnt, die Formen zu finden, die ihren neuen Charakter treffen.»3
— 1 Zitiert aus: Julius Posener, Anfänge des Funktionalismus, 1964, S. 205. 2 Zitiert aus: Posener, ebenda, S. 206. 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 62 und 63.
50 4. Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie
Meilensteine
Abb. 46: Peter Behrens: Katalogausschnitt mit AEG-Teekesseln, 1908. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 217.
Abb. 47: Peter Behrens: AEG-Markenzeichen, 1907; Umschlag des AEG-Buches zur Deutschen Schiffbauausstellung, 1908. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 226.
der Rohes versucht, die Frage nach sozialgerechten Formen der Architektur beispielhaft zu lösen. Von 1926 bis 1934 wurde die Zeitschrift «Die Form» herausgegeben. 1934 wurde der Werkbund aufgelöst und nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet.
Peter Behrens und die AEG Peter Behrens (1868–1940) war Architekt, Grafikdesigner, Industriedesigner, Maler, Mitbegründer der Darmstädter Jugendstil-KünstlerInnenkolonie sowie des Deutschen Werkbundes. Er entwickelte sich vom Jugendstil zur schlichteren, sachlicheren Formensprache des Bauhauses (Abb. 44) und gilt als Schlüsselfigur für die Entwicklung des (funktionalistischen) Designs des 20. Jahrhunderts. 1906 wurde er von der Allgemeinen Electrizitäts-Gesellschaft (AEG) mit dem Entwurf von Werbematerial beauftragt und schliesslich als «künstlerischer Berater» engagiert (Abb. 45–47). AEG war das erste grossindustrielle Unternehmen, das einen «künstlerischen Berater» anstellte. Von 1907–1914 stellte er das Erscheinungsbild des Unternehmens auf den Kopf. Er entwarf das Fabrikgebäude, Ausstellungsräume, Arbeiterwohnungen, Werbemittel (Kataloge, Preislisten), elektrische Hausgeräte und schliesslich die gesamte Corporate Identity (vgl. Kapitel 17). Alles sollte den Wünschen der KäuferInnen angepasst und in betont sachlicher und funktionsgerechter Form gestaltet sein. Behrens strebte bei der maschinellen Produktion von Gegenständen die enge Verbindung von Kunst und Industrie an, ohne Ornamente und überflüssigen Dekor zu verwenden. Die AEG war nach der Jahrhundertwende neben General Electric Company, Westinghouse und Siemens mit ihren über 70 000 Angestellten einer der weltweit führenden Elektrokonzerne. Früher als andere arbeitete die Elektrizitätsgesellschaft nach amerikanischem Vorbild mit modernsten Maschinen und rationellen Organisations- und Produktionsmethoden. Mit ihrer sachlich-modernen Formensprache auf hohem künstlerischem Niveau6 wollte sich die AEG als Vertreterin einer jungen Industrie auch Ansehen im kulturellen
Die zwei Lager des Werkbundes Von Beginn an war der Werkbund in zwei Lager geteilt, und zwischen den Mitgliedern entwickelte sich eine öffentlich ausgetragene Debatte um die Frage der Typisierung: Sollte der Werkbund künftig einer standardisierten, industriellen Massenproduktion (Muthesius) oder einem individuellen, künstlerisch geprägten Stil (van de Velde) folgen? Muthesius (Abb. 43) war der Ansicht, dass man nur durch Typisierung des Entwurfs brauchbare Industrieformen und preiswerte Serienprodukte mit langer Lebensdauer schaffen könne. Van de Velde hingegen verteidigte die individuelle Entwurfsarbeit des Künstlers und hatte individualistisch-künstlerische und elitär-kunsthandwerkliche Produktionsvorstellungen (vgl. den Abschnitt «Die zwei Standpunkte»). Das Grunddilemma des Designs in seiner Haltung gegenüber der Industrie, das bereits im 2. Kapitel zum ersten Mal beschrieben wurde, bestand also auch im Werkbund. Lange Zeit hatte das Lager um van de Velde die Oberhand. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Zuwendung zum sozialen Wohnungsbau und zu preiswerten Einrichtungsgegenständen wendete sich das Blatt zugunsten des Muthesius-Lagers. Doch auch zum «Neue Bauen» gab es im Werkbund kontroverse Haltungen. Die fortschritts- und industriekritischen konservativen Werkbund-Mitglieder begrüssten schliesslich die Kulturpolitik des Nationalsozialismus.5
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Abb. 48: Peter Behrens: Umschlag für Dokumente des Modernen Kunstgewerbes, 1901. Dieses geometrisch-dekorative Design und die serifenlose, quadratisch strukturierte Schrift nahmen das spätere Art Déco der zwanziger und dreissiger Jahre voraus. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 223.
Bereich verschaffen. Hier wurde die Wichtigkeit der Selbstdarstellung eines Unternehmens für die Absatzchancen auf dem Markt erkannt. Behrens’ Arbeit für die AEG machte ihn zum Pionier der modernen Industriekultur und zum ersten modernen Industriedesigner. Der Grafikdesigner und Pionier des Konzeptes des Corporate Designs war auch Promotor der deutschen Typografiereform und Advokat der serifenlosen Schrift (Abb. 48) (Serife: bei der Antiqua die kleinen Abschluss- und Begrenzungsstriche an Fuss und Kopf der Buchstaben). — 5 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 61. 6 Ebenda, S. 63.
52 4. Deutscher Werkbund zwischen Kunst und Industrie
— Kommentar
Designtheorie als Ideologie Die Ideale des Deutschen Werkbundes galten der hohen gestalterischen Qualitätsarbeit, der Steigerung des Gebrauchswertes der Produkte und der Befriedigung der Interessen der BenutzerInnen. Damit verbunden war ein kulturelles Ideal, das in der Verbindung von künstlerischen Ansprüchen mit sozialen Anliegen der Gesellschaft bestand. Stichwort: Erziehung der Massen zum «guten Geschmack» durch «gutes Design für alle». In der Tat war das Tun der EntwerferInnen, wie oben dargestellt, ganz anderen Interessen untergeordnet. Es galt vor allem der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Produkte auf dem internationalen Markt. Mit der besseren Formgebung sollten die Produkte als Waren wettbewerbstauglicher gemacht werden. Der Widerspruch zwischen propagiertem Ideal (und Selbstverständnis) einerseits und praktisch-wirtschaftlicher Realität anderseits war den wenigsten Beteiligten bewusst. Die Designerinnen und Designer nahmen kaum zur Kenntnis, dass ihre Ideale in die «höheren» Interessen des Markts eingebettet waren. Wenn die realen Interessen nicht als solche wahrgenommen oder ausgesprochen werden, so werden die Absichtserklärungen, auch wenn sie noch so ehrlich gemeint sind, zur Ideologie. Die ideologische Komponente des Designs besteht in der Verleugnung der nüchternen wirtschaftlichen Interessen und der Verbrämung derselben mit erhabenen künstlerisch-ästhetischen oder benutzerorientierten Absichten. Es wird zwar versichert, die Bemühungen des Designs dienten den Bedürfnissen der Menschen. Die Frage nach dem Interesse hinter der realen Produktion aber bleibt ausgeklammert. Heute geschieht Ähnliches bei der Gestaltung des Corporate
Designs für Firmen (vgl. Kapitel 17). Die Profitinteressen der Firma X, welche für das CD ausschlaggebend sind, werden als «Firmenphilosophie» oder allgemeines kulturelles Interesse mystifiziert. Die ideologische Komponente des Designs der Gegenwart fusst also auf einer langen Tradition.
5. INTERNATIONALER STIL : KONSTRUKTIVISMUS, DE STIJL, BAUHAUS
56 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
— Wirtschaftliches und Soziales
Krisen und Umwälzungen Zwar hatte schon im ganzen 19. Jahrhundert ein Teil der Intelligenz und der künstlerischen Strömungen die Folgen der industriellen Zivilisation kritisiert und diese selbst in Frage gestellt.1 Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu umwälzenden neuen Erkenntnissen und Entwicklungen: Marie Curie entdeckte 1898 die radioaktiven Elemente Polonium und Radium; 1900 publizierte Sigmund Freud seine Traumdeutung und begründete seine Tiefenpsychologie; für die Entdeckung der Röntgenstrahlen erhielt Röntgen 1901 den Nobelpreis; ebenfalls 1901 wurden die ersten drahtlosen Telegramme über den Atlantik gesandt, und 1905 entwickelte Albert Einstein die spezielle Relativitätstheorie. Die Folge all dieser Erneuerungen waren Zweifel am materialistischen Weltbild und eine tiefe geistig-kulturelle Krise der satten bürgerlichen materialistischen Welt des «Fin de siècle». Radikalisierung durch den Ersten Weltkrieg Eine zusätzliche Dimension erhielt die Krise durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Angewidert von Militarismus und Nationalismus brachen auf den Schlachtfeldern Europas für viele Menschen die bürgerlichen und nationalen Ideale zusammen. Für weite Teile der Intelligenz war der Erste Weltkrieg Anlass für den Bruch mit der traditionellen Ordnung und für einen radikalen Neubeginn. Fast alles wurde nun in Frage gestellt. Die Krise der bürgerlichen Lebensordnung und der Zusammenbruch von Weltbildern und Wirklichkeitsbegriffen erfassten die Kunst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden künstlerische Bewegungen, man nennt sie in der Kunstgeschichte Avantgardebewegungen, die grundsätzlich auf jede Wiedergabe der Natur und die Herstellung von illusionärer –
gemeint war täuschender – Wirklichkeit verzichteten. Die Kunst wollte «hässlich» sein und auf den Wohlklang und die Schönfarbigkeit des Impressionismus verzichten. Sie zerstörte die «malerischen Werte» und flüchtete ängstlich vor allem Angenehmen, Gefälligen und Dekorativen. Sie sagte den konventionellen Ausdrucksmitteln wie der Zentralperspektive und der abendländischen Kunsttradition den Kampf an. In der Verachtung der bürgerlichen Kultur, im Kampf gegen ihre «Verlogenheit», im Vorwurf, den brutalen wirtschaftlichen Darwinismus mit einer schönen und idealistischen Kulturfassade zu verkleiden, und in der radikalen Ablehnung dieser Scheinwelt wussten sich sämtliche avantgardistischen Strömungen einig. Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Leben Die avantgardistischen Bewegungen wollten die Kluft zwischen Kunst und Leben in der bürgerlichen Kultur aufheben. Sie wollten die Differenz zwischen ästhetischen und alltäglichen Erfahrungen und damit die Differenz zwischen Hochkunst und Massenkultur beseitigen. Um den Widerspruch zwischen Kunst und Leben – damals eine geläufige programmatische Formel – zu lösen, wurden verschiedene Wege begangen:2 — Es wurde versucht, das Alltagsleben in die Kunst aufzunehmen. Das geeignete Mittel hierfür schien die Zerstörung der bürgerlichen Kunst-Werte zu sein, wie sie Dadaismus, Futurismus, der Verismus in Deutschland und die Bewegungen der Neuen Sachlichkeit propagierten. — Es wurde versucht, das künstlerische Schaffen an ein veränderungspotentes, revolutionäres politisches Handlungssubjekt zu binden. Das organisierte Proletariat wurde der politische Adressat. Die ArbeiterInnenbewegung war für viele avantgardistische KünstlerInnen attraktiv, weil sie sich durch sie einen unmittelbaren Zusammenhang mit den breiten Schichten des arbeitenden Volkes erhofften. Diesen Weg gingen zum Beispiel surrealistische KünstlerInnen, der Konstruktivismus im revolutionären Russland, die Proletkultbewegung in der jungen Sowjetrepublik oder die proletarisch-revolutionären KünstlerInnen im Westen. — Es wurde versucht, die Künste in den gesellschaftlichen
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Reproduktionsprozess zu integrieren. Die Kunst sollte sich aus der Isolation der bürgerlichen Hochkunst lösen und sich der industriellen (Massen-) Produktion annehmen. Diesen Weg verfolgten (durchaus in reformistischem Sinn) der Werkbund und das Staatliche Bauhaus. Die avantgardistischen Strömungen hatten also in allen drei Varianten in irgendeiner Weise ein massenkulturelles Konzept. Kunst und Leben hiess Zusammenführung von Kunst mit dem Alltagsleben, den arbeitenden Massen und der industriellen Produktion. Die Faszination des Technischen Während die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts mehrheitlich zivilisations- und technikkritisch waren und am Anfang des 20. Jahrhunderts die Kritiker der industriellen Massenproduktion noch die Meinungsmehrheit hatten, begann sich um 1920 eine wahre Maschinenbegeisterung durchzusetzen.3 Die avantgardistischen Bewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts hatten in ihrer Mehrheit ein positives Verhältnis zu den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Moderne. Wladimir Kandinsky sprach dies aus: «Die Flügel der Wrights und Blériots sind unsere Flügel. Die Welt beginnt erst.» Auch Walter Gropius (Staatliches Bauhaus) äusserte sich in diesem Sinne: «Wir wollen eine Architektur, die unserer Welt der Maschinen, der Radios und schnellen Autos angepasst ist; eine Architektur, deren Funktion in ihrer Beziehung zur Form klar erkennbar ist.»4 Zu jener Zeit war die Maschine das Symbol für Bewegung und Fortschritt und wurde von vielen als Möglichkeit gesehen, ärmere Bevölkerungsschichten mit erschwinglichen Gütern zu versorgen. Sie wurde daher positiv beurteilt. Die avantgardistische Kunst teilte den Glauben an die Machbarkeit durch Technisierung und Rationalisierung mit Hilfe von Maschinen. Bei der Zusammenführung von Kunst und Leben spielte die Maschine eine Schlüsselrolle. Etwas verallgemeinernd könnte man sagen, dass die avantgardistische Kunst die Metapher der Maschine (oder des Maschinenzeitalters) war. In pointierter Weise trifft das für den Futurismus, den so genannten «Internationalen Stil» oder das deutsche Bauhaus zu.
Annäherung von Kunst und Design Auf diesen Grundlagen – dem massenkulturellen Konzept und der Technologiefreundlichkeit der künstlerischen Bewegungen – ist die Annäherung zwischen Kunst und Design zu Jahrhundertbeginn zu verstehen. Diese Grundlagen waren einem nüchternen Verhältnis der Kunst zur Gestaltung der Alltagsgegenstände förderlich. Wir können im frühen 20. Jahrhundert zwei parallele Entwicklungen feststellen: 1. In Wirtschaft und Industrie zog die voll mechanisierte Produktion ein: Viele Betriebe normierten, typisierten, standardisierten und rationalisierten. Um die Produktivität zu steigern, wurde Ballast abgeworfen. 2. Im gestalterischen Bereich, in Architektur, Kunst und Design, wurde ebenfalls Ballast abgeworfen: Verzierungen und Ornamente waren unzweckmässig für Formen, die der (maschinellen) Funktion folgten. — 1 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Beat Schneider, Penthesilea, S. 288ff. 2 Ebenda, S. 289. 3 Marion Godau, Produktdesign. Eine Einführung mit Beispielen aus der Praxis, Basel, 2003, S. 58. 4 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 295.
58 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Theorie
Abb. 49: Le Corbusier und P. Jeanneret: Doppelhaus 14/15 der Weissenhofsiedlung in Stuttgart, 1927. Die Siedlung vermittelte dem Bauhaus und dem Funktionalismus wichtige Impulse. Le Corbusier sah es gern, wenn seine Häuser zusammen mit Automobilen, hier einem Mercedes-Sportwagen, fotografiert wurden. Automobile, Flugzeuge und Ozeandampfer waren für ihn «Ausleseprodukte» der modernen Maschinenwelt, Typen von maschineller Präzision und Perfektion. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 169.
Abb. 50: Charlotte Perriand: Chaiselongue 2072, ab 1932 (Re-Edition des Stahlrohrklassikers durch Cassina). Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 63.
Abb. 51: Konstantin Melnikow: Sowjetischer Pavillon auf der «Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes» in Paris, 1925. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 145.
Entscheidender Schritt zum modernen industriellen Design Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der deutschen und russischen Revolution, zu einer Zeit, in der überall in Europa die gesellschaftlichen und geistigen Zeichen auf Veränderung und Erneuerung standen, machten sich politische und künstlerisch-gestalterische Avantgarden an die Umsetzung ihrer Ideen. In den Bemühungen um den Aufbau einer neuen, klassenlosen Gesellschaft, in welcher Handarbeit und Kopfarbeit, Kunst und Leben und Kunst und Technik miteinander versöhnt würden, wurden auch die Künste selbst nicht mehr in freie und angewandte Kunst unterteilt. Die KünstlerInnen sollten vielmehr als UniversalgestalterInnen reformerisch und erzieherisch wirken. Die Bewegungen und Institutionen, die in dieser Beziehung eine wichtige Rolle spielten und die entscheidende Schritte auf dem Weg zum modernen industriellen Design machten, waren die holländische De-Stijl-Bewegung, der russische Konstruktivismus und das deutsche Bauhaus. Die Theoriebildung im De Stijl um van Doesburg und Mondrian und im russischen Konstruktivismus um Tatlin und El Lissitzky hatte grossen Einfluss auf das Bauhaus.1 Auch personell waren die drei Bewegungen miteinander verbunden. 1932 wurden sie – auch das Umfeld von Le Corbusier in Frankreich gehörte dazu – von den amerikanischen Architekten Philip Johnson und H.-R. Hitchcock unter dem Begriff «Internationaler Stil» zusammengefasst. Dieser bezog sich zunächst auf die Architektur. Die genannten Bewegungen erstreckten sich aber in sämtliche Bereiche der Gestaltung, so dass «Internationaler Stil» selbstredend die gesamte gestalterische Bewegung meinte. Avantgardistisches Design war in den ersten Jahrzehnten des
Kunst und Leben Das programmatische Grundanliegen der avantgardistischen Kunst, Alltagswirklichkeit und Kunst einander wieder näher zu bringen, war bereits das Ziel des Jugendstils. Die 1896 erstmals in München erschienene Zeitschrift «Jugend» erklärte im Untertitel die Überwindung der Trennung zum Programm: «Wochenschrift für Kunst und Leben». Später, im Jahr 1944, formulierte «Graphis», die Zeitschrift der Schweizer Grafik, dass sie mithelfen wolle, «Kunst wieder ins Leben zu stellen». 1946 schrieb Georgine Oeri zum Schweizer Plakatstil: «Die heutige angewandte Grafik ist (…) die mit dem Leben, dem alltäglichen Bedürfnis zur Deckung gekommene avantgardistische Kunst von gestern.»1 Le Corbusier und die Maschinenmetapher Le Corbusier wendete das industrielle Prinzip nicht nur in der Stadtplanung an (wie das Beispiel des «Plan Voisin» von 1925 zeigt, wo er versucht hat, den Kern der Stadt Paris nach dem Vorbild einer modern organisierten Automobilfabrik in ein neues urbanes Wohnund Arbeitszentrum zu verwandeln), sondern er deutete das industrielle Prinzip von Fabrikbauten auch zu einem Rahmen individueller (Wohn-) Gestaltung um. Er erfand das Haus neu, entwickelte das, was er selber «die
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Abb. 52: Konstantin Roschdestwenskij: Tasse und Untertasse. Lomonossow-Porzellanmanufaktur in Leningrad. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 68.
Abb. 53: El Lissitzky: Titelblatt für Veshch, 1921–22. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 265.
20. Jahrhunderts – mit Ausnahme etwa der «Neuen Typographie» (vgl. unten) – einer relativ kleinen intellektuellen Elite vorbehalten. Der «Internationale Stil» hatte erst in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren Breitenwirkung, indem er mehr oder weniger das ganze gestalterische Tun in Europa, Nordamerika und in vielen Metropolen der südlichen Hemisphäre prägte. Heute kann in der Rückschau festgestellt werden, dass er der erste einigermassen universelle Stil seit der Blüte des Hochmittelalters, des Barock und des Klassizismus und der erste wirklich moderne Stil seit der Renaissance war.2 In den zwanziger und dreissiger Jahren gab es ferner einen nicht funktionalen Modernismus, der parallel zum «Internationalen Stil» verlief (vgl. unten: «Art déco: der nicht funktionale Modernismus»). Konstruktivismus als Revolutionsdesign (1913 – Mitte der zwanziger Jahre) Die moderne Avantgarde hatte schon im vorrevolutionären Russland im bürgerlich-städtischen, allerdings sehr isolierten Milieu ein grosses Echo gefunden. Sie begrüsste fast ausnahmslos die Revolution von 1917, nicht zuletzt, da sie den KünstlerInnen im eigenen Land soziale Wirkungsmöglichkeiten und Perspektiven eröffnete.3 Der 1913 in Russland entstandene Konstruktivismus fand in der jungen Sowjetrepublik ein beachtliches Betätigungsfeld. Viele russische AvantgardekünstlerInnen wie Rodtschenko, El Lissitzky, Tatlin oder Melnikow engagierten sich für die russische Revolution und — 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87. 2 Beat Schneider, Penthesilea, S. 298. 3 Jutta Held et al., Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20.Jahrhundert, Köln, 1993.
Abb. 54: El Lissitzky: Schlag die Weissen mit dem roten Pfeil, 1919. Der rote Pfeil als Emblem der Roten Armee. Der Slogan des Kampfes gegen die weissen Truppen wird visuell umgesetzt. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 264.
Wohnmaschine» nannte, und trieb damit die Anlehnung an die Maschinenmetapher auf die Spitze (Abb. 49). Er schrieb in «L’Esprit Nouveau»: «Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen, Bäder, Sonne, heisses und kaltes Wasser, Temperatur, die man nach Belieben umstellen kann, Aufbewahrung der Speisen, Hygiene, Schönheit durch gute Proportionen. Ein Sessel ist eine Maschine zum Sitzen (…) Die Waschbecken sind Maschinen zum Waschen.»2 (Abb. 50.) Und die einzig denkbare Grundlage einer Baukunst, die der präzisen Maschinenwelt entspricht, war für Le Corbusier die Mathematik, im Besonderen die Geometrie: Prismen, Würfel, Zylinder, Pyramiden und Kugeln als «reine Volumen». Russischer Konstruktivismus: Wladimir Tatlin Tatlin beschreibt seinen Konstruktivismus so: «Auf dem Gebiete der Möbel und anderer Gebrauchsgegenstände befindet sich die Arbeit noch im Anfangsstadium; die Einrichtung neuer, für unser tägliches Leben unverzichtbarer kultureller Einrichtungen, in denen die arbeitenden Massen leben, denken und sich
— 1 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, Zürich, 2000, S. 71. 2 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 272.
60 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Theorie
Abb. 55: El Lissitzky: Titelblatt von «De Stijl», 1922. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 274.
Abb. 56: El Lissitzky: Plakat für eine Ausstellung in der Schweiz, 1929. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau, die hier zu einer Einheit geklont sind, ist in einer traditionell von Männern dominierten Gesellschaft, wie Russland eine war, eine bezeichnende symbolische Kommunikation. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 268.
Abb. 57: Alexander Rodtschenko: Plakat, 1937. Die Fotomontage zeigt den überlebensgrossen Lenin, dessen Hand symbolisch die Masse kontaktiert. Das «Podium» ist ein Ausschnitt aus der Zeitung «Prawda», die Frieden, Brot und Land proklamiert. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 269.
hatten die einzigartige Gelegenheit, Architektur, Kunst, Design, Typografie, Dekoration und Mode in den Dienst der Propagierung und des Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu stellen. Sie wandten sich von der Kunst um ihrer selbst willen ab und widmeten ihre Arbeit der Alltagskunst: dem Industriedesign und der visuellen Kommunikation (Grafikdesign). Sie entwarfen Gebäude und Gebrauchsgegenstände wie Möbel, Kleider und Geschirr, welche sich durch ein hohes Mass an Standardisierung für die Massenproduktion eigneten (Abb. 52). «Neu war (…) in der Sowjetunion die vereinzelt in die Tat umgesetzte Forderung nach Integration des Künstlers in die Produktionsprozesse der Fabrik, um nicht nur auf die Gestalt der Produkte Einfluss zu nehmen, sondern auch auf die Tätigkeit der Arbeit selbst!»4 Der Konstruktivismus, der sich vom Kubismus und Futurismus ableitete, bekannte sich zur modernen industriellen Technik und verstand sich als eine Kultur der Materialien. Die KonstruktivistInnen konstruierten eine abstrakt-geometrische Formensprache und fanden so eine der Technik adäquate Ästhetik. Die gegenstandslose Geometrie war ein ästhetisches Zeichen für eine internationale und klassenlose Gesellschaft. Die meisten KünstlerInnen arbeiteten an den Höheren Staatlichen Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WCHUTEMAS), in Abteilungen, in denen die verschiedenen Materialien gestaltet wurden: Holz, Metall, Keramik und textile Stoffe. Nicht alle russischen Avantgardisten setzten die Akzente gleich. Während Wladimir Tatlin, El Lissitzky und Alexander Rodtschenko angewandte Kunst (im Dienst des Alltagslebens) statt reiner Ästhetik forderten, betonten W. Kandinsky oder A. Pevsner das Geistige in der Kunst, und K. Malewitsch legte das Primat auf die freie Kunst.
entwickeln können, fordert vom Künstler nicht nur ein Gefühl für das äusserlich Dekorative, sondern auch – und vor allem – ein Gefühl für die Dinge, die sich für das moderne Dasein und seine Dialektik eignen.»3 K. Hutten meint zu Tatlin: «Die Theorie hinter Tatlins Konstruktivismus ist: eine rationale Konstruktion, eine logische Struktur, beruhend auf den Eigenschaften des Materials, d. h. die grundlegenden Ideen, die gleichermassen für die Kunst wie für die revolutionäre Gesellschaft gelten.»4 Zur revolutionären Gestaltung äussert sich D. Bucher: «Sich in die architektonischen Entwürfe der Avantgarde einzufühlen ist nicht immer einfach. Beton ist heute nicht nur ein Baustoff, sondern illustrierende Metapher für eine versteinerte Gesellschaft. Da sind betonierte Träume, gar soziale, kaum vorstellbar. Dagegen steht das fortschrittsbegeisterte Bejubeln der neuen Materialien, beispielsweise durch Leo Trotzki: ‹Die künftige Epoche ist die Epoche des Eisens, des Betons und des Glases.› Missverständnisse zwischen den heutigen BetrachterInnen und den Idealkonzeptionen der revolutionären Baumeister sind vorprogrammiert. Aber die Irritation ist durchaus reizvoll (…) Was alle Bemühungen um die ‹gebaute Revolution› kennzeichnet: Hier waltet trotz grosser Begeisterung für technische Innovation kein abstrakter Ingeni-
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Abb. 58: Theo van Doesburg und Laszlo Moholy-Nagy: Buchumschlag, 1925. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 271.
Abb. 59: Theo van Doesburg: Ausstellungsplakat, 1920. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 273.
Unter den GrafikdesignerInnen war der Maler, Architekt und Ausstellungsmacher El Lissitzky (1890–1941) die herausragende Figur. Er konstruierte sein Design auf einer dynamischen diagonalen Achse mit asymmetrisch balancierenden Elementen, das Hauptgewicht oben auf der Seite und mit einem Gefühl für weisse Flächen. El Lissitzky dekorierte nicht ein Buch, sondern er konstruierte ein Buch, indem er das ganze Objekt visuell durchprogrammierte (Abb. 53–56). Alexander Rodtschenko, der andere grosse sowjetische Grafikdesigner, experimentierte mit Typo- und Fotografie und erneuerte die russische Illustrationstechnik mit der Fotomontage (Abb. 57). Die russischen KonstruktivistInnen – alle hatten mit der russischen Revolution grosse Hoffnungen verbunden – mussten in den zwanziger Jahren die bittere Erfahrung machen, dass dem sozialistischen Publikum, den Arbeiter- und Bauernmassen, die avantgardistischen Neuheiten und die abstraktgeometrische Formensprache des Konstruktivismus zum grössten Teil verschlossen blieben. Peter Weiss kommentierte dies mit den Worten: «Was die Avantgarde (…) hier entwarf, musste den russischen Arbeitern unverständlich bleiben. Es half ihnen wenig, wenn es hiess, dass die Revolution der Formen jetzt vereint werden sollte mit den revolutionären Umwandlungen des gesamten Lebens. (…) Das Modernistische, das Abstrakte, musste vorläufig Privileg derer bleiben, die sich mit künstlerischen Problemen beschäftigten, eine proletarische Kunst konnte daraus nicht werden, auch wenn — 4 Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, S. 151.
Abb. 60: Gerrit T. Rietveld: Schröder-Haus in Utrecht, 1924. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 142.
eurstil, sondern die soziale Utopie ist das, was die russischen ArchitektInnen antreibt. ‹Die moderne Architektur muss die neue sozialistische Lebensweise kristallisieren›, formulierte die erste Nummer der Zeitschrift ‹Sovremennaja Architektura› (Moderne Architektur) 1926 als Leitsatz (…) Nirgendwo anders im international aufkommenden Funktionalismus wurde die soziale Funktion so betont wie in der Sowjetunion. ‹ Gebt den Arbeitern Wohnungen! Verpflegung! Kultur!›, lautete die Parole, die von den ArchitektInnen der Revolution auch beherzigt wurde.»5 El Lissitzky «Unserem Baukünstler ist klar geworden, dass er durch seine Arbeit als aktiver Mitarbeiter am Aufbau der neuen Welt teilnimmt. Für uns hat das Werk eines Künstlers keinen Wert ‹an und für sich›, keinen Selbstzweck, keine eigene Schönheit; alles dieses erhält es nur durch seine Beziehung zur Gemeinschaft.»6
— 3 Zitiert aus: Münchner Kunstverein (Hg.), Katalog Wladimir Tatlin 1885–1953, München, 1970, S. 63. 4 K.G.P. Hutten, Vorwort zum Katalog Tatlin, S. 4. 5 Delf Bucher in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 313. 6 El Lissitzky, Russland: Architektur für eine Weltrevolution, Berlin, 1965. Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 314.
62 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Theorie
Abb. 61: Gerrit T. Rietveld: Rot-blauer Stuhl, 1918–23. Der maschinell herstellbare Stuhl besteht lediglich aus einfachen Vierkanthölzern sowie zwei Brettern als Sitzfläche und Lehne. Die einzelnen konstruktiven Elemente sind durch die Farbgebung betont, wobei die Ähnlichkeit mit den Bildern Mondrians nicht zu übersehen ist. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 112.
Abb. 62: Eileen Gray: Wandschrank, um 1925/29. Beachte die konstruktivistische Anordnung der Schubladen und Türen. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 47.
Abb. 63: Walter Gropius: Armsessel für das Direktionsbüro des Weimarer Bauhauses, 1923. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 158.
die Urheber meinten, die wahre Sprache eines revolutionären Volkes zu sprechen.»5 Bald kam von den Revolutionsorganen der Ruf nach einer wirklichkeitstreuen, sprich realistischen Wiedergabe des Lebens vom engagierten sozialistischen Standpunkt aus. Die AvantgardistInnen mussten anhören, wie ihre Arbeiten als «Verfallsprodukt der bürgerlichen Kultur» diffamiert wurden, und miterleben, wie ihr anfänglich grosser Spielraum durch die Machtorgane immer mehr eingeengt wurde. Viele Projekte blieben unausgeführt oder unvollendet. Die führenden KonstruktivistInnen emigrierten im Laufe der zwanziger Jahre unter dem Druck der politischen Verhältnisse und trugen ihre Ideen in den Westen, insbesondere ins deutsche Bauhaus. De Stijl in den Niederlanden (1917–1931) Eine andere konstruktivistische Abstraktionsbewegung entwickelte sich in den Niederlanden um die von Theo van Doesburg 1917 gegründete Zeitschrift «De Stijl». Die Bewegung aus Architekten, Malern und Bildhauern lehnte jede Naturwiedergabe ab und verstand die Malerei als ein autonomes System von Form, Fläche und Farbe. Das Emotionale und Individuelle sollte aus der Kunst verbannt und das Konstruktive und Gesetzmässige zur Anschauung gebracht werden. Die De-Stijl-KünstlerInnen trieben wie niemand zuvor die Anonymisierung des malerischen Ausdrucks voran. In ihrer Kunst wurde das Figürliche und Erzählerische zugunsten der Geometrie restlos eliminiert, und die persönliche Pinselschrift wich einem anonymen «Anstrich».6 Die reine Abstraktion und die strenge geometrische Ordnung waren der formal-ästhetische Ausdruck der modernen, industrialisierten und technisierten Gesellschaft. Die formale Gestaltung wurde auf
De Stijl: Piet Mondrian Er formulierte ab 1917 seine Theorie des «Neoplastizismus» und forderte, dass die Kunst völlig abstrakt sein solle, was er in folgendem Diktum zum Ausdruck brachte: «Das Leben des heutigen Kulturmenschen wendet sich mehr und mehr vom Natürlichen ab; es wird immer mehr abstraktes Leben.»7 T. Hauffe urteilt über De Stijl: «Die Idee der Reinheit und die Ablehnung dekorativer Ornamente wurzelten im Puritanismus der calvinistischen holländischen Gesellschaft, und die Bestrebungen der De-Stijl-Gruppe hatten durchaus etwas von protestantischer Bilderstürmerei. Nun sollte die formale Askese das ästhetische Programm der Moderne transportieren und darüber hinaus auch dem Gedanken der Funktionalität und den technischen Erfordernissen der Industrieproduktion dienen. So traf sich traditionell bürgerliches Ethos mit avantgardistischer Utopie.»8 Theo van Doesburg Über die Möbel von Rietveld schrieb Theo van Doesburg: «Unsere Stühle, Tische und Schränke und andere zweckgebundene Gegenstände sind die ‹abstrakt-realen› Skulpturen unserer zukünftigen Einrichtung.»9 «Für einen Stil, dessen Aufgabe nicht mehr
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Abb. 64: Johannes Auerbach zugesprochen: Das erste Bauhaus-Signet, 1919-21 im Gebrauch. Es ist voller Anspielungen auf den handwerklichen Bau. Die tragende stilisierte Figur ist von zünftischen und kosmischen Zeichen umgeben. Auch die ersten Vorboten der bauhaustypischen Geometrisierung (Dreieck, Gerade, Winkel usw.) sind vorhanden. Im ersten Signet, das eine typografisch noch nicht durchgearbeitete «Handschrift» trägt, überwiegt der Eindruck des Organischen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 279.
Abb. 65: Walter Gropius: Das Bauhaus in Dessau, 1925–26. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 136.
einfache, ständig wiederkehrende Grundelemente reduziert. Ästhetik wollte eine «mechanische Ästhetik» (Theo van Doesburg) sein. Darin stimmten sie mit den russischen KonstruktivistInnen überein. Obwohl die beiden Bewegungen anfänglich voneinander isoliert waren, ist die Verwandtschaft offensichtlich. Beide vereinte die Suche nach der reinen Art der Herstellung von visuellen Beziehungen. Beide verwendeten reine Linien, Flächen und Farben, um ein Universum von harmonisch geordneten und reinen Beziehungen zu kreieren. Dies wurde als utopischer Prototyp für eine neue Weltordnung angesehen. Beide Bewegungen massen der so verstandenen Kunst und Gestaltung in der Gesellschaft eine Avantgarderolle zu. Das Vokabular von De Stijl wurde direkt im Grafikdesign angewendet (Abb. 58). Theo van Doesburg verwendete horizontale und vertikale Strukturen für die Buchstabenform und das Gesamtlayout (Abb. 59). Gerrit Rietveld (1888–1964) setzte in seinen Häusern und Möbeln die De-Stijl-Ideen manifestartig um (Abb. 60–61). Das Beispiel seines «rot-blauen Stuhls» (Abb. 61) verdeutlicht, dass die konstruktivistischen Objekte von De Stijl zuallererst ästhetischer Ausfluss einer gestalterischen Idee oder Utopie waren, eher Symbole und Kunstwerke als Gebrauchsgegenstände. Trotzdem hatte De Stijl mit seinen rigiden geometrischen Gestaltungsprinzipien zusammen mit dem russischen Konstruktivismus einen nachhaltigen Einfluss auf das Bauhaus und die weiteren Bemühungen um ein industrielles — 5 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M., 1983, zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 317. 6 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 37.
darin besteht, individualistische Einzelheiten, wie lose Bilder, Schmucksachen oder Privatwohnungen, zu schaffen, sondern den ökonomischen Verhältnissen entsprechend ganze Stadtteile, Wolkenkratzer, Flugzeugstationen kollektiv in Angriff zu nehmen, kann eine handwerkliche Ausführung nicht in Betracht kommen (…) Infolge der geistig-praktischen Bedürfnisse unserer Zeit wird die konstruktive Bestimmtheit Forderung. Nur die Maschine kann diese konstruktive Bestimmtheit verwirklichen.»10 Bauhaus: Walter Gropius «Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der grossen Baukunst. Heute stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewus– stes Mit- und Ineinanderwirken aller Werk– leute untereinander. (…) Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine ‹Kunst von Be-
— 7 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 70. 8 Ebenda, S. 71. 9 Ebenda, S. 72. 10 Zitiert aus: H.L.C. Jaffé, De Stijl 1917–1931, Berlin, 1965, S. 164.
64 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Abb. 66: Oscar Schlemmer: Das spätere Bauhaus-Signet, ab 1922 im Gebrauch. Die exakte Kreisform und die konstruierte Schrift zeugen von der geometrischen und maschinellen Orientierung des Bauhauses. Das Geometrische hat das Organische abgelöst, es gibt keine Andeutungen ans Mittelalter mehr. Das Ganze bildet eine Einheit. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 279.
Abb. 67: Joos Schmidt: Plakat für die Bauhaus-Ausstellung, 1923. Echos auf den Kubismus, den Konstruktivismus und De Stijl. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 279.
Design (Abb. 62) (zum Einfluss von De Stijl auf das Grafikdesign vgl. Kapitel 6). Das Bauhaus (1919–33) 1919 gründete der vom Deutschen Werkbund kommende Architekt Walter Gropius (1883–1969) (Abb. 63, 65) als Kunstgewerbeschuldirektor im konservativen Weimar mit Unterstützung der linkssozialistischen thüringischen Landesregierung das staatliche Bauhaus. In seinem Manifest zur Eröffnung forderte Gropius die Einheit der bildenden Künste unter der Führung der Baukunst. Gropius schwebte wie einst William Morris eine (rückwärts gewandte) Utopie vor: ein Bauhaus in Analogie zur mittelalterlichen Bauhütte, die für den gotischen Kathedralenbau sämtliche bildenden Künste unter einem Dach und einer Idee vereinigte. Am Bauhaus wollte Gropius mit einer neuen Organisationsund Ausbildungsstruktur sein altes Ziel, die Überwindung des Historismus, durch eine klare Formensprache und eine neue Einheit von Kunst und Handwerk verwirklichen. Die BauhauskünstlerInnen orientierten sich an einem egalitären und sozial ausgerichteten Gesellschaftsmodell und verstanden sich selbst als «schöpferische Werkgemeinschaft» ohne klassentrennende Unterscheidung zwischen HandwerkerInnen und KünstlerInnen. In der Vorlehre (auch Vorkurs genannt) wurde zuerst zweckfrei mit Farbe, Form und Material experimentiert. Nach dem Vorkurs fand die Ausbildung in Werkstätten statt, die von zwei Leitern, einem «Meister der Form» und einem «Meister des Handwerks» geführt wurden. So sollte dem Ziel der gleichberechtigten Ausbildung von künstlerischen und handwerklichen Fertigkeiten nachgelebt werden.
Theorie
ruf›. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker (…) Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmassung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.»11 Hannes Meyer «Was fand ich bei meiner Berufung vor? Ein Bauhaus, dessen Leistungsfähigkeit von seinem Ruf um das Mehrfache übertroffen wurde und mit dem eine beispiellose Reklame betrieben wurde. Eine ‹Hochschule für Gestaltung›, in welcher aus jedem Teeglas ein problematisch-konstruktivistelndes Gebilde gemacht wurde. Eine ‹Kathedrale des Sozialismus›, in welcher ein mittelalterlicher Kult getrieben wurde mit den Revolutionären der Vorkriegskunst unter Assistenz einer Jugend, die nach links schielte und gleichzeitig selber hoffte, im gleichen Tempel dermaleinst heilig gesprochen zu werden. Inzüchtige Theorien versperrten jeden Zugang zur lebensrichtigen Gestaltung. Der Würfel war
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Abb. 68: Marcel Breuer: Freischwinger B32, um 1926. Verchromter Stahl, Holz und Rohrgeflecht. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 113.
Abb. 69: Carl Jacob Jucker und Wilhelm Wagenfeld: Tischlampe, 1923/24. Der Schweizer Jucker entwarf 1923 als Erster eine Tischleuchte mit gläsernem Fuss und Schaft. Das Kabel, das durch den transparenten Schaft verlief, machte die Elektrizität sichtbar. Wagenfeld ersetzte den metallenen Reflektor durch eine Milchglaskuppel. Berühmt wurde diese Ganzglasversion. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 146.
Das Bauhaus durchlief verschiedene Phasen, in denen mehr oder weniger intensive Auseinandersetzungen und Kontroversen über «mehr Kunst versus mehr Handwerk beziehungsweise mehr Industrie» geführt wurden. 1. Weimar: Von der Bauhütte zum Bauhaus (Abb. 64) In der Anfangsphase suchte wie erwähnt das Bauhaus unter Gropius wie die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts (Arts & Crafts, Jugendstil) die Rückwendung zum Mittelalter nach dem Vorbild des mittelalterlichen Gesamtkunstwerks. Es wurden wieder kunstgewerbliche Traditionen aufgenommen. Die Entwürfe hatten noch stark handwerklichen Charakter. Es dominierten die individualistisch-künstlerischen und elitär-kunsthandwerklichen Produktionsvorstellungen. Die im Werkbund nicht endgültig gelöste Frage – kunsthandwerklicher Individualismus gegen Typisierung der technischen Form für die Serienproduktion – wurde ins Bauhaus hineinverlagert. Ein Hindernis für die Anpassung der Entwurfspraxis an die industrielle Produktionsweise lag im Prinzip von Meister, Geselle und Lehrling. Denn diese Lehrstruktur führte zur Überbetonung des individualistischen künstlerischen Prinzips (Kult des berühmten Meisters).7 2. Dessau: «Bauhausform» (Abb. 65–70) Anfang der zwanziger Jahre kam die Wende zum Funktionalismus: Nach dem Einfluss der De-Stijl-Gruppe und nach der Ersetzung des Vorkurslehrers Johannes Itten durch Laszlo Moholy-Nagy entwickelte das Bauhaus eine elementare und funktionale Formensprache, die in der Reduktion aller — 7 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 89.
Abb 70: Marianne Brandt: Teekännchen, 1924. Messingblech von innen versilbert. Griff aus Ebenholz. Quelle: Bernd Polster et al., Dumont Handbuch Design International, Köln, 2004, S. 80.
Trumpf, und seine Seiten waren gelb, rot, blau, weiss, grau, schwarz. Diesen Bauhauswürfel gab man dem Kind zu spielen und dem Bauhaus-Snob zur Spielerei. Das Quadrat war rot. Der Kreis war blau. Das Dreieck war gelb. Man sass und schlief auf der farbigen Geometrie der Möbel. Man bewohnte die gefärbten Plastiken der Häuser. Überall erdrosselte die Kunst das Leben. So entstand meine tragikomische Situation: Als Bauhausleiter bekämpfte ich den Bauhausstil.»12 Und Meyer fährt fort: «wir erkennen in jeglicher lebensrichtigen gestaltung eine organisationsform des daseins. wahrhaft verwirklicht ist jede lebensrichtige gestaltung ein reflex der zeitgenössischen gesellschaft. bauen und gestalten sind uns eins, und sie sind ein gesellschaftliches geschehnis, als eine ‹hohe schule der gestaltung› ist das bauhaus dessau kein künstlerisches, wohl aber ein soziales phänomen. als gestalter ist unsere tätigkeit gesellschaftsbedingt, und den kreis unserer aufgaben schlägt die gesellschaft. fordert nicht heute in deutschland unsere gesellschaft tausende von volksschulen, volksgärten, volkshäusern? hunderttausende von volkswohnungnen?? millionen von volksmöbeln???
— 11 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87. 12 Hannes Meyer, Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus, 1930, in: Claude Schnaidt, Hannes Meyer, Bauten, Projekte und Schriften, Teufen, 1965, S. 100.
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Meilensteine
Theorie
Abb. 71: Walter Gropius: Wettbewerb «Haus der Arbeit» (Ausschnitt), 1934. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 300.
Abb. 72: Laszlo Moholy-Nagy: Umschlagentwurf für vier Bauhausbücher, 1924–30. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 283.
Gegenstände auf geometrische Elemente bestand. Diese so genannte «Bauhausform»8 sollte Designgeschichte machen. Es kam zum entscheidenden Schritt der Annäherung an die industrielle Formgebung, und es entstanden die ersten industrietauglichen Entwürfe. Nach der Übersiedlung des Bauhauses nach Dessau (1925) verlagerte sich der Schwerpunkt der Ausbildung auf das Industriedesign und die Architektur. Hauptziel wurde neben den Anforderungen der industriellen Fertigung die Aufgabe, preiswerte Massenprodukte für breite Bevölkerungsschichten zu schaffen. Das Bauhaus wollte bis anhin privilegierte Produkte für den massenkulturellen Bedarf sozial erobern. Die schmucklose Zweckmässigkeit und der massenhafte Gebrauchswert der Produkte sollten eine klassenlose Alltagskultur schaffen, gewissermassen gesellschaftliche Gleichheit ästhetisch vorwegnehmen. Hier kamen Formgestaltung und gesellschaftspolitische Zielsetzung zusammen: «Technologie, Maschine und Sozialismus» sollten zur Einheit eines praktischen Funktionalismus verschmelzen. Voraussetzung für diese wirklich funktionale Formgebung war die Befreiung von den konstruktivistisch-formalistischen Gestaltungstendenzen.
(was frommt hingegen das piepsen irgendwelcher kenner nach den kubistischen kuben der bauhaus-sachlichkeit?) (…) die neue bauschule als eine erziehungsstätte zur lebenshaltung trifft keine begabtenauslese. sie verachtet affenhafte geistige beweglichkeit der begabung, sie achtet die gefahr der geistigen sektenbildung: inzucht, egozentrik, weltfremdheit, lebensferne (…) dergestalt ergreift erziehung zur gestaltung den ganzen menschen. entfernt hemmung, beklemmung, verdrängung. beseitigt vorwand, vorurteil, voreingenommenheit. sie vereinigt die befreiung des gestalters mit der eignung zur eingliederung in die gesellschaft (… )»13 «Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie der Sozialismus Wirklichkeit geworden ist und kein blosses Hirngespinst blieb. Unsere ganze westliche Erziehung war nur eine Rekrutierung für den Kampf aller gegen alle. Das war für unsere Stellung charakteristisch. Und es war für uns charakteristisch, dass die Börsen in Form von Tempeln gebaut sind. Die neue russische Architektur entsteht durch den Willen aller, nicht durch irgendwelche Pläne irgendeiner Gruppe. Unsere Bauten tragen die Züge des Kollektivismus, gepaart mit amerikanischer Sachlichkeit, mit strengster leninistischer Wissenschaftlichkeit und revolutionärer Elastizität.»14
3. Die Ära Meyer In den Jahren 1926 und 1927 spitzten sich die Richtungsstreitigkeiten zwischen Kunst und Industrie wieder zu. Sie führten letztlich zur Demission von Walter Gropius im Jahr 1928. Der Leiter der neu geschaffenen Architekturabteilung und Nachfolger von Gropius als Direktor, der Schweizer Hannes Meyer (1899–1954), verschob den Akzent theoretisch und praktisch weiter in Richtung auf Technisierung und «sozialen Funktionalismus». Das Bauhaus unter Meyer war
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Abb. 73: Herbert Bayer: Universales Alphabet, 1925. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 284.
Abb 74: Herbert Bayer: Ausstellungsplakat, 1926. Schrift und Bild sind in einer funktionalen Steigerung der Grösse und des Gewichts von den unterstützenden Details bis zu der wichtigsten Information geordnet. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 284.
vergleichbar mit Theorie und Praxis der sowjetischen WCHUTEMAS (vgl. oben), wo Rodtschenko, Lissitzky und Tatlin lehrten. Unter Meyers Einfluss rückte das Bauhaus noch entschiedener vom künstlerischen Elite-Bewusstsein ab, das seit van de Velde die Motivation für besondere Entwürfe lieferte. Meyer verlangte die Anbindung des Entwurfs der neuen Gebrauchswerte an den sozialen Bedarf. Er forderte vom Design Standardprodukte, die als Typen in Serie hergestellt werden und die Grundbedürfnisse der arbeitenden Menschen befriedigen sollten. Die Bedürfnisse der Massengesellschaft traten in den Vordergrund. Meyer strebte auch eine Verwissenschaftlichung des Unterrichts an und richtete Fächer wie Psychologie, Soziologie und Ökonomie ein. In der Architektur sollte von der «Analyse gesellschaftlicher Faktoren» ausgegangen werden. Der Entwurf sollte ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten folgen, und es sollte mit möglichst billigen, neuen Materialien und vorgefertigten Elementen gebaut werden. Das Bauhaus wurde eine auf Reklame, Typografie und Architektur (sozialer Wohnungsbau) bezogene Gestaltungsschule. «Die Entdeckung der sozialen und politischen Verantwortung des Architekten und Designers gab dem Bauhaus in der Ära Meyer noch einmal neuen Aufschwung und Bedeutung.»9 4. Entpolitisierter Neuversuch Nach der auch von Gropius betriebenen Entlassung des kommunistischen Bauhausdirektors Hannes Meyer wurde mit dem «unpolitischen» Mies van der Rohe ein entpolitisierter — 8 Julius Posener in: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 87. 9 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 153.
Abb. 75: Jan Tschichold: Titelseite von «elementare typographie», 1925. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 286.
Vom letzen Bauhaus-Direktor und späteren Architekten in Chicago, Mies van der Rohe, stammt der für die Architektur und das Design des «Internationalen Stils» bezeichnende Satz «Less is more» (Weniger ist mehr). Funktionalismus In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts analysiert Gert Selle den Funktionalismus der zwanziger Jahre folgendermassen: «Das sachliche Sozialdesign und die elegante Moderne (…) können als Formen der Selbstfunktionalisierung im höheren industrierationalen Interesse verstanden werden. Sie sind Gewalten, die vom Design nicht erkannt werden (…) Historisch-theoretisch und praktisch-semantisch war ihr in der Einheit von Zweck und Schönheit bearbeiteter (…) Gegenstand gesellschaftlicher Ausdruck produktiver Lebensrationalität im Industriezeitalter schlechthin.»15
— 13 Ebenda, S. 98f. 14 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesiliea, S. 315. 15 Gert Selle, Design-Geschichte S. 194 und 291.
68 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Abb. 76: Jan Tschichold: Buchdeckel für Penguin, 1946–49. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 254.
Abb. 77: Henry C. Beck: Plan der Londoner U-Bahn, 1933. Der Prototyp eines modernen funktionalistischen Verkehrsplans. Indem er die traditionelle, geografisch orientierte Karte durch eine schematische ersetzte, die aus horizontalen, vertikalen und im 45-Grad-Winkel quer liegenden Entfernungslinien besteht, vereinfachte er die Kommunikation für die U-Bahn-BenützerInnen. Diese visuell schnell überschaubare Lösung wurde später international übernommen.
Das tabellarische Matrix-Prinzip für Entfernungsstrecken gehört heute zu den verbreitetsten Orientierungshilfen im Bereich des Verkehrswesens. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 292.
5. Bauhaus und Hakenkreuz Einige Bauhäusler wurden verhaftet, Juden und Linke unter ihnen landeten in Konzentrationslagern, andere gingen freiwillig ins Ausland, wieder andere mussten später emigrieren, doch die Mehrheit verhielt sich gegenüber dem Dritten Reich nicht anders als der Rest der deutschen Bevölkerung: Sie arrangierte sich mit den neuen Verhältnissen, marschierte mit oder versuchte – wie einige prominente Bauhäusler – sogar, eine bedeutende Rolle zu spielen. So biederte sich der Schweizer J. Itten bei den Nazis an, und auch W. Gropius stellte mit einer Reihe anderer Bauhäusler seine Schaffenskraft dem Dritten Reich zur Verfügung (Abb. 71). Mies van der Rohe rief 1934 zur Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten auf, und Oskar Schlemmer, neben Klee und Kandinsky einer der grossen Bauhäusler der ersten Stunde, betonte 1933 seine Übereinstimmung mit der NS-Ideologie – und blieb trotzdem verfemt. Die Liste der Kollaborateure liesse sich verlängern.10
«Internationalen Stils» erst begann. Nach der Übergabe der Macht an die Nazis in Deutschland und der endgültigen Zerschlagung des Bauhauses sowie der Emigration einiger «Internationalisten» aus Deutschland übernahmen die USA die führende Rolle im konstruktivistischen Design und in der modernen Architektur. Von einigen in die USA emigrierten Bauhauslehrern wurde 1937 in Chicago das «New Bauhaus» gegründet. Dessen Direktor wurde L. Moholy-Nagy, ungarischer Designer und ehemaliger Vorkursleiter am Bauhaus. 1939 wurde aus dem «New Bauhaus» die «School of Design» und 1944 das «Institute of Design des Illinois Institute of Technology» (ITT). So lebte der «Bauhaus-Gedanke» in den USA weiter. Mies van der Rohe, Moholy-Nagy, Gropius und wie sie alle hiessen fanden in den USA ein breites Wirkungsfeld. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der «Bauhaus-Gedanke» aus der Emigration nach Europa zurück. Mit ähnlicher Aufgabenstellung wie im ehemaligen Bauhaus wurden in der Bundesrepublik Deutschland die Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) (vgl. Kapitel 10) und in der Deutschen Demokratischen Republik die Hochschule für Gestaltung in Halle-Giebichenstein geschaffen. Ähnliche Anstrengungen gab es auch an andern Kunsthochschulen der DDR (Weimar, Dresden, Berlin). Die Traditionen des Bauhauses wurden in der DDR dann aber über Jahre hinweg negiert. Erst Mitte der siebziger Jahre wurden das Bauhaus und die Prinzipien der funktionalistischen Gestaltung als «nationales Erbe» der DDR entdeckt.11
6. Erfolg im Exil und Rückkehr Die Ironie der Geschichte lag darin, dass mit der Schliessung die weltweite Wirkung des Bauhauses beziehungsweise des
Das Bauhaus und die «Neue Typographie» Im Bauhaus sorgten die typografischen und fotografischen Leidenschaften von L. Moholy-Nagy für das Interesse der
Neuversuch gestartet. Das soziale Engagement des Designs wurde zurückgenommen, und das bedeutete, das Prinzip der funktionalen Sachlichkeit vom sozialpolitischen und sozialkulturellen Programm des Entwerfens zu trennen. Die MiesPhase dauerte bis zur Auflösung des Bauhauses durch die Nazis an seinem letzten Zufluchtsort in Berlin 1933. Zwar erlebte es in Berlin – nun auf privater Basis – einen letzten kurzen Aufschwung, doch die Schliessung konnte auch der gemässigt bürgerliche Ludwig Mies van der Rohe nicht verhindern.
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Abb. 78: Herbert Matter: Plakat für den Schweizer Tourismus, 1935. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 298.
Abb. 79: Herbert Matter: Plakat für Pontresina, 1935. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 299.
BauhäuslerInnen an visueller Kommunikation. Er machte wichtige Experimente für die Vereinigung dieser beiden Künste und sah Grafikdesign, insbesondere das Plakat, sich zum «typophoto» entwickeln. Er nannte die Integration von Wort und Bild, um eine Botschaft zu kommunizieren, «die neue visuelle Literatur»12 (Abb. 72). Herbert Bayer entwarf eine Universal-Schrift, welche das Alphabet auf klare, einfache und rational konstruierte Formen reduzierte (Abb. 73, 74). Viele der kreativen Innovationen entstanden im Grafikdesign während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts als Teil der künstlerischen Bewegungen der Moderne (vgl. Kapitel 6) oder im Bauhaus. Dieser neue Umgang mit der visuellen Kommunikation hatte aber meistens nur ein begrenztes Publikum. Doch der Bauhäusler Jan Tschichold (1902–74) machte das neue Design zu einem Alltagsdesign. In seinem 1925 in den «typographischen mitteilungen» erschienenen Artikel mit dem Titel «elementare typographie» erklärte er einer breiten Leserschaft von Druckern, Setzern und Designern die neue asymmetrische Typografie (Abb. 75, 76). In dem Jahrzehnt nach 1927 legte Tschichold das solide theoretische Fundament der «Neuen Typographie». 1927 erschien sein gleichnamiges Buch, in dem folgende Merkmale der «Neuen Typographie» aufgeführt sind: — Verzicht auf unwichtige Elemente — Reduktion der serifenlosen Schrifttypen auf ihre elementare Form (Verwendung der Groteskschrift) — Konstruktion des Designs nach einer zugrunde liegenden horizontalen und vertikalen Struktur — Grösse der Leerräume als wichtige gestalterische Elemente
Abb 80: William von Alen: Chrysler Building, New York, 1928–30. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 46.
— Verwendung von Strichen, Linien und Kästen für die Struktur, das Gleichgewicht und die Betonung Das Ziel war die Entwicklung der Form aus der Funktion des Textes («form follows function») (Abb. 77). 1927/28 nannte der Katalog der Ausstellung «Neue Typographie» im Gewerbemuseum in Basel die gleichen Merkmale in etwas andern Worten: — knapper Ausdruck — Asymmetrie — keine Ornamente — spannungsvolle Gliederung der Fläche — Verzicht auf eine persönliche Note Die «Neue Typographie» betonte die objektive Kommunikation und beschäftigte sich mit der maschinellen Produktion. Die «Maschine Fotoapparat» wurde als der angemessene Umgang mit dem Bildermachen angesehen. Die meisten von der «Neuen Typographie» verwendeten Fotos waren einfach und neutral. Die Rolle der Fotografie war diejenige eines grafischen Kommunikations-Werkzeuges. Der Schweizer Designer und Fotograf Herbert Matter (1907– 84) entwickelte diese Rolle. Seine Plakate aus den dreissiger Jahren (Abb. 78, 79) verwendeten die Montage, den dynamischen Wechsel des Massstabs und die effektive Integration von Typografie und Illustration. Fotografische Bilder wurden bildhafte Symbole, die aus ihrer naturalistischen Umgebung herausgelöst und in unerwarteter Weise miteinander verbunden wurden. Matter experimentierte auch mit der Integration — 10 Zum Bauhaus unter dem Hakenkreuz: Beat Schneider, Penthesilea, S. 299–301. 11 Bernhard Bürdek, Design, S. 71. 12 Philip Meggs, A History of Grafic Design, S. 281.
70 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
Meilensteine
Abb. 81: Jean Prouvé: Fauteuil de grand repos, 1928–30. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 199.
von Schwarzweissfotografien, Zeichen und Flächen. Fazit: Das Bauhaus wurde zum führenden intellektuellen und kreativen Zentrum des Modernismus und der Idee des Funktionalismus und legte die Grundlagen des modernen Designs, wie es bis in die siebziger Jahre international gepflegt wurde. Art déco: der nicht funktionale Modernismus Wenn vom Design der zwanziger und dreissiger Jahre die Rede ist, darf nicht nur der «Internationale Stil» erwähnt werden, denn es gab auch einen nicht funktionalen Modernismus, der neben ihm eine eigenständige Rolle spielte. Dieser Modernismus wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als authentischer Stil erkannt13, und er erhielt rückwirkend in Anlehnung an die internationale Kunstgewerbeausstellung («Exposition Internatinale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes»), die 1925 in Paris stattfand, den Namen «Art déco».Der Begriff umfasst die dekorativen künstlerischen Tendenzen zwischen 1920 und 1930. Das Europa der zwanziger und dreissiger Jahre wurde zwar durch tiefe soziale Widersprüche, Klassenkämpfe und Revolutionen geprägt. Krieg und Wirtschaftskrisen hatten vielerorts grosses Elend und Armut hervorgebracht. Trotzdem führten die wohlhabenden Schichten ihren gewohnten Lebensstil weiter. In Frankreich, wo die oberen Klassen den Ersten Weltkrieg im Vergleich zu Deutschland relativ unbeschadet überstanden hatten – es gab auch reiche und neureiche Kriegsgewinnler –, entwickelte sich «ein luxuriöser Einrichtungs- und Dekorationsstil, der wirtschaftliche Macht und gehobenen Lebensstil demonstrierte».14 Mit andern Worten spiegelte das moderne Design nicht nur sozialen und politischen Fortschrittsglauben und wirtschaftliche Ratio-
nalität, sondern schuf auch luxuriöse Zeichen der kapitalistischen Macht. Die «Art déco» lebte nicht von den einheitlichen, konsequent nachempfundenen Vorstellungen wie der der Funktionalität, sondern war eine eklektische Mischung sehr unterschiedlicher Komponenten. Der Art-déco-Stil war primär auf alle Bereiche der Innenausstattung, aber auch auf Plakat- und Buchkunst sowie auf Malerei und Plastik (v.a. Kleinplastiken) gerichtet. Gemeinsam ist allen Objekten eine geometrische Struktur, gemischt mit andersartigen – etwa floralen – Elementen. Wenn der «Internationale Stil» vieles der funktionalen Reinheit opferte, so schöpfte die «Art déco» aus der Vitalität der Volkskunst sowie der ornamentalen Fülle fremder Stile und gab diesen verschwenderischen Spielraum. Sie imitierte Formen aus verschiedenen Epochen und Kulturen. Stilistische Elemente der Art nouveau, des Deutschen Werkbundes, des Bauhauses, des Kubismus und Futurismus, von De Stijl und fremden Kulturen (etwa afrikanische, ägyptische oder chinesische) fanden in ihr Repertoire Eingang. Bei der «Art déco» ging es zunächst nicht um industrielle Massenproduktion, sondern um die kunsthandwerkliche Herstellung exklusiver Einzelstücke aus wertvollen und ungewöhnlichen Materialien. Im Laufe der zwanziger und dreissiger Jahre verbreitete sie sich als Ausdruck moderner Eleganz im übrigen Europa und in Übersee (Abb. 80). Sie nahm auch immer mehr Elemente des «Internationalen Stils» auf und verarbeitete industrielle Materialien wie Stahl und Glas (Abb. 81) und auch neue Materialien wie Aluminium und Bakelit, den ersten rein synthetischen Kunststoff (1907). Mit diesen Materialien fand die «Art déco» auch in die Produktion beliebter Massenartikel Eingang (Abb. 82).
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Abb 82: Alfonso und Renato Bialetti: Moka Express, 1933. Dreiteilige Espressokanne aus Aluminium und Bakelit (bis heute unveränderte Form). Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 210.
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die «Art déco» von Architektur und Design der Postmoderne wieder entdeckt (z. B. Hans Hollein: Österreichisches Verkehrsbüro in Wien, 1978). Gert Selle weist auf eine inhaltliche Parallele von «Art déco» und Postmoderne hin. In der «Art déco» wurde in den zwanziger und dreissiger Jahren von den Entwerfern ein längst obsoleter Individualismus ausgelebt und das Bewusstsein gepflegt, einer elitären Avantgarde anzugehören. In der Postmoderne der siebziger und achtziger Jahre verstanden sich die Designer wieder als Künstleravantgarde.15 — 13 H. Honour, J. Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München, 1992, S. 602. 14 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 88. 15 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 205.
72 5. Internationaler Stil: Konstruktivismus, De Stijl, Bauhaus
— Kommentar
Der Bauhaus-Mythos Es spricht für die zentrale Bedeutung des Bauhauses, dass es wie kein anderes Phänomen der Designgeschichte von Mythen umrankt ist. Die Rezeptionsgeschichte der Bauhausideen ist selbst ein spannendes geschichtliches Phänomen. Von der Chiffre «Bauhaus» wurde und wird aus verschiedensten Interessenlagen heraus Gebrauch gemacht. Entsprechend wurden Aspekte unterschlagen, einseitig betont und aus dem Kontext gerissen, so dass Bauhaus-Bilder entstanden, welche die Wirklichkeit verzerren. 1. Die unpolitische Rezeption «Das Bauhaus wird nur im oberflächlichen restaurativen Sinne akzeptiert. Das Verständnis der eigentlichen Bedeutung des Bauhauses (…) gibt es nicht.»1 Dies behauptete 1963 kein geringerer als Tomas Maldonado, prominenter Vertreter des «Internationalen Stils» und in den sechziger Jahren Direktor der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Tatsächlich wird das Bauhaus oft aus seinem gesellschaftlichen und politischen Kontext herausgelöst, von seiner politischen Designtheorie gereinigt und als ein unpolitisches, ästhetisches Phänomen behandelt. Der gestalterische Anspruch des Bauhauses war jedoch in allen Phasen wesentlich mit einem sozialen und damit auch politischen Anspruch verbunden. Sie bildeten eine unauflösliche Einheit. Der Funktionalismus war also nicht ein neutraler, sondern ein sozialer. Die Bauhausform orientierte sich am Gebrauchswert der Objekte und damit an den BenutzerInnen. Die Gebrauchsgegenstände wurden in sozialer Funktionalität gestaltet. Was es bedeutet, wenn der Funktionalismus «neutralisiert» oder umfunktioniert wird, ist am «Bauwirtschaftsfunktionalis-
mus» der sechziger und siebziger Jahre zu sehen, in dem der Funktionalismus die Hülle für die kurzfristigen wirtschaftlichen Profitinteressen wurde. 2. Die monolithische Rezeption Das Bauhaus wird nur als monolithische Institution akzeptiert. Die Tatsache seiner verschiedenen Entwicklungsphasen wird verdrängt, die Widersprüche werden nicht zur Kenntnis genommen. Die Richtungsstreitigkeiten zwischen dem «künstlerischen Lager» und dem «Industrielager» werden verharmlost. Das Bauhaus wird als gelungene Fusion von Kunst und Industrie abgefeiert, eine Fusion, die es so nie gegeben hat. Die Fiktion der Einheit von Kunst und Industrie führt konsequenterweise zur Nicht-Rezeption der Ära Meyer. Es wird nicht wahrgenommen, dass das Bauhaus hier seinen konsequentesten Schritt weg vom künstlerischen Anspruch hin zum industriellen Design und zum sozialen Funktionalismus gemacht hat. 3. Die fortschrittliche Rezeption Das Bauhaus wird nur als fortschrittliche Institution akzeptiert. Im Nachkriegsdeutschland wurde der Mythos geboren, wonach Bauhäusler zu sein gleichbedeutend sei mit Widerstand und Verfolgung, die Bauhaus-Moderne mithin faschismusresistent sei. Wie schon gezeigt, hat die Identifizierung mit den Ideen der Moderne offensichtlich auch prominente Bauhäusler nicht vor der opportunistischen Anpassung an und der Kollaboration mit dem Faschismus bewahrt. Die Bauhaus-Moderne ist nicht eo ipso antifaschistisch! Der verborgene Sinn einer solchen Mythenbildung ist das Bemühen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, an das «Vorher» anzuknüpfen, an die Zeit vor dem grauenvollen Ereignis des Dritten Reichs. Mit dem Herstellen der Kontinuität zum demokratischen modernen «Vorher» war ein Beitrag zur eigenen demokratischen Legitimation gegeben. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Dritten Reichs konnte sich so erübrigen.
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4. Die Rezeption des Scheiterns Das Bauhaus wird nur als gescheitert akzeptiert. Wer seine grosse Bedeutung für die Designgeschichte reklamiert, wird etwa darauf verwiesen, dass das Bauhaus doch gescheitert sei. Wenn man es an seinem unmittelbaren Einfluss auf die industrielle Produktionspraxis misst, scheint es tatsächlich zuzutreffen, denn die direkte Breitenwirkung der «Bauhausform» war gering. Sein avantgardistisches Design war in den zwanziger Jahren einer kleinen intellektuellen Elite vorbehalten. Die Sachlichkeit und Ehrlichkeit der SozialdesignerInnen und SozialarchitektInnen der zwanziger Jahre und das in ihren Produkten ausgedrückte gesellschaftliche Gleichheitsprinzip überzeugten Intellektuelle und die linken politischen Eliten, aber nicht die eigentlichen Adressaten, die Masse der ArbeiterInnen. Zu stark wurde dieser ästhetisch konservativ gebliebenen Klasse die neue Sachlichkeit aufgepfropft. Zu wenig war die neue ästhetische Kultur ein Teil ihrer selbst.2 Die Innovation des Bauhauses war gegenüber den vorherrschenden kulturellen Traditionen trotz relativ weit entwickelter Industrialisierung noch zu radikal. Das massenkulturelle Konzept des sozialen Funktionalismus musste aber auch an der damals noch fehlenden ökonomischen Grundlage für einen Massenkonsum scheitern. Und im Dritten Reich, als diese Grundlage zum ersten Mal geschaffen worden war, war das Bauhaus aus ideologischen Gründen organisatorisch bereits zerschlagen. Im Nordamerika der Kriegszeit und im Europa der Nachkriegszeit waren die Grundlagen für die Realisierung des massenkulturellen Konzepts gegeben. Hier, in Chicago, und dort, in Ulm, hatte die emigrierte beziehungsweise zurückgekehrte «Bauhausidee» denn auch Erfolg. Das Bauhaus hatte einst die Grundlagen für das moderne funktionalistische Design gelegt, wie es bis in die sechziger und siebziger Jahre international gepflegt wurde. — 1 Tomas Maldonado: «Ist das Bauhaus aktuell?», in: Ulm, Nr. 8,9, 1963, S. 8. 2 Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland, S. 191–194.
6. AVANTGARDEKUNST UND GRAFIKDESIGN
76 6. Avantgardekunst und Grafikdesign
— Wirtschaftliches und Soziales
Avantgardekunst und Grafikdesign Die gesellschaftlichen und politischen Umstände in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schufen die Grundlagen für eine Annäherung von Kunst und Design auf der Basis eines gemeinsamen massenkulturellen und technologiefreundlichen Konzepts. Die avantgardistischen Bewegungen der modernen bildenden Kunst beeinflussten die Designszene vor allem im Bereich des Grafikdesigns («Reklamegrafik»).1 Während einige dieser Bewegungen eine begrenzte Wirkung hatten, beeinflussten andere, wie Kubismus, Futurismus, Dada, Surrealismus, De Stijl, Konstruktivismus und Expressionismus, die Sprache des Grafikdesigns unmittelbar. Das gemeinsame Interesse an der Schaffung einer allgemein verständlichen Zeichensprache, die den gesellschaftlichen Aufbruch ihrer Zeit angemessen zu visualisieren vermag, verband die Reformer unter den (Reklame-) Grafikern mit vielen avantgardistischen Künstlern. Es wäre allerdings falsch zu behaupten, das moderne Design sei ein Stiefkind der bildenden Kunst. Wie schon in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt, waren die Chicagoer Schule, die Glasgower Schule, die späte Wiener Werkstätte sowie Adolf Loos und Peter Behrens in ihrem Bewusstsein für Raum und geometrische Formen um die Jahrhundertwende weiter als die damalige moderne Malerei.2 Im Folgenden sollen nicht die Avantgardebewegungen der ersten drei Jahrzehnte des europäischen 20. Jahrhunderts dargestellt, sondern anhand exemplarischer Beispiele die ablesbaren Auswirkungen der modernen Kunst auf das Design aufgezeigt werden. — 1 1935 veröffentlichte Jan Tschichold, ein Protagonist der «Neuen Grafik», in den «Typographischen Monatsblättern» (Zürich, 1935) einen Aufsatz über «Die gegenstandslose Malerei und ihre Beziehungen zur Typographie der Gegenwart». 2 Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 262.
77 6. Avantgardekunst und Grafikdesign
Meilensteine
Abb. 83: George Braque: Häuser in L’Estaque, 1908. H. Honour, J. Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München, 1992, S. 574.
Abb. 84: E. McKnight Kauffer: Plakat für den «Daily Herald», 1918. Dieses Plakat zeigt, wie der formale Ausdruck des Kubismus (und des Futurismus) für ein Grafikdesign mit klarer Kommunikation verwendet werden konnte. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 255.
Kubistische Revolution Die kubistische Bewegung um Braque und Picasso war die avantgardistische Strömung, die den radikalen Bruch mit den künstlerischen Traditionen des 19. Jahrhunderts zuerst vollzog. Sie entwickelte ein neues Abstraktionsverfahren durch Reduktion aller Formen auf ein System von Würfeln, Zylindern und scharf begrenzten Facetten und Flächen («analytischer Kubismus»). Es war eine grundsätzlich neue Bildvorstellung, die mit dem tradierten naturalistischen Illusionismus brach (Abb. 83 ). Auf diese Weise wurden die Objekte gleichzeitig von verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ansichten präsentiert: eine komplexe Sicht der Realität. Komplexe Prozesse und nicht mehr nur Zustände waren auch der Gegenstand der modernsten zeitgenössischen Forschung in Physik und Chemie. So schufen die KubistInnen eine Revolution in der Malerei, die ein Äquivalent zur Revolution im wissenschaftlichen Weltbild darstellte.1 Die visuellen Erfindungen des Kubismus wurden zum Katalysator für Experimente, welche auch das Design zu geometrischer Abstraktion und zu einem neuen Zugang zur Illustration brachten. Viele DesignerInnen und IllustratorInnen der so genannten postkubistischen modernen Illustration, wie E. McKnight Kauffer, A.M. Cassandre oder Jean Carlu, übertrugen Konzepte und Ideen in ihre Entwürfe, vor allem in Plakate (Abb. 84–86 ). Die Formen der Buchstaben in Fernand Légers Malerei und seinem grafischen Werk für Blaise Cendrars Antikriegs-Buch La Fin du Monde, filmée par l’Ange Notre-Dame markierten den Weg zu geometrischen Buchstabenformen. Seine beinahe piktografischen Vereinfachungen der menschlichen Figur und der Gegenstände waren eine bedeutende Inspiration für
Abb. 85: A.M. Cassandre: Plakat für die Pariser Zeitung «L’Intransigeant», 1925. Ein piktografisches Bild von «Marianne», der symbolischen Stimme Frankreichs, welche Neuigkeiten ausruft, die sie über Telegrafendrähte erhält. Indem er seine Gegenstände auf ikonografische Symbole reduziert, näherte sich Cassandre sehr stark dem synthetischen Kubismus an. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 256.
die moderne Illustrationsgrafik. Légers platte Farbflächen, die städtischen Motive und die schneidige Präzision seiner Maschinen halfen, das Design nach dem Weltkrieg zu definieren (Abb. 87). Futuristischer Geschwindigkeits- und Technikkult Auch die futuristische Bewegung proklamierte den Bruch mit der Vergangenheit der Museen und Akademien, die Zerstörung des Alten und die Sprengung der künstlerischen Tradition. Dagegen stellte sie die «Pracht des durch die siegreiche Wissenschaft verwandelten zeitgenössischen Lebens.»2 Die futuristische Kunst wollte die rauschhaft erlebte moderne Welt in ihre Texte, Bilder und Skulpturen übersetzen. Sie wollte die Welt der Technik «als allgegenwärtige Geschwindigkeit» spiegeln. In dem von Filippo Marinetti (1876–1944) 1909 verfassten «Manifest des Futurismus» erschienen der Rhythmus des modernen Lebens, die Geschwindigkeit und Ästhetik der Maschinen und die Aggressivität der technischen und militärischen Welt wie eine Verheissung.3 Die gestalterische Umsetzung erfolgte durch simultane Darstellung: Verschiedene Erlebnis- und Ereignisphasen eines Motivs wurden in einem einzigen Bild (oder einer Plastik) simultan dargestellt. — 1 Beat Schneider, Penthesilea, S. 291f. 2 Die Zitate stammen aus dem «Manifest des Futurismus» von 1909, zitiert aus: Schneider, Penthesilea, S. 291. 3 In den zwanziger Jahren nahm der italienische Futurismus eine offen faschistische Haltung ein und begrüsste die absolute Verherrlichung der nationalistischen Aggression im faschistischen Staat Mussolinis.
78 6. Avantgardekunst und Grafikdesign
Meilensteine
Abb. 86 : Jean Carlu: Buchumschlag für «Vanity Fair», 1930. Stilisierte geometrische Köpfe evozieren Neonlicht und Kubismus, während sie in den Nachthimmel glühen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 258.
Abb. 87: Fernand Léger: Seiten aus «La Fin du Monde, filmée par l’Ange Notre-Dame», 1919. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 233.
Der Futurismus hatte einen revolutionierenden Einfluss auf die andern künstlerischen Bewegungen (Dada, Konstruktivismus und de Stijl). Filippo Marinetti rief auch zu einer typografischen Revolution auf. Seit Gutenbergs Erfindung des Satzes mit beweglichen Typen hatte das Grafikdesign eine strenge horizontale und vertikale Strukturierung gepflegt. Die FuturistInnen gaben diese Tradition auf und animierten ihre Seiten mit dynamischen, nicht linearen Wortkompositionen. Für sie sollten Wortinhalt und Typografie gleichzeitig expressive visuelle Form annehmen. Das neue typografische Design bekam den Namen «parole in liberta» (Worte in Freiheit ) (Abb. 88, 89). Dada Dada entstand zunächst als literarische Bewegung, die opponierte, rebellierte und provozierte. Die Dadaisten publizierten Nonsense-Gedichte mit absurden Titeln und mit einem ebenso charakteristischen Design (Abb. 90). Dada-KünstlerInnen erfanden die Fotomontage, nämlich die Technik, vorgefundene fotografische Bilder zu manipulieren und damit ein widersprüchliches Nebeneinander und Assoziationen des Zufalls zu kreieren. John Heartfield, der antifaschistische «Fotomonteur», benutzte die Fotomontage als potente Propagandawaffe gegen die Nazis – er gestaltete zum Beispiel die Titelseiten der deutschen «Arbeiter-Illustrierten-Zeitung» (AIZ) (Abb. 91). Die surrealistische Traumwelt Die surrealistische Bewegung fand anstelle der realen Welt – dieser «Weltkonstruktion der Vernunft» – eine «nicht weniger wirkliche Welt»4, bestehend aus Vorstellungen, Fantasien
Abb. 88 : Filippo Marinetti: Montagne + Vallate + Strade x Joffre (Berge + Täler + Strassen x Joffre), 1915. Dieses Gedicht beschreibt Marinettis Reise nach Frankreich, an die Front und zu F. Léger. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 234.
und Ahnungen. Es ist eine Welt, die zuvor von Verstand und Logik verhindert wurde. Der Surrealismus rehabilitierte das Reich von Magie und Aberglaube. Die surrealistische Welt ist die Domäne des Unbewussten, der Triebe, der Traumwelt und ihrer Bilderwelt. Es ist eine dunkle, dem logischen Denken verschlossene und absurd erscheinende Region. Der Arzt und Psychiater Sigmund Freud (1856–1939) hatte mit seiner Tiefenpsychologie und Trieblehre den Schlüssel für die Entdeckung dieser Welt des Unbewussten geliefert. In seinem «Surrealistischen Manifest» ( 1924 ) betonte der französische Schriftsteller André Breton die Sinnlosigkeit einer logischen, ästhetischen und moralischen Zivilisationsfassade gegenüber der existenziellen Übermacht des Irrationalen. Die SurrealistInnen glaubten an eine lebbare Verbindung der neuen Wirklichkeit mit der Alltagsrealität, wenn die Letztere nach ihren Vorstellungen revolutioniert würde. André Breton: «Ich glaube an die künftige Lösung dieser beiden äusserlich so widersprüchlich erscheinenden Zustände – Traum und Wirklichkeit – in einer Art von absoluter Wirklichkeit – von ‹surréalité›.» Der Bruch mit der Tradition und die Utopie einer «surrealen» Gesellschaft brachte die surrealistische Bewegung politisch in die Nähe der revolutionären linken Bewegungen und Parteien. André Breton schrieb: « Der Surrealismus ist im Dienst der Revolution ».5 Die Wirkung der SurrealistInnen auf das Grafikdesign war unterschiedlich (Abb. 92). Sie bahnten den Weg für neue Techniken und demonstrierten, wie Fantasie und Intuition auf visuelle Art ausgedrückt werden können. Die surrealistischen Bilder und Ideen wurden später von den Massenmedien übernommen und trivialisiert.6
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Abb. 89 : Guillaume Apollinaire: Kalligramm «Il pleut» (Es regnet), 1918. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 236.
Abb. 90 : Hugo Ball: Dada-Gedicht, 1917. Solche Gedichte drückten den dadaistischen Wunsch aus, den logischen menschlichen Unsinn durch einen unlogischen Unsinn zu ersetzen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 239.
Der surrealistische Künstler Max Ernst (1891–1965) verwendete eine Reihe von Techniken, die im Grafikdesign übernommen wurden. Fasziniert vom Holzdruck der Novellen im 19. Jahrhundert, erfand er diesen neu, indem er technische Collagen schuf, um merkwürdige Nebeneinanderstellungen zu kreieren (Abb. 93). Diese surrealistischen Collagen hatten einen starken Einfluss auf die Illustration. De Stjil/Konstruktivismus Der konstruktivistische Einfluss auf das Design durch die russischen und holländischen KonstruktivistInnen ist bereits erwähnt worden (vgl. Kapitel 5). De Stijl und der russische Konstruktivismus suchten nach einer reinen Art der Herstellung von visuellen Beziehungen. Mondrian und Malewitsch verwendeten dazu reine Linien, Flächen und Farben, welche die Basis einer allgemein verständlichen Zeichensprache bilden sollten. Die so gewonnene strenge geometrische Ordnung war für sie ein visionärer Prototyp für eine neue Weltordnung oder anders formuliert: der formal-ästhetische Ausdruck für eine universelle und klassenlose Gesellschaft, welche auf der modernen Industrie und Technik basierte. Der Gebrauch solcher geometrischer Konstruktionen im Entwurf von gedruckten Seiten hatte durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch einen dominierenden Einfluss auf die visuelle Kommunikation: Das Vokabular von De Stijl wurde direkt im Grafikdesign angewendet. Die konstruktivistisch entwerfenden GrafikerInnen benutzten für das Gesamtlayout und zum Teil auch für die Schrift die horizontalen und vertikalen Strukturen von Mondrians Gitter (Abb. 94; vgl. auch Abb. 59). Sie anonymisierten die Typografie, indem sie statt Zier- und Handschriften
Abb. 91: John Heartfield: Der Sinn des Hitlergrusses, 1932. Titelblatt der «Arbeiter-Illustrierten-Zeitung», Nr. 42. Anlass dieser Fotomontage war die finanzielle Unterstützung Hitlers durch das deutsche Monopolkapital. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 343.
schmucklose, technisch wirkende Satzschriften verwendeten (vor allem die Grotesk), und sie entindividualisierten die Bildelemente, indem sie für Illustrationen das anonymere Medium der Fotografie der individuellen Handzeichnung vorzogen.7 Avantgardistische Fotografie Es war unvermeidlich, dass die neuen visuellen Sprachen der avantgardistischen Bewegungen die Fotografie beeinflussten, genauso wie Futurismus und Dadaismus ihre Wirkung auf die Typografie hatten. Die Fotografie wurde erfunden, um die Realität mit grösserer Genauigkeit zu dokumentieren, als dies die Malerei vermochte. Im frühen 20. Jahrhundert stiess die Kunst die Fotografie jedoch in ein neues Reich der Abstraktion und des Designs. In seinen Manipulationen von Fotos in der Dunkelkammer und in seinen bizarren Aufbauten im Studio brachte Man Ray (1890–1976) Dada und Surrealismus in der Fotografie zum Einsatz. Er war der erste Fotograf, der das kreative Potenzial der Solarisation ausnutzte, indem er eine Emulsion mit grösserer Lichtmenge belichtete, als zur Erzielung der Maximalschwärze notwendig ist, so dass eine Bildumkehr eintrat. Rays kameralose Drucke, die er rayographs nannte, waren komplexer als Schattenbilder. Er verwendete auch die Verzerrungstechnik, den Druck durch Gewebe hindurch und die Mehrfachbelichtung, um traumähnliche Bilder und neue Interpretationen von Zeit und Raum zu schaffen und so den Surrealismus im Grafikdesign umzusetzen (Abb. 95 ). — 4 5 6 7
Beat Schneider, Penthesilea, S. 293f. Zitiert aus: Ebenda, S. 294. Philip Meggs, History of Graphic Design, S. 245. Christoph Bignens, Swiss Style, S. 38.
80 6. Avantgardekunst und Grafikdesign
Meilensteine
Abb. 92: Herbert Bayer: Titel der Zeitschrift «Die neue Linie», März 1932. Surreale Flugreisesehnsucht Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt, 2000, S. 105.
Abb. 93: Max Ernst: Collage «Une Semaine De Bonté», 1934. Fotomechanische Drucktechniken machen (Schneide-) Ränder unkenntlich und vereinheitlichen so das Bild. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 244.
Der «Plakatstil» Die Geschichte des Plakats als Massenkommunikationsmedium begann im 19. Jahrhundert. Zur Zeit der aufkommenden Markenartikelindustrie wurde das Bild-Plakat zum wesentlichen Werbemittel. Seit der Erfindung der Lithografie durch A. Senefelder (1798) konnte das Plakat in grossem Format und hoher Auflage produziert werden. Um die Wende zum 20. Jahrhundert schufen Jugendstilkünstler wie E. Grasset und A. Mucha einen spezifischen Plakatstil mit fliessenden ornamentalen Linien und neuen Schriftformen, der in Europa grossen Einfluss hatte. Um 1900 begann die Markenartikelindustrie zu florieren. Als Folge davon prosperierten auch Plakat- und Werbegrafik. In dieser Zeit wurde das Plakat beziehungsweise das Illustrationsdesign wie gezeigt stark von der modernen Kunst beeinflusst. Das reduktive, farbflächige Illustrationsdesign, das in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert entstand, wird «Plakatstil» genannt. In Berlin wurde Lucian Bernhard (1883– 1972) Schöpfer einer neuen Plakat-Form, des «Berliner Sachplakats». Er reduzierte die Bildelemente auf eine grafisch vereinfachte Produktabbildung und den Firmenschriftzug (Logo); dazu benutzte er intensive Farben (Abb. 96). Mit dieser Vereinfachung des Bildaufbaus sollte die Wahrnehmung der Plakate im Stadtbild verstärkt und der wachsenden Verkehrsdichte Rechnung getragen werden. Sein Stil machte Schule: H.R. Erdt, J. Gipkens und andere entwarfen ähnliche Plakate (Abb. 97). Im Ersten Weltkrieg stellten diese Designer ihr Können teilweise in den Dienst der Kriegswerbung – ein Vorgang, der auch im Design der USA zu beobachten war. Im Krieg erreichte das Kommunikationsmedium Plakat seine grösste Ver-
Abb. 95: Man Ray: Pistole mit Buchstabenquadraten, 1924. In diesem «rayograph» verwandeln Mehrfachbelichtungen (Solarisation) und wechselnde Lichtquellen die Gegenstände der Fotografie in eine neue visuelle Ordnung. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 248.
breitung. Die Regierungen benutzten in diesem globalen Konflikt für ihre Propaganda- und Überzeugungskampagnen Plakate, die massenweise verbreitet wurden (Abb. 98).
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Abb. 96: Lucian Bernhard: Plakat für Zündhölzer der Firma Priester, 1905. Ursprünglich war auf diesem Entwurf für einen Firmenwettbewerb noch ein Tisch zu sehen, auf dem die Zündhölzer und eine Zigarre lagen, und im Hintergrund tanzende Mädchen. Bernhard reduzierte das Plakat kurz vor dem Abgabetermin auf zwei Aussagen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 249.
Abb. 94: Richard P. Lohse: Anzeige der Adolf Feller AG Horgen, um 1950. Quelle: Christoph Bignens, Swiss Style. Die grosse Zeit der Gebrauchsgrafik in der Schweiz 1914–1964, Zürich, 2000, S. 38.
— Abb. 97: Hans Rudi Erdt: Plakat für Opel-Automobile, 1911. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 250.
Abb. 98: Lucian Bernhard: Plakat für eine KriegsanleiheKampagne, 1915. Der dominierende militärische Eindruck wird durch die gotische Inschrift verstärkt. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 251.
7. DESIGN IM FASCHISMUS
84 7. Design im Faschismus
— Wirtschaftliches und Soziales
von jener Kunst der Reduktion, die wir beim «Plakatstil» kennen gelernt haben ( vgl. Abb. 96, 97)?
Es gibt wichtige Gründe, weshalb in einer Designgeschichte die Gestaltung im Faschismus und insbesondere im Nationalsozialismus nicht übergangen werden darf: Die Alltagsästhetik und das Design spielten im Dritten Reich eine sehr zentrale Rolle. Die Ästhetisierung des Alltags und der Politik, inklusive der staatlichen Gewalt, ist eine der «Errungenschaften» des Faschismus. Ohne die Analyse des zweifellos gekonnten Umgangs der Nazis mit den damals verfügbaren Mitteln der visuellen Kommunikation kann das Funktionieren der Nazi-Herrschaft nicht angemessen verstanden werden. Es entspricht einer verbreiteten Meinung, dass nationalsozialistische Ästhetik und ihr Design etwas Eigenständiges seien, was mit den geschichtlichen Vorgängern nicht viel gemein habe. Das stimmt so aber nicht. Der Funktionalismus lebte, entwickelte sich weiter und konnte sich in der Gestaltung von Alltagsprodukten realisieren – und das in der ersten europäischen Massenkultur. Im Dritten Reich gab es tatsächlich Design! Die ProduktgestalterInnen und GrafikerInnen, die sich ihr Rüstzeug zum grossen Teil in einer Zeit geholt hatten, die vom «Internationalen Stil» geprägt wurde, waren unter der faschistischen Herrschaft mehrheitlich nicht untätig. Man muss annehmen, dass Tausende von IndustriedesignerInnen die Produktvielfalt einschliesslich der Vernichtungsmaschinerie der Nazis auf hoch stehendem Niveau gestalteten, Tausende von GrafikerInnen die gigantische Nazipropaganda mitsamt der Formulare der Mörder qualitätsvoll entwarfen. Und sie hielten sich in der Regel an formale Prinzipien, die sie vorher entwickelt und gelernt hatten. Oder zeugen die «normalen» Alltagsplakate aus der Zeit des Dritten Reichs (Abb. 103) nicht
Die Ästhetisierung der Politik Die alte politische Elite hatte der neuen NS-Führung bei der Machtübergabe 1933 zwei grosse ungelöste Fragen hinterlassen: die soziale Frage, das heisst der sich zuspitzende Klassenkampf, und die nationale Frage, das heisst die Überwindung der «nationalen Schmach» des Versailler Friedens und die «Wiederherstellung nationaler Grösse und Geltung». Die Lösung der sozialen Frage suchten die Nazis in der Überwindung der klassengesellschaftlichen Spaltung. Anstelle der Klassengesellschaft setzten sie das Modell der klassenüberwindenden «Volksgemeinschaft». Dazu gehörte auch die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung mit allen staatlichen Mitteln der Gewalt und des Terrors. Die Lösung der nationalen Frage bestand in der Schaffung des «tausendjährigen Reiches» mit dem Leitbild des «Führers». Dazu diente die beispiellose Aufrüstung staatlicher Macht und die offen imperialistische und aggressive Expansionspolitik. Die Lösung beider Fragen allein mit repressiven Mitteln – das wussten die Nationalsozialisten – war illusorisch. Schon für die legale Machteroberung war der Terror nur eines der Mittel. Aber auch der Ausbau der faschistischen Macht nach 1933, das Vorhaben also, die Mehrheit des deutschen Volkes für die NS-Ziele zu gewinnen, wäre mit einer einseitigen Ausrichtung auf Gewalt und Terror nicht möglich gewesen. Neben den repressiven Mitteln setzten die Nationalsozialisten ästhetische ein. Sie betrieben einen grossen Aufwand, um ihre Politik zu ästhetisieren. Der Faschismus wollte die krude Klassenwirklichkeit nicht verändern, aber er versuchte sie mit schönem Schein zu maskieren und so ihre Wahrnehmung zu verändern. Neben der brutalen Gewaltanwendung brauchte er zur unerlässlichen Stabilisierung des Regimes die permanente Inszenierung einer solchen Scheinwirklichkeit. Durch Inszenierung und Kulissen, durch eine beispiellose Dekoration der Macht und des Alltags wurde der Unterschied zwischen dem schönen Schein und der hässlichen Wirklichkeit überspielt.
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«Die Ästhetisierung erschien für die Bearbeitung der nationalen und sozialen Frage deshalb so unentbehrlich, weil die Realisierung dieser Ziele entweder nur mit repressiven Mitteln möglich oder überhaupt illusorisch war. Diese Strategie diente weniger der Veränderung der Wirklichkeit, als der Veränderung ihrer Wahrnehmung oder der Täuschung über die wahren Absichten des Regimes. Dafür nutzten die Nazis vielfältige Instrumente und Techniken, die sie überwiegend im Fundus der Selbstdarstellung bürgerlicher und proletarischer politischer Akteure vorfanden, die sie perfektionierten und zugleich pervertierten und die im Übrigen mit dem Dritten Reich nicht einfach untergegangen sind.»1 In der Erzeugung des schönen Scheins war das NS-Regime bis weit in die Kriegsjahre hinein erfolgreich. Natürlich konnte es auf die Bereitschaft der Massen zur Selbsttäuschung aufbauen! Dabei kam den Nazis jedoch ihre gegenüber dem Liberalismus und dem Marxismus überlegene Einsicht zugute, dass das Verhalten der Menschen nicht ausschliesslich wirtschaftlich und durch die Vernunft motiviert ist. Vielmehr baut es auch auf einem überpersönlichen Motiv für das Dasein auf. Die Faschisten vertrauten auf die klassensprengende Kraft ihrer Parolen: «Nation», «Ehre», «Grösse», «Opferbereitschaft», «Hingabe» usw. Sie befriedigten das Massenbedürfnis nach Identifikation, Gemeinschaft, Unterhaltung und Schönheit. Sie teilten die Ängste der Menschen und boten ihnen eine rückwärts gewandte Utopie an – in ein Land, wo alle verlorenen Paradiese liegen. Sie mythisierten die Politik mit der Beschwörung von vormodernen heilen Welten des «Reichs» und der «Volksgemeinschaft». Sie personifizierten die Politik im «Führer» als dem Ersatzkaiser und Erlöser. Sie begleiteten den langweiligen Alltag mit einem pausenlosen Feuerwerk grosser Schaustellungen, mit Paraden, Weihestunden, Fackelzügen, Höhenfeuern und Aufmärschen. So gesehen, verdankte der Nationalsozialismus seinen Erfolg neben dem umfassenden Einsatz repressiver Mittel auch der Mobilisierung und Integration durch ästhetische Massenfaszination, der Verführung der Menschen durch das Bündnis von Macht und «Schönheit». Ästhetik war ein Element der Machttechnik und der Systemsteuerung des NS-Regimes;
sie war politische Ästhetik. Der Nationalsozialismus war eine Kultur- und nicht eine Klassenrevolution (vgl. den Abschnitt «Politisierung des Ästhetischen»). Erste europäische Massenkultur Die Basis für die ästhetische Instrumentalisierung des Alltags und der Politik durch die Nazis war die Massenkonsumkultur. Ohne sie wäre die Effizienz der nationalsozialistischen Kulturrevolution nicht möglich gewesen. Die Nazis entwickelten unter dem Primat der Politik die erste kapitalistische Massenkultur auf europäischem Boden. Diese beruhte auf einer leistungsfähigen kapitalistischen Ökonomie mit relativ differenziertem Massenkonsum und Massenkaufkraft. Der Massenkonsum, auch der von Kulturgütern, wurde von den Nazis bewusst als ein die Massen blendendes und bindendes Herrschaftsmittel eingesetzt. Die Massenmedien waren auch schon hier die Instrumente der Massenkultur. «Dem Nationalsozialismus ist es zwischen 1933 und 1945 also gelungen, 1. ein tragfähiges Konzept, eine die Massen bindende und sie zugleich zufrieden stellende Massenkultur zu entwickeln und zu installieren; 2. in dieses Konzept zentrale Elemente bürgerlicher Kultur einzubauen, die innerhalb der Massenkultur eine führende, besser: eine herausragende oder sinnstiftende Aufgabe übernehmen.»2 — 1 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M., 1993, S. 373. 2 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995.
86 7. Design im Faschismus
Meilensteine
Theorie
Abb. 99: Plakat für KdF. Mit Kraft durch Freude nach Italien. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M, 1993, S. 371.
Abb. 100: Plakat «Deutschland – Das Land der Musik», 1935. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M, 1993, S. 381.
Abb. 101: Werbeplakat für Siemensstaubsauger, um 1935. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M, 1993, S. 377.
Der schöne Schein des Dritten Reichs Mit dem Begriff des «schönen Scheins des Dritten Reichs» drückte Peter Reichel in seinem gleichnamigen Buch aus, dass für die nationalsozialistische Kulturpolitik das Schöne nicht nur eine Sache der Künste war. Schönheit war eine der am meisten gebrauchten Vokabeln im kulturellen Jargon des Nationalsozialismus.1 «Sie charakterisiert und umgibt nicht nur die Arbeit als notwendige Verrichtung, sondern auch (…) den Wohnungsbau, die Küche, die Kaffeekanne, die Jagdfliegerstaffel, die Fahnenpräsentation der einmarschierenden Sportler, den Reigentanz des BDM (Bund deutscher Mädel, B.S.), das Werk ‹Glaube und Schönheit› des BDM, den geflochtenen Haarkranz der blonden Deutschen, vor allem aber das Rasseideal des meist nackt dargestellten nordisch-deutschen Menschen. Das Analogon für ‹Schönheit› ist die ‹Würde›, so dass sich der neue Staat für und in seinen Menschen in Schönheit und Würde präsentiert.»2 Die Bedeutung des Ästhetischen im Aufbau und in der Steuerung der nationalsozialistischen Volkskultur bedeutet nicht, dass die Nazis nur den NS-Stil zugelassen hätten. Diesen NSStil gab es nämlich gar nicht, denn je nach Verwendungszweck wurden historisierende wie moderne Formen eingesetzt und kombiniert. In der Architektur gab es keinen so genannten «Führerstil», es gab Platz für verschiedene Architekturen. Neben volkstümlicher, völkisch biederer Alltagsarchitektur gab es für repräsentative Zwecke pseudoklassizistische Monumentalarchitektur («Reichskanzleistil») und für avancierte industrielle Zweckbauten funktionalistische Architektur mit einem sparsamen, technisch-rationellen Stil.
Politisierung des Ästhetischen statt Ästhetisierung des Politischen! Der Begriff der «Ästhetisierung des Politischen» ist Walter Benjamin (1892–1940) zu verdanken. Benjamin hatte den italienischen Futurismus und dessen obszöne Ästhetisierung des Krieges vor Augen. Er stellte der «Ästhetisierung des Politischen» als Herrschaftsmodell der reaktionären bürgerlichen Kräfte und des Faschismus die «Po– litisierung des Ästhetischen» als Postulat der Linken gegenüber. Die Linke hatte nach Benjamin die Aufgabe, den politischen Kontext und die politische Bedingtheit des Ästhetischen hervorzuheben, denn die bürgerliche Gesellschaft hatte seit der Aufklärung das Schöne in einer unpolitischen «interesselosen» Sphäre angesiedelt und damit den Blick für die politische Dimension des Ästhetischen weitgehend verstellt. Die Folge dieser Haltung war, dass das Bürgertum der Ästhetisierung des Politischen (etwa durch die Nazis) hilflos ausgeliefert war. Während die Ästhetisierung des Politischen die Massen von der Wahrnehmung der Wahrheit ablenkte, sollte die Politisierung des Ästhetischen aufklären und die Wahrnehmung des politischen Gehalts visueller Prozesse schärfen.1
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Abb. 102: AEG-Reklame für einen Kühlschrank, um 1935. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a.M, 1993, S. 377.
Abb. 103: Ludwig Hohlwein: Plakat für die deutsche Lufthansa 1936. Ein mythisches geflügeltes Wesen symbolisiert die Luftfahrtsgesellschaft, den deutschen Sieg an der Berliner Olympiade (1936) und den Triumph der Nazibewegung. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 254.
NS-Alltagsästhetik Die Bedeutung des Designs und der Warenästhetik im Dritten Reich ist kaum überschätzbar (Abb. 99, 100). Die im nationalsozialistischen Sinn gesteuerte Produkt- und Umweltgestaltung wollte den Alltag prägen und dazu beitragen, einen «neuen Lebensstil», eine «neue Volkskultur» zu schaffen. Es sollten «kulturell wertvolle» und «für das Volk erschwingliche Produkte» erzeugt werden. Die Palette reichte von der Agfa-Box, den elektrischen Haushaltgeräten (Abb. 101, 102), dem «Volksempfänger VE 301» (Abb. 106) bis zu Coca Cola – erst ab 1942 wurde der Markt mit der vom Import unabhängigen Fanta versorgt – und zum «Volkswagen» (Abb. 107). Für Massenbedarfsgüter wurde Einfachheit und Sparsamkeit verordnet. Das NS-Regime knüpfte in seinen produktionsästhetischen Anstrengungen an die Entwicklungen der zwanziger Jahre an, als von der Industrie erstmals genormte und typisierte Produkte gestaltet worden waren. Traditionell völkische, vormoderne Elemente fanden im Design weniger Eingang als in Architektur und bildender Kunst. Beim Nazi-Design standen vielmehr Sachlichkeit, Effektivität und Zweckmässigkeit im Vordergrund. Was schlicht und praktisch war, galt so auch als schön, ganz im Sinn des Werkbund-Designs der zwanziger Jahre. Der Leitspruch modernen Gestaltens, Louis Sullivans «form follows function», wurde im Dritten Reich nicht aufgegeben, sondern umfunktioniert. Formbestimmende Kraft war jetzt nicht irgendeine Funktion, sondern die «arteigene Funktion», und die hatte ihr Vorbild in der Natur. Die Gestaltung — 1 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a. M, 1993. 2 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995.
Abb. 104: Ludwig Hohlwein: Konzertplakat, 1938. Eine teutonische Kriegerin, von unten beleuchtet. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 255.
Politik als Gesamtkunstwerk Joseph Goebbels bemerkte 1937 über Adolf Hitler: «Sein ganzes Werk bezeugt einen künstlerischen Geist: Sein Staat ist ein Bauwerk von wahrhaft klassischen Massen. Die künstlerische Gestaltung seiner Politik stellt ihn, wie es seinem Charakter und seiner Natur gebührt, an die Spitze der deutschen Künstler.»2 Völkischer Funktionalismus Und in seiner Rede vor der Reichskulturkammer vom 1. Mai 1939 führte Joseph Goebbels weiter aus: «Der Nationalsozialismus hat das Wunder fertig gebracht, die Technik dieses Jahrhunderts, die schon im Begriff stand, den Menschen sich vollständig botmässig zu machen, aufs Neue zu beseelen und sie mit dem Geist nicht nur der Zweckmässigkeit, sondern auch der ästhetischen Schönheit zu erfüllen.»3
— 1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M., 1963. 2 Zitiert aus: Schneider, Penthesilea, S. 329. 3 Ebenda, S. 342.
88 7. Design im Faschismus
Meilensteine
Abb. 105: Ludwig Hohlwein: Plakat für die militärische Rekrutierung, 1940. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 255.
Abb. 106: Walter Maria Kersting: VE 301 Volksempfänger, 1936. Das Gehäuse war aus Bakelit, die abgerundeten Ecken und die geschwungene Linie der Senderanzeige lassen den Art-Déco-Einfluss erkennen. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 343.
technischer Produkte hatte sich an organisch-natürliche Formen anzupassen (vgl. «Völkischer Funktionalismus»). Aus politisch-ideologischen Gründen wurden die moderne Kunst und die künstlerische Avantgarde bekämpft, aber das Bestreben des Funktionalismus nach Einfachheit und Klarheit, nach Standardisierung, billigen Materialien und preiswerten Massenprodukten wurde vom Naziregime problemlos vereinnahmt. Einfachheit und Schlichtheit, das Pathos der Nützlichkeit, entsprachen auch der Ideologie der «deutschen Volkskultur» und den Erfordernissen ihrer industriellen Massenproduktion. So konnte Wilhelm Wagenfeld (1900–90), Bauhäusler und einer der Begründer des modernen deutschen Industriedesigns (Abb. 69), 1935 ohne weiteres Leiter der Oberlausitzer Glaswerke werden. Dort entwarf er stapelbares Systemgeschirr in geometrischer Kubusform und Gläser für die Massenproduktion. «Seine schlichten und ‹zeitlosen› Formen kollidierten nicht mit dem Ewigkeitsanspruch des Dritten Reichs.»3 Nach dem Zweiten Weltkrieg war Wagenfeld Mitbegründer des neuen Werkbundes und Dozent an der Hochschule der Künste Berlin und wurde einer der Vertreter des Anspruchs der «Guten Form». Dem Nationalsozialismus gelang es also, den Funktionalismus und andere Ziele der Reformbewegungen zu vereinnahmen. Es verwundert daher nicht, dass sich schon vor 1933 viele Mitglieder des Deutschen Werkbundes im nationalsozialistischen «Kampfbund für Deutsche Kultur» organisierten. Nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 biederte sich ein Teil der ehemaligen Bauhäusler bei ihnen an4 und fand sich im Amt «Schönheit der Arbeit» wieder. Auch andere bekannte Designer, wie der Grafiker Ludwig Hohlwein, stellten ihr Können in den Dienst der neuen Machthaber (Abb. 103–105).
Abb. 107: Der KdF-Wagen, der auch Volkswagen (VW) und später Käfer genannt wurde, 1937. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a.M, 1993, S. 371.
Eine Weltpremiere: ein Amt für Design Es hiess natürlich nicht «Amt für Design», sondern Amt «Schönheit der Arbeit», erfüllte aber genau diese Funktion. Wer meint, dass sich hinter diesem Namen eine ideologisch ausgerichtete Institution versteckte, die Nazi-Schönheitspropaganda zu verbreiten hatte, täuscht sich. Denn das Amt «Schönheit der Arbeit» strebte die Modernisierung und Standardisierung der Produktion in den Betrieben an. Es veranstaltete Wettbewerbe, organisierte Kampagnen und gab Musterbücher heraus. Es regte den Einsatz neuer Materialien wie Bakelit und Aluminium sowie neuer Technologien an und verwendete dabei – in offensichtlichem Einklang mit der NSIdeologie – stets die funktionalistischen Prinzipien, die für die Massenproduktion geeignet waren. Zusammen mit «Kraft durch Freude» (KdF), einer der beliebtesten NS-Gemeinschaften, die über 130 000 ehrenamtliche MitarbeiterInnen zählte und eine eigentliche Freizeitgesellschaft aufbaute, erfüllte das Amt «Schönheit der Arbeit» eine wichtige Funktion bei der Umsetzung der Designpolitik des Regimes – ja, man könnte sogar behaupten: eine moderne Funktion. Denn die Institution deckte sich in ihrer Aufgabe weitgehend mit staatlichen Organismen, die man heute etwa Amt für Technologietransfer, Kommission für Innovation oder Amt für Kultur/Abteilung Design nennen würde. VE 301 – das wichtigste Instrument der NS-Medienpolitik Was Joachim Petsch das «wichtigste Instrument der faschistischen Medienpolitik»5 nannte, war ein kleiner Quader aus Bakelit, der funktionell mit Art-Déco-Einflüssen gestaltet wurde (Abb. 106). 1928 (!) hatte Walter Kersting das später «Volksempfänger 301» genannte Rundfunkgerät entworfen.
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Abb. 108: Die Leichtigkeit des modernen Verkehrs: Moderne Hängebrücke über den Rhein bei Köln. Quelle: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reichs, Frankfurt a.M, 1993, S. 372.
Im Dritten Reich wurde das staatlich subventionierte, günstige und handliche Radio nun für den Massenbedarf produziert. Die massenhafte Verbreitung und die Tatsache, dass die EmpfängerInnen mit dem VE 301 technisch gesteuert nur deutsche Sender empfangen konnten, erklären die Aussage von J. Petsch. Der VE 301 ist ein Paradebeispiel für die von Thomas Hauffe getroffene Feststellung: «Nicht die Form der Gegenstände, sondern ihre politische Funktion war es, welche die Gestaltung der Architektur, der Industrieprodukte, des gesamten Alltags bis hin zum arischen Menschenbild zum ‹Nazistil› machte.»6 Der VW-Käfer Das Regime war mit dem modernen Anspruch angetreten, dass bald «jeder Volksgenosse» Besitzer eines Automobils sein sollte. Gesucht wurde ein Personenwagen, der schlicht und preiswert war. Zudem sollte er nicht wassergekühlt sein, denn nicht jeder «Volksgenosse» konnte über eine Garage verfügen. Gefunden wurde der Entwurf von F. Porsche (Abb. 107), der schon in den zwanziger Jahren an einem billigen Personenwagen für die breite Bevölkerung – in Anlehnung an das «Model T» von H. Ford – getüftelt hatte. Der PorscheEntwurf war bestechend einfach und nach amerikanischem Vorbild stromlinienförmig gestaltet (vgl. zur Stromlinienform Kapitel 8). Diese Form fand auch die Zustimmung Adolf Hitlers: «Wie ein Käfer soll er aussehen. Man braucht (…) nur die Natur zu betrachten, wie sie mit der Stromlinie fertig wird.»7 Hitler unterstützte persönlich das Projekt und sorgte für die staatliche Subventionierung des 1938 gegründeten Volkswagenwerks in Wolfsburg. Der Personenwagen bekam den Namen «KdF-Wagen» («Kraft durch Freude») und wurde
auch «Volkswagen» oder einfach VW und später «Käfer» genannt. Der VW sollte aus Hitlers Sicht den «klassentrennenden Charakter der Kraftfahrzeuge» überwinden und den einzelnen «Volksgenossen in die Volksgemeinschaft» integrieren. «Der Kraftwagen muss», so Adolf Hitler, «das Verkehrsmittel aller Volksschichten werden», sonst behält er seinen «klassenspaltenden Charakter». «Die Leichtigkeit des modernen Verkehrs schüttelt die Menschen derart durcheinander, dass langsam und stetig Stammesgrenzen verwischt werden und so selbst das kulturelle Bild sich allmählich auszugleichen beginnt.» Der Kraftwagen sei zugleich «Teilnahme an den Errungenschaften unseres technisch bestimmten Zeitalters».8 (Abb. 108.) Die Stromlinienform wurde von den Nazis zur «Bioform» umfunktioniert, welche die «rassische» wie auch technische Überlegenheit Deutschlands darstellen sollte. PS: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Überlebenden einen VW kaufen. — 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 130. 4 «Das Bauhaus und das Hakenkreuz», in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 299ff. 5 Joachim Petsch, Kunst im Dritten Reich. Architektur, Plastik, Malerei, Alltagsästhetik, Köln, 1987. 6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 103. 7 Zitiert aus: Gert Selle, Design-Geschichte, S. 232. 8 Die Zitate von Adolf Hitler stammen aus Adolf Hitler, Mein Kampf, zitiert aus: Schneider, Penthesilea, S. 387.
90 7. Design im Faschismus
— Kommentar
Ambivalenzen An dieser Stelle müssen zwei grundlegende Feststellungen getroffen werden: 1. Die gestalterischen Reformbewegungen einschliesslich des Bauhauses waren gegenüber dem Faschismus nicht immun. 2. Der Nationalsozialismus vereinnahmte im Bereich des Designs und der Industriearchitektur den Funktionalismus und viele Ziele der Reformbewegungen, und im faschistischen Italien setzte sich der «moderne Stil» in der Architektur durch – was Vertreter des Bauhauses wie W. Kandinsky dazu (ver-)führte, Mussolinis faschistischen Staat als Modell zu betrachten.1 Beide Aussagen sind kongruent. Der Schlüssel für die Analyse dieses Tatbestandes liegt in der Ambivalenz, die sowohl dem Nationalsozialismus als auch der Moderne innewohnte. Die Ambivalenz auf Seiten der Moderne Die Ambivalenz der Moderne, ihre innere Widersprüchlichkeit, zeigte sich von der Arts & Crafts-Bewegung im 19. Jahrhundert bis zum Bauhaus immer wieder. In ihrem verbalen Widerstand waren alle diese Bewegungen radikal. Hinter der verbalen Kritik am Kapitalismus konnten sich jedoch zwei verschiedene Stossrichtungen verbergen: die rückwärts gewandte Utopie, die nicht selten dem national-konservativen Gedankengut entsprang oder sich ihm zuneigte und vormoderne Zustände anvisierte, und die progressive Utopie, die mit modernen Mitteln eine neue egalitäre Gesellschaft aufbauen wollte. Oft lebten beide Varianten unter einem Dach und liessen sich nicht fein säuberlich voneinander trennen. Radikalisierten
sich die Umstände, so wurde die Spreu vom Weizen getrennt: Ohne sich verleugnen zu müssen, konnten sich dann zum Beispiel Vertreter des Deutschen Werkbundes oder des Bauhauses der Reaktion anschliessen! Die Ambivalenz auf Seiten des Nationalsozialismus In der Faschismusdiskussion erfreut sich die Kontrastierung von Faschismus und Moderne einer grossen Beliebtheit. Der Faschismus wird als eine Rücknahme der Moderne verstanden. Es war kein Geringerer als der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, J. Goebbels, der behauptete: «Wir haben das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.»2 Der Gegensatz von Faschismus und Moderne erfasst jedoch nur einen Teil der Wirklichkeit! Zwar sammelte und formierte der Nationalsozialismus den Protest der verunsicherten kleinbürgerlichen und mittelständischen Klassen gegen die rasante Entwicklung des modernen Kapitalismus, den Protest gegen moderne Technik und die existenzbedrohende Rationalisierung ebenso wie den gegen die grosse Wirtschaftskrise, die «Zinsknechtschaft», das «Chaos» der von Klassenkämpfen gezeichneten modernen bürgerlichen Gesellschaft und die «Amerikanisierung» des Lebens. Dieser Protest war Ausdruck der Krisenangst und Produkt der wirtschaftlichen und politischen Krise der Gesellschaft und gleichzeitig der organisierte Massenprotest gegen sie. Er wollte, wie der Kunsthistoriker Sedelmayr 1939 sagte, «den bodenlos gewordenen Menschen an die Erde zurückbringen, von der er sich gelöst hat».3 Millionen von Menschen haben dies denn auch mit ihrem Leben bezahlt. Der Nationalsozialismus wollte mit seiner konservativen Revolution die Gesellschaft wieder in vormoderne, «heile» Zustände zurückführen. Und er war mit seinem antimodernen Protest erfolgreich – erfolgreicher jedenfalls als der Prostest seiner Gegner auf der Linken, die ihrerseits die bürgerliche Gesellschaft ja auch durch eine Revolution überwinden wollten. Der Nationalsozialismus war aber nicht nur das Produkt der Krise der modernen bürgerlichen Gesellschaft, er war gleichzeitig auch ihr Erbe. Das zeigt sich nirgends deutlicher als in
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den Mitteln, die er für die Lösung der Probleme anwendete. Es waren die Errungenschaften der modernen Technik und Wissenschaften, und es waren die modernsten Massenmedien und Kommunikationstechniken, deren sich der Nationalsozialismus wie selbstverständlich bediente. Hitler war der modernen Technik gegenüber aufgeschlossen wie wenige Politiker der Weimarer «Sozi-Republik»! Die vormoderne reaktionäre Vision wurde also mit technischer Modernität verknüpft: Das NS-Regime plante und vollzog zum Beispiel die «Endlösung der Judenfrage» mit den modernsten, rational-wissenschaftlichen, medizinischen Mitteln. Für diesen Tatbestand der Verknüpfung technischer Modernität und reaktionärer Vision prägte Jeffrey Herf den Begriff der «reaktionären Modernität».4 Walter Benjamin ging noch einen Schritt weiter, als er behauptete, der Faschismus wäre weniger eine vormoderne Abwehr gegen Technik, Industrie, Demokratie und modernes Leben als vielmehr eine reale Möglichkeit im Zentrum moderner oder sich modernisierender kapitalistischer Gesellschaft selbst. Er habe auf seine Weise die Moderne nur radikal und konsequent auf die Spitze getrieben.5 Vielleicht lebt er darum nach 1945 in den verschiedensten Formen bis heute weiter, statt von der Bildfläche zu verschwinden. — 1 2 3 4 5
Beat Schneider, Penthesilea, S. 293. Ebenda, S. 327. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
8. STYLING: DESIGN IN DEN USA
94 8. Styling: Design in den USA
— Wirtschaftliches und Soziales
Das Design ging in den USA im 20. Jahrhundert seinen eigenen Weg. Hauptunterscheidungsmerkmal zur Entwicklung in Europa war seit den zwanziger Jahren seine direkte und unbeschwerte Wirtschafts- beziehungsweise Marktnähe. Dies hing mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der USA zusammen. Unser Augenmerk gilt deshalb zuerst der Basis, auf der das US-Design von den zwanziger Jahren bis in die fünfziger Jahre wuchs. Erste kapitalistische Massenkonsumgesellschaft Vom Ersten Weltkrieg, in den die USA erst 1917 eintraten, wurde das Land in seiner wirtschaftlichen Entwicklung nicht beeinträchtigt. Nach dem Krieg war die US-Wirtschaft, nach einer kurzen Anpassungskrise, durch einen rasanten Modernisierungsprozess und grosse Prosperität gekennzeichnet. Grundlage waren ein Bauboom und der Siegeszug des Automobils: Ende der zwanziger Jahre gab es in den USA bereits 26 Millionen Kraftfahrzeuge! Auch die Elektro- und die Chemieindustrie verzeichneten hohe Zuwachsraten. Die USA waren zu Beginn der zwanziger Jahre auf dem höchsten technologischen Niveau aller Industrienationen. Der Innovationsschub basierte auf der Systematisierung und Verwissenschaftlichung der Produktionsorganisation, die vor allem auf Frederick Taylor (1919), den Begründer der wissenschaftlichen Betriebsführung, zurückging und die von Henry Ford erstmals adaptiert und in der Automobilfertigung mit Fliessband praktiziert wurde. Dies ermöglichte die Massenproduktion, die ihrerseits den Massenkonsum zur Bedingung hatte. Eine expansive Aussenwirtschaftspolitik sorgte dafür, dass die USA seit Kriegsende das grösste Gläubigerland der Welt wurden. Rationalisierung, Verbilligung und steigende Ein-
kommen liessen erstmals eine Konsumgesellschaft mit neuen Formen der Massenunterhaltung (Radio, Kino, Musical, Sport) entstehen. Es dauerte nicht lange, bis es in den dreissiger Jahren in den meisten Mittelschichthaushalten neben den Radios eine Vielzahl elektrischer Apparate wie Kühlschränke, Waschmaschinen und erste TV-Geräte gab. Serienproduktion mit neuen billigen Materialien für den breiten Bedarf und der Konkurrenzkampf der ständig wachsenden Zahl von Anbietern gehörten schnell zum Alltag. Ende der zwanziger Jahre gab es eine stark expandierende Werbebranche, die sich auf die Ergebnisse moderner Marktforschung (Marketing) abstützte und die starken kaufkräftigen Mittelschichten bearbeitete: Die erste kapitalistische Massenkonsumgesellschaft war entstanden. Design als Marketingfaktor Es leuchtet ein, dass in diesem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext das Design in den USA einen eigenen Weg nahm. Es war viel direkter als in Europa durch das Konsumverhalten und die technische Entwicklung gezeichnet. «Anders als in Europa, wo Reformen im Design fast immer unter sozialen und/oder funktionalen Fragestellungen abgehandelt wurden, war US-Design in erster Linie ein Marketingfaktor.»1 Unter dem wachsenden Konkurrenzdruck, zum Beispiel in der Automobilbranche, wurde das Design ein wichtiger Faktor, um sich von den Mitbewerbern auf dem Markt zu unterscheiden. Die Wirtschaftskrise von 1929, die viele Erfolge der US-Wirtschaft wieder zunichte machte, verstärkte diesen Prozess, was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Doch um die Krise zu überwinden, versuchte die US-Regierung, den Konsum mit allen Mitteln wieder anzukurbeln. Die Kaufkraftsteigerung der Massen war das eine Mittel, das andere bestand in der Erhöhung der Kaufanreize bei den Produkten durch neues, ansprechendes Design. Das geschah – und das ist das Neue in der Designgeschichte – durch eine formale Überarbeitung und Neugestaltung der Produkte unter rein ästhetischen und marketingorientierten Aspekten – eine Methode, die seit 1929 «Styling» genannt wird.
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Stromlinienförmiger Optimismus Nach der Weltwirtschaftskrise fand in den dreissiger Jahren, in der Ära des US-Präsidenten F. Roosevelt, ein allgemeiner Aufbruch statt. Eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik war mit einem neuen Selbstbewusstsein gekoppelt. Überall standen die Zeichen auf Optimismus, Dynamik und Fortschritt. Als Symbol für diesen Fortschrittsglauben fanden die Industriedesigner die «Stromlinienform» (engl.: «streamline»). Die Industrie nutzte diese Form und übertrug sie als Instrument des Stylings mit Hilfe neuer, beliebig formbarer Materialien (Kunststoffe, Sperrholz usw.) und Techniken auf ihre Produkte. Die Form hatte wenig mit der Funktion des Gegenstands zu tun. So wurde die Stromlinienform bis zum Ende der Fünfziger ein Symbol der wirtschaftlichen Haltung und eines der Grundelemente des Industriedesigns der USA. Mit der New Yorker Weltausstellung von 1939, «Building the World of Tomorrow», fand der Optimismus seinen vorläufigen Höhepunkt. Hier wurde deutlich, wie rasant sich das amerikanische Industriedesign inzwischen entwickelt hatte und wie sehr es sich theoretisch und praktisch vom europäischen unterschied.
entierte und auf deren Grundlage ein klassenübergreifender gesellschaftlicher Konsens zustande kam. Der Wirtschaftsboom, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, führte bereits anfangs der fünfziger Jahre zu einer Sättigung des Binnenmarktes. Was tun in einer Situation, in der die wichtigsten Konsumbedürfnisse befriedigt sind? Man belebt die Nachfrage und schafft neue Bedürfnisse. Letzteres fand im neu erschlossenen Feld der Medientechniken (TVund Transistortechnik) bald ein gigantisches Betätigungsfeld. Die Belebung der Nachfrage erfolgte mit forciertem Einsatz des «Stylings». Exemplarisch kann dies in der Automobilbranche verfolgt werden, wo mit Hilfe der Gestaltung neuer Oberflächen und Formen und kleiner technischer Verbesserungen, und natürlich unterstützt von Marktforschung und Werbung, immer kurzlebigere Produkte gut verpackt auf den Markt gebracht wurden: vom amerikanischen Traumauto mit «Flugzeugnase» und imposanten Heckflossen (Abb. 109) bis zu elektrischen Küchengräten im Überfluss. Der «American Way of Life» ist also unter anderem auch eine Erfolgsgeschichte des amerikanischen Designs. — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 96.
Der «American Way of Life» Als einzige Macht gingen die USA gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Der Krieg hatte Vollbeschäftigung und die Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsprozess gebracht. Nach dem Krieg waren die USA eine wirtschaftliche und politische Weltmacht und mit ihrer atomaren Überlegenheit (Atomwaffenmonopol bis 1949) eine Supermacht mit unbestrittener Führungsrolle im kapitalistischen Lager. Die USA erlebten einen erst Anfang der siebziger Jahre unterbrochenen stürmischen Wirtschaftsaufschwung mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von vier Prozent. Diese beruhte vor allem auf stetiger Produktionssteigerung durch Innovation und Automatisierung. Der wirtschaftliche Boom war die reale Grundlage des «American Way of Life» der fünfziger Jahre. Mit diesem Begriff wird die damalige amerikanische Massenkonsumkultur umschrieben, eine Kultur, die sich an den Werten der weissen Mittelschichten ori-
96 8. Styling: Design in den USA
Meilensteine
Theorie
Abb. 109: Harley Earl: Cadillac von General Motors, 1959. Heckflossen und triebwerkförmige Rückleuchten. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 239.
Abb. 110: Castagna: Alfa Romeo für den Comte Ricotti, 1913. Tropfenform am Einzelstück. Schon der autofreundliche italienische Futurismus hatte sich mit der Stromlinienform beschäftigt. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 74.
Abb. 111: Raymond Loewy: Bleistiftanspitzer, 1933. Quelle: Volker Albus et al., Design! Das 20.Jahrhundert, München, 2000, S. 61.
Industriedesign in den USA: Verschönerung unter Marketingaspekten Nach der industriellen Revolution hatten die USA im 19. Jahrhundert die am meisten standardisierte und serienmässige Produktion von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs (vgl. Kapitel 1). Dies sollte auch im 20. Jahrhundert so bleiben und hatte – wie bereits erwähnt – in den dreissiger Jahren mit der Etablierung der ersten kapitalistischen Massenkonsumgesellschaft grosse Auswirkungen auf das Design. Traditionelles Design und die europäische Moderne Bis in die zwanziger Jahre dominierte in Architektur und De– sign allerdings eine konservative, meist historistische Formensprache. Amerikanische Architektur, Möbel- und Einrichtungsgegenstände waren dem konservativen Geschmack der Mittel- und Oberschicht angepasst, welche einen handwerklich-gediegenen Kolonialstil oder historisch-europäische Neostile bevorzugten. Ausser den Ablegern der Arts & Crafts-Bewegung gab es im gestalterischen Bereich keine eigentlichen Reformbewegungen.1 Die Gedanken der europäischen funktionalistischen Moderne fanden in den zwanziger Jahren in den USA nur wenig Anklang und waren die Sache einiger weniger avantgardistischer Architekten. Das änderte sich mit der Immigration von Bauhäuslern und andern Vertretern des «Internationalen Stils», die vor dem Faschismus auf der Flucht waren. Die Idee der funktionalistischen Moderne fand in Architektur und Industrie- und Grafikdesign allmählich Verbreitung. In der Vermittlung der modernen Ideen spielte der finnische Architekt Eero Saarinen (1910–1961) eine wichtige Rolle. Er leitete die
Raymond Loewy «Von zwei Produkten, die gleich sind im Preis, in der Funktion und in der Qualität, wird sich das schönere besser verkaufen lassen.»1 Das Re-Design-Verfahren In Hässlichkeit verkauft sich schlecht (Untertitel: Erlebnisse des erfolgreichsten Formgestalters unserer Zeit) beschrieb R. Loewy das Re-Design-Verfahren folgendermassen: «Als wir unseren Entwurf begannen, sah der ‹Coldspot-Eisschrank›, der schon auf dem Markt war, ausgesprochen hässlich aus. Es war ein unproportionierter rechteckiger Kasten, mit einem Gewirr von Friesen, Füllungen und anderem ‹Schmalz› ‹verschönt›. Er hockte hoch über dem Boden auf vier dürren Beinen, und der Türgriff war ein jämmerliches Stück billiges Metall. Das änderten wir im Handumdrehen. Der offene Raum unter dem Kasten wurde in den Entwurf einbezogen und als Vorratsbehälter vorgesehen. Der neue Türgriff war gediegen und so wohlgeformt, als sei er für ein teures Auto bestimmt. Die Scharniere wurden unauffällig eingefügt, und das Firmenschild sah wie ein hübscher Schmuck aus. Der Gesamteindruck war Schlichtheit und höchste Qualität. (…) Am wichtigsten aber war es auf jeden Fall, dass unsere gründliche Analyse des Problems in Zusammenarbeit mit unserem Kunden und
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Abb. 112: Raymond Loewy: Lucky-Strike-Packung, 1942. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 197.
Abb. 113: Eero Saarinen: TWA-Terminal des J.F. Kennedy Airport in New York, 1956–62. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 61.
1932 in Detroit gegründete «Cranbook Academy», die ein ähnliches Selbstverständnis hatte wie das Bauhaus. Die «Art Déco» mit ihrer ornamentalen Fülle hatte es etwas leichter als der Funktionalismus. Ihre Attraktivität bestand in den expressiven ornamentalen Formen und in der Verwendung luxuriöser Materialien. Unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise setzte sich dann eine amerikanische, eher nüchterne Variante der «Art Déco» durch, die sich mit der neuen Stromlinienform verband und in der Gestaltung von zahlreichen Serienprodukten ihren Niederschlag fand. «Spricht man von einem amerikanischen Beitrag zur Art Déco, meint man die Stromlinienform.»2 Neues amerikanisches Industriedesign Das amerikanische Industriedesign hatte von den zwanziger bis in die vierziger Jahre eine starke Entwicklung, die sich vom europäischen Design abhob. Im Mittelpunkt des eigenen Verständnisses von Design stand das «Styling» als absatzförderndes Instrument und die Stromlinienform als ästhetisches Ideal (Abb. 109). Die Stromlinien- oder Tropfenform, ein Ergebnis der Aerodynamik, mit der sich übrigens bereits der Futurismus befasst hatte, ist die tropfenförmige Idealform eines Gegenstands mit dem kleinstmöglichen Widerstand (Abb. 110). Die bekanntesten Industriedesigner dieser Epoche des USDesigns – bezeichnenderweise kamen sie alle aus der Werbebranche – waren Walter D. Teague, der für Kodak arbeitete, Norman D. Geddes (Automobil- und Eisenbahnentwürfe) und vor allem Raymond Loewy. — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 93. 2 Ebenda, S. 94.
Abb. 114: Eero Saarinen: Tulpenstuhl, Modell Nr. 150, 1955–56. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 319.
seinen Ingenieuren einerseits das Aussehen verbessert und andererseits die Herstellungskosten herabgemindert hatte. Der Erfolg war verblüffend und begründete unseren Ruf.»2 Die MAYA-Formel von Raymond Loewy Bei seinen erfolgreichen Produktinnovationen ging R. Loewy von einem Prinzip aus, das er selber in der so genannten MAYA-Formel zusammenfasste. «Most advanced yet acceptable» – um erfolgreich zu sein, also den Erwartungen der KonsumentInnen zu entsprechen, muss sich in der Produktinformation ein ausgewogenes Verhältnis von Vertrautem und Neuem ausdrücken. Um diese Balance herzustellen, bedurfte es des Wissens aus der Markt- und Motivforschung und einer von der Werbepsychologie unterstützten Marktpolitik.
— 1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 96. 2 Zitiert aus: Wolgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 114.
98 8. Styling: Design in den USA
Meilensteine
Abb. 115: Charles und Ray Eames: La Chaise, 1948. Prototyp aus Hartgummi mit Kunststoffüberzug. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit Plastiken von Henry Moore. Quelle: Bernd Polster et al., Dumont Handbuch, Köln, 2004, S. 275.
Abb. 116: Ben Bowden: organisch designtes Fahrrad, 1946. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 376.
Raymond Loewy, eine amerikanische Legende R. Loewy (1893–1986), ein in die USA emigrierter französischer Schaufensterdekorateur, war ab 1929 bei Westinghouse Electric Company Art Director. Ebenfalls 1929 gründete er seine Firma Raymond Loewy Associates. In den dreissiger Jahren gehörte er zu den wichtigsten Vertretern der Stromlinienform und wurde zum Begründer des «Styling». Heute gilt er als einer der erfolgreichsten Designer des 20. Jahrhunderts.3 Er wollte die Menschen über ein angenehmes Erscheinungsbild der Produkte mit der Technik versöhnen. Als erster Designer stützte er sich bei seinen Entwürfen auf Marktanalysen und brachte neue Produkte und übrigens auch sich selber und seine Firma mit viel Werbeaufwand auf den Markt. Loewy wurde auch bekannt für sein Re-Design: Er überarbeitete beziehungsweise «stylte» die Produkte und versah sie mit einer attraktiven, stromlinienförmigen Hülle, die sie «neu» und «schöner» machte und damit den Absatz förderte (Abb. 111). Loewy arbeitete für Kodak und Texaco (Tankstellen) und schuf den Ford-Pavillon an der Weltausstellung von 1939. Mit seinen Entwürfen schuf er bekannte Ikonen des «American Way of Life» der Nachkriegsjahre, so unter anderem das Coca-ColaZapfgerät (1947), den Studebaker Commander (1950), den Greyhoundbus, das Verpackungsdesign und die Werbung für Lucky Strike (Abb. 112). 1944 gründete Loewy die amerikanische «Society of Industrial Design» und 1951 veröffentlichte er Never Leave Well Enough Alone (deutsch: Hässlichkeit verkauft sich schlecht), ein Buch, das den Raymond-Loewy-Mythos in der Designgeschichte begründete.
«Organischer Stil» Die USA hatten nach der Immigration der Moderne aus Europa in den dreissiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs in Kunst und Architektur die Führung übernommen. Nach dem Krieg übernahmen sie auch die wirtschaftliche Führungsrolle und etablierten sich bis weit in die fünfziger Jahre als führende Nation im Industriedesign. Der «American Way of Life» begann seinen Siegeszug durch das Nachkriegseuropa. In den USA der Nachkriegszeit bevorzugte das Industriedesign die ästhetischen Ideale der Vorkriegszeit, und das heisst die Stromlinienform. Trotzdem wurden mit dem so genannten «organischen Stil» oder «organischen Design» neue Wege gesucht. Unter dem Titel «Organic Design in Homes Furnishings» hatte das Museum of Modern Art in New York, das in der Gestaltung für die Meinungsbildung führend war, 1941 einen Wettbewerb für zeitgemässe neue Formen für Einrichtungsgegenstände, Stoffe usw. organisiert. Gefragt waren beschwingte leichte Formen mit Bezug zum menschlichen Körper und nicht geometrisch-funktionalistische Formen. Es wurde ein «organischer Stil» kreiert, welcher durch die Werke der Wettbewerbspreisträger Eero Saarinen (1910–61) (Abb. 113, 114) und Charles und Ray Eames geprägt wurde. Aus Polyester, Aluminium, Holz und Sperrholz schufen sie organisch geschwungene Schalensessel, die schön und bequem sein sollten. Vorbilder waren Formen der modernen Kunst, wie zum Beispiel diejenigen von Henry Moore oder Hans Arp (Abb. 115; vgl. Abb. 116, 117).
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Abb. 117: Harry Bertoia: Stuhl Nr. 22, 1952. Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 315.
Abb. 118: Lester Beall: Titelseiten einer Werbebroschüre, 1935. Kontraste von Schrifttypen und von Zeichnung und Fotografie. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 302.
Grafikdesign in den USA
1936 wurde Egbert Jacobson (1890–1966) in der CCA der erste Corporate-Design-Director der USA. Paepcke glaubte, dass das Niveau der öffentlichen Werbung durch den Einsatz von Kunst gehoben werden könnte und versuchte so das Bauhausideal der «Einheit von Kunst und Leben» zu verwirklichen. Er engagierte Künstler wie M. Cassandre und gewann die Bauhäusler Herbert Bayer (Deutschland) und Herbert Matter (Schweiz) als Mitarbeiter. In den Nachkriegsjahren entwickelte Paepcke in der CCA zusammen mit E. Jacobson und H. Bayer die «vielleicht brillanteste öffentliche Werbekampagne in der Geschichte».4 Es war die Plakatkampagne mit den «grossen Ideen der westlichen Kultur» (Abb. 120). Die CCA setzte damit in der Nachkriegszeit den Standard für öffentliche Werbung, und 1953 publizierte sie mit dem World Geo-Graphic Atlas einen Meilenstein in der Visualisierung von Daten. Im Vorwort des Werkes, das mit 120 Vollseitenkarten und 1200 Diagrammen, Grafiken und Symbolen zu Informationen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen versehen war und an dem H. Bayer fünf Jahre lang gearbeitet hatte, sprach Paepcke von der «Notwendigkeit eines besseren Verständnisses für andere Völker und Nationen».5
Die moderne Bewegung Während der zwanziger und dreissiger Jahre war das Grafikdesign von der traditionellen Illustration dominiert, und das europäische modernistische Design hatte vor den dreissiger Jahren in den USA keinen signifikanten Einfluss. Jan Tschicholds «elementare typographie» ( vgl. Kapitel 5) wurde am Anfang stark abgelehnt. Trotzdem fand die Moderne da und dort Eingang ins Buchdesign. Einzelne Buchdesigner brachen mit dem traditionellen Layout der Werbegrafik und übernahmen die «Neue Typographie», so Alfred A. Knopf, S.A. Jacobs und Lester Beall ( Abb. 118). In den späten dreissiger Jahren, als die ImmigrantInnen aus Europa kamen, importierten bekannte Vertreter des «Internationalen Stils» wie L. Moholy-Nagy ( Ungarn ), H. Bayer ( Deutschland ), W. Burtin (Deutschland), J. Binder (Deutschland), M. Agha (Russland) und A. Brodowitsch (Russland) die neue Designsprache, womit eine wichtige Phase in der Entwicklung des amerikanischen Grafikdesigns eingeleitet wurde (Abb. 119). Ein Meilenstein war die Gründung des «New Bauhaus» 1937 in Chicago durch immigrierte Bauhäusler. Dessen Direktor war L. Moholy-Nagy. 1939 wurde aus dem «New Bauhaus» die «School of Design» und 1944 das «Institute of Design» des «Illinois Institute of Technology» (ITT). Eine, wenn nicht die zentrale Figur in der Entwicklung des modernen amerikanischen Designs der dreissiger Jahre war Walter P. Paepcke (1896–1960). Er war am Bauhaus interessiert und unterstützte das «New Bauhaus». Paepcke gründete die Werbefirma Container Corporation of America (CCA), die zum grössten US-Hersteller von Verpackungsmaterial wurde.
Die New Yorker Schule «In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde New York (bedingt durch die historische Situation des Zweiten Weltkriegs und die wirtschaftliche und politische Führungsrolle der USA) das kulturelle Zentrum der Welt.»6 Die Stadt war ein — 3 4 5 6
Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 110. Philip Meggs, A History of Design S. 310. Ebenda, S. 315. Ebenda, S. 337.
100 8. Styling: Design in den USA
Meilensteine
Abb. 119: Joseph Binder: Plakat für A & P Coffee, das Spuren des Kubismus aufweist, 1939. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 304.
Abb. 120: Herbert Bayer: Plakat «Grosse Ideen», 1954. Darstellung des Schutzes vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung durch Hände, die eindringende Pfeile abwehren. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 311.
Schmelztiegel für künstlerische Bewegungen, technische Innovationen und eben auch für die Erneuerung des Grafikdesigns. Hier bekam das moderne amerikanische Grafikdesign, gestützt auf seine europäischen Wurzeln, in den fünfziger Jahren seinen internationalen Ruf, der bis in die neunziger Jahre andauerte. Zu diesem Ruf trugen Paul Rand (1914–96), Bradbury Thompson (1911–95), Saul Bass (1921–96), Cipe Pineless (1910–91) und Herb Lubalin (1918–81) bei, welche zusammen die so genannte «New Yorker Schule» bildeten. Wie kein anderer US-amerikanischer Designer verkörperte Paul Rand den Zugang zur europäischen Moderne.7 Er hatte gute Kenntnisse der modernen künstlerischen Bewegung, insbesondere von P. Klee, W. Kandinsky und dem Kubismus, und erkannte den Wert von einfachen, universell verstehbaren Zeichen und Symbolen als Werkzeug für die visuelle Kommunikation (Abb. 121). Rand zeigte die wichtige Rolle von visuellen und symbolischen Kontrasten auf: Rot gegen Grün; organische Form gegen geometrische Schrift, fotografische Töne gegen flache Farben usw. «Paul Rand war der meistbeachtete Grafiker Amerikas.»8 (Vgl. zu Paul Rand auch Kapitel 11.) Cipe Pineless war die erste Frau, die Mitglied des New York Art Director’s Club wurde und damit die Bastion der männerdominierten Berufsorganisation des Designs knackte. Sie trug zur Verbesserung der Gestaltung von Magazinen bei, die seit den vierziger Jahren vernachlässigt worden war. In der Gestaltung des Mediums Magazin, das in den späten sechziger Jahren auch wegen der veränderten Publikumsanforderungen (Einfluss des Fernsehens) in die Krise gekommen war, ging die New Yorker Schule neue Wege. Sie brachte typografische Erkenntnisse des «Internationalen typografi-
Abb. 121: Paul Rand: Filmplakat für «No Way Out», 1950. Die Integration von Fotografie, Typografie, Zeichen sowie grafischen Formen und die umgebenden Weissflächen stehen im krassen Gegensatz zu den damals üblichen Filmplakaten. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 338.
schen Stils» zur Anwendung und machte aus dem Magazin ein Medium der visuellen Kommunikation mit besserem Layout (vgl. Kapitel 11). Diese Bemühungen sind an den damaligen Ausgaben der Design-Zeitschriften wie «Print» und «Communication Arts» ablesbar. — 7 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 337ff. 8 Cathrine McDermott, Design A–Z, S. 258.
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— Kommentar
Das Unwort «Styling» Es gibt, historisch gesehen und typologisch vereinfachend, zwei Arten, wie die Frage nach «gutem Design» beantwortet wurde: Gut ist Design erstens, wenn es gebrauchstüchtige, formschöne, geschmacksbildende und sozial nützliche Gegenstände hervorbringt. Gut ist Design zweitens, wenn es verkaufsfördernd wirkt und die Ästhetik diesem Zweck dient. Der erste Ansatz ist traditionell in Europa beheimatet, der zweite ist das hervorragende Merkmal des amerikanischen Industriedesigns seit den dreissiger Jahren. In den USA bildete das Design mit dem «Styling» die Prinzipien des kapitalistischen Marktes direkter ab als in Europa. Beflügelt von den Fortschritten im Klima der ersten Massenkonsumgesellschaft und «unbeschwert» von künstlerischen oder sozialen Utopien, packte man in den USA die Fragen der modernen Gestaltung weit weniger dogmatisch an. In Europa stiess das «Styling» von Anfang an auf Abwehr. Es wurde als «Formkosmetik», «Überredungskunst», «Innovationszwang», «Gestaltung mit kommerziellen Zielen» und als «modischen Strömungen folgende Haltung» verpönt und geradezu als Schimpfwort verwendet. Die in Europa vorherrschende funktionalistische Haltung war von kulturellem und politischem Idealismus getragen und betonte gerne den pädagogischen, künstlerischen und sozialen Charakter des Designs. Sie stand traditionell unter einem permanenten Legitimationsdruck. Die Sinnhaftigkeit und die Mission der auf den Markt gehenden Kunst mussten wie aus einem schlechten Gewissen heraus ständig begründet werden. Aus historischer Sicht kann man feststellen, dass sich im europäischen Design des 20. Jahrhunderts das Prinzip des «Styling» und des Marketing ebenfalls durchgesetzt hat.
Dieser Prozess verlief langsam, konfliktreich und mit Rückschlägen (zum Beispiel in der Marktverweigerung des Designs Ende der sechziger Jahre). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam das Design in Europa dort an, wo es in den USA in den dreissiger Jahren begonnen hatte. Dem Prinzip «form follows function» folgte das postmoderne Prinzip «form follows emotion». In Europa wurde das Design «amerikanisiert». Es scheint, als ob auf dem alten Kontinent in der unverblümten Hinwendung zu den Prinzipien des Marktes viel historischer Ballast abgeworfen worden wäre. PS: Es gehört heute – zumindest im Grafikdesign – immer noch zum guten Ton (oder zum Abwehrritual?), sich gebetsmühlenartig von der Werbung und dem Marketing zu distanzieren und die Differenz zwischen Design und Werbung zu betonen.
9. DIE GOLDENEN FÜNFZIGER IN EUROPA
104 9. Die Goldenen Fünfziger in Europa
— Wirtschaftliches und Soziales
Neonlichtreklamen, Studebaker und Vespa, Nierentisch und Gummibaum sind Klischees der fünfziger Jahre. In der Tat widerspiegelte das üppige Angebot an Produkten des täglichen Bedarfs die neu gewonnene (Konsum-) Freiheit der durch die Entbehrungen der Kriegsjahre gebeutelten europäischen Gesellschaften – Gesellschaften aber auch, die mit Antikommunismus, «Kaltem Krieg» und Atomwaffenbedrohung lebten. Dennoch erscheinen die fünfziger Jahre als vitale Zeit voller Modernitätsglaube, Gegenwartsfreude und Fortschrittsoptimismus. Das viele Neue auf den Trümmerhaufen des Weltkriegs war von grossen Änderungen im Design begleitet. Die goldenen Fünfziger wurden zu einem Design-Jahrzehnt: Der «Internationale Stil», der während des Faschismus in Europa fast zwei Jahrzehnte lang im Abseits stand, erlebte als «Gute Form» und «Neofunktionalismus» einen Neuanfang oder vielmehr seine Fortsetzung; im Grafikdesign begann der «Swiss Style» seinen weltweiten Siegesmarsch; mit dem aus den USA importierten Wirtschaftswunder wurde auch der «American Way of Life» und die amerikanische Auffassung von Design als verkaufsförderndem Instrument sowie die Stromlinienform und das «organische Design» importiert. Es hat also vor allem ökonomische und gesellschaftliche Gründe, dass die fünfziger Jahre ein Design-Jahrzehnt geworden sind. Dies trifft auf seine inhaltliche wie auf seine formale Seite zu. Wirtschaftsboom und Design Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in Europa der in den dreissiger Jahren von vielen totgesagte Kapitalismus als «soziale Marktwirtschaft» mit milliardenschwerer
Starthilfe der USA wie Phönix aus der Asche. Der so genannte «Korea-Boom» von 1950 markierte den Beginn der Wirtschaftswunder-Ära, beruhend auf einer wirkungsmächtigen Verbindung von ökonomischer Expansion und «Kaltem Krieg». Mit dem Marshall-Plan, einem riesigen Kapitalinvestitionsplan, halfen die USA, in Europa und insbesondere in Deutschland den zerstörten Kapitalismus als wirtschaftliches Bollwerk gegen den kommunistischen Osten wieder aufzubauen. Sie legten damit den Grundstein für das deutsche «Wirtschaftswunder» nach 1952. Wirtschaftliche Wachstumsraten in bisher nicht gekanntem Ausmass dynamisierten Westeuropa. Die Unternehmergewinne explodierten, und die Reallöhne der Arbeiterschaft stiegen. Steigende Kaufkraft und zunehmende Freizeit machten den «Fortschritt» greifbar. Nachkriegsträume wurden wahr! Für die DurchschnittsbürgerInnen wurde ein Lebensstil möglich, den sich eine Generation zuvor nur die Wohlhabenden leisten konnten. Mit dem amerikanischen Kapital bahnte sich auch der «American Way of Life» seinen Weg durch Westeuropa, insbesondere durch Deutschland und Italien. Es war der Siegeszug der «freien KonsumentInnen». Der «American Way of Life» beeinflusste so gut wie alle Kultur- und Lebensbereiche: Musik und Kunst, Konsumverhalten, Alltagsleben und Design; Film und Werbung hatten grosse Wirkung auf die Schönheitsideale und Modewelten. Der Wirtschaftsboom war von starkem sozialen Wandel begleitet. Die Klassengesellschaft, die bisher vom Kampf der beiden Pole Kapital und Arbeit gekennzeichnet war, wurde nun – oberflächlich gesehen – von der klassenübergreifenden, modernen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft mit massenkulturellem Charakter abgelöst. Diese kristallisierte sich um die Familie als Konsumeinheit. Ein Ausschnitt aus einer Broschüre der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz am Ende des Jahrzehnts belegt diese Einschätzung: «Der einst erniedrigte Arbeiter ist zum selbstbewussten Bürger (oder vielleicht besser: Konsumenten, B.S.) des Landes geworden. Er hat mit seiner Familie teil am Wohlstand.»1 Die herrschende Kultur orientierte sich an Familie und Privatleben. Im Zentrum stand der Traum vom trauten Heim und mo-
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dernen Komfort. Die Leitbilder unter den Signeten der trivialen Alltagskultur waren der Nierentisch, der Gummibaum, der Bikini, der Pferdeschwanz, der Hula-Hoop-Reifen (Abb. 122), moderne Schrifttypen, Rock'n'Roll, Coca-Cola und amerikanische Automobile. Coca-Cola, einst bis in den Krieg hinein eine der Erfolgsmarken der Nazizeit, erlebte in Deutschland seinen Wiedereintritt in den Markt 1949 unter dem Slogan: «Coca-Cola ist wieder da!»2 Ein wichtiges kulturelles Ereignis war die Einführung des Fernsehens. 1955 feierte die schweizerische Landesregierung die Television als «Symbiose von Bild und Geschwindigkeit» und bemerkte, diese Überwindung von Raum und Zeit befriedige «den Wunsch des modernen Menschen, jederzeit und von jedem beliebigen Ort aus unmittelbar, authentisch am Zeitgeschehen und den Ereignissen der Welt teilzunehmen.»3 Starke Akzente im kulturellen Leben setzten auch die Mode (die Haute Couture von Christian Dior, Coco Chanel und anderen) (Abb. 123), die Werbung und das Design. 1950 stand die Werbung – auch Reklame und Propaganda wurden bald nur noch Werbung genannt – vor einer neuen Situation. Im Wirtschaftsboom wurden die neuen und alten Märkte mit amerikanischen Verkaufsmethoden erschlossen. Marktforschung nach verkaufsstrategischen Gesichtspunkten (Marketing) wurde zur Aufgabe professioneller Werbeagenturen. Die Expansion des Konsums und der Märkte war mit einer Massenmobilisierung der Frauen nicht nur als Modeträgerinnen, sondern auch als Hausfrauen und Agentinnen des Konsums verbunden. Früher waren viele Dinge des täglichen Bedarfs noch in den Haushalten hergestellt worden. Jetzt expandierte der kapitalistische Markt auch in diesen Bereich. Die Hausfrauen agierten als Käuferinnen der modernen Geräte für den Haushalt. Diese Entwicklung führte übrigens auch zur Entstehung einer neuen Sucht, der Kaufsucht. Der Kauf bekam oft die Funktion, Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit des Alltags zu übertünchen. Eine weitere Begleiterscheinung des steigenden Wohlstands war die einsetzende Massenmotorisierung. Das Automobil war die ideale Ergänzung zum aufgewerteten Wohnalltag. Im Design dieser Autos spiegelten sich die Wünsche der Zeit wider. Der Massen-
motorisierung folgte in den sechziger Jahren der Massentourismus. Konsumismus und Antikommunismus Das politische und geistige Klima der fünfziger Jahre wurde durch zwei eng miteinander verbundene Motive bestimmt: die neuen Konsumerwartungen einerseits – nennen wir die entsprechende Haltung «Konsumismus» – und der Antikommunismus anderseits. Waren während des Zweiten Weltkriegs die nicht faschistische kapitalistische und die sozialistische Welt noch gegen den Faschismus verbündet, so wurden aus diesen Verbündeten nach dem Sieg wieder die alten Feinde der Vorkriegszeit – durch den beiderseitigen Atomwaffenbesitz Feinde mit tödlichem Bedrohungspotenzial. Der West-Ost-Konflikt nahm seinen Anfang. Der Gegensatz zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus nahm die Form des so genannten «Kalten Krieges» an, der Ende der fünfziger Jahre seinen Höhepunkt erlebte. Der Systemwettbewerb zwischen West und Ost wurde im Westen mit attraktiven Lebensstandards geführt, und dazu gehörten die Steigerung des Konsums und der Ausbau sozialstaatlicher Standards. Die Akzeptanz der westlichen Ordnung wurde mit anderen Worten durch steigenden Konsum erkauft, was als notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der westlichen Demokratien erkannt wurde. Die im Westen aufgebaute Bedrohungskulisse des Weltkommunismus steigerte für die neuen KonsumentInnen die Kostbarkeit des Erreichten. Die Angst vor der Atombombe des Gegners nährte das Bewusstsein, die angenehmen Seiten des Lebens durch diese Bedrohung von ausssen jederzeit wieder verlieren zu können. Diese Angst war jedoch der Preis für die «Freiheit in Wohlstand». Der Antikommunismus und der Konsumismus waren die zwei Beine, die in den kapitalistischen Industriestaaten den sozialen Frieden sicherten, immer wieder den politischen Kompromiss ermöglichten und — 1 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 357. 2 Ebenda, S. 342. 3 Ebenda, S. 360.
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somit den nationalen Konsens und die erstaunliche Stabilität dieser Zeit garantierten. Die gesteigerten Konsumerfahrungen und die besseren Lebensbedingungen in den fünfziger Jahren hatten ihre Wirkung. Unter der ideologischen Glocke des antikommunistischen Konsens nährten sie eine optimistische Grundstimmung. Das charakteristische Lebensgefühl war das optimistische Gefühl einer neuen Modernität, einer neuen Dynamik. Es war eine im Grossen und Ganzen von Zweifeln unbelastete Zeit. Das Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Visionen und Utopien sass bei den Erben einer durch Heilserwartungen verursachten Katastrophe tief. Im Mittelpunkt stand die Festigung der eigenen Lebenssituation – durch Arbeit und deren Früchte, den Konsum.
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Meilensteine
Theorie
Abb. 122: Hula-Hoop-Reifen. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 356.
Abb. 123: Christian Dior: Kostüm mit O-Linie, 1951. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 360.
Abb. 124: Kinderwagen aus dem Neckermann-Katalog, 1955. Die Stromlinienform wurde auf alle möglichen Gegenstände übertragen. Quelle: Gert Selle, Design-Geschichte in Deutschland. Produktkultur als Entwurf und Erfahrung, Köln, 1990, S. 251.
Das Design im Europa der fünfziger Jahre In den fünfziger Jahren zeichnete sich das Design durch verschiedene, teilweise gegensätzliche Strömungen aus, zu denen sich, wie immer, regionale Besonderheiten gesellten. Die Palette reichte von konservativen Bestrebungen, die sich an der restaurativen Vergangenheit der dreißiger und vierziger Jahre orientierten, über neue, dem wirtschaftlichen Aufbruch entsprechende Stromlinienformen bis zur Neubelebung des «Internationalen Stils» als Neofunktionalismus und der «Guten Form».
Wirtschaftswunder Bruno Zevi, italienischer Architekt, bemerkte über das deutsche Auftreten auf der Weltausstellung in Brüssel (1958): «Deutschland vergisst für eine Weile die Gaskammern, erscheint auf der Weltausstellung mit einem glatten, eleganten Antlitz und tut so, als würde der Fortschritt der Technik alles rechtfertigen, was zwischen einem Panzerkraftwagen und einem elektrischen Rasierapparat liegt.»1 —
Deutschland: Stromlinienform und Neofunktionalismus Die vordringlichsten Gestaltungsaufgaben der Nachkriegsjahre waren den Reparaturarbeiten an den immensen Kriegsschäden gewidmet. Es galt, nach der Zerstörung von Millionen von Wohnungen, Häuser zu bauen und Wohnungen einzurichten. Dies musste mit beschränkten Mitteln geschehen, was die Finanzen und das Material betraf. Preiswerte Wohnungen und leichte, handliche Möbel mussten massenweise zur Verfügung gestellt werden. Mit diesen dringenden Aufgaben beschäftigte sich die Ausstellung des neu gegründeten Werkbundes (dwb) im Jahre 1949 in Köln unter dem Titel «Neues Bauen». Seither findet jährlich im Frühjahr die Kölner Möbelmesse statt. Gegen Mitte des Jahrzehnts begann sich das deutsche «Wirtschaftswunder» zu entfalten. Dies manifestierte sich in gesellschaftlichem Optimismus und einer allgemeinen Aufbruchsstimmung. Der Massenkonsum in Deutschland, der im Grunde an zurückliegende erste Massenkonsumerfahrungen im Dritten Reich anknüpfte (Coca-Cola), half, die bösen Erinnerungen an die Nazizeit zu verdrängen und bei der
1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 118.
108 9. Die Goldenen Fünfziger in Europa
Meilensteine
Abb. 125: Nierentisch. Zeitgenössische Karrikatur. Quelle: Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Bern, 1999, S. 363.
Abb. 126: Corradino D'Asciano: Vespa, 125 ccm, 1951 (Firma Piaggio). Einteilige Karosserie, deren Stromlinienform an das US-Automobildesign erinnert. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 236.
« Stunde null» neu zu beginnen. Die ästhetische Orientierung am «American Way of Life» beziehungsweise am stromlinienförmigen Design suggerierte einen Neuanfang. Die Formen des «organischen Design» (vgl. Kapitel 8) und die Stromlinienform wurden deshalb in Westdeutschland begeistert aufgenommen. Sie wurden auf alle möglichen Gegenstände des Alltags übertragen (Abb. 124, 125) und zeigten die «moderne Einstellung» ihrer BenutzerInnen. Für die Gestaltung der Gebrauchsgegenstände wurden neue Materialien verwendet, so zum Beispiel Resopal, ein Kunststofflaminat zum Beschichten bunter Oberflächen von Möbeln und andern Einrichtungsgegenständen. Im deutschen «Wirtschaftswunder» gab es aber auch konservative und restaurative Tendenzen. Die ehemaligen Oberklassen und die neuen Reichen hatten standesgemäße Repräsentationsbedürfnisse und umgaben sich wie schon früher mit Möbeln in historisierenden Stilen. Neben den genannten Designströmungen gab es auch die Anknüpfung an die eigenen progressiven Vorbilder aus der Vorkriegszeit, an den funktionalistischen Stil. Dem Neofunktionalismus im Industriedesign und dem funktionalistischen Grafikdesign («Swiss Style») sind die Kapitel 10 und 11 dieses Buches gewidmet. Die «italienische Linie» «Italien, das vor dem Zweiten Weltkrieg der Designgeschichte nur wenige wichtige Impulse gegeben hatte, erlebte nach dem Krieg die wohl stürmischste Entwicklung und stand nach einem Jahrzehnt als Design-Nation in den vorderen Rängen. Man war modern um jeden Preis, ein Hang, der seine Wurzeln noch im Futurismus hatte.»1 Beim italienischen
Abb. 127: Carlo Mollino: Arabeskentisch aus gebogenem Sperrholz mit Glasplatte, 1949. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 127.
Nachkriegsaufschwung (niedrige Löhne, amerikanische Wiederaufbauhilfe, «italienische Flexibilität») spielte das Design eine wichtige Rolle. Der wirtschaftliche und kulturelle Einfluss der USA machte sich zwar auch in Italien bemerkbar, doch die Charakteristika des «American Way of Life» wurden durch das spezifisch Italienische (die Eigenarten der «Italianità») in ein selbständiges Design, die so genannte «italienische Linie» umgesetzt. Mitte der fünfziger Jahre war die «italienische Linie» bereits ein internationaler Begriff für modernes Leben und Design. Die bekanntesten Nachkriegsprodukte waren der Vespa-Roller (Abb. 126) und der Fiat 500. Von mittelständischen oberitalienischen Unternehmen hergestellte Möbel und besonders die Mode wurden veritable Exportschlager. «Im Gegensatz zur deutschen (theoretischen) und amerikanischen (marketingorientierten) Designauffassung war das italienische Design eher geprägt durch Improvisation und vor allem durch die alte kulturelle Tradition, die Kunst, Design und Wirtschaft – Schönheit und Funktion – nicht so strikt voneinander trennte. (Eine spezifische Design-Ausbildung gab es nicht, die meisten der italienischen DesignerInnen waren ArchitektInnen.) Das Zusammenwirken von künstlerischer Kreativität und der Tradition kleiner flexibler Handwerksbetriebe ist charakteristisch für Italien.»2 Im Möbeldesign wurde die zeitgenössische Kunst mit ihren abstrakten und dynamischen Formen zum Vorbild. «Einheit der Künste» war denn auch der Slogan der «Triennale» in Mailand von 1953. Sie war die erste moderne italienische Möbelausstellung und wurde zu einer der wichtigsten regelmäßig stattfindenden europäischen Designausstellungen (Sie findet gegenwärtig jährlich im Frühjahr statt). Nach 1954 vergab
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Abb. 128: Hans Wegner: «Kuhhornstuhl», Modell Nr. PP 505, 1952. Rahmen aus Mahagoni; Sitzfläche aus Rohrgeflecht. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 301.
Abb. 129: Arne Jacobsen: der Stuhl «Ameise», 1952 (Firma Fritz Hansen). Der erste dänische Stuhl, der in Massenproduktion hergestellt wurde. Ähnlich wie Eames (Abb. 115) setzte A. Jacobsen gebogene Schalen aus Sperrholz auf Stahlrohrgestelle. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S 119.
das Mailänder Warenhaus La Rinascente den Design-Preis «Compasso d'Oro». Carlo Mollino (1905–73) wurde in Italien mit schwellenden organischen Formen in seinen expressiv gebogenen Schichtholzmöbeln, die nicht selten der weiblichen Anatomie nachgebildet waren, zum herausragenden Vertreter des «organischen Designs» (Abb. 127), das sich in Italien jedoch nur schwer durchsetzen konnte. Andere bekannte Designer der Zeit waren Achille Castiglioni (1918*), Gio Ponti (1891–1979) und Osvaldo Borsani. Castiglioni ist einer der bekanntesten italienischen Gestalter. Seit 1940 beschäftigte er sich zusammen mit seinen Brüdern Livio und Pier im gemeinsamen Architekturbüro mit der experimentellen Erkundung industrieller Produkte. Von ihm stammen unzählige Entwürfe für Radios, Leuchten, Möbel und Haushaltwaren (Alessi). Er erhielt insgesamt neunmal den «Compasso d'Oro». Skandinavien: gemütlich und modern Neben dem italienischen Design, dem amerikanischen «Styling» und dem deutschen Neofunktionalismus prägte besonders das skandinavische Design die Wohnkultur der fünfziger und sechziger Jahre. In der skandinavischen Möbelkultur gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine starke handwerkliche Tradition der Holzverarbeitung (Birken- und Föhrenholzmöbel). Dänemark und Schweden verfügten über führende Möbeldesigner. Dänemark entwickelte als europäischer Hauptimporteur von Teakholz den dänischen Teakholzstil. Tonangebend waren nach dem Krieg besonders die dänischen Möbeldesigner. Der Stuhl JH 501 von H. J. Wegner (*1914) (Abb. 128) wurde zum Symbol für das skandinavische Sitzmöbel. Der abgebildete
Stuhl ist diesem ähnlich. Nach der Durchsetzung von industriellen Fertigungsmethoden und neuen Materialien kam es in Dänemark nach dem Zweiten Weltkrieg zu Verbindungen von Tradition und Moderne. «Das machte die Möbel modern und gleichzeitig gemütlich, was der Hauptgrund für den weltweiten Erfolg der skandinavischen Wohnkultur war: die Verbindung des ‹Internationalen Stils› mit gediegener Handwerkskultur auch in der industriellen Produktion. »3 (Abb. 129.) Zum Design in der Schweiz vergleiche Kapitel 11: Swiss Style – der Internationale typografische Stil. — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 112. 2 Ebenda, S. 113. 3 Ebenda, S. 127.
10. GUTE FORM UND DIE ULMER HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG
112 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
Meilensteine
Theorie
Abb. 130: Hochschule für Gestaltung Ulm auf dem Kuhberg. Quelle: Frauen im Design. Berufsbilder und Lebensweg seit 1900, Stuttgart, 1989, Bd. 1, S. 245.
Neofunktionalismus Im Design Nachkriegsdeutschlands mied man auf der Suche nach eigener Identität tunlichst die Nähe zum Kunsthandwerk, weil dieses allzu sehr durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Propaganda belastet war, was jedoch nicht verhindern konnte, dass es dennoch zu restaurativen Tendenzen kam. In dieser Situation lag es nahe, an die eigenen progressiven Vorbilder aus der Vorkriegszeit, den «Internationalen Stil» anzuknüpfen. So wurde nach Kriegsende die emigrierte Moderne – bedeutende Bauhäusler hatten in den USA den «Internationalen Stil» weiterentwickelt – aus den USA re-importiert (zum Einfluss der USA, vgl. Kapitel 9). In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren Deutschen Demokratischen Republik (DDR), entstand das Bauhaus in Dessau neu, und in Halle-Giebichenstein wurde die Hochschule für Gestaltung mit ähnlicher Aufgabenstellung gegründet. Doch erst Mitte der siebziger Jahre wurden die Bauhaus-Ideen und die Prinzipien des funktionalen Gestaltens als «nationales Erbe» wieder entdeckt. Von der DDR wurde «der Funktionalismus zum Gestaltungsprinzip erhoben, das den Lebensbedingungen der sozialistischen Gesellschaft als Zielvorstellung am meisten entspreche. Funktionalismus wurde dabei nicht als Stilkategorie verstanden (grau, eckig und stapelbar), sondern als eine ‹Methode der Arbeit›.»1 In der westlichen Besatzungszone, der späteren Bundesrepublik Deutschland (BRD), wurde 1947 der Deutsche Werkbund (dwb) neu gegründet und 1951 in Darmstadt der «Rat für Formgebung», eine dem Werkbund nahe stehende Institution des Bundeswirtschaftsministeriums, initiiert. Der Rat hatte die Aufgabe, das westdeutsche Design mit Wettbewerben und Auszeichnungen zu fördern. Eine Jury sollte jährlich
Die gute Form In einer Ausstellung im Internationalen Design Zentrum Berlin (IDZ) wurde Design folgendermassen beschrieben: Gutes Design — darf keine Umhüllungstechnik sein. Es muss die Eigenart des jeweiligen Produkts durch eine entsprechende Gestaltung zum Ausdruck bringen ; — muss die Funktion des Produkts, seine Handhabung, sichtbar und damit für die BenutzerInnen klar ablesbar machen; — muss den neusten Stand der technischen Entwicklung transparent werden lassen; — darf sich nicht nur auf das Produkt selbst beschränken, sondern muss auch Fragen der Umweltfreundlichkeit, der Energieeinsparung, der Wiederverwendbarkeit, der Langlebigkeit und der Ergonomie berücksichtigen; — muss das Verhältnis von Mensch und Objekt zum Ausgangspunkt der Gestaltung machen, besonders auch im Hinblick auf Aspekte der Arbeitsmedizin und der Wahrnehmung.1
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den Bundespreis «Gute Form» vergeben. 1953 kam dann die Gründung der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) dazu. Alle diese Institutionen pflegten den Funktionalismus. Sie lehnten sowohl den «organischen Stil» als auch die restaurativ-historisierenden Stile ab und bekamen in der Designgeschichte das Etikett des «Neofunktionalismus». Die westdeutschen Institutionen waren ab den beginnenden fünfziger Jahren der «Guten Form» verpflichtet. Die «Gute Form» Der Begriff Der Begriff «gut» begleitete das Umfeld des deutschsprachigen Designs schon seit längerer Zeit. «Gut» meinte schon beim frühen Werkbund das, was ästhetisch einfach, ohne überflüssige Dekoration, funktional und gesellschaftlich nützlich war. Das Wort umfasste immer auch die dem Begriff innewohnende moralische Dimension. 1949 organisierte der Schweizer Max Bill, ehemaliger Bauhäusler und späterer Gründungsdirektor der Ulmer Hochschule für Gestaltung, in Basel und in Ulm eine Wanderausstellung des Schweizerischen Werkbundes (SWB) unter dem Titel «Die gute Form». Diese Ausstellung sorgte auch in der Bundesrepublik Deutschland für grosses Aufsehen. In der Schweiz war sie die Initialzündung für einen jährlich wiederkehrenden Designwettbewerb, der 1952 unter dem Namen «Die gute Form SWB» zum ersten Mal stattfand und formschön und materialgerecht gestaltete handwerkliche (!) und industrielle Bedarfsgüter prämierte. Die Ausgezeichneten — 1 Bernhard Bürdek, Design, S. 72.
Zehn Regeln für gutes Design (nach Dieter Rams) Gutes Design — ist innovativ; — trägt zur Nützlichkeit des Produkts bei; — ist ästhetisches Design; — macht ein Produkt leicht verständlich; — ist unauffällig; — ist ehrlich; — ist langlebig; — ist konsequent – bis ins Detail; — ist so wenig Design wie möglich.2 Das «Braun-Design» «Gekauft wird das ‹Braun-Design› », wie Hans Gugelot 1963 rückblickend bemerkt, «von Intellektuellen, die aber über das ganze Bundesgebiet verteilt sind, eben von denjenigen, die in oder zumindest aus den Städten ihre Informationen und Anregungen beziehen. ‹Braun›, das ist schon bald nicht mehr eine Marke neben anderen, sondern Teil eine Lebensauffassung, zu der um 1957 auch das ‹Modern Jazz Quartett › und der Existenzialismus, die Zeitschrift ‹Magnum› und die abstrakt-konkrete Kunst gehören.»3 — 1 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 17. 2 Zitiert aus: Marion Godau, Produktdesign. Eine Einführung mit Beispielen aus der Praxis, Basel, 2003, S. 96. 3 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 154.
114 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
Meilensteine
Theorie
Abb. 131: Max Bill und Hans Gugelot: Hocker der Hochschule für Gestaltung, 1954. Ein multifunktionales Möbel für die StudentInnen der Hochschule. Es diente auch als Beistelltisch, Rednerpult und zum Transport von Büchern und ist Symbol der rationalen Ulmer Gesinnung. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., S. 167.
durften mit dem Label «Die gute Form» werben. Die Durchführung der Aktion «Die gute Form» dauerte von 1952 bis 1968. Max Bill veröffentlichte 1957 ein gleichnamiges Buch. In Deutschland wurde der Begriff zur Richtschnur für das neofunktionalistische Design sowie für den «Rat für Formgebung», der seit den fünfziger Jahren jedes Jahr eine Ausstellung für den «Bundespreis Gute Form» organisierte. Der Begriff wurde nie genau definiert. Er lässt sich aber als Summe von diversen Verlautbarungen (Stellungnahmen einzelner ExponentInnen, Ausstellungskatalog zu Max Bills Ausstellung, Kriterienkatalog der Jury des «Bundespreises Gute Form») folgendermassen umschreiben: Gute Form ist eine einfache, funktionale und materialgerechte Form von zeitloser Gültigkeit mit hohem Gebrauchswert, langer Lebensdauer, guter Verständlichkeit, Verarbeitung und Technologie, ergonomischer Anpassung und ökologischer Nachhaltigkeit (vgl. unten). Signum für Qualität «Gute Form» hatte einen hohen Anspruch, setzte sich von schlechter Gestaltung ab und wollte sich deutlich von modischen Strömungen und von der Gestaltung mit «kommerziellen Zielen» – gemeint war natürlich das «Styling» – abheben. Sie wollte besser sein als «der ‹Industriekitsch›, auf dessen Verständnis und Verbrauch die Massen eingeschworen sind».2 «Gute Form» war «das Signum für Qualität. (Sie) besitzt bildende und prägende Kraft im humanen, sozialen, kulturellen Bereich. Ihre wirtschaftliche Bedeutung resultiert aus ihrem Vermögen, die Vollkommenheit und den Wert eines Produktes sichtbar zu präsentieren.» So definierte E. Schalfejew, der ehemalige Präsident des «Rates für Formgebung» die «Gute Form».3
Die Ulmer Hochschule für Gestaltung Walter Gropius sagte in der Eröffnungsrede der Hochschule: «Breite Erziehung muss den richtigen Weg weisen für die richtige Art der Zusammenarbeit zwischen dem Künstler, dem Wissenschaftler und dem Geschäftsmann. Nur zusammen können sie einen Produktionsstandard entwickeln, der den Menschen zum Mass hat, das heisst die Imponderabilien unseres Daseins ebenso ernst nimmt wie physische Bedürfnisse. Ich glaube an die wachsende Bedeutung der Arbeit im Team für die Vergeistigung des Lebensstandards in 4 der Demokratie.» Gui Bonsiepe: «Die Hochschule für Gestaltung Ulm war so anziehend, weil sie mit Leidenschaft versuchte, das Design in eine begründbare Tätigkeit zu verwandeln und aus blinder Ad-hoc-Praxis zu befreien. Das ist gelegentlich missverstanden worden als ein Versuch, das Design in eine Wissenschaft zu verwandeln.»5 Zur Ulmer Methodik Lucius Burckhardt kritisierte 1980 die präzise Ulmer Methodik folgendermassen: «Studentenarbeiten in Ulm begannen ungefähr folgendermassen: ‹Die Aufgabe lautet, feste bis breiige Substanzen in Portionen von zehn bis zwanzig Gramm von einem Teller etwa dreissig Zentimeter in die Höhe zu heben und hori-
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Abb. 132: Hans Roericht: Hotelstapelgeschirr TC 100, 1958/59 (Firma Rosenthal AG). Systemgedanke im Produktdesign – «ein Idealentwurf der Ulmer Theorien: rationelle Raumausnutzung und minimalistische Ästhetik», wie «Art», Nr. 9, 2003 auf Seite 41 meint. Quelle: Bernhard Bürdek, Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Köln, 1991, S. 41.
«Gute Form» glaubte an die gesellschaftliche Wirkung des Designs. Gutes Design konnte einen Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft leisten, indem es seine «humanisierende Kraft» im Rahmen der (neutralen?) Produktion entfaltet. Die gesellschaftlichen Absichten der «Guten Form» kommen in einem – allerdings aus den sechziger Jahren stammenden – Kriterienkatalog der Jury des Bundespreises treffend zum Ausdruck. Zur «gesellschaftlichen Funktion» wird dort Folgendes notiert: «1. Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft 2. Interessen der Konsumenten 3. Marktbedürfnis 4. Preiswürdigkeit 5. Marktrelation 6. Abstimmung von formaler und praktischer Lebensdauer 7. Innovation 8. Entwicklungsfähigkeit 9. Anregung zur Kreativität (z. B. bei Spielzeugen) 10. Kommunikationsmöglichkeit.» 4 Härter, kantiger, sachlicher Bekannte Produkte von deutschen Firmen wie Braun oder Rosenthal wurden zum Inbegriff der «Guten Form» und des «German Designs». In den sechziger Jahren wurde die «Gute Form» zum Stilprinzip, «das von den verschiedenen Institutionen, den Designzentren und dem ‹Rat für Formgebung› oft geradezu dogmatisch vertreten wurde.»5 Im Vordergrund standen fast ausschliesslich funktionale und technologische Aspekte. Die DesignerInnen verstanden sich mehr als IngenieurInnen denn als GestalterInnen. Die Formen wurden härter, — 2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 102. 3 Zitiert aus: Textsammlung des «Rates für Formgebung», Darmstadt, o. J. (vor 1958), S. 1. 4 Punkt IV des Kriterienkatalogs der Jury des Bundespreises 1970. Typoskriptkopie beim «Rat für Formgebung», Darmstadt, 1970. S. 2. 5 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 130.
zontal zur Mundöffnung zu schieben, wobei dann der Träger durch die Oberlippe von seiner Substanz entlastet wird.› Das Resultat ist nicht etwa Charly Chaplins Essmaschine, sondern – eine etwas modernistisch gestaltete Gabel.»6 Zur Krise der Hochschule für Gestaltung (kurz vor der Schliessung) Anlässlich der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag der Hinrichtung der Geschwister Scholl am 20. 2.1968 veröffentlichten die Studierenden – wohl im Bewusstsein, dass die Schliessung der Hochschule unmittelbar bevorstand – ein Referat, in dem sie Folgendes schrieben: «die krise der hfg ist keine isolierte erscheinung. sie ist ein symptom für den übergang einer liberal-pluralistischen gesellschaft in eine formierte gesellschaft. (…) sie spiegelt gleichzeitig die ökonomische krise wider. (…) die manipulation des menschen durch pressemonopole, werbung und trivialliteratur wird in ihrer geistigen und psychologischen gleichschaltung der einzelnen individuen zum integrierenden element der politik der formierten gesellschaft. seitdem das land ausschliesslich auf die wirtschaftliche expansion — 4 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 121. 5 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 136. 6 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt, Das Jahrhundert des Design, S. 153.
116 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
Meilensteine
Theorie
Abb. 133: Dieter Rams: Rasierer Braun, 1951. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 213.
kantiger und sachlicher, auch einfallsloser, aber sie hatten in die Massenproduktion Eingang gefunden. «Ein schlecht kopierter Funktionalismus, der nur oberflächlich den rechten Winkel zitierte, führte allzu oft zu langweiligen Massenprodukten oder auch zu seelenlosen Trabantenstädten und Plattenbausiedlungen.»6 Ende der sechziger Jahre kam die «Gute Form» in die Krise. Nicht zufällig wurde in der Schweiz die 1952 von Max Bill initiierte Aktion «Die gute Form SWB» 1968 beendet: «Das Ende der Aktion (…) markiert auch das Ende des Versuches, (…) eine normative Ästhetik, das heisst den ‹guten› Geschmack zu etablieren.»7 Die Hochschule für Gestaltung in Ulm Autonom, antifaschistisch und international Die Hochschule für Gestaltung (HfG), die 1953 auf dem Kuhberg in Ulm (D) ihren Unterricht aufnahm (Abb. 130), war eine Gründung der «Geschwister-Scholl-Stiftung». Sie hatte von Anfang an ein antifaschistisches, internationales und demokratisches Konzept. Inge Scholl, deren Geschwister von den Nazis wegen ihres Widerstands in der Gruppe «Weisse Rose» hingerichtet worden waren, schien es erforderlich zu sein, angesichts des reaktionären Nachkriegsumfeldes in Ulm eine Bildungsinstitution zu schaffen, die politische Aufklärung leisten sollte, um ein erneutes Aufflammen des Faschismus auf deutschem Boden zu verhindern. Die neue Hochschule sollte – so die ursprüngliche Absicht – PolitikerInnen, JournalistInnen, LiteratInnen, KünstlerInnen in antifaschistischem und demokratischem Geist ausbilden. Sie sollte von staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Eingriffen unabhängig sein und diese Autonomie als entscheidende Bedingung für
ausgerichtet ist, werden die menschen nur danach bewertet, wie weit sie selbst die produktion oder ihr wissen – direkt oder indirekt – steigern. unter intelligenz wird nur noch die fähigkeit verstanden, die direkt oder indirekt die produktion steigern hilft. das ist das einzige mass, nach dem die gesellschaft ihre mitglieder beurteilt. (…) die geschwister scholl kämpften zu ihrer zeit gegen den faschismus des dritten reiches. die studenten der hochschule für gestaltung kämpfen in ihrer augenblicklichen situation gegen autoritäre massnahmen, die die freiheitliche und demokratische struktur ihrer institution und darüber hinaus der gesellschaft gefährden.»7 — 7 Zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt, Das Jahrhundert des Design, S. 163.
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Abb. 134: Gerd Alfred Müller: Küchenmaschine Braun, 1957. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 214.
Abb. 135: Kenneth Grange: Kenwood Chef, 1960 (Firma Kenwood). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 215.
weit reichende theoretische und methodische Experimente benützen. Von Anfang an war die Verteidigung der Autonomie gegen die reaktionäre Realität im Umfeld des Campus ein harter Kampf. Die Hochschule entstand als gesellschaftspolitisches Projekt aus einem weiten gesellschaftspolitischen Horizont heraus. Sie sollte auf den Gang der Dinge Einfluss nehmen, was wesentlich mehr war, als «nur» gute Gestaltung zu produzieren. Dass die finanziellen Mittel für die Gründung zur Hälfte aus einem «Fonds zur kulturellen Entwicklung Deutschlands» kamen, der dem amerikanischen Hochkommissar John McCloy unterstand, sei nebenbei erwähnt. Dass dieser Fonds aus einem verschleierten Geheimprogramm des Geheimdienstes CIA koordiniert wurde, war den damaligen Akteuren wohl wenig bekannt oder durchschaubar.8 Tatsächlich wollten die USA mit einem kulturpolitischen Programm den wachsenden Antiamerikanismus unter den deutschen Intellektuellen zurückdrängen und den steigenden Einfluss der kommunistischen Ideologien eindämmen. Diese Zusammenhänge bei der Gründung der Hochschule für Gestaltung «verdeutlichen (…) die gesellschaftspolitische Brisanz eines Projektes zur Integration gestalterischer Kräfte, die es sich vorgenommen hatten, die moderne Zivilisation vom Weg imperialistischer Kriege und menschenvernichtender Technologien wegzuführen».9 Sie verhinderten jedenfalls nicht, dass aus der neuen Schule ein ausserordentlich spannendes und einflussreiches gestalterisches Experiment wurde. Bauhausnachfolge und Systemgedanke Max Bill, der von Inge Scholl für die Hochschulpläne und für das erste Rektorat gewonnen worden war, benützte die
Chance für die Gründung einer Bauhausnachfolge, die mit seinem Namen verbunden war. Er mass der Rolle der Kunst im Design eine wichtige Bedeutung bei. Im Gegensatz zum Bauhaus wurden jedoch im Studium keine künstlerischen Fächer angeboten. Bill konnte als erste Dozenten Otl Aicher (Deutschland), Hans Gugelot (Schweiz) und Tomas Maldonado (Argentinien) gewinnen (Abb. 131). Die vier angebotenen Disziplinen waren Produktdesign, Architektur, Visuelle Kommunikation und Information. Das Ausbildungskonzept für das vierjährige Studium umfasste ähnlich wie am Bauhaus: — eine Grundlehre, — die Mitarbeit der Studenten an der Verwaltung, — Gruppenarbeit, das «learning by doing», — die theoretische Argumentation und Begründung des Tuns, — fachübergreifende statt fachspezifische Ausbildung. Design hiess in Ulm, «Produkte aus ihrem Zweck, aus Material und Fertigungsmethode, aus dem Gebrauch zu entwickeln».10 Es meinte aber auch, nicht nur die Funktion exakt zu bestimmen und das bestmögliche Produkt zur Funktionserfüllung zu entwickeln, sondern die Funktion in ihrem Kontext zu sehen. Die zu berücksichtigenden Bestandteile dieses Kontextes aber änderten sich während der fünfzehnjährigen Lehre an der Hochschule für Gestaltung. So war die umfassende Gestaltung der menschlichen Umwelt vom — 6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 131. 7 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 100. 8 Jörg Petruschat, in: «form + zweck», Nr. 20, S. 2. 9 Ebenda, S. 3. 10 Otl Aicher, Bauhaus und Ulm, in: Herbert Lindinger, Hochschule für Gestaltung. Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1987. S. 127.
118 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
Meilensteine
Abb. 136: Hans Gugelot und Dieter Rams: Radio-PhonoKombination SK 4, 1956. Dieses auch «Schneewittchensarg» genannte Gerät wurde zur Ikone moderner Gestaltung und ist heute ein begehrtes Sammelobjekt. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 344.
«Kaffeelöffel bis zur Stadt», wie es Max Bill postulierte, für den seit 1957 massgeblichen Theoretiker der Schule, Tomas Maldonado, nicht als formale, sondern als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. An die Arbeit von Hannes Meyer, dem zweiten Direktor des Bauhauses, anknüpfend, wurden so ab 1958 Gesellschafts- und Humanwissenschaften zu wichtigen Bestandteilen des Unterrichtsplans. Ähnlich wie das Bauhaus durchlief auch die Ulmer Hochschule verschiedene Etappen bis zu ihrer Auflösung 1968. Nach den Anfängen begann sie sich vom Vorbild des Bauhauses zu lösen und setzte die Schwerpunkte der Ausbildung auf die wissenschaftlichen, technologischen und methodologischen Grundlagen des Designs. Dozenten wie Maldonado, Gugelot und Aicher wandten sich entschieden gegen die Kunst im Entwurf, was zu Auseinandersetzungen mit Max Bill und schliesslich zu dessen Rücktritt führte. Unter der Leitung von T. Maldonado stand die rein technologische Problemlösung im Vordergrund; auf seine Initiative hin wurde die Hochschule für Gestaltung neu auf Wissenschaftlichkeit und Methodologie orientiert. Es erfolgte eine enge Durchdringung von Theorie und Praxis. Viele neue wissenschaftliche Disziplinen wurden erstmals gelehrt: Strukturtheorie, mathematische Operationsanalyse, Ergonomie, Semiotik, Methodologie oder Kybernetik. Wenn vom «Ulmer Modell» gesprochen wird, so ist die empirisch-positivistisch ausgerichtete Schule unter Maldonado gemeint. Sie beschäftigte sich jetzt mit Fragen der Informationstheorie und mit der Gestaltung von Informations- und Verkehrssystemen. Der Entwurf von Produkten war kaum mehr ein Thema. Unter der Leitung von H. Ohl arbeitete die Hochschule bis zum Ende ihres Bestehens im Sinne einer stärkeren Praxisorien-
Abb. 137: Andreas Christen: Wandkasten, 1986. Quelle: Bundesamt für Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern, 1997, S. 35.
tierung mit verschiedenen Firmen wie Braun oder Kodak zusammen. In der Produktgestaltung vertrat sie einen Funktionalismus, der einfache Formen mit rechten Winkeln, eine zurückhaltende Farbigkeit und, am wichtigsten, den Systemgedanken propagierte: Der Entwurf von Produkten sollte nach dem Baukastenprinzip erfolgen. Die Idee war, dass autonome (!) BenutzerInnen die Baukästen nach ihrem selbst definierten Bedarf einsetzen sollten (Abb. 132). Die Firma Braun und die Hochschule für Gestaltung Der deutsche, international renommierte Hausgerätehersteller Braun AG gilt als das Unternehmen, welches das Ulmer Gedankengut in der Industrie realisierte.11 Braun arbeitete seit den fünfziger Jahren mit bekannten Vertretern des Funktionalismus und der Ulmer Hochschule wie Dieter Rams, Hans Gugelot oder Wilhelm Wagenfeld zusammen. Die Firma wurde für viele andere Unternehmen wie Siemens, AEG, Telefunken, Krups oder Rowenta zum Vorbild für funktionale Gestaltung und ein mustergültiges, konsequent modernes Corporate Design.12 Bis heute bestimmt die Tradition der Moderne die Unternehmens- und Designpolitik von Braun. Dieter Rams (*1932), dessen Leitsatz «Weniger Design ist mehr Design» zum geflügelten Wort wurde, kam Mitte der fünfziger Jahre als Chefdesigner in die Firma und entwickelte zusammen mit Hans Gugelot und Herbert Hirche das Corporate Design und viele Produkte der Braun AG (Abb. 133,134). Er, der mit der Hochschule für Gestaltung eng verbunden war, verkörperte wie kein anderer das funktionalistische Image der Firma. Ihn «verehrten alle wie einen Heiligen Vater des Designs»13, und in seiner Ägide holte die Firma an der Mailänder «Triennale» regelmässig den Preis «Compasso d'Oro».
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Abb. 138: Willy Guhl: Eternitstuhl, 1954. Eine Ikone des Schweizer Designs. Quelle: Gabriele Lueg et al., Sissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz, Zürich, 2001, S. 59.
Stark vom schlichten und geradlinigen Design der Firma Braun beeinflusst war der britische Designer Kenneth Grange (1929*). Grange ist einer der bekanntesten britischen Industriedesigner und Schöpfer einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Produkte, die sich durch hohen Gebrauchswert auszeichnen – von der Pocketkamera zum Nassrasierer und vom Taxi zur Küchenmaschine (Abb. 135). 1972 gründete Grange mit anderen die ebenso erfolg- wie einflussreiche Agentur Pentagram. Das bittere Ende Die schon erwähnten Kontroversen über die Ausrichtung des Designs, über den Anteil der Kunst am Design und am Entwurf wurden während der ganzen Existenz der Hochschule für Gestaltung mehr oder weniger heftig geführt. Dazu kam Ende der sechziger Jahre neu die Kritik der Achtundsechziger an der Konsumgesellschaft und am Design als dem «Handlanger des Kapitals», die auch die Ulmer Hochschule berührte. Zusätzlich verschärft wurde die Lage der privaten (!) Einrichtung durch die Streichung der staatlichen Subventionen. Im restaurativen politischen Klima, das im Bundesland Baden-Württemberg damals herrschte, wurde die Ulmer Hochschule für Gestaltung 1968 von Hans Filbinger, dem Ministerpräsidenten, mit folgenden Worten aufgelöst: «Wir wollen etwas Neues machen, und dazu bedarf es der Liquidation des Alten.»14 Tragik der Geschichte oder besser deutsches Nachkriegsschicksal: Der CDU-Mann Filbinger war während des Dritten Reichs NSDAP-Mitglied und Richter gewesen.
Abb. 139: Alfred Neweczeral: Sparschäler «Rex», 1947. Quelle: Gabriele Lueg et al., Swissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz, Zürich, 2001, S. 61.
Fazit Die Ulmer Hochschule hatte eine nachhaltige Wirkung, denn das «Ulmer Modell» wurde weltweit zum Vorbild für die moderne Designausbildung. Die vielen Ulmer SchülerInnen sorgten als PraktikerInnen oder als DozentInnen an den Hochschulen dafür, dass der Neofunktionalismus bis in die siebziger Jahre zum Synonym für modernes Produktdesign wurde. Viele Fach- und Hochschulen übernahmen die Ulmer Begriffe und die Schulbezeichnung, wobei in der Lehre das Ulmer Konzept vor allem in Darmstadt, Hannover und Schwäbisch Gmünd Fortsetzung fand. Die Hochschule für Gestaltung war im Urteil von J. Petruschat in «form + zweck» «die letzte Zusammenführung gestalterischer Kräfte, die für eine tief greifende Veränderung der modernen Gesellschaft eintraten (…) Keiner andern Gestaltungsinstitution ist es seither gelungen, einen nur annähernd grossen Einfluss auf die Entwicklung von Theorie und Praxis der Gestaltung auszuüben.»15 Swiss Design: «Gute Form» in der Schweiz Die «Gute Form» und die Schweiz hingen von Anfang an miteinander zusammen, auch wenn die erste Konnotation mit «Guter Form» heute das deutsche Design der fünfziger und sechziger Jahre ist. Zu erinnern ist an die schweizerischen Pioniere der «Guten Form», an den Begründer Max Bill und — 11 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 132. 12 Ebenda, S. 132. 13 Bernhard Bürdek, Design, S. 49. 14 Herbert Lindiger (Hg), Ulm. Hochschule für Gestaltung. Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1987. 15 Jörg Petruschat, in: «form + zweck», Nr. 20, S. 2.
120 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
Meilensteine
Abb. 140: Kurt Thut: Stuhl mit drei Beinen, 1957. Quelle: Bundesamt für Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern, 1997, S. 73.
Abb. 141: F. Haller: USM-Haller-Möbel, 1963. Quelle: Gabriele Lueg et al., Sissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz, Zürich, 2001, S. 65.
an Hans Gugelot, die beide in Ulm eine zentrale Rolle spielten. Die Prinzipien der «Guten Form» fielen in der Schweiz auf fruchtbaren Boden. So war es auch schon mit den funktionalistischen Prinzipien des Deutschen Werkbundes und des Bauhauses geschehen. Besonders in der Gebrauchsgrafik spielten Schweizer DesignerInnen seit der «Neuen Typographie» in den dreissiger Jahren eine prominente Rolle. In den fünfziger und sechziger Jahren erlangte die funktionalistische Schweizer Grafik als «Swiss Style» Weltruf (vgl. Kapitel 11). Im schweizerischen Design war die «Gute Form» von den fünfziger bis in die achtziger Jahre die dominante gestalterische Strömung. Sie firmierte unter dem Label «Swiss Design». Dies war sowohl der Name der von Teo Jakob und Alfred Hablützel lancierten und international vertriebenen Möbelkollektion als auch die Bezeichnung für die 1958 gegründete Designvereinigung. Zu ihr gehörten unter anderem Andreas Christen (Abb. 137), Willy Guhl, Alfred Neweczeral, Kurt Thut und Hans Hilfiker. Willy Guhl (Abb. 138) spielte bei der Etablierung und Professionalisierung des Industrial Design in der Schweiz eine Schlüsselrolle. Er hatte ein frühes Interesse an ergonomisch und anatomisch richtiger Formgebung, für neue Materialien (Nutzung des Potenzials der Kunststoffe), für schlichte, zerlegbare, leicht transportierbare und preiswerte Typen. Ab 1965 lehrte er an der Kunstgewerbeschule Zürich, einem der ganz wenigen schweizerischen Ausbildungsplätze für Produktdesign. Alfred Neweczeral war der Designer, der sich hinter dem Sparschäler «Rex», einer der schweizerischen Designikonen, verbirgt (Abb. 139). Kurt Thut (Abb. 140), Mitbegründer der Gruppe «Swiss Design», arbeitete über drei Jahrzehnte mit dem funktionalistisch orientierten Schweizer Möbelprodu-
Abb. 142: Ettore Sottsass und Perry King: Reiseschreibmaschine «Valentine» mit Koffer (Firma Olivetti), 1969. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 360.
zenten Teo Jakob zusammen und wurde zum Bindeglied zwischen der funktionalismusbegeisterten Generation und dem Design der «Neuen Sachlichkeit» in den neunziger Jahren. F. Haller übernahm in den sechziger Jahren den Systemgedanken und entwarf nach einer Raumgitterstruktur die USMHaller-Möbel für Grossraumbüros, einen internationalen Klassiker und eines der erfolgreichsten Schweizer Industrieprodukte (Abb. 141). Bel Design: Die «Gute Form» in Italien Wie überall in Westeuropa waren auch in Italien die sechziger Jahre eine Zeit des Wohlstands und des Massenkonsums. Gleichzeitig mit dem deutschen Nachkriegsfunktionalismus, der zwischen 1955 und 1967 vor allem in Ulm, Frankfurt und Kronberg zu Hause war, begann in Italien eine Designbewegung, die vom selben Ansatz ausging. Was in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz die «Gute Form» war, war in Italien das «Bel Design».16 Es war ein rationales und produktorientiertes Design, das in das Konzept der rationellen industriellen Produktion passte und der italienischen Industrie willkommen war. Das italienische Design unterschied sich aber trotzdem vom Design jenseits von Gotthard und Brenner, denn es hatte in verschiedener Hinsicht einen anderen Stellenwert als im deutschen Sprachraum.17 Ein Grund hierfür war, dass es in Italien keine Ausbildungsstätten für ProduktentwerferInnen oder -gestalterInnen gab; es war vielmehr Tradition, dass Maler, Bildhauer und vor allem Architekten mit Entwürfen für kunsthandwerkliche oder industrielle Produkte einzeln beauftragt wurden. Das führte zu folgenden Besonderheiten:
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Abb. 143: Eliot Noyes: Schreibmaschine IBM 72, 1961. Sie war an die Produkte des italienischen Rivalen Olivetti angelehnt. Quelle: Volker Albus et al. (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 127.
Abb. 144: Giancarlo Piretti: Der Klappstuhl «Plia», 1969. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 443.
1. Die gestalteten Objekte wurden als individuelle Persönlichkeiten aufgefasst und waren semantisch viel mehr aufgeladen als etwa die Objekte des Ulmer Designs. Sie wurden zum Symbol – meist Statussymbol – gemacht. Das Produkt wurde zum Designobjekt. Es hiess nicht «TS 45» (wie bei Braun), sondern «Valentine» (Abb. 142, vgl. Abb 143). 2. Design war Bestandteil der Kultur. Grosse Unternehmen (Olivetti, Fiat) pflegten bewusst die Zusammenarbeit mit bekannten Designern; sie machten das Design zu einem wichtigen Bestandteil der Firmenpolitik. Deshalb hielten sich diese Firmen so genannte Consultant Designers, ein in Italien für die Designberatung der Firmen eigens geschaffener Beruf. Die Firma Olivetti – das bekannteste Beispiel – arbeitete zum Beispiel mit Designern wie G. Pintori, E. Sottsass, M. Zanuso und M. Bellini zusammen (Abb. 142, 144, 145). Hier entstanden eigenwillige, in Zusammenarbeit mit Technikern entworfene Produkte, die nicht formal vereinheitlicht, sondern unterschiedlicher Ausdruck der jeweils aktuellen Gestaltungsmöglichkeiten und -tendenzen waren. Giovanni Pintori (1912) wurde schon 1936 vom Olivettikonzernchef Adriano Olivetti angestellt, um ein Designprogramm zu entwickeln. Pintori verwendete vereinfachte grafische Formen, um Mechanismen und Prozesse zu visualisieren. Ettore Sottsass, von 1958–80 beratender Designer für die Elektronikabteilung von Olivetti, trug nicht nur die Verantwortung für die ausgesprochen funktionale Gestaltung neuer Computer, sondern unterhielt auch eine eigene Abteilung für «kulturelle Beziehungen». In Italien entwickelte sich also schon früh ein Autorendesign, wie es in anderen Ländern erst in den achtziger und neunziger Jahren entstand (vgl. zum Autorendesign Kapitel 17). Es gab
Abb. 145: Mario Bellini: Totem Stereo, 1970 (Firma Brionvega). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 347.
zu dieser Zeit eine öffentliche Design-Diskussion, die in den vielen Architektur- und Designzeitschriften stattfand und an der sich nicht nur die SpezialistInnen, sondern auch ArchitektInnen, PhilosophInnen und SchriftstellerInnen beteiligten. 3. Die dritte Eigenart des italienischen Designs war seine Experimentierfreudigkeit. Diese wurde ab Mitte der sechziger Jahre durch die fast unbegrenzten Möglichkeiten gefördert, welche die neuen Kunststoffe (z. B. Polypropylen) boten. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Italien zum Vorreiter neuer Design-Entwicklungen wurde. Diese Vormachtstellung zeigte sich an der Ausstellung «Italy. The New Domestic Landscape», die das Museum of Modern Art in New York 1972 durchführte (viel gesuchter Ausstellungskatalog!). 4. In Italien stellte Design primär einen Anreiz für gehobene Einkommensgruppen und die kaufkräftigen metropolitanen Mittelschichten dar. «Da auch in Italien – wie in allen kapitalistisch organisierten Ländern – eine kleine Bevölkerungsgruppe über einen grossen Anteil des Volkseinkommens verfügt, richtet sich das ‹Bel Design› primär an diese Schicht. Anders als etwa in Schweden, wo gerade der soziale Aspekt des Designs eine grosse Rolle spielt (vgl. die preisgünstigen Möbel der IKEA-Gruppe), ist in Italien Design primär eine Sache der gehobenen Einkommensgruppen der Metropolen.»18 — 16 In den USA entsprach der «Guten Form» das «Good Design», in Grossbritannien der «Contemporary Style» und in Schweden «Nyttokonst». 17 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 124. 18 Bernhard Bürdek, Design, S. 81
122 10. Gute Form und die Ulmer Hochschule für Gestaltung
— Kommentar
Qualität als Ideologie Die Designbewegung um die Ulmer Hochschule für Gestaltung und um die «Gute Form» hatte einen hohen Anspruch, und sie verfügte über eine soziale Theorie des Designs. Sie wollte einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten, wobei es ihr grosses Verdienst war, das Design auf intellektuellem Niveau betrieben zu haben. Das muss hier hervorgehoben werden! Sie wollte ein Qualitätsdesign mit Wirkung im humanen, sozialen und kulturellen Bereich. Es sollte sich ausschliesslich am Gebrauchswert orientieren und den «rein kommerziellen Zielen» und dem Zwang zur «modischen Strömung» entsagen. Doch der emanzipatorische Ansatz von Ulm blieb Sache einer kleinen intellektuellen Minderheit, und «der hohe intellektuelle und moralische Anspruch (…) blieb der breiten Masse der Konsumenten unverständlich, und die Industrie übernahm gern den Ulmer Systemgedanken, weil sich Produkte im Baukastenprinzip tatsächlich rationeller herstellen liessen, der gesellschaftskritische Anspruch dahinter wurde freilich gern übersehen.»1 Diese Feststellung von Thomas Hauffe bedeutet nichts anderes, als dass sich Theorie und Ansprüche mit der Wirklichkeit nicht deckten. Die Wirtschaft übernahm nach Bedarf den Funktionalismus, ignorierte (mit Ausnahmen wie der Braun AG) jedoch die damit verbundene Ideologie (liess diese vielleicht sogar gern gewähren) und produzierte Massenwaren, bei denen der Gebrauchswert eine kleine Rolle spielte. Der Qualitätsdiskurs der «Guten Form» passte ganz gut ins wirtschaftliche Konzept der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre: Die beginnende Liberalisierung des Weltmarktes hatte zur Folge, dass die Industriestaaten, die ihren hohen
Lebensstandard erhalten wollten, im Wettbewerb mit Niedrigpreisländern oder mit Ländern mit hoher Produktivität (wie etwa USA und Japan) auf die Dauer nur durch hohe Qualität bestehen konnten. Qualität wurde für Länder wie die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz zum einzigen Wettbewerbsvorteil. Eine dieser Qualitäten, die mit relativ geringem Kapitaleinsatz und geringen Kosten zu erreichen war, war die Formgestaltung.2 Das Interesse an Qualität war in der Realität also primär mit der Realisierung von wirtschaftlichen Gewinnen und der Eroberung des Weltmarktes und weniger mit gesellschaftlichem Fortschritt verknüpft. Die Masse der VerbraucherInnen verstand den Gebrauchswert der «Guten Form» nicht. Sie nahm die Gegenstände – sofern sie diese überhaupt kaufte – allenfalls als besondere Waren, als Markenartikel. NormalverbraucherInnen in einer Massenkonsumgesellschaft sind durch Gewohnheit und Werbung auf die vorherrschende Warenästhetik «abgerichtet», und das ist der Code des Styling, des raschen und oberflächlichen Wechsels der Formen. Die Idee der positiven gesellschaftlichen Wirkung und des kulturellen Wertes des Designs in der Konsumgesellschaft war ein grosser Irrtum! Die so genannten Kulturgüter sind in Wirklichkeit Konsumgüter ohne kulturellen Bezug. Der kulturelle Zeichencode gestalteter Produkte wird höchstens von jenen wahrgenommen, die das Bildungsprivileg haben, gute Gestaltung erkennen zu können. Er ist eine gruppen- oder klassenspezifische Übereinkunft, die nicht für alle gilt. Otl Aicher, ein Ulmer Urgestein, meinte 1984: «Wie viele haben Braun-Geräte nur deshalb gekauft, weil sie damit die Zugehörigkeit zu einer Design-bewussten Klasse von Menschen demonstrieren konnten.»3 1937 schon hatte der Kunsthistoriker Peter Meyer geschrieben, dass «‹Form ohne Ornament› keineswegs die Devise einer Volksbewegung ist, sondern die ziemlich exklusive Angelegenheit einer gebildeten und geschmackvollen Elite, die in den ornamentlosen Grundformen den Reiz des spezifisch Modernen zu geniessen weiss.»4 Das trifft auch für die «Gute Form» zu! Dem Anspruch der «Guten Form» auf gesellschaftliche Wirkung und kulturelle Verantwortung lag ein Glaube zu Grunde,
123
der als Tatsache hingestellt wurde. Er war eine «Überbauung andersgearteter Wirklichkeit mit gut gemeintem Wunschdenken (…) eine ideologische Selbsttäuschung.»5 Es war eine politische Naivität zu glauben, dass das Design eine solche Wirkung im Rahmen der bestehenden Produktion entfalten könne. Dies setzte eine «Neutralität» des Produktionsprozesses voraus, die es so nicht gab. « ‹Neutralität› und ‹Verantwortung› im kapitalistischen Produktionsprozess sind eindeutig und einseitig interessenbestimmt. Diese Kategorien können (…) nur dazu dienen, die tatsächliche Funktion der Gestaltung idealistisch zu verschleiern.»6 Die Ansprüche der «Guten Form» wurden so – und das sei ihren PionierInnen nicht als Absicht unterstellt – zum moralischen Mäntelchen, das zur «Rechtfertigung sonst allzu nackt erscheinender Interessen diente».7 — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 124. 2 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 105. 3 Zitiert aus: Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt a.M., 2003, S. 210. 4 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 61. 5 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 103. 6 Ebenda, S. 105. 7 Ebenda, S. 103.
11. SWISS STYLE DER INTERNATIONALE TYPOGRAFISCHE STIL
126 11. Swiss Style Der internationale typografische Stil
Meilensteine
Theorie
Abb. 146: Anton Stankowski: Kalendertitelblatt für Standard Elektrik Lorenz AG, 1957. Stankowskis grösster Beitrag zum Grafikdesign war die Schaffung visueller Formen, um unsichtbare Prozesse und physikalische Kräfte zu kommunizieren. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 322.
Abb. 147: Théo Ballmer: Wahlplakat für die Kommunistische Partei der Schweiz, 1931. Quelle: Bruno Margadant, Das Schweizer Plakat 1900–1983, 1983, S. 250.
Abb. 148: Ernst Keller: Plakat für das Rietbergmuseum, undatiert. Symbolische Bildsprache, vereinfachte geometrische Formen und kontrastierende Farbe. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 320.
Deutschschweizerisch – männlich – puritanisch In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam im Grafikdesign in der Schweiz eine Bewegung auf, die am häufigsten «Swiss Style» genannt wird.1 Andere, zum Teil weniger gebräuchliche Bezeichnungen sind: «Neue Grafik», «Konstruktive Grafik», «Schweizer Schule», «Schweizer Industriegrafik», «Swiss typography» oder «Rational typographic style». Seine Wurzeln hatte der «Swiss Style» im Konstruktivismus und im Bauhaus. Begonnen hatte es in den zwanziger und dreissiger Jahren mit der «Neuen Typographie». Diese war keineswegs eine eigene Erfindung, aber in der Schweiz, vermittelt durch deutsche und schweizerische Bauhäusler, auf fruchtbaren Boden gefallen. Von den deutschen Vertretern seien namentlich die in die Schweiz immigrierten Herbert Bayer, Anton Stankowski (Abb. 146) und vor allem Jan Tschichold genannt (vgl. Kapitel 5). Die schweizerischen Verbindungsglieder waren Théo Ballmer (Abb. 147), Max Bill, Xanti Schawinsky, Herbert Matter (vgl. Kapitel 5 und 8) und Ernst Keller. Ernst Keller (1891–1968) betonte schon in den zwanziger Jahren, dass sich die Lösung der Designprobleme aus einer strikten Beachtung des Inhalts ergebe. Er prägte über Jahrzehnte die schweizerische Grafikszene (Abb.148). So gab es in der Schweiz eine kontinuierliche Entwicklung des früheren konstruktivistischen Grafikdesigns, die schliesslich nach dem Zweiten Weltkrieg in einer starken Bewegung gipfelte, die Weltruf erlangen sollte. Heute, ein halbes Jahrhundert nach der Blütezeit des «Swiss Style», ist kaum mehr bekannt, dass es sich um einen international beachteten und einflussreichen Stil gehandelt hatte.2 Tatsächlich wurde der schweizerische Stil auch «Internationaler typografischer Stil» oder «International Style» genannt.3
Kunst und Schweizer Grafik: Georgine Oeri schrieb 1946 in «Graphis», der Zeitschrift der Schweizer Grafik: «Die heutige angewandte Grafik ist (…) die mit dem Leben, dem alltäglichen Bedürfnis zur Deckung gekommene avantgardistische Kunst von gestern.» Schweizer Grafik und Industrie: Max Bill: «jede gestaltung, im sinne unserer heutigen lebensbedingungen, erfordert grösstmögliche wirtschaftlichkeit. grösstenteils ist klarheit das wirtschaftlichste (und) druckgestaltung ist organisation von satzbildern.»1 Richard P. Lohse (1902–88): «Unsere Zeit ist die der industriell hergestellten Güterproduktion, der Serie und des Fliessbandproduktes als dem eigentlichen Ideal der Industriegesellschaft der Gegenwart. Niemand vermag sich dem Kraftfeld dieser weit gespannten Organisation von Energien, der ungeheuren Wucht und Präsenz des Kreislaufes von Erzeugung, Konsumation und Erzeugung zu entziehen.»2 Paul Schuitema: «der entwerfer ist kein zeichner, sondern organisator der optischen und technischen faktoren.»3
127
Abb. 149: Hans Erni: Plakat für die «Gesellschaft Schweiz Sowjetunion», 1944. Der Bundesrat verbot den Plakataushang. Quelle: Bruno Margadant, Das Schweizer Plakat 1900 – 1983, Basel, 1983, S. 75.
Abb. 150: Armin Hofmann: Markenzeichen für die Schweizerische Landesausstellung, EXPO 64, 1964. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 327.
«Swiss Style» war streng genommen eine Errungenschaft der deutschen Schweiz und müsste eigentlich treffender «Deutschschweizer Stil» genannt werden. Grund: «Swiss Style» war eine Industriegrafik, und in der französischen Schweiz gab es relativ wenig Industriebetriebe.4 Festzuhalten ist auch, dass die Protagonisten dieses Stils ausschliesslich Männer waren. Allerdings verhielt sich dies bei fast allen Designbewegungen von den Anfängen bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts so. Um eine rationale Gebrauchsgrafik bemühten sich also vor allem Männer aus der Deutschschweiz, und sie konnten an eine puritanische Tradition anknüpfen, in der Präzision, Sachlichkeit, Strenge, Sauberkeit und Ordentlichkeit verbindliche gesellschaftliche Werte waren. Der «Swiss Style» gewann überall auf der Welt AnhängerInnen (vgl. Kapitel 20). Der Grund für seine rasche Verbreitung lag in der Harmonie und klaren Ordnung seiner Methoden und in der Fähigkeit, mit elementaren Formen komplexe Ideen klar und direkt auszudrücken. Der Stil blieb über zwei Dekaden eine wichtige Kraft, sein Einfluss dauerte bis in die neunziger Jahre. Der Schweizer Stil leistete einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des so genannten «Corporate Design» (vgl. unten), und ihm war es wesentlich zu verdanken, dass Grafik allmählich als visuelle Kommunikation verstanden wurde (vgl. unten). — 1 Eine rund siebzig Seiten dicke Bibliografie zum «Swiss Style» befindet sich in: Christoph Bignens, Swiss Style. 2 Ebenda, S. 12. 3 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 320. 4 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 9.
Hans Neuburg ist Texter und Grafiker. Lange Zeit machte nur der illustrative Teil das Plakat; bei Neuburg wurde auch die Schrift integriert: «Ich trachtete danach, Idee, Text, Bild und grafische Gestaltung zu einer wirklich festen Einheit zu verbinden.» «Das Neue an dieser Grafik ist vor allem ihre fast messbare Klarheit.» So äusserten sich Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg, Vivarelli im Vorwort zum ersten Heft der Zeitschrift «Neue Grafik», 1958. — 1 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 49. 2 Ebenda, S. 52f. 3 Ebenda, S. 49.
128 11. Swiss Style Der internationale typografische Stil
Meilensteine
Abb. 151: Herbert Leupin: Plakat für den Zirkus Knie, 1956. Quelle: Allgemeine Plakatgesellschaft (Hg.), 50 Jahre Schweizer Plakate, Genf, 1991, S. 112.
Abb. 152: Armin Hofmann: Plakat für die Aufführung von «Giselle» im Basler Stadttheater, 1959. Ein organisches, bewegtes und weich fotografiertes Bild kontrastiert mit einer harten geometrischen und statischen Typografie. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 327.
Die visuellen Merkmale des «Swiss Style» sind folgende: — visuelle Einheit, welche durch eine asymmetrische Organisation der Gestaltungselemente auf einem mathematisch konstruierten Raster erreicht wurde; — objektive Fotografie und Kopie, welche visuelle und verbale Informationen in einer klaren und sachlichen Art präsentierten, frei von den übertriebenen Behauptungen der Propaganda und der kommerziellen Werbung; — Benützung von serifenloser Typografie in linksbündiger (und rechts auslaufender) Randgestaltung. Ziel war die grösstmögliche Steigerung der Aussagekraft, sein stilistisches Mittel die grösstmögliche Vereinfachung. Die Protagonisten der Bewegung glaubten, dass die serifenlose Typografie den Geist eines fortschrittlichen Zeitalters ausdrückte. Wichtiger als die visuelle Erscheinung ihrer Werke war das Berufsethos, das durch die PionierInnen entwickelt wurde. Sie definierten Design als eine sozial nützliche und wichtige Tätigkeit. Persönlicher Ausdruck und exzentrische Lösungen wurden abgelehnt, während ein universeller und wissenschaftlicher Umgang in der Lösung von Designproblemen angestrebt wurde. Die Designer definierten ihre Rolle nicht als die eines Künstlers, sondern als die eines objektiven Begleiters der Verbreitung von wichtigen Informationen zwischen den verschiedenen Komponenten der Gesellschaft. Das Ideal war die Erreichung von Klarheit und Ordnung. Anonymisierung und Purifizierung Eine der Wurzeln des «Swiss Style» lag in der Formensprache des Konstruktivismus. Die Kunst von van Doesburg, El Lissitzky, Malewitsch, Moholy-Nagy und Mondrian war das Vorbild bei der Purifizierung beziehungsweise Vereinfachung
Abb. 153: Richard P. Lohse: Ausstellungsplakat für «Kunststoffe», Gewerbemuseum Winterthur, 1958. Quelle: Allgemeine Plakatgesellschaft (Hg.), 50 Jahre Schweizer Plakate, Genf, 1991, S. 127.
der visuellen Botschaften. De Stijl hatte das Figürliche und Narrative zugunsten der Geometrie eliminiert und so die Anonymisierung des Ausdrucks am meisten vorangetrieben (vgl. Abb. 58). Der erste Typograf, der die Brücke zu De Stijl schlug, war Jan Tschichold in seiner «elementaren typographie» (vgl. Kapitel 5). «Was die Grafiker mit den avantgardistischen Künstlern verband, war ein gemeinsames Interesse an der Schaffung einer allgemein verständlichen Zeichensprache, die den gesellschaftlichen Aufbruch zur Zeit der fortgeschrittenen Industrialisierung angemessen zu visualisieren vermochte. Mit ihren ‹exakten› Formen und bunten Farben glaubten sie, diese weitgehend gefunden zu haben», urteilt Christoph Bignens (vgl. Abb. 150).5 Wirtschaftliche Ordnung und visuelle Ordnung Die schweizerische Gebrauchsgrafik des «Swiss Style» stellte sich ganz bewusst in den Dienst der Grossindustrie, vor allem in der Chemie-, Maschinen-, Elektro- und Automobilbranche. Sie verstand sich explizit als «Industriegrafik». Die Grafiker hatten politisch ein progressives Selbstverständnis (Abb. 147, 149) und produzierten neben der Industriegrafik auch politische Grafik, vor allem Plakate für die linken Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse und für die Frauenrechtsbewegung. Es gab mehrere «Ateliers, auf deren Zeichentischen sowohl Aufträge für die Anliegen der Arbeiterklasse als auch solche für die Grossindustrie lagen».6 So entwarf R. P. Lohse Plakate für die sozialdemokratische Zeitung «Volksrecht» (1944) und für den hydroelektrischen Grosskonzern Escher Wyss AG (1949). Max Bill schuf politische Plakate für den Abstimmungskampf «Lohnabbau nein!» (1933) und Plakate für den «Internationalen Genfer Automo-
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Abb. 154: Josef Müller-Brockmann: Plakat für den Schweizer Autoclub, 1954. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 329.
Abb. 155: Siegfried Odermatt: Werbung für die Apotheke Sammet, 1957. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 331.
bilsalon» (1929). Gottfried Honegger warb in den fünfziger Jahren für die Luxusautomodelle von GM und gestaltete später Plakate für den «Tag der Arbeit» (1981). Wie vertrugen sich die beiden Bereiche, Grosskapital und Proletariat, miteinander? Ford und Marx an denselben Tisch zu bringen war nur oberflächlich ein Widerspruch. Schon W. I. Lenin, der russische Revolutionsführer und -theoretiker, hatte dafür plädiert, die sozialen Errungenschaften des Sozialismus mit den materiellen Vorteilen Amerikas zu paaren, indem man die modernen kapitalistischen Produktionsmethoden (Taylor, vgl. Kapitel 8) aufnehme. Und es gab zwischen Grossindustrie und Avantgarde durchaus auch gemeinsame Bestrebungen, wenn auch aus verschiedenen Motiven: die «Demokratisierung des Komforts».7 Sie wurde zwischen den Weltkriegen von beiden Seiten als Ziel formuliert, allerdings nicht erreicht. Zur Zeit der Hochkonjunktur der fünfziger und sechziger Jahre war man dem Ziel näher. Dabei spielte die Elektrifizierung eine bedeutende Rolle. Deshalb konnte damals ein fortschrittlicher Gebrauchsgrafiker wie Richard P. Lohse ohne ideologischen Spagat für die schweizerische Elektrowirtschaft Aufträge übernehmen. Und: Im Gegensatz zu den eher konservativen kleinen und mittleren konnten sich die grossen Firmen eine solche Grafik leisten! Basler und Zürcher Hochburgen Die Entwicklung des «Swiss Style» ging wesentlich von den beiden Kunstgewerbeschulen Basel und Zürich aus, wobei die Basler Schule durch eine illustrativ entwerfende und die Zürcher Schule durch eine konstruktiv entwerfende Grafik geprägt wurden. Diese Typisierung wurde zumindest von R. P. Lohse, W. Rotzler und anderen vorgeschlagen.8 Die erste be-
Abb. 156: Hans Hartmann: Plakat für die schweizerische Konferenz für Sicherheit im Strassenverkehr, 1964. Quelle: Fanny Hartmann, Hans Hartmann, Ein Leben für die Grafik, Bern, 1993, S. 53.
vorzugte den Pinsel und den Zeichenstift und gestaltete vor allem Plakate; die zweite bevorzugte technische Medien, Satzschriften und die Fotografie und gestaltete vor allem Bücher, Prospekte, Logos usw. Von der Basler Schule sind als Vertreter zu nennen: Niklaus Stoecklin (1896), der Wegbereiter; Herbert Leupin (1916), über Jahrzehnte der populärste Schweizer Grafiker 9 (Abb. 151), Karl Gerstner (1930), der zusammen mit Markus Kutter 1959 das Standardwerk Die Neue Graphik herausgab und Armin Hofmann (1920). Hofmann suchte in seinem Werk und seiner Lehrtätigkeit eine dynamische Harmonie, in der alle Anteile des Designs vereinigt waren. Er setzte Kontraste wie Licht und Dunkel, Kurven und Geraden, Form und Gegenform, Dynamik und Statik als Mittel ein, um die Wirklichkeit des Lebens visuell umzusetzen. Eine Lösung war für ihn dann gelungen, wenn in einer Grafik alles zur Harmonie gebracht werden konnte (Abb. 152). Mit der Zürcher Schule sind folgende Namen verbunden: Richard P. Lohse (1902–88) (Abb. 153); Josef Müller-Brockmann (1914–96) (Abb. 154); Hans Neuburg (1904–83), der nach Christoph Bignens «der erhellendste Theoretiker des ‹Swiss Style›» war10 ; Carlo L. Vivarelli (1919–86); Gottfried Honegger ; Emil Ruder (1914–70). Im Kunstgewerbemuseum Zürich fand 1958 eine Ausstellung mit dem Titel «Konstruktive — 5 6 7 8
Christoph Bignens, Swiss Style, S. 36. Ebenda, S. 61. Ebenda. Ebenda, S. 12. In der angloamerikanischen Fachliteratur wird der Begriff «Swiss Style» ausschliesslich für die konstruktivistische Grafik verwendet (Christiph Bignens, Swiss Style, S. 20). 9 Ebenda, S. 21. 10 Ebenda, S. 54.
130 11. Swiss Style Der internationale typografische Stil
Meilensteine
Abb. 157: Schriftgiesserei Berthold: Akzidenz-Groteske, 1898–1906. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 224.
Abb. 158: Eduard Hoffman und Max Miedinger: Schrift Helvetica, 1961. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 324.
Grafik» statt, auf der als Leitbilder Arbeiten aus den Ateliers von Lohse, Neuburg und Vivarelli gezeigt wurden. Ausserhalb der beiden Hochburgen ist Siegfried Odermatt (1926) zu nennen, der in der konkreten Anwendung des Stils in der visuellen Kommunikation von Handel und Industrie eine wichtige Rolle spielte (Abb. 155). Im Schatten von Basel und Zürich zeichneten sich in Bern einige Gebrauchsgrafiker wie Hans Hartmann (Abb. 156), Kurt Wirth und Heinz Jost durch namhafte Beiträge zum «Swiss Style » aus. Die neuen serifenlosen Schweizer Schrifttypen Der «Swiss Style» entwickelte in den fünfziger Jahren seinen alphabetischen Ausdruck in einigen serifenlosen Schriften. Der mathematisch konstruierte, serifenlose Stil der zwanziger und dreissiger Jahre («Neue Typographie», vgl. Kapitel 6) wurde zugunsten der Weiterentwicklung der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Akzidenz-Groteske abgelehnt (Abb. 157). Eduard Hoffman und Max Miedinger von der schweizerischen Schriftgiesserei Haas nahmen sich der Erneuerung der Akzidenz-Groteske an und entwarfen die so genannte «Neue Haas Groteske», die von den Deutschen – nach dem lateinischen Namen für die Schweiz – Helvetica genannt wurde. Die Helvetica ist eine Überarbeitung der herkömmlichen serifenlosen Antiquaschriften. Sie wurde wegen ihrer neutralen, «wohldefinierten Formen, ihrem ausserordentlichen Rhythmus»11 und ihrer vielfältigen Verwendbarkeit zu einer der meistbenutzten, kopierten und weiterentwickelten Schriften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart (Abb. 158, 159). Der in Paris arbeitende Schweizer Grafiker Adrian Frutiger
Abb. 159: Helvetica. Quelle: Paul Clark, Julian Freeman: Design. Logo, München, 2000, S. 135.
(1928*) vollendete 1954 seine visuell programmierte Familie von 21 serifenlosen Schriften, «Univers» genannt. Die Palette der traditionellen typografischen Möglichkeiten wurde dadurch um das Siebenfache ausgedehnt (Abb. 160). Internationale Zeitschriften des «Swiss Style» Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg und Vivarelli gründeten 1958 die «Neue Grafik» (engl.: «New Graphic Design»), eine dreisprachige «internationale Zeitschrift für Grafik und verwandte Gebiete», wie der Untertitel lautete. Bis zu ihrer Einstellung waren die vier Gründer und Herausgeber (LMNV) auch für die Redaktion zuständig. Die achtjährige Erscheinungszeit der «Neuen Grafik» war identisch mit der Blütezeit des «Swiss Style». Die «Neue Grafik» war nicht das einzige Sprachrohr des «Swiss Style». Auch die 1944 gegründete «Graphis» mit dem Untertitel «Internationale Monatsschrift für freie Graphik, Gebrauchsgraphik und Dekoration» «machte den ‹Swiss Style› zu einer von weit her erreichbaren Inspirationsquelle».12 Anfänglich war «Graphis» das Organ des seit 1938 existierenden «Verbands Schweizerischer Grafiker» (VSG). Über sie schrieb Willy Rotzler 1955: «So wie für einen Teil der Ausländer die Schweiz identisch ist mit Käse oder Uhren, ist für andere die Schweiz das Land von ‹Graphis›.»13 Internationaler Einfluss Der internationale Einfluss des »Swiss Style» ging nicht nur auf die beiden Zeitschriften, sondern auch auf seine Exponenten zurück. Max Huber, Xanti Schawinsky, Walter Ballmer und Carlo Vivarelli sorgten mit ihren langjährigen Aufenthalten in Mailand dafür, dass der «Swiss Style» in Italien Fuss
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Abb. 160: Adrian Frutiger: Schematisches Diagramm der serifenlosen Schriften «Univers», 1954. Die Univers besteht aus 59 Schnitten. Frutiger änderte die Formen systematisch von oben nach unten und von links nach rechts. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 324.
Abb. 161: Jacqueline S. Casey: Ankündigung des MIT-OzeanIngenieur-Programms, 1967. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 335.
fasste. Adrian Frutiger, Jean Widmer und Gérard Ifert machten ihn in Frankreich bekannt (A. Frutigers typografische Orientierungstafeln in der Pariser Métro!). Nach Deutschland waren die Verbindungen über die Ulmer Hochschule für Gestaltung (Max Bill, Ernst Hiestand, Josef Müller-Brockamnn u.a.) ohnehin eng. In den Niederlanden sorgten Pieter Brattinga und «Total Design», in Grossbritannien «Pentagram» für seine Verbreitung. Herbert Matter und Armin Hofmann wirkten in den USA, zum Teil in enger Verbindung mit Paul Rand, Will Burtin und anderen (vgl. Kapitel 8). Der «Swiss Style» hatte in den sechziger Jahren einen starken Einfluss auf das Grafikdesign in den USA und behielt diesen zwei Jahrzehnte lang. Ein nennenswertes Beispiel ist das «Massachusetts Institute of Technology» (MIT ). In den frühen fünfziger Jahren gab sich diese Universität ein grafisches Designprogramm, das vom «Design Services Office» ganz im Stil des «Swiss Style» entwickelt wurde. Damit hatte eine amerikanische Universität schon sehr früh die Bedeutung von Design für Kultur und Kommunikation anerkannt (Abb. 161). Auch vorübergehend oder dauerhaft in der Schweiz niedergelassene ausländische Grafiker verbreiteten den «Swiss Style» in ihren jeweiligen Herkunftsländern. Tomas Maldonado, der im Dreieck Ulm, Schweiz, Italien wirkende argentinische Grafiker (und zweite Direktor der Hochschule für Gestaltung), war die Schlüsselfigur in der Ausbreitung des «Swiss Style» in Lateinamerika. Der Schweizer Stil war um 1960 auf dem Höhepunkt seiner Ausstrahlung.14
Abb. 162: Paul Rand: IBM Logo, 1956. Quelle: Cathrine McDermott, Design A- Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 258.
Beiträge zum Corporate Design Die Bemühungen um die Gestaltung integrierter Erscheinungsbilder von Unternehmen, was man heute im Bereich des Marketings als «Corporate Identity» bezeichnet, gehen in Europa bis auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück (vgl. Kapitel 4: «Peter Behrens und die AEG »). In den USA war in den dreissiger und vierziger Jahren die Container Corporation of America (CCA) einer der frühen Fürsprecher einer systematischen «Corporate Identity». Paul Rand (1914–96) wurde mit seiner Entwicklung des Corporate Designs der Firma IBM bekannt (Abb. 162). Ebenfalls in den USA wurden die ersten Schritte in der Signaletik gemacht (Signaletik: visuelle Orientierung im öffentlichen und privaten Raum) – dies vor allem bei verschiedenen Transportsystemen, die offensichtlich Bedarf nach visueller Orientierungshilfe mit Hilfe von Piktogrammen hatten (Abb. 163). Das Corporate Design für die deutsche Luftfahrtgesellschaft Lufthansa – von Otl Aicher und anderen am Ulmer Institut für Design entwickelt und produziert – wurde ein Prototyp für ein geschlossenes Identitätssystem, in dem jedes Detail standardisiert und absolut uniform war (Abb. 164). Die Olympischen Spiele von 1968 in Mexiko und von1972 in München waren Meilensteine in der Entwicklung von Designprogrammen. Hier mussten die immensen Kommunikationsprobleme der internationalen Teilnehmer gelöst werden (Abb. 165, 166). — 11 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 325. 12 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 15. 13 Ebenda, S. 16. 14 Ebenda, S. 18.
132 11. Swiss Style Der internationale typografische Stil
Meilensteine
Abb. 163: Roger Cook und Don Shanosky: Piktogramm für das Signaletik-System des US-Verkehrsdepartements. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 380.
Abb. 164: Otl Aicher et al: Zwei Seiten aus dem CI-Manual der Lufthansa, 1962. Helvetica-Schrift. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 375f.
In der Schweiz bemühte sich die Chemische Industrie Basel (CIBA), die bereits in den frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem global agierenden Pharmakonzern geworden war, als eine der ersten Firmen um die Entwicklung eines international verständlichen CorporateDesign-Programms (Abb. 167). 1953 sprach der Amerikaner James K. Fogleman, der Promotor des Programms, von der «Notwendigkeit eines integrierten Designs oder vom kontrollierten visuellen Erscheinungsbild, welches eine grosse Rolle spiele im Erreichen einer Corporate Identity.»15 Fogleman betonte immer wieder, dass Kommunikation zwei Funktionen habe: der unmittelbare Werbenutzen für ein Produkt und die Entwicklung des Rufs und des Images einer Firma, was längerfristig die wichtigere Funktion sei. Es ist kein Zufall, dass es gerade die chemische Industrie war, die unter Anleitung bedeutender Gestalter in der Kommunikationspolitik als Vorreiter einer ganzheitlichen «Corporate Identity» eine Pionierrolle spielte: Bei Pharmaprodukten gab es wenig zu gestalten, aber umso mehr zu kommunizieren. Dazu kam, dass die gesetzlichen Bestimmungen die allegorische Darstellung der Wirkung pharmazeutischer Produkte verbot, was eine typografische Lösung bevorzugte. In den sechziger Jahren vereinigte sich der Schwung des «Swiss Style» mit demjenigen der Bewegung um das Corporate Design. Das Ergebnis: die systematische Entwicklung von anspruchsvollen Designprogrammen zur Verbindung von komplexen unterschiedlichen Teilen (Produktdesign und visuelle Kommunikation) zu einem Ganzen. Gerstner und Kutter sowie Lohse und andere Agenturen realisierten nach 1959 ein konsequentes Corporate Design.16
Ende des «Swiss Style» Das Ende kann durch zwei Ereignisse datiert werden: 1965 stellte die «Neue Grafik» ihr Erscheinen ein, und gleichzeitig fand die Aufklärungskampagne «Die gute Form» des Schweizerischen Werkbundes zum letzen Mal statt. Das war ein Wendepunkt in der fast fünfzigjährigen Blütezeit der Schweizer Grafik. Christoph Bignens sucht nach Gründen für diese Entwicklung: «Der Glaube an eine Ästhetik, die mit den formalen Mitteln der konstruktiven Gestaltung zu einer schlichten, zweckmässigen und ‹guten› Form gelangen will, war in der Mitte der sechziger Jahre spürbar geschwunden (…) Die Zweckgrafik (so wurde die konstruktive Grafik von Hans Neuburg 1946 genannt, B.S.) geriet in der Hochkonjunktur bald unter massiven Druck, weil sie in der aufblühenden, von Amerika geprägten Massenkultur den Forderungen nach rasch wechselnden und unterhaltsamen visuellen Reizen nicht mehr gewachsen war. Eine Erlebnisgrafik, wie sie die Postmoderne hervorbrachte, wollte die zurückhaltende ‹Schweizer Grafik› nie sein.»17 Richard P. Lohse hatte 1959 (!) im dritten Heft der «Neuen Grafik» ahnungsvoll geschrieben: «Die Sintflut des Massenproduktes reisst auch die Ästhetik täglich mit sich fort.» Und Max Bill äusserte 1988 resigniert, dass es nur noch eine «Gestalterei» gebe, die Spielerei sei und der Verkaufsförderung diene.18 — 15 Philip Meggs, A History of Design, S. 367. 16 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 58. 17 Ebenda, S. 10. 18 Zitiert aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S.69.
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Abb. 165: Peter Murdoch und Lance Wyman: Signaletik für die 19. Olympiade, 1968. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 383.
Abb. 166: Otl Aicher: Druckgrafik der 20. Olympiade, 1972. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 385.
Abb. 167: Fritz Bühler (CIBA-Designgruppe): CorporateIdentity-Programm, 1953–60. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 368.
134 11. Swiss Style Der internationale typografische Stil
— Kommentar
Präzisionsgrafik Die konstruktive Grafik, der «Swiss Style», ist keine schweizerische Erfindung, und doch haben die relativ kleinen Schweizer Grafikateliers und ihre Patrons zusammen mit der Industrie in den fünfziger und sechziger Jahren weltweit Designgeschichte geschrieben. Natürlich profitierte die Schweiz von ihrem Inseldasein während des Zweiten Weltkriegs, der die Entwicklung anderer Designnationen lähmte, so dass ImmigrantInnen wesentliche Impulse in dieses Land brachten. Einmal mehr glänzte die Schweiz nicht mit wissenschaftlichen Erfindungen von weltweiter Bedeutung, aber mit einer international bedeutenden Pionierleistung auf der Grundlage von ausländischem Wissen.1 Es war die Stärke des «Swiss Style», dass das zweckrationale Gestaltungsdenken in der Schweiz auf einen ausserordentlich fruchtbaren Boden fiel. Zwei Zitate mögen dies veranschaulichen: Max Bill bemerkte: «Weil die Qualitätsproduktion das Ziel jedes seriösen Schweizer Industrieunternehmens ist, hat eine der Industrieproduktion adäquate grafische Gestaltung in der Schweiz schon zu Beginn der dreissiger Jahre sich durchsetzen können.» Die industrielle Qualitätsproduktion hatte ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, wo zum Beispiel in der Maschinenindustrie die Merkmale einer Präzisionsmechanik das Puritanische, das formal Zurückhaltende, das Ernste, das Saubere und das Gepflegte waren. Die Wurzeln dieses stark ausgeprägten Zweckrationalismus lagen in einer Mentalität, die von Ordnungsliebe, Fleiss und Zuverlässigkeit gekennzeichnet war. Lotte Schilder Bär nennt dies «Eigenschaften, welche die Schweiz als Reaktion auf die industriellen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts aus einer bäuerlichen und calvinistischen Ethik heraus zum strategi-
schen Prinzip bündelte».2 Mit andern Worten sind Präzision und Qualität das kreative und innovative Mittel der Schweizer Wirtschaft gegen naturgegebene Konkurrenz- Nachteile (wie Rohstoffmangel). Ähnliche Eigenschaften kennzeichneten auch den «Swiss Style», so dass Willy Rotzler 1966 in Anlehnung an die schweizerische Präzisionsmechanik von einer «Präzisionsgrafik» sprechen konnte.3 Das zweite Zitat stammt von Richard P. Lohse: «Das Neue an dieser Grafik ist vor allem ihre fast messbare Klarheit.»4 In bester Schweizer Tradition hatte schon Le Corbusier 1923 eine Erneuerung der visuellen Kultur gefordert, die von einer «messbaren Ordnung» ausgeht.5 Die Präzisionsgrafik war wie die Präzisionsmechanik ein schweizerisches Exportprodukt, das auf dem Ideal messbarer Ordnungen basierte! — 1 2 3 4 5
Christoph Bignens, Swiss Style, S. 27. Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 27. Christoph Bignens, Swiss Style, S. 30. Richard P. Lohse 1958 im Vorwort zur ersten Nummer der «Neuen Grafik». Christoph Bignens, Swiss Style, S. 30.
12. KRISE DES FUNKTIONALISMUS
138 12. Krise des Funktionalismus
— Wirtschaftliches und Soziales
Zweifel am Design 1 In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten zwei Dinge einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des Designs in den Industrieländern der westlichen Welt: einerseits die wirtschaftliche Hochkonjunktur und die Ausbreitung der Massenkonsumgesellschaft und anderseits die massive Kritik an dieser Gesellschaft. Rückblickend war der Wirtschaftsboom der Fünfziger nur der Prolog für die Ausbreitung einer Gesellschaft, die auf Massenproduktion und -konsumtion, aber auch auf einem wachsenden Verbrauch der natürlichen Ressourcen beruhte. Auf der Grundlage dieser Wohlstandsgesellschaft breitete sich nach US-Muster eine Massenkultur aus, die eine nachhaltige kulturelle Wende einläutete (vgl. Kapitel 13). Die wirtschaftliche Entwicklung ließ das Design natürlich nicht unberührt: Es wurde immer mehr nach einer Gestaltung verlangt, die auf die stetig schneller sich wandelnden Bedürfnisse der Märkte «innovativ» reagierte und die Dinge im Sinne des «Styling» gestaltete und arrangierte. Das industrielle Design richtete sich denn auch in der Regel nicht nach den hehren Regeln der «Guten Form», sondern kopierte aus wirtschaftlichen Überlegungen der Rationalisierung und der Kosteneinsparung den Funktionalismus sowie den Ulmer Systemgedanken. Das neofunktionalistische Design der «Guten Form», das sich seit Beginn vom «schlechten Industriekitsch» abgegrenzt hatte, geriet unter diesen Bedingungen immer mehr unter Druck. Zweifel am Design 2 Ab Mitte der sechziger Jahre regte sich in den westlichen Industriestaaten in der Hoch-Zeit des Wirtschaftswachstums
massiver Widerspruch gegen die gesellschaftliche und politische Entwicklung. Es war die erste Krise der westlichen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuerst in den USA (Flower-power-Bewegung) und dann in Europa (Achtundsechzigerbewegung) kam es zu studentischen Protestbewegungen, die zwei Hauptstoßrichtungen hatten: Die erste richtete sich gegen die verkrusteten und autoritären Gesellschaftsstrukturen und gegen den imperialistischen Krieg der USA in Vietnam. Die zweite hatte das Konsumverhalten in den kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften im Visier. Sie mündete in einer Kapitalismuskritik, welche die «unauflösliche Bindung von Unternehmerinteressen, Warengestaltung und Werbung»1 zum Gegenstand hatte. Der Protest galt dem «Konsumfetischismus». Die Euphorie des Massenkonsums und die damit verbundene Belastung des Ökosystems sahen sich zunehmend heftigerer Kritik ausgesetzt. Die «Grenzen des Wachstums» wurden beschworen. In den siebziger Jahren überlagerte die Ökologieproblematik die primäre Kapitalismuskritik, was auch auf die Designtheorie durchschlug. Gefordert wurde die Umweltfreundlichkeit des Produzierens und Gebrauchens, die Schonung der Ressourcen und die soziale Handhabe des Gestalteten.2 Die Attacken der Protestbewegungen bewegten sich auf verschiedenen Ebenen: Antiimperialismus, Antirassismus, antiautoritäre Erziehung, Antibabypille und auch Antidesign. Sie ließen das Design nicht unberührt. Protestiert wurde gegen das etablierte Design («Mainstreamdesign»). Der Zweckrationalismus der modernen funktionalistischen Gestaltung wurde kritisiert und die Rolle des Designs generell in Frage gestellt. Viele DesignerInnen wollten sich nicht länger in der Rolle eines «Handlangers des Kapitals»3 sehen; sie verweigerten eine kreative (Design-) Leistung im Dienst der Marktwirtschaft und des Konsums und plädierten für eine Welt ohne Konsumgüter. Sie zogen es vor, frei und experimentell zu arbeiten und sich politisch zu engagieren. Dazu gehörte auch, politische Designkonzepte zu entwerfen. In Deutschland beeinflusste die so genannte «Kritische Theorie» der Frankfurter Schule das Design: Die Frage nach seiner Aufgabe in der Gesellschaft wurde radikal neu gestellt,
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und es wurde kritisiert, dass die Funktion eines Gegenstandes auf den zweckrationalen und rein technischen Aspekt eingegrenzt wurde (vgl. «Philosophische Designkritik»). — 1 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 281. 2 Ebenda. 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 140.
140 12. Krise des Funktionalismus
Meilensteine
Abb. 168: Guido Drocco und Franco Mello: Kleiderständer «Cactus», 1971. Formen aus Comics konnten mit dem neuen Kaltpolyurethanschaum auch im Möbelbau umgesetzt werden. Quelle: Bernd Polster et al. (Hg.), Dumont Handbuch, Köln, 2002, S. 211.
Abb. 169: Piero Gatti et al.: Sitzsack «Sacco», 1968/69. Der mit aufgeschäumtem Polystyrolkügelchen gefüllte Sack sollte sich jeder Körperform anpassen und war damit Ausdruck einer legeren und antiautoritären Wohnkultur. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 471.
Defizite und negative Folgen des Neofunktionalismus Die meisten Vertreter der Theorie des Funktionalismus in Architektur und Design konnten auf die Infragestellung des Neofunktionalismus (auch Spätfunktionalismus genannt1 ) und der gesellschaftlichen Rolle der Gestaltung keine befriedigenden Antworten liefern, zu sehr waren ihre PraktikerInnen im rein technologischen und zweckrationalen Handeln verstrickt, zu sehr hatten sie ihre Fantasie und Freiheit und die emotionale Beziehung zur Umwelt eingeengt und unter den Scheffel des nur praktisch-technisch verstandenen Funktionalismus gestellt. In Grossbritannien, später auch in Italien und Deutschland, bildeten sich radikale Gegenbewegungen gegen die funktionalistische Architektur sowie das «Mainstreamdesign» der Industrie und der Designinstitutionen, das den Funktionalismus imitierte und langweilige Massenprodukte entwickelte. Herd und Geschirrspülmaschine, Waschmaschine und Kühlschrank, die unterschiedlichsten Haushaltsfunktionen passten alle in immergleiche Kisten mit ähnlichen Bedienungselementen – praktisch und vor allem unanschaulich. Autos, Schränke, Regale und Möbelgarnituren unterwarfen sich in den sechziger und siebziger Jahren einer zwar zweckmäßigen, anderseits aber formal ziemlich dürftigen Rasterstruktur. Gegen die «seelenlose» zweckrationale Eingrenzung der Gegenstände auf ihre praktisch-technische Funktion wurden die emotionalen und symbolischen Funktionen thematisiert und ins Zentrum gerückt. Auch die Frage nach der Rolle der Kunst im Entwurfsprozess, die der Funktionalismus streng vom Design getrennt hatte, wurde gestellt. Die ersten «postmodernen» Theorien wurden formuliert (vgl. Kapitel 13). In Deutschland fand Mitte der sechziger Jahre zuerst in der
Theorie
Philosophische Designkritik Die Kritik am Funktionalismus fand einen Höhepunkt in dem Vortrag von Th. W. Adorno («Funktionalismus heute») vor dem Deutschen Werkbund 1965. Dort kritisierte dieser Vertreter der Kritischen Theorie die puristischen Leitgedanken der FunktionalistInnen als ideologisch überhöht und stellte fest: «Das Unzureichende der reinen Zweckformen ist zutage gekommen, ein Eintöniges, Dürftiges, borniert Praktisches (…). Kaum eine Form, die neben ihrer Angemessenheit an den Gebrauch nicht auch Symbol wäre (…). Die Zukunft von Sachlichkeit ist nur dann eine der Freiheit, wenn sie des barbarischen Zugriffs sich entledigt: nicht länger den Menschen, dessen Bedürfnis sie zu ihrem Massstab erklärt, durch spitze Kanten, Karos, kalkulierte Zimmer, Treppen und Ähnliches sadistische Stösse versetzt. Fast jeder Verbraucher wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen an seinem Leib schmerzhaft verspürt haben; daher der Argwohn, was dem Stil absagt, sei bewusstlos selber einer.»1 Adorno wies darauf hin, dass mit dem Verzicht auf das Ornament der Verlust von Menschlichkeit einhergehe. G. Raulet stellte fest, dass der nur materialgerechte, kahle, unverzierte Bau, das auf seine konstruktiven Elemente reduzierte Möbelstück, dem Heimisch-Werden des Menschen in seiner Welt entgegenstehen würde.2
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Abb. 170: Carlo Scolari et al.: Aufblasbarer Sessel «Blow Chair» (Firma Zanotta), 1967. Möbel aus PVC-Folie kamen Ende der sechziger Jahre als Inbegriff der Jugendlichkeit und Flexibilität in Mode. Leicht zu transportieren, Platz sparend, geeignet für drinnen und draussen, für trocken und nass: Gegenstände, wie der «Blow Chair» waren sowohl voluminös gestalteter Protest gegen die teuren Reeditionen der Zwanzigerjahre-Klassiker als auch sarkastischer Hinweis auf das noch immer nicht eingelöste
Versprechen der Moderne für die Verbindung von Licht, Luft und Sonne für alle. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 129.
Architektur und Städteplanung eine Debatte über die «emotionalen Defizite eines reinen Zweckrationalismus» statt, der ausschließlich auf rationelle Massenproduktion ausgerichtet war.2 Die negativen Folgen zeigten sich deutlich an den großen Neubausiedlungen an der Peripherie der Städte, wo mit einem «Planungs»- oder «Bauwirtschaftsfunktionalismus»3 rücksichtslos über die Bedürfnisse der Menschen hinweggegriffen wurde. «Aus der Poesie des weissen Rechtkants wurde die Wirtschaftlichkeit des Behausungscontainers.»4 Der Architekt W. Nehls forderte 1968: «Die heiligen Kühe des Funktionalismus müssen geopfert werden!» Er verurteilte den unmenschlichen Formalismus der Betonplattenbauten der sechziger und siebziger Jahre und fuhr fort: «Das Verbrecherische liegt darin, dass die Prinzipien des Klaren und Strengen uns in eine Öde der Gestaltung geführt haben.»5 Im Übrigen fällt die Krise des Funktionalismus und damit des Designs – seit Jahrzehnten waren Design und Funktionalismus in Europa dasselbe – praktisch zusammen mit dem beginnenden Ende der sichtbaren Funktionalität der Gegenstände; denn bei der zunehmenden Masse der modernen elektronischen Alltagsgegenstände war die technische Funktion im Wesentlichen unsichtbar. Anders gesagt: Als die symbolischen und emotionalen Funktionen der Gegenstände gestalterisch immer besser dargestellt wurden, wurde die technische Funktion zunehmend unsichtbar. — 1 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt, Das Jahrhundert des Design, S. 169. 2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 142. 3 Planungsfunktionalismus in: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 127; Bauwirtschafts funktionalismus in: Heinrich Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. ModernePostmoderne- Zweite Moderne, München, 1994. 4 Heinrich Klotz: Ebenda. 5 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 143.
Abb. 171: Verner Panton: «Panton-Chair», 1968. Der Entwurf von 1959 konnte erst 1968 produziert werden, zunächst mit Glasfiberkern, kunstharzbeschichtet, ab 1968 aus Fiberglas und Polyester. Quelle: Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, Berlin, 1998, S. 84.
W. F. Haug lieferte in seiner Kritik der Warenästhetik eine politische Kritik der Rolle des Designs im kapitalistischen Wirtschaftssystem (vgl. Kapitel 1). Er verurteilte das Design, das den Gebrauchswert der Waren reduziert und ihnen aus Marketinggründen (Styling) einen falschen Oberflächenglanz verleihe, der die VerbraucherInnen mit kurzlebigen Scheinversprechen betrüge. Neofunktionalismus kontra Funktionalismus Dieter Weidmann: «Während sich in den zwanziger und dreissiger Jahren Stil und Produktion so glücklich ergänzten, dass praktisch jede funktionalistische Lampe dieser Epoche als ästhetisch gelungen zu bezeichnen ist, und während der Bauhausstil noch jene ästhetisch pointierten Kontrastsetzungen aufwies, die auch einfacheren Formen eine interessante Physiognomie verliehen, fielen die funktionalistischen Formen der sechziger und siebziger Jahre immer monotoner aus, was ihren ästhetischen Reiz stark abschwächte und vor allem in massierter Ballung den Eindruck unerträglicher Langeweile verströmte.»3 — 1 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 56. 2 G. Raulet, Natur und Ornament, Darmstadt, 1987, in: Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, München, 1992, S. 184. 3 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 21.
142 12. Krise des Funktionalismus
Meilensteine
Abb. 172: Luigi Colani: Zocker (Sitzgerät Colani), 1971-72. Zunächst hatte Colani eine Kinderversion dieses «Sitzwerkzeugs» mit integriertem Sitz und Pult entworfen. Auf diesem auf Multifunktionalität und Ergonomie ausgelegten Modell kann man entweder in konventioneller Haltung oder rittlings wie in einem Sattel sitzen. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 489.
Abb. 173: Archizoom Associati: Superonda, 1966. Konstruktion aus Schaumstoff mit Vinylbezug. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 469.
Alternativen aus der Pop-Kultur Wer zum kritisierten Neofunktionalismus eine Alternative suchte, konnte sie im Protest der Jugendkultur finden. Die amerikanische Hippie-Bewegung und die britische Pop-Musik hatten die Formensprache der «Flower-power» gefunden, welche zusammen mit der aufmüpfigen Pop-Art die Kleidermode, das Möbeldesign und das Grafikdesign beeinflusste. Den stärksten Einfluss auf das Design hatte die PopKultur in Italien. Dort erkannten die neuen Designgruppen (vgl. unten) in der Pop-Bewegung eine über die reine Ästhetik hinausgehende kulturelle Bedeutung.6 Die Jugendkultur und die Pop-Kultur lehnten sich gegen tradierte Verhaltensweisen auf, auch die Pop-Art rebellierte gegen den etablierten Kunstbetrieb. Alltagsgegenstände, Comics und Bilder aus der Werbung wurden in den Werken eines A. Warhol oder eines R. Lichtenstein zu Kunst und in ihrem verfremdeten Kontext (Kunstgalerien und Museen) zur Parodie auf die Massenkonsumgesellschaft. Die Ästhetik dieser Kunst beeinflusste auch das Design (Abb. 168). Kitsch und triviale Alltagskultur, selbst gebastelte Möbel und Sperrmüll wurden salonfähig und fanden den Weg in die Wohnkultur (Abb. 169, 170). Im Produktdesign ermöglichte die Verwendung der neu entwickelten Kunststoffe die Kreation von spielerischen und ungewohnt provokativen Formen. Der wohl bekannteste, vollständig aus Plastik gefertigte Stuhl dieser Zeit stammte vom dänischen Designer Verner Panton (Abb. 171). Luigi Colani benutzte Kunststoff, um seine Visionen von organischen und ergonomisch abgestützten Formen zu realisieren (Abb. 172). Flug- und Fahrzeuge, Kugelküchen und Kinderhocker: Mit seinen biomorph-gerundeten Formen eckte Colani in den sechzi-
Abb. 174: Gruppe Strum: Sitz- und Liegemöbel «Pratone» (Große Wiese), 1971. Eines der bekanntesten Beispiele des Anti-Designs. Es sah abweisend und hart aus, war aber weich und bequem. Ironie und Spiel mit der Wahrnehmung waren im Anti-Design sehr beliebt. Die Gruppe Strum wollte Architektur und Design als Mittel politischer Propaganda einsetzen. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 495.
ger Jahren in der Industrie an und schreckte die VertreterInnen der langweilig gewordenen «Guten Form» auf. Colani machte das Wort «Design» in Illustrierten und im Fernsehen populär. Anti-Design oder Radical Design in Italien Auch in Italien rebellierte Ende der Sechziger die antiautoritäre Generation von DesignerInnen und ArchitektInnen gegen die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen und gegen das konsumorientierte Mainstreamdesign, das «Bel Design». «Man wollte keine eleganten Einzelstücke mehr entwerfen, sondern übergreifend konzeptionell und global denken, den Entwurfsprozess ebenso neu betrachten wie die politischen Voraussetzungen in der Konsumgesellschaft.»7 In Mailand, Florenz und Turin schlossen sich Gruppen zusammen, um einen radikal neuen Ansatz zur Schaffung von «Grundlagen für ein neues Sein»8 zu erarbeiten. Dieses Anti-Design, es wurde auch Radical Design genannt, war antikommerziell. Im Vordergrund standen Zeichnungen, Fotomontagen und Konzepte zu utopischen Projekten, mit denen der Protest gegen das etablierte Design und den Konsumismus («consumismo») ausgesprochen wurde. Eine der ersten Gruppen und der eigentliche Begründer des Anti-Designs war die 1966 in Florenz gegründete Gruppe Archizoom (Abb. 173). Die anderen Gruppen des Radical Designs waren Superstudio (Mailand, 1966), Gruppo 9999 (Florenz, 1967), Gruppe Strum (Turin, 1966). Die Gruppe Strum setzte Design als Mittel der politischen Propaganda ein und entwarf von der Pop-Art inspirierte Möbel (Abb. 174). Mit den Arbeiten von Superstudio, Archizoom und anderen Gruppen wurde im Design eine neue Kategorie eingeführt: das Konzeptdesign. In der bildenden Kunst wurde zu dieser
143
Abb. 175: Des-In: Reifensofa, 1974. Entdeckung der Alltagskultur und Protest gegen die Wegwerfgesellschaft nach dem Öl-Embargo 1973. Das Reifensofa, das nach Gebrauch nicht mehr auf die Müllhalde wandert, sondern aus Weggeworfenem erbaut wird. Bei einigen DesignerInnen wurde nun weniger über die Form der Kaffemaschine als vielmehr über die Lebensbedingungen der KaffeepflückerInnen nachgedacht. Quelle: Volker Fischer, Design heute, München, 1988, S. 46.
Zeit die Concept Art entwickelt, in welcher die Ideen des Künstlers als rein geistige Konzeption im Mittelpunkt stehen. Losgelöst von den materiellen Bedingungen, werden diese Werke erst durch gedanklich assoziative Prozesse in der Vorstellung der RezipientInnen existent. Im italienischen Konzeptdesign drückte sich zum einen die politische Hoffnung aus, dass nach einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft neue und sozial sinnvolle Arbeiten erst möglich würden. Zum anderen ging es aber auch um individuelle Verhaltensänderungen, die durch die skizzierten Ansätze ermöglicht würden.9 1973 wurde Global Tools gegründet, ein Zusammenschluss von verschiedenen Gruppen wie Archizoom, Gruppo 9999, Superstudio und einzelnen DesignerInnen wie Ettore Sottsass sowie den Zeitschriften «Casa bella» und «Rassegna». Das Ziel war, in Florenz ein Netz von Werkstätten aufzubauen, um den Gebrauch natürlicher technischer Werkstoffe und die ihnen angemessenen Anwendungen zu unterstützen und auf diese Weise die Kreativität zu fördern. Global Tools überlebte sein drittes Lebensjahr nicht. So erging es auch den Gegenbewegungen: Die meisten von ihnen lösten sich Mitte der siebziger Jahre wieder auf. Die radikale Ablehnung der Konsumkultur lief auf die Verweigerung der realen Entwurfspraxis hinaus. Viele DesignerInnen, so auch Sottsass, stellten ihre Entwurfstätigkeit ein. Vorübergehend, wie sich bald herausstellte, denn in den Bewegungen Alichimia und Memphis fand das italienische avantgardistische Design eine Fortsetzung, die etwas vollenden sollte, was mit dem Anti-Design begonnen hatte: Italien wurde in den siebziger Jahren zum Designland schlechthin. Das Zentrum für Gestaltungsfragen (vor allem im Produktdesign)
hatte sich vom Norden (Finnland, Schweden und Deutschland) und von den USA (Eames, Bertoia) in den Süden verlagert (vgl. Kapitel 13).10 Alternativen? Die radikalen Bewegungen des Anti-Designs hatten Ende der sechziger Jahre ein grosses mediales Echo. Die meisten lösten sich aber wenige Jahre später wieder auf und verschwanden mehr oder weniger spurlos. Die verschiedenen gesellschaftskritischen Ansätze blieben Theorie und änderten am individuellen Mainstreamdesign wenig. Die experimentellen Projekte, mit denen Gruppen wie Des-In (Kürzel für die «Design-Initiative» von Angehörigen der Offenbacher Gestaltungshochschule im Jahr 1974) versucht hatten, alternative Wege in Entwurf, Produktion und Verkauf zu gehen, waren wirtschaftlich nicht tragfähig und konnten in der Produktion nicht Fuss fassen. Des-In entwickelte immerhin ein Recycling-Design (Abb. 175) und gab den Anstoss zur Do-it-yourself-Welle.11 Doch Erfolg hatten solche Bestrebungen nur, wenn sie – wie die Anregungen aus der Pop-Kultur – von der industriellen Produktion vereinnahmt wurden. Die anfänglich gesellschaftskritischen Pop-Möbel wurden zu blossen modischen Accessoires.12 Die Utopien des Anti-Designs waren schwächer als die faktische Macht des kapitalistischen Marktes. — 6 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 97. 7 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 146. 8 Ebenda. 9 Bernhard Bürdek, Design, S. 96f. 10 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 97. 11 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 143. 12 Ebenda, S. 148.
144 12. Krise des Funktionalismus
— Kommentar
Kritik der Kritik Die Kritik am herrschenden Funktionalismus war berechtigt. Es war eine Kritik an den Folgen eines sozial sinnentleerten Nachkriegsfunktionalismus, wie er sich zum Beispiel in der Form eines Bauwirtschaftsfunktionalismus in der modernen Architektur und Städteplanung gezeigt hatte. Es war eine Kritik am Funktionalismus, der sich als marktorientiertes Mainstreamdesign durchgesetzt hatte. Traf sie aber den Kern des Funktionalismus oder nur eine verflachte Variante? Vergegenwärtigen wir uns kurz den gemeinsamen Nenner der Bestrebungen eines L. Sullivan («form follows function»), eines A. Loos (Utopie der Ornamentlosigkeit), eines W. Tatlin (technische Ästhetik) und eines H. Meyer (nachkonstruktivistische Sachlichkeit des Baushauses): Angestrebt wurde die Identität von Zweckmässigkeit und Schönheit, die Angemessenheit der Form und der gestalterischen Mittel an den Zweck der Dinge, die Transparentmachung der Funktion durch die Produktsprache und das Zusammenfallen des materiellen Gebrauchswerts mit einer angemessenen Erscheinung des Gebrauchswerts. Die funktionale Produktgestaltung war gebrauchswertorientiert. Sie war eine Methode der Optimierung von Gebrauchswerten. Der Gebrauchswert eines Gutes bestimmt sich einzig aus dessen Nützlichkeit für den Benutzer, und die Nützlichkeit ist einzig durch die Eigenschaften des Gutes bedingt und existiert nicht ohne dieses.1 Andere Werte als die so verstandene Nützlichkeit gab es für den historischen Funktionalismus nicht! Im Funktionalismus waren die zu gestaltenden Dinge den Lebensbedürfnissen untergeordnet und dienstbar; sie sollten nicht das Leben beherrschen. In dieser Sicht konnte Design niemals Styling oder Formkosmetik wer-
den. So hatte der Funktionalismus immer eine soziale und eine politische Dimension. Unter den herrschenden kapitalistischen Bedingungen, wo nicht der Gebrauchswert und die Lebensbedürfnisse, sondern der Tauschwert oder Marktwert und die Profitinteressen das Primäre sind, hatte der Funktionalismus immer etwas Utopisches. Im gegebenen gesellschaftlichen System konnte im Grunde kein (sozialer) Funktionalismus praktiziert werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, traf die Kritik lediglich eine verengte ökonomistische Interpretation des Satzes «form follows function». Gert Selle meint, dass die Funktionalismuskritik noch eine andere Dimension hatte. Sie kritisierte die Ecke und Kante und wollte stattdessen die «Softline des differenzierten Warenkörpers, die Anschmiegsamkeit der Konsumobjekte».2 Sie gab sich als progressiv und sprach im Namen der nicht berücksichtigten individuellen Bedürfnisse der Menschen. Aber waren diese Bedürfnisse der VerbraucherInnen nicht eher die massenkulturellen Angebotsbedürfnisse des Marktes, die dank ästhetischer Manipulation geschaffen wurden? Gert Selle kommt zu einem eindeutigen Urteil: «Die elementaren individuellen Bedürfnisse spielten nämlich in der Massenproduktion kaum eine Rolle.»3 Stellte sich die Funktionalismuskritik damit nicht unbewusst in den Dienst des immer schneller werdenden Konsums? Ein gebrauchswertorientierter Funktionalismus hätte sich von seinem Wesen her gegen die Massenkonsum- oder Überflussgesellschaft und gegen den permanenten und immer schneller werdenden Konsum wenden müssen. Er hätte die Zahl der Gegenstände reduzieren müssen und sie gemäss den reflektierten Bedürfnissen optimieren müssen! — 1 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 121. 2 Ebenda. 3 Ebenda, S. 119.
13. POSTMODERNES DESIGN. ALCHIMIA UND MEMPHIS
148 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
— Wirtschaftliches und Soziales
Postmodernes Krisenbewusstsein In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die Nachkriegsmoderne in Westeuropa auf breiter Linie gesiegt. Mit der Ausbreitung der modernen Massenkultur hatte sich der Neofunktionalismus als Mainstream in Architektur und Design durchgesetzt. Es war eine Gestaltung, die unter dem Primat der wirtschaftlichen Rentabilität immer kurzlebigere Produkte (und Bauten) schuf. Ende der sechziger Jahre wurde die kapitalistische Konsumgesellschaft von der so genannten Achtundsechzigerbewegung auf allen Ebenen in Frage gestellt. Es entstanden AntiBewegungen, die gesellschaftliche Alternativen und Utopien entwarfen (vgl. Kapitel 12). Die Postulate dieser Gegenbewegungen wurden mehrheitlich nicht realisiert. In vielen gesellschaftlichen Bereichen hinterliessen sie jedoch nachhaltige Spuren (etwa in der Frauen-, Bürgerrechts-, Drittwelt- und Ökobewegung). Die Achtundsechziger hatten sich als schwächer erwiesen als Macht und Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft. Das politische Ohnmachtserlebnis angesichts des Beharrungsvermögens des wirtschaftlichen Systems, die konservative Wende in den siebziger und achtziger Jahren («Reaganomics» in den USA und «Thatcherismus» in Grossbritannien) führten zu einer Krise der kritischen Intelligenz und bald zu allgemeiner Resignation und zu einer geistig-kulturellen Krise, welche das ganze Denken dieser Zeit erfasste. Die damalige mentale Grundhaltung wird «postmodern» genannt (vgl. den Abschnitt: «Der Begriff der Postmoderne»). Der Auslöser für diese postmoderne Haltung – das kann rückblickend festgehalten werden, und das sollten all diejenigen bedenken, die wieder das Primat des Bewusstseins gegenüber dem
Sein postulieren, war nicht primär die Veränderung des Denkens oder die geistige Krise. Das veränderte Denken war vielmehr eine Folge tiefer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandlungen. Es widerspiegelte die schier grenzenlose technologische und wirtschaftliche Entfaltung der Massenkonsumgesellschaft auf der Basis der neuen Kommunikationstechniken. «In den achtziger Jahren beschleunigten sich technische, gesellschaftliche, ökologische, kulturelle und stilistische Entwicklungen in einem Mass und in einer Radikalität, die das Jahrzehnt deutlich von den vorangegangenen unterschieden.»1 Für das Verständnis der weiteren Designgeschichte ist die Auseinandersetzung mit dieser materiellen Basis von grosser Bedeutung. Die vollständige Ästhetisierung des Alltagslebens Das Alltagsleben wurde immer mehr Gegenstand ästhetischer Gestaltung. Die grösste Dichte von visuellen Botschaften in der bisherigen Kulturgeschichte und die immense Schönung des Alltags durch bewusste Gestaltung des Wahrnehmbaren, insbesondere des visuell Wahrnehmbaren, hatten zur Folge, dass ästhetische Wahrnehmung und Kommunikation in der Erfahrung und Aneignung von Wirklichkeit einen grossen Stellenwert bekamen. Die Ästhetisierung der Alltagsgegenstände ist ein Phänomen der modernen Massenkultur und so alt wie diese selbst. Sie bekam allerdings durch die sich überschlagenden technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte neue Ausmasse. Logik des kapitalistischen Marktes Martin Heidegger notierte vor einigen Jahrzehnten: «Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.»2 Die Entwicklung seit vielleicht 150 Jahren lässt sich tatsächlich als Universalisierung des Ästhetischen durch die Warenproduktion verstehen. Alle Kultur unter dem Kapitalismus ist durch die massenweise Produktion und Distribution von Waren geprägt und läuft auf Massenkultur hinaus. Massenkultur basiert mit andern Worten auf einer Wachstumsökonomie, also auf einem ständig wachsenden Überschuss an Konsumgütern. «Es liegt in der Logik industriekapitalis-
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tischer Produktionsweise, immer weitere, tendenziell alle menschlichen Lebensäusserungen, soweit sie sich vergegenständlichen lassen, in den Distributionszusammenhang der Warenwirtschaft einzuverleiben.»3 Dabei ist zu beachten, dass Waren nicht primär über ihren Charakter als Gebrauchsgegenstände bestimmend sind, sondern als «sinnlich präsente und ungehindert zirkulierende Oberflächen, an denen sich – ökonomisch grundiert – Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte verschiedenster Art modellieren lassen».4 Viele fundamentale menschliche Bedürfnisse wie etwa das nach Zuneigung und Anerkennung oder Musse und Freiheit werden fast ausschliesslich warenförmig und nicht sozial befriedigt. «Viele der Waren, die zur Befriedigung der Bedürfnisse gekauft werden, sind Pseudo-Befriediger. So werden Autos von Männern häufig als Status-Symbol gekauft, oder Frauen kaufen Kosmetik und Kleider, um das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung zu befriedigen. Das tiefe Bedürfnis wird durch diese Käufe nicht befriedigt, darum muss dann immer mehr gekauft werden.»5 Für neue Waren müssen immer zuerst neue Märkte oder Bedürfnisse geschaffen werden. Und diese Bedürfnisse werden ästhetisch erzeugt, indem mit bestimmten Waren bestimmte Symbole verbunden werden. Das führt dazu, dass mit dem Erwerb bestimmter Waren die potenzielle Aneignung von Lebensgefühlen – weil symbolisch vermittelt – einhergeht. Schönheitssüchtige Erlebnisgesellschaft Der Konsum von Waren vermittelt mit anderen Worten ein Erlebnis oder ein Ereignis. Gerhard Schulze charakterisierte deshalb die massenkulturelle Gegenwartsgesellschaft als «Erlebnisgesellschaft».6 Er stellte fest, dass in den letzten Jahrzehnten der Wunsch immer stärker geworden sei, das durch Werbung angebotene Schöne auch erleben zu wollen, was durch schön gestaltete Konsumerlebnisse ermöglicht wird. Dabei wird das Kaufereignis ebenso wichtig wie der Besitz der Ware. In diesen Kontext passt die forcierte Gestaltung von Einkaufszentren zu attraktiven Orten des Freizeitvergnügens und der Museen zu architektonischen Erlebnisräumen – unabhängig von dem darin Ausgestellten.
Eine Fülle von Zeichen und symbolischen Verweisen Die «Ästhetisierung der Gegenstände des täglichen Gebrauchs, der Umgebung des täglichen Gebrauchs, des Gebrauchs der Umgebung und der Menschen selbst»7 hat eine enorme Ausweitung des Ästhetischen, eine «Rundumästhetisierung» zur Folge. Die überbordende Produktion von Zeichen und bildhaften Bedeutungen in der Konsumkultur der Gegenwart, speziell in den elektronischen Massenmedien, steigert die ästhetische Wirklichkeitserfahrung und bedeutet in sich eine stetige Umwertung der Wirklichkeit in eine Zeichenwelt. Wolfgang Welsch bringt es folgendermassen auf den Begriff: «Das Ästhetische ist heute überall präsent, es ist zu einem Schlüsselphänomen unserer Kultur geworden. Ästhetik beschränkt sich nicht mehr auf die Sphäre der Kunst, sondern bestimmt ebenso Lebenswelt und Politik, Kommunikation und Medien, Design und Werbung, Wissenschaft und Erkenntnistheorie. Die Aktualität des Ästhetischen hat zunächst vordergründige Aspekte: Die Individuen geben sich gestylt; Stadt und Land werden einem gestalterischen Facelifting unterzogen; die Politik gerät immer kosmetischer; soziale Kommunikation zielt auf Amüsement; die Medien präsentieren Wirklichkeit als ästhetisches Konstrukt (…) Die Aktualität des Ästhetischen hat zudem eine tiefergehende Seite: Ästhetik dominiert nicht nur an der Oberfläche, sondern ebenso in den Basisstrukturen. Unsere Produktionsweisen, unser Verständnis von Wirklichkeit und unsere Erkenntnisformen weisen zunehmend ästhetische Züge auf.»8 — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156. 2 Zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388. 3 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg, 1995, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388. 4 Ebenda. 5 Maria Mies, zitiert aus: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388. 6 Ebenda. 7 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 389. 8 Wolfgang Welsch, Die Aktualität des Ästhetischen, München, 1993, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 389.
150 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
Verinnerlichter Zwang und Anpassungsdruck Die Ausdehnung der Ästhetisierung mit ihrer unendlich zunehmenden Fülle von Zeichen und symbolischen Verweisen liegt in der Logik der kapitalistischen Warenproduktion. Der Wunsch nach Schönem bekommt in seiner kommerzialisierten Befriedigung und warenförmigen Aneignung etwas Zwanghaftes. «Allgegenwärtige Schönheit ist die realisierte Horrorvision einer Gesellschaft, die sich offensichtlich nur noch in der Maske der Perfektion ertragen kann, sei es der des Körpers, der Gesten, der Rede und der Texte, der Oberflächen oder der privaten und öffentlichen Selbstinszenierungen von Individuen und Politik.»9 Für die Massenkultur typische Kulturimages sind: körperliche Schönheit, Gesundheit und Fitness, Natürlichkeit, Reinheit und Sauberkeit, individueller Ausdruck, komfortables Privatleben, hohe individuelle Mobilität. Nach ihnen wird der «Lifestyle» inszeniert. Die brisante Schlussfolgerung daraus ist: «Als massenkulturell verinnerlichter Zwang erzeugt Schönheit in unserer Gesellschaft mittlerweile einen Anpassungsdruck, der eines politischen Zwangsverhältnisses nicht mehr bedarf.»10 Der ästhetisierende Blick auf die Objekte, der tendenziell davon befreit, diese als das wahrzunehmen, was sie wirklich sind, erliegt dem Bilderzauber der Kulturimages. Der schöne Schein der Massenkonsumkultur – anders gesagt: die Entwirklichung der Welt in eine medial vermittelte Zeichenwelt – hilft eine krisengeschüttelte Wirklichkeit zu ignorieren. Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Ausgrenzung existieren in ihr nicht. Je mehr Aufmerksamkeit die Menschen dem schönen Schein schenken, desto beharrlicher leugnen sie die Krise und ihre strukturellen Grundlagen. Dadurch gelingt es ihnen, der Konfrontation mit der harten Alltagswirklichkeit die Spitze zu nehmen oder ihr aus dem Weg zu gehen. Unter dem Deckmantel des Bilderzaubers erweist sich somit der ganze eben analysierte massenkulturelle Komplex als Instrument der mentalen Zerstörung und des Zerfalls des Politischen.
Der Totalitarismus des Marktes Wenn etwa vom «Totalitären» der Massenkultur die Rede ist, dann wird damit moniert, dass der Markt sämtliche menschliche Lebensäusserungen in den Kapitalkreislauf einverleibt. Das «Totale» der Massenkultur besteht nun aber nicht nur darin, dass sie universelle Gültigkeit erlangt hat, indem sie allen Menschen den Zugang ermöglicht, oder darin, dass sie suggeriert, das menschliche Leben ginge insgesamt in Konsum und Ware auf. Das Totale oder der «Totalitarismus des Marktes» besteht auch darin, dass die Massenkultur mit ihrem schönen Schein in Form der mediatisierten Öffentlichkeit das private Leben aller Menschen durchdringt, indem sie ihre Sinnlichkeit kommerzialisiert. — 9 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 389. 10 Ebenda.
152 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
Meilensteine
Theorie
Abb. 176: Notch Project in Sacramento, Kalifornien, 1976 / 77. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 149.
Abb. 177: Behnisch & Partner: Hysolar-Forschungsinstitut der Universität Stuttgart, 1987. Dekonstruktivistische Architektur. Von «Geschmackserziehung» oder sozialer Verankerung des «guten Geschmacks», konnte angesichts der ökonomischen Notwendigkeit des ständigen Modewandels keine Rede mehr sein. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 366.
Abb. 178: Hans Hollein: Sofa «Marilyn», 1981. Edle Hölzer und Bezugsstoffe kennzeichnen viele postmoderne Möbel. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 199.
Die Zweifel an der Moderne und «form follows fun» Die «Sintflut» der Massenprodukte, die Demokratisierung des Luxus, der Medienzauber durch die Mikroelektronik, der darauf beruhende Pluralismus von Geschmackswelten und Lebensstilen – all das war der Nährboden für das nachfunktionalistische, postmoderne Design. Auf dieser Basis wuchs die Bedeutung des Designs. «Design übernahm eine Schlüsselrolle nicht nur in Marketing und Werbung, sondern auch in der Ausgestaltung des persönlichen Lebensstils, in den Konsumgewohnheiten und sozialen Verhaltensweisen. Das Design wurde zum Medien- und Ausstellungsspektakel.»1 Weniger politisch, aber erfolgreicher als das Anti-Design der Sechziger, dessen Protagonisten verschwunden waren (vgl. Kapitel 12), befreiten sich die postmodernen Bewegungen zunächst in der Architektur (Abb. 176, 177), dann im Design in den siebziger Jahren vom Diktat der Moderne und des Funktionalismus. Postmoderne Bewegungen wie das Studio Alchimia (vgl. unten) hatten ihre Wurzeln in der radikalen Bewegung der Sechziger und knüpften an die Pop-Kultur an. Sie nahmen die Unterteilung der Moderne in gut und schlecht, in «Gute Form» und Kitsch, Hochkultur und Alltags- oder Trivialkultur nicht mehr ernst. Sie akzeptierten den einfachen Zusammenhang zwischen Form und Funktion, wie ihn die Moderne vertrat, nicht mehr und befreiten die gestalterischen Oberflächen vom Korsett der engen funktionalistischen Doktrin, der «technokratisch pervertierten Moderne»2 und öffneten sie für eine Fülle von sinnlichen Zeichen und emotionalen Verweisen, mit denen sie verschiedene Lebensstile bedienten. Den farb- und emotionslosen rationalen Formen der funktionalen Moderne stellten sie Farbigkeit, Individualität, lockere und ironische historische
Der Begriff der Postmoderne Der Begriff der Postmoderne fand schon im 19. Jahrhundert Verwendung, in seiner engeren Bedeutung wurde er in der Literaturkritik der frühen Sechziger des 20. Jahrhunderts angewandt. Anschliessend wurde er in der Architektur und in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften benutzt, in der Philosophie etwa ab 1979. Die Diskussion um die Postmoderne erreichte in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt, als hitzige Debatten geführt wurden und der Begriff oft polemisch umgesetzt wurde. Nach dem Scheitern der Hoffnungen und Utopien in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nach dem Schiffbruch der grossen Ideologien («les grands récits», Baudrillard), ist aus der Sicht postmodernen Denkens all das in die Krise geraten, was mit dem Projekt der Moderne gemeint war. Das postmoderne Denken nahm Abschied von der Moderne. Es bedeutete eine Absage an das Fortschrittsdenken und an das Vertrauen in die Vernunft, wie sie der Moderne eigen war. Postmodernes Denken richtete sich gegen die Erklärbarkeit der Welt in Systemen und die daraus entwickelten gesellschaftlichpolitischen Utopien. Es stemmte sich auch gegen die Vorstellung einer wissenschaftlichtechnischen Beherrschbarkeit der Welt, gegen eine Vernunft, die im Namen ihrer Ob-
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Abb. 179: Michael Graves: Pfeifender Kessel 9093, 1985 (Firma Alessi). Der Wasserkessel von Graves gehörte zu den ersten und erfolgreichsten Experimenten der Firma Alessi mit der Postmoderne. Mit seiner schlichten Form und dem sparsamen Materialverbrauch ist der Kessel zwar sehr modern, doch verleiht ihm Graves mit dem bunten Kunststoffvogel, der am Schnabel des Kessels befestigt ist und singt, wenn das Wasser kocht, auch eine ironische Note. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 191.
Abb. 180: Alessandro Mendini: Re-Design des Wassily-Sessels von Breuer (1925), 1973. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 537.
Stilzitate, Kitsch und Prunk entgegen. «Die durch das funktionalistische Denken geprägte und in Designkreisen lange vorherrschende Auffassung, Produkte (…) als ‹unaufdringliche, stille Helfer› (Fritz Eichler) anzusehen, die unauffällig im Hintergrund bleiben sollten, erwies sich als wenig realitätsgerecht. Statt nur instrumentalen Nutzen haben Produkte in der prosperierenden, versingleten Grossstadtgesellschaft vor allem auch expressive und kommunikative Funktionen zu übernehmen.»3 Der Wunsch nach Ornament, Dekor, vertrauten Formen und Kitsch zeigt, wie umfassend die Erziehung zur «Guten Form» gescheitert war! Design hiess nun: — farbenfrohe und zeichenhafte Gestaltung der Oberfläche, die von der Funktion inzwischen völlig unabhängig geworden war, ganz nach Roland Barthes Diktum: «Jedes Objekt ist auch ein Zeichen» (Abb. 179); — Umdeutung von Gebrauchszusammenhängen; — Zitiere und Kombinieren historischer Elemente (Abb.180) 4; — Verwendung üppiger Ornamente und kostbarer und exotischer Materialien entgegen der funktionalistischen Doktrin. Die zeitlos «Gute Form» war während dreier Dekaden dem Dogma der Überwindung des Stils gefolgt und hatte damit auch die Idee eines erneuten Stilwandels unterbunden. Die Postmoderne erklärte Stil wieder als eine zeitgemässe Ausprägung von Kunst, Architektur und Design, und seitdem — 1 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157. 2 A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M., 1985, S.127f. 3 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 521. 4 Ebenda, S. 151.
jektivität vermeint, die Gesetze der Natur beherrschen und die ganze Welt durch materielle Prozesse (Arbeit) domestizieren zu können und die damit die Menschheit in ausweglose Sackgassen geführt hat. Basisannahme postmodernen Denkens ist die Nicht-Begreifbarkeit und die Nicht-Darstellbarkeit dieser Wirklichkeit mit begrifflichen Mitteln. «Man kann die Welt nicht mehr auf den Begriff bringen, man kann sie nur noch wahrnehmen und mit Hilfe von Bildern beschreiben oder: wenn die Weltanschauung in die Brüche geht, ist es besser, sich die Welt anzuschauen – indem man wegschaut.»1 Dieses Zitat von U. Kösser drückt die Affinität von post-modernem Denken zur Ästhetik aus. Mit der Absage an die Moderne rehabilitiert die Postmoderne ästhetisches, auf Wahrnehmung orientiertes Denken. Wolfgang Welsch hält in diesem Zusammenhang fest: «Heutige Wirklichkeit ist bereits wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert.»2 Wahrnehmung, sinnliche Erkenntnis, wird deshalb aus postmoderner Sicht zu einer zentralen Kompetenz, zu einer existenziell not— 1 U. Kösser, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 302. 2 Wolfgang Welsch, Zur Aktualität des Ästhetischen, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 302.
154 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
Meilensteine
Theorie
Abb. 181: Studio Alchimia: Re-Design banaler Objekte mit bunten Pfeilen, Fähnchen usw., 1980. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 153.
Abb. 182: Ettore Sottsass: Bücherregal «Carlton», 1981. Mythische Zeichen und bunte Plastiklaminate machten das Möbel zum Kommunikationsobjekt. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 169.
Abb. 183: Martine Bedin: Lampe «Super», 1981. Viele der Objekte der Gruppe Memphis waren von Kinderspielzeug inspiriert: lustig, bunt, verspielt. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 171.
überragt das Problem des Stilwandels wieder die Tagesordnung der gestalterischen Disziplinen. Die Etablierung der Postmoderne bedeutete aber nicht, dass der Funktionalismus ganz zurückgedrängt worden wäre. Es gab weiterhin DesignerInnen, die sich in der Tradition des Funktionalismus verstanden. Und auch im Repräsentationsbereich konnte seine Position nicht wirklich geknackt werden. «Die Leute haben sich rasch an Stahlrohr, Kunststoff und Chrom gewöhnt. Niemand erwartet im Büro oder Krankenhaus etwas anderes.»5 Vom Studio Alchimia zu Memphis Im Mittelalter aus banalen Stoffen Gold zu erzeugen, das war Alchimie. Im italienischen postmodernen Design billige Alltagsgegenstände mit schrillen Farben und angefügten Ornamenten in Designobjekte zu verwandeln, das war Alchimia. Als erste postmoderne Designobjekte gelten die Möbel der italienischen Gruppen Studio Alchimia und Memphis aus Mailand. Studio Alchimia ging aus der radikalen Bewegung der sechziger Jahre hervor und wurde 1976 gegründet. Die Gruppe verzichtete auf jegliche politische Stellungnahme und verstand sich als «postradikales Diskussionsforum».6 Mitglieder waren unter anderem Ettore Sottsass (1931*), Alessandro Mendini (1931*) sowie Trix und Robert Haussmann (1931*). E. Sottsass, der 1958 bei Olivetti als beratender Designer tätig war und der zu Zeiten des «Bel Design» für ein strukturiertes, rationales Design stand, wurde zu einem seiner schärfsten Kritiker. Er wurde zur Leitfigur des italienischen Gegendesigns und zum Mitbegründer des Studio Alchimia. 1981 verliess Sottsass Alchimia.
wendigen Leistung der Individuen im Umgang mit Wirklichkeit. Postmodernes Denken ist ein Plädoyer für Wahrnehmung und Sinnlichkeit, für den Augenblick, für Pluralität, Differenz und Heterogenität. «Less is bore» Robert Venturi, der bekannte und für die Geschichte der postmodernen Architektur wichtige amerikanische Gestalter, parodierte bereits 1966 den Satz von Mies van der Rohe «Less is more» (Weniger ist mehr) mit «Less is bore» (Weniger ist langweilig). Andreas Brandolini über seine Arbeit «An sich glaube ich – nach sechs Jahren experimenteller Designarbeit – zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr an die Notwendigkeit einer Designavantgarde. Das Phänomen der Avantgarde tritt immer zyklisch, nach langen Jahren der Etablierung ‹revolutionärer› Ideologien und deren Verhärtung (oder deren Breittreten) bis hin in den kleinsten Vorstadtsupermarkt auf den Plan. Jetzt sehe ich meine Aufgabe in erster Linie darin, Ideologien durch meine Arbeit zu verhindern. Ich interessiere mich für das alltägliche, banale Leben. Die Freuden, wie zum Beispiel die vom Rummelplatz mitgebrachte Rose und der Platz, an dem sie dann landet, inmitten der technischen und elektronischen
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Abb. 184: Peter Shire: Sessel «Bel Air», 1982. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 172.
Abb. 185: Matteo Thun: Teegeschirr und Eierbecher «Neferiti», 1981. Quelle: Volker Fischer, Anne Hamilton (Hg.), Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design, Band 1, Bild 446.
Alessandro Mendini war als entschiedener Gegner des Funktionalismus der theoretische Kopf von Alchimia. In der Gruppe brachte er seine Gedanken des Re-Designs, der formalen Überarbeitung von Klassikern des modernen Designs und des banalen Designs ein (Abb. 180, 181). In seinen Entwürfen spielen Ornament und Dekor eine entscheidende Rolle. «Entwerfen ist Dekorieren», erklärte Mendini 1976. Das «alchimistische» Ziel der Gruppe war es, die kalte Funktionalität der modernen Massenprodukte durch eine emotionale Funktionalität abzulösen. Zwischen den Objekten und BenutzerInnen sollte eine neue sinnliche Beziehung und damit ein emotionaler Mehrwert hergestellt werden. Nicht seriengefertigte Produkte, sondern witzig fantastische, poetische und ironische handwerklich gefertigte Unikate wurden angestrebt. Das Design wurde zum Vermittler von Gefühlen, Ideen, Konzepten, ja sogar Utopien. Die Entwürfe wurden in Ausstellungen, Performances und Zeichnungen präsentiert. Alchimia war zu Beginn der achtziger Jahre die international bedeutendste Designgruppe.7 Sie beteiligte sich an vielen Ausstellungen, so auch am «Forum Design» 1980 in Linz (Österreich), das für das postmoderne Design zu einer bahnbrechenden Veranstaltung wurde. In Linz wurden die gesamte Designgeschichte, die Bedeutung von Design und seine vielfältigen Funktionen, die Rolle der DesignerInnen und die Beziehung zwischen Objekt und BenutzerIn diskutiert. Nachdem Ettore Sottsass das Studio Alchimia wegen inhaltlicher Differenzen verlassen hatte, gründete er 1981 zusammen — 5 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhundert, S. 21. 6 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 152. 7 Ebenda, S. 153.
‹Wunder› unserer Zeit. Und wiederum für den Platz, den diese ‹Wunder› inmitten persönlicher Erinnerungs- und Kitschanhäufungen finden, wie sie sich funktional und formal integrieren. Oder für die im Treppenhaus aufplatzende Einwegtüte. Design ist für mich die Auseinandersetzung mit Lebensumständen – die zuweilen sehr turbulent sein können. Man erinnere sich nur an den Tschernobyl-Schock und seine Folgen für den Alltag (oft zitiert, nie kapiert!!). Wenn die Fachwelt wieder und wieder ihre Neo-, Post- und Nachmoderne-Diskussionen zelebriert, schwebt doch darüber immer noch das Pathos einer ‹besseren› Welt, die sich durch Architektur und Design akzentuiert. In Wirklichkeit wird sie weder besser noch schlechter. Sie wird einfach nur anders! Aber was man durch Architektur und Design durchaus bewirken kann, ist, dass sie sensibler und raffinierter wird, dass die so oft beschworene Humanität auch dort stattfindet, wo sie hingehört: in den Unzulänglichkeiten und Dummheiten des Alltags!»3 Ettore Sottsass über die Zukunft des Designs: «Ich glaube, dass Design nie eine mehr oder weniger dramatische oder lustige Geschichte — 3 Andreas Brandolini, in: Design Report, 1, 2000, Frankfurt a.M.
156 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
Meilensteine
Theorie
Abb. 186: Erik Spiekermann: Schriftbild der Berliner U-Bahn, 1990. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 266.
Abb. 187: Rosmarie Tissi: Werbung für E. Lutz & Co, 1964. Die fünf Elemente in den Kästen werden nicht, wie man es von «Swiss Design» erwartet, nach einem Raster geordnet, sondern scheinen intuitiv und zufällig auf einem Haufen platziert zu sein. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 434.
Abb. 188: Siegfried Odermatt: Werbung für Union-Geldschränke, 1968. Das Markenzeichen war eine Antithese zum «Swiss Design», denn die Buchstaben im Wort Union sind zu einer kompakten Einheit zusammengepresst. Sie sollten die Stärke des Produkts suggerieren. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 434.
mit anderen in Mailand die Gruppe Memphis. In ihr arbeiteten neben E. Sottsass, Andrea Branzi und Michele de Lucchi zahlreiche international bekannte ArchitektInnen und DesignerInnen, unter anderen Matteo Thun aus Frankreich, Michael Graves aus den USA, Shiro Kuramata aus Japan und Hans Holein aus Österreich (Abb. 182–185). Memphis richtete sich gegen die Formel «form follows function» und war die endgültige Absage an die Tendenzen des italienischen Radical oder Anti-Design. Die Memphis-DesignerInnen lehnten den in ihren Augen zu intellektuellen und den kunsthandwerklichen Ansatz des Studio Alchimia ab. Sie wollten nicht nur Manifeste und provokative Einzelstücke für Ausstellungen produzieren; denn im Gegensatz zu Alchimia bejahten sie den Konsum, die Industrie und die Werbung. «Der schnelle Wandel der Moden, der den postmodernen Alltag prägte, wurde für sie zur Inspirationsquelle, und die ‹Memphis>Möbel waren ausdrücklich für die Serienfertigung gedacht.»8 Man übernahm die bunten Plastiklaminate (Resopal) aus den Bars und Eiscafés der fünfziger und sechziger Jahre und verwendete sie für den privaten Wohnbereich. Dieses Material, «Metapher für Vulgarität, Armut und schlechten Geschmack, wurde zum Alltagsmythos stilisiert».9 Die Dekors stammten ebenfalls aus dem Alltag der Comics, der Filme, der Punkbewegung oder des Kitsches. Sie waren bunt oder süsslichpastellfarbig, verspielt und witzig. Sie sollten eine spontane Kommunikation zwischen Objekt und BenutzerInnen herstellen, wobei der Gebrauchswert keine Rolle spielte. Viele Objekte waren Collagen, welche die Dekoration in den Mittelpunkt stellten und das Chaos zum Prinzip machten. Dies wurde als Abbild der Aufsplitterung, Unverbindlichkeit und Mobilität der postmodernen Gesellschaft verstanden.10
dargestellt hat oder darstellen wird, bei der es um eher harte oder eher weiche Formen geht. Vielmehr war es immer eine Metapher der Kulturgeschichte – wobei Kultur als anthropologische Dimension zu verstehen ist, als Weltanschauung, wie es im Deutschen heisst. Und das wird auch so bleiben. Wenn man Design definieren will, darf man jedoch nicht vergessen, über die industrielle Zivilisation zu reden, die mit der Erfindung der maschinellen Massenproduktion begann. Es ist ganz klar, dass die Massenproduktion der massenhaft auftretenden Käufer bedarf und dass die kaufende Masse dazu gebracht werden muss, bestimmte Produkte zu erwerben. Das bedeutet, dass die Käufer so wenig wie möglich nachdenken dürfen, sondern sich den verführerischen Streicheleinheiten und Werbesongs hingeben müssen – wie Kinder, die dem Schlaflied ihrer Mutter lauschen. Wenn nicht irgendetwas Gewaltiges geschieht, wird Folgendes passieren: Massen von Menschen werden mit einem Lächeln auf den Lippen einfach wegdämmern. (…) Design wird folgen.»4 — 4 Zitiert aus: Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln, 1992, S. 109.
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Abb. 189: Steff Geissbühler: Broschürenumschlag für Geigy, 1965. Die Lesbarkeit wurde zugunsten einer dynamischen visuellen Anordnung geopfert. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 434.
Abb. 190: Wolfgang Weingart: Typografische Experimente, 1971. Eine Form -und Raum-Untersuchung verbindet Kugeln mit Schriftformen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 437.
Von Memphis sind viele Anregungen auf das so genannte «Neue Design» der achtziger Jahre in den anderen europäischen Ländern ausgegangen (vgl. Kapitel 14). Gegen Ende des Jahrzehnts nahm der Einfluss von Memphis wieder ab. Grund: Übersättigung an schrillen und schrägen Formen und Farben.11 Postmodernes Grafikdesign Bei aller geschichtlichen Kategorisierung des Designs in Stilrichtungen und Bewegungen muss immer wieder bewusst gemacht werden: Diese Kategorien erfassen nie das Ganze einer jeweiligen Zeit; sie nennen Hauptströmungen, aber sie werden den einzelnen ProtagonistInnen niemals völlig gerecht. Zu individualistisch sind DesignerInnen (vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts); zu schnell können sie auch ihre Richtung wechseln. So war das Grafikdesign nie ausschliesslich vom «Internationalen Stil» dominiert wie die Architektur. Ähnliches gilt für das postmoderne Design. Neben allen postmodernen Strömungen gab und gibt es immer noch viele DesignerInnen, welche dem «Internationalen Stil» treu blieben oder ihn sogar erst entdeckten. Der Grafikdesigner Erik Spiekermann (1947*) zum Beispiel vertritt ein rationales Design, das moderne Typografie mit neuen Technologien ergänzt (Abb. 186). Im postmodernen Grafikdesign können nach P. Meggs folgende Kategorien unterschieden werden: 1. die frühen Erweiterungen des «Internationalen typografischen Stils» durch Schweizer DesignerInnen, die mit dem Diktum der Bewegung brachen;
Abb.191: Dan Friedman: Umschlag der «Typografischen Monatsblätter», 1971. Buchstaben werden kinetische Objekte, die sich durch Zeit und urbanen Raum bewegen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 437.
2. die «Neue-Welle-Typografie», welche in Basel begann, und zwar durch die Forschung und Lehrtätigkeit von Wolfgang Weingart; 3. der üppige Manierismus der frühen achtziger Jahre mit gewichtigen Beiträgen der italienischen Memphisgruppe und der San-Francisco-DesignerInnen; 4. «Retro», die eklektische Wiederbelebung und die exzentrische Neuerfindung früherer Modelle (vor allem der europäischen Dekade zwischen den beiden Weltkriegen); 5. die elektronische Revolution, die durch die MacintoshComputer in den späten achtziger Jahren ausgelöst wurde.12 1. Postmodernes Design in der Schweiz Die ersten Tendenzen setzten GestalterInnen, die sich auf den «International Style» beziehungsweise «Swiss Style» beriefen. S. Odermatt, R. Tissi und S. Geissbühler und andere rebellierten in den sechziger Jahren nicht gegen den «Swiss Style»; sie erweiterten vielmehr dessen Rahmen (Abb. 187– 189). Dann kam es in den siebziger Jahren zu einer Revolte, der so genannten «Neuen-Welle-Typografie». 2. Die «Neue-Welle-Typografie» Die Opposition gegen den kühlen Formalismus der Moderne entstand zuerst in der Schweiz und verbreitete sich dann über die ganze Welt. — 8 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 154. 9 Ebenda. 10 Ebenda, S. 155. 11 Ebenda, S. 156. 12 Philip Meggs, A History of Graphic Design, S. 432.
158 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
Meilensteine
Abb. 192: April Greiman: Logo für Luxe, 1978. Mischung von Schriften und Schrägschrift und Isolation jedes Buchstabens als unabhängige Form. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 438.
Abb. 193: Christoph Radl und Valentina Grego: Logo des «Memphis Designs», frühe achtziger Jahre. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 443.
Wolfgang Weingart (1941*), der in Basel bei Hofmann studiert hatte, begann 1968 die Typografie der absoluten Ordnung und Sauberkeit in Frage zu stellen (Abb. 190). Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das neue Offsetdruckverfahren und auf Belichtungsverfahren. Weingart löste sich vom rein typografischen Design und bezog die Collage als Mittel der visuellen Kommunikation ein. 1972 hielt er an acht prominenten amerikanischen Designschulen in den USA Vorträge, welche auf fruchtbaren Boden fielen. Dan Friedman, April Greiman und der Schweizer Willi Kunz verbreiteten die neuen Ideen. In der Ausstellung «Postmoderne Typografie. Neuere amerikanische Entwicklungen», welche 1977 in Chicago stattfand, wurden Werke von Geissbühler, Greiman, Friedman und Kunz ausgestellt. Damit fand der aus der Architektur kommende Begriff «postmodern» nun auch im Grafikdesign Anwendung (Abb. 191, 192). 3. Memphis und San Francisco Die Memphis-Grafikdesign-Sektion wurde von Christoph Radl angeführt. Die experimentelle Haltung, die Faszination vom Taktilen und von dekorativen Farbmustern und überschwänglicher Geometrie hatten einen direkten Einfluss auf das Design überall auf der Welt (Abb. 193). Die Designschule von San Francisco war stark vom «Swiss Style» beeinflusst. In den frühen achtziger Jahren verbreitete sich das postmoderne Design in San Francisco rasch und verschaffte der Stadt den Ruf eines Zentrums für kreatives Design. Michael Vanderbyl avancierte zum bekanntesten Protagonisten der Bewegung in San Francisco (Abb. 194).
Abb.194: Michael Vanderbyl: Werbezettel für die SimpsonPapiergesellschaft, 1985. Mit Objekten der MemphisGruppe. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 444.
4. «Retro» Während der achtziger Jahre gelangten die GrafikdesignerInnen zu wachsendem Verständnis und Wertschätzung für ihre Geschichte. Die erste Bewegung, die auf der Wiederbelebung historischer Stile beruhte, entstand in New York und breitete sich schnell aus (Abb. 195, 196). Ab Mitte der achtziger Jahre begann die stetig wachsende Begeisterung der DesignerInnen für das computergestützte Design (vgl. Kapitel 15).
159
Abb. 195: Paula Scher: Plakat für Swatch-Uhren, 1985. Parodie des bekannten Herbert-Matter-Plakats aus den dreissiger Jahren (vgl. Abb. 79, 5. Kapitel). Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 448.
Abb. 196: Daniel Pelavin und Judith Loeser: Buchumschlag für The Notebooks of Malte Laurids Brigge, 1985. Die Beschriftung ist von einem Plakat von Gustav Klimt inspiriert. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 450.
160 13. Postmodernes Design. Alchimia und Memphis
— Kommentar
Emotionen – oder wie sich die Industrie die Fantasie des Design zu eigen macht Richard P. Lohse beklagte schon 1959, dass die «Sintflut der Massenprodukte die Ästhetik mit sich fortreisse», und Max Bill stellte 1988 resigniert fest, dass es statt Design nur noch «Gestalterei» gebe, welche «Spielerei» sei und «nur der Verkaufsförderung diene». Unter der fiebrigen Hektik der kurzlebigen wirtschaftlichen Prozesse leide die Qualität der Beständigkeit, die man den Produkten doch mit dem Design geben wolle.1 Von Geschmackserziehung oder sozialer Verankerung des «guten Geschmacks» konnte angesichts der ökonomischen Notwendigkeit des ständigen Modewandels keine Rede mehr sein! Zur Situation des postmodernen Designs meinte Lucius Burckhardt, dass sich die Gestaltung von der praktischen Funktion gelöst habe, dass der Gebrauchswert der Dinge zurückgetreten sei und die Form der Darstellung wieder zum «Eigentlichen» geworden sei, «aber im Sinne eines Spektakels, das nicht geglaubt, aber dennoch ernst genommen wird».2 Das spektakuläre Eigenleben der Form entsprach aber akkurat den industriellen Interessen der Massenproduktion. Gefragt war die dekorative Modifikation der Produkte ohne Änderung der Fabrikationstechnologie und ohne Einbusse des Images. Den Styling-Auftrag hatte das Design zu erfüllen. Es konnte dies umso mehr, als die Angebotsseite (die unendliche Variation der Produktoberfläche) mit der Nachfrageseite kongruent war: Die KonsumentInnen waren auf das pluralistische ästhetische Ideal, welches individuellen Ausdruck über alles stellte, «abgerichtet». Sie hatten sich daran gewöhnt, dass gestylte Objekte und deren Umgebung iden-
titätsstiftende Funktionen übernahmen und dass Identität konsumtiv hergestellt werden konnte. Sie verlangten nach der Bedienung ihrer verschiedenen Lebensstile durch Design. Sie, das waren nicht nur die KonsumentInnen der Mittel- und Oberschichten. Design, früher ein Luxus, der vor allem diesen Schichten vorbehalten war, wurde in den achtziger Jahren zum Konsumartikel für eine breite Öffentlichkeit. Es wurde zum wirtschaftlichen Erfolgsfaktor und zum Lieblingswort der Massenmärkte. Ettore Sottsass konnte Ende der achtziger Jahre mit Recht feststellen: «Ohne Zweifel ist in diesem Jahrzehnt das Design explodiert wie eine Nova.»3 Individualisierung der Lebensstile und Bedienung der Emotionen, Wünsche und Sehnsüchte durch sinnlich modulierte Oberflächen, das war die Art des Marktes zu expandieren. — 1 Beide Zitate aus: Christoph Bignens, Swiss Style, S. 69. 2 Rat für Formgebung (Hg), Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 103. 3 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157.
14. DIE WILDEN ACHTZIGER JAHRE UND DAS «NEUE DESIGN»
164 14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design»
— Wirtschaftliches und Soziales
Die achtziger Jahre: das «Designjahrzehnt» In den achtziger Jahren erreichte die wirtschaftliche Konjunktur in Westeuropa ihren Zenit, und gleichzeitig erlebte das Design einen beispiellosen Höhenflug. Die Dekade ging, kaum war sie zu Ende, als «Designjahrzehnt» in die Geschichte ein.1 War diese Beurteilung ein Schnellschuss? Es muss gute Gründe geben, wenn eine Dekade so qualifiziert wird. Ein «Designjahrzehnt» waren die achtziger Jahre sicher in einer Hinsicht: Das, was heute unter dem Begriff «Neues Design» zusammengefasst wird, fand ein breites, bisher nie da gewesenes Medienecho. Es war ein Medien- und Publikumserfolg. Die grosse Verbreitung des Wortes «Design» in der Alltagssprache datiert aus dieser Zeit! Die spektakulären Designobjekte wurden nicht durch Verkaufserfolge, sondern vor allem durch die Medien bekannt. Dass sich die Medien des Designs so exklusiv annahmen, war kein Zufall, sondern hing mit dem postmodernen Zeitgeist zusammen. In der Massengesellschaft legten immer mehr Menschen Wert darauf, einerseits ein individuelles Erscheinungsbild zu pflegen und andererseits ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Szene auszudrücken. Die Einzelnen sind ein «Massenprodukt, das mit aller Anstrengung versucht, ein Markenprodukt zu sein. (…) Das hält die Illusion des eigenen Ego in der Masse aufrecht.»2 Die Ästhetisierung der Lebensstile bekam einen zentralen massenkulturellen Stellenwert. Das Design wurde zum Medium für die Erzeugung dieser Lebensstile. Ein solches Design hatte sich nicht mehr an den Anforderungen der Grossserie zu orientieren, sondern musste sich um den individuellen Ausdruck des Zeitgeistes kümmern.3 Es ist offensichtlich, dass die Selbstdefinition der Individuen nicht auf die Gegenstände des «gewöhn-
lichen Designs» zurückgreifen konnte, sondern dass es «semantisch differenzierte Produkte erforderte, um den gewachsenen Bedarf nach zeichenhafter Differenzierung zu befriedigen».4 Das Design konnte in dieser Situation Interpret gesellschaftlicher Befindlichkeit in Form adäquater «Hardware» werden, die mit ihren visuellen Codes Einstellungen, Lieblingsaktivitäten und Vorlieben ihrer BenutzerInnen kommunizierten. Die neue Aufgabe des Designs konnte nicht mehr von der sachlichen «Guten Form» erfüllt werden. Das «Neue Design» kam den Bedürfnissen eher entgegen. Ja, es war selber Ausdruck dieser Bedürfnisse. Darin gründete sein enormer medialer Erfolg. «Gewöhnliches Design» Die avantgardistischen Objekte des «Neuen Design» hatten zwar die publikumswirksamen Medien auf ihrer Seite. Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen. Für diese Produkte jenseits aller Massenfertigung gab es zwar eine wachsende finanzstarke KäuferInnenschaft, die Design als Kulturleistung begriff. Aber die Mehrheit der Menschen kam als Benutzer nur mit den massenweise verbreiteten Dingen des «gewöhnlichen Designs» in Kontakt. Die gewöhnlichen Dinge wie der aus England stammende Toaster, die italienische Espresso-Kanne oder die asiatischen Essstäbchen sind es, die das Blickfeld der Menschen in Beschlag nehmen. Die kunstvollen DesignGegenstände sind demgegenüber verdiente Bedeutungsträger ohne Breitenwirkung. Mehr als die Objekte des «Neuen Designs» schmückten wohl die Möbel und Haushaltsgegenstände der skandinavischen Firma IKEA und anderer Massenmöbelproduzenten die Haushalte. Möbel, Baumaschinen, medizinische Geräte, aber auch die meisten Haushaltsgeräte kamen ohne «Retro-Look» oder postmodernes Dekor aus. Sie blieben in den allermeisten Fällen den gewohnten funktionalistischen Gestaltungsprinzipien verpflichtet. — 1 Vgl. Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 157; Dieter Weidmann, Design des 20, Jahrhunderts, S. 17. 2 H. U. Brunner, in: Kulturwerkstatt der Berner Zeitug, Bern, 29.12.1993. 3 Bernhard Bürdek, Design, S. 62. 4 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 53.
165 14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design»
Meilensteine
Abb. 197: Frank Schreiner («Stiletto»): Sessel «Consumer's Rest». Der zum Sessel umgebaute Einkaufswagen, 1983 als Prototyp entstanden, galt als provokatives Ready-madeObjekt. Er ironisierte die Wohn- und Konsumgewohnheiten und wird seit 1990 in Serie hergestellt. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 563.
Abb. 198: GIN_BANDE: Ausziehtisch «Tabula Rasa», 1987. Quelle: Volker Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe: Formgebung zwischen Industrie und Kunststück, München, 1988, Bild 148.
Das «Neue Design» 1980 fand in Linz (Österreich) unter dem Namen «Forum Design» eine Veranstaltung statt, auf der grundsätzlich und für die Designtheorie wegweisend diskutiert wurde. Die Designgeschichte, die Bedeutung des Designs und seine verschiedenen Funktionen sowie das Verhältnis von Objekt und BenutzerInnen standen zur Debatte. Das Design in Westeuropa verabschiedete sich nun endgültig von den Prinzipien der Moderne und den Gedanken des Funktionalismus. Es zeichnete sich durch einen Pluralismus von Stilen und Einflüssen aus. Die achtziger Jahre brachten eine Vielzahl von zum Teil gegensätzlichen Gestaltungsrichtungen hervor: expressive und puristische, ironisierende und historisierende, Hightech und Handwerk, ein «undogmatisches Sammelsurium von Ansätzen und Tendenzen, ohne kritisch-emanzipatorischen Anspruch».1 Die Wirkung des italienischen Designs, ist kaum zu überschätzen. Dafür wurde der Begriff des «grassierenden MemphisSyndroms» geprägt.2 Es regte die antifunktionalistischen Strömungen im ganzen westeuropäischen Design an. Das deutsche, britische, französische und spanische «Neue Design» entwickelte durchwegs eigenständige Formen und Varianten. «Gemeinsam war allen, dass sie unabhängig von der Industrie und der Rationalität des Funktionalismus dachten.»3 Das «Neue Design» wurde eine «Avantgarde des Zitierens» genannt, denn zitiert wurde jede Periode des Luxus und der Moden, vor allem die unerschöpfliche «Art Déco», aber auch industrielle Massenprodukte der fünfziger und sechziger — 1 Bernhard Bürdek, Design, S. 63. 2 Gert Selle, Design-Geschichte, S.184. 3 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 158.
Theorie
«Forum Design» Linz 1980 Helmuth Gsöllpointner: «Es geht um das Phänomen Design: darum, dass selbst die striktesten Theoretiker einsehen mussten, dass allein mit Logik, Vernunft, technischer Effizienz und makelloser Ästhetik die Bedürfnisse des sozialisierten Wesens Mensch nicht abzudecken sind.»1 Emotionen Luigi Colani: «Der Mensch besteht aus Emotionen, und wir versuchen, in irgendeiner Form seine spielerischen Bedürfnisse nach Ornamentik, nach Weichheit (mit den neuen Kunststoffen möglich; B.S.), nach Spiel, nach Farbe – dem wollen wir entsprechen – in den Mittelpunkt zu stellen und seine Bedürfnisse, das ist alles, mehr haben wir gar nicht vor.»2 «Hure des Konsums» Dieter Meier: «Zum Ende dieses Jahrhunderts (des 20. Jahrhunderts, B.S.) ist die Ästhetik des Alltags im spätkapitalistischen Mitteleuropa nur noch Hure des Konsums; Gebrauchsgegenstände und das Kunstwollen haben ihre Identität verloren, die Suppenteller gehen auf den Strich, und die Stühle lügen, dass die — 1 Zitiert aus: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156. 2 Zitiert aus: Design und Konsum (5). Alternativen für die Zukunft, Westdeutsches Fernsehen (wdr), Köln, 1971, Sendeskript, S. 6.
166 14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design»
Meilensteine
Abb. 199: Siegfried Michael Syniuga: Künstlerstühle, 1987. Quelle: Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln, 1992, S. 143.
Abb. 200: Wolfgang Laubersheimer (Gruppe «Pentagon»): «Verspanntes Regals» 1984. Eines der erfolgreichsten Objekte des «Neuen Deutschen Designs». Quelle: Volker Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe: Formgebung zwischen Industrie und Kunststück, München, 1988, Bild 147.
Jahre.4 «Prunk, Luxus, Ethno und vieles mehr (…) gehörte zu den Ingredienzien, aus denen der brodelnde Designkessel eine endlose Flut von Objekten ausspuckte.»5 Gemeinsame Merkmale des «Neuen Designs» — Abkehr vom Funktionalismus — Einflüsse von Subkulturen (Punk usw.) und des Alltags — Eklektischer Umgang mit historischen Stilen — Ironie, Witz und Provokation — Experimentelles Arbeiten — Verwendung ungewöhnlicher Materialien — Gruppenbildung — Abkoppelung von der industriellen Serienproduktion — Herstellung von Unikaten und Kleinserien — Nutzung der Medien als Podium — Grenzüberschreitung zur Kunst Im Übergang zu den neunziger Jahren war das «Neue Design» nicht mehr provokativ. Der aufgeregte Medienrummel zu Beginn der achtziger Jahre hatte sich längst gelegt. Das «Neue Design» hatte sich arrangiert. Viele Entwürfe landeten schon bald in Museen. Andere, einst als «dilettantische Bastelei» und «luxuriöses Kunsthandwerk» verschrien6, fanden den Weg in die Serienproduktion von Möbelfirmen, wo sie zumindest teilweise als billige Kopien durch die Verkaufsausstellungen wanderten und noch wandern. «Wie die Punk-Bewegung wurde auch die Protestgebärde des ‹Neuen Designs› von der Konsumgüterindustrie assimiliert und zur Mode gemacht.»7 Annäherung an die Kunst Mit der Verabschiedung der funktionalistischen Moderne wurde auch deren Ablehnung der Kunst im Entwurfsprozess
Theorie
Balken krachen. Das Wort Spätkapitalismus kündigt nicht das nahe Ende eines Systems an, das keines ist, es beschreibt den verzweifelten Wahnsinn, mit dem das Kapital bei galoppierender Zerstörung der Welt eine Überflussproduktion anpeitscht, die nicht mehr der Versorgung des Menschen dient, sondern nur noch der Rendite der eingesetzten Mittel. Krisen entstehen nicht mehr, wenn Produktion und Versorgung aus irgendwelchen Gründen nicht klappen, sondern wenn die mörderische Konsumation ins Stocken gerät.»3 Bedürfnisse Gert Selle: «Gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse werden nicht befriedigt, wohl aber wird die Bedürftigkeit des Menschen ausgenützt, indem ihm die Objektwelt künstlich und kunstvoll so strukturiert wird, als sei seine Entfremdung aufgehoben.»4 — 3 NZZ-Folio (Neue Zürcher Zeitung), November 1993, in: Beat Schneider, Penthesilea, S. 388. 4 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 132.
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Abb. 201: Susi und Ueli Berger: «Kung-Fu»-Regal, 1981 (Produktion: Röthlisberger). Quelle: Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, Gebrauchsgüterkultur im 20. Jahrhundert, Zürich, 2001, S. 104.
über Bord geworfen. Memphis verhalf in ästhetischer und konzeptioneller Hinsicht einem neuen, erweiterten Designbegriff zum Durchbruch. Die Gruppe führte das Design wieder dorthin zurück, wo es zu Zeiten des frühen Jugendstils schon einmal gewesen war, zum Kunst-Design. In dieser «Regression zur Kunst»8 hatte die individuelle Fantasiearbeit Vorrang, der subjektive Einfall stand am Anfang des Entwurfsprozesses der «Künstler-Designer» oder «Artist-Designer». Das Ergebnis waren oft Unikate oder Kleinserien, eigentliche Kunstwerke, die nur selten massenhaft reproduktionsfähig waren und die in Kunstgalerien, eigens neu geschaffenen Designgalerien und sehr bald auch in Museen ausgestellt wurden. Es waren Produkte, die für eine Auseinandersetzung auf die Präsenz in den Medien angewiesen waren. Ohne Medien wäre die Popularisierung des «Neuen Designs» nicht denkbar gewesen! Die Objekte (Zeichen) blieben also referenzlos und setzten nur sich selbst als Wirklichkeit.9 Dass die Rückkehr zur Kunst sich vor allem in einer Wiedergeburt der «Künstlermöbel» ausdrückte, hatte seine Ursache in der Tatsache, dass das Möbeldesign ein Bereich ist, der traditionell dem subjektiven Einfall offener war als andere Entwurfsfelder und dass der Wohnbereich, wenigstens der privilegierte, «schon immer ein Tummelplatz für kunst- und kunstgewerbeverbundene Entwurfslust war».10 Dem Kunst-Design der «kunstgewerblichen Avantgarde», wie das «Neue Design» auch genannt wurde11, ist es zu verdanken, dass das Design in den achtziger Jahren die stilgeschichtliche Führungsrolle gegenüber der Malerei und Skulptur übernahm.12 Das Regalobjekt «Carlton» von Ettore Sottsass (Abb. 182) war das am häufigsten abgebildete Kunstwerk der achtziger Jahre.13 Die Annäherung an die
Abb. 202: Trix und Robert Haussmann: Kommode «Manhattan», 1987. Quelle: Bundesamt für Kultur (Hg.). made in Switzerland, Bern, 1997, S. 39.
Kunst wurde von Bernhard Bürdek, einem ehemaligen Absolventen der Ulmer Hochschule für Gestaltung, folgendermassen kommentiert: «Nachdem sich das Design in seiner vermeintlichen Radikalität in den achtziger Jahren von funktionalen Sachzwängen verabschiedete, war es nur noch eine Frage der Zeit, dass es sich endgültig zur scheinbar reinen Kunst entwickelte. Die Parallelitäten sind offensichtlich: Die Kunst hatte sich ausgangs der achtziger Jahre in weiten Teilen Jean Baudrillards Theorie der Simulation (1985) verschrieben, indem sie sich als Kunst des Spektakels und der Kulisse präsentierte. Dies war eindrucksvoll auf der ‹documenta 8› im Sommer 1987 in Kassel zu besichtigen: Dort sass das Design fast schon auf dem Thron der Kunst, wohin es nicht gehört und wo es nicht sein möchte, wie Michael Erlhoff (1987) beteuerte.»14 Auf der «documenta 8» wurden Design, Kunst und Architektur zusammengebracht, weil sich die Künste annäherten, Architekten wie Plastiker arbeiteten, Designer ihre Wohnungen künstlerisch inszenierten, Künstler wiederum zu Möbel- und Ausstattungseffekten, auch zur imaginären Architektur tendierten. So richteten die Künstler A . Warhol und R. Lichtenstein die Luxusvilla von Günther Sachs in St. Moritz (Schweiz) ein (vgl. Kapitel 18). — 4 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 295. 5 A. Bangert, in: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 156. 6 Ebenda, S. 166. 7 Ebenda, S. 156. 8 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 245. 9 A. Wildermuth, in: Bernhard Bürdek, Design, S. 66. 10 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 285 und 294. 11 Ebenda, S. 285. 12 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 23. 13 Ebenda. 14 Bernhard Bürdek, Design, S. 64.
168 14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design»
Meilensteine
Abb. 203: Mario Botta: Stuhl, 1991. Quelle: Bundesamt für Kultur (Hg.), made in Switzerland, Bern, 1997, S. 33.
Abb. 204: Philippe Starck: Stuhl für das Café Costes, Paris, 1982. Die Inneneinrichtungen des Cafés und die dazugehörigen Stühle wurden weltberühmt. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 570.
Autorendesign Das Möbel- und Interior Design der «Neuen» der achtziger Jahre mit seiner künstlerischen Gestaltungsauffassung begünstigte die Tendenz zum so genannten Autorendesign.15 Ph. Starck, R. Arad, B. Sipek, J. Morrison, M. Ghini – sie alle entwickelten eine höchst individuelle Formensprache. Es sei daran erinnert, dass es noch nicht lange her war, seit Ulmer Funktionalisten wie O. Aicher und W. Wagenfeld darauf verzichteten, ihre Arbeiten zu signieren und ihre Namen in Verbindung mit Produktentwicklungen öffentlich herauszustellen, um sich von den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs abzugrenzen. Nun liessen sich immer mehr Designer als Künstler und medienpräsente Stars feiern. Einerseits lebte das Kunst-Design mit seinen Unikaten und deren Inszenierung vom Kult um den Autor. Anderseits erlaubte es die gestiegene Bedeutung des Designs vielen Designern, sich als Künstler zu gebärden, «in der Annahme, den Zeitgeist in der Gestalt von Dingen so treffen zu können wie in einem Kunstwerk», wie es Gert Selle formulierte.16 Der Trend zum Autorendesign und einer künstlerischen Gestaltungsauffassung, für die «Individualität, Subjektivität, eine prägnante, wieder erkennbare gestalterische Handschrift und bekannte Namen das Salz der Suppe ausmachen», widerspiegelte das Phänomen des oben genannten massenkulturellen «Zwangs» zum Individualismus.17 Der Autorenkult ist komplementär zur gesellschaftlichen Individualisierung. Diese stellt für alle eine unumgängliche Notwendigkeit dar, «der die «NormalbürgerInnen» mit ihrem individuellen Lebensweg und -stil und mit beständiger Identitätsarbeit» Folge leisten.18
Das «Neue Deutsche Design» In den Städten und Regionen Deutschlands, in denen Ende der siebziger Jahre die Kunst der «Neuen Wilden» und unabhängige Musik angezeigt waren, fand der Aufbruch des «Neuen Deutschen Designs» statt. Wie die «Wilden» in der Malerei, machten die VertreterInnen des «Neuen Designs» Furore. Junge HochschulabsolventInnen, die mit dem offiziellen Industriedesign und der Ausbildung unzufrieden waren, experimentierten im Möbel- und Produktdesign und stellten in handwerklicher Arbeit Prototypen und Einzelstücke her. Progressive Möbelläden und Galerien boten ihnen eine Plattform. «Möbel Perdu – Schöneres Wohnen» nannte sich 1982 eine Hamburger Ausstellung ironisch. Gezeigt wurde das Ergebnis von spielerischen Experimenten mit verschiedenen Techniken – die unerwartete Kombination von Materialien wie Holz und Marmor, Neon und Beton, Gummi und Lochblech, Plexi und Fliegendraht, Plüsch und Profanerem.19 Die Ästhetik dieser Objekte war eine «Ästhetik der Collage und der Brüche». Die Objekte sollten schockieren und den herkömmlichen Designbegriff in Frage stellen. Die Entwürfe orientierten sich nicht wie diejenigen von Memphis an der Einrichtung für die Oberschicht, sondern bezogen sich auf Punk, Jugend- und Subkulturen (Abb. 197). «Nicht die Simulation des Verbrauchs ist gefragt, sondern der subversive Gebrauch der Warenwelt.»20 War das «Neue Deutsche Design» deshalb eine Bewegung mit einer politischen Designtheorie? Dazu Volker Albus, einer der Protagonisten der Bewegung: «Es denkt quer! In formaler Hinsicht, jedoch nicht in einem grösseren (…) politischen Zusammenhang.»21 Aber die Auseinandersetzung mit dem etablierten funktionalistischen Design der «Guten Form»
169
Abb. 205: Philippe Starck: Zitronenpresse «Juicy Salif», 1990 (Produktion Alessi). Inzwischen ein erschwingliches Kultobjekt; im Alessi-Taschenbuch 2000 wird vermerkt, dass «Juicy Salif» nicht zum Gebrauch bestimmt ist, sondern besser ins Bücherregal gestellt wird! Quelle: Volker Albus et al. (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 165.
Abb. 206: Philippe Starck:Fernsehgerät «Jim Nature», 1994 (Firma SABA). Pressholz und Kunststoff. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 353.
fand statt, und zwar heftig, und sie wurde zum Teil auf grundsätzlich-dogmatischer Ebene geführt. Für die VertreterInnen der «Guten Form», die immer noch eine starke Position hatten, ging es ja um nichts weniger als um die Aufhebung der für Deutschland typischen Trennung von Design und dem lange verpönten «Styling». Volker Albus: «Wir konnten es ja tagtäglich miterleben, dass die Gute Form (…) keineswegs auch nur annähernd zur Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen einer Kommunikationsgesellschaft taugte.»22 Zum 75. Geburtstag des Deutschen Werkbundes (dwb) im Jahr 1982 hielt eine verantwortliche Arbeitsgruppe das «rational-funktionalistische Design für abgenutzt.»23 Ein erstes Ergebnis war die Ausstellung mit dem Titel «Provokationen – Design aus Italien – Ein Mythos geht neue Wege». (Zum «Neuen Design» in Italien vgl. Kapitel 13.) Das «Neue Deutsche Design» war keine einheitliche, sondern eine pluralistische Bewegung mit verschiedenartigsten Ansätzen. Diese reichten von minimalistischen Entwürfen und konzeptionellen Arbeiten der «GIN_BANDE» (Frankfurt) (Abb. 198) oder von «Kunstflug» (Düsseldorf) über provozierende Möbel von S. M. Syniuga (Abb. 199) und Ready-madeObjekten von «Stiletto» (Berlin) (Abb. 197) bis zum ironischen Prunk und Kitsch von «Möbel perdu» (Hamburg). Zu nennen sind auch die Gruppen «Pentagon» (Köln) (Abb. 200) und «Cocktail» (Berlin). Der Wendepunkt des «Neuen Deutschen Designs» war die Ausstellung «Gefühlscollagen – Wohnen von Sinnen» 1986 in Düsseldorf. Hier erfolgte die Hinwendung zum industriellen Produktdesign, indem das Design von Einrichtungsgegenständen für Büros, Sitzungszimmer und der Möblierung öffentlicher Räume wieder zum Thema gemacht wurde.24
Das «Neue Design» in der Schweiz Die designintensive Zeit seit 1980 brachte auch Bewegung in die Schweizer Designszene. Die international geführten Debatten wurden von den Schweizer DesignerInnen aufgegriffen und umgesetzt, allerdings ohne den Sinn für das Praktische aus den Augen zu verlieren.25 Im Gegensatz zum italienischen Design um Alchimia und Memphis und zum «Neuen Deutschen Design» blieben die Schweizer GestalterInnen in den siebziger und achtziger Jahren im Allgemeinen einem traditionellen, sachlichen und funktionalistischen Zugang verpflichtet.26 Der direkte Einfluss der «Neuen Wilden» beschränkte sich auf einen kleinen Kreis und betraf hauptsächlich das Möbeldesign, während das Produkt- und Industriedesign weiterhin in den gewohnten Bahnen verlief. Von einer Welle eines «Neuen Wilden Schweizer Designs» konnte nicht die Rede sein. Dennoch wurde Design in den achtziger Jahren auch in der Schweiz zum Gesellschaftsthema.27 1986 wurde von Langenthaler Firmen zum ersten Mal der «Designer's Saturday» durchgeführt, was später unter anderem zur Eröffnung des «Design Center Langenthal» — 15 Vgl. Kapitel 17. 16 Gert Selle, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 20. 17 Dagmar Steffen, in: Ebenda, S. 54. 18 Ebenda. 19 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Designs, S. 176f. 20 Ebenda, S. 177. 21 Volker Albus et al., Design Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln, 1992, S. 37. 22 Ebenda, S. 47. 23 Ebenda, S. 31. 24 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 160. 25 Ebenda, S. 100. 26 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 100. 27 Ebenda, S. 114.
170 14. Die wilden achtziger Jahre und das «Neue Design»
Meilensteine
Abb. 207: Jean-Paul Gaultier: Kostüm für Madonna, 1990. Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 33.
Abb. 208: Hans Coray: «Landistuhl», 1938. Quelle: Gabriele Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Zürich, 2001, S. 63.
führte. 1985 fand die erste «Schweizer Möbelmesse International» (SMI) statt, und 1991 wurde in Solothurn zum ersten Mal der «design preis schweiz» verliehen, der seither alle zwei Jahre vergeben wird. Von den Möbel-DesignerInnen, welche die Grenzen der funktionalistischen Moderne überschritten, seien hier die international bekannten genannt: Susi und Ueli Berger (KünstlerIn-DesignerIn) (Abb. 201), Trix und Robert Haussmann (ArchitektIn-DesignerIn) (Abb. 202), Mario Botta (ArchitektDesigner) (Abb. 203). (Zum «Neuen Grafikdesign» in der Schweiz vgl. Kapitel 13.) Das «Neue Design» in Frankreich Das französische Design stand anfangs der achtziger Jahre ebenfalls unter dem Einfluss von Memphis. Im Kontrast zur Moderne fanden in Frankreich ungewöhnliche Farb- und Materialkombinationen den Weg ins «Neue Design». Das schlug sich in Paris in der Einrichtung von Bars, Cafés, Geschäften und Restaurants nieder. ProduktdesignerInnen und ArchitektInnen hatten sich in der Vergangenheit nur selten mit flüchtigen Projekten wie der Einrichtung eines Cafés oder eines Ladens beschäftigt. Und die professionellen InnenarchitektInnen wurden lange belächelt. Beides hatte sich gewandelt. Der Möbel- und Produktdesigner Philippe Starck (1949*) war ein Pionier dieser Entwicklung: 1984 richtete er das Pariser «Café Costes» im «Retro-Look» ein (Abb. 204) und definierte auf wenigen Quadratmetern den postmodernen Zeitgeist. Seitdem ist das Prestige solch temporärer Projekte stetig gestiegen (was auch daran zu sehen ist, dass immer mehr Interieur-Bildbände erscheinen). Philipe Starck wurde der Star der Szene. «Er gilt als kreativer Querkopf und
gleichzeitig als geschickter Marketing-Stratege, der die Selbstdarstellung seiner Person geschickt zur Werbung für sein Design einsetzt.»28 Er entwarf gut verkäufliche und relativ preiswerte Produkte für die industrielle Serienherstellung. Seine Arbeiten reichten von spektakulären Inneneinrichtungen bis hin zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen (Abb. 205, 206). Starck wird manchmal mit dem kommerziell ebenso erfolgreichen Raymond Loewy verglichen.29 Ein anderer Star am Himmel des französischen «Neuen Designs» war der Modedesigner J.-P. Gaultier. Er provozierte die Öffentlichkeit mit Materialien aus der Pornografie, wie Gummi, Lack und Leder (Abb. 207). Hightech in den achtziger Jahren Die Faszination der Technik fand in der ganzen gestalterischen Design-Moderne immer wieder ihren Niederschlag. Als Beispiel sei hier der «Landistuhl» von Hans Coray von 1938 genannt (Abb. 208). Mit diesem Möbel war Coray sowohl ästhetisch als auch produktionstechnisch eine frühe Vorwegnahme des späteren Hightech-Gedankens gelungen. Der Stuhl bestand aus einer bis damals unbekannten, extrem leichten Aluminiumlegierung. Das Material leitet keine Wärme und ist rostfrei, daher auch die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten des Stuhls. Er wurde ein wichtiger schweizerischer Exportartikel und eines der meistverkauften Freiluftmöbel des 20. Jahrhunderts. Der Terminus «Hightech» aus der Architektur- und Designtheorie setzt sich aus den Begriffen «High Style» und «Technology» zusammen. Als Stilbegriff setzte er sich nach der Einführung durch Slezin und Kron in dem gleichnamigen Buch durch. Der Hightech-Stil betont die technologische Er-
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Abb. 209: Renzo Piano und Richard Rogers: Centre Georges Pompidou, Paris, 1971-77. Quelle: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln, 1990, S. 324.
scheinung – die Konstruktion – von Gebäuden und Gegenständen durch demonstrativ nach aussen verlegte Installationseinrichtungen und sichtbare Konstruktionselemente. Das 1977 von Renzo Piano und Richard Rogers erbaute «Centre Pompidou» in Paris gilt als berühmtestes architektonisches Beispiel für den Hightech-Stil (Abb. 209). Der Hightech-Stil im Interior Design benennt die demonstrative Verwendung technischer Elemente aus der Arbeitswelt im privaten Wohnen, insbesondere bei Möbeln. Der Trend breitete sich zu Beginn der achtziger Jahre explosionsartig aus (Abb. 210). In diesem Sinn meint Hightech-Stil das genaue Gegenteil zum Stil der «Neuen Einfachheit», der solche Spuren unter grossem Aufwand verwischte (vgl. Kapitel 15). — 28 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 164. 29 Ebenda.
Abb. 210: Matteo Thun et al.: Stehleuchte «Chicago», 1985. Volker Fischer (Hg.), Design heute. Massstäbe: Formgebung zwischen Industrie und Kunststück, München, 1988, Bild 113.
15. NEUE EINFACHHEIT
174 15. Neue Einfachheit
— Wirtschaftliches und Soziales
Zurück zum Einfachen! Eine sozialhistorisch orientierte Designgeschichte hat zur Aufgabe, historische Tendenzen und Trends aufzuspüren und auf ihren Kontext und ihre Hintergründe zu analysieren. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine deutlich feststellbare Stilentwicklung: Nach dem Form- und Farbüberschwang, der in den wilden achtziger Jahren von der Gruppe Memphis und dem «Neuen Design» entfesselt worden war, bewegte sich das Produktdesign wieder in nüchterne Bahnen. Offensichtlich waren die RezipientInnen vom modisch-bunten, expressiven und avantgardistischen Überschwang der achtziger Jahre mit seinen splittrigen und formkontrastierenden Tendenzen gesättigt oder gar übersättigt und hatten ein Bedürfnis nach einfachen und archetypisch vertrauten Formen und der Verwendung von puristischen Materialien. Auch beim Automobildesign waren vereinfachte und rundlich-fliessende Formen gut zu beobachten.1 Allerdings greift es zu kurz, wenn der Trend zur neuen Einfachheit nur als Gegenreaktion auf das Vorherige oder als «natürliche Reaktion» auf die popige und expressive Attitüde des Designs im vorhergehenden Jahrzehnt dargestellt wird.2 Vielmehr müssen die zugrunde liegenden und ausschlaggebenden Gründe für diese Entwicklung genannt werden. Doch was waren die Gründe für diese Beruhigung und formalästhetische Neuordnung? Es war zuerst einmal die wirtschaftliche Rezession zu Beginn der neunziger Jahre. Der Zusammenbruch der ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas läutete in der Weltgeschichte eine neue Ära ein. An Stelle des erhofften konjunkturellen Aufschwungs brachte die Einbindung der ehemals planwirtschaftlich
regierten Länder in den globalen Wirtschaftsmarkt in Europa Rezession, Arbeitslosigkeit und damit eine Vertiefung der sozialen Krise, die dem kapitalistischen System immanent ist. Auch die ökologische Problematik der galoppierenden Zerstörung der Umwelt drang erneut ins öffentliche Bewusstsein. Betroffen waren alle europäischen Länder, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Die Rezession und die sozialen Probleme führten zu einer im Vergleich zur Hochkonjunktur der achtziger Jahre eher depressiven Zeitstimmung und teilweise zu einem Wandel des Konsumverhaltens. Beide drückten sich im Designtrend und im Modetrend, ja im gesamten Lebensstil aus. Mit anderen Worten: Der Designtrend traf die Zeitstimmung in direkter Weise. Einfachheit und Bescheidenheit waren angesagt! Trends manifestieren sich nicht für alle Gesellschaftsschichten auf die gleiche Art und Weise. Sie können durchaus schichtenspezifische Phänomene sein. So war es auch mit der neuen Einfachheit der neunziger Jahre. Sie war vor allem in den gebildeten westeuropäischen Mittelschichten und Oberschichten zu Hause. Während der Konsum-Hedonismus nach den Motto «immer mehr, immer schneller» zu einem Unterschichten-Phänomen wurde3, waren die «neue Reflexivität in der Konsumkultur» und die neue Bescheidenheit vor allem ein MittelschichtenPhänomen.4 Das Bewusstsein für Qualität, Langlebigkeit und ökologische Zusammenhänge (biologisch fundierte, «nachhaltige» Lebenskultur) avancierte zum zeitgenössischen Ausweis von Bildung und Wohlstand, einem Wohlstand wohlverstanden, der nun durch ein verfeinertes Understatement getarnt wurde.5 Diejenigen, die das Bewusstsein und die nötigen Mittel hatten, suchten als KäuferInnen nicht mehr das Schrille und Repräsentative, sondern über den Gebrauchswert hinaus Authentizität und Lebenssinn. Archaische Schlichtheit unterstützte das Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit nach einem Jahrzehnt der Provokationen.6 Neue Bescheidenheit und neue Einfachheit bedeutete jedoch keineswegs eine Rückkehr zum Primitiven wie in den Zeiten der Jutesack-Romantik der späten sechziger und
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siebziger Jahre. Hoch im Kurs war vielmehr «hochwertige Schlichtheit» nach dem Motto «Eating Potatoes with a Silver Fork» (Kartoffeln mit Silberbesteck essen) – wenn möglich in neuer Einfachheit designt. — 1 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 17. 2 So bei: Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 96. 3 Brigitte Holzhauer, in: Trends im Bekleidungsmarkt, in: «outfit», 3. SpiegelDokumentation, Hamburg, 1994, S.10f. 4 Ingo Schoenheit, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt, Das Jahrhundert des Design, S. 54. 5 Ebenda, S. 54. 6 Thomas Hauffe, Schnellkurs Design, S. 174.
176 15. Neue Einfachheit
Meilensteine
Abb. 211: Philippe Starck: Badezimmer für Axor, Duravit und Hoesch, 1994. Quelle: Wolfgang Schepers et al. (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 183 und Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, Köln, 2000, S. 183.
Abb. 212: Gaetano Pesce: I Feltri, 1987. Rahmen aus vernähtem Filz, mit Epoxiharz versteift. Sitzfläche aus Filz auf Hanfschnüren. Quelle: Charlotte und Peter Fiell, 1000 chairs, Köln, 2000, S. 559.
Europäische Designtrends der neunziger Jahre Die Designdekade der neunziger Jahre war durch grosse stilistische Vielfalt geprägt, ganz im Unterschied zu den Sechzigern oder Siebzigern, die von der fast monolithischen Design-Doktrin der «Guten Form» und dem «Bel Design» und dessen Kontrahenten und Abweichlern (Radical Design usw.) bestimmt waren. Selbst das Design der achtziger Jahre war graduell weniger vielfältig. In den neunziger Jahren wurde die Tendenz einer bis in die letzten Ecken und zu den letzten Dingen vordringenden Ästhetisierung noch verstärkt1, das Design wurde allgegenwärtig. Design in den Neunzigern, das war Element der Ereignis-Kultur, das Abbilden der Dinge, das «Über-sie-Reden», die immer schnellere Folge der Stile und der Einzelentwürfe. Das Wort Design erlebte eine geradezu inflationäre Verwendung. In der grossen stilistischen Pluralität lassen sich einige Haupttrends festmachen: Zuerst einmal die neue Einfachheit oder Bescheidenheit (auch neuer Minimalismus); dann das Retro-Look-Design, die Reeditionen und die «Neuen Dekors». Daneben gab es ausser- und innerhalb der Haupttrends eine Vielfalt von sehr individuell geprägten Stilen. Das Autorendesign mit wechselnden Stars und Signaturen war in den neunziger Jahren das dominante Image der Designprofession in Ausbildung und Praxis. Artist-Designer wie Philippe Starck prägten die Vorstellung eines allzeit kreativen Design-Genies, das jeden Tag die Welt neu erfindet.Nicht zu vergessen ist bei aller Aufzählung des Besonderen das gewöhnliche Design der Gegenstände der alltäglichen Welt, die nicht in den Genuss des privilegierten Status von Designobjekten kamen, wie zum Beispiel das IKEA-Design, das in diesem Jahrzehnt die Haushalte in allen europäischen Himmelsrichtungen stetig füllte.
Abb. 213: Ron Arad: «Well Tempered Chair», 1986/87 (verchromtes Edelstahlblech; Firma Vitra). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 137.
Die Darstellung der tief greifenden Auswirkungen der digitalen technischen Revolution sowohl auf das Industriedesign als auch die visuelle Kommunikation der neunziger Jahre ist Gegenstand des 16. Kapitels. Neue Einfachheit Als Beispiel für den Designtrend zur neuen Einfachheit beziehungsweise zur Vorliebe für eine Reduktion auf einfache und archetypisch vertraute Formen und für die Verwendung von puristischen Materialien sei Philippe Starcks Badezimmer für Axor, Duravit und Hoesch von 1994 genannt (Abb. 211). Das Badezimmer nimmt Bezug auf einfache archetypische Formen. So orientiert sich die Acrylbadewanne am traditionellen Waschzuber, der Wasserhahn an einer Pumpe, die WC-Schüssel und das Waschbecken an Eimern. Das Badezimmer bringt modernste Sanitärtechnik in ein funktionales und bescheiden harmonisches Ambiente. «‹Neue Bescheidenheit› oder ‹back to basics› lautet das Motto, das neben ‹Sinnstiftung› für den Verbraucher und Markterfolgen für die Hersteller in gewisser Weise und unter veränderten Vorzeichen eine Rückkehr zur Rationalität andeutet.»2 Die ersten Impulse für ein neues einfaches Design kamen aus Grossbritannien. Dort gab es im Gegensatz zum kontinentalen Rationalismus der Ulmer Schule schon in den sechziger Jahren eine experimentierfreudige und exzentrische Gestaltungstradition, die auf einem kreativ-individualistischen Ansatz beruhte.3 In den späten achtziger Jahren zeichnete sich in Grossbritannien das im übrigen Europa «Neues Design» genannte Design durch einen starken Trend zur Einfachheit, zum Minimalismus aus, der dann zu Beginn der Neunziger im kontinentalen Europa aufgenommen wurde.4
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Abb. 214: Jasper Morrison: Sofa, 1988 (Firma Sheridan). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 138.
Abb. 215: Jasper Morrison: Weinregal, 1994 (Firma Magis). Quelle: Cathrine McDermott, Design A-Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 195.
Die internationale Verbreitung des einfachen britischen Designs erfolgte über den Möbelhändler Sheridan Coackley, der die britischen Künstler-Möbel über die Kölner und Mailänder Möbelmesse bekannt machte. Die «Neuen britischen DesignerInnen» verarbeiteten eher raue Materialien, wie zum Beispiel unbehandelten Stahl oder Beton. Sie ähnelten darin mehr dem «Neuen Deutschen Design» als der italienischen Memphis-Gruppe. Sie unterschieden sich durch eine meist einfache Material- und Formensprache von anderen Strömungen im «Neuen Design», die zum Teil in neobarocker neuer Prächtigkeit schwelgten (Abb. 212). Die Hauptvertreter der neuen Einfachheit in Grossbritannien waren Ron Arad, Jaspar Morrison, Tom Dixon, Sebastian Bergue und Konstantin Greic. R. Arads Studio hiess «One Off Ltd.» und war eines der Zentren des «Neuen britischen Designs». Dieser Name bezog sich programmatisch auf die Produktion von Einzelstücken (Unikaten) (Abb. 213). J. Morrison war der wichtigste Vertreter der neuen Einfachheit (Abb. 214, 215). Minimalistische Schichtholzmöbel mit unbehandelten Oberflächen charakterisieren seine Arbeit. Aus Protest gegen die neobarocken Spielarten luxuriösen Designs prägte er den Begriff «No-Design». Auch die skandinavische IKEA-Gruppe, die seit 1995 mit der «PS»-Gruppe über ein eigenes Designprogramm verfügte, schloss sich dem Trend zur Einfachheit an (Abb. 216). Neue Einfachheit in der Schweiz Im Schweizer Design fand in den neunziger Jahren ebenfalls eine Abwendung von den gestalterisch expressiven Achtzigern statt (Abb. 217). Der Einfluss des italienischen postmo-
Abb. 216: Thomas Sandell von der «PS»-Gruppe von IKEA: Banktruhe, 1995. Selbst ein wohl eher selten bewegter Gegenstand wie dieser erhält grosse Räder, um der asymmetrischen Schlichtheit eine charakteristische Form zu geben. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 184.
dernen Designs beziehungsweise des «Neuen Designs» hatte sich allerdings in der Schweiz in Grenzen gehalten (vgl. Kapitel 14). Stilistisch war das Schaffen der Neunziger von einer «minimal tradition» geprägt, die sich wieder jener Einfachheit zuwendete, die bereits im ganzen 20. Jahrhundert das Aussehen von Schweizer Produkten geprägt hatte. Einfachheit als qualifizierende Beschreibung für Gestaltung war in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Kriterium.5 Der Begriff der neuen Einfachheit wurde bereits viele Jahre vorher zum ersten Mal verwendet: 1959 fand im Warenhaus Globus eine Ausstellung mit dem Namen «Die neue Einfachheit» statt! Heimlicher Star der neuen Einfachheit war Kurt Thut (1931*). Als Mitbegründer der Gruppe Swiss Design, die in den fünfziger Jahren dem funktionalistischen Design verpflichtet war, hatte er in den achtziger Jahren den Hightech-Trend mitgemacht; in den neunziger Jahren schuf er nun Möbel im Stil der neuen Einfachheit (Abb. 218). Dabei hatte Thut seine Gestaltungsprinzipien in all den Jahrzehnten gar nicht grundlegend verändert! Er wurde so zum generationenübergreifenden Bindeglied zwischen der funktionalismusbegeisterten Generation um 1960 und der neuen Einfachheit.6 — 1 2 3 4 5 6
Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 181ff. Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 175. Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 117. Ebenda, S. 117. Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 117.
178 15. Neue Einfachheit
Meilensteine
Abb. 217: Sigg Bottles. Aluminium, Trinkflasche der Firma Sigg, 1990. Quelle: Gabriele Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Zürich, 2001, S. 110.
Abb. 218: Kurt Thut: Kleiderständer 1999. Quelle: Gabriele Lueg et al. (Hg.), Swissmade, Zürich, 2001, S. 82.
Zweite Moderne? Die Reduktion auf einfache geometrische Formen und die Verwendung puristischer Materialien ist dem Funktionalismus der Moderne zum Verwechseln ähnlich. Gab es hier eine Rückbesinnung auf die abstrakte Geometrie der Ulmer Hochschule für Gestaltung, ein Zurück zu den Ursprüngen der «Guten Form» und ihre Weiterführung? Oberflächlich gesehen, ist diese Frage zu bejahen. Genauer betrachtet, gab es aber klare Unterschiede zum funktionalistischen Design: — Das Design der neuen Einfachheit hatte nicht die industrielle Massenfertigung im Auge. — Es verfolgte nicht das Ziel, vorhandene Mittel möglichst effizient für rationale Zwecke einzusetzen. Neue einfache Möbel hatten trotz ihrer formalen Reduktion oft sehr komplexe Konstruktionen.7 Für die Einfachheit wurde viel konstruktiver Aufwand betrieben, was die Funktionalität ad absurdum führte (Abb. 219). — Es kam ohne den erzieherischen Anspruch und ohne die doktrinäre Lehre der Moderne in den zwanziger, dreissiger, fünfziger und sechziger Jahren aus. Trotzdem ist eine formale Verwandtschaft mit der klassischen Moderne vorhanden. Und das folgende Urteil von Dieter Weidmann geht sicher nicht an der Sache vorbei: «Nachdem sich im Rahmen der Postmoderne ein geradezu mutwilliges Aufbegehren gegen den Funktionalismus (…) ausgetobt hat, gelangen wir nun allmählich zu einem weniger ideologischen, dafür ästhetisch gereiften und hoffentlich aus Schaden klug gewordenen Funktionalismus.»8
Abb. 219: Jasper Morrison: «Plywood-Chair», 1998. Der Plywood-Chair erscheint auf den ersten Blick als ein gelungenes Zeichen für die asketische Reduktion auf das Notwendige, doch bei genauer Untersuchung fällt auf, dass unter der Prämisse formaler Einfachheit die Funktionalität zurückstand und, um eine gewisse Stabilität zu erreichen, ein zwar unter der Sitzfläche versteckter, doch nicht unerheblicher konstruktiver Aufwand betrieben wurde. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Frankfurt a.M., 2000, S. 54.
Retro-Look-Design und Reeditionen Ganz andere Trends als die neue Einfachheit waren das Retro-Look-Design und die Reeditionen der neunziger Jahre, die übrigens ebenfalls bis in die Gegenwart andauern. Obwohl beide aus einer ähnlichen Grundhaltung heraus entstanden, sind sie nicht gleichzusetzen. Reeditionen sind originaltreue Wiederauflagen von Gegenständen vor allem aus den zwanziger und sechziger Jahren. Favorit für die Lücke war das amerikanische Stromliniendesign. Nicht die leicht zu reinigende «Braun-KM3» glänzte da stilgerecht, sondern die «KitchenAid» und der nostalgische Toaster «Dualit» (Abb. 220). Retro-Look-Design hingegen ist eine aktuelle Neuinterpretation von historischen Gestaltungsmerkmalen. Die Produkte erinnern an ihre Vorgänger, doch gleichzeitig lässt ihre Produktsprache keinen Zweifel aufkommen, dass sie aus den Neunzigern stammen. Zeichenhaft wird auf Vergangenes und Gegenwärtiges verwiesen. Neben der Kleidermode und dem Interior Design war die Hochburg des Retro-Look-Designs das Automobildesign. Prominente Beispiele: der «New Beetle» von Volkswagen (1998) oder der «Mini Morris» beziehungsweise der «Mini Cooper» von BMW (Abb. 221a,b). Und die Hintergründe für den Anklang an die Vergangenheit? Ist es der «eklatante Mangel an wegweisenden Utopien und motivierenden Zukunftsvisionen», der es einem Teil der ZeitgenossInnen nahe legt, «sich angesichts der komplexen gesellschaftlichen Probleme in Illusionswelten hineinzuträumen, in vergangene Zeiten oder kindliche Spielwelten»?9 Oder einfach das «Bedürfnis nach Vertrautheit und Überschaubarkeit» angesichts der existierenden Unüberschaubarkeit und Unsicherheit?10 Für diese von W. Schepers ge-
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Abb. 220: Dualit, 1994. Quelle: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge, Frankfurt a.M., 2000, S. 185.
Abb. 221a: Alec Jssigonis: «Mini Morris», 1959. Quelle: Albus Volker et al (Hg.), Design! Das 20. Jahrhundert, München, 2000, S. 120.
äusserte Interpretation spricht, dass zum Beispiel im Automobildesign die Anleihen in eine Zeit zurückweisen, in der der automobile Hedonismus ungetrübt von Verkehrschaos, Parkplatznot oder Sommersmog noch genossen werden konnte. Der Retro-Look weckte positive Emotionen, er ermöglichte gewissermassen die Rückkehr ins goldene Zeitalter des Automobils.11 («Neue Dekore», vgl. Kapitel 16.)
— 7 Lotte Schilder Bär, Norbert Wild, Designland Schweiz, S. 116. 8 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 22. 9 Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 55. 10 Ebenda, S. 187. 11 Ebenda, S. 55.
Abb. 221b: «Mini Cooper» von BMW, 2005. Quelle: Katalog «Mini», BMW AG, 2005.
16. DIGITALE REVOLUTION UND DESIGN
182 16. Digitale Revolution und Design
— Wirtschaftliches und Soziales
Die digitale Revolution Ausgangspunkt für die so genannte digitale Revolution, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte, war die ständig zunehmende Leistungsfähigkeit der Mikroprozessoren bei gleichzeitigem Preiszerfall. Die Voraussetzung für den Siegeszug der Mirkroelektronik sowie vor allem für die Entstehung expandierender Computernetzwerke lag sowohl in den Aktivitäten experimentierender Computerenthusiasten als auch im Forschungsinteresse des Pentagons, des USKriegsministeriums, das beträchtliche Summen in ein dezentrales Kommunikationsnetz investierte, welches einen Atomkrieg überdauern sollte - der Ausgangspunkt des Internets. Mikroprozessoren drangen in sämtliche Lebensbereiche ein («Mikroprozessualisierung»). Die meisten mechanischen und elektronischen Produkte konnten so mit immer mehr Funktionen ausgestattet und verkleinert werden (Miniaturisierung). Neue Geräte wurden entwickelt, vor allem im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und in der Unterhaltungselektronik. Es fand eine Demokratisierung des Computers zum dezentralen Personal Computer statt. Die Computer nisteten sich in alle Haushalte der nördlichen Hemisphäre ein und warfen in den neunziger Jahren mit dem Medium Internet ein digitales Netz über den Globus. Die Mikroprozessoren leiteten das digitale Zeitalter ein. Dieses wird nicht einfach nur durch die Entwicklung von neuen Medien charakterisiert, sondern vor allem durch die Tatsache, dass unterschiedliche Medien wie Text, Grafik, Bild, Film, Ton und Musik in einer gemeinsamen Datenform, nämlich digital vorliegen. Die Mikroprozessoren wurden die «Dampfmaschinen unserer Zeit «genannt.1 Die digitale Revolution veränderte das Leben
ähnlich einschneidend wie die erste industrielle Revolution und die Mechanisierung im 19. Jahrhundert. So wie damals wandelte sich die Erzeugung der Verbrauchsgüter, drang die neue Technologie in die Haushalte ein, prägte die Lebensführung, die Werte und Leitbilder und wurde in der Kunst reflektiert.2 Digitalisierung und Computerisierung brachten den Rationalisierungsprozess Ende des 20. Jahrhundert in bisher nicht gekanntem Ausmass voran. Sie veränderten die Art, wie und wo wir arbeiten, wohnen, kommunizieren, einkaufen und produzieren. Sie trugen wesentlich zur weiteren Auflösung der Bipolarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bei - ein Prozess, der mit Telefon, Rundfunk und Television begonnen hatte: Der öffentliche Raum drang als globaler Raum in den Privatraum ein, und die Wohnung wurde zur Bühne für das Öffentliche.3 Die digitale Revolution entfachte eine Zunahme der materiellen Produktion. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entstand der so genannte «Neue Markt». Im Überschwang war sogar von einer «Neuen Wirtschaft» die Rede.4 Der ICT-Boom erschien als eine unerschöpfliche Goldgrube, die freilich um die Jahrhundertwende wieder etwas versiegte. Das Internet bot die technologischen Voraussetzungen für die Beschleunigung des Geldverkehrs und erfüllte damit eine wesentliche Bedingung für die Entfesselung der Finanzmärkte. Die weltweiten Kommunikations- und Transportmöglichkeiten überschritten die lokal oder national definierten Formen und Konzepte der Produktion. Realisiert wurden nun Produkte, «die in Sidney entworfen, auf Sylt gekauft und in Sibirien entsorgt werden konnten».5 Die global wirkenden Wirtschaftsmechanismen des Marktes führten zur Verbreiterung von Angebot und Nachfrage nach Neuheiten und zu ständiger Neuinszenierung von konstruktiv Bewährtem. Die Produkte mussten immer schneller erneuert werden. Während eine Schreibmaschine 1935 noch eine Anschaffung für Jahrzehnte darstellte, war ein Rechner 1990 schon beim Kauf technisch veraltet. Der Neuentwicklung und Neuinszenierung von Produkten entsprach auf der KonsumentInnenseite der OECD-Industrieländer der wachsende Kundenwohlstand, die Forderung nach Vielfalt und Individualität und die «Nachfrage nach Differenz».6
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Früher beruhte die industrielle Produktivität auf Zentralisierung und Standardisierung der Produktion – im Gegensatz zur vormaligen dezentralen handwerklichen Einzelstückund Kleinserienfertigung von Produkten. Nun aber wurde dank numerisch gesteuerter Werkzeuge (Laser-Schnittroboter, CNC-Fräsen usw.) wieder eine Dezentralisierung und Diversifizierung der Produktion möglich, ohne dass dies höhere Stückpreise zur Folge hatte. Ausgefeilte CAD- und CAM-Systeme, RP (Rapid Prototyping) und damit flexible digitale Fertigungsprogramme begünstigten die Herstellung kleiner und gleichwohl kostengünstiger Mengen von Produkten, die stärker auf die verschiedenen Zielgruppen, individuellen Bedürfnisse und Geschmäcker zugeschnitten waren. Aus der Massenproduktion war die «kundenindividuelle Massenproduktion» geworden.7 Die durch die digitale Revolution entfachte Zunahme der materiellen Produktion und der Ausbau administrativ-technisch-ökonomischer Komplexe, genannt Infrastruktur, verschlangen jedoch ungeheure Mengen an Material, und die globalen Netze, die Folge der neuen Technologien, beschleunigten die Produktion und Verteilung einer qualitativ minderen Ware. Die neuen Medien produzierten unendlich viele Bilder ohne entsprechende gestalterische Qualität. Das Ergebnis fasst Tönis Käo zusammen: «Zu den Fussgängerzonen als Müllverteiler kommt der visuelle Müll. Rein formalästhetisch und auch real gesehen beginnt das Jahrhundert als Mülldeponie.» 8 — 1 W. Davidow, Das virtuelle Unternehmen, Frankfurt a.M.,1993, S. 10. 2 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S.60f. 3 Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M., 1983; Paul Virilio, Die Ära des universellen Voyeurismus, in: Le Monde Diplomatique, August 2003. 4 Art Nr. 2, 2004, Hamburg, S. 52. 5 Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 182. 6 Alex Buck, Dominanz der Oberfläche, Frankfurt a.M., 1998, S. 22f. 7 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schepers (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 65. 8 Tönis Käo, in: Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt a.M., S. 113.
184 16. Digitale Revolution und Design
Meilensteine
Abb. 222: Ergonomiestudie bei Mercedes–Benz mit Hilfe der Computervisualisierung. Quelle: Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 170.
Abb. 223: Swatch-Uhr, ab 1987. Die ersten Prototypen wurden von Ernst Thonke, Jacques Müller und Elmar Mock entworfen. Inzwischen sind unter anderem auch Matteo Thun und Alessandro Mendini dabei. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 219.
Digitalisierung und Integration des Designs Die digitale Revolution hatte einschneidende Folgen für Industriedesign und die visuelle Kommunikation. Innerhalb relativ kurzer Zeit erlebten beide Designprofessionen tief greifende Zäsuren und Neuausrichtungen sowohl im Gestaltungsprozess als auch in den Gestaltungsaufgaben. So veränderten und rationalisierten im Industrial Design die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) – das computergestützte Design (CAD) und die computergestützte Fertigung (CAM) mit Hilfe von CNC-Maschinen – den gesamten Gestaltungsprozess von der Konzeption und Planung bis zur Ausarbeitung von Prototypen. Spezielle Grafikprogramme ermöglichten den simulierten Entwurf und die Darstellung eines Produkts am Bildschirm. Dabei konnten nicht nur der Entwurf, sondern gleichzeitig alle wichtigen technischen und ökonomischen Daten verändert werden. Neben der präzisen Bildhaftigkeit ergab das den Vorteil der Flexibilität bei der Entwicklung von Produkten (Abb. 222). Das Grafikdesign war von der digitalen Revolution noch stärker betroffen. Nachdem in der Folge der industriellen Revolution der grafische Prozess in einzelne Fertigkeiten fragmentiert worden war (Entwurf und Layout, Typografie und Satz, Fotografie und Reprofotografie, Druck), ermöglichte die digitale Technologie in den neunziger Jahren mit dem DesktopComputer die Integration fast sämtlicher Fertigkeiten, so dass sie von einer einzigen Person ausgeübt werden konnten. Aus den ehemaligen GrafikerInnen wurden gleichzeitige EntwerferInnen, TexterInnen, RedakteurInnen, SetzerInnen, RetoucheurInnen, FilmerInnen, VideografInnen und SonografInnen. Auf die neuen Möglichkeiten wurde anfänglich abwehrend reagiert, weil einerseits eine technische Verflachung der
Grafikprofession befürchtet wurde und weil anderseits der Desktop die Haushalte sprunghaft erobert hatte, so dass plötzlich viele «SelfmadegrafikerInnen» mit der omnipräsenten grafischen Software von Microsoft in den Stand versetzt wurden, einigermassen geradlinige grafische Erzeugnisse selber zu produzieren. Bald wurde aber realisiert, dass die Integration der gestalterischen Fertigkeiten neue, kreative und experimentelle Möglichkeiten bot und dass die neue Komplexität der Designprofession eine Chance war (zur digitalen Bildherstellung und zum Grafikdesign vgl. unten). Auch das Internet hatte in den neunziger Jahren deutliche Auswirkungen auf den Gestaltungsprozess. Die Leichtigkeit in der Anwendung der neuen Kommunikationstechnik brachte einen stetig wachsenden Transfer von Designideen mit sich. Der Globalisierung des Marktes folgte über das Internet die Globalisierung des Grafikdesigns, wobei zu vermerken ist, dass Globalität nicht Gleichwertigkeit bedeutet. Die Stilvorgaben stammen weiterhin aus den entwickelten kapitalistischen Industriestaaten, sie sind Exportprodukt aus dem westlichen Kulturkreis. Individualisierung und «Neue Dekore» Die meisten Konsumgüter kamen in den neunziger Jahren ausgereift auf den Markt. In entsprechenden Preislagen waren Konkurrenzprodukte praktisch gleichwertig. Im Kampf gegen die Konkurrenz blieb den ProduzentInnen als letztes Mittel zur Unterscheidung noch das variable Design. Die computergestützten Produktionsmethoden erlaubten es den HerstellerInnen, wie oben schon erwähnt die Oberflächen äusserst schnell und flexibel zu variieren. So konnten sie mit der Individualisierung von Mustern und Details bei gleich-
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Abb. 224: Frogdesign/Harmut Esslinger: Apple Macintosh, 1984. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 363.
Abb. 225: Apple Design Team: Apple eMate 300, 1996. Quelle: Cathrine McDermott, Design A–Z. Designmuseum London, München, 1999, S. 364.
bleibendem technischen Innenleben auf die verschiedenen Geschmackswelten der KundInnen eingehen. Die individuell gestalteten Oberflächen erhielten in der Designgeschichte den Namen «Neue Dekore».1 Die Armbanduhren der Schweizer Firma Swatch wurden 1983 zum populären Vorreiter dieser «Neuen Dekore», so dass man heute von «Swatcherisierung» spricht (Abb. 223).2 Durch ständig neue Dekore von bekannten Designern wie Matteo Thun oder Alessandro Mendini oder mit Motiven von bekannten Künstlern wie Keith Haring oder M. Paladino gelang es, ein Grossserienprodukt scheinbar unendlich zu differenzieren. Alljährlich wurden seit 1983 zwei Kollektionen mit ungefähr dreissig neuen Modellen sowie limitierte Editionen herausgebracht. Inzwischen wurden über 100 Millionen Uhren verkauft. Die «Swatcherisierung» griff in den letzten Jahren auch auf die Mobilfunkhersteller über. Während die Stile der neuen Einfachheit und des RetroLook-Design hauptsächlich mentale Befindlichkeiten verschiedener Schichten, Milieus und Szenen der neunziger Jahre widerspiegelten (vgl. Kapitel 15), wurden die «Neuen Dekore» massgeblich aus den genannten produktionstechnischen und wirtschaftlichen Gründen geschaffen.3 Das Verschwinden der Gegenstände Die digitale Revolution brachte neben allen andern Folgen auch das «Verschwinden der Gegenstände» mit sich.4 Was nach der Miniaturisierung und Mediatisierung der Gegenstände zu gestalten übrig blieb, war ihre Oberfläche. Aus den Dingen wurden Oberflächen oder besser: Benutzeroberflächen. Konnte man die Funktion einer Nähmaschine noch klar erkennen, so war die Organisation eines Mikroprozessors
Abb. 226: Rudy VanderLans: Titelblatt des Magazins «Emigre», 11, 1989. Drei Schichten von Informationen. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 458.
sinnlich nicht erfassbar und auch nicht über die Form mitteilbar. Einer Diskette sieht man ihre Funktion nicht mehr an. Komplexe Funktionsbündel werden latent im Unsichtbaren gestapelt. Sie werden von den BenutzerInnen, die sie aktivieren, in ihrem Ablauf weder kontrolliert noch verstanden. Mit gleicher Hardware können die unterschiedlichsten Funktionen erfüllt werden. Die Digitalisierung und die Miniaturisierung führten zu einer Trennung von Hülle und Funktion, mit andern Worten zu einer Entkoppelung von Form und Funktion. Neue Designaufgabe wurde die Gestaltung der Hüllen und Oberflächen. Das Design musste sie so gestalten, dass Augen und Hände noch Bedeutungen nachvollziehen konnten. Es musste die unsichtbaren Funktionen den BetrachterInnen auf der Hülle sinnfällig vermitteln, um ihnen die Benutzung zu erleichtern, und orientierte sich dabei an vertrauten und anschaulichen Vorgängern, «ein Versuch, die Menschen ‹behutsam› an die neue Technologie zu gewöhnen und eventuelle Hemmschwellen beim Umgang mit elektronischem Gerät niedrig zu halten».5 Die Entkoppelung und der erzwungene «Rückzug» auf die Hülle brachte der Designprofession aber ungewollt neue, bislang unbekannte gestalterische Freiheiten: die freie Formgebung der Gehäuse mit wählbaren Zusätzen und Ornamenten. — 1 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 53. 2 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 171. 3 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 53. 4 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 169. 5 Dagmar Steffen, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 62.
186 16. Digitale Revolution und Design
Meilensteine
Abb. 227: John Hersey: Porträt von Ricky Ricardo «Lucy I'm Home», 1986. Eines der frühesten Beispiele für die Erforschung des Potenzials der digitalen Bildmanipulation. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 459.
Abb. 228: April Greiman: Holografiemodell. Quelle: april greiman, it’s not what you think it is, Zürich, 1994, S. 18.
Das Design landete wieder dort, wo es zu Beginn der Industrialisierung schon einmal gewesen war, als es darauf ankam, den nackten Funktionen der Mechanik das hübsche Kleid der Dekoration überzuziehen.6 Es gelangte aber auch dorthin, wo es als europäisches Design lange nicht sein wollte: zu dem verpönten «Styling», das ja nichts anderes als eine ständige Anpassung der Hülle ist. Obwohl das gegenstands- oder funktionsbezogene Design der digitalen Geräte in vieler Hinsicht obsolet geworden war und dem Design nach Gert Selle nur noch «Formprothesen» zu gestalten übrig blieben7, wurde es nicht überflüssig. Im Gegenteil: Im Interface- und Interaction-Design fand es ein neues Betätigungsfeld. Dort befasst es sich mit einer möglichst benutzerfreundlichen, sich selbst erklärenden Gestaltung von Geräten der Informationstechnologie, der Unterhaltungselektronik sowie von Software-Produkten. In der Sprache des Zeitgeists gestaltet es die «Schnittstelle zwischen Computer und Mensch». Doch in der Realität sind häufig die Programmierer mehr Designer als diejenigen, die sich so nennen. Diese neue Designaufgabe kommentiert Gert Selle so: «Wenn Designer sich bemühen, einen PC benutzerfreundlich zu gestalten oder der Maus Plastizität für die Hand zu applizieren, wirkt das wie der Entwurf eines Rettungsrings: Jemand soll sich beim Übertreten der Grenzen zum Unsichtbaren wenigstens an etwas festhalten können. Tatsächlich wird aber aufgezeigt, wo das Design aufhört. Das bisschen Ding, das da noch zu sehen und zu begreifen ist, wird zum Rest, zur Kulisse, zur Benutzeroberfläche, wie es treffend heisst.»8
Abb. 229: Neville Brody: Innenseite einer Musikplattenhülle für Micro-Phonies (Cabaret Voltaire), 1984. Quelle: The Graphic Language of Neville Brody, München und Luzern, 1988, S. 71.
Digitale Bildherstellung Ab Mitte der achtziger Jahre wuchs die Faszination der GrafikdesignerInnen an dem Potenzial des computerunterstützten Designs. Dies betraf nicht nur den Computer als effizientes Werkzeug, sondern auch als potenten Katalysator für Innovationen. Das Experimentieren mit Computergrafik und die Erforschung der elektronischen Techniken aus dem Blickwinkel des Designs schüttelte die modernen und postmodernen Designideen kräftig durch; Folge war eine noch nie da gewesene Pluralität und Diversifikation im Design. Weil die digitale Bildherstellung nahtlose und unentdeckbare Bildmanipulationen erlaubt, verlor die Fotografie ihren Status als unbestrittene Dokumentation der visuellen Wirklichkeit. Die digitale Revolution kam auf den Tisch der einzelnen DesignerInnen als Resultat von technologischen Anstrengungen vor allem dreier Firmen: Apple Computer entwickelte den Macintosh-Computer (Abb. 224, 225); Adobe Systems erfand die PostScript-Programmiersprache für das Seitenlayout und elektronisch erzeugte Typografie; Aldus publizierte den Pagemaker, eine frühe Softwareapplikation, die PostScript benützte, um Seiten auf dem Bildschirm zu entwerfen. Pioniere des digitalen Grafikdesigns In der Kindheitsphase des digitalen Designs wurden die Enthusiasten und BenutzerInnern von denjenigen, die das Neue strikt ablehnten, als «die neuen Primitiven» verschrien. Zu den ersten «neuen Primitiven» gehörten April Greiman (Los Angeles), Rudy VanderLans (Abb. 226), John Hersey (San Francisco) (Abb. 227) und Zuzana Licko. April Greiman erforschte die visuellen Eigenschaften der bitgeplanten Schrifttypen, das Schichten und Überlappen auf
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Abb. 230: David Carson und Chris Cuffaro: «Morrissey: The Loneliest Monk Ray Gun», 1994. Die ungewöhnlich gestutzte Fotografie und die dekonstruierte Schlagzeile drücken die Romantik und das Geheimnis des Musikers aus. Quelle: Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 462.
dem Bildschirm, die Synthese von Video und Drucksachen und die taktilen Muster und Formen, die durch die neue Technologie möglich wurden (Abb. 228). Neville Brody war Ende der achtziger Jahre der bekannteste britische Grafikdesigner seiner Generation; auch er ein Pionier in der Erforschung der neuen digitalen Möglichkeiten ( Abb. 229). Der US-Amerikaner David Carson (1956*) stiess 1980 zum Design. Er verabscheute alle Raster und konsistente Layoutoder typografische Muster und lehnte die traditionellen Vorstellungen der typografischen Syntax und der visuellen Hierarchien ab. Stattdessen versuchte er, die expressiven Möglichkeiten jedes Themas und jeder Seite zu erforschen. Carsons Textgestaltung stellte oft die fundamentalen Kriterien der Lesbarkeit in Frage (Abb. 230). Ein exemplarisches interaktives CD-ROM-Programm, welches das Hypertext-Konzept auf die Kombination von auditiver, visueller und kinematischer Kommunikation ausdehnte, wurde von MetaDesign San Francisco entwickelt. MetaDesign ist eine Informations- und Grafikdesign-Firma, die vom deutschen Designer Erik Spiekermann (1947*) geleitet wird (Abb. 231). — 6 Gert Selle, Design-Geschichte, S. 292. 7 Ebenda, S. 291. 8 Gert Selle, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 19.
Abb. 231: Bill Hill, Terry Irwin und Jeff Zwerner (MetaDesign, San Francisco): VizAbility Interaktive CD-ROM, 1995. Quelle : Philip Meggs, A History of Graphic Design, New York, 1998, S. 471.
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— Kommentar
«Form follows emotion» digital Das postmoderne Design hatte sich in den achtziger Jahren von der funktionalistischen Gestaltungsdoktrin verabschiedet und an ihre Stelle eine von den Funktionen unabhängige, üppige visuelle Semantisierung der Gegenstände gesetzt. Die Gegenstände bekamen eine neue Funktion als vielfältige Bedeutungsträger. Wolfgang Welsch stellte 2001 in einem Rückblick auf das 20. Jahrhundert fest: «Es brauchte gar keine postmoderne Polemik gegen den puren Funktionalismus und kein postmodernes Plädoyer für geistreiche Arrangements – die technologische Entwicklung hat dies alles von selbst besorgt.»1 Infolge der digitalen Revolution war der alte Leitsatz «form follows function» im Design über weite Strecken untauglich geworden. Die technologische Entwicklung selber entkräftete das seit dem Werkbund bis zur «Guten Form» vorherrschende funktionalistische Paradigma, wonach Funktionsweise und materialgerechte Konstruktion eines Produktes in seiner Form anschaulich und nachvollziehbar zum Ausdruck kommen sollen. Die äussere Form durfte jetzt wieder zufällig sein und durch gestalterische Subjektivität bestimmt werden. Der neue Leitsatz hiess nun: «form follows emotion».2 Die postmoderne gestalterische Intention und die Auswirkungen der digitalen Revolution waren also nicht nur zwei parallel verlaufende, sondern auch zwei kongruente Prozesse. Der erste widerspiegelte den zweiten. Und es gab noch eine historische Parallele: Die Digitalisierung verunsicherte die ZeitgenossInnen im ausgehenden 20. Jahrhundert und führte zu einer technologischen «Trivialisierung» des Designs. Beides begünstigte im Sinn einer Reaktion die Annäherung von Design und Kunst im kunstgewerblich orien-
tierten Autorendesign der achtziger und neunziger Jahre (Artist-Design). Die fortschreitende Mechanisierung im 19. Jahrhundert hatte die ZeitgenossInnen ebenfalls beunruhigt und zu einer «Verwüstung» der neuen industriell gefertigten Gegenstände geführt. Als Reaktion hatte die kunsthandwerkliche Renaissance der Reformbewegungen stattgefunden, in der Kunst und künstlerischer Entwurf in den Vordergrund gerückt wurden (Artist-Design). Damit wären wir wieder am Anfang unserer Designgeschichte angelangt (vgl. Kapitel 1, 2). Neue Leittechnologien und ihre Auswirkung auf das Design Die Umbruchphasen, welche der moderne Kapitalismus durchlief, waren durchwegs mit dem Aufkommen und der Nutzung von neuen Leittechnologien verbunden. Und die technologischen Innovationsschübe hatten in der Regel auch für das Design entscheidende Folgen. — Auf die Mechanisierung des Maschinenbaus in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts folgte eine grosse Ausdehnung der Entwurfstätigkeit im Produktbereich und durch die maschinelle Mechanisierung des Drucksektors eine gigantische Eröffnung von neuen Tätigkeiten im grafischen Sektor. — Die «Taylorisierung » der kapitalistischen Produktion in den USA – die Systematisierung und Verwissenschaftlichung und die partielle Automatisierung der Produktionsorganisation in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – eröffnete neue Möglichkeiten der Massenproduktion und hatte eine bis dato ungeahnte Aktivierung des Produktdesigns zur Folge. — Und ebenso revolutionierte in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in der bisher letzten Umbruchphase, die Mikroprozessualisierung (abgesehen von der weltweiten Vernetzung und Echtzeitkommunikation) verschiedenste Produktions- und Arbeitsprozesse. Davon waren mit den computergestützten Produktionsmöglichkeiten wiederum das Industrie- und das Grafikdesign entscheidend betroffen. — 1 Wolfgang Welsch, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 25. 2 Peter Wippermann, Emotional Design, Titel des Referats anlässlich der DGTF-Tagung «Wie viel Theorie verträgt/braucht die Profession?», Hamburg, 30., 31.1. 2004.
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17. DESIGN – BEGRIFFE
Die Geschichte des Designbegriffs Das Wort Design erfährt heute eine modisch-inflationäre Verwendung. Es ist zu einem Passepartout mit einem scheinbar beliebig erweiterbaren Bedeutungsvokabular geworden. Das trifft zumindest teilweise auch auf den fachsprachlichen Kontext zu. Der Beruf der Designerin und des Designers ist nicht geschützt. Jede und jeder, die und der etwas entwirft, kann sich Designerin oder Designer nennen. Dabei erfreut sich der Begriff einer langen Geschichte: Das Wort «Design» kommt sprachgeschichtlich aus dem italienischen «disegno». In der Renaissance meinte der Begriff «disegno interno» das Konzept eines auszuführenden Kunstwerks, den Entwurf, die Zeichnung und ganz allgemein die einer Arbeit zugrunde liegende Idee. «Disegno esterno» bedeutet dagegen das ausgeführte Werk. Im Oxford English Dictionary aus dem Jahr 1588 wird zum ersten Mal «Design» erwähnt und als ein von einem Menschen erdachter Plan oder ein Schema von etwas beschrieben, das realisiert werden soll, ferner als ein erster zeichnerischer Entwurf für ein Kunstwerk (oder) ein Objekt der angewandten Kunst, der für die Ausführung eines Werkes verbindlich sein soll.1 Schon hier fällt die Zweiteilung des Begriffs in Prozess und Ergebnis auf. Im 19. Jahrhundert, mit dem Beginn der Gestaltung von Industrieprodukten, entzündeten sich im deutschsprachigen Raum immer wieder Diskussionen um die Begrifflichkeit dieses neuen Phänomens, die bis in die jüngste Vergangenheit andauerten. Meistens ging es dabei um die Abgrenzung gegenüber der Kunst einerseits und dem Handwerk oder Kunsthandwerk anderseits. Vorgeschlagen wurden Begriffe wie — 1 Bernhard Bürdek, Design, S. 16.
196 17. Design – Begriffe
«technische Künste» (Gottfried Semper) oder «industrielle Künste». Nach 1865 kamen in der Fachliteratur die Begriffe«Kunstgewerbe» «Kunsthandwerk» und «Kunstindustrie» auf. Mit «Werkkunst», «angewandter Kunst» und «dekorativer Kunst» versuchte das fortschrittliche Kunstgewerbe seine Arbeiten zu positionieren. Im 20. Jahrhundert drang der Begriff «Design» in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Schweiz sogar erst in den sechziger Jahren aus dem Angloamerikanischen in den Sprachgebrauch ein. Lange zuvor war er im deutschsprachigen Raum und vor allem in Werkbundkreisen als Styling, als kosmetische marketingbasierte Massnahme verpönt. Man behalf sich mit «industrieller Formgebung» oder mit «Industrie-Entwurf» oder «Industrie-Formgestaltung» oder schlicht mit «Gestaltung». In den siebziger Jahren setzte sich «Design» auch im deutschsprachigen Raum endgültig durch. Es waren die international beachteten Designergruppen wie Alchimia und Memphis, die den Begriff als gebräuchliches Wort für Produktgestaltung bekannt machten. Im französischen Sprachraum hiessen und heissen die Disziplinen der Gestaltung von Alltagsgegenständen «arts décoratifs» und der Beruf des Gestalters «dessinateur». Aber auch hier setzte sich allmählich das englische Wort «Design» durch. Mit der rasanten Zunahme der visuellen Kommunikation wurde der Begriff in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stillschweigend auch auf Entwurf und Fertigung grafischer Produkte ausgeweitet, also auf die frühere Gebrauchs- oder Reklamegrafik (vgl. den Abschnitt «Grafikdesign»). Heute ist man in Fachkreisen über den inflationären Gebrauch des Begriffs unglücklich. Um vor allem von der herrschenden Verengung auf die reine Objektbezeichnung wegzukommen, schlägt zum Beispiel Gui Bonsiepe für den deutschen Sprachgebrauch «Entwerfen» und «EntwerferIn» vor. Für das Französische brachte Alain Findeli die Begriffe «projet» und «projecteur» in die Diskussion.2 Design-Definitionen Eine einheitliche und präzise Definition ist heute nicht möglich, was mit folgenden Umständen zusammenhängt: 1. Das Wort Design hat wie gezeigt eine grosse Entwicklungsgeschichte; seine Bedeutung hat sich von der Renaissance bis in die Gegenwart verändert. 2. Der Anwendungsbereich des Designs wurde seit den Anfängen laufend erweitert. Waren es früher nur die Formen greifbarer Dinge, so sind es heute Computerprogramme, Abläufe, Organisationsformen und Dienst-
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leistungen, Erscheinungsformen von Firmen (Corporate Design) oder Personen, die es zu gestalten gilt. 3. Design bezeichnet verschiedene Sachverhalte: Es kann auf einen Vorgang verweisen (den Akt oder die Tätigkeit des Entwerfens), auf das Ergebnis dieses Vorgangs (ein Design, eine Skizze, ein Plan oder Modell) oder auf Produkte, die mit Hilfe eines Designs hergestellt wurden (Designobjekte). Ferner können Abläufe mit Hilfe eines Designs sinnvoll kenntlich gemacht werden (Signaletik usw.), oder es kann das Aussehen oder den Gesamtentwurf eines Produkts bezeichnen (das Design eines Kleides usw.). Design ist Orientierung: ein Definitionsversuch 1. «Alle Menschen sind DesignerInnen. Alles, was wir tun, beruht zumeist auf Design, denn es bildet die Grundlage menschlichen Schaffens. Die Planung und Ausrichtung jeder Tätigkeit auf ein gewünschtes, vorhersehbares Ziel stiftet den Designvorgang.»3 Design ist (wie die Sprache) «ein Grundmodus des menschlichen Handelns».4 2. Design formt Objekte. Design übersetzt die Funktionen pragmatischer, semantischer, affektiver Art eines Gebrauchsgegenstands in einer kongenialen Interpretation so in Zeichen, dass diese von den BenutzerInnen verstanden werden. Ziel des Designs ist es, einen Gegenstand «sichtbar» und «lesbar» zu machen, so dass Kommunikation möglich wird. Design ist Transformation. Design verhilft Gegenständen und Bildern zu nachhaltiger Wirkung auf die RezipientInnen. Design hat Deutungsmacht. 3. Design formt Botschaften. Design schafft visuelle Übereinkunft im Handlungsprozess zwischen individuellen und kollektiven menschlichen AkteurInnen, so dass Kommunikation möglich wird. Design ist Orientierung.5 Fazit: Design ist die planvoll-kreative Visualisierung der Handlungsprozesse und Botschaften von verschiedenen gesellschaftlichen AkteurInnen und die planvoll-kreative Visualisierung der verschiedenen Funktionen von Gebrauchsgegenständen und ihre Ausrichtung auf die Bedürfnisse der BenutzerInnen oder auf die Wirkung bei den RezipientInnen. — 2 Gui Bonsiepe und Alain Findeli am ersten Design-Forschungssymposium Swiss Design Network (SDN) vom 13.5.04 in Basel, Zürich 2005 (www.swissdesign-network.org). 3 V. Papanek, zitiert aus: John Walker, Designgeschichte, S. 44. 4 Cordula Meier, Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt a.M., 2003, S. 12. 5 Ebenda.
198 17. Design – Begriffe
Funktionen des Designs Prinzipiell kann jeder Gegenstand aus vielfältigen Gründen für einen Menschen bedeutungsvoll sein. Das Design industrieller Gebrauchsgegenstände kann deshalb seit jeher verschiedene Funktionen erfüllen. Es bedient nicht nur praktisch-technische, sondern ein ganzes Bündel von ästhetischen und symbolischen Funktionen. «Neue Produkte beispielsweise sollen zu vertrauten passen und sich dem Lebensstil der Benutzer einfügen. Mit Hilfe der Dinge wird Ordnung geschaffen, sie verbessern den Gebrauchsnutzen und ermöglichen die Identifikation mit sozialen Milieus und gesellschaftlichen Idealen.»6 Praktisch-technische Funktionen Sie bezeichnen Handhabbarkeit, Haltbarkeit, Zuverlässigkeit, Sicherheit, technische Qualität, Ergonomie und den ökologischen Wert. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind mit «funktional» die praktischtechnischen Funktionen gemeint.7 Diese sind rational und relativ präzise benenn- und bewertbar. Ästhetische Funktionen Solche Funktionen sind Form, Farbe, Material und die Oberfläche, welche die Gestalt eines Gebrauchsgegenstands ausmachen. Sie sind die «Zeichen», welche einen Gebrauchsgegenstand «lesbar» machen, und geben visuelle Hinweise auf den Gebrauch. Gefällt der Benutzerin oder dem Benutzer eines dieser Zeichen nicht, so hat ein noch so praktischer Gebrauchsgegenstand kaum eine Chance. Die ästhetischen Funktionen sind emotional und subjektiv, also vom Geschmack der BenutzerInnen abhängig. Dieser wiederum ist durch verschiedene Faktoren bestimmt: durch die ästhetischen Vorlieben, die soziale Schicht und die Kulturalisation, die Nationalität, das Geschlecht, das Alter und die Gewöhnung (vgl. Kapitel 20).8 Ästhetische Funktionen bieten situativ einen breiten Interpretationsspielraum. Sie sind deshalb nicht präzise benenn- und bewertbar. Symbolische Funktionen Die verschlüsselten Bedeutungen eines Gebrauchsgegenstands, die von der Besitzerin oder dem Besitzer an die Mitmenschen weitergegeben werden, nennt man symbolische Funktionen. «Durch die Wahl seines
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Besitzes oder auch dadurch, welche Dinge er nicht besitzt, gibt der Mensch (vor allem in den Konsumgesellschaften, B.S.) anderen Menschen fortwährend Zeichen, die diese entschlüsseln. Auf der kulturellen Ebene verschreibt er sich bestimmten Traditionen und Ritualen (z. B. Art des Essens und Tischsitten). Auf sozialer Ebene geht es um Gruppenzugehörigkeit und um Status und auf individueller Ebene um die Gefühlsbindung an Objekte.»9 Design gibt als Produktsprache über verschiedenste Lebensstile und -auffassungen Auskunft. Produktgestaltung kann so zum Zeichen eines Lebensgefühls werden, dem sein Besitzer oder seine Besitzerin Ausdruck verleiht und das von den Mitmenschen entsprechend wahrgenommen und interpretiert wird. Indem Produkte für Lebensstile und deren Abgrenzungen stehen oder identitätsstiftend sein können, sind sie zu Konsumartikeln mit kulturellem Mehrwert geworden. Durch den Ausdruck kollektiver Werte ermöglichen sie nicht nur soziale Integration, sondern auch Differenzierungen und Klassifikationen. Symbolische Funktionen sind benenn- und analysierbar, wobei je nach Fall von der genauen Situation des Besitzers oder der Besitzerin eines Gebrauchsgegenstands ausgegangen werden muss. Die symbolische Funktion eines Gegenstands für ein Subjekt kann je nach individuellem Hintergrund grundverschieden sein. Bei einer genauen Bewertung eines Gebrauchsgegenstands muss man sich vergegenwärtigen, dass der weitaus grössere Funktionsanteil nicht der praktisch-technische, sondern der ästhetische und symbolische ist.10 In der Geschichte des Designs wurde im 20. Jahrhundert bis in die achtziger Jahre mit der «Funktion» eines Gebrauchsgegenstands fast ausschliesslich Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit, Sicherheit und technisches Funktionieren gemeint. In den sechziger und siebziger Jahren wurde dieser einseitige «Funktionalismus», der sich um die symbolische Funktion kaum Gedanken machte, radikal in Frage gestellt (vgl. Kapitel 12). — 6 Marion Godau, Produktdesign, Basel, 2003, S. 20. 7 Ebenda, S. 22 und 29. 8 Ebenda, S. 25. 9 Ebenda, S. 26f. 10 Ebenda, S. 29.
200 17. Design – Begriffe
Einzelne Begriffe Autorendesign Nachdem die Ära des funktionalistischen Designs in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorläufig beendet worden war, ging der Trend zum so genannten Autorendesign. Es sei daran erinnert, dass zum Beispiel die Ulmer FunktionalistInnen bewusst darauf verzichteten, ihre Arbeiten zu signieren, um sich so von den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs abzugrenzen. Nun, da im postmodernen «Neuen Design» Design und Kunst sich annäherten, trat die künstlerische Gestaltungsauffassung wieder in den Vordergrund. Für sie machten «Individualität, Subjektivität, eine prägnante, wieder erkennbare gestalterische Handschrift und bekannte Namen das Salz der Suppe aus.»11 Dieser Trend widerspiegelte das gesellschaftliche Phänomen des massenkulturellen «Zwangs» zum Individualismus. Der Autorenkult im Design ist komplementär zur gesellschaftlichen Individualisierung – ein Trend, der durch die digitale Revolution in den Achtzigern und Neunzigern verstärkt wurde. Die digitale Revolution führte zu einer technologischen Trivialisierung des Designs, was zur Folge hatte, dass viele DesignerInnen künstlerische Exklusivität anstrebten. Nun liessen sich immer mehr Designer als Künstler und medienpräsente Stars feiern. Das Kunst-Design erlaubte es vielen Designern – es waren fast ausschliesslich Männer – , sich als Künstler zu gebärden. In der Marketing-Sprache bedeutet Autorendesign, dass der Entwerfer oder die Entwerferin bei der Vermarktung eines Produkts «brandbildend» ist: Sie oder er spielen mit anderen Worten bei der Bildung eines Markennamens (engl. «brand») eine entscheidende Rolle. Die signierte Entwurfsleistung fungiert als Promotionsträger. Dabei sind heute für das so genannte Namedropping (die Implementierung eines Brands auf dem Markt) Trend-Accessoire-Firmen wie Alessi in Italien, Authentics in Deutschland oder Wireworks in Grossbritannien von grosser Bedeutung. In der Schweiz fehlt die Grundlage für eine Namedroppingkultur im grossen Stil (Gegenteil von Autorendesign: anonymes Design). Briefing Der Hersteller schickt Informationen an die Designerin oder den Designer, die alle wichtigen Vorgaben enthalten, zum Beispiel Produktbeschreibung und Funktion, Material, Farbe oder Zeitplan.
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Consultant Designer In Italien wurde in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein neuer Beruf geschaffen: eine selbständig arbeitende Person (DesignerIn), die eine Firma oder eine Institution in Designfragen berät. Corporate Design Das Corporate Design hat die Aufgabe, dem Kunden – meist Firmen und immer mehr auch öffentlichen Körperschaften – zu einer «Corporate Identity» zu verhelfen. Unter «Corporate Identity» – einem Begriff aus der Marketingsprache, für den bis heute eine schlüssige Theorie fehlt – versteht man die «Persönlichkeit», Philosophie oder Identität eines Unternehmens. Das Corporate Design gestaltet das einheitliche Erscheinungsbild einer Firma nach innen und aussen zur klaren Identifikation des Unternehmens und zur Abgrenzung gegen die Konkurrenz. Es umfasst die Gestaltung aller Produkte, Gebäude und Kommunikationsmittel (z.B. die Firmenzeitschrift, Werbung, Briefpapier, Software usw.). Ein verwandter Begriff ist der der Corporate Culture (CC), welcher die Bestrebungen eines Unternehmens bezeichnet, sich ein anspruchsvolles kulturelles Image zu geben, etwa durch Sponsoring oder besondere kulturelle und soziale Leistungen (vgl. Kapitel 18). Design in der Dritten Welt Gui Bonsiepe schlug aus seinen Erfahrungen in Lateinamerika 1986 vor, von zwei Arten des Designs zu sprechen, die kaum etwas miteinander zu tun haben: vom «Design für die Metropolen» und vom «Design für die Peripherie».12 Im «Design für die Peripherie» sollten nach Bonsiepe folgende Ziele erreicht werden (vgl. Kapitel 21): — Steigerung der Gebrauchsqualität von Industrieprodukten; — Verbesserung der visuellen oder ästhetischen Qualität von Waren; — Förderung der Industrialisierung in Ländern der Dritten Welt; — Steigerung der Produktivität; — Steigerung des Verkaufsvolumens, also des Umsatzes einer Firma; — Verbesserung der Umweltqualität, soweit diese durch Gegenstände bestimmt wird. — 11 Dagmar Steffen, zitiert aus: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Design, S. 54. 12 Bernhard Bürdek, Design, S. 17.
202 17. Design – Begriffe
Designmanagement Dies ist der Bereich der Produktplanung, die sich auf organisatorische, betriebswirtschaftliche, juristische und marktorientierte Fragen konzentriert. Bei komplexen, interdisziplinären Designprojekten bedarf es eines Projektmanagements. Display-Design (vgl. den Abschnitt «Verpackungsdesign») documenta Sie ist seit 1955 die wichtigste Ausstellung internationaler zeitgenössischer Kunst in Kassel (Deutschland). Auf der documenta 8 (1987) wurden zum ersten Mal Designobjekte ausgestellt. Ergonomie Seit sich der Kapitalismus im 19. Jahrhundert als gesellschaftliches System durchgesetzt hat, gibt es die Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise in Form der gewerkschaftlichen und politischen ArbeiterInnenbewegung. Der Ruf nach «humaneren und körpergerechteren» Arbeitsprozessen und Arbeitsplätzen gehört dazu. Er wird nicht nur von ArbeiterInnenseite, sondern zum Teil auch von UnternehmerInnenseite laut. Auf der UnternehmerInnenseite steht dabei die Sorge um die Leistungsfähigkeit der ArbeiterInnen im Vordergrund, also die Steigerung der Produktivität des investierten Kapitals. Mit der Gestaltung der Arbeitsprozesse hat auch das Industriedesign direkt zu tun. Ergonomie, die heute ein wesentliches Kriterium des Industriedesigns ist, beschäftigt sich als Teilbereich der Arbeitswissenschaften mit der Anpassung der Arbeit an den Menschen. Sie bedient sich der Erkenntnisse aus Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie. Environmental Design Der Begriff bezeichnet die Gestaltung der alltäglichen Umwelt (Wohn- und Arbeitsbereich), des Stadtbilds, der Verkehrswege und Landschaft (auch Umwelt-Design). Event Design Die Gestaltung von grossen Ereignissen, «Events», von nationalen Veranstaltungen, nationalen und internationale Schauen usw. nennt man Event Design.
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Funktionalismus Dies ist die Stilrichtung in Architektur und Design, welche die praktisch-technische Funktion zum alleinigen Kriterium der Gestaltung erhebt («form follows function», L. Sullivan). Dinge sollten so gestaltet sein, dass sie den Anforderungen von Praktikabilität, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit genügen. Die funktionale Produktgestaltung (vor allem im Bauhaus und an der Ulmer Hochschule für Gestaltung) war gebrauchswertorientiert. Sie war eine Methode der Optimierung von Gebrauchswerten. Der Gebrauchswert eines bestimmten Gegenstandes bestimmt sich aus funktionalistischer Sicht einzig aus dessen Nützlichkeit für den Gebraucher oder die Gebraucherin, und die Nützlichkeit ist nur durch die Eigenschaften des Gegenstandes bedingt. Andere Werte als die so verstandene Nützlichkeit gibt es für den historischen Funktionalismus nicht! Der Funktionalismus wurde von seinen Urhebern zur Überwindung der (klassenkonnotierten) Stile ins Leben gerufen. Trotzdem hatte er seine eigene Symbolsprache, auf die seine EmpfängerInnen reagierten. Der Funktionalismus wurde ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Postmoderne radikal in Frage gestellt. In den Neunzigern fand die funktionalistische Tradition jedoch eine Fortsetzung. Grafikdesign Es umfasst traditionell den Entwurf und die Ausführung zweidimensionaler grafischer Oberflächen (Plakat, Buch, Werbeanzeigen usw.). Grafikdesign hat eine ältere Tradition als das Industriedesign, das erst im Industrialisierungsprozess entstanden ist (vgl. den Abschnitt «Grafikdesign und Produktdesign»). Seit der Medienrevolution Ende des 20. Jahrhunderts und der Gestaltung mit elektronischen Medien ist der Begriff in den Hintergrund getreten. An seiner Stelle werden die allgemeineren Begriffe «visuelle Kommunikation» oder «Kommunikationsdesign» verwendet. Grafikdesign und Produktdesign Die Trennung zwischen Grafik- und Produktdesign ist historisch seit dem 19. Jahrhundert gewachsen. Heute ist sie in Lehre und Praxis fraglich. «Eine Abgrenzung zwischen Produktdesign und visueller Kommunikation (vormals Grafikdesign), also die Zäsur zwischen der zweiten und der dritten Dimension, ist heute inhaltlich nicht mehr haltbar. Um sich an gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen wie der Gestaltung von Software beteiligen zu können, darf es diese Abgrenzung nicht mehr geben.
204 17. Design – Begriffe
Viele Hochschulen behindern sich mit ihrer traditionellen Gliederung in Fachgebiete (…) Sie erschweren so – nein, sie verhindern damit ein Studium, das zur Berufstätigkeit führt.» (Harald Hullmann)13 Ideologie In seiner kritischen Bedeutung denunziert dieser Begriff ein Bewusstsein, das seine gesellschaftliche Bedingtheit und seine Geschichtlichkeit verleugnet. Indem sich das Bewusstsein gegenüber den real vorhandenen Interessen und Wirkfaktoren verselbständigt, kann es sich einbilden, unbedingt und absolut zu sein. Tatsächlich nimmt es aber die Interessen, von denen es geleitet wird, nur nicht zur Kenntnis. So ist es die Aufgabe der Ideologiekritik, die unbewussten und unter dem Schein der Objektivität verborgenen Interessen aufzudecken und darzustellen. Die ideologische Komponente des Designs besteht in der Verleugnung der wirtschaftlichen Interessen und in der Verbrämung derselben mit erhabenen künstlerisch-ästhetischen oder benutzerorientierten Absichten. Die Frage nach dem Interesse hinter der realen Produktion bleibt ausgeklammert. Industriedesign – Industrial Design Industriedesign, das auch Produktdesign genannt wird, ist der komplexe, hierarchisch gegliederte Prozess der innerbetrieblichen, organisatorisch-gestalterischen Produktentwicklung von der Planung über den Entwurf bis zur Herstellungsreife.14 Es umfasst nicht nur die schöne Welt der Konsumgüter, sondern ebenso die Instrumente der medizinischen Technik sowie die Mordwaffen (Gewehre, Panzer, Raketen usw.). Interface- und Interaction-Design Das Ziel ist, eine für den Benutzer oder die Benutzerin möglichst einfache, sich selbst erklärende Gestaltung von Geräten der Unterhaltungselektronik, der Informationstechnologie sowie der Software-Produkte zu erreichen. Interior Design Der Begriff bezeichnet die Gestaltung von Innenräumen im Sinne des deutschen Begriffs Innenarchitektur.
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Kommunikationsdesign Der Begriff bezeichnet die visuelle Gestaltung sämtlicher Kommunikationsprozesse. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr das Kommunikationsdesign durch die Entwicklung der Informations- und Computertechnologie eine steigende Bedeutung, die im 21. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich weiter wachsen wird: Die Gestaltung der Software, die Schnittstelle Maschine-Mensch und nicht mehr so sehr die Hardware wird im Mittelpunkt des Designinteresses stehen (vgl. die Abschnitte «Visuelle Kommunikation» und «Grafikdesign»). Kontext Einbezug des Kontexts heisst, bei Designobjekten das Umfeld zu analysieren, in dem sie entstanden sind (1) und für das sie bestimmt sind (2). 1. Für den Entstehungskontext gibt die Sozialgeschichte der DesignerInnen und die Geschichte des Auftrags Aufschluss. 2. Beim Bestimmungskontext geht es vor allem um die Funktionen der Designobjekte (die praktisch-technischen, ästhetischen und symbolischen Funktionen). Gefragt wird, ob die Objekte ihre Funktionen zum Beispiel im alltäglichen Kontext (Gebrauchsobjekte) oder im religiös-rituellen Kontext (religiöse und Ritualgegenstände) oder im rein ästhetischen Kontext (Museumsausstellungsobjekte) erfüllen. Dabei ist von der Erkenntnis auszugehen, dass Designobjekte auch auf formaler Ebene die jeweiligen gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsformen widerspiegeln. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass der Entwurf von Designobjekten sowohl gesellschaftliche Praxis als auch Reflexion dieser gesellschaftlichen Praxis ist. Denn gesellschaftliche Praxis ist von zwei grundlegenden, nämlich den materiellen (a) und den ideologischen (b) Verhältnissen bestimmt. a Materielle Verhältnisse sind vor allem die Produktionsverhältnisse. Design ist eine Form von materieller Arbeit. Es verwendet Techniken und Technologien (entsprechend dem Produktionsstandard der jeweiligen Gesellschaft), und es ist an eine Arbeitsorganisation gebunden. b Ideologische Verhältnisse meinen die Ideen und das gesellschaftliche Bewusstsein, welche die Produktionsverhältnisse reflektieren. Design ist eine Modifikation des gesellschaftlichen Bewusstseins. Es reproduziert und interpretiert in visueller Form die soziale Wirklichkeit, — 13 Harald Hullmann, zitiert aus: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 185. 14 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 27.
206 17. Design – Begriffe
also die Beziehungen, welche die Menschen zueinander und zur Natur eingehen. Ästhetische Formen haben mit andern Worten einen weltanschaulichen Gehalt, sie drücken direkt oder indirekt wirtschaftliche Interessen, Klasseninteressen und Bewertungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Kontextualisierung des Designs Kontextualisierung bedeutet, beim Entwurf neben den praktisch-technischen, ästhetischen und symbolischen Funktionen von Anfang an auch den gesellschaftlichen und politischen Kontext zu berücksichtigen. Design nimmt so seine gesellschaftliche und politische Funktion und Verantwortung wahr. Kreativität In der Fachsprache der DesignerInnen ist dies eine instrumentelle, jederzeit verfügbare Fähigkeit zur Entwicklung von Einfällen für neue Produktvarianten im gegebenen Produktionsrahmen, die den Produktions- und Konsummechanismus in Gang halten.15 Kunstgewerbe Kunstgewerbe ist ein Sammelbegriff für vorwiegend handwerklich hergestellte Gebrauchs- und Ziergegenstände mit ausgeprägt künstlerischer Formgebung: Glaskunst, Goldschmiedekunst, Keramik, Mobiliar, Schnitzerei, Textilkunst usw. Zweck- und Kunstcharakter sind eng miteinander verbunden. Meist sind entwerfende und ausführende Person identisch. Die Übergänge zu verschiedenen Disziplinen des Designs sind oft fliessend (vor allem im Bereich Mobiliar oder Textilkunst). Doch liegt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal darin, dass sich das Design (besonders das Industriedesign) mit dem Entwurf und der Planung von standardisierten Massenprodukten beschäftigt, wobei das für das postmoderne Design nur bedingt zutrifft (vgl. Kapitel 13). Logo Der Begriff heisst vollständig Logogramm und bezeichnet ein Bildzeichen, das als Erkennungssymbol einer Firma oder Institution fungiert. Es kann rein grafisch (die Muschel der Firma Shell) oder als Schriftzug (Firma Olivetti oder Firma Braun) oder als Kombination von beiden (Lufthansa) gestaltet sein.
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Ökologisches Design oder Ökodesign Der ständige Wandel von Trends und Moden und das beschleunigte Kommen und Gehen von Produkten hat zwar positive Folgen für das wirtschaftliche Wachstum und für die Nachfrage nach Design, ist aber gleichzeitig bedenklich für die Ökologie. DesignerInnen steuern durch ihre Gestaltung zur Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen bei. Das ökologische Design versucht, dieser Tatsache entgegenzusteuern. Ökologische Überlegungen im Design lassen sich bis in die frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, sie standen allerdings lange Jahre unter heftiger Kritik. Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfreuen sich die Forderungen des Ökodesigns vor dem Hintergrund einer rasch fortschreitenden, globalen Umweltverschmutzung allgemeiner Akzeptanz. Es konzentriert sich vornehmlich auf die Umweltverträglichkeit seiner Produkte und begnügt sich nicht mehr mit althergebrachter Alternativ-Ästhetik («Jute statt Plastik»). Die umweltgerechten Intentionen des Ökodesigns richten sich auf einen energiesparenden, möglichst schadstoffarmen Herstellungsprozess, wobei umweltfreundliche Materialien Verwendung finden. Es entwirft im Hightech-Bereich komplexe Produkte, die langlebig und recycelbar und auf einem anspruchsvollen und individuellen ästhetischen Niveau sind. Auch ein möglichst rückstandsfreies Recyclingverfahren der alten, ausgedienten Produkte gehört zu den grundsätzlichen Forderungen der ÖkodesignerInnen. Die Frage bleibt, ob die Forderungen des Ökodesigns heute entsprechend umgesetzt werden.16 Ornament Die Verzierung von Bauwerken und Gegenständen des täglichen Gebrauchs ist einer der handwerklichen Vorläufer des Designs (das im engeren Sinn eine Erscheinung der Industrialisierung ist). Das Ornament gibt es seit dem Jungpaläolithikum, und es gehört zu den ersten Formen ästhetischen Gestaltens und der visuellen Kommunikation. Kennzeichnend ist die Abstraktheit der Ornamente. Die Vielfalt der Motive – meist aus der Natur – wird auf abstrakte Schemata reduziert (Linie, Kreis, Spirale, Mäander) oder zu prägnanten Formen stilisiert. Das Ornament hat eine dienende Rolle. Es ordnet sich der Struktur — 15 Gert Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 36. 16 Thomas Heider et al., Lexikon Internationales Design. Designer, Produkte, Firmen, Hamburg, 1994, S. 244.
208 17. Design – Begriffe
oder der Funktion seines Trägers unter (eingemeisselt, aufgelegt, aufgemalt, aufgedruckt, eingestickt, eingeschnitzt, eingelegt). Es akzentuiert auch die ästhetische Wirkung seines Trägers, indem es Flächen gliedert und belebt oder praktische Zwecke verdeutlicht. Im 19. Jahrhundert wurde das Ornament zunehmend zum Zeichen für einen falschen gesellschaftlichen Anspruch und Geschmacklosigkeit. Im 20. Jahrhundert fand eine rege Auseinandersetzung um den Begriff statt. Die funktionalistische Moderne verdrängte das Ornament («Ornament ist Verbrechen», A. Loos). Es wurde bemängelt, das moderne Design habe nur auf das Ornament als «aufgepapptes» Schmuckmotiv verzichtet, die Gesamtform als Ganzes könne aber durchaus ein Ornament sein. So stelle zum Beispiel der Weissenhof-Stuhl von Mies van der Rohe von 1927 als Ganzes eine formale Arabeske, eben ein Ornament. dar.17 Th. W. Adorno und andere wiesen darauf hin, dass mit dem Verzicht auf Ornamente ein Verlust von Menschlichkeit einhergehe.18 Produktdesign (vgl. den Abschnitt «Industriedesign») Produktsprache Der englische Begriff lautet «product semantics». «Der spezielle Erkenntnisgegenstand der Designtheorie und somit auch der praktischen Tätigkeit der DesignerInnen – ist die Produktsprache. Darunter werden diejenigen Mensch/Produkt-Beziehungen verstanden, die über die Sinne vermittelt werden (…) Diese Definition hat sich in den vergangenen Jahren als eine sinnvolle Basis erwiesen, um Design zu praktizieren und darüber zu sprechen.» (B. Bürdek)19 Prototyp Die erste Ausführung eines Produkts, die zur praktischen Erprobung und Weiterentwicklung angefertigt wird, wird «Prototyp» genannt. Im «Neuen Design» – Stichwort: Abkoppelung von der Serienproduktion – wurde der Begriff auch für die Ergebnisse der Einzelanfertigung (Unikate) verwendet. Recycling-Design Design unter Wiederverwendung gebrauchter Materialien wie Kunststoff, Blech, Papier, Leder usw. Es spielt in der Dritten Welt eine Rolle (vgl. Kapitel 21).
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Re-Design Der Begriff bezeichnet die Überarbeitung oder Neugestaltung alter Designprodukte. Ein frühes, aber prominentes Beispiel: In den späten zwanziger und frühen dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts veränderte Raymond Loewy in den USA mit der neuen Methode des Styling das Design von Autos, um so den stockenden Absatz wieder anzukurbeln. Auch im Studio Alchimia erreichte das Re-Design Bedeutung (vgl. Kapitel 13). Reeditionen Reeditionen sind originalgetreue Wiederauflagen von Gegenständen vor allem aus den zwanziger und sechziger Jahren. Retro-Look-Design Im Gegensatz zu den Reeditionen ist dies eine aktuelle Neuinterpretation von historischen Gestaltungsmerkmalen. Die Produkte erinnern an ihre Vorgänger, doch gleichzeitig lässt ihre Produktsprache keinen Zweifel aufkommen, dass sie aus der jeweiligen Gegenwart stammen. Zeichenhaft wird auf Vergangenes und Gegenwärtiges verwiesen. Prominente Beispiele im Automobildesign: «New Beetle» von Volkswagen (1998) oder «Mini» von BMW (Abb. 221 a, b). Servicedesign Dies ist der neuste Bereich im Design. Designagenturen bieten einen umfassenden Service an, der vor allem im Dienstleistungs- und Freizeitbereich neben den Produkten auch die Gestaltung von Organisations- und Umgangsformen umfasst. Stromlinienform Die tropfenförmige Idealform eines Gegenstands hat den kleinstmöglichen Windwiderstand (engl.: «streamline»). Sie ist das Ergebnis der Strömungsforschung im Flugzeug- und Automobilbau seit dem Ersten Weltkrieg und wird seit den dreissiger Jahren zum Styling von diversen Produkten eingesetzt. Die Stromlinienform ist zum Symbol für Dynamik, Optimismus und Fortschrittsglauben geworden und wurde in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in allen Industrienationen verwendet. — 17 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 24. 18 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 183f. 19 Bernhard Bürdek, Design, S. 15.
210 17. Design – Begriffe
Styling Styling nannte man im amerikanischen Design die formale Überarbeitung und Neugestaltung der Produkte unter rein ästhetischen und marketingorientierten Aspekten, um ihnen einen höheren Kaufanreiz zu bieten (Marketingfaktor). Der Begriff entstand 1929 nach der Wirtschaftskrise, als die Industrie den Konsum wieder ankurbeln wollte. Table Top Design Sammelbezeichnung für Tischschmuck und Tischgerätschaften jeder Art: Vasen, Tischlampen, Aschenbecher, Schalen, Porzellan usw. Verpackungsdesign Geschlossen verpackte Nahrungsmittel, welche die KonsumentInnen in Form von Dosen, Bechern, Flaschen, Kartons, Tuben, Beuteln, Schachteln, Gläsern oder eingeschweissten Folien und Schalen erwerben, gehören heute zu den allgemein gebräuchlichen und vertrauten Dingen in der menschlichen Umgebung. Packungen gestalten den sozialen Umgang mit Nahrungsmitteln, beim Einkaufen, bei der Vorratshaltung und beim Verzehr.20 Visuelle Kommunikation Der Begriff wurde Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Alternativbegriff zu Design proklamiert. In der Ulmer Hochschule für Gestaltung war die Visuelle Kommunikation ab 1955 neben Bauen, Information und Produktgestaltung einer der vier Ausbildungsbereiche. Später bürgerte sich der Begriff als Synonym für Kommunikations-Design und Grafikdesign ein. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er im Zusammenhang mit der Erweiterung der bildenden Künste auf die Massenmedien (Film, TV, Werbung, Comics) als zeitgemässer Oberbegriff für die gesamte Sphäre der bildenden Kunst vorgeschlagen. Er sollte die ProduzentInnen- und die RezipientInnenseite des visuellen Kommunikationsprozesses umfassen.21 — 20 Gisela Hillmann, in: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 116. 21 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 245.
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18. DESIGN – CORPORATE IDENTITY
Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist Corporate Identity, beziehungsweise Corporate Design, im Design zu einem geläufigen Schlüsselwort geworden. In einer gewissen Häufigkeit war schon vorher «Identität» ein Thema der abendländischen Kultur des 20. Jahrhunderts: als Subjekt-Objekt-Identität in der idealistischen Philosophie; als Ich-Identität in der Psychoanalyse und Individualpsychologie; als Gruppen-Identität in der Soziologie und Politologie und zuletzt eben als Unternehmens-Identität in der wirtschaftlichen Praxis. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam – zuerst im angloamerikanischen Wirtschaftsraum und dann in Westeuropa – zu den bisherigen Unternehmensstrategien, das heisst zum betriebswirtschaftlichen, zum konfliktorientierten und zum kommunikationsorientierten Ansatz, ein neuer, der designorientierte Ansatz hinzu: die Corporate Identity. Das, was man mit «körperschaftlicher Identität» oder vielleicht freier als «Unternehmens-Persönlichkeit» übersetzen könnte, bürgerte sich im deutschen Sprachraum in seiner englischen Version ein. Hier hat sich das regelmässig überarbeitete und in seiner 11. Auflage erschienene Buch Corporate Identity. Grundlagen Funktionen Fallbeispiele (1980) von Klaus Birkigt, Marinus Stadler und Hans Joachim Funck als Standardwerk etabliert.1 Das Konzept der Corporate Identity Auch im 21. Jahrhundert gehört das Konzept der Corporate Identity in der Unternehmensstrategie, in der Unternehmenskommunikation und im Design zu den prägenden Rezepten2, sei es unter dem ursprünglichen — 1 Klaus Birkigt, Marinus Stadler und Hans Joachim Funck, Corporate Identity. Grundlagen Funktionen Fallbeispiele, Landsberg/Lech, 2002 (1. Auflage 1980). 2 Vgl. Elio Pellin und Elisabeth Ryter (Hg.), Weiss auf Rot. Das Schweizer Kreuz zwischen nationaler Identität und Corporate Identity, Zürich, 2004, S. 34.
214 18. Design – Corporate Identity
Begriff, sei es mit neuen Begriffen wie «integrierte Kommunikation», «Corporate Imagery»3 oder «identitätsorientierte Markenführung»4. Aus dem erwähnten Standardwerk ist folgende Definition zu entnehmen: «In der wirtschaftlichen Praxis ist Corporate Identity die strategisch geplante und operativ eingesetzte Selbstdarstellung und Verhaltensweise eines Unternehmens nach innen und aussen auf Basis einer festgelegten Unternehmensphilosophie, einer langfristigen Unternehmens-Zielsetzung und eines definierten (Soll-)Images – mit dem Willen, alle Handlungsinstrumente des Unternehmens in einheitlichem Rahmen nach innen und aussen zur Darstellung zu bringen.»5 Corporate Identity ist entgegen weit verbreiteter Meinung mehr als Öffentlichkeitsarbeit. Ihr geht es um die Verbesserung der Innenund Aussenstrukturen sowie um die Verbindung aller Einzelmassnahmen zu einer einheitlichen Identität des Unternehmens, entsprechend der vom Management festgelegten Unternehmensphilosophie. Auf dieser Grundlage kann ein gutes Image (Unternehmensbild) aufgebaut werden, mit dem ein Unternehmen auf den überfüllten Angebotsmärkten (Konkurrenz) und bei vergleichbarer technologischer Qualität und zum Teil ähnlichem Design bestehen kann. Als Beispiel sei hier die Automarke Mercedes genannt, die zeigt, dass mit einem guten Image sogar Schwächen und Übergangsschwierigkeiten überbrückt werden können. Corporate Identity ist also ein Führungsinstrument zur Durchsetzung der Unternehmensstrategie. Sie interpretiert die Zielsetzung des Unternehmens6, sie ist die Basis für die «Integration der Systemmitglieder»7 (sprich der MitarbeiterInnen), und sie steuert generell innen und aussen die durch das Unternehmen ausgelösten Interaktionen.8 Das CI-Konzept geht davon aus, dass ein Unternehmen so etwas wie eine Identität besitzen kann, das heisst eine Einheit darstellt, die wie eine unverwechselbare Persönlichkeit wahrgenommen wird. Birkigt, Stadler und Funck sehen die Corporate Identity «in Parallele zur Ich-Identität als schlüssigen Zusammenhang von Erscheinung, Worten und Taten eines Unternehmens mit seinem ‹Wesen› oder, spezifischer ausgedrückt, von Unternehmens-Verhalten, UnternehmensErscheinungsbild und Unternehmens-Kommunikation mit der hypostasierten Unternehmenspersönlichkeit als dem manifestierten Selbstverständnis des Unternehmens.»9 Denn nur eine wesenhafte Person mit ihren spezifischen Charaktereigenschaften könne verständlich und glaubhaft sein, was für den «Marktgang unabdingbar» sei.10 Diese (Unternehmens-) Identität aufzubauen und zu steuern ist die
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Arbeit der Corporate Identity, sie sichtbar zu machen ist die Aufgabe des Corporate Designs, sie zu kommunizieren ist die Sache der Corporate Communication und sich schliesslich danach zu verhalten ist Corporate Behavior.11 Alles zusammen führt zu einem «Selbstbild des Unternehmens». Das «Corporate Image» dagegen bezeichnet sein «Fremdbild». «Image ist die Projektion der Identity im sozialen Feld.»12 Die Umsetzung der Corporate Identity (nicht nur des Corporate Designs!) ist Sache des Corporate Identity Managements [CIM]). Corporate Design Das Corporate Design ist ein Element, aber nicht das einzige, das die Corporate Identity konstituiert. Durch das einheitliche Zusammenwirken von Markendesign, Grafikdesign und Architekturdesign wird die Unternehmenspersönlichkeit dargestellt. Corporate Design gestaltet das gesamte Erscheinungsbild des Unternehmens beziehungsweise die visuelle Einheit von Produktionsform, Werbung, Verpackung, Firmen-Architektur, Verkaufsstätten, Transportmittel usw. Es ist, wie Uta Brandes bemerkt, «struktureller Vermittler zwischen Technik, Produktion, Marketing, Distribution und Öffentlichkeit.»13 Auffälligstes Merkmal und Grundstock des Corporate Designs sind die Markenzeichen. Sie machen nach innen und aussen Identität kenntlich, indem sie sich einprägen (Brand, das englische Wort für Marke, heisst auch Brandmal und Brandzeichen; das Tätigkeitswort meint «unauslöschlich einprägen»). Corporate Design geht von der These Anton Stankowskis aus, dass das Unternehmens-Erscheinungsbild der Bereich ist, in dem sich ein Unternehmen am deutlichsten wahrnehmbar von andern unterscheiden kann: «Ein Firmenbild, in dem alle Visuals und Masse aufeinander abgestimmt sind, ist nicht nur schneller wieder zu erkennen, es hat auch einen höheren Behaltewert. Je klarer, eindeutiger und stärker ein Erscheinungsbild gestaltet ist, desto weniger Worte sind notwendig, um der Öffentlichkeit zu zeigen, was ein Unternehmen sein — 3 D. Herbst und Ch. Scheier, Megatrend. Corporate Imagery, www.dieter-herbst.de, 29.6.2004. 4 Herbert Meffert et al. Markenmanagement. Wiesbaden, 2002. 5 Birkigt et al. Corporate Identity, S. 1. 6 Ebenda, S. 39. 7 Ebenda, S. 41. 8 Ebenda, S. 42. 9 Ebenda, S. 18. 10 Ebenda, S. 18. 11 Ebenda, S. 18. 12 Ebenda, S. 23. 13 Uta Brandes, Design ist keine Kunst, Regensburg, 1998, S. 65.
216 18. Design – Corporate Identity
will, was es anbietet.»14 Ein Unternehmen wird nicht mehr allein an bestimmten Produkten im Markt kenntlich, sondern durch seinen Namen und sein Image. Es werden mit andern Worten nicht mehr Turnschuhe verkauft, sondern Dynamik und Lifestyle des Unternehmens Nike. «Das Unternehmen als Gesamtkomplex und Gesamterscheinung präsentiert sich, die Produkte gliedern sich ein.»15In einer Wahrnehmungswelt, die so komplex geworden ist, dass es immer schwerer wird, sich in ihr zu orientieren und Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden, wird dem menschlichen Grundbedürfnis nach Orientierung mit visuellen Botschaften entsprochen, mit denen die KäuferInnen sich identifizieren, herausheben und persönlich auszeichnen können. Historisch gesehen hat es schon vor dem eigentlichen wirtschaftlichen CI-Konzept Bemühungen um ein Corporate Design gegeben. Eines der frühesten und dazumal einzigartigen Beispiele war die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), für die Peter Behrens zwischen 1907 und 1914 ein einheitliches Produkt-, Grafik- und Architekturdesign entwickelte (vgl. Kapitel 4, Abb. 45 – 47). In den USA ist die Container Corporation of America (CCA) zu erwähnen, die in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts erste Schritte zu einem Corporate Design machte. Ebenfalls in den USA wurde in den fünfziger Jahren Paul Rand mit seinem Corporate Design für die Firma IBM bekannt (vgl. Abb. 162). In Europa war es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das Corporate Design für die deutsche Luftfahrtgesellschaft Lufthansa durch Otl Aicher (1962) (vgl. Kapitel 11, Abb. 164). In der Schweiz gaben sich moderne Grossunternehmen aus der Chemie- und Elektroindustrie die ersten einheitlichen Erscheinungsbilder (vgl. Abb. 167). Die olympischen Spiele von Mexiko (1968) und München (1972) waren Meilensteine in der Entwicklung von komplexen Designprogrammen (vgl. Kapitel 11, Abb. 165, 166). Das Corporate Design bildete das Fundament, um Design «nicht allein als Verpackung, sondern als komplexen Vorgang zu begreifen».16 Der zum Teil hohe Komplexitätsgrad der im Corporate Design zu lösenden Aufgaben machte aus dem Design allmählich einen multidisziplinären Gestaltungsprozess. Das Design gelangte so in den Bereich der konzeptuellen Gestaltung, der marktpolitischen Strategien und der unternehmerischen Abläufe. Design wurde zum Design-Management und immer mehr zur Gestaltung von Prozessen (obwohl es in der Öffentlichkeitswahrnehmung immer noch vorwiegend mit Objektgestaltung identifiziert wird).
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Corporate Identity und Staatsdesign In letzter Zeit ist an verschiedenen Orten der Versuch feststellbar, das CI-Konzept als Strategie der Identitätsentwicklung auf staatliche Korporationen (Kommunen, Städte17, Staaten und sogar Nationen 18 ) zu übertragen. Die Versuche haben ihre Vorläufer in der traditionsreichen Werbung für touristische Orte und Regionen und im verbreiteten Standortmarketing von Städten.19 Die Aktualität der Übertragungsversuche des CI-Konzepts auf öffentlich-staatliche Institutionen hängt mit der sich verbreitenden Ökonomisierung des gesamten öffentlichen Handelns zusammen. Staatliche Institutionen werden als Dienstleister verstanden und nach den Prinzipien des so genannten «New Public Management» organisiert. Im englischen Sprachgebrauch hat sich der Begriff «Governmental Design» eingebürgert. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff «Staatsdesign» bisher nicht durchgesetzt. Er meint die «Gesamtheit aller kommunikativen Äusserungen einer Regierung und ihrer Verwaltung»20 und unterscheidet sich vom Anliegen des «Nation Branding». Darunter wird der Aufbau des Erscheinungsbildes der nationalen Identität eines Landes nach den Prinzipien der Markenbildung verstanden.21 Die Übertragbarkeit des CI-Konzepts ist nicht unbestritten. Elio Pellin und Elisabeth Ryter weisen in ihrer Untersuchung «Weiss auf Rot. Das Schweizer Kreuz zwischen nationaler Identität und Corporate Identity»22 darauf hin, welche Probleme das CI-Konzept für öffentlich-staatliche Institutionen stellt: Wenn eine Regierung als Unternehmensleitung verstanden wird, muss sie gemäss Corporate Identity einen festen Wesenskern formulieren, der dann als Wertereferenz sämtliche Äusserungen leiten soll. Das, so Pellin und Ryter, «wird in demokratischen Systemen nicht möglich sein».23 Es würde eine autoritäre, extrem hierarchische staatliche Organisation voraussetzen, wie man sie von totalitären Staaten kennt. «Würde man das Prinzip der Corporate Identity etwa vom Bereich der Ökonomie in den Bereich —
14 Birkigt et al, Corporate Identity, S. 191. 15 Uta Brandes, Design ist keine Kunst, S. 65. 16 Ebenda, S. 66. 17 Vgl. Birgit Kutschinski-Schuster, Corporate Identity für Städte. Eine Untersuchung zur Anwendbarkeit einer Leitstrategie für Unternehmen auf Städte, Essen, 1993. 18 Vgl. Wally Ollin, Trading Identities- Why countries and companies are taking on each others roles, London, 1999. 19 Christian Jaquet, Das Staatsdesign der Schweiz – Zustand und Reform (Forschungsbericht der Hochschule der Künste Bern HKB), Bern, 2004, S. 6. 20 Ebenda, S. 6. 21 Ebenda, S. 6. 22 Pellin, Ryter, siehe Fussnote 2. 23 Ebenda, S. 36.
218 18. Design – Corporate Identity
der Politik verlagern, müsste man nach Hannah Arendt von einem totalitären System sprechen, das mit seiner Organisationsform und Kommunikation (Propaganda) eine zentrale ideologische Fiktion» in die Wirklichkeit umsetzt.24 Pellin und Ryter geben weiter zu bedenken: «Der Staat, öffentliche Verwaltungen und einzelne Ämter haben es zudem nicht mit Kundinnen und Kunden zu tun, denen sie sich lediglich als effiziente Dienstleisterinnen und Dienstleister präsentieren müssen, die Verwaltung hat es mit Bürgerinnen und Bürgern zu tun, die wesentlich am Prozess der kollektiven Identität beteiligt sind; Widerstand gegen die Art des Auftritts von Ämtern und Verwaltungen ist also nicht einfach eine lästige und unliebsame Störung, sondern Teil der öffentlichen Auseinandersetzung um kollektive Identität.»25 Würdigung und Kritik Das CI-Konzept hat auf das Design eine äusserst ambivalente Wirkung gehabt. Einerseits hat die wirtschaftlich motivierte Unternehmensstrategie das Design aus einer Art Dornröschenschlaf geweckt. Es hat sich aus der Begrenztheit auf die reine Objektgestaltung gelöst und eine Erweiterung des Anwendungshorizonts erfahren. Es hat begonnen, sich als komplexen Vorgang der visuellen Kommunikation zu verstehen und zu entfalten: Design als Prozessgestaltung, als Management, als Orientierungsdisziplin. Bazon Brock hatte schon 1972 versucht, diese Akzentverschiebung im Begriff «Sozio-Design» zu fassen. Sozio-Design als Dimension des Denkens, Planens und Entwerfens bezieht sich nicht primär auf die Dinge, sondern auf die Interaktionsprozesse, auf das, was an der dinglichen Umwelt gesellschaftlich vermittelnd wirkt oder was als Verhaltens- und Vorstellungsform sich nicht verdinglichen lässt.26 Anderseits hat das CI-Konzept das Design in einige Fallen gelockt: 1. Das Design hat das CI-Konzept in der Praxis oft nur selektiv inkorporiert. Es hat sich leicht daran gewöhnt und sich darauf beschränkt, für Unternehmen nach einer fixen Methode das grafische Erscheinungsbild zu liefern, indem es Markenzeichen (Logo) neu schafft oder verbessert, die Hausfarben, die Hausschrift und die Drucksachen ordnet. Dabei wäre doch vom CI-Konzept her Corporate Design mehr als nur Kosmetik und Verkaufshilfe. Corporate Design hätte die Aufgabe, eine «Einheit in der Vielfalt zu schaffen, (das Unternehmen) zu einem Wertgefüge zu verbinden in Verhalten, Kommunikation und Darstellung».27 Kurt Weidemann meint dazu: «Wer das nicht beherrscht, bleibt Dekorateur, Fassadengestalter.»28 Ist das Design
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von der ihm im CI-Konzept zugewiesenen aktiven Rolle überfordert? 2. Mit dem CI-Konzept übernimmt das Design dessen prinzipielle Probleme: seinen ideologischen und seinen autoritären, um nicht zu sagen totalitären Charakter. Das CI-Konzept überträgt in einer problematischen Vereinfachung die Identitätsleistung einer Person auf ein Unternehmen und ideologisiert damit die Unternehmensstrategie. Zitieren wir nochmals Pellin und Ryter: «Für Personen ist Identität nicht eine Zielgrösse, die sich jemand (die Unternehmensleitung, B.S.) vorgibt und dann umsetzt. Die Identitätsleistung ist (…) ein komplexer Prozess, der sich bildet aus Vorstellungen, Wünschen, Zielen, Rückmeldungen, Zuweisungen durch Vorurteile sowie Strategien dagegen, Selbstwahrnehmung, gespiegelter Fremdwahrnehmung.»29 Identitätsleistung ist demnach ein sehr interaktiver Prozess, während Corporate-Identity-Bildung ein Einwegprozess ist. Wenn Corporate Design Unternehmen nicht als das darstellt, was sie ökonomisch sind, nämlich Kapitalverwertungsinstitutionen zur Gewinnmaximierung, sondern sie als Personen mit einer übergreifenden Philosophie verbrämt – Banken sind nicht mehr kapitalistische Geldinstitute, sondern kulturelle Institutionen – , so hilft es bewusst oder unbewusst, die Unternehmen zu ideologisieren. «Corporate Identity und Corporate Image legitimieren die Warenwelt noch einmal neu, in dem die Dinge dem Unternehmen inkorporiert werden und dieses als synthetisches Ganzes in die Produktions-, Kommunikationsund Konsumtionsformen einzieht.»30 3. Der zentralistische und autoritäre Charakter des CI-Konzepts wurde bereits im Zusammenhang mit dessen Übertragung auf staatliche Institutionen angesprochen. Auch die erwähnte Reduktion der Identitätsleistung auf einen innerbetrieblichen Einwegprozess von oben nach unten hat autoritären Charakter; denn die Mitarbeitenden haben sich angesichts der von oben festgelegten Identität des Unternehmens konsequent zurückzustellen und diese Identität zu verinnerlichen.31 Der Psychologe Jürgen Straub spricht in diesem Zusammenhang von «normierenden Konstruktionen kollektiver Pseudo-Identitäten».32 — 24 Pellini, Ryner, S. 35 (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München, 2001 (1. Auflage 1951), S. 766ff.). 25 Ebenda, S. 36. 26 Bazon Brock, Umwelt und Sozio-Design, in: Format, Nr. 36, 1972, S. 60. 27 Kurt Weidemann, in: Kompendium. Corporate Identity und Corporate Design, Stuttgart, 1997, S. 8. 28 Ebenda, S. 9. 29 Pellin, Ryter, S. 35. 30 Uat Brandes, Design ist keine Kunst, S. 66. 31 Pellin, Ryter, S. 35. 32 Pellin, Ryter, S. 35.
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19. DESIGN – KUNST
«Design ist die Kunst des 20. Jahrhunderts.»1 Diese Aussage entstand nicht zuletzt unter dem Eindruck der zwei letzten Dekaden des Jahrhunderts, welche stark durch das medienwirksame «Stardesign» geprägt waren. Zur Erinnerung: In den achtziger Jahren war das Regalobjekt «Carlton» von Ettore Sottsass das am häufigsten abgebildete Kunstwerk (Abb. 182).2 Das Design eroberte sich diese Stellung weitgehend unbemerkt vom Kunstestablishment und entgegen den Grundsätzen der konventionellen Kunstkategorien wie Seltenheit, Kostbarkeit oder höchstes soziales Niveau. Als einer der Ersten hatte der Künstler Marcel Duchamp erkannt, dass Kunstwerke nicht unbedingt erschaffen, sondern vor allem als solche erkannt werden müssen, dass nicht mehr das materielle Moment, der Umgang mit Öl und Pinsel, Hammer und Meisel, sondern der Umgang mit Ideen und Konzepten für die Kunst und alle kreativen Metiers entscheidend ist.3 Duchamp hatte ein anonymes Designobjekt, einen Flaschentrockner, ausgestellt und behauptete nicht, ihn geschaffen, aber ihn als Kunstwerk entdeckt zu haben. Wo liegt nun der Unterschied zwischen Duchamps Flaschentrockner und der Zitronenpresse von Philippe Starck (Abb. 205) oder dem Sparschäler «Rex» (Abb. 139)? Gibt es überhaupt einen? Es ist die alte Frage nach der Differenz zwischen Kunst und Design. Die fast 150-jährige Geschichte des modernen Designs ist mehr oder weniger intensiv durch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Positionen geprägt: Die eine wollte die Nähe des Designs zu den realen Produktivkräften der Industrie und hatte die Technik als Verbündeten; die andere betonte den künstlerisch-individuellen Entwurf — 1 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 20. 2 Ebenda, S. 23. 3 Ebenda, S. 20.
222 19. Design – Kunst
und fühlte sich der Kunst nahe. Für die Erörterung des Verhältnisses von Kunst und Design ist es von Vorteil, zuerst die historischen Zusammenhänge, die Grundzüge der abendländischen Kunstentwicklung in Erinnerung zu rufen. Die historische Dimension der Differenz Vor der Begründung der Kunst als autonomer Institution in der europäischen Aufklärung war ihr durch den Kult Zeit, Ort und Funktion im gesellschaftlichen Leben angewiesen worden. Inhalt und Form der Künste waren davon abhängig, ob sie bei einem Hochzeitsfest oder Totenkult, bei einem Fruchtbarkeits- oder Opferritus mitzuwirken hatten und dabei der Verlebendigung der überlieferten Mythen und Riten dienten oder sie überhaupt erst schufen.4 Im europäischen Mittelalter wurde nicht zwischen Kunst und Kunsthandwerk unterschieden. Was wir heute Kunst nennen, war damals in den allermeisten Fällen Auftragsarbeit für Männer, die sich als Handwerker – oft geistlichen Standes – verstanden. Altarbilder, Kirchenfenster, Domskulpturen, Illuminationen von Evangeliaren, aber auch Kelche und Tabernakel, Portraits, Wandteppiche usw. hatten einen klar zugewiesenen Zweck in der visuellen Kommunikation im kirchlichen Kult und im feudalistischen Repräsentationssystem. Viele Werke hatten zudem einen eindeutig festgelegten Gebrauchszweck. In der frühen Neuzeit war künstlerische Arbeit meist immer noch ein Auftragswerk. Allerdings begannen die Objekte, insbesondere diejenigen der Malerei, im Repräsentationskontext der Renaissancegesellschaften, unabhängig vom religiösen Gebrauchswert einen zusätzlichen, nämlich einen künstlerischen Wert zu bekommen. Bilder von Raffael oder Tizian wurden von den AuftraggeberInnen primär als Kunstwerk bestellt, gekauft und rezipiert. Im Prozess der europäischen Aufklärung und den damit verbundenen bürgerlichen Revolutionen entstand der Diskurs über die so genannte «freie Kunst». Die künstlerischen Individuen versuchten sich aus der geistigen und materiellen Vormundschaft durch Kirche und Adel zu befreien. Sie verweigerten die traditionelle religiöse Funktion und die Funktion der gesellschaftlichen Repräsentation. Die Kunst emanzipierte sich von ihren AuftraggeberInnen und damit auch vom «sozialen Körper» und dem gesellschaftlichen Kontext. Die Emanzipationsbewegung der Kunst in der Neuzeit hatte einen bedeutenden Teil der ursprünglichen Verbindungen von Kunst und Leben aufgelöst! Die logische Folge des Autonomiekurses war die Feststellung der Diffe-
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renz zwischen einerseits «freier Kunst» und anderseits angewandter «zweckorientierter Kunst». Diese Differenz ist ein kulturhistorisch gesehen neues und einmaliges europäisches Phänomen. Im bürgerlichen Kultur- und Kunstbetrieb bildete sich sehr bald eine eindeutige Werthierarchie heraus. Seit Immanuel Kant war die Rede von der Kunst als dem «Höchsten», dem «Erhabenen», dem «Idealen», dem mit «interesselosem Wohlgefallen» begegnet wird. Der Autonomiediskurs führte zu einer Hypostasierung der gesamten ästhetischen Sphäre, zu einer Irrationalisierung der künstlerischen Produktion und zu einer Transzendierung des künstlerischen Werks in die auratische Ferne völliger Autonomie. Die Kunst wurde bürgerlicher Religionsersatz, der Kunstbetrieb ein säkularer Kult um das «Erhabene». Im 20. Jahrhundert kam dann die Retourkutsche. Die meisten avantgardistischen künstlerischen Bewegungen des beginnenden Jahrhunderts teilten ein gemeinsames Anliegen: die Kunst aus der «interesselosen» Sphäre des bürgerlichen Kulturbetriebs zu befreien und wieder mit einem «sozialen Körper» zu verbinden. Kunst und Leben (eine stehende Formel!) oder künstlerisches Handeln und gesellschaftliche Wirklichkeit sollten wieder zusammenfinden. Diese Zusammenführung hatte eine konkret-utopische Perspektive im russischen Konstruktivismus. In der jungen Sowjetunion engagierten sich die VertreterInnen der künstlerischen Avantgarde für die Revolution und stellten Architektur, Kunst, Design, Typografie, Dekoration und Mode in den Dienst der Propagierung der neuen Gesellschaft. Sie wandten sich von einer Kunst um ihrer selbst willen ab und widmeten ihre Arbeit der Alltagskunst: dem Industriedesign und der visuellen Kommunikation. Mit einer klaren funktionellen Formensprache wurde, wie später im Bauhaus, versucht, eine neue Einheit von Kunst, Handwerk und Industrie zu verwirklichen. Die Verschmelzung von Kunst und Design zu einer neuen gesellschaftlichen Praxis wurde in der Sowjetunion wie auch im Bauhaus durch die politische Entwicklung (hier Stalinismus, dort Naziregime) jäh abgebrochen. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es wieder zu einer Annäherung oder besser gesagt zu einer Verwischung der Differenz – diesmal aber unter umgekehrtem Vorzeichen. Die Initiative ging nicht von den künstlerischen Bewegungen, sondern vom so genannten «Neuen Design» aus. In der vehementen Konfrontation mit dem — 4 Henckmann, Lotter (Hg.), Lexikon der Ästhetik, S. 130.
224 19. Design – Kunst
hergebrachten Funktionalismus entstand ein neues Designverständnis, das die alten Leitbilder des Designs wie Einfachheit, Reduzierung auf Funktionalität und auch die Definition über die industrielle Massenproduktion nicht mehr akzeptierte. Nun galt – zuerst in Italien – auch das als Design, was als Prototyp in handwerklicher (Einzel-) Fertigung entstand und in Galerien und Museen zur Diskussion gestellt wurde. Der Gebrauchszweck war nicht mehr das primordiale Charakteristikum der Designobjekte. Designobjekte, vor allem auch Klassiker, wurden zu Kunst- und Ausstellungsobjekten. Das Ergebnis war eine Grenzüberschreitung zwischen Kunst, Handwerk und Design. Das Erlebnis des «Neuen Designs» in seiner Nähe zur Kunst, die grenzüberschreitenden Arbeitsweisen zwischen Kunsthandwerk, Kunst und Industrie, die zahlreichen Museumsausstellungen und das neue Selbstverständnis der Stardesigner liessen auch im breiten Publikum das Bewusstsein von Design als gleichberechtigtem Teil der Kultur wachsen. Es entstanden Design-Museen oder Abteilungen in den Kunstmuseen. Auf der «documenta 8» 1987, die documenta ist die wohl wichtigste Kunstausstellung der Welt, war Design erstmals mit einer eigenen Sektion vertreten. Wie Musik, Theater, Film oder Kunst wurde auch das Design zum Gegenstand des Kultursponsorings von Unternehmen. Viele nutzten die Popularität und die kulturelle Anerkennung des Designs für ihren Imagetransfer. Auf der Suche nach der Differenz — Der materielle Schaffensakt, das haben wir am Beispiel von Marcel Duchamp gesehen, bestimmt nicht die Differenz zwischen Design und Kunst. — Sie liegt auch nicht in der Einheit von Entwurf und Ausführung, obwohl diese Einheit heute für den Kunstanspruch oft noch als grundlegend gilt.5 Bis ins 19. Jahrhundert war die Aufteilung von Entwurf und Ausführung in der Kunst nicht selten, und auch in der Gegenwart ist sie häufig wieder vorzufinden (vgl. reproduzierte Kunst). Im Design fand seit der Postmoderne die gegenläufige Bewegung statt, nämlich hin zur Einheit von Entwurf und Ausführung (vgl. das «Neue Design» und das Autorendesign der achtziger und neunziger Jahre). — Ob ein Werk ein Unikat oder ein Serienprodukt ist, ist heute kein Qualitätsmerkmal eines Kunstwerkes mehr. Spätestens seit A. Warhol gelten Kunst und Massenauflagen nicht mehr als unvereinbar. Die Aura des Unikats reicht also nicht, um den Kunstcharakter zu be-
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gründen. Dazu kommt, dass seit dem «Neuen Design» die so genannten «Künstlermöbel» als Unikate oder Kleinserien angefertigt werden und in Galerien und Museen landen. Auch das Argument, es handle sich bei den Möbeln um Gebrauchsgegenstände, ermöglicht keine sinnvolle Abgrenzung. Wie viele Kunstwerke offenbaren ihren Charakter erst bei der Benutzung: Wenn sie betreten, betrachtet oder verändert werden.6 — Die Differenz in der Unterscheidung von Auftragsarbeit und freier Arbeit zu suchen führte schon immer in eine Sackgasse. Kunst war im grössten Teil ihrer abendländischen Geschichte Auftragskunst, und Design entsteht heute oft als freie Arbeit. Beide waren und sind mehr oder weniger wirtschaftsabhängig und haben in der Gegenwart – ob das ihre ProtagonistInnen wahrhaben wollen oder nicht – Waren- und damit Kapitalcharakter. — Seitdem Designobjekte kultische Verehrung geniessen, kann auch der Kultstatus von Kunstwerken nicht mehr die Differenz zum Design begründen. Kult – verstanden als von einer Gemeinschaft praktizierte Formen der Verehrung des Göttlichen – bediente sich schon immer der Künste, um den Praktizierenden einen unmittelbaren Kontakt mit dem Göttlichen und Transzendenten zu ermöglichen. Seit ihrer Emanzipationsbewegung in der Neuzeit erfüllte die Kunst sozusagen als säkularer Religionsersatz weiterhin diese Funktion. Im säkularisierten Modus des Kults kann die Verehrung und Hingabe mit säkularen Kultbildern und Fetischen stattfinden. Dabei spielt es heute keine Rolle mehr, ob der Kultgegenstand ein Kreuz, ein Bild von Leonardo, eine Sport- oder Filmikone oder ein Designobjekt ist. Sie alle verhelfen den spezifischen Gruppen zu ihrer kulturellen und sozialen Identität. Die leichter zugänglichen Designobjekte aus dem Alltag können diese Funktion manchmal fast besser erfüllen, als Werke der Hochkunst, die für den Gebrauch im «kultischen Alltag» zu auratisch und hermetisch sind. — Für die Definition der Differenz bleibt uns schliesslich noch der kommunikationstheoretische und semiotische Vergleich. Die Zeichenwelten von Kunst und Design spielen in der visuellen Kommunikation im jeweiligen historischen Kontext eine zentrale Rolle. Kunst war das dominante visuelle Medium in der Vergangenheit bis ins 19. Jahrhundert. Design, und zwar Grafikdesign und Industriedesign, ist an die Stelle der Kunst getreten und nimmt heute eine ähnliche Stellung ein. — 5 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 9f. 6 Volker Albus et al., Design Bilanz, S. 74.
226 19. Design – Kunst
Beides sind frei modulierbare und materiell grundierte Flächen, auf die Verweise (Signifikanten) eingeschrieben sind, Symbole der Herrschaft, Werthaltungen, moralische Einstellungen, gesellschaftliche Diskurse, Emotionen usw. Designobjekte können, das zeigt uns nicht erst die Postmoderne, mit Verweisen semantisch geladen werden und so über sich hinausweisen. Wenn Kunst dann möglich wird, «wenn der (künstlerische) Eingriff den Gegenstand in einen Kommentar über unsere Lebensgewohnheiten, unsere Wahrnehmungsweisen oder sozialen Beziehungen verwandelt»7, dann ist zum Beispiel der Sessel «Consumer’s Rest»von Stiletto (Abb. 197) Kunst, denn er ist ein solcher Kommentar über unsere Lebensgewohnheiten und unsere Wahrnehmungsweisen. Bleibt die Frage der Decodierung. Unterscheiden sich Designobjekte von Kunstwerken dadurch, dass die Produktsprache des Designs (die Zeichen) von den RezipientInnen in ihrem Bedeutungsgehalt in jedem Fall decodiert werden können? Während das bei Kunstwerken offen bleiben kann? Das trifft sicher für das «gewöhnliche Design» der alltäglichen Gegenstände zu. Dort ist die Verbindlichkeit des Zeichensystems unabdingbare Voraussetzung für die Funktionalität und den Gebrauch des mit Zeichen versehenen Gegenstands. — 7 Katharina Hegewich, in: Albus, Design Bilanz, S. 74.
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20. DESIGN – GESCHMACK UND KITSCH
Der Mensch ist ein visuelles Wesen. Die so genannte «visuelle Intelligenz» beansprucht fast die Hälfte der menschlichen Grosshirnrinde. Sie erschafft die komplexen visuellen Wirklichkeiten, in denen die Menschen leben, sich bewegen und darin interagieren.1 Daraus folgt, dass der visuellen Kommunikation eine grosse Bedeutung, ja eine viel grössere, als sich der Mensch als kognitives Wesen in der Regel eingesteht, zukommt. Ein Parameter, der die visuelle Kommunikation neben den Bildwelten beeinflusst, ist der Geschmack. Viele Entscheide – oft so genannte Vorurteile – werden durch den Geschmack gelenkt. Was ist Geschmack? Mit Geschmack ist hier nicht die menschliche Sinnesempfindung gemeint, sondern das Urteilsvermögen, Gegenstände nach ästhetischen Standards zu unterscheiden (etwa in «schöne» und «hässliche» Objekte). Geschmack ist eine Eigenschaft der Personen und nicht der Gegenstände. Das «Schöne-Wahre-Gute» In der abendländischen Geschichte spricht man erst seit relativ kurzer Zeit, nämlich seit dem 18. Jahrhundert von «Geschmack». Das bedeutet nicht, dass es vorher keinen ästhetischen Diskurs gegeben hätte. Im Gegenteil, die abendländische Ästhetik ist durch die beachtliche und sehr einflussreiche Tradition der so genannten «Kalokagathie» geprägt. Das Wort setzt sich aus den griechischen Worten «kalos» ( = anmutig, schön) und «agathos» (= gut) zusammen. Es meinte in der griechischen Antike die Verbindung von Schönheit und Sittlichkeit. Was schön war – zum Beispiel das idealtypische Abbild des menschli— 1 Donald D. Hoffmann, Visuelle Intelligenz, 1998.
230 20. Design – Geschmack und Kitsch
chen Körpers – , hatte Anteil an der idealen göttlichen Schönheit. Das Schöne ist dadurch wahr und hat damit immer auch den erzieherischen Anspruch, sittliches Vorbild zu sein. Die Kalokagathie war also ästhetisches, pädagogisches und damit gesellschaftliches Richtmass. Die Kalokagathie oder das «Schöne-Wahre-Gute» galt unter christlichen Vorzeichen auch im Mittelalter, dann verstärkt in Renaissance, Aufklärungszeit und in der bürgerlichen Epoche mit ihrer ästhetischen und erzieherischen humanistischen Orientierung am antiken Ideal. Es war das Anliegen der gesamten Klassik, dass das Reale das Unsichtbare hinter dem Realen abbildet und abbilden soll. In den Bauten, von den griechischen Tempeln bis zu Le Corbusiers «Modulor-Bau», sollte das Göttliche, die Natur oder sollten die dahinter stehenden Naturgesetze abgebildet werden. Geschmack ist relativ Seit Mitte des 17. Jahrhunderts fand in der europäischen Aufklärung der Begriff «Geschmack» Eingang in die ästhetische Diskussion, was eine Subjektivierung des ästhetischen Urteils zur Folge hatte. Das Schöne war nicht mehr ein für alle Mal und objektiv gegeben und beurteilbar, sondern musste durch den Geschmack des Einzelnen angeeignet werden. Durch den Geschmacksbildungsprozess kam das ästhetische Urteil zustande. Dazu bedurfte es der Bildung des Geschmacks. Das Emanzipatorische an diesem ästhetischen Diskurs war, dass auf der Ebene des neuen ästhetischen Urteils jeder (!) Mensch prinzipiell gleich war. Denn es kam jetzt darauf an, den Geschmack zu schulen. «Das Geschmacksurteil war also der Ort, wo die neue Klasse (das Bürgertum, B.S.) sich emanzipieren konnte.»2 Das Emanzipatorische lag darin, dass die Frage, ob Geschmack angeboren und allgemeingültig sei, eindeutig verneint wurde. Folglich ist Geschmack zwar etwas subjektiv Erworbenes, aber keineswegs etwas rein Subjektives! Nachdem das ästhetische Urteil durch die Aufklärung eine solche Relativierung erfahren hatte, war auch die Möglichkeit zur Kritik des herrschenden Geschmacks gegeben. In den europäischen Gesellschaften galt bis ins 19. Jahrhundert Geschmack (gemeint war der «gute Geschmack», das heisst die Urteilskraft über das, was schön ist) immer als eine Fähigkeit, die nur einer kleinen Minderheit zukam. Diese hatte die Definitionsmacht über das, was als «guter Geschmack» galt. Ihre Definition war für die ganze Gesellschaft verbindlich und kam wie eine objektive Naturgegebenheit daher. Dieser allgemein gültige, herrschende Geschmack war aber nichts anderes als der verallgemei-
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nerte Geschmack der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Klasse. In der Zwischenzeit ist auf Grund von soziologischen Untersuchungen im 20. Jahrhundert die Beziehung zwischen Geschmack und sozialen Faktoren wie Klassen-, Schichten- und Gruppenzugehörigkeit, Beruf, Besitz und Bildung längst nachgewiesen.3 Selbstverständlich spielen bei der Geschmacksbildung auch die Faktoren Gewohnheit, Tradition und Beeinflussung durch Mode und Zeitgeist (was immer das auch ist) eine Rolle. Gerade wegen der Interdependenz von Geschmack und sozialen Faktoren ist es verfehlt, von einer absoluten Subjektivität des Geschmacksurteils auszugehen. Innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes, innerhalb von sozialen Gruppen und innerhalb von Zeitepochen gibt es Geschmackskonventionen, das heisst Abmachungen, die für die zugehörigen Individuen normative Gültigkeit haben oder eine Art kontextuelle «Objektivität» beanspruchen. P. Bourdieu zeigte zudem, dass Geschmacksvorlieben einer Gruppe nicht isoliert zu verstehen sind, sondern als Unterscheidungsmerkmal im Hinblick auf den Geschmack aller andern Gruppen (These von der «differenzierenden Natur des Geschmacks»). Als Fazit können wir uns der Definition von Geschmack durch Gert Selle anschliessen: «Geschmack ist eine sozial determinierte, klassenspezifische Übereinkunft (der Herrschenden) auf verbindlich wertende Wahrnehmungsweisen und Verhaltensnormen beziehungsweise Leitbilder, in die nicht nur Gewohnheiten und Traditionen eingehen, sondern auch massive Anpassungszwänge.»4 «Guter Geschmack» und die «Gute Form» Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es von Seiten des Designs grosse Bemühungen, noch einmal die Deutungshoheit über das, was «guter Geschmack» ist, zu erlangen. Diese Bemühungen hatten schon zu Beginn des Jahrhunderts im Werkbund begonnen, hatten mit dem Bauhaus internationale Ausstrahlungskraft erlangt und wurden in der «Guten Form» ab den fünfziger Jahren für mehr als zwei Dekaden zur Gestaltungsdoktrin. Hier wurde der «gute Geschmack» im Sinne der funktionalistischen Prinzipien gedeutet. Wenn die VertreterInnen von Werkbund, Bauhaus und «Guter Form» «form follows function» forderten, dann erfolgte mit Funktionalität, Einfachheit, Sachlichkeit, — 2 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 71. 3 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1982. 4 Selle, Ideologie und Utopie des Design, S. 46.
232 20. Design – Geschmack und Kitsch
langer Haltbarkeit und zeitloser Gültigkeit nicht nur eine ästhetische, sondern gleichzeitig eine ethische Bewertung, denn das Funktionelle und Schmuckfreie war gleichzeitig das «Gute», das «Echte» und das «Ehrliche». Funktionalismus umfasst deshalb immer eine erzieherische und politische Dimension. Design sollte in den Augen der FunktionalistInnen den «guten Geschmack» in der breiten Bevölkerung implantieren. Was nicht ins Dogma der «Guten Form» passte, fiel bei ihren Hütern unter das Verdikt des «Kitsches» (vgl. unten). Diese gestalterischen Ansprüche der funktionalistischen Moderne waren nun aber nicht ein Spezifikum der Moderne. Sie standen vielmehr in der Tradition der bereits erwähnten abendländisch-humanistischen Kalokagathie, des «Schönen-Wahren-Guten». Das historische Urteil über den Erfolg der Bemühungen um eine Verankerung der «Guten Form» in den Massen ist verheerend: «Die Modernen, die (…) glaubten, den ‹guten Geschmack› ein für alle Mal verankern zu können, wollten die ökonomische Notwendigkeit des ständigen Modewandels nicht wahrhaben. Viel eher als ihrer gut gemeinten erzieherischen Aktion ‹Die gute Form› gelang es ungefähr gleichzeitig den Amerikanern, mit Baseballmütze, Bluejeans, Coca Cola, Disney, Hollywood, Mc Donald’s und Nike weltweit nachhaltig auf den kollektiven Geschmack einzuwirken.»5 Die Macht des Marktes In der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbreitenden kapitalistischen Massenkultur sind zwei Phänomene zu beobachten: Einerseits gibt es keinen von einer Klasse diktierten Geschmacksstandard mehr, der wie früher allgemeingültiger herrschender Geschmack ist und den Bedürfnissen eines ganzen Volkes übergestülpt ist. Die kulturelle Hegemonie ist dem herrschenden Bürgertum weitgehend abhanden gekommen. Die Vielfalt der Massenprodukte, Massenkommunikationsmittel und Geschmacksrichtungen stiftet eine verwirrende Relativierung der Massstäbe und Werte. Die postmoderne Massenkultur zerfällt in eine Vielzahl von Subkulturen mit eigenen Geschmackswelten. Diese Subkulturen werden nicht durch eine dominante geschmackbildende Hochkultur zusammengehalten, sondern durch den Markt und die ICT-Kommunikation. Die Hochkultur ist selber eine marktabhängige Subkultur unter anderen geworden. Deshalb wird der Kulturbetrieb sowohl inhaltlich als auch formal immer marktförmiger und übernimmt die Sprache des Marktes und der ICT-Medien. Anderseits hat eben diese Massenkultur in ihrer globalisierten Form
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eine schichten- und gruppenübergreifende Geschmacksangleichung und schnell wechselnde Uniformitäten und globale Trends zur Folge. Der Markt hat mit andern Worten für beide Tendenzen, die Vielfalt und die Uniformität, entsprechende Strategien entwickelt. Der Kitschvorwurf ist elitär Wie wir oben gesehen haben, belegten auch die HüterInnen der «Guten Form» das «schlechte» Design von industriellen Massengütern mit dem Verdikt des Kitsches. Was ist nun nach dem Gesagten von diesem ästhetischen Urteil zu halten? Kitsch ist gemeinhin die Bezeichnung für geschmacklose und minderwertige Erzeugnisse, welche den Anspruch erheben, Kunstwert zu besitzen. Kitsch kam erst in der Massenkultur, das heisst in der serienmässigen Produktion von Waren zur vollen Entfaltung. Die Bilderwelten des Kitsches nehmen im Leben der heutigen Menschen einen grossen Raum ein. Der Verurteilung des Kitsches und des «schlechten Geschmacks» ist elitär und problematisch. Elitär, weil eine Minderheit bestimmt, was für alle schön und hässlich ist, und damit ihr Geschmacksurteil verabsolutiert. Problematisch, weil Geschmacklosigkeit von jeweiligen ZeitgenossInnen auch Werken vorgeworfen wurde, die später eine hohe Wertschätzung erfuhren. So ist es etwa dem Jugendstil ergangen. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann sich die Einstellung zum Kitsch zu differenzieren. Er wurde als Geschmacksausdruck eines Teils der Bevölkerung ernst genommen und intellektuell rehabilitiert. Dazu kam ein bewusst spielerisch-ironischer Umgang mit Kitsch in der Postmoderne. Eine kritische Analyse des Kitsches Man kann Kitsch als eigenständige Geschmacksform akzeptieren und ihn trotzdem einer kritischen Analyse unterziehen. Die Besonderheit des Kitsches liegt nicht primär in mangelhafter Technik oder Originalität begründet. Was kitschige Objekte charakterisiert, ist ihre (bewusste oder unbewusste) Verfälschung der Wirklichkeit. Wesentliches Fundament des Kitsches ist die (Selbst-)Täuschung. Er will die Illusion, nicht die Wirklichkeit darstellen. Erzeugnisse des Kitsches führen in eine Scheinwelt der Tagträume und Fantasien, — 5 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 70.
234 20. Design – Geschmack und Kitsch
in eine schiefe Gegenwelt zum Alltag (Glamour, Reichtum, billiges Glück). Anstelle von Erkenntnis liefert Kitsch Rührung, Sentimentalität und Happyend. Kitsch ist «auf Sehnsuchtswerte gerichtet, die unbefriedigte Bedürfnisse leicht konsumierbar, ohne irgendwelches kritisches Potenzial ausgleichen.»6 Kitsch absorbiert und lenkt ab, indem er je nach Umstand an Wünsche, Gefühle oder Sinne appelliert: an Heimatliebe, Patriotismus, Moral, Naturliebe, Kinderliebe, Familiensinn (differenziert nach Knaben und Mädchen), Häuslichkeit (auf Frauen gerichtet), positive Helden, die alles lösen (wie Batman), Erotik (Pornografie) oder Religiosität (Devotionalien-Kitsch). Dazu bedient sich der Kitsch häufig folgender ästhetischer Muster und Motive: Kindchenschema, Verniedlichung, Anthropomorphisierung von Tieren, Pflanzen und Gegenständen, Sehnsuchtsmotive einer heilen, vorindustriellen Welt (Gartenzwerge), Flucht in Naturidyllen (Landschaft mit Sonnenuntergang), historisierende Darstellung (Fotos aus der «guten alten Zeit»). In der Gegenwart müssen zu den Instrumenten des Kitschs immer mehr auch Sexualisierung und Brutalisierung der Motive (Brutalo-, Sex- und Horrorvideos, oft mit neonazistischem Inhalt) gezählt werden. Auf der Suche nach Marktlücken oder Profitquellen sind alle Mittel recht! Indem der Kitsch Bedürfnisse und Sehnsüchte breiter Bevölkerungsschichten aufnimmt und sie mit Pseudobefriedigung erfüllt, absorbiert er im Grunde das utopische und kritische, auf Veränderung gerichtete Potenzial dieser Menschen.7 — 6 Dtv-Lexikon der Kunst, 1996. 7 Beat Schneider, Penthesilea, S. 381f.
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21. DESIGN – DRITTE WELT
Design – Eurozentrismus Design, so wie wir es bisher vor allem kennen, ist eine Angelegenheit, die nur eine Minderheit der Menschen betrifft. «Die Entwurfspraxis gilt nicht für 85 Prozent der Menschen in der Dritten Welt.»1 Gui Bonsiepe, von dem diese Aussage stammt, wies in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als erster prominenter Designvertreter auf diese Tatsache hin und eröffnete einen Diskurs, der später allerdings wieder etwas abflaute, aber dennoch auch heute aktuell ist. Für die Debatte prägte Bonsiepe die Begriffe «Design in den Metropolen» und «Design in der Peripherie» – in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Alle bisher erschienenen Designgeschichten, dies betrifft zum grossen Teil auch die vorliegende, haben das Design der Metropolen zum Gegenstand. Auch in den Nachschlagewerken und Bildbänden zum Industrie- und Grafikdesign kommen nur Designobjekte aus den hoch entwickelten kapitalistischen Industriestaaten Europas und Nordamerikas vor. Was ist die Ursache? Muss man den Autorinnen und Autoren einen eingeengten eurozentristischen Blickwinkel vorwerfen, der einen Teil der Designpraxis ausblendet? Einerseits stimmt das, denn es gibt in der Peripherie tatsächlich eine Entwurfspraxis, die systematisch unerwähnt bleibt und «in den Metropolen allenfalls als Kuriosum Interesse findet».2 Anderseits entspricht der Eurozentrismus leider der Designrealität. Die Designpraxis in der Peripherie folgt weitgehend den Stilvorgaben und Regeln, die aus den westlichen Kulturen Europas (und zum Teil der USA) importiert wurden. Der Eurozentrismus der — 1 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in: form+zweck, 2+3, 1991. 2 Ebenda.
238 21. Design – Dritte Welt
Designgeschichte hat also zwei Seiten. Erstens ist er eine Optik der Geschichtsschreibung, und zweitens ist Design vorwiegend ein Phänomen der Metropolen. Wenn es in der Peripherie eine Designpraxis gab, dann als Import. Freilich ist das Metropolen-Design, das in den letzten zwei Dekaden am meisten Aufmerksamkeit erregt hat, nicht das «gewöhnliche Design» für den Alltag der breiten Bevölkerung, sondern das Yuppieund Lifestyle-Design, das die Bedürfnisse der zahlungskräftigen Gesellschaftsschichten im Sinne von «form follows emotion» bedient hat. Kolonialismus, Imperialismus und Globalisierung Bekanntlich wurden einst bei der Kolonisierung der Drittweltländer durch die imperialistischen Staaten Europas die indigenen Traditionen dieser Länder zum grossen Teil ausgelöscht. Hand in Hand mit der Auslöschung ging die Eroberung durch die europäische visuelle Tradition. Dies hatte zur Folge, dass es während langer Zeit keine autochthone Gestaltung mehr gab und dass nur die importierten europäischen Traditionen wiederholt wurden. Die antikolonialen Befreiungskämpfe im 20. Jahrhundert galten neben dem Kampf um politische Unabhängigkeit auch den Bemühungen um eigene Würde und Freiheit und dem Aufbau einer eigenen nationalen Identität. Das Letztere wurde – oft unter dem Einfluss von BeraterInnen aus Osteuropa, Kuba oder China – mit einer Rückbesinnung auf die eigenen «nationalen» Traditionen verbunden. Der politische Befreiungsprozess war mit einer grossen kulturellen Arbeit verbunden, bei der KommunikationsdesignerInnen in den betreffenden Ländern mit der Gestaltung von Plakaten, Flugblättern, Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und dem neuen Fernsehen ihren Beitrag leisteten. Zudem galt es, eigene, nicht auf die imperialistischen Metropolen ausgerichtete öffentliche Infrastrukturen und an die eigenen materiellen Ressourcen anknüpfende Industrien zu entwerfen und aufzubauen. Als Beispiel sei hier die demokratische Revolution in Chile genannt. Zeitgleich mit dem Protest-Design in den westlichen Metropolen wurden 1970 nach der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten die «Comites des Disegno» gegründet. Mitbeteiligt war übrigens auch der oben zitierte Gui Bonsiepe, der zu jener Zeit gestalterischer Berater Allendes war. Die «Comites» setzten sich unter anderem den Entwurf «sozial nützlicher Güter» zum Ziel: agrarische Maschinen, medizinische Geräte und Einrichtungen für das Volksgesundheitswesen, Güter für den «Basiskonsum» wie Standardmöbel, Geschirr oder Haus-
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haltgeräte, Transportmittel sowie Produkte der Leichtindustrie. Das Ziel war die Schaffung von «tatsächlichem Gebrauchsbedarf», die Entwicklung einer autonomen «materialen Kultur», wie Bonsiepe 1974 erläuterte.3 Das für die Schwellenländer in der Dritten Welt bis anhin einmalige Konzept wurde durch den faschistischen Militärputsch unter General Pinochet 1974 beendet. Nach der kolonialen Befreiung blieben die meisten Drittweltländer ungewollt oder von den eigenen Oberschichten gesteuert in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den internationalen Märkten, die von den Metropolen beherrscht wurden. Lange bevor die digital gestützte Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann, war in den Drittweltländern die Globalisierung der Wirtschaft Wirklichkeit geworden. Im Folgenden soll auf die Auswirkungen auf das Design eingegangen werden, wobei Produktdesign und Grafikdesign zu unterscheiden sind. Produktdesign Der grösste Teil der industriell hergestellten Konsumgüter wurde in den Drittweltländern seit jeher importiert. Und das ist heute nach wie vor so. Dort, wo es eine eigene industrielle Produktion gab, wie zum Beispiel in den so genannten Schwellenländern Brasilien, Argentinien, Mexiko, Indien und Südkorea, folgte das Produktdesign den Leitbildern der internationalen Konzerne in den Metropolen, was durchaus in profilierter und professioneller Weise geschah. Doch der eigene Markt war noch nicht so ausdifferenziert und kaufkräftig, dass Produktdesign als Werkzeug hätte eingesetzt werden können. Nachdem auch ärmere Drittweltländer im grossen Stil als Billiglohnländer «entdeckt» worden waren, wurde in oft grossen industriellen Komplexen von Firmen mit Sitz in den Metropolen günstig produziert, wobei die Produkte in den Metropolen entworfen wurden. Grafikdesign Dagegen gab es in der Dritten Welt regionale Märkte für Grafikdesign, denn das Bedürfnis nach Kommunikationsmitteln und Gebrauchsgrafik war vorhanden. Vielerorts fand ab Mitte des 20. Jahrhunderts ein Aufschwung des Grafikdesigns statt, lokale Design- und Werbeagenturen entstanden, die ihr Können oft auch in den Dienst von Fernsehanstalten stellten. —
3 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in: form+zweck, 2+3, 1991.
240 21. Design – Dritte Welt
Die DesignerInnen gehörten in der Regel der oberen Mittelschicht und der Oberschicht an, die sich eine künstlerische Ausbildung (in den Metropolen) leisten konnten. Sie hingen den Geschmacksrichtungen ihrer Schicht an, die sich an der Ästhetik der Metropolen orientierte. Sie bedienten sich der modernen IC-Technologien, die aus den Metropolen stammten, und reproduzierten damit indirekt noch einmal die ästhetischen Vorgaben der Metropolen. Auf diese Weise setzte sich in den siebziger und achtziger Jahren in vielen Drittweltländern das funktionalistische Metropolen-Design in den Drittweltländern durch. Als Beispiel sei die typografische Gestaltung mit der Schrift «Helvetica» genannt, die in verschiedenen Varianten in Drittweltländern eine grosse Verbreitung fand (Abb. 158, 159). Diese Entwicklung hat auch Bonsiepe beschrieben: «Man kann sich des Erstaunens kaum erwehren, wie stark sich ‹Ulm› durchgesetzt hat (…) Diese Beobachtung trifft auch auf weite Teile des japanischen Designs zu. Sony Design war von Ulm geprägtes Design – ausgeschliffen bis ins Detail.»4 Der Prozess der Universalisierung des Grafikdesigns der Metropolen wurde im Globalisierungsschub Ende des 20. Jahrhunderts noch verstärkt. Die digitale Revolution machte die Omnipräsenz des Metropolen-Designs in der Peripherie auch technisch möglich. Durch das Internet findet ein Werttransfer von den Metropolen in die Peripherie statt. Manche sprechen von einer «zweiten Eroberung der Dritten Welt» durch das Internet, von einem «trojanischen Pferd»5 oder gar vom «Cyberimperialismus».6 Eine interessante Gegenbewegung findet seit einiger Zeit in der Volksrepublik China statt, wo grosse Anstrengungen unternommen werden, um einen eigenständigen export- und konkurrenzfähigen Designsektor zu entwickeln. Natürlich gab es in den Drittweltländern auch Eigenentwicklungen. In der Regel fanden diese aber im informellen Sektor der Armut statt und konnten mangels Sprachrohr in Gesellschaft und Wirtschaft nicht kulturell mehrheitsfähig werden. Ein Ausnahmebeispiel ist das sozialistische Kuba mit seiner beachtlichen eigenen kulturellen Produktion in der politischen Grafik (Plakate) und im Filmdesign. Grafikdesign in Lateinamerika Die folgende Auswahl der Länder und Inhalte des Grafikdesigns in der Peripherie folgt unter anderem der Zusammenstellung der dritten
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und bisher letzten Ausgabe des Who’s Who in Graphic Design 7, in dem ein weltweiter Überblick über die Strömungen des Grafikdesigns und seiner ProtagonistInnen gegeben wird. In allen nachfolgend aufgeführten Ländern ist auffällig, dass es meistens künstlerisch Ausgebildete und an den visuellen Traditionen der Metropolen Geschulte waren, welche das erste Grafikdesign entwarfen. Argentinien Das Grafikdesign wurde in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus der europäischen Kultur importiert. Dieser Transfer wurde über die Hinwendung zur Kunst der europäischen Moderne vermittelt. Bis in die sechziger Jahre erlebte das Grafikdesign einen grossen Aufschwung. Die Verbindung nach Europa funktionierte über die Achse Buenos Aires-Ulm-Zürich-Mailand und wurde durch den Argentinier Tomas Maldonado, den zweiten Direktor der Ulmer Hochschule für Gestaltung, personifiziert. T. Maldonado eröffnete 1951 sein erstes Grafikdesign-Studio «Axis» in Buenos Aires und gründete die typografisch orientierte Grafikdesign Zeitschrift tipografica. Nach Ulm liess sich Maldonado in Mailand nieder. Heute werden in den meisten argentinischen Universitäten Grafikdesign-Ausbildungen angeboten. Carlos A. Mèndez Mosquera von der Universität Buenos Aires meint allerdings, dass «in vielen unserer Städte immer noch grafische Barbarei vorherrscht.»8 Brasilien Von den sechziger bis neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand in stetiger Auseinandersetzung mit dem europäischen und teilweise auch mit dem US-Design das brasilianische Grafikdesign. Es erlebte in den letzten beiden Jahrzehnten einen Aufschwung, der nach Felipe Taborda mit der Entwicklung des rückständigen industriellen Sektors im Zusammenhang stand – eine «zweite Eroberung Brasiliens» (sic!).9 Der Einzug der digitalen Techniken aus den Metropolen führte wie überall in der Welt zu einer starken Umstellung der Designprofession. — 4 Gui Bonsiepe, Peripherie und Zentrum. Acht Fragen an Gui Bonsiepe, in: form+zweck, 2+3, 1991. 5 Richard Heeks, Failure, Success and Improvisation of Information Systems Projects in Developing Countries, Development Informatics Working Paper Series. N° 11, Manchester, 2002, S. 9. 6 Jack Epstein, Colonialismo Cibernetico? San Francisco, Freedom Magazines International, Inc. Latin Trade, 2000. 7 Andrea Grossholz (Projektleitung), Who’s Who in Graphic Design, Zürich, 1994. 8 Ebenda, S. 19. 9 Felipe Taborda, in: Ebenda, S. 56f.
242 21. Design – Dritte Welt
Chile In Chile gewann das Grafikdesign in den sechziger Jahren erste Konturen. Auch hier war es an Europa orientiert und dem «universellen Design» der Metropolen verschrieben.10 In der demokratischen Revolution unter Salvador Allende wurden die lateinamerikanische und insbesondere die spezifisch chilenische Eigenart stark betont. Zu nennen sind der Stil von Vicente Larreas und der revolutionär-sozialistische Stil, den die Ramona-Parra-Brigaden von den Graffiti und Wandgemälden für die Printmedien übernahmen. Nach dem Scheitern der «Unidad Popular» wurde im Grafikdesign nur noch der international gängige Stil gepflegt. In den achtziger Jahren wurde mit der Fachhochschulgründung das Design bildungspolitisch institutionalisiert. Kolumbien Die kolumbianische Entwicklung verlief wie in den andern lateinamerikanischen Ländern: Die europäische Designtradition wurde kopiert. Die grosse präkolumbianische gestalterische Tradition Kolumbiens von der Zeit vor dem 16. Jahrhundert war schon lange zuvor zerstört worden. In den achtziger und neunziger Jahren fand eine Auseinandersetzung mit den kümmerlichen Resten dieser ausgestorbenen autochthonen Tradition statt, indem an die präkolumbianische Ikonografie angeknüpft wurde. Zentrale Figur des Grafikdesigns war Trujillo Magnenat, dessen Plakate dem amerikanischen Stil der Mexikaner Orozco und Siqueiros verpflichtet waren. Kuba Als einziges lateinamerikanisches Land schaffte Kuba auf der Grundlage des radikalen Wandels durch die Revolution von 1959 die Entwicklung eines relativ eigenständigen Designs – relativ deshalb, weil der Einfluss des «Internationalen Stils» («Swiss Style») im kubanischen Grafikdesign auch feststellbar ist. Vor der Revolution war Design ein reines Importprodukt. Kuba stellte dem Design politische und wirtschaftliche Aufgaben, die sich in Lösungen in der Grafik, in der Plakatkunst, in Film und Fotografie, im Verlagswesen und im Entwurf von Industrieprodukten ausdrückten. In den achtziger und neunziger Jahren liess der kreative Elan des kubanischen Grafikdesigns nach.
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Mexiko In Mexiko fand der Aufschwung des Grafikdesigns in den sechziger Jahren statt. Wegmarke waren die olympischen Spiele von 1968, wo Lance Wyman das Corporate Design gestaltete (Abb. 165). Von den mexikanischen Universitäten, an denen Design gelehrt wird, genoss die Design-Fakultät der autonomen Universität von Mexiko-Ciudad Weltruf.11 Grafikdesign in Afrika Ägypten Das Design war wie Kunst und Architektur in Ägypten ein Begleitprodukt des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert. Design hiess also Vertrautheit mit den europäischen Techniken und Medien und Verarbeitung der europäischen Trends des «Internationalen Stils». Wie in Lateinamerika ist es auffällig, dass es im Westen visuell geschulte, freie Künstler waren, welche das erste Grafikdesign entwarfen. Das pharaonische, koptische und islamische kulturgeschichtliche Erbe spielte im Design kaum eine Rolle. Marokko Mit der politischen Unabhängigkeit Marokkos von Frankreich war in den sechziger Jahren die Entstehung des Grafikdesigns verbunden. Die Impulse gingen auch hier von der westlichen Avantgardenkunst aus und wurden den marokkanischen Protagonisten über ihr Studium in Frankreichs Akademien vermittelt. Die Künstler erforschten die eigene reiche Tradition der arabischen Kalligrafie und der geometrischen Symbole der Volkskunst. In den sechziger Jahren entstand eine international beachtete Plakatgrafik, die mit den Namen von Mohammed Melehi und Hussein Miloudi assoziiert wird.12 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, den Marokko in den siebziger Jahren erlebte, stieg der Bedarf an Werbe- und Gebrauchsgrafik, der mangels eigener Ausbildungsstätten und Fachhochschulen und wegen der internationalen Isolation des Landes kaum befriedigt werden konnte. So machten viele Firmen ihre Gebrauchsgrafik selber, und zwar mit Partnern, die sich aus eigenem Antrieb mit den neuen grafischen Computertechniken vertraut gemacht hatten. Entsprechend war das gestalterische Niveau.13 — 10 Marion Fonseca, in: Grossholz, Who’s Who, S. 96. 11 Francisco Fuentes de la Vega, in: Ebenda, S. 352. 12 Toni Maraini, in: Ebenda, S. 360. 13 Ebenda.
244 21. Design – Dritte Welt
Simbabwe Der antikoloniale Befreiungskampf in den siebziger Jahren machte einerseits neue Kräfte frei und schuf anderseits neue Bedürfnisse: Plakate, Flugblätter, Zeitschriften, Zeitungen usw. Vor der Revolution von 1980 hatte das weisse Rassenregime die Aufträge an Weisse vergeben. Nach der Revolution hatte Simbabwe Probleme mit der Rekrutierung von GestalterInnen, die den neuen Aufgaben gewachsen waren. Dazu kam noch, dass die Bedeutung des Designs für den Aufbau der neuen Gesellschaft und für die Schaffung einer neuen Identität vom Regime nicht erkannt wurde.14 Südafrika Die Geschichte der Gestaltung, der Werbung und des Marketings wurde in Südafrika von der kolonialistischen Situation bestimmt. Bis zu Beginn der neunziger Jahre wurden die gestalterischen Aufgaben in die Hände von importierten Fachkräften gelegt. Die Ausbildung erfolgte auf der Grundlage importierter Modelle und war der weissen Bevölkerung vorbehalten. Die neuen IC-Techniken erlaubten «die Aneignung des ‹Internationalen Stils›, dem blindlings gefolgt wurde».15 Der Sturz des Apartheid-Regimes war mit Hoffnungen auf eine revolutionäre Wirkung auf das Design verbunden. Die Neudefinition der Bedürfnisse, Ziele und Werte einer nicht rassistischen Gesellschaft, die Suche nach einer afrikanischen Identität, eröffneten dem Kommunikationsdesign ein breites Aktionsfeld. Als Erstes führte das zu einer Infragestellung der tradierten blinden Gefolgschaft gegenüber den internationalen Stilrichtungen.16 Die Suche nach einem eigenständigen südafrikanischen Designansatz brachte aber auch eine «banale Afrika-Nostalgie» hervor.17 Mangelndes Verständnis für das Design und das Fehlen einer nationalen Infrastruktur zu seiner Förderung wirkten sich auf die anfänglichen Hoffnungen lähmend aus. Grafikdesign in Asien Der Grafikdesigner Tai-Keung Kann aus Hongkong schätzt die Qualität seiner Disziplin in Asien so ein: «Die allgemeine Hebung des Lebensstandards in Asien hat das Bewusstsein der Menschen für Ästhetik gestärkt – ein Phänomen, das die Gestalter in diesem Raum zur höchsten Kreativität motiviert. Nach 20-jährigem Ringen um modernes Design hat Südkorea ein überdurchschnittliches Qualitätsniveau erreicht, das sogar jenes Hongkongs übertrifft. Singapur und
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Thailand hatten zwar durchaus ähnliche Möglichkeiten, engagieren sich aber stärker auf dem Gebiet der Werbung als auf dem Feld des Designs. Alles spricht dafür, dass im kommenden Jahrzehnt der Osten in der Welt führend sein wird. Daraus folgt, dass neben anderen asiatischen Ländern China, Taiwan und Hongkong im Brennpunkt des Interesses stehen werden.»18 In der Zwischenzeit sieht es ganz so aus, als ob sich diese Einschätzung bewahrheiten sollte. Die Volksrepublik China und die Republik Korea (Süd) machen gigantische Anstrengungen, um sich mit Design wirtschaftlich neu zu positionieren. China In China wurde die Entwicklung des Designs seit der Revolution 1949 durch die Abschottungspolitik der fünfziger bis siebziger Jahre stark behindert. Die Wirtschaftsreformen des Landes in den achtziger und neunziger Jahren brachten eine Öffnung und eine rasante Entwicklung des Wirtschaftsfaktors Design. Das chinesische Design stand lange ganz und gar unter dem Einfluss Hongkongs. Heute ist China auf dem besten Weg, seinen Rückstand gegenüber dem Westen aufzuholen und auf dem internationalen Markt eine Rolle zu spielen.19 Korea In den letzen dreissig Jahren erlebte das Grafikdesign in (Süd-) Korea «phänomenale Fortschritte».20 Auslöser auf dem Gebiet der grafischen Gestaltung waren das wirtschaftliche Wachstum und die neuen Technologien der Druck- und Computerindustrie. Eine grosse Zahl von grossen und kleineren Werbeagenturen und Designbüros etablierten sich im ganzen Land. Sie erhielten Aufträge von den grossen Industriekonzernen der Pharma-, Verlags-, Elektronik- und Automobilindustrie. Das koreanische Design unternahm grosse Anstrengungen, um international wettbewerbsfähig zu werden. Die Erfolge haben sich bereits eingestellt.21 Wegmarken für das Corporate Design waren die olympischen Spiele von 1988 und die Fussballweltmeisterschaft von 2003 in Seoul. Korea verfügt heute über siebzig Hochschulen und fünfzig Colleges sowie über 150 unabhängige Berufsausbildungsstätten für Grafikdesign. — 14Chaz Maviyanne-Davies, in: Grossholz, Who’s Who, S. 585. 15 Marian Santhoff, in: Ebenda, S. 428f. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 255. 19 Ebenda. 20 Siwha Chung, in: Ebenda, S. 347. 21 Ebenda.
246 21. Design – Dritte Welt
Jährlich erhalten etwa sechstausend StudentInnen ihre Grafikdiplome, die Korea «das Zeug dazu (geben sollen) auf dem Gebiet des Grafikdesigns Weltklasse zu erreichen».22 Indien Die fünf Jahrtausende alte indische Gesellschaft hat in den zwei letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Anschluss an die Metropolen geschafft.23 Die Globalisierung des indischen Marktes und seiner Medien und das Eindringen multinationaler Konzerne mit ihrem globalen Werbeformat in den indischen Markt sowie der Zugang zu den westlichen Medien durch Satellitenkanäle überrollten in den neunziger Jahren das indische Grafikdesign sowohl hinsichtlich seines Stils als auch hinsichtlich der Technik. Der neuen DesignerInnengeneration scheint der Umstieg auf die elektronischen Medien gelungen zu sein. Am Beispiel von Indien wäre es aufschlussreich zu untersuchen, inwiefern die Globalisierung bereits zu einer neuen kulturellen Kolonisation geführt hat.24 — 22 Grossholz, Who’s Who, S. 349. 23 Kisti Trivedi, in: Ebenda, S. 275. 24 Vgl. Ebenda.
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22. DESIGN – GENDER
Gender Design, ein marginales Thema Das Geschlecht (Gender) bringt eine soziale und kulturelle Prägung mit sich, die die Alltagswahrnehmung und -handlung essenziell prägt.1 Design bildet da keine Ausnahme. Sowohl die Designtätigkeit als auch der Gebrauch der Gegenstände wird durch die Geschlechtskonstruktionen bestimmt. Wer erwartet, dass die Behandlung der Genderproblematik einen ebenso breiten Raum einnehmen wird wie die andern Kapitel, wird enttäuscht werden. Denn die Genderproblematik ist im Design ein marginales Thema. In den bisherigen Designgeschichten kommt sie nicht vor. Die wenigen existierenden Versuche einer Designtheorie beziehen Geschlecht nie als eine soziale Strukturkategorie ein. Sie wähnen sich allgemein-menschlich.2 In der Designausbildung wird Gender Design nur vereinzelt gelehrt. So gibt es im deutschsprachigen Raum zum Beispiel an der Kölner Fachhochschule einen Lehrstuhl für Gender Design und an der Zürcher Hochschule für Gestaltung ein Nachdiplomstudium «Cultural and Gender Studies», wo ebenfalls das Design thematisiert wird. 1989 organisierte das Design Center Stuttgart die Ausstellung «Frauen im Design».3 In den neunziger Jahren wurde in Deutschland das «Designerinnen Forum e.V.» (DF) gegründet, das seither kontinuierliche, zum Teil auch internationale Aktivitäten entwickelt. Doch damit sind auch schon fast alle Aktivitäten aufgezählt. — 1 Uta Brandes, in: Vorlesungsverzeichnis zum Lehrgebiet Gender Design an der KISD, Köln, 2004. 2 Uta Brandes, Designing Gender, in: Design ist keine Kunst, Regensburg, 1998, S. 82. 3 Design Center Stuttgart (Hg.), Frauen im Design. Berufsbilder und Lebenswege seit 1900, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 2 Bde., Stuttgart, 1989.
250 22. Design – Gender
Die Sozialgeschichte der Designerinnen ist noch zu schreiben Die lange Absenz der Frauen in der bisherigen fast zweihundertjährigen Designgeschichte und die Gründe für die Dominanz der Designer in der Profession bis heute werden kaum theoretisiert, die Sozialgeschichte der Designerinnen muss also noch geschrieben werden. In vielem wird sie vermutlich Parallelen mit der Sozialgeschichte der bildenden Künstlerinnen haben. Die Geschlechtersegregation wird auch hier soziale, institutionelle und ideologische Gründe haben. — Zuerst muss die fast banale Feststellung gemacht werden, dass der Beruf der Designerinnen in der industriellen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert im Widerspruch zum vorherrschenden patriarchalen Rollenverständnis der Geschlechter stand, das die Frau an Haus und Familie bindet. Diese Bindung war die höchste Barriere für die Frauen. Die Rolle des Entwerfers, eine Neuschöpfung der industriellen Revolution, blieb den männlichen Protagonisten vorbehalten. Auch die Rolle des Kreativ-Schöpferischen war seit der Antike von den Männern besetzt. Mit zunehmender Tendenz wurde seit der Renaissance das, was Frauen produzierten, nicht mehr als Kunst oder Handwerk bewertet, sondern als Teil oder «Ausfluss» ihres weiblichen Wesens. Es war sozusagen «natürlicher» Teil ihres Geschlechts. Ihren Arbeiten wurden bestimmte «weibliche» Eigenschaften zugeschrieben, die man in ihnen auch suchte. Fehlten sie, wurde dies bemängelt. Solche Eigenschaften waren: zart, gefällig, lieblich, reizend, verspielt.4 Seit der Goethezeit hielten sich hartnäckige patriarchale Vorurteile und Klischeevorstellungen über die weiblichen gestalterischen Fähigkeiten. Man schrieb den Frauen zwar Begabung für die Fläche, kindliches Sehen, Ursprünglichkeit, Intuition und Reichtum an Nuancen zu, aber kritisierte den Mangel an umfassendem Blick und Intellekt sowie Harmlosigkeit.5 Auch in der «heroischen Phase der Designgeschichte», in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die durch gestalterische und soziale Progressivität geprägt war, waren Designer und Designerinnen «zutiefst davon überzeugt, dass es geschlechtsspezifische Begabungen gebe, wobei Fähigkeiten zu Intellektualität und dreidimensionalem Gestalten prinzipiell Männern vorbehalten seien.»6 — Wichtige Voraussetzung für die Designprofession war lange Zeit die Absolvierung einer Kunstakademie, einer technischen oder kunstgewerbliche Schule oder die Ausbildung an Lehrwerkstätten, die in der Neuzeit von Männern, den Pionieren der industriellen Revolution, geschaffen und beherrscht wurden. Für die Designlaufbahn wa-
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ren das konstituierende Faktoren, weshalb Frauen vor nicht zuletzt auch psychologischen Barrieren standen. — Eine ideologische Barriere bestand in der Symbolsprache des Designs, die im Design der industriellen Produktion stark durch den Stempel männlicher Interessen (Maschinen, Automobile usw.) geprägt war. Das Vokabular der Moderne – denken wir nur an die Maschinenmetapher, die den «Internationalen Stil» nachhaltig prägte – trug mit andern Worten die Merkmale des herrschenden männlichen Geschlechts. Die Überwindung dieser Barriere verlangte von den Designerinnen der Vergangenheit, aber auch heute noch ein hohes Mass an bewusster oder unbewusster Anpassung an die herrschenden «Regeln des Designs». Frauen im Design Die Widerstände der Männer und der patriarchalen abendländischen Gesellschaft gegen das Eindringen der Frauen in die Männerdomäne des Entwerfens waren im 19. Jahrhundert vielschichtig und hartnäckig und hielten auch im modernen, von progressiven Schüben gekennzeichneten 20. Jahrhundert an. Die Emanzipation der Frauen war inzwischen aber so weit fortgeschritten, dass man sich gezwungen sah, Konzessionen zu machen. So gab es auf den Weltaustelllungen in Wien 1873, in Philadelphia 1876, in Chicago 1893 und in Paris 1900 Frauenpavillons oder so genannte «Frauenpaläste», in denen die Produkte der Frauenarbeit ausgestellt wurden. In Deutschland wurden die ersten weiblichen Ausstellungsabteilungen erst 1914 eingerichtet, und zwar etwa gleichzeitig auf der Kölner Werkbundausstellung und auf der «Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik» in Leipzig. In separaten Räumlichkeiten und mit eigenem Katalog durften die Frauen dort ihre Produkte präsentieren. Die Absonderung und die Ausgrenzung aus der männlichen Kunst sollte jede Konkurrenz mit den Männern verunmöglichen.7 Im Bauhaus war in der Begeisterungsphase im ersten Jahr die Genderfrage kein Thema. Es wurde dann jedoch eine «Frauenklasse» eingerichtet, die sehr bald identisch war mit der Textilabteilung, in die von jetzt an die Mehrzahl der Frauen, welche die Aufnahme ins Bauhaus geschafft hatten, eingegliedert wurden. Bei der Aufnahme wurden die — 4 5 6 7
Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Stuttgart, 1989, Band 1, S. 175. Ebenda, S. 190. Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 13. Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Band 1, S. 186.
252 22. Design – Gender
Bewerberinnen strenger beurteilt als die Männer, das Ziel war erklärtermassen die Zugangserschwerung.8 Die Bauhaus-Statistik zeigt, dass der prozentuale Anteil der Studentinnen im Bauhaus von Jahr zu Jahr geringer wurde.9 Grund: die zunehmende Konzentration auf Entwurfsarbeit für die Industrie – Technik und Industrie galten bekanntlich nicht als weibliche Arbeitsbereiche. Auch in den fünfziger Jahren erging es den Frauen trotz neuer progressiver Entwicklungen in der Designgeschichte statistisch gesehen nicht viel besser: In der Hochschule für Gestaltung in Ulm betrug der Frauenanteil in den fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens ganze 15 Prozent von insgesamt 640 StudentInnen. Das Schicksal begabter Designerinnen «In der Geschlechterfrage, so scheint es, sind die sonst so sehr um sozialkulturelle Avantgardefunktionen bemühten Designer eines der Schlusslichter der Entwicklung», notiert Katrin Pallowski.10 Designerinnen waren in der Männerdomäne Design die Ausnahmen. Die folgende Auswahl symptomatischer Schicksale ist zwar zufällig, aber exemplarisch zu verstehen: Eine Designerin, die in Designgeschichten nur nebenbei erwähnt wird, aber zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des Designs gehört11, ist Eileen Gray (1878 – 1976). Dieter Weidmann stellt fest: «Obwohl phänomenal talentiert und fleissig, konnte sie sich gegen Platzhirsche wie dem wegen seiner Geltungssucht geradezu berüchtigten Le Corbusier nur schwer behaupten und liess sich aufgrund ihrer fast krankhaften Schüchternheit ständig in den Hintergrund drängen.»12 Erst in hohem Alter durfte sie mit der Wiederentdeckung der Art Déco ihren eigenen Nachruhm noch erleben. Eileen Gray war weit davon entfernt, aus ihren funktionalistischen Entwürfen (Abb. 62) Statements zu machen, ihr ging es um durchdachte Funktion, wie ihr legendäres Beistelltischchen zeigt, dessen Gestell geschickt unter ein Bett geschoben werden kann. «Ihr Beispiel zeigt deutlich, welches Potenzial in Architektur und Design in diesem Jahrhundert ungenutzt blieb.»13 Charlotte Perriand (1903 – 1999): Ihre Möbel entstanden in Zusammenarbeit mit Le Corbusier. Sie tragen deutlich ihre Handschrift und wurden berühmt, aber nicht unter ihrem, sondern unter dem Namen von Le Corbusier. Wer bringt den berühmten Stahlrohrklassiker «Chaiselongue 2072» schon mit Perriand in Verbindung (Abb. 50)?
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Le Corbusier entwarf nach dieser Zusammenarbeit nie wieder Möbel, Perriand hingegen arbeitete bis ins hohe Alter als Möbelentwerferin. Ihr Schicksal ist ein Paradebeispiel dafür, dass es fast unmöglich war, sich als eigenständige Designerin einen Namen zu machen. Auch im Bauhaus bildeten die Frauen eine Ausnahme. Marianne Brandt (1893–1983) durfte als einzige Frau 1928 die stellvertretende Leitung der Metallwerkstätte übernehmen. Brandt gilt als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Bauhaus-Metallwerkstatt. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Entwürfe von Industrieprodukten und Einzelstücken aus Metall und Glas (Abb. 70). Nur die klassischen Frauendisziplinen wie die Weberei waren in weiblicher Hand: Gunta Stötzl (1897 – 1983) leitete die Dessauer Webklasse. Eine Möglichkeit, sich als Frau einen Namen zu machen, war das Auftreten als Gattin eines Designers. So traten zum Beispiel Ray Eames in den vierziger Jahren (Abb. 115) und später in den achtziger Jahren Susi Berger (Abb. 201) und Trix Haussmann (Abb. 202) immer zusammen mit ihren Ehemännern Charles, Ueli beziehungsweise Robert als KünstlerInnen- und DesignerInnen-Ehepaare auf. Diese Frauen waren an allen Arbeiten ihres Mannes massgeblich beteiligt. Mit ihrem gemeinsamen Auftritt nahmen sie in Kauf, in einer nach wie vor patriarchal geprägten Gesellschaft nur im Schatten ihres Ehepartners wahrgenommen zu werden. Harte und weiche Designdisziplinen Seit einigen Jahrzehnten gibt sich das Design als Beruf, der allen Geschlechtern offen steht. Die Zahl der Studentinnen, die den Ausbildungsgang Design belegen, hat drastisch zugenommen. Die bei den Studierenden erreichte Geschlechterparität ist bei den Lehrenden allerdings nicht annähernd erreicht. Die Männerdominanz im Lehrpersonal der Designhochschulen ist eklatant – zu untersuchen wäre, wie sich diese Dominanz auf das Sprachklima auswirkt. «Die Hochschulen, an denen Design gelehrt wird, leben also gegenwärtig mit einem Widerspruch: Sie sind nicht mehr Hochschulen primär für Männer, aber immer noch von Männern geprägt.»14 — 8 Magdalena Droste, in: Frauen im Design, Band 1, S. 189. 9 Ebenda, S. 199. 10 Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 11. 11 Dieter Weidmann, Design des 20. Jahrhunderts, S. 20. 12 Ebenda, S. 20. 13 Ebenda. 14 Katrin Pallowski, in: Frauen im Design, Band 2, S. 15
254 22. Design – Gender
Uta Brandes stellte fest, dass es im Design von Beginn an «eine Segmentierung, nämlich eine Aufspaltung in so genannte harte und weiche Bereiche gibt».15 Hier die harten Disziplinen wie Industriedesign, Medien- und Interface-Design oder Management, dort die hausarbeitsnahen, auf das Private und das Heim ausgerichteten Disziplinen wie Textil-, Mode-, Schmuck-, Keramik-Design oder Illustration. Diese Differenzierung ist in der beruflichen Praxis sehr ausgeprägt, aber auch in der Ausbildung – mit abnehmender Tendenz – festzustellen. In Industrieunternehmen sind Designerinnen immer noch selten. So kommt denn auch das deutsche «Frauenkulturbüro NRW» zu der eindeutigen Aussage: «Zwar steigt die Zahl der Studentinnen im Industriedesign stetig, doch die geschlechtsspezifische Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt bleibt.»16 Mit der geschlechtsspezifischen Segmentierung ist nach Uta Brandes aber nicht nur eine «Geschlechterzueignung», sondern auch eine «Bewertungshierarchie» verbunden.17 Die gesellschaftliche Höherbewertung der harten Disziplinen widerspiegelt die nach wie vor existierenden geschlechtsspezifischen Herrschaftsverhältnisse. Das trifft seit jeher auch auf das Möbeldesign zu. Obwohl das Möbeldesign eher den «weichen» und «inneren» Bereich des Heims betrifft, ist es im Gegensatz zum Textildesign eine männliche Domäne. Diese Besonderheit hat eine einfache Erklärung: Berufsdisziplinen, die ökonomisch und sozial anerkannt, also mit Prestige verbunden sind, werden zu männlich besetzten Disziplinen. Die Möbelproduktion ist ökonomisch bedeutend, und Möbel gehören zu den ausgeprägt repräsentativen und statusbildenden Gegenständen. Das befördert das Möbeldesign in eine vorwiegend männliche Domäne. Eine Antwort auf die Geschlechtersegregation im Design war im Gefolge der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Selbstorganisation der Designerinnen. 1992 wurde in Deutschland das «Designerinnen Forum» (DF) gegründet, das mit seinen Aktivitäten das Bewusstsein für die Berufssituation von Designerinnen schaffen und ein Netzwerk von Beratungsangeboten aufbauen will. 2003 organisierte das DF in Kooperation mit der Köln International School of Design (KISD) den «Ersten Europäischen Gendertag», wo es um Bilder der Weiblichkeit und Männlichkeit im Design, in den Medien und der Automobilwelt ging.
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Gender und Markt Zur Design-Gender-Problematik gehört auch die geschlechtsspezifische Rezeption des Designs in Bezug auf Produkte und BenutzerInnen. Gender Design beschäftigt sich mit der scheinbaren Geschlechtsneutralität der Produkte, die sich bei genauem Hinsehen als geschlechtsspezifisch konnotiert erweisen. Uta Brandes wies in ihren Arbeiten die weibliche und männliche Konnotation der einzelnen Formen der Mobiltelefone nach. Das Produktdesign von «Handys» bezieht beim Entwurf seiner Produkte bewusst und in durchaus manipulativem Sinn die Assoziation mit geschlechtsspezifischen Objekten mit ein – mit entsprechendem Erfolg. Der Markt scheint die Erkenntnisse aus der Geschlechterfrage gekonnt zu instrumentalisieren, um das «weibliche Marktsegment bedienen zu können».18 Mit seinen Auftraggebern hat das Design zum Beispiel entdeckt, dass auf Grund demografischer und statistischer Aussagen die Zukunftsmärkte weiblicher sein werden. Das «Kompetenzzentrum Frau und Auto an der Hochschule Niederrhein» ging deshalb der Frage nach, wie Frauen sich das weibliche Auto wünschen. Es ermittelte die Ansprüche und Bedürfnisse in repräsentativen Recherchen und erstellte daraus einen «Frauenautoindex». Auch eine Art von «Gender Mainstreaming»! Nur werden dabei vermutlich die alten sexistischen Rollenklischees weitergegeben.19 — 15 Uta Brandes, in: Design ist keine Kunst, S. 83. 16 Frauenkulturbüro NRW e.V., www.frauenkulturbuero-nrw.de. 17 Uta Brandes, in: Designing Gender, S. 83. 18 Uta Brandes, in: Das undisziplinierte Geschlecht, Opladen, 2000, S. 184. 19 Gender Mainstreaming bedeutet die Gesellschaftsgestaltung ohne Ausgrenzung des einen oder anderen Geschlechts auf dem Weg zu einer gleichgestellten Gesellschaft.
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23. DESIGN – THEORIE
Neue theoretische Bemühungen Wer in den folgenden Ausführungen eine Theorie des Designs erwartet, muss zur Kenntnis nehmen, dass eine solche Theorie nicht das intelligible Produkt eines Einzelnen sein kann, sondern allenfalls das Ergebnis einer Designdisziplin sein könnte, welche ihre Praxis reflektiert. Gibt es gegenwärtig eine solche Disziplin? Zu beobachten sind an verschiedenen Orten zaghafte Bemühungen, die von der Erkenntnis ausgehen, dass heute ein Designdiskurs dringend notwendig ist. Solche Bemühungen finden an verschiedenen Designhochschulen statt, bei denen die Theoriebildung – so sollte man wenigstens meinen – zum Kerngeschäft gehört. Hier sind im deutschsprachigen Raum namentlich die Hochschulen von Offenbach, Weimar, Köln, Essen, Bremen und Schwäbisch Gmünd zu erwähnen. Von Letzterer ist in den neunziger Jahren eine Initiative zur Theoriebildung ausgegangen.1 Es gibt aber auch zwei hochschulübergeifende Initiativen: die Gründung der «Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung» (DGTF) im Jahr 2002 und das «Swiss Design Network» (SDN), das 2004 von der Regierung als nationales Forschungsnetzwerk der schweizerischen Hochschulen für Gestaltung anerkannt worden ist.2 Beide Institutionen hielten im Jahr 2004 Symposien ab, die der Designtheoriebildung gewidmet waren. Ausserhalb des deutschen und schweizerischen Raumes gibt es Bemühungen zur Designtheorie, deren Beginn schon länger zurückliegt: Im angloamerikanischen Bereich sind diese mit Namen wie Morris Asinow, Christopher Alexander und Bruce Archer verbunden, im frankokanadischen mit Alain Findeli (Montreal). — 1 Diese Initiative ist dokumentiert in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt a.M., 2003. 2 Vgl. www.dgtf.de und www.swiss-design.org.
258 23. Design – Theorie
In Europa hat der so genannte Bologna-Prozess zu Beginn des 21.Jahrhunderts mit seiner von oben initiierten und gesteuerten Durchsetzung verschiedenwertiger Hochschulausbildungsgänge einen sanften Zwang auf die Theoriebildung ausgeübt. Die Masterausbildung ist auch im Bereich Design nicht ohne vertiefte theoretische Auseinandersetzungen vorstellbar – das Gleiche gilt im Grunde freilich auch für die Bachelor-Grundausbildung. All den erwähnten Initiativen und Bemühungen ist gemeinsam, dass sie erst am Anfang stehen und kaum untereinander verbunden sind. Das Design steht also am Beginn eines durchaus viel versprechenden Prozesses. Die folgenden Ausführungen bilden einen Beitrag zu diesem Prozess. Sie reflektieren als metatheoretische Überlegungen das Verhältnis des Designs zur Theorie und stellen Bedingungen und Möglichkeiten für eine Designtheorie zur Diskussion. Theorielosigkeit des Designs? Gui Bonsiepe charakterisierte treffend die Situation im Design: «Schaut man sich die gegenwärtige Lage des Designs an, fällt der eklatante Widerspruch zwischen der Publizität des Designbegriffs – nach dem Motto ‹Alles ist Design› – und der Theorielosigkeit des Designs auf. Ich schreibe dieses Phänomen nicht einer Theoriemüdigkeit zu, wie Habermas sie für die Sozialwissenschaften feststellte. Design ist heute ein theoretisch unerschlossenes Phänomen, und das trotz (oder sollte man sagen wegen?) seiner allgegenwärtigen Präsenz im Alltag und in der Wirtschaft.»3 Dem ist zuzustimmen, zumal Bonsiepe ausdrücklich «von der gegenwärtigen Situation» und von «heute» spricht. Er konnte 1992 die neusten Bemühungen noch nicht kennen. Er deutete damit aber auch an, dass der Zustand des Designs nicht immer so war; denn in der Designgeschichte gab es immer wieder Theorien oder zumindest Theorieversuche und Manifeste. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte Gottfried Semper in Deutschland und in der Schweiz eine frühe theoretische Debatte über das Design. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts entwarf William Morris, der einflussreiche Initiator der Arts & Crafts-Bewegung, zusammen mit John Ruskin die erste soziale Theorie des Designs. Im Jugendstil theoretisierte Henry van der Velde das Verhältnis des Designs zur Industrie. Die Wiener Moderne verfügte im «Wiener Kreis» und im «Verein Ernst Mach» über ein starkes theoretisches, zum Teil wissenschaftliches Argumentarium zur Begründung ihrer Praxis. Im deutschen Werkbund verfügten die beiden kontrahierenden Lager
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in der Person von Hermann Muthesius und Henry van der Welde über Theoretiker, welche die Anfänge des Funktionalismus eingehend begründeten. Der Konstruktivismus, insbesondere der russische, lieferte gesellschaftspolitisch fundierte Theorien zur Designpraxis. Die Theorie des Funktionalismus wurde dann im Bauhaus zu einer rational-analytischen Entwurfsauffassung vertieft und in der Ära Meyer zu einer sozialen Theorie ausgebaut. Die Ulmer Hochschule für Gestaltung legte in den fünfziger und sechziger Jahren die bisher umfassendste theoretische Begründung der Gestaltung vor. Von ihr stammte die erste wissenschaftliche Gestaltungsmethodik, die auf das deutsche und internationale Design der sechziger, siebziger und achtziger Jahre einen nachhaltigen Einfluss ausübte. Rationale Ansätze, die diskursorientiert die Nähe zu wissenschaftlichen Nachbardisziplinen aufwiesen, gab es in den fünfziger und sechziger Jahren auch in der Schweiz («Neue Grafik» oder «Swiss Style»), England, Holland und in den USA. Es ist schwierig nachzuvollziehen, wie angesichts der genannten Theoriebemühungen Cordula Meier in ihrem ansonsten sehr aufschlussreichen und anregenden Buch zur Designtheorie zu der Aussage kommen konnte, dass man «erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts (…) von designtheoretischen Überlegungen sprechen (kann)».4 Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: In den achtziger Jahren versandete mit der «Überwindung des Funktionalismus» der theoretische Diskurs. In den achtziger und neunziger Jahren lagen Theorie und Wissenschaft einerseits und visuelle Gestaltung anderseits weiter auseinander denn je. Die Theoriebildung des Designs steht seit einiger Zeit vor einem Neuanfang. Theorieferne des Designs Thomas Wagner stellte 2004 am zweiten DGTF-Kongress in Hamburg zum Thema «Wie viel Theorie verträgt die Profession?» fest, dass viele erfolgreiche DesignerInnen gegenüber der Theorie unsicher seien und das Klima zwischen Theorie und Praxis im Design gespannt sei. Er stellte die rhetorische Frage, ob der Grund dafür im schlechten Gewissen liege, das aus einer weit verbreiteten Praxisfetischisierung resultiere, in der Angst vor der Macht des Diskurses oder gar in Verdächtigungen, dass die Theorie die Praxis bevormunden wolle? Es ist eine empirische Erfahrung des Autors, dass sich die DesignerInnen — 3 Gui Bonsiepe: Die sieben Säulen des Design. Design braucht keine Manifeste, sondern Fundamente in: form+zweck, 20, Berlin, 2003. 4 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 21.
260 23. Design – Theorie
tatsächlich nicht gern dem theoretischen Diskurs stellen. Fitzgerald K. Quietude notiert: «Design hat keine Tradition der Kritik oder des Überzeugtseins vom Wert der Kritik. Ausbildungsprogramme des Designs betonen weiterhin das visuelle Ausdrucksvermögen, nicht aber sprachliches oder schriftliches Ausdrucksvermögen. Das Ziel besteht darin, einem Kunden oder hypothetischen Publikum eine Entwurfsidee zu verkaufen. Selten wird Design in Bezug auf Kultur und Gesellschaft thematisiert.»5 Design interessiert sich nicht für Theorie, sondern für Rhetorik. Nicht das Warum und Wofür, sondern das Wie steht im Vordergrund. Das ist einerseits verständlich, denn in der Praxis zählt in der Regel der gute Entwurf und nicht die vermeintlich sekundäre Recherche und die brillante Analyse. Anderseits scheint darin auch eine Angst zu liegen, die zu einer Abwehrhaltung führt. Es ist die Angst vor der vielleicht unliebsamen theoretischen Erkenntnis, dass es mit der Freiheit des Designs gar nicht so weit her ist, wie man sich einbildet. Vielleicht wehren sich die DesignerInnen instinktiv gegen die Selbsterkenntnis, dass sie einen Mythos leben, dass sie dem Markt im Grunde retrogradisch nachhinken und ihn kaum schöpferisch beeinflussen können und dass sie in der Praxis nicht Demiurgen sondern Diener übergeordneter wirtschaftlicher Innovationszwänge sind? Die Hypothek der Kunst Aus dem historischen Überblick ist ein Grund für die Behinderung des theoretischen Diskurses in der Kunstlastigkeit des Designselbstverständnisses zu erkennen. Das Design verstand sich als Unterkategorie der Disziplin Kunst und nicht als als selbständige Disziplin und überliess Theorie und Geschichtsschreibung allzu oft der Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte. Eine starke, bisweilen dominante Tradition in der Geschichte des Designs seit der Industrialisierung bis in die Gegenwart war und ist von der Kunstmotivation, von der Kunstinspiration für ein expressives Design geprägt. Sie hatte seit jeher die Tendenz, die eigene Praxis als künstlerische zu fetischisieren, sich des rationalen Argumentierens zu entheben und stattdessen die Sphäre der irrationalen künstlerischen Kreativität zu lieben und die Aura des Autorendesigns zu pflegen. In diesem Kontext entstand immer aufs Neue der Mythos vom kreativen «Artist-Designer», der mit seinem «guten» Design die Dinge der Welt arrangiert. Der Mythos vom kreativen Schöpfer – Frauen spielen in der abendländisch-patriarchalen Tradition keine schöpferische Rolle – nährte sich auch aus der empirischen Erfahrung, dass es selbstbezogene Kreativität immer wieder
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braucht, um Neuem in der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen. Der Mythos war aber dazu angetan, der Designprofession den Blick auf die Realität eher zu verstellen als zu erhellen. Otl Aicher fragte deshalb: «war kunst nicht insgesamt ein alibi, um die wirklichkeit denen zu überlassen, die sie beherrschten?»6 Und diese Wirklichkeit sah und sieht bekanntlich nicht nach «gutem» Design aus. Aber die Zunft hielt liebend gern an den Ritualen des Autorendesigns (Jurierung, Preisverleihung, individualisierte Ausbildungskarrieren usw.) fest. Die Wurzeln des antirationalen Designmythos liegen seit der europäischen Aufklärung in der Hypostasierung der gesamten ästhetischen Sphäre ins Reich des «Höchsten»‚ «Erhabenen» und «Interesselosen», in der Irrationalisierung der künstlerischen Produktion und in der Transzendierung des künstlerischen Werks in die auratische Ferne völliger Autonomie. So lastet auf dem Design seit Ende des 18. Jahrhunderts die «Hypothek der Kunst» (Lucius Burckhardt), die den Weg zur Industrialisierung des Designs immer wieder behinderte.7 Werkbund und Bauhaus, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, lebten in der ständigen «Auseinandersetzung einerseits mit Kunstakademien und anderseits mit den Kunstgewerbeschulen, wie sie aus dem späten 19. Jahrhundert überkommen waren. Auch die Entwerfer von Gegenständen des Kunstgewerbes waren Künstler, die an den genialen Allüren der Kunstakademie geschult waren.» Das Bauhaus löste die Auseinandersetzung, indem es die neu(alten) Figuren des «Lehrlings», «Gesellen» und «Meisters» schuf, ein eher «krampfhafter Versuch» wie L. Burckhardt bemerkte.8 Markt kontra Designtheorien Die Designtheorien der Moderne standen seit den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts alle in einer gemeinsamen historischen Vermittlungslinie: Basierend auf der Tradition der Aufklärung, traten sie mit hochgesteckten sozialreformerischen Vorstellungen und moralischen Anliegen an. Sie hatten die Ambition, mit «gutem Design», mit dem Wissen um angemessene Gestaltungslösungen und mit sozialem Engagement die Welt etwas besser zu machen. — 5 Fitzgerald K. Quietude, zitiert aus: Gui Bonsiepe, Von der Praxisorientierung zur Erkenntnisorientierung, in: Erstes Design Forschungssymposium, 14.,15. Mai 2004, Swiss Design Network (SDN), Zürich 2005, S. 17 (www.swiss-design.org). 6 Otl Aicher, in: Herbert Lindinger (Hg.), Hochschule für Gestaltung Ulm. Die Moral der Gegenstände, Berlin, 1991, S. 124. 7 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 189. 8 Ebenda.
262 23. Design – Theorie
Ebenso gemeinsam war diesen Theorien, dass sie zwar die Praxis der jeweiligen Designgemeinschaft reflektierten, aber im Widerspruch zur effektiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität standen. Die theoretischen Begründungen für ein «gutes Design» und für die Durchsetzung des guten Geschmacks in der breiten Bevölkerung hielten den Fakten des realen industriellen Produktionsprozesses in der Regel nicht stand. Im historischen Rückblick kann man feststellen, dass sich das wirtschaftliche Paradigma des «Mehr-schneller-billiger» im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts im Design trotz Widerständen allmählich durchsetzte. Wenn zum Beispiel ab Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland dem viel geschmähten amerikanischen Styling, das heisst der marketingorientierten Verwandlung der Oberfläche der Objekte, noch heftiger Widerstand entgegengesetzt wurde, so war Ende der achtziger Jahre das Mainstreamdesign bereits vollständig dem marktgängigen Prinzip des «form follows fun and emotion» verschrieben. Das Beispiel des Stylings zeigt, dass das Design dort Erfolg hatte, wo es die Prinzipien des Marktes adäquat abbildete. Zwei weitere Beispiele: 1. Das Prinzip der «Wohnmaschine» von Le Corbusier setzte sich nicht mit seinen elitären Objekten durch, sondern im kulturhistorisch viel bedeutenderen Bauwirtschaftsfunktionalismus der Trabantenstädte und Plattenbausiedlungen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. 2. Das Bauhaus produzierte an den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung vorbei und scheiterte an der deutschen Vorkriegsrealität. Es setzte sich aber in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren in der neofunktionalen Massenproduktion und in der funktionalen Werbegrafik des «Swiss Style» weltweit durch. Designtheorie als Ideologie Die theoretischen Begründungen des Designs ignorierten die ökonomischen Realitäten oder blendeten sie aus. Sie wollten nicht wahrhaben, dass Produktdesign unter anderem ein Ergebnis des ökonomischen Zwangs zur ständigen Revolutionierung der Warenwelt und zur standardisierten Massenproduktion ist, so wie Innovation und der «Zwang zum ewig Neuen» im Grunde ein Marketingtrick sind.9 «Die Modernen (…), die glaubten, den ‹guten Geschmack› ein für alle Mal verankern zu können, wollten die ökonomische Notwendigkeit des ständigen Modewandels nicht wahrhaben. Viel eher als ihrer gut gemeinten erzieherische Aktion ‹Die gute Form› gelang es ungefähr
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gleichzeitig den Amerikanern, mit Baseballmütze, Bluejeans, CocaCola, Disney, Hollywood, McDonald’s und Nike weltweit nachhaltig auf den kollektiven Geschmack einzuwirken.»10 Die sozialästhetische Idee der Moderne, dass guter Geschmack von der Gestaltung gemacht werde, hat ihre Wurzeln in der vormodernen Erfahrung, wonach die feudale gesellschaftliche Elite in Mode und Kunst den Geschmack weitgehend von oben nach unten bestimmen konnte.11 Die GestalterInnen und KünstlerInnen der Moderne täuschten sich, als sie annahmen, dass dies auch für die Massenkulturen des 20. Jahrhunderts zutreffe. Den wirtschaftlichen Kontext nicht kritisch zu analysieren war für eine Disziplin, die sehr direkt von diesem Kontext determiniert wird, fatal. Die mit der Neugestaltung der Dinge und der Umwelt verbundene Hoffnung auf eine bessere Welt blieb eine uneingelöste Utopie. Ja, die Idee der idealistischen und positivistischen Designtheorien von einer positiven gesellschaftlichen Wirkung des Designs in der Konsumgesellschaft war ein naiver Irrtum. Das Design konnte nicht zu einer die Gesellschaft prägenden Kraft entwickelt werden. Vielmehr bestimmten die wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ihrerseits das Design und die Ästhetik der Dinge. «Es gibt kein unabhängiges Design.» Der Ulmer Otl Aicher, der dies 1970 sagte, wagte später die These, dass das Industriedesign den Zerfall einer humanen Welt nicht verhindert, sondern sogar beschleunigt habe, da «es sich vor den alles bestimmenden apparat der marktbeherrschung und wirtschaftsexpansion spannen liess».12 In diesem Licht betrachtet, wird das Beharren der Designtheorie auf ihren ästhetischen und moralischen Ansprüchen zur Ideologie. Anders formuliert: Die ideologische Komponente der Designtheorien besteht in der Ausblendung oder Ignoranz gegenüber den realen wirtschaftlichen Mechanismen und in deren Verbrämung mit erhabenen künstlerisch-ästhetischen und gebraucherorientierten Absichten. Das Verfügen über eine Utopie oder eine Vision ist an und für sich noch keine Ideologie. Die Utopie muss sich aber auf die Praxis beziehen und sich an ihr spiegeln. Wenn sie nur zur Aufrechterhaltung eines Mythos dient, wird Theorie zur Ideologie. — 9 Meret Ernst, Vom ewigen Zwang zum Neuen, in: Hochparterre, 3, 2004, S. 40. 10 Christoph Bignens, Swiss Style, S. 70. 11 Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 76. 12 Otl Aicher, Die Ästhetik ist das große Geschäft, in: form 50, S. 5ff.
264 23. Design – Theorie
Zwei aktuelle Beispiele Dieter Rams («Weniger Design ist mehr Design»), der Chefdesigner der Firma Braun ab den fünfziger Jahren und prominenter Vertreter der «Guten Form», befand im Jahr 2000, dass das «funktionale Design» wieder eine Zukunftsaufgabe habe. Rams wörtlich: «Die Gestaltung der Produkte muss zur nachhaltigen Verkleinerung der Produktmenge beitragen. (…) Der Designer (…) trägt wieder soziale Verantwortung, denn neues Design muss: Herstellungs- und Betriebskosten senken (…), die Art der Nutzung verbessern, Umweltverträglichkeit sichern, zum richtigen Verhalten auffordern.»13 Erstaunlich, was das Design nach der Phase der postmodernen Beliebigkeit plötzlich alles wieder leisten soll. Nach allen Erfahrungen der Vergangenheit wird es einmal mehr überfordert sein! Von guten Absichten und gleichzeitig theoretischer Hilflosigkeit zeugt auch die «Zweite Deklaration des St. Moritz Design Summit» aus dem Jahr 2003. Dreissig namhafte DesignerInnen und ExpertInnen verabschiedeten in ihrer jährlich stattfindenden Alpen-Retraite folgende Erklärung (in vollem Wortlaut): «Im Rahmen globaler Ökonomie werden im Geschäftsleben oft Entscheidungen über Design zu kurzfristig getroffen. Zunehmend gerät Design unter willkürlichen Termindruck und wird zur hektischen Innovationsmaschine. Das lässt keine Zeit zum Nachdenken und verhindert vernünftige Entwicklungsprozesse. Deshalb ermöglicht Design häufig dubiose Innovationen, die die Welt mit nur immer mehr Dingen für jene überschwemmen, die ohnehin schon alles haben. Intelligentes Design dagegen verweigert sich der Anbiederung an Marketing Hypes und streikt. Wir fordern Zeit, um über die Situation des Design und unsere Position in der Gesellschaft nachzudenken: zum Nutzen einer besseren Design- und Lebensqualität. Deshalb erklären wir den 21. Juni jeden Jahres zum internationalen Design-Aktionstag. St. Moritz, Dezember 2003.»14 Im Gegensatz zu Dieter Rams optimistischem Szenarium geht die Deklaration von einer relativ nüchternen und fast resignierten Lagebeurteilung aus. Das Denkmuster ist aber durchaus traditionell: Hier das gute Design, das nun das «intelligente Design» heisst, und dort die wirtschaftlichen Zustände der «globalen Ökonomie», die so hektisch seien, dass «häufig» (bedeutet das mehrheitlich?) kein intelligentes Design zustande komme. Dieses Muster kennen wir seit den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts: William Morris, der «Vater» der Arts & Crafts-Bewegung, hatte in seiner sozialen Designtheorie den
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«entfremdenden Kapitalismus», den «unnatürlichen Industrialismus» für die Unmöglichkeit eines guten Designs verantwortlich gemacht.15 Die letzte Konsequenz aus dieser Erkenntnis, nämlich die Verweigerung der Entwurfstätigkeit unter den gegebenen Bedingungen und die Notwendigkeit der Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mochte Morris bekanntlich nicht ziehen, obwohl er Sozialist war. Er löste den Konflikt nicht und blieb in Denken und Handeln widersprüchlich. Als Entwerfer unter entfremdeten Produktionsbedingungen gestand er sich ein, nur «dem schweinischen Luxus der Reichen zu dienen».16 Hier geht die Deklaration einen Schritt über Morris hinaus. Design will nicht mehr «hektische Innovationsmaschine» sein und zu «dubiosen» Geschäften beitragen. Es will «unter den herrschenden Bedingungen der Marktwirtschaft» nicht länger «mitverantwortlich (sein) für kurzfristige Hypes, die nur dank Marketingtricks ein Publikum finden».17 Design will sich nicht dem Markt «anbiedern», sondern es ruft wirklich zur Verweigerung, ja zum «Streik» auf. Bei ihrer Verweigerung bleibt die Deklaration aber auf halbem Weg stehen, indem sie den «Streik» auf eine symbolische Handlung, einen jährlichen Aktionstag sublimiert. Also doch keine Verweigerung! Mit dem «Streik», der keiner ist, bleibt den AutorInnen der Deklaration auch erspart zu präzisieren, wen sie bestreiken wollen und an wen sie Forderungen stellen. An die Hochschule, wo sie ProfessorInnen sind? An das Designatelier, das ihnen selber gehört? Das ergibt keinen Sinn! Oder an die KundInnen in Form der Verweigerung von «dubiosen» Aufträgen? Das wäre schon eher sinnvoll. Aber wieso dann nur an einem Tag, und an den restlichen 364 Tagen gibt sich das «intelligente Design» weiterhin dem hektischen Innovationsgeschäft hin? Die Wahrheit ist, dass Design, zumindest Produktdesign, heute nichts anderes ist als ein Innovationsmetier! Damit sind wir wieder bei William Morris angekommen. Dieser wurde auch nicht müde, neben seiner «entfremdeten» Entwurfstätigkeit, bei der sich übrigens gutes Geld verdienen liess, ab und an in Vorträgen die üblen Zustände des Kapitalismus anzuprangern. —
13 Dieter Rams, Ist funktionales Design noch eine Zukunftsaufgabe?, in: Wolfgang Schepers, Peter Schmitt (Hg.), Das Jahrhundert des Designs, S. 286. 14 Laut Hochparterre 3, 2004, Zürich, S. 42 haben folgende Personen an den Gesprächen teilgenommen: Volker Albus, James Auger, Ruedi Baur, Uta Brandes, Tim Brown, Susanna Dulkinys, Kenji Ekuan, Michael Erlhoff, Meret Ernst, Mieke Gerritzen, Achim Heine, Welfhard Kraiker, Peter Krouwel, Seiichi Mizuno, Ruedi Alexander Müller, Milena Mussi, Claudia Neumann, Chantal Prod’Hom, Britta Pukall, Stefan Sagmeister, Manfred Schneckenburger, Jutta Simson, Erik Spiekermann, Axel Thallemer, Johann Tomforde, Paolo Tumminelli, Garth Walker, Stefan Ytterborn, Jörg Zintzmeyer. Außer Ruedi Alexan der Müller haben die Deklaration alle unterzeichnet. 15 Vgl. Kapitel 2. 16 Vgl. Kapitel 2. 17 Die Summit-Teilnehmerin Meret Ernst in ihrem Kommentar, in: «Hochparterre», 3, 2004, Zürich, S. 42.
266 23. Design – Theorie
In der Analyse des gesellschaftlichen Kontextes des Designs war Morris vor 150 Jahren allerdings etwas weiter als die Deklaration von 2003. Seine Schriften zeugen von einer theoretisch fundierten Gesellschaftsund Wirtschaftskritik, während die Deklaration den Eindruck erweckt, theoretisch nicht eben beschlagen zu sein. Sie will ja auch zuerst über die «Position des Designs in der Gesellschaft nachdenken». Schleierhaft ist, wie aus diesem Nachdenken eine «bessere Designqualität» und erst noch eine «bessere Lebensqualität» (für wen?) resultieren soll. Denn allem Nachdenken zum Trotz wird die «globale Ökonomie» wohl auch weiterhin das Design wie eine «hektische Innovationsmaschine» benutzen! Und so ist aus dem von der «Lucky Strike Foundation» (British American Tobacco) bezahlten und im Fünfsternehotel Suvretta House abgehaltenen St. Moritzer Designgipfel nichts anderes als eine kleine ideologische Nebelpetarde hervorgegangen. Denn diese Deklaration ist ein nicht ganz durchdachter Appell für einen halbherzigen Rückzug aus dem Tagesgeschäft – ein folgenloses Moralisieren über die gesellschaftlichen Zustände. Beides wie gehabt! Design braucht Theorie Die beiden Beispiele machen deutlich: Design braucht Theorie! Zu wenig Theorie – der Status quo – schwächt das Design an sich und in seiner Positionierung als Disziplin unter anderen Disziplinen, während zu viel Theorie – das sei an die Adresse derjenigen gerichtet, die sich vor einer Bevormundung der Praxis fürchten – nicht schädlich ist. Was zu viel ist, wird wie überflüssige Vitamine aus dem menschlichen Körper ausgeschwemmt.18 Eine seriöse Disziplin ist immer ein Komplex aus Praxis und Theorie. Die Designdisziplin ist ein Gebilde aus Kunst- und Handfertigkeit (skill) und Entwurfsintelligenz (Diskurs).19 Spätestens seit Immanuel Kant wissen wir, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind.20 «Design gründet in Sprache», hat Gui Bonsiepe richtig bemerkt21, was freilich nicht mit Geschwätzigkeit zu verwechseln ist. Denken und Reflexion sind ein Teil des Gestaltungsprozesses. Hier kann die Theorie anknüpfen – im Sinne einer Reflexivität, die den Entwurfs- und Gestaltungsprozess problematisiert. Diese Reflexivität ist notwendiger denn je, weil heute sowohl die gesellschaftliche und technische als auch die Designpraxis sehr komplex geworden sind. Die Designpraxis braucht eine Theorie, die ihrer Komplexität entspricht. Die Komplexität des Designs gründet in ihrem heutigen Gegenstand und in ihrer
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interdisziplinären und transziplinären Verfassung. Ein Netz von vielen Disziplinen, wissenschaftlichen Disziplinen aus dem Bereich der Human-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften, Disziplinen aus Industrie, Handel, Verwaltung und Kultur und die komplexe Vielfalt der BenutzerInnen sind am Designprozess und an der gemeinsamen Lösung von Aufgaben beteiligt. Die Transdisziplinarität verlangt Kommunikation und fordert vom Design vor allem eine eigene «Diszipliniertheit hinsichtlich begrifflicher Schärfe und methodologischer Stringenz».22 «Im gegenwärtigen Zustand einer Informations- und Wissensgesellschaft und eines verwissenschaftlichten Alltags wird der Verzicht auf das Instrument ‹wissenschaftliche Theorie› unverständlich, die Ressourcen Wissenschaft und Forschung sind längst ein Bestandteil des kulturellen Kapitals geworden. (…) Die Welt ist ohne Wissenschaft nicht vorstellbar, eine Gestaltung wohl kaum ohne wissenschaftliche Theorie», analysiert Cordula Meier.23 Designtheorie muss die visuelle Gestaltung in einen diskursiven und rechtfertigungsbefähigten Kontext stellen. Fazit: Design braucht empirische Theorie, die systematisch geordnete, allgemeine rationale Aussagen über den Bereich der objektiven Realität macht, der das Design betrifft. Eine Theorie, die in der Verallgemeinerung ihres Wissens und zwar auch ihres impliziten Wissens (Know-how) und ihres stillschweigenden Wissens (tacit knowledge) besteht. Eine Theorie, die zum Beispiel Aussagen über Gesetzmässigkeiten der Visualisierung im Sinne einer visuellen Rhetorik macht. Eine Theorie, die sich also nicht nur auf eine Methodologie des Entwurfsprozesses beschränkt – ganz abgesehen davon, dass das Design auch hier grosse Defizite aufweist. Eine Theorie, bei der die gesellschaftliche Praxis das entscheidende Kriterium ist, an dem sie sich zu bewähren hat. Keine Theorie in diesem Sinn braucht ein Produktdesign, das seine Aufgabe darin sieht, den Innovationsbedürfnissen und technologie- und trendbedingten Anpassungen der jeweiligen Märkte Ausdruck zu verleihen und die Dinge zu beschönigen. Hier kann man das Geschäft ruhig weiterhin der ungezügelten praktischen Kreativität, angereichert — 18 Der Vergleich stammt von Thomas Wagner anlässlich des Zweiten DGTF-Kongresses in Hamburg, 30. Januar 2004. 19 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 14. 20 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft I, zweiter Teil. 21 Gui Bonsiepe, Interface Design neu begreifen, Mannheim, 1996. S. 233. 22 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 15. 23 Ebenda.
268 23. Design – Theorie
mit etwas Marketing und Ergonomie, überlassen. Anders ist es, wenn sich das Design als eine Orientierungswissenschaft versteht, als eine Disziplin, die sämtliche Bereiche kommunikativer und sozialer Praxis tangiert und die davon ausgeht, dass Design (ähnlich wie Sprache) ein Grundmodus des Handelns ist.24 Aus der Geschichte lernen Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Designgeschichte einige Fragen hinterlässt. Der Theoriediskurs muss versuchen, Antworten zu finden und so aus der Geschichte die nötigen Lehren zu ziehen, im Bewusstsein, dass auch die Antworten historisch bedingt sind. 1. Die Designtheorie muss von den bisherigen Mythenbildungen Abschied nehmen. Es ist ein ganzes Bündel von Mythen, das die Designtheorie über Bord werfen muss: dass Design eine treibende Kraft sei; dass es ein Kunstdesign gebe; dass Design die Produktionsabläufe beeinflussen könne; dass das Design Anwalt der VerbraucherInnen sei; dass mit «gutem Design» der Geschmack der Bevölkerung beeinflusst werde könne; schliesslich muss auch der Mythos verabschiedet werden, dass bei der Auseinandersetzung um ökologische Nachhaltigkeit das Design mehr als eine untergeordnete Rolle spielen kann. 2. Die Designtheorie muss Design radikal kontextualisieren und systemisch denken. Am Anfang und im Zentrum aller Intentionen steht der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Kontext. Design ist als Subsystem in ein System eingebunden, das es von Anfang an und in jeder Designpraxis zu reflektieren gilt. Designerisches Handeln orientiert sich an «einem Denken in Systemzusammenhängen ökonomisch-ökologischer und lebensweltlicher Wirkungsnetze».25 So befähigt sich Designtheorie, allgemeine Interessen von partikularen überzeugend unterscheiden zu können. 3. Designtheorie ist zwingend normative Theorie. Jede Theorie, auch wenn sie sich als wertneutral gibt, ist in einen normativen Zusammenhang und in einen Wertkontext eingebettet. Die Logik der Kontextualisierung führt das Design zu einem (systemischen) Denken, das von vorneherein normative Postulate einbezieht und diese stets transparent macht. Solche normativen Postulate wären etwa die Überlebensfähigkeit unseres Planeten und der Menschheit, die Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen und individuellen Handelns und die Aufklärung. Die ökonomische Rationalität, in die das Design als marktteilnehmende Tätigkeit eingebunden ist, erweist sich aus einer kritischen aufklärerischen Optik immer mehr als eine, die unter dem Diktat von
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Partikularinteressen versagt.26 Wolf Reure meint: «Die Rolle des Designs als verkaufsförderndes Stimulans ist nur noch in dem ignoranten Kalkül einer Firma aufrechtzuerhalten, nicht aber in einem Selbstverständnis, in dem es sich gesamtsystemischen Zusammenhängen stellt. Damit hätte es sich auch dem Verwertungszusammenhang zu entziehen, in dem es – kritisch – schon von Herbert Marcuse als Gesellschaftskritiker und Otl Aicher als Designer gesehen wurde, die die Manipulation zu nicht an Bedarf orientiertem Konsum als Intention individualistisch-bornierten Wirtschaftskalküls unter Beschuss nahmen.»27 Eine kontextualisierte und kritische Designtheorie sorgt dafür, dass das designerische Potenzial, vor allem die gestalterische Kreativität, legitimierbar und verantwortbar platziert wird. Design als Orientierung Nach den ausführlichen Präliminarien kann dazu übergegangen werden, weitere Eckpfeiler für eine Designtheorie zu setzen. Als Bezugspunkt wird der Rekurs auf eine Entwurfs- und Gestaltungsgeschichte vorgeschlagen, wie sie sich im rationalen Gebrauchsdesign, insbesondere im «Swiss Style» herausgebildet hat. Dieses international einflussreiche Design ging von einem rationalen, in der Tradition der Aufklärung und der Moderne stehenden Ansatz aus, strebte in der Lösung von Designproblemen einen universellen und wissenschaftlichen Umgang an und definierte sich als eine soziale, in den gesellschaftlichen Kontext eingebettete Praxis. Es stand selber wiederum in Beziehung zur rational-analytischen Entwurfsauffassung des Bauhauses und der Gestaltungsmethodik der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Ein aktueller Ansatz, der in dieselbe Richtung geht, ist die designtheoretische Initiative, die in den neunziger Jahren von der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd und dort insbesondere vom früh verstorbenen Thomas Rurik ausgegangen ist.28 Auch auf diese Initiative wird im Folgenden Bezug genommen. In der genannten Traditionslinie der Moderne stehend, soll Design als eine Orientierungsdisziplin theoretisiert und positioniert werden.29 — 24 Vgl. Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 12. 25 Wolf Reuter, Komplementäre Rationalitätskonzepte beim Entwerfen von Objekten in einer abgeklärten Moderne, Ulm. Auch in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 107. 26 Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, ebenda. 27 Ebenda. 28 Thomas Rurik et al., Gestaltung als Aufklärung. Historische Konzepte und Perspektiven einer anderen Designgeschichte, in: Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 144-150. 29 Die Begriffe «Orientierung» und «Design als Orientierungswissenschaft» werden hier von Cordula Meier übernommen (vgl. Meier, Frankfurt .a. M. 2001[2. Auflage: 2003]), S. 16ff.
270 23. Design – Theorie
Ihre Aufgabe ist es, als Wissenschaft dazu beizutragen, unsere komplexe Welt sicht- und lesbar zu machen. Sie steht im normativen Kontext der aufklärerischen Tradition der Alphabetisierung und Demokratisierung von Wissen und Erkenntnis. «Sie heisst immer auch Aufklärungsgestaltung für gesellschaftliche Öffentlichkeit; insofern ist sie mit dem Politischen oder der Zivilität untrennbar verbunden.»30 Design ist immer politisch, wenn nicht, ist es überflüssig! Design dient der Vereinfachung und Verständlichkeit von komplexen und unübersichtlichen Datenmengen und Informationsgebilden. Es baut die Kompliziertheit der Welt ab und macht sie zum Zweck der besseren Verständigung einfacher.31 «Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht (…) die Frage nach der Brauchbarkeit, dem Funktionieren von kommunikativen Inhalten.»32 Die visuelle Argumentation gestaltet Information so, dass sie zu Kommunikation und Handlung führt. Als Kommunikationsgestaltungsprozess wird auch die Gestaltung beziehungsweise die semantische Aufladung von Gegenständen durch das angestammte Produktdesign verstanden. Die Arbeits- und Problemfelder des Designs als Orientierung umfassen die Tätigkeit des bisherigen Produkt- und Grafikdesigns und sind folgende: 1. Die öffentlich-soziale Kommunikation (die Gestaltung der Orientierung im öffentlichen Raum, des Verhältnisses zum privaten Raum, der Kommunikation unter den gesellschaftlichen Akteuren, der multikulturellen Integration usw.) 2. Die wissenschaftlich-technologische Kommunikation (die Gestaltung der Verwandlung von Information zu Kommunikation, der visuellen Lesbarkeit der Wissenschaften, der Kommunikation unter den Wissensträgern usw.) 3. Die didaktisch-pädagogische Kommunikation (die Gestaltung der Demokratisierung des Wissens, der Orientierung in den Informationsnetzen usw.) 4. Die kulturelle Kommunikation (die Gestaltung der Orientierung in der eigenen Kultur, der Internationalisierung der kulturellen Kommunikation und der Vermittlung zwischen den Kulturen usw.) 5. Die wirtschaftliche Kommunikation (die Gestaltung der Kommunikation unter den wirtschaftlichen Akteuren, der Corporate Identity dieser Akteure usw.) 6. Die politische Kommunikation (die Gestaltung der Orientierung in den politischen Prozessen, des Auftritts staatlicher Institutionen und der politischen Willensträger usw.)
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Als Orientierungsdisziplin ist das Design eine rationale Methode, die sich durch Analyse und Argumentation auszeichnet. Eine Verständigung in einer komplexen Welt ist nur auf rationaler Ebene erfolgversprechend. Verlangt sind Genauigkeit, Klarheit und Sparsamkeit in allen Produktionsfeldern des Wissens und der Erkenntnis. Die entwerferische Aufgabe heisst Rationalisierung. «Voraussetzungen hierfür sind die konstruktiven Elemente der Normierung, Standardisierung und Typisierung. (…) Soziale Verständigung benötigt ein Regelinstrumentarium, das die Bedingung für wechselseitiges Verstehen ist.»33 Die Glaubwürdigkeit des Designs als Orientierung wird an seiner Verständlichkeit, seiner gesellschaftlichen Verpflichtung und der Funktionalität seiner Mitteilungsformen gemessen. — 30 Cordula Meier, Design Theorie, S. 149. 31 Ebenda, S. 147. 32 Ebenda, S. 144. 33 Ebenda, S. 146.
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24. DESIGN – FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT
1. Begriffsklärung Forschung in Zusammenhang mit Design ist seit einiger Zeit auch im deutschsprachigen Teil Europas ein Thema.1 Forschungsförderungsinstanzen in Deutschland und in der Schweiz sehen sich mit der neuen Entwicklung konfrontiert, dass aus dem Designbereich Forschungsanträge präsentiert werden, und an verschiedenen Orten findet neuerdings eine rege Debatte über Designforschung und über den epistemologischen Status von Design statt.2 Wir wollen die bisherige Diskussion kurz zusammenfassen:3 In der Designforschung werden im Wesentlichen zwei Kategorien unterschieden, die beide den Anspruch erheben können, wissenschaftliche Forschungsdisziplinen zu sein: Designforschung I: Forschung über Design Die Designforschung ist die Untersuchung der Disziplin Design. — Diese wird Forschung über Design genannt (engl.: «research into design»4 ; frz.: «recherche sur le design»5). — 1 Zur Designforschung in Grossbritannien und Finnland: Dagmar Steffen, Doctoral Education in Design, in: hfg forum, Nr. 18, Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main, Offenbach, 2003. 2 2002 wurde in Köln die «Deutsche Gesellschaft für Designtheorie und -forschung» (DGTF) gegründet, die seither jährlich einen Kongress zu Aspekten der Designforschung veranstaltet. 2004 erhielt das «Swiss Design Network» (SDN), das nationale Forschungsnetzwerk der schweizerischen Hochschulen für Gestaltung, von der Bundesregierung die Akkreditierung. Das SDN veranstaltete 2004 ein Symposium zur Designforschung, an dem ReferentenInnen aus Deutschland, Brasilien und Kanada teilnahmen. Der Reader zum Symposium: Erstes Design Forschungssymposium, Swissdesignnetwork. www.swiss-design.org. 3 Der Autor ist als Vorstandsmitglied der DGTF und als Präsident des «Swiss Design Network» (SDN) in den aktuellen Diskurs über Designforschung involviert. 4 Christopher Frayling, Research in Art and Design, in: Research Papers Royal College of Art, Vol. 1, Number 1, 1993–94, S. 5. 5 Alain Findeli, Erstes Design Forschungssymposium, S. 50.
274 24. Design – Forschung und Wissenschaft
— Hier ist Designforschung eine wissenschaftliche Disziplin unter andern wissenschaftlichen Disziplinen. Untersuchungsgegenstände sind zum Beispiel die Designgeschichte, die Ästhetik oder die Designtheorie, in der das Wesen des Designs oder seiner Methoden reflektiert wird. — Forschung über Design gelangt in ihrer Analyse der Designtätigkeit zu allgemein nachprüfbaren Erkenntnissen. — Forschung über Design «agiert von aussen, den Gegenstand auf Distanz haltend. Forscher sind wissenschaftlich arbeitende Beobachter, die den Gegenstand möglichst nicht verändern.»6 — Zu dieser oft mit dem traditionellen Begriff der Grundlagenforschung belegten Kategorie von Designforschung gehören Projekte etwa im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Designs (wie die Untersuchung des Wirtschaftsfaktors Design), in der Wahrnehmungsforschung oder Ästhetik sowie Methodenprojekte etwa im Bereich der auch experimentellen Verbesserung der Designmethodologie, der Steuerung der Entwurfsprozesse, der Standardisierung von Repräsentationsmethoden usw. Designforschung II: Forschung durch Design Designforschung kann aber auch die Entwurfstätigkeit des Designs, beziehungsweise die Entwicklung durch Design sein. — Diese wird Forschung durch Design genannt (engl.: «research through design»; frz.: «recherche par le design»).7 — Forschung durch Design ist eine Entwurfs- beziehungsweise eine Entwicklungsdisziplin.8 Sie wird auch «Handlungsforschung» (engl.: «action research») genannt.9 — Entwicklung im Allgemeinen bezeichnet die erstmalige oder mindestens kontextuell neuartige Kombination vorhandenen Wissens und besonderer Forschungsergebnisse, die mit dem Ziel erfolgt, Neues zu schaffen oder herbeizuführen (Prozess- und Produktinnovation). — Entwicklung durch Design im Besonderen bezeichnet die planvollkreative Neu- und Weiterentwicklung von Visualisierungen, und zwar einerseits von Handlungsprozessen und von Botschaften verschiedener gesellschaftlicher Akteure und anderseits von diversen Funktionen von Gebrauchsgegenständen und deren Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Benutzer oder auf die Wirkung auf die Benutzer. Das Ergebnis der Entwicklung durch Design sind materielle und immaterielle Produkte (Konzepte usw.) — Forschung durch Design und Forschung über Design haben unterschiedliche Sichtweisen. Die zweite beobachtet ihren Gegenstand
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aus der Perspektive der Erkennbarkeit, während die erste die Welt zuerst einmal aus der Perspektive der Entwerfbarkeit angeht und dabei zu neuen, auch grundlagenorientierten Erkenntnissen gelangt. — Das neue Wissen, das Forschung durch Design hervorbringt – Bildwissen ist mitgemeint – ist dann wissenschaftlich, wenn der Entwicklungsprozess und seine Resultate sowie die neuen Erkenntnisse in einem Bericht nachprüfbar formuliert10 und allenfalls visualisiert und einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind.11 — Forschung durch Design besteht in der Regel aus verschiedenen Phasen (Informationsphase und Recherche, analytische Phase, Entwurfsphase, Entscheidungsphase, Verwirklichungsphase), deren Methoden unterschiedlich sind. — Die Methoden lassen sich rational beschreiben, womit sie allgemein verbindlichen, intersubjektiv gültigen Forschungsstandards Genüge leisten. Einzig die Entwurfsphase lässt sich nicht abschliessend rational beschreiben, da sie unter anderem auf Intuition und Kreativität beruht. — In den einzelnen Phasen der Forschung durch Design werden nach Bedarf Wissen und Forschungsergebnisse aus den Ingenieurund Sozialwissenschaften, der Ergonomie, der kognitiven Psychologie, der Semiotik, der Politologie usw. verwertet und angewendet; denn komplexe Entwurfsprobleme lassen sich heute ohne vorgeschaltete und parallel laufende Forschungstätigkeiten nicht mehr bearbeiten. Die Entwurfstätigkeit ist in zunehmendem Mass «kognitiv durchwoben».12 — In den meisten Fällen ist Forschung durch Design deshalb interdisziplinär. — Wenn die Methoden, die in der Forschung durch Design zur Anwendung kommen, reflektiert, beschrieben und weiterentwickelt werden (Designmethodologie), handelt es sich um Forschung über Design (vgl. Designforschung I). — Auch wenn versucht wird, das Wissen, das im Forschungsbericht festgehalten ist, zu einer Theorie zu verallgemeinern, handelt es sich um Forschung über Design.
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6 Wolfgang Jonas, Forschung durch Design, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 29. 7 Deutsch: Wolfgang Jonas, ebenda; Englisch: Christopher Frayling, Research in Art and Design, S. 5; Französisch: Alain Findeli, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 50. 8 Zum Verhältnis von Forschung und Entwicklung vgl. Brockhaus-Enzyklopädie, 1988, Band 7, S. 468. 9 Christopher Frayling, Research in Art and Design, S. 5. 10 Christopher Frayling: Die Entwicklungsschritte werden in einem Protokoll dokumentiert und die Resultate schriftlich referiert und kommuniziert. «Both the diary and the report are there to communicate the results which is what separates research from the gathering of referend materials», Research in Art and Design, S. 5. 11 Dazu ist die Diskursfähigkeit der Designprofession gefordert. 12 Gui Bonsiepe, Von der Praxisorientierung zur Erkenntnisorientierung, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 16.
276 24. Design – Forschung und Wissenschaft
In Abgrenzung zur Forschung und Entwicklung werden im schweizerischen Hochschulkontext unter Dienstleistungen alle Tätigkeiten subsummiert, die den Hauptzweck haben, bekanntes Wissen routinemässig anzuwenden und zu transferieren. Dazu zählen Beratungen, Gutachten, Firmenschulungen usw.13 Designforschung III: Forschung sui generis Darüber hinaus wird Forschung durch Design in der Diskussion immer wieder auch als eine Forschung sui generis betrachtet, eine Forschung also, die sich nicht unter die beiden genannten Kategorien subsummieren lässt.14 — Design wird als spezifische Methode in der Herangehensweise zur Welt qualifiziert, welche neues, bildhaftes Wissen über diese Welt generiere. — In dieser Forschung wäre die Erkenntnis sozusagen mit dem künstlerischen Artefakt vereint («embodied»15). Das Ziel wäre nicht primär kommunizierbares Wissen im Sinn von verbaler Kommunikation, sondern im Sinn von visueller oder ikonischer Kommunikation.16 — Dieser Ansatz von Designforschung ist bisher nicht über die deklamatorische Ebene hinausgegangen. — Da eine solche Forschung nicht nachprüfbares und diskursfähiges Wissen hervorbringt, stellt sich die Frage, ob aus dem Anspruch je eine anschlussfähige Forschungsdisziplin wird. — Der Ansatz ist auf der Ebene der kreativen Entwicklung von visuellen Interpretationen der Wirklichkeit anzusiedeln, womit allfällige Forschungsprojekte am ehesten bei der Kategorie «Entwicklung durch Design» anzusiedeln wären. Die ersten beiden Kategorien etablieren sich gegenwärtig zusammen mit der Designlehre an den Hochschulen für Gestaltung als Designwissenschaft.
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2. Der Stand der Dinge 2.1 Ausgangspunkt Design in der Schweiz bedeutet seit jeher hohe Leistungsqualität. Diese geht unbestritten auf die Tradition ausführlicher Ausbildung in kunsthandwerklichen und technischen Kategorien und damit auf die Praxis des Designs in verschiedenen Bereichen zurück. Dies gilt in der Produktgestaltung für Möbel-, Uhren- und Textildesign, in der Typografie ist an den «Swiss Style» und das «Präzisionsdesign» zu denken, auch in der Fotografie gab es einen hohen Standard. Charakteristisch für diese Gestaltungstradition ist ihre handwerkliche Praxisorientiertheit. Designausbildung fand bis in die jüngste Vergangenheit ausschliesslich in den privaten Ateliers und an den Schulen für Gestaltung, den vormaligen Kunstgewerbeschulen, statt. Praxisorientiertheit der Designdisziplin bedeutet nun aber nicht, dass keine theoretischen Überlegungen stattgefunden hätten. In den Designausbildungsstätten der Kunstgewerbeschulen wurde unter dem Einfluss zum Beispiel des Dessauer Bauhauses oder später der Ulmer Hochschule für Gestaltung von den Dozierenden die Entwurfspraxis theoretisiert. Dazu gab es auch entsprechende Publikationen (vgl. Kapitel 23, Abschnitt «Theorielosigkeit des Designs?»). In den schweizerischen Designzeitschriften wie Graphis und Neue Grafik fand in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein intensiver Diskurs über die Designdisziplin statt. Eine kontinuierliche Debatte zur Designtheorie und eine Forschungstradition (im Sinn der beiden im ersten Abschnitt dieses Kapitels genannten Kategorien) gab es allerdings nicht. Das trifft jedoch zumindest auch für die Nachbarländer Deutschland, Österreich und Frankreich zu. In der Schweiz kommt dazu, dass das Land keine Kunsthochschul- und Kunstakademietradition kennt, was die zusätzliche Absenz einer ausgeprägten Theorietradition an der Schnittstelle Kunst / angewandte Kunst erklärt. In jüngster Zeit hat sich mit der Gründung der sieben schweizerischen Hochschulen für Gestaltung die Situation grundsätzlich geändert. — 13 Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz (KFH): Anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen, 20.11. 2004, Bern. 14 Christopher Frayling nennt diese Forschung in seiner Systematik «Forschung für Design» (Research for design), Research in Art and Design, S. 5. 15 Ebenda, S. 5. 16 Ebenda, S. 5.
278 24. Design – Forschung und Wissenschaft
2.2 Wo findet Designforschung statt? — In einigen fortgeschrittenen Designunternehmen werden Entwicklungsprojekte durchgeführt, an denen oft verschiedene Disziplinen beteiligt sind. Publiziert werden diese Forschungserfahrungen allerdings kaum. — An den universitären Hochschulen wird die traditionelle bildungsbürgerliche Hierarchie von Kunst und angewandter Kunst weiter gepflegt. Design ist kein Thema. Im besten Fall gibt es einen Lehrstuhl für Gegenwartskunst, an dem es zwangsläufig zu Berührungen mit dem Design kommt. — An den Hochschulen für Gestaltung findet seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Forschung in den beiden oben genannten Kategorien statt. Forschung über Design: Diverse Grundlagen- und Methodenprojekte wurden bereits abgeschlossen oder sind im Gang. An verschiedenen Hochschulen wird Designgeschichte gelehrt und zum Teil auch erforscht. Theoretische Bemühungen über Design fanden in den neunziger Jahren im Umfeld des Museum für Gestaltung in Zürich und des Instituts für Theorie der Gestaltung der Zürcher Hochschule statt. Forschung und Entwicklung durch Design: Die grössere Anzahl der laufenden und abgeschlossenen Forschungsprojekte sind Entwicklungsprojekte, die anwendungsorientiert sind oder zusammen mit einem wirtschaftlichen oder öffentlichen Partner abgewickelt werden. 2.3 Forschung an den Hochschulen für Gestaltung 1. Der erweiterte Leistungsauftrag Im Unterschied zu den andern europäischen Gestaltungshochschulen sind die sieben Hochschulen für Gestaltung in der Schweiz durch das Fachhochschulgesetz von 1995 (FHSG) zum so genannten erweiterten Leistungsauftrag und zum Wissens- und Technologietransfer (WTT) verpflichtet. Neben der Lehre, auf der nach wie vor das Hauptgewicht der Fachhochschultätigkeit liegt, sollen Forschung und Entwicklung vorangetrieben werden. Nicht dass in den andern europäischen Gestaltungshochschulen nicht geforscht würde. Die Forschung konzentriert sich dort aber eher auf Designtheorie und -geschichte und weniger auf anwendungsorientierte Entwicklungsprojekte. Der Leistungsauftrag ist der Hauptgrund für die Tatsache, dass es in der Schweiz im europäischen Vergleich eine relativ stark forcierte Forschungstätigkeit gibt. So gesehen ist der Leistungsauftrag für das Design eine Chance.
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2. Forschung an Fachhochschulen ist anwendungsorientierte Forschung Der verbindliche Forschungsauftrag im Rahmen des erweiterten Leistungsauftrags ist allerdings auf anwendungsorientierte Forschung beschränkt. Anwendungsorientierte Forschung ist auf die Erzeugung von neuem lösungsorientierten Wissen und auf die Entwicklung von innovativen Produkten ausgerichtet. Der Slogan der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT), «science to market», spricht diesen Sachverhalt unverblümt aus. Diese Forschung wird mit wirtschaftlichen, öffentlichen oder kulturellen Partnern zusammen durchgeführt. Die Forschungsprojekte werden deshalb zuerst durch Drittmittel, also durch die Partner finanziert. Erst dann kommen die Mittel der staatlichen Förderinstanzen dazu. Grundlagenforschung, was immer auch darunter verstanden wird, ist nach der Auffassung des Gesetzgebers den universitären Hochschulen vorbehalten. 2.4 Design war als Wissenschaft bisher nicht gefragt oder umstritten Design war in der Vergangenheit nicht gezwungen, sich als Wissenschaft zu definieren und zu reflektieren. Es verstand sich vorwiegend als berufliche und teilweise als künstlerische Praxis. Allerdings gab es in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Industriedesign in Deutschland intensive Überlegungen zum Design als Disziplin, genauer zum Entwurfsprozess und seinen Methoden ( = Designmethodologie). Die Ulmer Hochschule für Gestaltung spielte dabei eine wegbereitende Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte in den europäischen Industrieländern bekanntlich ein intensiver wirtschaftlicher Aufschwung stattgefunden; der Wettbewerb der nationalen Wirtschaften verschärfte sich bald zu einem internationalen Konkurrenzkampf. «In dieser Situation musste sich auch das Industrial Design den veränderten Bedingungen anpassen, das heisst, es konnte nicht weiterhin subjektive und emotionale Gestaltungsmethoden praktizieren, während die Industrie zunehmend begann, Entwurf, Konstruktion und Produktion zu rationalisieren. Somit lag es nahe, dass sich die Industrial Designer darum bemühten, wissenschaftliche Methoden in den Entwurfsprozess zu integrieren, um damit in der Industrie als seriöse Gesprächspartner akzeptiert zu werden.»17 Das bedeutete nun allerdings nicht, dass sich — 17 Bernhard Bürdek, Design, S. 119.
280 24. Design – Forschung und Wissenschaft
Design durchgängig als Wissenschaft zu verstehen begann. Auch an der Hochschule für Gestaltung in Ulm nicht. Gui Bonsiepe, selber ein Mitglied dieser Hochschule, meinte 1989: «Die HfG Ulm war so anziehend, weil sie mit Leidenschaft versuchte, das Design in eine begründbare Tätigkeit zu verwandeln und aus blinder Ad-hoc-Praxis zu befreien. Das ist gelegentlich missverstanden worden als ein Versuch, das Design in eine Wissenschaft zu verwandeln.» Und er fährt fort: «Design ist weder noch kann es eine Wissenschaft sein. Design ist die konkrete Intervention in die Realität, um Produkte zu erfinden, zu entwickeln und herzustellen. Es kann zwar einen wissenschaftlichen Diskurs über Design geben, aber Design selbst ist keine Wissenschaft.»18 Der Hauptgrund für den «nicht wissenschaftlichen Charakter» des Designs lag nach dieser von Bonsiepe pointiert vertretenen Auffassung in dem Argument, dass der Entwurfsprozess sich nicht abschliessend rational beschreiben lasse. Das kreative Element des Designprozesses sei nicht diskursfähig, womit eine wesentliche Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit fehle. Seit der Auflösung der Hochschule für Gestaltung im Jahr 1968 ruhte die Debatte mehr oder weniger. Sie wurde erst in jüngster Vergangenheit wieder aufgenommen. Ob der Entwurfsprozess tatsächlich die «pièce de résistance» bildet, ist zu bezweifeln. Denn der kreative Entwurfsprozess kann durchaus Element einer Wissenschaft sein. Auch die Ingenieurwissenschaft ist vorwiegend Entwurfsdisziplin, und heute käme niemand auf die Idee, die Ingenieurwissenschaften deshalb unwissenschaftlich zu nennen. Am besten wird deshalb ganz pragmatisch mit diesem Problem umgegangen, was in der Realität auch passiert. Die Frage, ob Design sich im Hochschulkontext als wissenschaftliche Disziplin etabliert oder nicht, wird meines Erachtens nicht theoretisch sondern praktisch-historisch gelöst. Was ist damit gemeint? 2.5 Was macht eine wissenschaftliche Disziplin aus? Kurz beschrieben ist eine wissenschaftliche Disziplin Folgendes: Sie ist die Gesamtheit der Voraussetzungen, Begriffe, Theorien, Methoden und Werkzeuge, mit denen eine bestimmte Gruppe von WissenschaftlerInnen und ForscherInnen, die Forschungsgemeinschaft (scientific community), arbeitet. In den frühen Entwicklungsphasen einer Disziplin sind die meisten dieser Voraussetzungen selbstverständlich und werden nicht weiter bedacht. Wenn sie dann Gegenstand der Reflexion werden, bildet sich das Selbstverständnis der Disziplin heraus. Zu den Grundkategorien einer Disziplin gehört die intersubjektive Ver-
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ständigung der jeweiligen Forschungsgemeinschaft über ihre Zieldefinition, den Gegenstand und die Methoden der Disziplin. Die Letzteren drücken sich in verbindlichen Standards aus.19 Diese Beschreibung impliziert, dass wissenschaftliche Disziplinarität nicht eine absolute, sondern eine historische Kategorie ist. Viele Disziplinen traten (wie die Medizin, die Soziologie oder die Ingenieurwissenschaften) in einem ganz bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext in den Kanon der Wissenschaften ein. Medizin gehört längst zu den Wissenschaften, obwohl sie ursprünglich vorwiegend eine praktische Disziplin war, die Wissen anwendete. Soziologie wurde erst im 20. Jahrhundert zu einer wissenschaftlich eigenständigen Disziplin, als offensichtlich eine dringende gesellschaftliche Notwendigkeit und Bedarf für soziologische Analytik bestand. Ebenso wurden technische Disziplinen in einem ganz bestimmten komplexen technischen Entwicklungsstand der industriellen Gesellschaft zu Ingenieurwissenschaften. 2.6 Der Druck auf das Design hat zugenommen Vom Design wird seit einiger Zeit verlangt, dass es sich im bildungspolitischen Hochschulkontext als wissenschaftliche Disziplin definiert und ausweist. In der Schweiz sind diese Bestrebungen mit der Gründung der Fachhochschulen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ins Rollen gekommen. Schon allein die Tatsache, dass die ehemaligen Designschulen zu Hochschulen für Gestaltung geworden waren, zwang diese, sich neben all den andern Fachhochschuldisziplinen zu positionieren. Dazu kam, dass die Designstudiengänge vom eidgenössischen Fachhochschulgesetz verpflichtet wurden, Forschung und Entwicklung zu betreiben. Der Druck auf das Design kam aber nicht allein aus der Tatsache, dass das Design nun auch auf Hochschulstufe gelehrt wird. Er hatte vor allem wirtschaftliche und technologische, aber auch gesellschaftliche und politische Wurzeln. 1. Wirtschafts- und Kulturfaktor Design Dass Design sich als wissenschaftliche Disziplin positionieren muss, hängt mit seiner wachsenden Bedeutung als Wirtschaftsfaktor zusammen. «In einer Zeit, in der viele Produkte technisch ausgereift sind, Qualitätsunterschiede in bestimmten Marktsegmenten eigentlich — 18 Zitiert aus Bürdek, Design, S. 136 und 161. 19 John Walker, Designgeschichte, S. 11.
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nicht mehr bestehen und auch die Preisgestaltung bei etwa gleichen Lohn- und Materialkosten kaum noch variieren kann, wird Design zum letzten und wichtigsten Unterscheidungsfaktor im Wettbewerb mit der Konkurrenz.»20 Neuste Untersuchungen für die Schweiz, welche die wirtschaftliche Wertschöpfung der kulturellen Tätigkeiten zum Gegenstand hatten, belegen in eindrücklicher Weise die wirtschaftliche Bedeutung des Designs und insbesondere die des Grafikdesigns.21 Die nationalen Regierungen in Europa und die EU haben angesichts der grossen Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen, in der ihre Wirtschaften stehen, die Aufgabe übernommen, sämtliche Wissensund Technologieressourcen zu aktivieren und in die Wirtschaft zu transferieren. Das Design ist auch eine solche Ressource. In der so genannten wissensbasierten Gesellschaft 22 hat die bildförmige und gestaltete Kommunikation eine Expansion und überkritische Masse erreicht. Design ist ein Produktions- und Kulturfaktor geworden. Auch das Design als Hochschuldisziplin ist zu Wissens- und Technologie-Transfer (WTT) in die Wirtschaft und Gesellschaft aufgerufen. Angesichts der konkurrenzbedingten infiniten Flexibilisierungswünsche des Marktes soll das kreative Potenzial von Design und Kunst aktiviert werden. 2. Komplexität und Inter- und Transdisziplinarität der Designprofession Schon 1964 formulierte einer der Väter der Designmethodologie, Christopher Alexander, die Notwendigkeit, sich dem Entwurfsprozess systematisch zuzuwenden. Seine Begründung: 1. Die Entwurfsprobleme sind zu komplex geworden, um sie rein intuitiv zu behandeln. 2. Die Zahl der für die Lösung von Entwurfsproblemen benötigten Informationen steigt sprunghaft an, so dass sie eine Designerin oder ein Designer allein gar nicht sammeln, geschweige denn verarbeiten könne. — Die Zahl der Entwurfsprobleme hat rasch zugenommen. — Die Art der Entwurfsprobleme verändert sich in zügigerem Rhythmus als in früheren Zeiten, so dass man immer seltener auf lang verbürgte Erfahrungen zurückgreifen kann.23 Der Komplexitätsgrad der Designprofession hat in den letzten beiden Jahrzehnten noch sprunghaft zugenommen. Das betrifft einerseits die technologische Komplexität auf der «handwerklichen» Seite. Die Revolution der Informations- und Computertechnologie (ICT) hat den Beruf grundlegend verändert. Folge: Aus der ehemaligen Gestalterin ist gleichzeitig Setzerin, Texterin, Redakteurin, Retuscheurin, Filmerin, Videografin und gar Sonografin geworden. Die Komplexität des Designs gründet aber auch in seiner interdiszipli-
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nären und transdisziplinären Verfassung. Ein Netz von wissenschaftlichen Disziplinen aus dem Bereich der Human-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften, Disziplinen aus Industrie, Verwaltung und Kultur und die komplexe Vielfalt der BenutzerInnen sind am Designprozess und an der gemeinsamen Lösung von Aufgaben beteiligt.24 Die Transdisziplinarität verlangt Kommunikation und fordert vom Design eine eigene Diszipliniertheit hinsichtlich begrifflicher Schärfe und methodologischer Stringenz.25 «Im gegenwärtigen Zustand einer Informations- und Wissensgesellschaft und eines verwissenschaftlichten Alltags wird der Verzicht auf das Instrument ‹wissenschaftliche Theorie› unverständlich, die Ressourcen der Wissenschaft und Forschung sind längst ein Bestandteil des kulturellen Kapitals geworden. (…) Die Welt ist ohne Wissenschaft nicht vorstellbar, eine Gestaltung wohl kaum ohne wissenschaftliche Theorie.»26 Starkes Gewicht bei der Beurteilung der Entwicklungsprojekte hat der innovative Aspekt, und der wird letztlich am wirtschaftlichen Nutzen für den Partner gemessen. Dabei geht es um die technologieorientierte, um formalästhetisch-kulturelle und gebrauchsfunktionale Innovation. 2.7 Wo steht das Design als wissenschaftliche Disziplin? Zwar gibt es an den schweizerischen Hochschulen für Gestaltung seit einigen Jahren Designlehre und Forschungsprojekte im Sinne von Forschung über und durch Design, aber es fehlen heute noch wichtige Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Disziplin im Sinne der Kriterien (Was macht eine wissenschaftliche Disziplin aus?) – das trifft im Übrigen nicht nur auf die Schweiz zu. 1. Forschungsgemeinschaft Designforschung in der Schweiz ist bis heute vor allem eine Tätigkeit von EinzelforscherInnen; es bestehen kaum Forschungsgruppen, die kontinuierlich forschen. Es gibt eine Designgemeinschaft, aber keine Design-Forschungsgemeinschaft. Auch die respektable Anzahl von Projekten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass insgesamt an den Gestaltungshochschulen nur eine geringe Forschungserfahrung besteht. — 20 Thomas Hauffe, Design Schnellkurs, S. 9. 21 Christoph Weckerle et al., Kultur-Wirtschaft-Schweiz. Ein Forschungsprojekt der HGKZ, 2003 (siehe: www.hgkz.ch). 22 Es ist hier nicht der Ort, die Problematik dieses ideologischen Begriffes zu reflektieren. 23 Zitiert aus: Bernhard Bürdek, Design, S. 158. 24 Vgl. Kapitel 23. 25 Vgl. Cordula Meier (Hg.), Design Theorie, S. 15. 26 Ebenda.
284 24. Design – Forschung und Wissenschaft
Die einzelnen Hochschulen setzen mit ihren 100 bis 700 Studierenden natürliche Grenzen. Die personellen, organisatorischen und zum Teil auch finanziellen Ressourcen sind beschränkt. Die bisherige Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Schulen behinderte Kooperation, Aufgabenteilung und eine Schwerpunktbildung. Dazu kommt das tendenzielle Konkurrenzverhalten innerhalb der Designgemeinschaft: Bei der Bereitschaft zur Vernetzung – etwas, was in den Natur- und den Ingenieurwissenschaften längst selbstverständlich ist – gibt es deutliche Mängel. Die Bildung des nationalen Kompetenznetzes Design der schweizerischen Fachhochschulen, «Swiss Design Network» (SDN), war der entscheidende Schritt zur Konstituierung der Designforschungsgemeinschaft. 2. Zieldefinition und Gegenstand Die Forschungsgemeinschaft kann sich über die Forschungsziele und den Gegenstand der Forschung sehr bald verständigen. Über die Kernkompetenzen der Designdisziplin – ästhetischer Sachverstand, technische Kompetenz, Sinn für Wahrnehmungsprozesse, Einfallskraft – besteht in der Praxis weitgehender Konsens. Die Kategorisierung der Forschungsprojekte in Grundlagen und Entwicklungsprojekte zeigt, dass auch in der Definition des Gegenstands praktische Erfahrung besteht. Anlass zu Zweifeln gibt hingegen die Trennung der Disziplin in Grafikund Produktdesign. Sie ist historisch seit dem 19. Jahrhundert gewachsen. Heute ist sie in Lehre und Praxis und vor allem in der Forschung fraglich. «Eine Abgrenzung zwischen Produktdesign und visueller Kommunikation (vormals Grafikdesign), also die Zäsur zwischen der zweiten und der dritten Dimension, ist heute inhaltlich nicht mehr zu halten. Um sich an gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen wie der Gestaltung von Software beteiligen zu können, darf es diese Abgrenzung nicht mehr geben. Viele Hochschulen behindern damit ein Studium, das zur Berufstätigkeit führt.»27 3. Methoden Es gibt designspezifische Methodologien. Die Methoden sind allerdings meist selbstverständlich und oft nicht Gegenstand der Reflexion.
285
Komplexitätsreduktion «Roter Faden der klassischen Designmethodologie ist der Gedanke der ‹Komplexitätsreduktion›.»28 Im Design stellt sich die Aufgabe, komplexe Sachverhalte in eine nur das Allernotwendigste berücksichtigende verständliche Produktsprache zu reduzieren (vgl. Design war als Wissenschaft bisher nicht gefragt oder umstritten). In einer immer komplizierter werdenden Welt verlangt das – wie bereits ausgeführt – von den DesignerInnen eine hohe analytische Fähigkeit, um ihre Aufgabenstellungen angesichts komplexer Wirklichkeiten zu verstehen und zu lösen. Die Visualisierung der Mikroelektronik (Stichwort: «Immaterialität»), das Software-Design, das Wetware-Design (Entwurf von Bio-Chips) oder die Visualisierung der Nanotechnologie sind neue Aufgaben, die einen hohen Komplexitätsgrad haben. Phasen des Entwurfsprozesses Die verschiedenen analytischen Modelle des Entwurfsprozesses (Gugelot, 1962, Rittel, 1973, Koberg, Bagnall, 1972) bestehen aus ähnlichen Phasen, die man folgendermassen festhalten könnte: 29 1. Informationsphase: Definition und Verständnis der Aufgabenstellung (Problem erkennen) und Sammeln von Informationen. 2. Analytische Phase: Analyse der gewonnenen Informationen; Vergleich mit der Aufgabenstellung. 3. Entwurfsphase: Ideen entwickeln und nach alternativen Lösungskonzepten suchen. 4. Entscheidungsphase: Beurteilung des Für und Wider der Lösungen; Entscheidung für eine oder mehrere Lösungen. 5. Phase der Kalkulation und Anpassung des Produkts an die Bedingungen der Produktion. 6. Verwirklichungsphase: Prototyp herstellen, testen, auswerten, anpassen und implementieren. Methodologische Gemeinsamkeiten mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen Es ist darauf hinzuweisen, dass das Design einerseits aus designspezifischen Disziplinen besteht und anderseits aus Disziplinen, welche das Design mit anderen Wissenschaften gemein hat. Zu den — 27 Harald Hullmann, in: Lucius Burckhardt, Design = unsichtbar, S. 185. 28 Bernhard Bürdek, Design, S. 119. 29 in: Ebenda, S. 159ff.
286 24. Design – Forschung und Wissenschaft
spezifischen Disziplinen wird etwa die eigentliche Entwurfsphase gezählt: die Kreativität, die Erfindung, die Entwicklung von Ideen. Die gemeinsamen Disziplinen sind folgende: — Beschreiben und Beobachten: ➛ Phänomenologie — Wissen sammeln: ➛ Geschichtswissenschaft — Vorgehensweisen festlegen und organisieren: ➛ Methodologie — Konzepte und Strategien entwickeln: ➛ Methodologie — Werkzeuge nach bestimmten Standards bedienen: ➛ Technologie — Erkenntnisse festhalten und erweitern: ➛ Epistemologie 30 4. Verbindliche Standards Jede Art von Wissen benötigt eine eigene Form der Repräsentation. Aufgrund der nicht vorhandenen Forschungsgemeinschaft fehlt dem Design bisher weitgehend die Verständigung über die Repräsentationsstandards, die es als wissenschaftliche Disziplin qualifizieren – als Disziplin mit Prozessen, die abrufbar, einsehbar und kommunizierbar sind. Gerade das aber zeichnet kreative Forschung und eine funktionierende Forschungsgemeinschaft aus. Zu den Standards gehören nicht nur die designspezifischen, sondern auch jene, welche die Designwissenschaft mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen gemein hat: — wissenschaftliche und methodologische Relevanz; — gesellschaftliche Relevanz für Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur; — Innovationspotenzial; — Beteiligung an Forschungsnetzen; — Publikationen, Preise, Ausstellungen usw. Die Designforschung muss ihre Kompetenzen klar definieren und in die Projekte einbringen und gegenüber den Förderinstanzen selbstbewusst behaupten. Noch viel zu oft wird dem Design in Forschungsprojekten – wenn es überhaupt berücksichtigt wird – die Rolle des letzten Glieds in der Kette zugeschrieben. Die wissenschaftliche Führung wird den technischen oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen überlassen.
287
3 Probleme 3.1 Die Marginalität der Design-Disziplinen Die Forschungstätigkeit im Bereich des Designs ist gemessen am Gesamtforschungsbetrieb immer noch marginal. Nirgends ist das deutlicher ablesbar als am praktisch inexistenten Anteil der Designforschung an den grossen Rahmenprogrammen der Europäischen Union. Designforschung hat wie das Design allgemein eine schwache politische und gesellschaftliche und eine praktisch nicht bestehende wissenschaftliche Lobby. 3.2 Eine falsche Arbeitsteilung Die Hochschuldesignforschung sollte sich nicht in die falsche Arbeitsteilung zwischen anwendungsorientierter Forschung an den Fachhochschulen und Grundlagenforschung an den universitären Hochschulen hineinmanövrieren lassen. Dieses Schema hat seinen Ursprung vor allem in den technischen Wissenschaften und in der Etablierung der Fachhochschulen. Die Abgrenzung ist für das Design nicht brauchbar und hinderlich. Denn die Designhochschulen sind gezwungen, ihre Bemühungen um Designtheorie zu intensivieren und Grundlagenforschung zu betreiben. In der visuellen Gestaltung gibt es zudem weite Bereiche, in denen bisher an den universitären Hochschulen keine Grundlagenforschung betrieben wurde und auch in Zukunft nicht betrieben wird. Wer untersucht zum Beispiel die Wirkung von Farbe, Bewegung, Raum und Licht unter dem Designaspekt? Oder wer untersucht die Mechanismen der Überzeugungskraft von Design? Hier besteht für die Designforschung ein grosser Nachholbedarf, den nur das Design selber einlösen kann. 3.3 Das Konzepts des Wissens- und TechnologieTransfers (WTT) und seine Wirtschaftslastigkeit Der verschärfte Konkurrenzdruck in der globalisierten Wirtschaft hat wie oben beschrieben zum politischen Ruf nach vermehrtem Wissensund Technologietransfer geführt. Es soll an den Hochschulen möglichst viel innovatives Wissen generiert werden, das auf direktem Weg — 30 Nach Oliver Wrede anlässlich seines öffentlichen Vortrags am ersten Designsymposium der Kölner International School of Design (KISD) vom 15. 11. 2002.
288 24. Design – Forschung und Wissenschaft
in die Wirtschaft, vor allem in die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) fliessen soll. Im Bereich von Design und Kunst gibt es nun allerdings viele Projekte, die einen innovativen kulturellen Mehrwert haben, bei denen aber nicht von vorneherein ein profitierender Wirtschaftspartner vorhanden ist. Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich von Design und Kunst geht zum Teil andere Wege als in den übrigen Bereichen der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung der Fachhochschulen. Das «Deriverable» kann neben veröffentlichten wissenschaftlichen Berichten oder verwendbaren Produkten zum Beispiel auch eine Ausstellung sein. Hier gilt es ganz unmissverständlich daran zu erinnern, dass die Hochschulen Institutionen der Res publica sind und aus öffentlichen Steuergeldern gespeist werden und deshalb auch andern als nur wirtschaftlichen Interessen dienen sollten. Wie soll sich Designwissenschaft und Designforschung angesichts dieser Situation verhalten? Es gibt verschiedene Möglichkeiten: 1. Die Designwissenschaft ist eine unkritische Disziplin und beteiligt sicht als unreflektiertes, meist letztes Glied am Kapitalverwertungsprozess und liefert den Auftraggebern die verlangten Konzepte und Bilder und den begehrten Kreativitätsschub. 2. Die Designwissenschaft verweigert sich dem neoliberalen Mainstream – ganz nach dem Motto: autonom, aber dafür ohne Einfluss. 3. Die Designwissenschaft entwickelt selbstbewusst zusammen mit Partnern lohnende Forschungsprojekte; sie positioniert sich lustvoll als kritische wissenschaftliche Disziplin und als gesellschaftliche Praxis und holt dazu auch noch die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel und Gelder ab. Dies ist die Variante, die auch der Autor bevorzugt.
290 A Design – Bibliografie
— Nachschlagewerke / Lexika Bertsch, G. et al: Euro-Design-Guide. Ein Führer durch die Designszene von A–Z. München, 1991 Butin, Hubertus: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln, 2002 Heider, Thomas et al: Lexikon Internationales Design. Designer, Produkte, Firmen. Hamburg, 1994
Fischer, Volker: Design heute. Massstäbe: Formgebung zwischen Industrie und Kunststück. München, 1988 Lueg, Gabriele und Gantenbein, Köbi: Swissmade. Aktuelles Design aus der Schweiz. Zürich 2001 Margadant, Bruno: Das Schweizer Plakat 1900 – 1983. Basel 1983
Bürdek, Bernhard: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. Köln, 1991 Fiell, Charlotte und Peter: Design des 20. Jahrhunderts. Köln, 2000 Fiell, Charlotte und Peter: Designing the 21st Century. Design des 21. Jahrhunderts. Köln, 2001
McDermott, Cathrine: Design A–Z. Designmuseum London. München, 1999
Frauen im Design. Berufsbilder und Lebenswege seit 1900. Design Center Stuttgart: (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung) (2 Bde). Stuttgart, 1989
Polster, Bernd et al: Dumont Handbuch. Design International. Köln 2004
Godau, Marion: Produktdesign. Eine Einführung mit Beispielen aus der Praxis. Basel, 2003
— Bildbände
Rotzler, Willy et al: Politische und soziale Plakate der Schweiz. Zürich, 1985
Gössel, Peter und Leuthäuser, Gabriele: Architektur des 20. Jahrhunderts. Köln, 1990
Albus, Volker et al: Design! Das 20. Jahrhundert. München, 2000
Weidmann, Dieter: Design des 20. Jahrhunderts. Berlin, 1998
Allgemeine Plakatgesellschaft (Hg.): 50 Jahre Schweizer Plakate ausgezeichnet vom Eidgenössischen Departement des Innern. Bern, 1991
— Designgeschichte / Einführungen
Henckmann/Lotter: Lexikon der Ästhetik. München, 1992 Honour/Fleming: Weltgeschichte der Kunst. München, 1992
Bolster, Bernd et al: Design International. Marken, Macher, Klassiker. Dumont Handbuch. Köln, 2002 Bundesamt für Kultur (Hg.): made in Switzerland. Gestaltung - 80 Jahre Förderung durch die Eidgenossenschaft. Zürich 1997 Clark, Paul und Freeman, Julian: Design. Logo. München, 2000 Fiell, Charlotte und Peter: 1000 chairs. Köln, 2000
Albus, Volker et al: Design Bilanz. Neues Deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten. Köln, 1992 Bignens, Christoph: Swiss style. Die grosse Zeit der Gebrauchsgrafik in der Schweiz 1914 – 1964. Zürich, 2000 Bonsiepe, Gui: Design und kulturelle Identität in der Peripherie in: Cultural Identity Today. Ernst und Sohn. Berlin, 1989
Hauffe, Thomas: Design Schnellkurs. Köln, 2000 Meggs, Philip: A History of Graphic Design. New York, 1998 Müller-Brockmann, Josef: Geschichte der visuellen Kommunikation. A History of Visual Communication. Niederteufen (CH), 1986 Radice, Barbara: Memphis. Gesicht und Geschichte eines neuen Stils. München, 1988 Reicher, Peter: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. Frankfurt a. M., 1993 Schepers, Wolfgang/Schmitt, Peter: Das Jahrhundert des Design. Geschichte und Zukunft der Dinge. Frankfurt a. M., 2000
291
Schilder Bär, Lotte und Wild, Norbert: Designland Schweiz. Gebrauchsgüterkultur im 20. Jahrhundert. Zürich, 2001
Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M, 1971
Schneider, Beat: Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Bern, 1999
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin, 1974
Selle, Gert: Design-Geschichte in Deutschland. Produktkultur als Entwurf und Erfahrung. Köln, 1990
Meier, Cordula: Designtheorie. Beiträge zu einer Disziplin. Frankfurt a. M., 2003
Walker, John: Designgeschichte. Perspektiven einer wissenschaftlichen Disziplin. München, 1992 Walther, Ingo: Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln, 2000 — Designtheorie Birkit et al: Corporate Identity. Grundlagen, Funktionen, Fallbeispiel. Lenzberg Lech, 2000 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M., 1987 Burckhardt, Lucius: Design = unsichtbar. Rat für Formgebung (Hg.) 1995 Claus, Jürgen: Das elektronische Bauhaus. Zürich, 1987 Fischer, Volker und Hamilton, Anne: Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design. Band 1 Funck, H.J.: Corporate Identity. Grundlagen, Funktionen, Fallbeispiele. Landsberg, 1992
Pross, Harry: Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmackfrage. München, 1985 Selle, Gert: Ideologie und Utopie des Design. Zur gesellschaftlichen Theorie der industriellen Formgebung. Köln 1973 Welsch, Wolfgang: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion. Weinheim, 1988 — Designwissenschaft Boom, Holzer van den: Grundzüge der Designwissenschaft. Ein Versuch zur Orientierung in: Öffnungszeiten, Papiere zur Designwissenschaft. Nr. 7 / 98 S. 6 – 11 Frayling, Christopher: Research in Art and Design, in: Research Papers, Royal College of Art, Vol. 1, Number 1, 1993 – 94. S. 5
292 B Design – Zeitschriften
Blueprint —
formdiskurs —
Journal of Design History —
englisch Verlag Blueprint London ein führendes Designmagazin in Europa
deutsch Zeitschrift für Design und Theorie
englisch Verlag Oxford University Press, London Wissenschaftliche Beiträge zur Designgeschichte
form + zweck — Design + Design — deutsch seit 1984 vormals «Der Braun-Sammler»
Design Issues — amerikanisch Verlag MIT Press, Chicago wissenschaftliche Beiträge zum Design
designbooks.net. (online) —
deutsch seit 1991 Zeitschrift für Gestaltung vormalige Zeitschrift des Zentralinstituts für Gestaltung der Deutschen Demokratischen Republik Berlin
Graphis — Internationale Zeitschrift für visuelle Kommunikation seit 1944 zuerst in Zürich und heute in New York
Hochparterre —
englisch das digitale magazin für designer und kreative
deutsch seit 1984 Zeitschrift für Architektur und Design Zürich
design report —
ID international Design —
deutsch Publikumszeitschrift Hg.: Rat für Formgebung, Frankfurt a.M.
amerikanisch Verlag Design Publications Inc. New York bedeutendste US-amerikanische Designzeitschrift
Design Week —
Das internationale Design Handbuch —
englisch Verlag Design Week, London Internationale Beiträge zum Design
deutsch Verlag Bangert München aufwendig bebilderte Dokumentation
form — deutsch seit 1957 Zeitschrift für Gestaltung. The European Design Magazine Verlag form GmbH Frankfurt a.M. aktuelle Informationen über alle Bereiche des Designs, auch wissenschaftliche Beiträge
MODO — italienisch / englisch Verlag Ricerche Design Editrice, Mailand bedeutende italienische Designzeitschrift
Neue Grafik — dreisprachig 1958-65 Internationale Zeitschrift für Grafik und verwandte Gebiete Hg.: Lohse, Müller-Brockmann, Neuburg, Vivarelli (LMNV) Zürich
Novum — deutsch monatlich Forum für Kommunikationsdesign World of Graphic Design München
Page — deutsch seit 1986 Digitale Gestaltung und Medienproduktion Hamburg
Parkett — deutsch seit 1984 Kunstzeitschrift Zürich
TERRAZZO — italienisch Hg.: Barbara Radice, Mailand Verlag Bangert München
293
Typografische Monatsblätter — deutsch erstmals 1933 Schweizerische Zeitschrift. Typo, Photo, Graphik, Druck Gewerkschaft Comedia
Das Werk — deutsch 1914 –76 Verbandszeitschrift des Schweizerischen Werkbundes (SWB) Verlag MA Cup Verlag Hamburg
werk und zeit — deutsch Hg.: Deutscher Werkbund, Frankfurt a. M. publizistisches Organ des Deutschen Werkbundes (dwb)
294 C Design – Museen
— Schweiz Museum für Gestaltung Zürich Ausstellungsstrasse 60 CH-8005 Zürich Centre Le Corbusier Heidi-Weber-Haus Höschgasse 8 CH-8008 Zürich Musée de design et d’arts appliqués contemporains 6, place de la Cathédrale CH-1200 Lausanne Historisches Museum Bern Helvetiaplatz 5 CH-3000 Bern — Historische Sammlung von Gegenständen aus dem schweizerischen Alltag
— Österreich Österreichisches Museum für Angewandte Kunst Stubenring 5 A-1010 Wien — Deutschland Bauhaus-Archiv Museum für Gestaltung Klingelhöfer Strasse 14 D-10785 Berlin Kunstgewerbemuseum Tiergartenstrasse 6 D-10785 Berlin Hessisches Landesmuseum Friedensplatz 1 D-64283 Darmstadt
Museum Thonet Michael-Thonet-Strasse 1 D-35059 Frankenberg (Taunus) Deutsches Architektur-Museum Schaumainkai 43 D-60594 Frankfurt a. M. Museum f. Kunst u. Gewerbe Steintorplatz 1 D-20099 Hamburg
Design Museum Butler’s Wharf Shad Thames GB-London SE1 2YD Hunterian Art Gallery University of Glasgow GB-Glasgow G12 8QQ — USA
Museum für Angewandte Kunst An der Rechtschule D-50667 Köln
Museum of Modern Art (MoMA) 11, West 53rd Street New York, N.Y. 10019 USA —
Pinakothek der Moderne Neue Sammlung Designsammlung auf Weltniveau Prinzregentenstrasse 3 D-80538 München
legendäre Designabteilung
Vitra Design-Museum Charles-Eames-Strasse 1 D-79576 Weil am Rhein — Holland Stedelijk Museum Paulus Potterstr. 13 Postbus 5082 NL-1070 AB Amsterdam — Grossbritannien Designsammlung des Victoria-and-Albert Museum Cromwell Road, South Kensington GB-London SW7 2RL
— Frankreich Musée des Arts Décoratifs 107 rue de Rivoli F-75007 Paris — Dänemark Kunstindustrimuseet Bredgade 68 DK-1260 Kopenhagen — Schweden Nationalmuseum S. Blasieholmshamnen Box q 61 76 S-10324 Stockholm
296 D Design – Organisationen
— Schweiz
— Deutschland
Swiss Design Network (SDN) Hafnerstrasse 31 CH-8031 Zürich —
Deutscher Werkbund e.V. Weissadlerstrasse 4 D-60311 Frankfurt a. M.
Nationales Kompetenznetzwerk für Design der Schweizer Fachhochschulen
Rat für Formgebung Ludwig-Erhard-Anlage 1 D-60327 Frankfurt a. M.
Schweizerischer Werkbund (SWB) Limmatstrasse 118 CH-8031 Zürich Design Network Switzerland Schulhausstrasse 64 CH-8002 Zürich — Ehemals: Schweizer Grafiker Verband (SGV) (nicht zu verwechseln mit dem Swiss Design Network)
Swiss Design Association (SDA) Weinbergstrasse 31 CH-8006 Zürich
Internationales Design Zentrum Berlin e.V. (IDZ) Kurfürstendamm 66 D-10707 Berlin — Grossbritannien British Council of Industrial Design (gegr. 1944) — auch Design Council genannt
Design Research Society Verband Schweizer Grafik Designer Limmatstrasse 63 CH-8005 Zürich
Degree Shows — eine der weltweit wichtigsten DesignerInnen-Schmieden
Vereinigung Schweizer Innenarchitekten (VSI) Dachslerenstrasse 10 CH-8702 Zollikon Form Forum c /o Design Center Mühleweg 23 CH-4910 Langenthal Bundesamt für Kultur Sektion Kunst und Design Dienst Design Hallwylerstrasse 15 CH-3003 Bern
— Italien Associazione per il Disegno Industriale (ADI) (gegr. 1956) — italienischer Dachverband
298 E Personenregister
Adorno Theodor W. 140, 208 Aicher Otl 35, 117ff, 131ff, 168, 216, 261, 263, 269 Alchimia Studio 35, 152, 154ff, 169, 196, 209 Apollinaire Guillaume 79 Apple Design 185ff Arad Ron 176ff AArchizoom 142ff D’Asciano Corradino 108 Auerbach Johannes 63 Ball Hugo 79 Ballmer Theo 126 Bass Saul 100 Bayer Herbert 67, 69, 80, 99ff, 126 Beall Lester 99 Bedin Martrine 154 Behrens Peter 33, 35, 38ff, 42ff, 48ff, 76, 131, 216 Behnisch 152 Bellini Mario 121 Benjamin Walter 86ff, 90 Bergue Sebastian 177 Berger Uli und Susi 167, 170, 253 Bernhard Lucian 80ff Bertoia Harry 99, 143 Bialetti Alfonso 71 Bill Max 113ff, 116ff, 126, 128, 131, 160 Binder Joseph 99ff Bonsiepe Gui 114, 196, 201, 237ff, 258, 266, 280 Borsani Osvaldo 108 Botta Mario 168, 170 Bourdieu Pierre 230 Bowden Ben 98 Bradley Will 33 Brandt Marianne 65 Brandes Uta 214, 218, 254 Brandolini Andreas 154 Branzi Andrea 156 Braque George 77 Brattinga Pieter 130 Braun AG 113ff, 118ff, 122, 206, 264 Breton Andre 78 Breuer Marcel 65, 152 Brody Neville 186ff Bühler Fritz 132 Bürdeck Bernhard 167 Burckhardt Lucius 114, 160, 261
Casey Jaqueline 131 Carlu Jean 77ff Carson David 186ff Cassandre AM 77, 99 Castiglioni Achille 109 Christen Andreas 118, 120 Coackley Sheridan 177 Cocktail 169 Colani Luigi 142 Cook Roger 132 Coray Hans 170 Des-In 143 Dior Christian 105, 107 Dixon Tom 177 Doesburg van Theo 58, 61ff, 128 Dresser Christof 32, 34 Drocco Guido 140 Duchamp Marcel 221, 224 Dutert Charles 19 Eames Charles 98, 109, 143, 253 Earl Harley 96 El Lissitzky 58ff, 128 Elsener Carl und Victoria 20 Erdt H.R 80ff Ernst Max 79ff Findeli Alain 273, 275 Fogleman James 132 Ford Henry 94 Frayling Christopher 273, 275, 277 Friedman Dan 157ff Frizzali S. 21 Frogdesign 158 Frutiger Adrian 130ff
Gatti Piero 140 Gaultier J.P. 170 Geddes Norman 97 Geissbühler Steff 157ff Gerstner Karl 129, 132 GINBANDE 169 Gipkens J. 80 Global Tools 143 Goebbels Joseph 86ff, 90 Grange Kenneth 119 Graves Michael 153, 156 Gray Eileen 62, 252 Greiman April 158, 186 Gropius Walter 39, 49, 57, 63ff, 114 Gruppe Sturm 142 Gruppo 9999 142ff Gugelot Hans 114, 117ff, 285 Guhl Willy 119ff Hablützel Alfred 120 Haller F. 120 Hartmann Hans 129ff Haug Wolfgang Fritz 20, 141 Haussmann Trix und Robert 154, 167, 170, 253 Heartfield John 78ff Hersey John 186 Hiestand Ernst 131 Hilfiker Hans 120 Hill Bill 187 Hoffmann Josef 41 Hofmann Armin 127ff, 131, 157 Hoffmann Eduard 130 Hohlwein Ludwig 87ff Hollein Hans 70, 152 Honegger Gottfried 129 Horta Victor 32 Itten Johannes 65, 68 Jacobs SA 99 Jacobsen Arne 109 Jakob Teo 120 Johnson Philip 58 Johnston Edward 40 Jost Heinz 130 Jucker Jacob 65
299
Kandinsky Wladimir 57, 60,68, 90, 100 Keller Ernst 126 Kersting Walter 89 Knopf Alfred 99 Koch Rudolf 31 Kunstflug 169 Kunz Willi 158 Kuramata Shiro 156 Kutter Markus 129, 132
Neuburg Hans 127, 129ff, 132 Neweczeral Alfred 119ff Noyes Eliot 121
Labrouste Henri 22 Laubersheimer Wolfgang 166 Le Corbusier 19, 58ff, 134, 230, 252ff, 262 Léger Fernand 77ff Leupin Herbert 128ff Loewy Raymond 96ff, 170, 209 Lohse Richard 81, 126ff, 130, 132, 160 Loos Alfred 42ff, 76, 144, 208 Lubalin Herb 100
Paepcke Walter 99 Panton Verner 141ff Paxton Joseph 19 Pelavin Daniel 159 Pentagon 166, 169 Perriand Charlotte 59, 252ff Pesce Gaetano 176 Piano Renzo 171 Pineless Cipe 100 Pintori G. 121 Piretti Giancarlo 121 Pissaro Lucien 31 Prouvé Jean 70
Mackintosh Charles 33, 39ff Mackmurdo Arthur 31 Maldonado Tomas 72ff, 117ff, 131, 241 Malewitsch K. 60 Marinetti Filippo 77ff Matter Herbert 69, 99, 126, 131, 159 Memphis 143, 154, 156ff, 165, 167ff, 174, 177, 196 Mendini Alessandro 153ff, 184ff Mercer F. 21 Meyer Hannes 64ff, 72, 118, 144, 259 Miedinger Max 130 Mies van der Rohe Ludwig 39, 48ff, 67ff, 154 Möbel Perdu 168ff Mollino Carlo 108ff Mondrian Piet 58, 62, 79, 128 Moore Henry 98 Mohoöy-Nagy Laszlo 61, 65ff, 68, 99, 128 Morris William 30ff, 48, 64, 258, 264ff Morrison Jaspar 168, 177ff Moser Koloman 41ff Mucha Alphonse 32, 80 Müller-Brockmann Joseph 127, 129ff Muthesius Hermann 35, 46, 48, 50
Obrist Hermann 34 Odermatt Siegrfried 129ff, 156ff Ohl H. 118 Olbrich Joseph Maria 42ff, 48 Ollin Wally 217
Radl Christoph 158 Rams Dieter 113, 116, 118, 264ff Rand Paul 100, 128, 131 Ray Man 79, 80 Rietveld Gerrit 61ff Rodtschenko Alexander 59ff, 67 Roericht Hans 115 Rogers Richard 171 Roschdestwensky Konstantin 58 Rurik Thomas 269 Ruskin John 31, 48 Saarinen Eero 96ff Sandell Thomas 177 Scolari Carlo 141 Schawinski Xanti 126 Scher Paula 159 Schilder Bär Lotte 17, 33, 134, 143, 167ff Schlemmer Oskar 64, 68 Schmidt Joos 64 Scholl Inge 116ff Schreiner Frank 165 Selle Gert 67, 70, 107, 144, 166, 168, 186, 231
Semper Gottfried 32ff, 39, 196, 258 Shire Peter 155 Sottsass Etore 120ff, 143, 154ff, 160, 167, 221 Spiekermann Erik 156ff, 187, 265 Stankowski Anton1 126, 215 Starck Philippe 168, 169ff, 170, 176, 221 Stiletto 165, 169, 226 Stöcklin Niklaus 129 Sullivan Louis 39, 87, 144, 203 Superstudio 142ff Syniuga Siegrfried 166, 169 Tatlin Wladimir 58ff, 67, 144 Tylor Frederick 94 Teague Walter 97 Thompson Bradbury 100 Thone Robert 21 Thonet Michel 20 Thun Matteo 155ff 171, 184ff Thut Kurt 120, 177ff Tissi Rosmarie 156ff Tschichold Jan 67ff, 76, 99, 126, 128 VanderLans Rudy 185ff Vanderbyl Michael 158 de Velde van Henry 33, 38, 48ff, 67 Vivarelli Carlo 127, 129ff Wagenfeld Wilhelm 65, 88, 118, 168 Wagner Otto 39ff Walker John 21, 197, 281 Wegner H.J. 109 Weingart Wolfgang 157 Wirth Kurt 130 Wright Frank Lloyd 39 Zanuso M. 124