Herbert Willems Synthetische Soziologie
Herbert Willems
Synthetische Soziologie Idee, Entwurf und Programm
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Herbert Willems Synthetische Soziologie
Herbert Willems
Synthetische Soziologie Idee, Entwurf und Programm
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2012 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelbild: Georg Minne „Zwei Knaben in einem Boot – La Solidarité“ 1898 Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17755-7
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 17
Teil I: Grundfragen und Grundlagen 1 Prämissen und programmatische Grundgedanken . . . . . . . . . . 1.1 Soziologische Ausgangs- und Problemlagen . . . . . . . . . . . 1.2 Soziologische Chancen, Chancen der Soziologie . . . . . . . . . 1.3 Figurationssoziologie als soziologische Gesamtvision und theoretische Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . . . 2 Charakteristika figurationssoziologischen Denkens als Grundlagen einer synthetischen Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Interdisziplinarität, Transdisziplinarität und Universalität der Gegenstandserfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theorie und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Synthetische Methodologie, Methodensynthese und theoretisch-empirische Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sprache, Stil und Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Sprachlich-stilistische Verwandtschaften und Unterschiede zwischen Goffman, Simmel und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Theoretischer Geist und theoretische Architektur . . . . . . . . 3 Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven der Figurationssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von Elias zu Bourdieu, von Bourdieu zu Elias . . . . . . . . . . . 3.2 Von Elias und Bourdieu zu anderen (Komplementär-)Soziologien: Foucault und Goffman zum Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Erving Goffman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Historisch-zeitdiagnostische Sozialforschung . . . . . . . . . .
25 25 37 42 46 46 48 52 55 59 62 68 68 73 74 78 82
6
Inhalt
4 Programmatische Orientierungen und Schwerpunkte figurationsoziologischer Theorie(n)bildung . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der programmatische Horizont der Figurationssoziologie: Theorietypen und Typen der Theoriebildung . . . . . . . . . . 4.2 Grenzen, Probleme und Arbeitsaufträge der Figurationssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 89 93
Teil II: Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur einer synthetischen Soziologie(-Entwicklung) 1 Figuration/Feld/Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Habitus/Gewohnheit/Mentalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Allgemeine Habitustheorie: Habitus und Gewohnheit . . . . 2.2 Habitus – Mentalität – (Lebens-)Stil – Zivilisation . . . . . . . 3 Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung . . . . . . . . . . . 3.1 Sozialisationsprozess und (im) Zivilisationsprozess . . . . . . 3.2 Figurationssoziologische Sozialisationstheorie . . . . . . . . 3.3 Zivilisationstheorie(n) und Zivilisationsdiagnose(n) . . . . . 3.3.1 Zivilisationsbegriffe und Zivilisationstatsachen . . . . 3.3.2 Zivilisation und Sozialisation: Generative Bedingungen 3.3.3 Zivilisationsdiagnostische Fragen und Einwände (?) gegen die Elias’sche Zivilisationstheorie . . . . . . . 3.4 Individuum und Individualisierung . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Zivilisierung, Individualisierung und Normalisierung . 3.4.2 Strukturelle und kulturelle Individualisierung und Normalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Habituelle und reflexive Individualisierung und Normalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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103 107 108 112 117 118 122 126 126 130
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150
Teil III: Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie: Weiteres Arbeitsprogramm und Vorüberlegungen zu Arbeitsschwerpunkten 1 Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie . . . . . . . . . . . . . 1.1 Arnold Gehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Friedrich Tenbruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 164 166
Inhalt 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
2
3
4
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Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schulze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierungs-, Subjektivierungs- und Subjekttheorien Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . New Historicism und synthetische (Kultur-)Soziologie: Foucault, Elias, Bourdieu, Luhmann . . . . . . . . . . . . 1.8 Schlussbemerkung: Synthetische Kulturtheorie im Rahmen einer allgemeinen (Figurations-)Soziologie . . . . . . . . Wissen und Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Figurationen und Figurationssoziologie des Wissens . . . . 2.2 Integrative Figurationswissenssoziologie . . . . . . . . . Materialität, Raum, Körper/Bewegung und Zeit . . . . . . . . 3.1 Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Figurationssoziologie und Symboltheorie . . . . . . . . . 4.2 Elias und Bourdieu: Figurationsprozesse und Feld-Figurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Elias, Bourdieu und Goffman . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Symbolentwicklungen und Entwicklung der Symboltheorie Rituale und (Ent-)Ritualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Annäherung an den Gegenstandsbereich und erster Definitionsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Figurationssoziologische Ritualtheorie . . . . . . . . . . 5.2.1 Ritualtheorie im Kontext der figurationstheoretischen Grundrelation von Figuration und Habitus . . . . . 5.2.2 Goffmans (Interaktions-)Ritualtheorie im Kontext der Figurationssoziologie . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Figurationssoziologische Ritualtheorie und Ritualanalyse: Ritualisierungen, Deritualisierungen und Reritualisierungen 5.3.1 Deritualisierungen und Ritualtransformationen . . . 5.3.2 (Re-)Ritualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Journalismus/Nachrichten und Berichte . . . 5.3.3.3 Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . .
7 . . . .
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168 170 172 173
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256 256 261 266 268 270 274
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8 5.4 Figurationsrituale und Ritualfigurationen . . . . . . . . . 6 Stile, Lebensstile und Stilisierungen . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Praktische und theoretische Stilbegriffe, Stilformen und Stilwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Figurationssoziologische Entwicklung des Stilbegriffs . . . 6.2.1 Stile, Habitus und Lebensstile . . . . . . . . . . . . Exkurs: Jugendlichkeit als gesellschaftlicher Lebensstil und Lebensstilmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Gesellschaftsfigurationen und Habitus(de)generierungen . . . . . . . . . . . . . 6.3 Massenmedien, Stile und Stilisierungen . . . . . . . . . . 6.3.1 Medienfigurationen, Stile und Stilisierungen . . . . 6.3.2 (Medien-)Figurationssoziologie und Cultural Studies 7 Theatralität und (Ent-)Theatralisierung . . . . . . . . . . . . . 7.1 Theatralität: Realität, Begriff und Modell . . . . . . . . . . 7.1.1 Soziologische Rollentheorie und Goffmans Theatermodell . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Theatralitätsansatz . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 (Figurations-)Soziologische ‚Aspekte‘ von Theatralität . . . 7.2.1 Ausdruck, Darstellung, Inszenierung, Performanz/ Performance und Präsentation . . . . . . . . . . . 7.2.1.1 Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.2 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.3 Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.4 Performance . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1.5 Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Materialität und Korporalität . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Zeichenhaftigkeit, Prozessualität und Sequenzialität 7.2.4 Medientheatralität . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4.1 Interaktionstheatralität und Medientheatralität . . . . . . . . . . . . . 7.2.4.2 (Medien-)Bühnen, Akteure und Symbolverkäufer . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5.1 Wahrnehmungen, Beobachtungen, Publika 7.2.5.2 Wahrnehmungen und Lesarten, Figurationen und Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt . . . . . .
277 281
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284 288 292
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302 308 308 314 318 320
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320 323 327
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328 328 329 330 331 333 334 339 341
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346 352 352
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355
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Inhalt 7.2.6 Habitualität und Theatralität . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Figuration und Theatralität, Figurationen der Theatralität . . . 7.4 Theatralisierung und Enttheatralisierung . . . . . . . . . . . 7.4.1 Theatralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Theatralisierung und Enttheatralisierung . . . . . . . . 7.5 Sozio-kulturelle Bedingungen und Faktoren von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft . . . . 7.5.2 Funktionale (Aus-)Differenzierungen und Spezialisierungen von Theatralität . . . . . . . . . . . 7.5.3 Desorganisationen, Kontingenzen und Anomisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Ressourcenverknappungen . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.5 Vermarktlichung, Verwettbewerblichung und Verwerblichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.6 Vergeldlichung und Konsumisierung . . . . . . . . . . 7.5.6.1 Vergeldlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.6.2 Konsumisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.7 Eventisierung und ‚Erlebnisgesellschaft‘ . . . . . . . . 7.5.8 Formale Organisationen und ‚Organisationsgesellschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.9 Soziale Kontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.10 Individualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.10.1 Individualisierung als moralische, praktische und funktionale Aufwertung des Individuums . . . . 7.5.10.2 Individualisierung als Steigerung von Anerkennungs- und Geltungsbedürfnissen des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.10.3 Individualisierung als Freisetzung des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.10.4 Individualisierung als Korporalisierung . . . . . 7.5.11 Mediatisierung und Medientheatralisierung . . . . . . 7.5.11.1 Medientechnologische Theatralisierung . . . . 7.5.11.2 Medientheatralisierung der Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion . . . . . . . . . . . 7.5.11.3 Medientheatralisierung der sozialen Felder . . . 7.5.11.4 Theatralisierung der Medienkulturen . . . . . .
9 . . . . .
361 363 370 370 378
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385 387
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389
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390 393
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399 403 403 405 407
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409 414 420
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420
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422
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423 424 426 426
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429 430 432
10
Inhalt
8 Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht . . . . . . . 8.1 Annäherungen an Gegenstände, Begriffe und Theorien . . . . . Exkurs: Ehrlichkeit und Täuschung im Kontext der (wissens-)soziologischen Denktraditionen Simmels und Goffmans . . . 8.2 Eine figurationssoziologische Konzeptualisierung strategischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Sozio- und Psychogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Psycho-physische Ursprünge und Hintergründe strategischen Handelns: Aggressivität/Gewalt, Sexualität/Lust/Begehren und Angst . . . . . . . . . . . 8.2.3 Figurationale Rahmenbedingungen strategischen Handelns: Grenzen, Zwänge und Spielräume . . . . . . . 8.2.4 Strategische Handlungsmächtigkeit . . . . . . . . . . . 8.2.5 Macht und Kapitalien als Bedingungen, Ziele und Resultate strategischen Handelns . . . . . . . . . . . . . 8.2.6 Habitus als Voraussetzungen, Grenzen und Generatoren strategischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.7 Wissen, strategisches Handeln und strategisches Erfahrungs- und Handlungswissen . . . . . . . . . . . . Exkurs: Über Klugheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.8 Figurationale Macht und (soziale) Kontrolle: Strategisches Handeln von Kontrolleuren und Kontrollierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Verbergen, Geheimnis und Geheimhaltung bei Simmel und Goffman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.9 Soziogenese, Figurationen und Habitus . . . . . . . . . . 8.2.10 Psychogenese/Habitusgenese: Rationalisierung, Psychologisierung und Individualisierung . . . . . . . . . 8.3 Figurationen und Figurationstheorie strategischen Handelns . . 8.3.1 Die Figuration der modernen (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 (Felder-)Differenzierungsprozesse, Organisationsbildungen und Spezialisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Formalisierung und Verrechtlichung . . . . . . . . . . . 8.3.4 Vernetzung und Vernetzwerkung . . . . . . . . . . . . . 8.3.5 Individualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.6 Privatisierungen und Intimisierungen . . . . . . . . . . . 8.3.7 Verwettbewerblichung und Vermarktlichung . . . . . . .
440 443 447 455 455
456 457 458 459 460 461 463
469 472 479 482 485 487 490 491 492 494 496 498
Inhalt
11 8.3.8 Kontingenzsteigerungen und Mobilisierungen . . 8.3.9 Mediatisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.10 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.10.1 Werben und Verwerblichung . . . . . . . 8.3.10.2 Werbung als Feld und Kultur(-industrie) . 8.3.11 Entwicklungen und Dispositionen des Wissens und der Mentalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.11.1 Figurationsformen, Wissensformen und strategisches Handeln . . . . . . . . . . 8.3.11.2 Figurationsprozesse, Wissensprozesse und strategisches Handeln . . . . . . . . . .
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500 502 505 505 507
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541 577 581
Schluss Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
Danksagung
Für vielfältige Hilfen und Unterstützungen danke ich jetzigen und früheren Mitarbeitern – vor allem Henrik Groß, dann aber auch Dr. York Kautt, Dirk Medebach M. A., Maren Jüngling, Pascal Dahlmanns, Dr. Sebastian Pranz und Dr. Kristian Naglo. Für Interesse, Ermutigung und nicht zuletzt Geduld bedanke ich mich bei Herrn Frank Engelhardt, Frau Dr. Cori Mackrodt und Frau Katrin Emmerich vom VS Verlag. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Klaus Fritzsche, meinem Lehrer Prof. Dr. Alois Hahn sowie Dr. Marianne Willems – unter anderem für Anregungen und Einsichten, die dem in diesem Buch beschriebenen Projekt zugrunde liegen. Meine Frau Marianne und meine Tochter Nikola haben das Buch und das Projekt erst denkbar gemacht.
Es gibt eine alte Legende über die Zeit, als die Menschen noch in Kontakt mit dem Dämon standen, der die Welt geschaffen hatte. Von Zeit zu Zeit sandten sie eine Abordnung zu ihm, um seinen Rat einzuholen oder um eine Beschwerde vorzubringen. Eines Tages also schickten sie eine Abordnung zu ihm hin, um sich über das Wetter zu beschweren. Die Gesandten sagten zu dem Dämon: „Das hast du nicht so gut hinbekommen, das müssen wir dir aber mal sagen. Manchmal regnet es an einem Ort zu viel und an einem anderen zu wenig, oder die Sonne scheint an einem Ort zu viel und an einem anderen zu wenig.“ „Hm, das tut mir leid“, sagte der Dämon, „daß euch das so, wie ich es eingerichtet habe, nicht gefällt. Wir werden umgehend sehen, was sich da machen läßt, ihr müßt mir nur sagen, welches Wetter ihr gerne hättet.“ Und so ging die Abordnung zurück zu den Menschen, und die Menschen wären über diese Frage beinahe aneinandergeraten, fast hätte es einen Krieg gegeben: sie konnten sich ganz und gar nicht darüber einig werden, welches Wetter sie nun eigentlich haben wollten. Die Abordnung ging wieder nach oben und sagte: „Die Menschen können sich nicht einig werden, und daher wird auch in Zukunft niemand mit dem Wetter zufrieden sein.“ Ein andermal ging die Abordnung zu dem Dämon, um sich über den Tod zu beschweren, und deshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte. „Warum mußtest du das tun ?“ fragten sie. „Es ist nicht gerade sehr freundlich von dir, anzuordnen, daß wir sterben müssen, daß wir alt werden und sterben müssen.“ „Wißt ihr“, sagte der Dämon, „ich habe da eine Erfindung gemacht, von der ich hoffte, daß sie euch Freude machen würde, um euch großes Vergnügen zu bereiten, wenn ihr euch fortpflanzt, und sie macht euch Freude, so wurde mir zugetragen, genau wie anderen Tieren, die auch das Zeitliche segnen müssen. Da es euch also Freude macht, euch und den anderen Lebewesen, euch fortzupflanzen, gäbe es auf der Erde bald nicht mal mehr genug Platz zum Stehen, wenn der Tod nicht wäre.“ „Was interessieren uns denn die anderen Tiere“, sagte die Abordnung, „wir sind ja wohl was anderes, oder etwa nicht ?“ „Ja und nein“, sagte der Dämon, „Ja und nein. Natürlich werdet ihr geboren wie die anderen, ihr eßt wie die anderen, ihr verdaut Nahrung wie die anderen, und ich stimme zu, daß ihr sterbt wie die anderen.“ „Aber wir können sprechen, und das können die nicht, und sie wissen nicht einmal, daß es dich gibt“, sagten die Menschen. „Ja, das stimmt“, sagte der Dämon, „ihr wißt, daß ihr sterben werdet, ihr wißt es schon vorher, und sie wissen es nicht. Ich sehe ein, daß das ein Problem ist. Also hört mal zu. Ich werde euch ein Geschenk machen, damit ihr das alles nicht so klar seht, damit ihr, wenn ihr wollt, vor euch selbst verbergen könnt, was euch an der Welt nicht gefällt. Ich schenke euch die Phantasie. Aber ihr müßt wissen, das ist ein zweischneidiges Geschenk. Das sage ich euch gleich. Ihr könnt es benutzen, wenn ihr den Tod und all die anderen Dinge vor euch verbergen wollt, die euch an der Welt, mit deren Erschaffung ich mir solche Mühe gegeben habe, nicht gefallen mögen. Aber ihr könnt dieses Geschenk auch benutzen, um zu erkennen, wie die Welt wirklich ist, und dann könnt ihr eure Phantasie dazu benutzen, um die Welt besser zu machen, als ich sie geschaffen habe. Ihr könnt Dinge erfinden. Das käme mir sogar sehr gut zupaß, weil es noch genug andere Erfindungen gibt, die ich machen muß, und ihr könnt mir nicht das ganze Erfinden allein überlassen. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr ein paar Erfindungen selber machen würdet. Ich schenke euch also die Phantasie, und dann liegt es an euch, ob ihr sie mehr dazu benutzt, um Dinge zu verschleiern oder um eine neue und bessere Welt aus der zu machen, die ich geschaffen habe.“ Norbert Elias, „Die Furcht vor dem Tod“
Vorwort
Der Mensch, so sagt Norbert Elias zu Recht, „ist ein Prozeß“, und natürlich sind auch ‚Menschenwissenschaftler‘ und ihre Arbeiten (und ‚Werke‘) Prozesse. In meinem Fall war und ist an diesen Prozessen auch eine längere ‚Biographie‘ im Feld der Soziologie beteiligt – eine wohl teilweise eher zufällige, teilweise „systematische Biographie“, um einen Ausdruck Pierre Bourdieus zu verwenden. Das in dem vorliegenden Buch formulierte Arbeitsprogramm soll diese Biographie in die nähere und weitere Zukunft entwerfen und zugleich systematische Schlüsse, Rückschlüsse und Konsequenzen aus bisherigen Ergebnissen meines Arbeitens ziehen und vorbereiten. Mit diesem Ziel – es ist vor allem ein grundbegrifflich-theoretisches Lernziel – will ich auch eine im Ganzen einheitliche und integrative Richtung des soziologischen Arbeitens vertreten und einschlagen. Ich erwähne hier meine eigene Arbeit nicht, weil ich sie als solche für besonders relevant halte, sondern weil sie für mich das erste und wichtigste Argument für die Wahl der soziologischen ‚Richtung‘ war, die ich weiter verfolgen und entwickeln will. Es ist die hauptsächlich von Norbert Elias formulierte Figurationssoziologie. Gerade im Rückblick und Rückbezug auf den Zusammenhang eigener Arbeitsprozesse und Arbeitsergebnisse (sozusagen als Testfall) hat diese ‚Richtung‘ für mich zunehmend an Überzeugungskraft gewonnen. Ich beanspruche also zunächst nicht mehr, als spezifischen Nutzen aus ihr gezogen zu haben und ziehen zu wollen. Darüber hinaus möchte ich allerdings auch einige innovative Schritte in dieser und mit dieser Richtung gehen und damit nicht zuletzt die Aufmerksamkeit auf ihren strategischen (Chancen-)Wert für die Entwicklung der Soziologie im Ganzen lenken. Im Folgenden bin ich auf der Basis von Vorarbeiten für geplante weitere Bände, die teilweise bereits mehr oder weniger weit gediehen sind, bemüht, wichtige Grundzüge und Grundlagen entsprechenden Denkens und Weiterdenkens zu umreißen, transparent zu machen und auch aus Gründen der arbeitsprogrammatischen Selbstvergewisserung aus- und vorzuführen. Ich präsentiere also die Idee und das Programm meiner weiteren Arbeit als Arbeit an einem langfristigen Projekt und einer Art Projektion. Manche der dargelegten Überlegungen sind noch eher am Anfang oder ‚experimenteller‘ Art, andere schon weiter entwickelt und gefestigt. Das diesbezügliche Vorhaben ist jedenfalls ehrgeizig, aber, wie ich hoffe, in seinen Grundzügen überschaubar und nicht (für mich) zu langfristig machbar.
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Vorwort
Im Wesentlichen geht es mir darum, im Rahmen dessen, was ich im Anschluss an Gedanken und Formulierungen von Elias und anderen Soziologen eine synthetische Soziologie nenne, auf allen Ebenen zur (Weiter-)Entwicklung einer allgemeinen Soziologie beizutragen, die vom ‚Geist‘ der Figurationssoziologie ausgeht. Gemeint ist damit (und dafür wird plädiert) eine bestimmte wissenschaftliche ‚Philosophie‘ und Mentalität, nämlich ein „theoretisch-empirisch eingestellter“ (Elias 2006a: 375) Stil des Denkens und Arbeitens. ‚Synthetische Soziologie‘ verweist also zunächst und immer auch auf ein durchaus bestimmtes – wenn auch durch Weite, Offenheit und Vielseitigkeit gekennzeichnetes – Soziologieverständnis und vor diesem Hintergrund auf ein Synthetisierungsunternehmen, nämlich das Unternehmen, ein höheres „Syntheseniveau“ (Elias 1984) von Beständen soziologischen Wissens zu erreichen. Letztlich geht es um nicht weniger als das Ziel neuer Integrationsstufen der Soziologie als Theorie1, (Grund-)Begriffsapparat und Methodologie/methodisches Instrumentarium, aber auch als Analyse und ‚Zeitdiagnose‘2. Es wäre natürlich (für mich) schon viel erreicht, wenn es – gegen Entwicklungstrends des Fachs – auch nur ansatzweise gelänge, komplementäre konzeptuelle und theoretische Apparate zusammenzuführen und auseinanderdriftende „unverbundene Spezialismen“ (Elias 2006a: 378) (wieder) aufeinanderzuzuführen. Von fachfundierenden Gemeinsamkeiten der Sprache/Terminologie und der theoretischen Rahmung sowie auch von unterschiedlichen Methodologien und methodischen
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Greshoff und Schimank weisen zu Recht darauf hin, dass die Idee einer „integrativen Sozialtheorie“ einerseits – neben einem gepflegten oder kultivierten ‚Pluralismus‘ und Eklektizismus – auch in der neueren Soziologie (seit einer Reihe von Jahrzehnten) und bis heute durchaus Tradition hat: „In dieser Perspektive ist zunächst Karl Otto Hondrichs These von der ‚einen soziologischen Theorie und den vielen Ansätzen‘ aufzunehmen (Hondrich 1978, S. 314/328 f.). Hondrich (…) war sich sicher, dass letztlich ‚die Unterschiede (…) im konsequenten Theorienvergleich verschwinden‘ müssen (Hondrich 1978, S. 326). (…) Hinsichtlich der Idee eines einheitlichen Fundamentes für die Soziologie geht in eine ähnliche Richtung die im Anschluss an Coleman formulierte These von Michael Schmid, dass es ‚nur eine Sozialwissenschaft gibt‘. Um dieses ‚Einheits-Konzept‘ wirksam werden zu lassen, hält er es für notwendig, ‚eine ‚Synthese‘ der soziologischen Theorie voranzutreiben‘ (Schmid 2005, S. 70)“ (Greshoff/Schimank 2006: 10). Andererseits stellen Greshoff und Schimank fest, dass entsprechende „Integrationsunternehmen (…) selten“ (ebd.: 8) sind. Sie denken an Parsons (und Nachfolger) und heute an Esser. Zusammen mit Ute Volkmann hat Uwe Schimank auch diesbezüglich die Idee einer integrativen Soziologie aufgegriffen, thematisiert und verfolgt (vgl. Schimank/Volkmann (Hg.) 2000; Volkmann/Schimank (Hg.) 2002). Unter dem Titel „Soziologische Gegenwartsdiagnosen“ geht es diesen Autoren in zwei Bänden um die vergleichende Verarbeitung und Verknüpfung des breiten und diversen Spektrums entsprechender Untersuchungen. Diese Theoriensynthese verhält sich zu der besagten „integrativen Sozialtheorie“ im Prinzip komplementär. Ich komme im Zuge meiner weiteren Überlegungen darauf zurück.
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Instrumentarien, die auf einem höheren Syntheseniveau zu verbinden sind, ganz zu schweigen. Dieses programmatische Soziologieverständnis/Wissenschaftsverständnis ist untrennbar mit einem soziologischen Gegenstandsverständnis verbunden, das in den Begriff der synthetischen Soziologie eingeschlossen sein soll. Die sozialen/kulturellen Tatsachen, inklusive des Menschen selbst, erscheinen aus der im Folgenden vertretenen und zu entwickelnden Sicht selbst als Synthesen, und zwar als sozusagen transitorische Synthesen, die sich als Prozesse und in Prozessen über mehr oder weniger lange Zeitstrecken entwickelt haben und sich immer (weiter) entwickeln. Dementsprechend hat die (synthetische) Soziologie als ‚Wirklichkeitswissenschaft‘ den grundsätzlichen Arbeitsauftrag, der ‚Synthetizität‘ der sozialen Wirklichkeit, den realen sozialen Gestalten, Zusammenhängen, Verflochtenheiten und Verflechtungen in ihrer Komplexität, Gewordenheit und Geschichtlichkeit gerecht zu werden – gegen eingespielte und institutionell sanktionierte ‚Arbeitsteilungen‘ und Schematisierungen zwischen und in Disziplinen. Es geht also auch hauptsächlich um einen Beitrag „zur Zusammenführung von Theorien über solche Gegenstände, die gewöhnlich als voneinander getrennte oder sogar unabhängige Bereiche des menschlichen Lebens angesehen werden, wie etwa Sprache, Wissen und Denken“ (Elias 2001: 121). Mit diesen Überlegungen ist schon deutlich angezeigt, wohin die Reise meiner Arbeit gehen soll, von wo sie ausgeht und von wo sie nicht ausgeht. Sie geht (aus natürlich nur vorläufig hinreichenden Erfahrungsgründen) von der Soziologie eines ‚alten Bekannten‘ aus: Elias, den ich allerdings für einen – immer noch – in entscheidenden Punkten ziemlich unbekannten (oder schon wieder vergessenen) sowie auch vielfach unterschätzten und falsch eingeschätzten Bekannten halte3. Ich bitte daher zunächst um (erneute) Aufmerksamkeit für die soziologischen Mög-
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Wie unbekannt Elias als Sozialtheoretiker und erst recht als ‚integrativer Sozialtheoretiker‘ trotz aller Elias-Rezeption und Elias-Konjunktur immer noch (oder wieder) ist, zeigt der umfangreiche Sammelband, den Rainer Greshoff und Uwe Schimank vor nicht allzu langer Zeit (2006) unter dem Titel „Integrative Sozialtheorie ?“ herausgegeben haben. Bezeichnenderweise kommt Elias dort so gut wie nicht vor. Dies mag man verstehen, da das Thema des Sammelbandes um die ‚Integrativität‘ von Esser, Luhmann und Weber kreist. Gleichwohl ist die Tatsache hier bemerkenswert – nicht nur weil Elias eine ‚integrative Sozialtheorie‘ par excellence geliefert hat (und sich dabei auch mit Weber und der Systemtheorie auseinandergesetzt hat), sondern auch und mehr noch deswegen, weil besagter Esser sich bereits im Jahre 1984 an prominenter Stelle sehr ausführlich und auch sehr zustimmend mit der Soziologie von Elias – unter dem Leitgedanken einer ‚integrativen Sozialtheorie‘ – beschäftigt hat. Das zeigt nicht nur die ‚Unbekanntheit‘ von Elias als Sozialtheoretiker, sondern auch, wie sehr die aktuelle Soziologie mit ihren und neben ihren ‚Arbeitsteilungen‘ in geschlossene Sinn- und Diskursprovinzen zerfällt.
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lichkeiten, Chancen, aber auch Bedürfnisse dieses ‚alten Bekannten‘, mit dem ich in den ersten Schritten meiner Arbeit zur Vorbereitung meines Unternehmens in denjenigen Punkten vertraut machen möchte, die für meinen Gedankengang und für mein Arbeitsprogramm insgesamt grundlegend sind. Ich bekenne mich damit auch dazu, dass ich in jener scheinbar alten Soziologie die vielversprechendste Perspektive der (‚allgemeinen‘) soziologischen Fachentwicklung bzw. Theoriebildung sehe. Der ‚Rückschritt‘ zur Figurationssoziologie erscheint mir als Voraussetzung eines fachumfassenden Fortschritts der Soziologie mit der Vision einer zentralen soziologischen Theorie (vgl. Elias 2006a: 377 ff.), die aus den Schatten und Defiziten bisheriger Bemühungen heraustritt. Über vergleichbare (und zu vergleichende) ‚aktuellere‘ Großversuche, die Soziologie zu entwickeln bzw. auf eine einheitliche(re) Grundlage zu stellen, bin ich mir dabei natürlich durchaus im Klaren. ‚Rational Choice‘ und vor allem Hartmut Essers „Soziologie“, die Systemtheorie von Niklas Luhmann, der Ansatz von Pierre Bourdieu und der von Anthony Giddens sind prominente – und mehr oder weniger dominante und relevante – Beispiele. Auch wenn sie für mich keine Musterbeispiele darstellen, möchte ich ihnen und allen anderen ‚Ansätzen‘ nicht in dem fach- und feldüblichen Geist des Sektenmitglieds, des ‚Glaubens‘ und der Konfrontation begegnen, sondern umgekehrt mit der Unterstellung, dass an ihnen, von ihnen und mit ihnen gelernt werden kann. Auch gehe ich davon aus, dass die Elias’sche Soziologie – die Figurationssoziologie – erst ein, wenn auch entscheidender, Anfang ist und zudem ein voraussetzungsvoller und keineswegs von Mängeln, Problemen und Fragwürdigkeiten freier Anfang. Den vielleicht entscheidenden Anstoß, die in diesem Buch vertretene soziologische Projektion zu entwickeln und dieses Projekt tatsächlich in Angriff zu nehmen, gaben mir Forschungs- und Betriebserfahrungen im Kontext des bereits vor einigen Jahren abgeschlossenen ‚kulturwissenschaftlichen‘ DFG-Schwerpunktprogramms „Theatralität“ (1997–2003), innerhalb dessen ich zusammen mit York Kautt eine Untersuchung zur „Theatralität der Werbung“ durchzuführen hatte (vgl. Fischer-Lichte 1998; Willems/Kautt 2003). Hier zeigte sich uns sowohl in eigener Arbeit als auch im Blick auf wissenschaftliche Parallelaktionen in einem sehr breiten Spektrum von Disziplinen und Orientierungen4, wie notwendig und potentiell fruchtbar eine ‚mehrdimensionale‘, grenzenüberschreitende und (also) integrative 4
In diesem Zusammenhang war viel über die gegenwärtigen Entwicklungsstände der ‚anthropologischen Disziplinen‘ und über die (Ir-)Realität der ‚interdisziplinären Kommunikation‘ zu erfahren. Die unter den gegebenen Feld-Bedingungen systematische Problematik und Unwahrscheinlichkeit dieser Kommunikation hat kaum ein ‚Menschenwissenschaftler‘ klarer gesehen und beschrieben als Elias (vgl. 1978; 1981; 2006a, b), was sicher auch mit seiner Rolle als Einzelgänger, Grenzgänger
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Theorie- und Forschungsperspektive ist.5 In diesem heterogenen Feld zeigte sich auch mit besonderer Deutlichkeit, dass eine gemeinsame terminologisch-theoretische Basis wissenschaftlicher Kommunikation nützlich und unverzichtbar ist, wenn diese Kommunikation hinreichend substantiell und erfolgswahrscheinlich sein soll. Gerade interdisziplinärer Austausch und interdisziplinäre Kooperation bedürfen einer solchen Basis, wenn nicht einer geteilten „Gesamtvision“ (Elias 1999: 21) und eines Gesamtmodells als Grundlage und Ausrichtung der wissenschaftlichen Akteure und Aktionen. Im Ganzen hoffe ich also, dass der Prozess, der zu den in diesem Buch und in weiteren Bänden darzulegenden Ergebnissen geführt hat und führen soll, einen Beitrag zur (Weiter-)Entwicklung einer Soziologie und der Soziologie darstellt – auch wenn ein solcher Beitrag nur mit vielfältigen Einschränkungen zu leisten ist. Die von Elias propagierte Metapher des Fackellaufs bringt die hier gemeinte programmatische Grundidee von Wissenschaft als einem langfristigen und kollektiven Lernprozess, an dem Individuen mit ihren Arbeitsleben partizipieren können, vielleicht am besten auf den Punkt. Für Elias ist (sinnvolle) „Arbeit in den Menschenwissenschaften, wie in anderen Wissenschaften, (…) ein Fackellauf: man nimmt die Fackel von den vorangehenden Generationen, trägt sie ein Stück weiter und gibt sie ab in die Hände der nächstfolgenden Generation, damit auch sie über einen selbst hinausgeht. Die Arbeit der vorangehenden Generationen wird dadurch nicht vernichtet, sie ist die Voraussetzung dafür, dass die späteren Generationen über sie hinauskommen können“ (Elias 2006c: 506). Es kommt also auf den Willen und die Perspektive zum Weiterarbeiten, Weiterdenken und Weiterbeobachten an – im Bewusstsein des Herkommens, aber auch mit dem „Mut, den Autoritäten der vergangenen und der eigenen Zeit zu widerstehen“ (ebd.).
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und Grenzenüberwinder in der Soziologie und zwischen den ‚anthropologischen Disziplinen‘ zu tun hat. Immer wieder stießen wir in sogenannter interdisziplinärer Kommunikation wie auch intradisziplinär an die Grenzen eines eindimensionalen Denkens, das sich etwa als ‚Theatermodell‘ oder ‚Mikrosoziologie‘ deklariert.
Teil I Grundfragen und Grundlagen
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Prämissen und programmatische Grundgedanken
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Soziologische Ausgangs- und Problemlagen
Dieses Buch und das mit ihm entworfene mehrbändige Arbeitsprogramm1 gehen auf der Grundlage und mit dem Projekt einer synthetischen Soziologie von einer ambivalenten Lage der Soziologie und einer entsprechend gespaltenen (Selbst-) Diagnose aus.2 Beide Seiten dieser Diagnose, die meines Erachtens in je besonderer Weise und mit je besonderen Konsequenzen für dieses Projekt sprechen, möchte ich zunächst kurz skizzieren. Auf der einen Seite erscheint die Entwicklung der Soziologie im Ganzen insofern als problematisch und kritisch, ja „beklagenswert“ (Esser 1984: 695), als trotz anspruchsvoller und vielversprechender theoretischer und forschungsprogrammatischer Großversuche (Marxismus, Kritische Theorie, Systemtheorien, Kultursoziologie/Kulturwissenschaft u. a. m.) bis heute nicht von einer fachlichen Identität der Soziologie gesprochen werden kann. Im Gegenteil ! Man kann den Eindruck haben und hat vielfach den Eindruck, dass sich die Soziologie diesbezüglich in einer weitreichenden und tiefgreifenden (Dauer-)Krise oder einer Art Entwicklungsstörung befindet, beinahe in einer Verfassung der Anomie, der kontinuierlichen Nichtintegration oder auch der fortschreitenden Desintegration mit einem Vorherrschen innerer Aufsplitterungen und Unstimmigkeiten, Dissense und Konflikte, Fremdheiten und Entfremdungen zwischen ‚Soziologien‘ und Soziologen. Sondiert man die aktuelle soziologische Diskurslandschaft, vor allem die Theorienlandschaft, aber auch die sich in symptomatischer Weise zunehmend
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Ich bin mir im Klaren darüber, dass es sich dabei um eine Herkulesaufgabe handelt, die besser von einem gut organisierten Kollektiv als von einem Individuum übernommen werden sollte. Meine Aussichten in diesem Zusammenhang über viel mehr als mich selbst zu verfügen, sind jedoch gering. Ich will trotzdem nicht auf den Versuch verzichten und mit Nietzsche hoffen, „dass alles Entscheidende ‚trotzdem‘ entsteht“. Die Lage der Soziologie ist natürlich in vielerlei Hinsicht repräsentativ für die Lage der Sozialwissenschaften überhaupt. In mancher Hinsicht ist die heutige Soziologie aber auch in einer tendenziell besseren Verfassung als andere Sozialwissenschaften, die in einigen Fällen z. B. noch stärker als die Soziologie ideologisch verstrickt und sachlich ‚sektioniert‘ sind (s. u.).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Grundfragen und Grundlagen
separierende Landschaft der Methodologien und Methoden, dann erkennt man nicht nur Pluralität und Pluralismus (den seit Max Weber manche Fachvertreter für eine Stärke des Fachs gehalten haben und halten), sondern auch Inkonsistenz, Disparatheit, Widersprüchlichkeit und Inkompatibilität – eine Lage, die sich auch sozial (in Gestalt von Gruppierungen, Glaubensgemeinschaften, strategischen Netzwerken, Allianzen) verfestigt hat. Bis heute ist es auf allen Ebenen bei den sich seit den Anfängen der Soziologie entwickelnden und verstärkenden „tribalen Verhältnissen“ (Luhmann 1984: 8)3 geblieben, so dass es auf die von Soziologen wie von ihren Beobachtern/Publika gestellten Grundfragen nach den zentralen Selbstbestimmungen und Wesenseigenschaften, nach der Identität der Soziologie bisher keine wirklichen Antworten gibt. Was ist Soziologie ? Wie arbeitet Soziologie ? Wozu Soziologie ? Gibt es einen Grundbestand soziologischer Erkenntnisse ? Die Antworten auf solche Fragen, wenn sie denn überhaupt (noch) versucht werden, fallen bis heute – und heute mehr denn je – jedenfalls sehr unterschiedlich aus, und sie sind vielfach alles andere als miteinander vereinbar oder gar komplementär. Weder gibt es Konsens darüber, was Wissenschaftlichkeit im Bereich der Soziologie überhaupt bedeuten soll und worin folglich ihre Gegenstände/Fragestellungen und Erkenntnisse bestehen, noch gibt es in den soziologischen Bildern der wesentlichen sozialen Tatsachen auch nur annähernde Übereinstimmung in der ‚Gesellschaft‘ oder ‚Gemeinschaft‘ der Soziologen. Die Dissense und Kontroversen reichen von der Frage der Struktur der Gesellschaft4 bis zu der des ‚sozialen Geschlechts‘5. Hinzukommt Uneinigkeit in der Einschätzung der Richtigkeit und Wichtigkeit der ‚Erkenntnisse‘. Das bisher produzierte soziologische Fachwissen wird von den einen in diesem oder jenem Bereich mehr oder weniger hoch geschätzt, während andere, nicht zuletzt (mittlerweile weithin als klassisch anerkannte) Fachgrößen wie Erving Goffman, es in sehr weiten Teilen, ja überwiegend für schlicht unbegründet, wirklichkeitsfern und/oder „banal“ (Goffman) halten. Die scheinbar chronische Identitäts-Krise der Soziologie, ihr „relatives Versa3
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Luhmann befindet sich mit diesem Gedanken und dieser Formulierung durchaus in der Nähe von Elias, wenn dieser von „sektenartigen“ Verhältnissen in den Sozialwissenschaften und speziell in der Soziologie spricht (s. u.). Der Gesellschaftsbegriff selbst ist in der Soziologie bekanntlich umstritten, und ebenso oder mehr noch ist die Frage umstritten, in welcher Gesellschaft (oder ‚sozialen Welt‘) wir eigentlich leben. Leben wir noch oder wieder in einer Klassengesellschaft oder mehr oder weniger ‚jenseits von Klasse und Stand‘ in einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ ? Leben wir in einer primär ‚stratifikatorisch‘ oder in einer primär ‚funktional differenzierten‘ Gesellschaft oder in einer ‚Gesellschaft der Individuen‘ oder überhaupt in einer Gesellschaft ? Während sich z. B. für Luhmann das Geschlechterverhältnis längst sozial verflacht hat, sieht etwa Bourdieu (2005) immer noch eine „männliche Herrschaft“ am Werk.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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gen (…) bis heute“ (Rehberg 1996b: 19), betrifft auch und gerade ihr fachliches Herzstück und das Herzstück ihres fachlichen und wissenschaftlichen Geltungsanspruchs: ihre Begriffs- und Theoriebildung. Von der Aussicht auf eine „facheinheitliche Theorie, an der man sich wie an einem Musterbeispiel, wie an einem ‚Paradigma‘ orientieren könnte“ (Luhmann 1984: 7), kann bis heute keine Rede sein.6 Eher diversifizieren, verselbstständigen und verschließen sich die theoretischen Diskurse als Sinn- und Sozialwelten besonderer Art. Damit verschärfen sich auch (Über-)Komplexitätsprobleme sowie – damit zusammenhängend – Informations-, Informationsverarbeitungs- und Kommunikationsprobleme. Längst ist die Soziologie zu einem immer weiter anschwellenden Ozean von Diskursen geworden und gerade auf der Ebene der ‚Theoriediskussion‘ auch für die wenigen, die sich überhaupt noch ernsthaft um Überblick bemühen (können), mindestens ‚unübersichtlich‘. „Die Einheit der Soziologie erscheint dann“, wie Luhmann konstatiert, „nicht als Theorie und erst recht nicht als Begriff ihres Gegenstandes, sondern als pure Komplexität. Das Fach wird nicht nur intransparent, es hat seine Einheit in seiner Intransparenz“ (Luhmann 1984: 8 f.)7, in einer Art selbsterzeugter Dunkelheit. Diesbezüglich herrscht bei vielen Beobachtern und Selbstbeobachtern der Eindruck einer Dauerkrise, die sich eher verschärft als entschärft. Es war und ist die Rede von einer „Theoriekrise“ (Luhmann 1984: 7), die nicht zuletzt die theoretische Integration bzw. die integrative Theorieentwicklung betrifft.8 Auch sind die theoretischen und methodologischen Diskussionen innerhalb der Soziologie bekanntlich bis heute (und in manchen Bereichen gerade heute) spannungs- und konfliktreich. ‚Paradigmen‘ stiegen und steigen für die einen auf und für die anderen ab; ‚Wenden‘ (‚Alltagswende‘, ‚performative Wende‘, ‚cultural turn‘ etc.) wurden und werden ausgerufen, aber auch einfach ignoriert oder heftig bekämpft; an Ideen und Programmen (z. B. dem Programm einer Gesellschaftstheorie) wird von 6
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Es herrscht (also) auch kein gemeinsamer, das Fach, seine Akteure und deren Beziehungen durchdringender wissenschaftlicher ‚Geist‘, sondern eher (und zunehmend) eine Vielzahl von ‚Geistern‘, „Denkkollektiven“ und „Denkstilen“ (Claessens 1996: 141) in Verbindung mit einer Sekten-Mentalität. Luhmann selbst wird man allerdings wohl kaum bescheinigen können, zur Transparenz der Soziologie beigetragen zu haben – jedenfalls dann nicht, wenn man einen Standpunkt außerhalb seiner Systemtheorie bezieht. So meint z. B. Dirk Kaesler, dass die Soziologie und die Sozialwissenschaften überhaupt sich jedenfalls teilweise sozusagen im Kreis drehen oder auf der Stelle treten: „Es ist eines der Charakteristika gerade der Sozialwissenschaften, daß sie keine kumulativ vorgehenden Disziplinen sind, die auf den historisch bereits erreichten Etappen der Begriffsbildung und Forschungsergebnisse aufbauen, sondern daß in ihnen die stetige Wieder-Erfindung des Rades möglich ist. ‚Originalität durch historische Ignoranz‘ ist eine Strategie in den Sozialwissenschaften, die durchaus immer noch Reputationsgewinne einbringen kann“ (Kaesler 1996: 434 f.).
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Grundfragen und Grundlagen
den einen hartnäckig festgehalten, während andere sie für hoffnungslos gescheitert und tot erklären. Auch haben sich gerade in den letzten Jahrzehnten viele Soziologen von dem ‚Feld‘ der Theorie bzw. der Theoriebildung mehr oder weniger oder vollständig abgewandt oder sich ihm erst gar nicht zugewandt. Es ist also eigentlich nicht verwunderlich, dass inhaltlich ganz unterschiedlich ausgerichtete (und prominente) Fachvertreter – von Elias bis Luhmann, von Goffman bis Bourdieu, von Esser bis Giddens – bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit die Einschätzung teilen, dass die Soziologie in ihren bisherigen wissenschaftlichen Grundlagen auf allen Ebenen sehr grundsätzlich defizitär und entwicklungsbedürftig ist. Die Problematik und die Kosten dieser ‚kritischen‘ Lage der Soziologie werden hauptsächlich darin gesehen, dass sie als Wissenschaft, wenn ihr denn überhaupt (schon) der Status der Wissenschaftlichkeit attestiert wird, systematisch hinter ihren Leistungsmöglichkeiten zurückbleibt – und (damit) auch hinter ihren sozialen Selbstbehauptungsmöglichkeiten gegenüber Nachbarn und Konkurrenten, insbesondere gegenüber den Naturwissenschaften9, aber auch gegenüber der nicht-wissenschaftlichen (‚gesellschaftlichen‘) ‚Öffentlichkeit‘. Elias weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der „Status“ einer Wissenschaft auf allen Ebenen von ihrem theoretischen Entwicklungsstand, genauer gesagt, von ihrer Integration durch eine Zentraltheorie oder wenige Zentraltheorien abhängt. Zum diesbezüglichen Vergleich mit der Soziologie zieht er die Physik heran, deren „Status (…) im Gesamtgebäude der akademischen Wissenschaften (…) zu einem guten Teil durch die Brauchbarkeit und das Ansehen der Zentraltheorien bestimmt“ ist (2006a: 378).10
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Die Sozialwissenschaften bzw. die Soziologie – und nicht weniger andere Wissenschaften, die es jenseits der Naturwissenschaften mit Menschen zu tun haben – befinden sich zwar in institutionell mehr oder weniger akzeptablen Lagen. Sie behaupten sich aber nur mit Einschränkungen und Schwierigkeiten gegenüber den im Wissenschaftsfeld insgesamt dominanten Naturwissenschaften (und gegenüber als Naturwissenschaften oder Quasi-Naturwissenschaften auftretenden Disziplinen wie der Psychologie) und neigen (daher) dazu, sich das Wissenschaftsmodell der Naturwissenschaften mehr oder weniger zu eigen zu machen, ohne in ihren Gegenständen und ihrer Ausgangssituation mit ihnen vergleichbar zu sein. Damit bestätigen und (re-)produzieren die Sozialwissenschaften ihre eigene Unterlegenheit im Feld und die Überlegenheit der (Quasi-)Naturwissenschaften. Dazu gibt es nur die von Elias (vgl. z. B. 1981) empfohlene Alternative, die Besonderheit der eigenen Lage(n) und die relative Autonomie der eigenen Disziplin(en) zu erkennen und offensiv zu betreiben. Die Sozialwissenschaften/Soziologie haben demnach keinen Grund für einen systematischen ‚Minderwertigkeitskomplex‘, aber allen Grund, ihre besondere Rolle im Feld der Wissenschaften (und damit auch im Rahmen der dort gespielten symbolischen Spiele) zu reflektieren und entsprechend zu (re-)agieren. Dabei fällt der Theoriebildung eine Schlüsselrolle zu. 10 Mit dem hier gemeinten Status (und Statusbewusstsein) hängt eng das Selbstbewusstsein der wissenschaftlichen Akteure zusammen. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich auch, dass die So-
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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Wenn solche kritischen (Selbst-)Einschätzungen der Soziologie bzw. der soziologischen Begriffs- und Theoriebildung zutreffen11, wovon ich ausgehe, dann mag das zunächst und hauptsächlich mit der relativen „Jugendlichkeit“ der soziologischen Disziplin12 zu tun haben und damit, dass die Soziologie in jedem Sinne ‚Menschenwissenschaft‘ ist. Sie hat es nicht nur mit Menschen(-gesellschaften) zu tun, also mit ‚Gegenständen‘ ganz besonderer Art, sondern sie wird auch von (allzu menschlichen) Menschen betrieben und ‚gemacht‘ – von Menschen, die in jedem Fall immer schon Moment dessen sind, was sie beobachten, untersuchen und interpretieren. Diese zwar im Prinzip soziologisch einzuholende, aber konkret nur schwer und niemals voll beobachtbare und transparent zu machende ‚Menschlichkeit‘ ist ebenso eine Grenze und ein Problem wie eine Aufgabe der (wissens-/wissenschafts-)soziologischen Selbstaufklärung, Selbststeuerung und Selbstentwicklung. Eine solche Grenze und (Dauer-)Aufgabe, die auch auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Theorie bzw. Theoriebildung verweist, besteht zudem in der unausweichlichen Bezogenheit der Soziologie auf die Aktualität der historischen Erziologie „nach ihrer Gründerzeit (…) viel an Selbstbewusstsein und Feuer verloren“ hat (Soeffner 2009: 69). 11 Die hier nur sehr grob skizzierbare ‚Lage der Soziologie‘ wird seitens der Fachvertreter und Fach(selbst)beobachter insgesamt natürlich durchaus divergent und manchmal ambivalent eingeschätzt und bewertet. Während sich auf der einen Seite die radikalen Fach(selbst)kritiker (wie eben Luhmann oder Esser) befinden, äußert sich etwa Hans-Georg Soeffner mit einer gewissen Süffisanz über soziologische Selbstdiagnosen und Selbstdiagnostiker der besagten Art. Im Kontext einer Überlegung zur Soziologie „als ‚Krisenwissenschaft‘“ bemerkte er kürzlich (allerdings ohne etwas zur Sache zu sagen und ohne die betreffende ‚Krise‘ zu leugnen): „Selbstverständlich ziert es eine intellektuell anspruchsvolle, selbstreflexive und kritische Disziplin, wenn sie sich selbst in diese Krisenanalyse einbezieht. Dass soziologische Diagnostiker bei angestrengter Selbstbetrachtung nahezu zwangsläufig in regelmäßigen Zyklen zu dem Schluss gelangen, auch die eigene Disziplin befinde sich in einer Krise, versteht sich dann beinahe von selbst. Es ist ein Selbstverständnis, in dem sich Beunruhigung über die unerfreuliche Diagnose und wärmende Freude über die eigene Kritikfähigkeit in kaum verhohlener Koketterie angenehm mischen“ (Soeffner 2009: 61). Auch wird der von den einen (Soziologen) beklagte Mangel an fachlicher (Theorie-)Identität und (Theorie-)Entwicklung von anderen (Soziologen), wenn auch vermutlich einer Minderheit, sogar positiv gewendet, z. B. als ‚Vielfalt‘ gelobt. (Etwa im Sinne jenes chinesischen ‚Soziologen‘, der die Losung ausgab: „Lasst tausend Blumen blühen !“.) 12 Mit Max Weber hat kürzlich Christoph Deutschmann die Soziologie ein „jugendliches Fach“ genannt und zu Recht darauf hingewiesen, dass die Idee der ‚Gesellschaft‘ zwar schon auf die Aufklärungszeit zurückgeht, aber die Disziplin selbst kaum einhundert Jahre alt ist (vgl. Deutschmann 2010: 425). Allerdings ist Max Webers Rede von der ‚Jugendlichkeit‘ der Soziologie nun auch schon lange her, und für die Einschätzung der Entwicklung des Fachs ist die Geschichte seiner Institutionalisierung nur von begrenzter Bedeutung. Wichtiger ist die natürlich viel weiter zurückreichende Geschichte des soziologischen Denkens und Arbeitens (etwa von Marx). Daran gemessen kann die heutige Soziologie nur schwer ‚jugendlich‘ genannt werden.
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Grundfragen und Grundlagen
eignisse und Prozesse selbst (Gegenwart und Zukunft), auf die sich Soziologie immer auch und bei zunehmender Komplexität und Beschleunigung des sozialen Wandels immer mehr beziehen muss. Zwar kann sie sich gerade durch die hier verfochtene Theoriebildung und Forschungsmentalität, insbesondere durch einen ‚historischen Blick‘ auf langfristige Prozesszusammenhänge, darauf wie auch auf die besagte ‚Menschlichkeit‘ einstellen, aber sie muss stets auf gravierende Überraschungen gefasst sein und sich dem wechselnden Gang der Geschichte entsprechend umstellen und anpassen. Diese Anforderungs- und Herausforderungslage hält die Soziologie sozusagen systematisch jung, beschert ihr „ewige Jugendlichkeit“ (Max Weber); sie impliziert aber auch – und zunehmend – problematischen Handlungs- und Komplexitätsdruck (Kontingenzdruck) sowie insbesondere systematische Orientierungs- und Distanzierungsprobleme und Orientierungs- und Distanzierungsaufgaben. Diese Seite der ‚Jugendlichkeit‘ der Soziologie13 ist nicht zuletzt mit der Anfälligkeit für bestimmte ideologische, politische, moralische und (d. h.) emotionale Befangenheiten und ‚Engagements‘ verbunden, die ihre Erkenntnisfähigkeit, Wissenschaftlichkeit und wissenschaftliche Entwicklung behindern oder beschädigen.14 Umso notwendiger ist ein orientierender und distanzierender theoretischer Halt bzw. Gegenhalt, wie ihn die Figurationssoziologie bzw. eine daran anschließende synthetische Soziologie durch ihre Perspektive, aber nicht zuletzt auch durch ein ausgereiftes und entwicklungsfähiges konzeptuelles Instrumentarium, darstellt und bietet. Gerade aktuelle und aktuellste ‚Zeitdiagnosen‘/‚Gegenwartsdiagnosen‘ benötigen eine solche Distanz und Orientierung schaffende Verankerung und Einbettung, um nicht unter ihrer eigenen
13 Man könnte vor dem Hintergrund der Metapher der Jugendlichkeit auch von systematischen Problemen der Reife und Reifung der Soziologie sprechen. 14 Im Vordergrund steht dabei die Anfälligkeit für den jeweiligen sozialen Zeitgeist und Zeitgeistströmungen (Moden). Der Geist der Sozialwissenschaften/Soziologie sollte natürlich nicht der Zeitgeist oder eine Zeitgeistströmung sein. Tatsächlich ist er es aber vielfach, sei es offen oder verdeckt (versteckt). Dass Sozialwissenschaften/Soziologie und Sozialwissenschaftler/Soziologen den Zeitgeist oder bestimmte Zeitgeistströmungen heute in manchen Bereichen vielleicht häufiger denn je regelrecht bedienen, hat auch mit gegenwärtigen Feld- und sozialen Erfolgsbedingungen (z. B. medialen) zu tun. Sie honorieren z. B. bestimmte (Partei-)‚Deuter‘, die der ‚Öffentlichkeit‘ oder einzelnen Gruppierungen im Anschein der vor allem durch Titel ausgewiesenen Wissenschaftlichkeit Sinn und Legitimationsstoff liefern. Unter dem Titel Zeitgeist ist hier allerdings nicht nur ein für die Sozialwissenschaften/Soziologie problematischer sozialer, sondern auch ein sozialwissenschaftlicher/soziologischer Zeitgeist zu verstehen. Dem jeweiligen Fach und der Fachentwicklung stellt sich auch das Problem der Theoriemoden bzw. die Frage, wie man der sozialen Logik der Mode und des Modischen auf dem Feld der Theorie und der Wissenschaft überhaupt begegnen kann und sollte.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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(immer aktueller werdenden) Aktualität und der ‚Menschlichkeit‘ derer, die diese ‚Diagnosen‘ stellen, zu leiden. Die (Problem-)‚Lage‘ der Soziologie(-entwicklung) hat also sicherlich wesentlich mit ihrem Gegenstandsbereich und mit ihrem Grundverhältnis (bzw. dem Grundverhältnis ihrer Akteure) zu diesem Gegenstandsbereich zu tun; sie hat damit und darüber hinaus aber auch wesentlich mit ihrer eigenen Sozialität als Feld und Praxis zu tun, zu deren soziologischer Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung die Soziologie überhaupt und gerade die hier ins Auge gefasste synthetische Soziologie (als solche) immer auch beizutragen hat. Diese Soziologie ist mit den zu thematisierenden Konzepten15 nicht zuletzt in diesem Sinne brauchbar, ja sie ist in diesem Sinne besonders brauchbar. Klarer werden in diesem und mit diesem Rahmen der Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung der Soziologie auch Gewinne und zugleich Probleme und Hindernisse der soziologischen Selbstentwicklung bzw. einer synthetischen Soziologie(theorie)entwicklung. Zu der hier gemeinten ‚basalen‘ Sozialität der Soziologie als einem Strom von Diskursen mit wissenschaftlichen Geltungsansprüchen gehören natürlich hauptsächlich die bekannten sozialen Feld- bzw. Fach-Tatsachen (Figurationen): die mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungsgebilde und Organisationsformen des (Fach-)Feldes, Macht-, Autoritäts- und (ökonomische, symbolische, soziale) Kapitalverhältnisse, bürokratische Strukturen, (universitäre und fachinterne) ‚Höfe‘ und ‚höfische Gesellschaften‘ (mit Etablierten und Außenseitern), Netzwerke, Zirkel und Gemeinschaften, die so oder so bestimmt und bestimmend auch ‚hinter‘ soziologischen Diskursen, diskursiven Produktionen, Zulassungen, Ausschlüssen, Platzierungen, ‚Rezeptionen‘, Bewertungen etc. stehen. Elias (1978: 27) spricht in diesem (Sozial-)Zusammenhang treffend (heute vielleicht mehr denn je) von einer „starken Neigung zur Sektenbildung in den zeitgenössischen Menschenwissenschaften und ganz besonders in der zeitgenössischen Soziologie nach dem Zusammenbruch des großen amerikanischen Versuchs, eine umfassende Zentraltheorie zu schaffen…“16. Im Bereich der Soziologie wird eine „Neigung zu philosophoiden Reflektionen ohne Empiriebezug (…) ermöglicht und verstärkt durch eine ungeplante Folgeerscheinung der akademischen Organisation, die in den Menschenwissenschaften und besonders in der Soziologie die Entwicklung von esoterischen Abstraktionen begünstigt“ (ebd.). Unter den „soziologischen Spezia15 Figuration, Feld, Netzwerk, Habitus, Deutungsmuster, Mentalität, Valenz, Kapital, Diskurs, Distinktion, Stil/Lebensstil, Theatralität/Theatralisierung, Strategie, Machtbalance, Etablierte/Außenseiter usw. 16 Gemeint ist mit diesem Versuch natürlich der „Strukturfunktionalismus“ von Talcott Parsons, der die 1950er Jahre(-Soziologie) beherrschte.
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Grundfragen und Grundlagen
listen überhaupt“ verstärkt sich „die Tendenz zur Entwicklung von gruppeninternen Argumentiersystemen, die den Mitgliedern der sektenartigen Gruppen jeweils als hieb- und stichfest erscheinen, die sich aber nicht mehr (…) in einer dauernden freundlichen Auseinandersetzung mit Forschenden, die nicht zu dem eigenen Zirkel gehören, zu bewähren brauchen“ (ebd.: 27 f.).17 Als problematisches oder schädliches Moment der Sozialität der Sozialwissenschaften/Soziologie macht Elias (auch) darüber hinaus „soziale Glaubenssysteme“ aus (Elias 2006c: 502), nämlich der wissenschaftlichen (Arbeits-)Praxis vorgelagerte und in sie eingelagerte Deutungsmuster und Weltanschauungen/Ideologien, die das Denken und Handeln der Akteure sowie auch ihre wissenschaftliche (Wissenschaftler-)Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung (Sektenbildung) präkonditionieren, steuern und limitieren. Eingeschlossen in das Ensemble dieser mentalen Dispositionen sind meist verdeckte oder halbverdeckte moralische, politische und/oder ‚philosophische‘ Ausrichtungen, Einstellungen und Neigungen. Elias nennt sie in einem grundsätzlich fachkritischen Sinne die „versteckten Parteidoktrinen, die verschleierten sozialen Ideale im wissenschaftlichen Gewande“ (Elias 2005b: 74), und er geht davon aus, dass sie wie die genannten sozialen Figurationen (und mit ihnen) entscheidende Bedingungen und Bestimmungsgründe der soziologischen/sozialwissenschaftlichen (Un-)Wissensproduktionen (Diskurse, Forschungsinteressen, Deutungen etc.) und Fachprobleme waren und sind. Tatsächlich ist auch diese (wahrheitsfeindliche) Wahrheit der Soziologie nach wie vor soziologisch eigentlich kaum zu übersehen18, und ebenso wenig ist sie soziologisch aufgeklärt. Man kann allerdings stark vermuten, dass sie seit jeher soziologischdiskursive Rationalisierungen nach sich zieht; dass sie denk- und arbeitsstilbil17 Elias denkt hier an Systemtheorien Parsons’scher oder Luhmann’scher Prägung, aber auch an marxistische und postmarxistische Schulen sowie an bestimmte Sektionen des disparaten Diskursfeldes der ‚Alltagssoziologien‘. 18 Mit Elias (und trotz Elias) kann man feststellen, dass die Soziologie (und natürlich auch die anderen Sozialwissenschaften) bis heute – und in manchem Bereich gerade heute – ein Tummelplatz von ideologischen, moralischen, politischen ‚Engagements‘ und ‚Engagierten‘ ist. Die hier gemeinten mentalen Orientierungen, die auch manchem Grabenkampf zugrunde lagen und liegen, sind habitusbedingt resistent und durchschlagend und also nur schwer aus der (Soziologen-)Welt zu schaffen. Hier zeigt sich wiederum die (soziale, historische) ‚Menschlichkeit‘ der Soziologen und der Soziologie (natürlich auch die anderer ‚Menschwissenschaftler‘ und ‚Menschwissenschaften‘). Die Habitustheorie (s. u.) mag immerhin einen Zugang dazu eröffnen und Problembewusstsein generieren. Zur Stabilisierung dieser Orientierungen trägt aber nicht nur ihre Habitualität, sondern auch ihr (Selbst-)Rekrutierungseffekt bei. Netzwerke (‚Seilschaften‘ etc.) tendieren durch mentalitätsorientierte personelle Selektions- und Exklusionsprozesse dazu, mental homogene Milieus zu sein, zu werden und zu bleiben, und damit bestätigen, spiegeln und stabilisieren sie sich sozusagen in sich und durch sich selbst.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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dend und damit mitursächlich dafür ist, dass sich nicht nur individuelle ‚Werke‘ durch denkstilistische Konsistenz, sondern auch diverse soziale Parteien, Wissenschaftsparteien, durch kontinuierliche Produktivität und Persistenz auszeichnen. Elias jedenfalls glaubt zu erkennen, dass sich das ganze soziologische Feld und Diskursfeld durch eine „Durchtränktheit“ (Elias 2006a: 382) mit Ideologien und entsprechenden Gefühlsbindungen aller Art auszeichnet. Sie erscheinen sozusagen als entscheidende oder vorentscheidende Basis des soziologischen bzw. in der Soziologie produzierten ‚Überbaus‘.19 Gleichzeitig und im Zusammenhang damit ist das Bild der Soziologiesozialität – wiederum mit maßgeblichen Implikationen für das, was die Soziologie als Fach/Wissenschaft darstellt und darstellen kann – seit langem und zunehmend von soziologisch mehr oder weniger bodenlosen ‚Arbeitsteilungen‘ geprägt. Neben angeblich fachlich-systematisch begründeten Einteilungen wie der in ‚Mikro-‘ und ‚Makrosoziologie‘20 geht es dabei hauptsächlich um thematische „Spezialismen“ (Elias 2006a: 378) und Spezialisten, die als ‚Bindestrich-Soziologen‘21 sehr unterschiedlich geartete und sehr unterschiedlich verweisungsreiche ‚Gegenstände‘ haben und heute weiter denn je davon entfernt sind, auf einer gemeinsamen soziologischen (terminologischen, theoretischen, methodologischen) Grundlage – oder auf eine solche Grundlage hin – zu operieren. Ansatzpunkt, Legitimation und 19 Ein auf die „Gegenwartssoziologie“ bezogenes Beispiel liefert Soeffner (2009: 64), wenn er vom „Ökonomismus als Weltanschauung“ spricht. „Gemeint ist damit die gegenwärtig zu beobachtende Ausdeutung nahezu aller sozialen Verhältnisse aus dem ökonomisch verkürzten Blickwinkel des Kosten-Nutzen-Kalküls und der Nutzenmaximierung. Die Verabsolutierung dieser Denkfigur ist so in soziologisches Denken eingedrungen, dass es sich nicht mehr selbstreflexiv kontrolliert und kritisch von dieser sich als Theorie verkleidenden Weltanschauung distanzieren kann. Es ist eine Weltanschauung, die sowohl den politischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Jargon als auch zeitgenössische Theorieentwürfe prägt“ (ebd.). Neben dem Ökonomismus waren und sind es natürlich auch alle anderen ‚Weltanschauungen‘, die in den Sozialwissenschaften/der Soziologie eine ähnliche Rolle gespielt haben und zum Teil auch immer wieder aufs Neue spielen: Marxismus/Sozialismus, Humanismus, Liberalismus, Christentum, Konservatismus etc. Insofern könnte man sagen, dass die Sozialwissenschaften (Soziologie) als ein implizites ‚kulturelles Forum‘ fungiert haben und immer noch fungieren. Ohne sie wissenschaftlich reflektiert zu haben oder zu reflektieren, spiegelten und spiegeln sie jedenfalls bis zu einem gewissen Grad die Bandbreite der Weltanschauungen und ‚Überzeugungen‘ ihrer (sinn-)produktiven Akteure, die wiederum eine Art Mikrokosmos bilden. 20 Aus figurationssoziologischer Sicht (und nicht nur aus dieser) handelt es sich bei dieser Einteilung (‚groß‘/‚klein‘) um einen soziologischen Primitivismus ersten Ranges. 21 Jugendsoziologen, Kindheitssoziologen, Alterssoziologen, Familiensoziologen, Organisationssoziologen, Industriesoziologen, Konsumsoziologen, Wirtschaftssoziologen, Religionssoziologen, Bildungssoziologen, Techniksoziologen, Zeitsoziologen, Körpersoziologen, Geschlechtersoziologen, Sportsoziologen, Architektursoziologen, Freizeitsoziologen, Umweltsoziologen, politische Soziologen, Mediensoziologen, Ethnosoziologen usw.
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Grundfragen und Grundlagen
Zielgebiet dieser ‚Arbeitsteilungen‘ sind vielmehr jeweils scheinbar vor jeder Soziologie offensichtliche und für sich selbst stehende empirische Tatsachen wie eben Architektur, Körper, Geschlecht, Jugend, Freizeit, Umwelt usw. Diese Gegenstandskonstruktion ist bereits als solche (figurations-)soziologisch problematisch oder fragwürdig. Ein systematisches Problem besteht und verschärft sich hier zudem insofern, als (fach-)organisatorische und diskursive Differenzierungen und Spezialisierungen zwar schon aus sachlichen Komplexitätsgründen unumgänglich sind, aber ohne den Gegenhalt und die Kompensation durch eine gemeinsame Fachsprache, ‚Gesamtvision‘ und allgemeine Theorie(-bildung) mit Blindheiten und Fiktionen erkauft sind und auf Kosten fachlicher Identität, Kommunikation und Selbstentwicklung gehen. Entsprechend zu beobachten sind Tendenzen zu kultureller, mentaler und sozialer Selbstabschließung, Selbstgenügsamkeit und Selbstverstärkung der verschiedenen einschlägig beschäftigten Soziologie-Figurationen (‚Sektionen‘, ‚Bindestrich-Soziologien‘).22 Die Orientierungen, Handlungen, Strategien und (d. h.) Kooperationen von Soziologen konzentrieren sich, den genannten sozio-kulturellen Bedingungen entsprechend, offensichtlich zunehmend auf von ihnen geknüpfte und unterhaltene soziale Netzwerke (besondere ‚freiwillige Vereinigungen‘, Allianzen, Seilschaften usw.), die sich vor allem entlang von (kontingenten) Arbeitsgebieten, Sektionen, weltanschaulichen (‚philosophischen‘, politischen, moralischen etc.) Ausrichtungen und Kapitalverhältnissen bilden und reproduzieren. Auch Leitfiguren, Stars und mehr oder weniger ‚charismatische‘ oder als einflussreich geltende Gestalten mitsamt ihren Werken und Schülern spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige, nämlich (netz-)generative, orientierende und strukturierende, Rolle. Die entsprechenden sozialen Netzwerke, die heutzutage natürlich (medienverdankt) ganz anders geknüpft und weitergeknüpft werden können, aber auch geknüpft werden müssen, als früher, sind sehr maßgebend dafür, was als Soziologie geschieht und nicht geschieht, was man als Soziologe tut und lässt, was man sich vorstellen kann und vorstellen will, was interessiert und beschäftigt, wo, was und wer angeschlossen und ausgeschlossen wird und welche Anschlüsse angestrebt werden. Mit den und aus den jeweiligen Netzwerken/Vernetzungen ergeben sich also auch starke sachliche Polungen, Grenzziehungen und systematische Ignoranzen – nicht nur im Fach und zwischen seinen ‚Vertretern‘ überhaupt, sondern selbst dort, wo sich das Fach vielleicht immer noch sozusagen empirisch-praktisch am stärksten kon22 Einige intra- und interdisziplinäre (wissenschaftliche) Problemfolgen liegen auf der Hand: Sprachverwirrung, ‚Sprachbarrieren‘, Inkommunikabilität, Un- und Missverständnisse, ‚Konsensfiktionen‘ (Alois Hahn), aber auch Dissens- und Konfliktfiktionen.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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kretisiert: In ein und demselben Institut koexistieren und handeln, in den Rahmen lokaler Mini-Netzwerke, (‚harte‘) ‚Empiriker‘ der ‚empirischen Sozialforschung‘, gegensätzlich gläubige, aber gemeinsam reine (Meta-)Theoretiker, freihändig operierende Zeitdiagnostiker, Kulturkritiker und ‚qualitative Sozialforscher‘, die wenig mehr verbindet als dieses Etikett, einträchtig oder auch zwieträchtig zusammen. Nennenswerte wechselseitige Wahrnehmung oder gar Austausch jenseits der eigenen lokalen und translokalen Netzwerke scheint tendenziell eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Dementsprechend bilden und reproduzieren sich – in (langfristigen) Sozialisationsprozessen besonderer Art – auch die mentalen bzw. soziologiementalen ‚Vernetzungen‘ und ‚Netzwerke‘ der beteiligten Akteure. Zu der hier gemeinten soziologie(diskurs)effektiven Sozialität der Soziologie gehört aber neben und mit eigentümlichen Formen der (Netzwerk-)Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung auch ein generell kultivierter Individualismus sowie eine generalisierte Distinktions- und Originalitätspraxis 23, die feld-, mentalitäts- und strategieimmanent ist. Wissenschaftler, und Sozialwissenschaftler/Soziologen wohl zumal, sind traditionell ausgeprägte (individuierte) Individuen und Individualisten, die bei Gelegenheit auch heute noch, unter den Bedingungen der wissenschaftlichen (Welt-)Markt- und Netzwerkgesellschaft, dazu tendieren, eigene ‚Interessen‘ und ‚Projekte‘ zu verfolgen (Steckenpferde zu reiten). Damit wirkungsvoll verknüpft ist die Tatsache, dass zu den zentralen Erfolgsbedingungen im (Sozial-)Wissenschaftsfeld natürlich nicht nur Identität, Normalität, Kontinuität und Identifikation gehören (in Verbindung mit Netzwerken), sondern auch Differenz, Diskontinuität und Distinktion. Die verbreitete und sich unter Knappheitsund Konkurrenzbedingungen verstärkende Neigung von Autoren, die Differenz und Originalität der eigenen Produkte zu (über-)dramatisieren und auch „das Rad immer wieder neu zu erfinden“ (Dirk Kaesler), ist also nur allzu verständlich. Auch damit haben die Identitäts-, die Integrations- und die Entwicklungsprobleme der Soziologie nicht unwesentlich zu tun. Gleichzeitig, neben einer Tendenz zur Distinktion, zur (Über-)Variation und zur Innovationsfiktion, gibt es wiederum verständlicherweise insbesondere bei universitär-wissenschaftlichen Aufsteigern, Karrieristen und Überlebenskünstlern eine umgekehrte Redundanz- und Konfor23 Man könnte auch von einem generalisierten Distinktions- und Originalitätskult sprechen. Ihm korrespondiert ein ebenso traditionsreicher und diskursiv wirkungsvoller Personen-, Genie- und Starkult, genauer gesagt: vor allem ein Kult „großer Männer“ (vgl. Deutschmann 2010: 429). Er hat in der jüngeren Vergangenheit allerdings nachgelassen und sich der allgemeinen Verschiebung in der Machtbalance zwischen den Geschlechtern entsprechend gewandelt. Heute herrscht generell eher ein Kult ‚großer Namen‘. Lebende ‚charismatische Führer‘ oder gar ‚Führerinnen‘ sind dagegen kaum zu sehen oder in Aussicht.
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Grundfragen und Grundlagen
mitätsneigung, einen mentalen und sozialen (Netzwerk-)Konservatismus, Konformismus und Normalismus, eine Tendenz, in gewohnten und (weil) scheinbar praktisch bewährten Sozial-, Denk- und Arbeitsbahnen zu bleiben. Beide Seiten der Medaille (und Fach-Problematik) dürften in dem Maße an Bedeutung gewinnen, wie der Kontingenz-, Unsicherheits- und Konkurrenzdruck im Feld zunimmt. Manche dieser in allen Sozialwissenschaften erkennbaren Tendenzen werden von neueren Entwicklungen und Wandlungen im Feld und ‚Umfeld‘ der Wissenschaften noch verstärkt oder komplettiert. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang bestimmte Struktur- und Kulturwandlungen der jüngeren Vergangenheit, insbesondere die ‚Hochschulreformen‘. Nicht nur, aber auch und besonders, die Sozialwissenschaften (und die Soziologie) betreffend, haben diese Reformen neue Figurationen und Umkonditionierungen der Wissenschaftspraxis und Wissenschaftswirklichkeit mit sich gebracht und wirken sich auch direkt auf deren ‚produktive‘ Seite aus. So führt der speziell durch die „Zwänge der Drittmitteleinwerbung und die zunehmende Finanzialisierung auch der Forschung“ (Deutschmann 2010: 435) verschärfte und spezifizierte Handlungs- und Erfolgsdruck „zur Orientierung (…) am kleinsten gemeinsamen Nenner allgemein akzeptierter Forschungsansätze und zu einem primär sicherheitsorientierten Typ von Forschung, der den Konventionen des je eigenen Netzwerkes folgt und damit die herrschende Tendenz zur Sektionalisierung noch weiter befestigt“ (ebd.).24 Nicht nur ‚bahnbrechende‘ und (weil) gewohnte Bahnen verlassende (Sozial-)Forschungen, sondern überhaupt wirklich innovative Forschungen werden mit solchen Entwicklungen/Wandlungen unwahrscheinlicher. Wahrscheinlicher werden dagegen konformistische, opportunistische und (d. h.) strategische Orientierungen von ‚Forschern‘; wahrscheinlicher wird auch ein Mehrdesselben in endlosen Produkt-Variationen und eine entsprechende textuelle Überproduktion. In diesem Zusammenhang erwartbar und beobachtbar sind darüber hinaus weitere Verstärkungen, Verflechtungen und Verdichtungen der wissenschaftlichen (Wissenschaftler-)Netzwerke und Netzwerkgesellschaften (mit allen oben angedeuteten inhaltlichen Implikationen) sowie auch eigentümliche Synthesen aus Bürokratisierung und Theatralisierung, die ihrerseits alte Leiden der Sozialwissenschaften weiter chronifizieren und verschärfen. Die gewandelten Erfolgsbedingungen, Erfolgsmessungen und (theatralen) Erfolgszeichen, Anreize und Strafen des (Fach-) 24 Man könnte insofern vielleicht von einer Art McDonaldisierung der (Sozial-)Wissenschaften sprechen. Deutlich sind jedenfalls Verbindungen von sachlicher Standardisierung, Hyper-Produktivität und ‚impression management‘ in der (sozial-)wissenschaftlichen Produktion und Produktvermarktung. Entsprechendes (eine Art McDonaldisierung) zeigt sich in der ‚Lehre‘ bzw. im Handeln von Lehrenden und Studierenden.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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Feldes begünstigen überhaupt gewisse Theatralisierungen der (Sozial-)Wissenschaften25, eine komplexe und komplexer werdende Wissenschafts-Theatralität, die auch die diskursive Produktivität der Wissenschaften betrifft oder umfasst. Daneben und in enger Verbindung damit waltet heute wohl in allen wissenschaftlichen Feld-Kontexten (von der Vergabe von Stellen über die Verleihung von Preisen bis zur Forschungsfinanzierung) gezwungenermaßen und ‚vernünftigerweise‘ mehr denn je die Logik des strategischen Handelns und (damit) die Logik des sozialen (Netzwerk-)Kapitals und des sozialen (Netzwerk-)Kapitalisten.26 Auch diese Entwicklungstendenz bleibt natürlich nicht ohne Folgen für das Ob, das Wie und das Was von (Sozial-)Wissenschaft/Soziologie.
1.2
Soziologische Chancen, Chancen der Soziologie
Wenn ich mich im Folgenden insbesondere für allgemeine Theorieentwicklungen oder die allgemeine Theorieentwicklung der Soziologie interessiere, dann im Bewusstsein dieser Lage und dieser Problematik (gegen die gewiss kein theoretisches Kraut dieser Welt allein gewachsen ist), aber auch in dem Bewusstsein, dass eine bestimmte Theoriearbeit als Moment der langfristigen Fachentwicklung in diesem Zusammenhang eine Art von nützlichem Beitrag sein kann und dass die Defizit-, Problem- und Krisendiagnose nur die eine Seite der Medaille der Soziologie(-ent25 Hinter der dynamisch und vielseitig fortschreitenden Theatralisierung der (Sozial-)Wissenschaften steht – natürlich – die Entwicklung der Erfolgsbedingungen des Feldes, das in den Fällen der Sozialwissenschaften wie in anderen Fällen zunehmend bestimmte messbare und eher kurzfristige ‚Eindrücke‘ honoriert und entsprechende Handlungsstile und Habitusformen begünstigt. So lässt sich beispielsweise, wie Christoph Deutschmann kürzlich in einem biographischen Rückblick konstatierte, „eine unheilvolle Verknüpfung zwischen der Bürokratisierung der Wissenschaft und den negativen Seiten der Jugendlichkeit unseres Fachs feststellen. Von oben werden wir zu beständiger Betriebsamkeit angehalten. Durch die Karotte finanzieller Anreize einerseits, die Peitsche von Stellen- und Mittelkürzungen andererseits sollen wir zu mehr Leistung und Innovation angetrieben werden. (…) Gerade den Sozialwissenschaften scheint die Aufgabe zugedacht zu sein, den Hochschulpolitikern das Bild rastloser Dynamik und Innovationsfreude, das diese von sich selber haben, auch zurückzuspiegeln. So leiden wir nicht nur unter unserer Jugendlichkeit, sondern auch an einer aufgesetzten, künstlich durch die Hochschul- und Wissenschaftspolitik inszenierten Jugendlichkeit, die dann auch wieder greisenhaft anmutet“ (Deutschmann 2010: 435 f.). Neben dem mächtigen (mächtiger gewordenen und mächtiger werdenden) Kraftfeld der Politik (und mit ihm) sind es aber auch andere (Kraft-)Felder wie die Medien und nicht zuletzt immanente Struktur- und Kulturwandlungen des Wissenschaftsfeldes (z. B. veränderte Anspruchshaltungen der Publika), die eigentümliche Theatralisierungen mit sich bringen oder nach sich ziehen. 26 Der Modus, in dem soziales Kapital im Wissenschaftsfeld generiert, genutzt und wirksam wird, ist natürlich typischerweise die Verschleierung.
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Grundfragen und Grundlagen
wicklung) ist. Auf der anderen Seite gibt es – und fokussiere ich – die komplexe soziologische Theoriengeschichte mit auch noch ungesichteten, unerkannten und ungenutzten Beständen und Potentialen, mit gleichsam ungehobenen oder wieder vergessenen Schätzen – mit Schätzen, die auch dadurch zu solchen werden, dass sie sich wechselseitig inhaltlich ergänzen oder aber auch herausfordern.27 Mehr noch: Mit der – zu entfaltenden – Figurationssoziologie gibt es bereits so etwas wie eine synthetische Soziologie28, und vor allem gibt es (damit) eine fundamentale Grundanlage für eine umfassend integrative und entwicklungsfähige soziologische Theoriebildung, die viele und komplexe Komponenten des bisherigen Theorienbestands aufnehmen, aufheben und weiterführen kann. Vor diesem Hintergrund muss es also nicht mehr nur um Theorierekonstruktionen und Theorienvergleiche gehen, so sehr eine bestimmte Art von Theorienvergleich unverzichtbar und produktiv bleibt oder erst zu machen ist, sondern es geht um die Aufdeckung von anschlussfähigen, aber auch von irritationsfähigen theoretischen Komplexitäten und zugleich um theoretische ‚Komplexitätsreduktion‘ und Komplexitätstransformation in einem und durch einen theoretischen Rahmen. Die beabsichtigte Theoriearbeit hat auch einen unmittelbaren – die besagte Sozialität (Praxis) der Soziologie einschließenden – empirischen Hintergrund. Sie ist diesbezüglich alternativlos und dringend, und sie wird in dieser Hinsicht immer dringender und wichtiger, weil sich nicht nur die genannten (Binnen-) Probleme und Herausforderungen des Fachs (und überhaupt aller ‚anthropologischen‘ Disziplinen) verschärfen, sondern sich zugleich immer neue und immer größere empirische Aufgaben der (sozial-)wissenschaftlichen Arbeit stellen. Es ist ja offensichtlich, dass sich die soziale Wirklichkeit, der diese Arbeit schließlich gelten muss und gilt, rasant, umfassend (global) und – auch im Sinne von Komplexitäts- und Interdependenzsteigerung – tiefgreifend wandelt und damit entsprechend elaborierte, angemessen komplexe und gerade dem Wandel angemessene Beschreibungs- und Erklärungsmittel erfordert und herausfordert.29 Es geht hier also nicht nur um das Fach (Soziologie) als Fach (z. B. darum, dass es sachlich 27 Zu den hier gemeinten sozialtheoretischen Wissensbeständen gehören z. B. ganz sicher (immer noch) Teile der Werke von Georg Simmel, Arnold Gehlen und (im Anschluss an Simmel) Erving Goffman – Autoren, die als Vor- oder Nebenläufer der Figurationssoziologie im Rahmen des im Folgenden vorgestellten Unternehmens eine wichtige Rolle spielen. 28 Zum Beispiel – längst vor Bourdieu, der sich als Sozialtheoretiker vor allem dadurch ‚auszeichnet‘ – eine Synthese aus Marxschen und Weberschen Gedanken- und Theoriegängen. Elias hat sie, wie zu zeigen ist, im Rahmen seiner Zivilisationssoziologie theoretisch-empirisch entwickelt. 29 Auch dies – und dies hauptsächlich – spricht hier für die strategische Rolle der Figurationssoziologie, die als Prozesssoziologie ihrem Wesen nach eine Soziologie des sozialen Wandels und der Ordnung dieses Wandels ist. Davon wird im Folgenden schwerpunktmäßig die Rede sein.
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überhaupt noch als solches wahrgenommen wird), sondern es geht auch und mehr noch darum, dass das Fach mit der Entwicklung seiner Gegenstände Schritt gewinnen und Schritt halten kann.30 Dahin kann nur die Synthese vorhandener und auf diesem Boden die Steigerung alter und die Entwicklung neuer Erkenntnismittel führen. Sie sollen als Instrumente jeglicher empirisch-analytischer Arbeit leistungsfähiger (komplexer, differenzierter) werden, aber auch in dem Sinne, dass sie der Lösung der sich verschärfenden Problematik der soziologischen Informationsverarbeitung/‚Datenverarbeitung‘ dienen, dass sie die Ergebnisse jener Arbeit in einem umfassenden Sinne zu integrieren vermögen und so zu einem höheren Syntheseniveau empirisch-analytischer Erkenntnis führen. Das Projekt einer synthetischen Soziologie schließt also auch ein – natürlich niemals vollständiges und niemals abschließbares – empirisches Gesellschafts- bzw. Gesellschaftsgeschichtsbild ein, ein ‚Gesamtbild‘, das aus der ihrerseits historischen Fülle der soziologischen/sozialwissenschaftlichen Beobachtungen, Daten und Deutungen zu gewinnen ist. In diesen direkt und indirekt empirischen Zusammenhängen – wie auch grundsätzlich theoretisch – stellt sich insbesondere das im Folgenden anzugehende (und nicht nur Soziologen angehende) Problem, dass „wir über ein kohärentes kulturtheoretisches Paradigma noch nicht verfügen. Ein gemeinsamer Bezugsrahmen ist jedoch vonnöten, um die zentralen Problemkomplexe wie Kultur und Gesellschaft, Kultur und Konsum, Kultur und soziale Ungleichheit, aber auch Kultur und neue Medien integrativ bearbeiten zu können“ (Müller 1994: 72; Hervorheb. im Orig.). Erst ein solcher Bezugsrahmen, zu dessen Ausarbeitung mein Unternehmen schwerpunktmäßig beitragen soll, ohne sich in einem programmatisch 30 Dass die soziologische Theoriebildung und (damit) die Entwicklung des begrifflich-kategorialen Instrumentariums der Soziologie hinter der Entwicklung des Sozialen zurückgeblieben ist, zurückbleibt und immer mehr dahinter zurückfällt, ist eine heute durchaus verbreitete Auffassung. Elias hat sie schon früh in seinem Wissenschaftlerleben und bis zu dessen Ende vor allem im Hinblick auf seinerzeit tonangebende systemtheoretische und marxistische Schulen und Denktraditionen vertreten. In seiner Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Adorno-Preises (1977) heißt es: „Kann es sein, dass wir die Orientierung in unserer eigenen Welt verloren haben, dass die Begriffsund Kategorialapparaturen, mit denen wir großgezogen wurden, den sich fortentwickelnden Gesellschaften nicht mehr ganz entsprechen, dass, mit einem Wort, unser gesellschaftswissenschaftliches Denken erstarrt ist oder jedenfalls hinter dem tatsächlichen Gang der Gesellschaftsentwicklung hinterherhinkt ? Ich bin geneigt, das zu glauben. Aber ich weiß nur zu gut, dass es lange Jahre geduldiger Arbeit bedürfen wird, (…) über die alten und überlieferten Modelle der Gesellschaftsentwicklung hinauszukommen“ (Elias 2006c: 505). Im Blick auf die jüngere Vergangenheit kommt etwa Gerhard Schulze zu einer ähnlichen Defizitdiagnose: „Ein integrativer gesellschaftsanalytischer Entwurf fehlt bislang“ (Schulze 1997: 16).
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Grundfragen und Grundlagen
grundsätzlichen Sinne als ‚kultursoziologisch‘ oder ‚kulturwissenschaftlich‘ zu verstehen, eröffnet auch „die Aussicht, das vornehmste Erbe der Soziologie anzutreten, in Gestalt von Kultur- und Zeitdiagnosen eine theoretisch und historisch-empirisch kontrollierte Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung zu unterbreiten (…)“ (ebd.: 72).31 Ich gehe im Folgenden allerdings davon aus, dass die Soziologie trotz einer gewissen Einheitlichkeit und trotz gewisser Vereinheitlichungsbestrebungen und auch Vereinheitlichungstendenzen32 schon aus den besagten (eigen-)sozialen (Feld-, Mentalitäts- / Habitus-) Gründen in absehbarer Zukunft kaum zu einer „facheinheitlichen Theorie“ in dem Sinne gelangen kann, dass sich die ‚Gemeinschaft‘ der Soziologen prinzipiell an einer solchen Theorie (als Paradigma) orientiert.33 Jedenfalls erscheint eine generelle Akzeptanz einer „umfassenden Zentraltheorie“ (Elias) oder auch nur von wenigen ‚Zentraltheorien‘ mit einer entsprechenden wissenschaftlichen (Arbeits-)Praxis in der Soziologie gegenwärtig als höchst unwahrscheinliche Projektion. Andererseits macht das Projekt der Entwicklung oder Weiterentwicklung einer synthetischen Soziologie meines Erachtens besonderen Sinn, wenn man es vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Fachs sieht und mit dem Ziel betreibt, ein höheres theoretisches Syntheseniveau durch die Verknüpfung jener Theorieelemente, Theorienetze und Theoriefäden zu erreichen, die sich durch Verknüpfbarkeit auszeichnen. Dann besteht auch durchaus Aussicht auf eine als Paradigma fungierende allgemeine Theorie, die aufgrund ihrer Integrationskraft und ihres synthetischen Fortschritts entsprechend extensive Akzeptanz findet und an der sich eine entsprechend große Zahl von Forschern nicht nur orientieren sondern auch bildend, umbildend und weiterbildend beteiligen kann. Es muss, kann und sollte bei dem jetzigen Entwicklungsstand des Fachs also jedenfalls nicht (mehr) nur um eine Rückkehr zu einem ‚Klassiker‘ oder zu (den) ‚Klassikern‘ gehen, in der Weise, die lange Zeit bei denen, die sich überhaupt (noch) 31 Ein besseres, komplexeres und gesicherteres Verständnis (und Selbstverständnis) der ‚Gegenwartskultur‘, der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ und des ‚Gegenwartsmenschen‘ steht hier also immer mit auf dem Programm – sozusagen als Implikation und Konsequenz des ganzen Unternehmens. 32 Davon war bereits im Vorwort die Rede und davon wird unten noch genauer die Rede sein. 33 Auch Luhmanns allgemeine (System-)Theorie hat ja jedenfalls in diesem Sinne keinen durchschlagenden und erst recht keinen nachhaltigen Erfolg gehabt. Luhmann ist nun vielmehr selbst nicht mehr und nicht weniger als einer unter anderen ‚Klassikern‘. Als solcher teilt er das von ihm beklagte Schicksal der ‚alten Klassiker‘. Auch seine Texte waren und sind zu vergleichen, „zu sezieren, zu exegieren, zu rekombinieren“ (Luhmann 1984: 7). Dabei ist es zu den (wohl auch aus Luhmanns Sicht) erstaunlichsten ‚Annäherungen‘ und ‚Kreuzungen‘ gekommen, z. B. zwischen Luhmann und Bourdieu (vgl. Nassehi/Nollmann (Hg.) 2004).
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für allgemeine Theorie interessierten, üblich gewesen ist und die vielfach bis heute üblich ist – als Autoren- und/oder Schulen-Spezialistentum oder auch als Praxis eines ‚Theorienvergleichs‘, der nicht über die verglichenen Theorien hinausgeht. Man kann sich in diesem Punkt – durchaus auch aus dem Blickwinkel der Figurationssoziologie – bis heute Luhmann anschließen, der in seinem als „Grundriß einer allgemeinen Theorie“ untertitelten Buch „Soziale Systeme“ die ‚klassizistische‘ Tendenz der (zeitgenössischen) Soziologie folgendermaßen beschrieben und qualifiziert hat: „Die Einschränkung, durch die man sich das Recht verdient, den Titel Theorie zu führen, wird durch Rückgriff auf Texte legitimiert, die diesen Titel schon führen oder unter ihm gehandelt werden. Die Aufgabe ist dann, schon vorhandene Texte zu sezieren, zu exegieren, zu rekombinieren. Was man sich selbst zu schaffen nicht zutraut, wird als schon vorhanden vorausgesetzt. Die Klassiker sind Klassiker, weil sie Klassiker sind; sie weisen sich im heutigen Gebrauch durch Selbstreferenz aus. Die Orientierung an großen Namen und die Spezialisierung auf solche Namen kann sich dann als theoretische Forschung ausgeben. Auf abstrakterer Ebene entstehen auf diese Weise Theoriesyndrome wie Handlungstheorie, Systemtheorie, Interaktionismus, Kommunikationstheorie, Strukturalismus, dialektischer Materialismus – Kurzformeln für Komplexe von Namen und Gedanken. Neuheitsgewinne kann man dann von Kombinationen erwarten. Dem Marxismus wird etwas Systemtheorie injiziert. Interaktionismus und Strukturalismus sind, so stellt sich heraus, gar nicht so verschieden, wie man angenommen hatte. (…) Handlungstheorie wird als Strukturtheorie, Strukturtheorie als Sprachtheorie, Sprachtheorie als Texttheorie, Texttheorie als Handlungstheorie rekonstruiert. Angesichts solcher Amalgamierungen wird es dann wieder möglich und nötig, sich um ein Wiedergewinnen der eigentlichen Gestalt der Klassiker zu bemühen.“ (Luhmann 1984: 7 f.)34
34 Elias spricht (wenige Jahre vor diesen Bemerkungen Luhmanns) der Tendenz nach ähnlich wie Luhmann von einer „zeitgenössischen Krankheit des Intellekts“ und stellt fest: „Diese Autoritätssucht, die Suche nach geistigen Krücken, nach Büchern vergangener Generationen, nach vorgegebenen Normen, Prinzipien, die man als autoritative lediglich zu interpretieren braucht, ohne selbständig weiterdenken und -beobachten zu müssen, findet sich heute in vielen soziopolitischen Lagern; sie findet sich nicht zuletzt auch unter Gesellschaftswissenschaftlern und Philosophen. Zu ihren Folgeerscheinungen gehört die Paralyse des selbständigen Denkens und darüber hinaus die des gesamten Vorstellungsvermögens in bezug auf Menschen als Gesellschaften und Individuen“ (Elias 2006c: 498).
42 1.3
Grundfragen und Grundlagen Figurationssoziologie als soziologische Gesamtvision und theoretische Entwicklungsperspektive
Der Weg, den ich im Folgenden vorschlagen und einschlagen möchte, ist vielleicht entgegen erstem Anschein nicht der von Luhmann kritisierte Weg des ‚Klassizismus‘, der theoretischen Amalgamierung oder gar des Bemühens, die ‚eigentliche Gestalt‘ eines Klassikers (oder von Klassikern) zu gewinnen oder wiederzugewinnen; es ist aber aus Gründen, die noch im Einzelnen darzulegen sind, auch nicht der Weg einer ‚facheinheitlichen‘ Theoriebildung wie der Luhmann’schen Systemtheorie35, die mit klassischen soziologischen Theoriebeständen, Denk- und Theorietraditionen generell mehr oder weniger radikal bricht und/oder ihre zentralen Modellvorstellungen aus Disziplinen und Diskursen jenseits der Soziologie (Biologie, Ökonomie etc.) bezieht.36 Ich stelle mich vielmehr durchaus in bestimmte klassische Traditionen und sogar hauptsächlich in eine klassische Tradition, und zwar der Soziologie, jedoch geht es mir um weit mehr und vor allem um etwas ganz anderes als die Hinkehr oder Rückkehr zu einem Klassiker oder zu (den) Klassikern. Deren Texte spielen zwar, der oben erwähnten Idee von Wissenschaftsentwicklung als „Fackellauf “ (Elias) entsprechend, eine große Rolle37, aber es wird diesbezüglich keine Exegese und kein Auflösungs- und (Re-)„Kombinationsspiel“ (Luhmann 1984: 8) gespielt. Es geht auch nicht um die Orientierung an ‚großen Namen‘ (oder die Legitimierung durch sie), sondern eher um die Konsequenz aus großen Gedanken und das Weiterarbeiten an großen Gedanken38, die der Soziologie und überhaupt 35 Auch wenn diese wohl den anspruchsvollsten und jedenfalls den umfangreichsten allgemeinen Theoriebildungsversuch der jüngeren Soziologiegeschichte darstellt. Der Preis dieser Art von Theoriebildung besteht – unter anderem – in einer neuen, neuartigen und hyperkomplexen Begriffsbildung, durch die die soziologische Diskursivität insgesamt noch intransparenter und unfassbarer wird. Diesen Preis muss das Fach bzw. das Fachpublikum zahlen, dem Luhmann nach eigenem Bekunden zu mehr Transparenz verhelfen wollte (vgl. 1984: 8 f.). Dieter Claessens (1996: 145 ff.) würde in diesem Fall von soziologischem „Manierismus“ und von „Herrschaftsansprüchen“ sprechen. Das genaue Gegenteil davon hat er Elias attestiert (vgl. ebd.: 149). 36 Es geht hier letztendlich auch nicht nur – wenngleich vor allem – um Theorie, sondern um alle Seiten des Fachs und um den Zusammenhang dieser Seiten: Theorie (allgemeine Theorie, Gegenstandstheorie), Terminologie, Methodologie/Methodik, Analyse, (Zeit-)Diagnose. 37 Die Reihe der zu behandelnden Klassiker verschiedener Generationen ist lang und heterogen – mit Namen wie: Karl Marx, Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim, Karl Mannheim, Sigmund Freud, David Riesman, Arnold Gehlen, Alfred Schütz, Erving Goffman, Roger Barker, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Thomas Luckmann, Anthony Giddens, Ulrich Oevermann, Gerhard Schulze, Ulrich Beck, Richard Sennett, Anthony Giddens oder Manuel Castells. Über die ‚Klassizität‘ des einen oder anderen mag man streiten. 38 Michael Schröter (1996: 94) spricht in Bezug auf Elias von „Großgedanken“.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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den ‚Menschenwissenschaften‘ einen Weg gewiesen haben und weisen – einen Weg allerdings, dessen Charakter und Reichweite sich unter heutigen Sozial- und Soziologiebedingungen teilweise auch erst und auch immer wieder neu erweisen muss. Was ich diesbezüglich zu betreiben und voranzutreiben versuche, ist also kein vollständiger soziologischer Neubau, sondern eher sozusagen ein Auf- und Weiterbau39, ein Beitrag vor allem zur Entwicklung einer und der soziologischen Theorie ‚von innen heraus‘ (statt ‚von oben herab‘). Es geht hauptsächlich um die Aufklärung, Zusammenführung, Integration und Steigerung soziologischer Theorietraditionen im Sinne dessen, was eine synthetische Soziologie aus einem bestimmten Geist genannt werden könnte. Dieser Geist ist sozusagen die Identität der betriebenen allgemeinen Theorieentwicklung und ihres Ergebnisses. Dabei spielt vor dem Hintergrund klassischer Soziologie und im Wechselspiel mit ihr auch die modernere, die moderne und allermodernste Soziologie (und Sozialität) eine zentrale Rolle.40 Der besagte Geist wird hier natürlich nicht als Dogma zugrunde gelegt,41 sondern er wird ‚ausbuchstabiert‘ und ‚legitimiert‘, und es wird (damit) dafür plädiert, seine besonderen Vorteile, Leistungen und Potenziale wahrzunehmen, wahr zu machen und der (Realitäts-)Prüfung auszusetzen. Diese Vorteile, Leistungen und Potenziale sehe ich vor allem in Überbrückungen, Grenzüberwindungen und Verbindungen, derart, dass auf allen relevanten fachlichen Wissenschaftsebenen (Theorie, Terminologie, Methodologie/Methodik, Analyse, Diagnose) neue Einheiten soziologischer Wissensbestände und Erkenntnismöglichkeiten entstehen und damit schließlich auch die Möglichkeit einer einheitlichen oder vereinheitlichten Soziologie. Eine solche Soziologie verfügt zugunsten ihrer Identität und Selbstentwicklung und zugleich zugunsten eines besseren Verständnisses der empirisch-gegenständlichen Verhältnisse nicht nur (aber auch) über eine komplexe ‚Werkzeugkiste‘ von Konzepten, sondern auch über eine ein solches Instrumentarium rahmende, relationierende und ergänzende wissenschaftliche (nicht nur theoretische) Gesamtvision. Der Geist, von dem ich hier ausgehe, mit dem ich arbeite und auf den ich immer wieder zurückkomme, ist wie gesagt der der Figurationssoziologie, für die 39 Ein- und Umbauten eingeschlossen. 40 So spannt sich ein Bogen von Simmel zu Elias über Giddens und Castells bis hin zu ganz aktuellen Ansätzen der Netzwerkforschung. 41 Vielmehr ist das Un- und Antidogmatische ein Wesensmerkmal dieses Geistes. Man könnte auch sagen, dass das einzige Dogma, das in diesem Rahmen und so auch hier vertreten wird, das des Unund Antidogmatischen ist. Wie ich selbst auf diesen Geist gekommen bin, habe ich oben angedeutet: Seine ‚Entdeckung‘ steht im Kontext meiner ‚systematischen Arbeitsbiographie‘.
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Grundfragen und Grundlagen
– natürlich – in erster Linie der Name und das Werk von Norbert Elias stehen. Von Elias und in seinem Umkreis sind grundlegende Arbeiten und Vorarbeiten und vor allem architektonisch maßgebliche Grundideen und Grundorientierungen für die intendierte soziologische (vor allem Theorie-)Entwicklungsarbeit geliefert worden.42 Grundlage des Folgenden und Geplanten ist aber eben weniger dieser Autor (und sein Werk), sondern die besondere wissenschaftliche, theoretische und analytische Denkart bzw. Wissenschafts- und Forschungsmentalität, die er repräsentiert. Man kann gewiss sagen, dass diese Denkart in Elias’ Werk kulminiert. Ihre Entwicklung hat aber (und das zu sagen entspricht dieser Denkart) keinen Nullpunkt und, jedenfalls vorläufig, keinen Endpunkt. Sie setzt weit vor Elias ein, hat auch mit anderen Klassikern (wie Marx, Weber und Simmel) zu tun, geht weit über Elias hinaus und hat sich zumindest partiell auch neben und nach Elias entfaltet und entwickelt. Vor allem aber ist diese Denkart in keiner Hinsicht einschränkend, sondern vielmehr entschränkend und verbindend; sie ist in ihren theoretischen und methodologischen Niederschlägen natürlich auch entwicklungsoffen (vgl. Rehberg (Hg.) 1996; Mongardini 1996). Das nachfolgend präsentierte Unternehmen ist auf dieser theoretischen Basis hinsichtlich des verarbeiteten und zu verarbeitenden Gedanken-, Konzept- und Theorienguts sehr breit, divers und komplex angelegt. Es wird also nicht nur einer Theorie etwas von einer anderen oder mehreren anderen „injiziert“ (Luhmann, s. o.), sondern die eine Theorie – die soziologische Figurationstheorie – wird gleichsam als Gerüst genommen43, um daraus ein großes und vergrößerbares, aber auch in sich hoch differenziertes und differenzierbares Haus zu schaffen – aus dem Material, den Bausteinen oder komplexeren Teilen anderer Häuser. Unterstellt wird – und darauf gründet das längerfristige Programm meiner Arbeit –, dass sich die soziologische Theoriengeschichte insgesamt in einem nicht nur sehr hohen, sondern im vergleichsweise höchsten und soziologisch ergiebigsten Maße im Rahmen der Figurationssoziologie und zu Gunsten von deren eigener Entwicklung rekonstruieren/‚lesen‘ und produktiv aufheben lässt. In einem späteren Entwick42 Vgl. insbesondere Elias (1972; 1978; 1980a, b; 1981; 1983; 1984; 1986; 1990; 1999; 2001; 2006a, b, c; Elias/Scotson 1990), Treibel/Kuzmics/Blomert (Hg.) (2000), Gleichmann/Goudsblom/Korte (Hg.) (1979), Treibel (2008), Korte (1988; 1999; 2005), Kuzmics/Mörth (Hg.) (1991), Esser (1984), Hahn (1984b), Kuzmics (1986), Mongardini (1994), Opitz (Hg.) (2005), Rehberg (Hg.) (1996), Quilley/ Loyal (2005). 43 Man könnte in diesem Fall vielleicht auch sagen, dass der Geist (der Figurationssoziologie) das Gerüst (ihrer Entwicklung) ist. In seinem ersten Buch, das alle weiteren in gewisser Weise vorweggenommen hat, hat Goffman (1969) die Metapher des Gerüstes zur Beschreibung seiner methodologischen Leitidee verwendet. Allerdings ist das diesbezügliche ‚Gerüst‘ Goffmans ein ganz anderes als das von Elias. Darauf komme ich zurück.
Prämissen und programmatische Grundgedanken
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lungsstadium der Arbeit mag dann auch ihr ursprüngliches Gerüst in Teilen oder ganz wegfallen. Neben und mit der originären Perspektive der Figurationssoziologie, ihrem ‚Blick‘ und ihrer eigenen theoretischen ‚Synthetizität‘ ist es jedenfalls deren innovative theoretische „Syntheseleistung“ (Kaesler 1996: 437) und der von ihr eröffnete und orientierte Spielraum des soziologischen Arbeitens und Weiterarbeitens, der die Ausrichtung dieses Unternehmens begründet. Die entsprechend aufzuschließenden und anzuschließenden theoretischen Wissensbestände, z. B. Konzepte, sind im figurationssoziologischen Gesamtkontext, aber auch jeweils mit Referenzen aufeinander, zu bestimmen, zu bearbeiten und zu entwickeln. Wenngleich diese Art von Theorie(entwicklungs)arbeit bis zu einem gewissen Grad selbstständig ist und sozusagen eigenlogisch in sich kreist, bleibt sie immer auf empirische Wirklichkeiten bezogen, von denen sie auch historisch – in Gestalt der theoretisch-empirischen Zivilisationsforschung – ausgegangen ist. Nicht nur werden also theoretische Mittel und Überlegungen immer wieder auf ihre Empirietauglichkeit und Empiriewertigkeit befragt und empirisch exemplifiziert, sondern sie sind auch dazu gedacht, schließlich in eigentlich empirisch-analytischer Forschung zum Einsatz gebracht und elaboriert zu werden. Denn theoretisch-systematische Untersuchungen, (Selbst-)Reflexionen und (Selbst-)Entwicklungen sind aus der hier vertretenen Sicht zwar prinzipiell und gerade unter den gegebenen Entwicklungsbedingungen des Fachs (Soziologie) sinnvoll und notwendig, ‚reine Theorie‘ und Theorie als Selbstzweck erscheinen dagegen als Irrwege der Soziologie und aller ‚Menschenwissenschaften‘.
2
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens als Grundlagen einer synthetischen Soziologie
Wenn ich mich im Folgenden in die Denk- und Forschungstradition der Figurationssoziologie stelle, um in ihrer Stoßrichtung weiterzuarbeiten, dann geschieht dies also nicht etwa aus tribalistischen, sondern aus (theorie-)systematischen und (theorie-)strategischen Gründen, d. h. auch distanziert und kritisch gegenüber dieser Tradition. Wichtiger als deren mehr oder weniger bedeutsame ‚Defizite‘ sind aber zunächst ihre forschungs- und theorielogischen Charakteristika, die unter den gegebenen Bedingungen der Soziologie und unter den gegebenen Bedingungen der Gesellschaft Grundlagen und Optionen für die Entwicklung einer synthetischen Soziologie oder Menschenwissenschaft und damit auch eines elaborierteren Instrumentariums für die empirisch-analytische Erforschung gerade auch der ‚Gegenwart‘ (der jüngeren Vergangenheit und eventuell der Zukunft) dieser Gesellschaft und ihrer Menschen eröffnen.
2.1
Interdisziplinarität, Transdisziplinarität und Universalität der Gegenstandserfassung
Das erste und wichtigste Charakteristikum, um das es hier geht, ist das der sachlich-dimensionalen Breite und Vielseitigkeit, ja Allseitigkeit des figurationssoziologischen Ansatzes, der mit der Überwindung traditioneller inter- und intradisziplinärer Trennungen und Grenzziehungen auch die damit geschiedenen sachlichen Aspekte wieder in einen Zusammenhang bringt bzw. in ihrem Zusammenhang zu sehen und zu erforschen erlaubt. Der Begriff der „historischen Gesellschaftspsychologie“, den Elias (1980b: 385) in seinem Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ zur Bezeichnung seines Programms und seines Ansatzes gebraucht44, bringt dies auf den Punkt: Geschichtswissenschaft, Gesellschaftswis44 Bei dieser Begriffsschöpfung und ihrem sachlichen Hintergrund ist – natürlich – an Karl Marx und Max Weber („Gesellschaftsgeschichte“) zu denken. Marx war für Elias nicht nur als Theoretiker historischer (langfristiger) Prozesse so etwas wie ein inspirierendes Modell; er war es auch als
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens
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senschaft/Soziologie und Psychologie/Psychoanalyse sollen mit der Konsequenz entsprechender Forschungsausrichtungen (wieder-)vereint werden. Das heißt insbesondere, „psychogenetische und soziogenetische Untersuchungen zugleich“ (ebd.) zu betreiben, betreiben zu können und betreiben zu müssen. Auf der Grundlage dieser prinzipiellen Überwindung traditioneller Denkschemata, Gegenstandsschematisierungen und (vermeintlicher) Arbeitsteilungen in den und zwischen den ‚anthropologischen Disziplinen‘, d. h. auf einem durch Synthetisierung gehobenen Niveau wissenschaftlicher Beobachtung und Reflexion, ist es auch möglich und sinnvoll, diverse ‚Makro-‘ und ‚Mikro-Theorien‘ verschiedener Disziplinen zu integrieren und damit eine neue theoretische Synthese zu entwickeln, die die in ihr integrierten Theoriekomponenten und Theorieelemente weiterführt, transformiert und aufhebt. In diesem Sinne hat Elias beispielsweise die Freud’sche Psychoanalyse mit ihren Persönlichkeits- und Triebkonzepten in seiner Zivilisationstheorie und im allgemeineren Theorierahmen der Figurationssoziologie aufgehoben. So ist eine ganz neue Art von (Sozio-)‚Psychologie‘ mit einem neuen Blick auf das Individuum und seine psychische Verfassung entstanden, eben eine historische Gesellschaftspsychologie. Die so angelegte (figurierte) Soziologie bzw. soziologische Theoriebildung zeichnet sich durch ein Höchstmaß an fachlicher, theoretischer und sachlicher Inklusivität, Entwickeltheit und Entwicklungsfähigkeit aus.45 Sie kann für sich Universalität der Gegenstandserfassung reklamieren, und zwar zunächst ganz so, wie es etwa auch Luhmann für seine (allgemeine) Systemtheorie getan hat. Das heißt bei Luhmann: „Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß sie (die Systemtheorie, H. W.) als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte (wie zum Beispiel Schichtung und Mobilität, Besonderheiten der modernen Gesellschaft, Interaktionsmuster etc.)“ (Luhmann 1984: 9; Hervorheb. im Orig.). ‚Universalität der Gegenstandserfassung‘ qualifiziert die sozialer Konkurrenz- und Kampf-Theoretiker (im Hinblick auf Rang- und Statuskämpfe). Auch die Marx’sche ‚Wissens-‘ und ‚Bewusstseinssoziologie‘ war – unübersehbar – von erheblicher inspiratorischer Relevanz für Elias. Von ähnlich großer und in mancher Hinsicht noch größerer Bedeutung war Weber – wiederum als historisch orientierter Soziologe, aber auch als expliziter und impliziter Gewohnheits- und Habitustheoretiker sowie durch seine Rationalisierungstheorie und Methodologie. Mit diesem Doppelbezug auf Marx und Weber läuft Elias der Struktur der Soziologie Bourdieus voraus, dessen Ansatz wesentlich in dieser Synthese der alten, scheinbar antagonistischen Klassiker wurzelt. Davon soll in den kommenden Arbeiten ausführlich die Rede sein. 45 Dies gilt heute mehr denn je. Für Annette Treibel ist die „Menschenwissenschaft von Norbert Elias (…) derzeit so anschlussfähig wie selten zuvor. Sie öffnet den Blick über die Fächergrenzen der Soziologie hinweg und ist doch soziologisch einschlägig. Eine solche Soziologie kann helfen, die vielfach geforderte interdisziplinäre Flexibilität aufzubauen…“ (Treibel 2008: 101).
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Grundfragen und Grundlagen
Figurationssoziologie darüber hinaus insofern, als sie nicht nur disziplinäre und subdisziplinäre Ausschnitthaftigkeiten, sondern auch kategoriale Schnitte, z. B. die systemtheoretische Trennung zwischen ‚psychischen Systemen‘ und ‚sozialen Systemen‘46, überwindet.
2.2
Theorie und Empirie
Ein weiteres hier zentral relevantes Charakteristikum der Figurationssoziologie, das diese als ‚geistige‘ Tradition wiederum von Theorie-(bildungs-)unternehmungen wie der Parsons’schen oder Luhmann’schen absetzt, aber auch von allen empiristischen (Human-)Wissenschaftsvarianten unterscheidet, besteht in einem systematischen Vermittlungszusammenhang und Wechselspiel zwischen Theoriearbeit (Theoriegebrauch und Theoriebildung) einerseits und Empiriearbeit (empirischer Beobachtungs- und Analysearbeit) andererseits. ‚Allgemeine Theorie‘ bzw. Theoriearbeit ist im Rahmen der Figurationssoziologie m. a. W. nur relativ selbstständig, keinesfalls Selbstzweck und letztlich keine von der Empiriearbeit isolierbare Aktion, sondern sowohl ein Mittel zu einem Zweck, nämlich dem der Analyse sozialer Wirklichkeit, als auch Ergebnis der Erfüllung dieses Zwecks. Theoriearbeit bleibt also systematisch auf die empirische Ebene bezogen, der sie zu dienen und an der sie sich zu messen und zu ‚bilden‘ hat. Ihr Sinn liegt zuallererst und letztlich in ihrem Wert für die empirisch-analytische Arbeit, in ihrem empirischen Aufschlussreichtum und ihrer Eigenschaft als Schluss und Ertrag dieser Arbeit, die aber umgekehrt auch als immanent theoriebedürftig und theorieabhängig erscheint. Elias (1978: 25) spricht in diesem Sinne methodologisch-grundsätzlich von einem „dialektischen Prozeß des Wissensfortschritts“ im Wechselspiel zwischen Empirie- und Theoriearbeit. Worum es ihm dabei (ansatzweise in der klassischen Tradition von Weber und Simmel) geht, ist – wiederum – die Überwindung erkenntnisblockierender Schematisierungen, Trennungen und Entgegensetzungen.47
46 Genau in dieser Trennung besteht ein zentraler (vielleicht der wichtigste) Unterschied und Gegensatz zwischen Systemtheorie und Figurationstheorie. Für Elias liegt darin ein fundamentaler Irrtum. 47 Diese ‚Mentalität‘ und Strategie der Überbrückung oder Auflösung des Entweder-oder in ein Sowohl-als-auch ist, wie noch deutlicher werden wird, in einer ganzen Reihe von Varianten überhaupt ein Charakteristikum der Elias’schen Art von Theorie(-bildung). Dabei geht es gleichermaßen um die Anlage der Soziologie/Menschenwissenschaft wie um das Verständnis ihres Gegenstandes, das über unangemessene und verfehlende Dichotomisierungen wie ‚Individuum und Gesellschaft‘ hinausgelangen soll.
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens
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Sie sollen in diesem Fall, und das wird von ihm als methodologisches Ideal postuliert, durch eine theoretisch-empirische „Doppelgleisigkeit“ (1978: 25) des wissenschaftlichen Arbeitens aufgelöst werden. Elias macht diese gleichzeitige Wendung gegen empirielose Theorie(-bildung) und gegen theorielose Empiriearbeit in seiner Betrachtung des (pseudo-)soziologischen Alltagsbegriffs programmatisch deutlich, meint in diesem Zusammenhang aber auch Theorietypen von der Art der Systemtheorien und den „marxistischen Typ der soziologischen Theorien“ (ebd.: 23). Alle diese Ansätze kranken aus Elias’ Sicht an der einen oder anderen Einseitigkeit: „Rein empirische Untersuchungen, also Untersuchungen ohne Theoriebezug, sind wie Seereisen ohne Karte und Kompaß – durch Zufall findet man manchmal einen Hafen, aber das Risiko des Scheiterns ist groß. Theoretische Untersuchungen ohne Empiriebezug sind im Grunde zumeist Elaborationen vorgefaßter dogmatischer Ideen; die Dogmen sind dann glaubensmäßig festgelegt und durch keine empirischen Belege, durch keine Detailuntersuchungen zu widerlegen oder zu korrigieren. Allenfalls sucht man sie a posteriori durch ein paar empiriebezogene Argumente zu festigen. (…) Manche, wenn auch gewiß nicht alle Bemühungen, aus dem Begriff des Alltags ein brauchbares soziologisches Konzept zu machen, scheinen mir von dieser Art zu sein. Sie haben, wenn nicht geradezu einen philosophischen, so doch einen philosophoiden Charakter. (…) Andere sind empirisch beschreibende Untersuchungen, schlicht und manchmal höchst informationsreich, mit großer Detailfülle, aber ohne jeden Theoriebezug, also ein bißchen steuerlos.“ (Elias 1978: 25)
Die (Figurations-)Theorietypen, auf die im Rahmen der Figurationssoziologie gezielt und gebaut werden soll, sind also von jenen formalen Theorien zu unterscheiden und abzusetzen, die auf logischer Spekulation basieren (vgl. Glaser/Strauss 1979: 107 f.) und empirische Daten gleichsam subsidiär zur ‚Ausformulierung‘, Bestätigung oder Illustration ihrer selbst verwenden. Statt Theorien derart ‚von oben‘ bilden oder gebrauchen zu wollen oder „wie Gesetze zu ‚erlassen‘ und dann nur noch zu kontrollieren, ob sich die Leute auch wirklich so verhalten, wie die Theorie postuliert“ (Bergmann 1980a: 39), gilt es im Anschluss an den hier propagierten ‚Geist‘ als erstes und als letztes, Empiriebezüge herzustellen, (wie auch immer geartete) Empiriearbeit und Theoriearbeit miteinander zu vermitteln und in einem ‚Hin und Her‘ zwischen Empirie- und Theorieebene schließlich zu einer empirisch gehaltvollen Gegenstandstheorie zu gelangen. Auf dieser Basis kann sich dann allgemeine (Figurations-)Theorie – mit einem Netzwerk analytisch instrumentier-
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Grundfragen und Grundlagen
barer Konzepte (im Falle von Elias etwa Feld, Habitus oder Valenz, s. u.) – bilden und auch im eigenständigen theoretischen Selbst- und Fremdbezug weiterbilden. Die Denk- und Operationsart (wissenschaftliche/methodologische Mentalität) der Figurationssoziologie schließt also die Bildung allgemeiner (‚großer‘) Theorie und Begrifflichkeit nicht aus sondern ein, fordert aber neben Empirie als Ausgangs- und bleibenden Bezugspunkt die Vor- und Zwischenschaltung empirischer Gegenstandstheorie, von der ausgehend dann erst abstraktere theoretische Generalisierungen/Konzeptualisierungen und deren ‚Inventarisierung‘ begründet erscheinen. In diesem Sinne einer theoretisch-empirischen „Doppelgleisigkeit“ hat Elias seine (spezielle) Gegenstandstheorie der Zivilisation gebildet und auf dieser Grundlage Positionen und Konzepte einer allgemeinen Figurationssoziologie (soziologischen Figurationstheorie) formuliert.48 Durch diese theoretisch-empirische „Doppelgleisigkeit“, durch die Art ihres Empiriebezuges und ihres Theoriebildens (Theoriegebildes) fördert und steigert die Figurationssoziologie den Gehalt und die Überprüfbarkeit ihrer Resultate und überbrückt zugleich intra- und interdisziplinäre Distanzen; sie steigert den Erkenntniswert ihrer Untersuchungen und deren Kommunizierbarkeit wie auch die Kommunikations-, Diskussions- und Austauschfähigkeit der wissenschaftlichen Akteure, die gemeinsame Haltepunkte nicht nur in den empirischen Gegenständen und Fragestellungen, sondern auch in den darauf und daraus bezogenen theoretischen Konstruktionen finden. Theoretisch-empirische „Doppelgleisigkeit“ heißt für und bei Elias allerdings nicht, sich in irgendein determinierendes und exklusives methodisches (Regel-) ‚System‘ einzuspannen. Elias’ faktische Arbeitsweise entspricht vielmehr seiner undogmatischen Mentalität, seiner (etwa mit Simmel oder Goffman geteilten) Grundhaltung, mit einem „unverstellten Geist“ (Goffman) auf die soziale Wirklichkeit zu blicken, und einem Forscherhabitus, der ihn zu einem flexiblen und souveränen Umgang mit Daten, Begriffen und Theorien geführt und befähigt hat – einschließlich der Möglichkeit, sich einmal auf das eine (Empirie, Analyse) und 48 Die Generierungslogik, die generative Entwicklungslogik und den Status dieser Soziologie als einer synthetischen bzw. synthetisch-analytischen Soziologie verdeutlicht und unterstreicht Elias in einem Interview mit Johan Goudsblom: „Außerdem bin ich nicht einverstanden mit derjenigen Wissenschaftstheorie, die davon ausgeht, daß die Wissenschaft keine andere Aufgabe hat, als zu analysieren. Gewiß, die Analyse ist ein Schritt, aber die Synthese ist ein anderer. Man kann keine analytische Methode gebrauchen, die keine Modelle dafür hat, das wieder zusammenzufügen, was man zergliedert hat. Daher glaube ich, alle Menschenwissenschaften werden letzten Endes ein Gesamtmodell interdependenter Menschen erarbeiten müssen, das in Übereinstimmung mit der Empirie verbessert und verändert werden kann – auf jeden Fall ein Modell, das zeigt, wie die zergliederten Teile zusammengehören oder zusammengesetzt werden können“ (Elias 2005a: 109).
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ein anderes Mal auf das andere (Begriffs- und Theoriekritik, Begriffs- und Theoriebildung) zu konzentrieren. Neben jener ‚Doppelgleisigkeit‘ und auf der Grundlage der Erkenntnisse, die sie erbracht hat (vor allem der unerschöpflichen Quelle der Zivilisationsforschung), steht bei Elias ein ‚nur‘ – und zunehmend ‚nur‘ noch – empirienahes (aber nicht (mehr), wie auch immer theoriebezogen, empirisch-analytisches) Arbeiten, d. h. hauptsächlich ein auf ‚Gegenstände‘ und Begriffs- wie Theoriefragen bezogenes systematisches Nachdenken, das teilweise durchaus sozialphilosophisch oder metasoziologisch genannt werden kann.49 Jedoch wäre es wiederum ein Missverständnis, in diesem ‚Nachdenken‘, in dieser „Gedankenarbeit“ (Elias) eine empirisch bodenlose oder bloß unterfütterte Spekulation zu sehen. Vielmehr hatte es Elias hauptsächlich mit einer sehr grundsätzlichen Begriffs- und Theoriearbeit zu tun, der es darum ging, die gängigen „Münzen“ (Elias) der ‚humanwissenschaftlichen‘ bzw. soziologischen Diskurse zu ‚dekonstruieren‘ und durch (soziologisch) bessere, weil den empirischen (Prozess-) Tatsachen angemessenere zu ersetzen.50 ‚Soziologische Aufklärung‘ war für Elias auch Aufklärung der Soziologie und der Soziologen – Aufklärung über ihre naiven/ intuitiven, unreflektierten, symptomatischen und häufig auch ideologischen oder ideologisch belasteten Erkenntnisbedingungen und (scheinbaren) Wissensformen51. Nicht zuletzt war Elias als „Mythenjäger“ (1981: 51 ff.) auf der Jagd nach den 49 So deutlich es ist, dass Elias in den 1940er bis 1960er Jahren „dem Ideal der großen theoretischempirischen Untersuchung nachstrebte“ (Schröter 1996: 91), so unübersehbar ist es, dass sein diesbezügliches ‚Über-Ich‘ später lockerer und freier wurde, wenn ihm auch immer ganz konkrete Gegenstände im Sinn und im Auge blieben. Einer seiner besten persönlichen Kenner stellt im Hinblick auf den späten (und alten) Elias fest: „Das Quellensammeln und -auswerten hat er, als ich ihn kannte, nicht mehr eifrig betrieben, die Lektüre von Kollegenliteratur noch weniger; entsprechend entfiel die Mühsal des breiten Absicherns und Überprüfens eigener Thesen sowie ihre Einbindung in aktuelle Diskussionen“ (Schröter 1996: 91). Dass Elias im Laufe seiner Arbeiten (im Entwicklungsgang seines Werks) tatsächlich immer weniger im Sinne seines Ideals und Postulats theoretisch-empirischer „Doppelgleisigkeit“ vorgegangen ist, liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass auch der Forscher(-Mensch) ein „Prozeß“ (Elias) ist, der in sich selbst zunehmend voraussetzungsvoll und in der Form habituellen Wissens strukturiert wird. Der alternde und alte Elias hatte es vor allem damit zu tun, gewissermaßen sich selbst zu rekonstruieren und (‚semantisch‘) zu reproduzieren. (Auch diese Tatsachen begründen die nachfolgende Arbeit.) 50 Dies ist einer der (Kern-)Punkte, die Elias und Goffman verbinden. Wenn auch jeder auf seine besondere Art, so sind doch beide gleichermaßen bemüht, auf implizite und symptomatische Denkweisen verweisende Selbstverständlichkeiten der soziologischen Diskurse zu hinterfragen und systematisch aufzulösen. Dazu gehört nicht zuletzt die Rede vom ‚Individuum‘ (‚Selbst‘), die beide begriffskritisch, ‚begriffsdekonstruktiv‘ und empirisch-analytisch aufs Korn genommen und zerlegt haben, und zwar jeweils werkdurchgängig. 51 Elias sieht in dem ganzen Spektrum der Wissensformen eine unhintergehbare, wissenschaftlich potentiell hinderliche oder schädliche, aber auch nützliche und nutzbare Voraussetzung (human-, sozial-)wissenschaftlichen Arbeitens, in dem immer auch das ‚Gesamtwissen‘ des Wissenschaftlers
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Grundfragen und Grundlagen
von der Soziologie selbst erzeugten Mythen, z. B. dem ‚homo clausus‘ oder dem ‚System‘ (s. o.).
2.3
Synthetische Methodologie, Methodensynthese und theoretisch-empirische Sozialforschung
Als eine synthetische, konventionelle Spaltungen und Schematisierungen überwindende und integrative ‚Menschenwissenschaft‘ erweist und empfiehlt sich die Figurationssoziologie also nicht nur auf den Ebenen des wissenschaftlichen Selbstund Gegenstandsverständnisses und (d. h.) der Theorienreferenz und Theoriebildung, sondern auch und gleichzeitig auf den Ebenen der Methodologie und der Methoden. Gemäß dem Postulat theoretisch-empirischer „Doppelgleisigkeit“ ist figurationssoziologische Forschung zwar wesentlich empirische Forschung, aber sie ist als solche auch Forschung durch Theorie52, mit Hilfe von Theorie und mit theoretischer Zielsetzung. Dass sie Theorie und Empirie in einer Art von Interdependenzbeziehung und wechselseitiger Durchdringung beider Seiten verbindet53, impliziert, dass sowohl die Gegenstandsbeobachtung, die ‚Datensuche‘ und ‚Datenerhebung‘ als auch die ‚Datenauswertung‘ und die Darstellung der Ergebnisse möglichst theoriegestützt oder theoretisch orientiert sind. Unabhängig davon wird den empirischen Daten (Materialien) aber auch ein irritativer und informativer Eigenwert zugeschrieben.54 Figurationssoziologie bedeutet auch darüber hinaus einen inklusiven und integrativen, synthetischen Stil der Forschung. Das betrifft in besonderer Weise die empirischen Datentypen, die als solche nicht von vorneherein festgelegt, zugelassen, ausgeschlossen oder irgendwie privilegiert sind55, ebenso wie die Zugänge zu
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als ‚Mensch‘ (individuelles Individuum) mitläuft und mitwirkt. Dies ist vor allem die Ebene des Habitus bzw. der Mentalität, von der im Folgenden ausführlich die Rede ist – als Konzept der Figurationssoziologie, die damit also nicht nur ihren ‚Gegenstand‘, sondern auch das (Selbst-)Verhältnis von Forschung (Forscher) und ‚Gegenstand‘ aufzuklären vermag. Dazu gehört auch der gewissermaßen methodische Charakter und Wert der Perspektive, des ‚Blicks‘ der Figurationssoziologie als solcher. Dieses programmatische Prinzip figurationssoziologischen Vorgehens ist allerdings ‚operativ‘ unbestimmt. Elias selbst operiert diesbezüglich eher intuitiv, worin dann aber auch eine gewisse ‚Methodizität‘ besteht, nämlich die des fungierenden Habitus. Man kann und soll sich durch sie selbst überraschen, informieren und zur Hypothesen- und Theoriebildung anregen lassen. Die Genese der Elias’schen Zivilisationstheorie ist das beste Beispiel dafür. Als Daten gelten vielmehr die verschiedensten empirischen Phänomene (Architektur, Kleidung, Körperausdruck, Sprechweisen, Interaktionsformen, Texte, Diskurse, Bilder u. a. m.), die unter
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens
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Daten (Methoden der ‚Datenerhebung‘) wie schließlich die konventionelle (Gegeneinander-)Differenzierung zwischen ‚qualitativer‘ und ‚quantitativer‘ Sozialforschung. Nach Elias’ programmatischer Erklärung (vgl. 1981: 143 f.) und nach dem – Elias in der Sache weitgehend nachfolgenden – praktischen Vorbild Bourdieus (vgl. z. B. 1982) lassen sich Formen von qualitativer und quantitativer Sozialforschung systematisch und empirisch-forschungsstrategisch verbinden, unterliegen allerdings – wie jede andere methodische Praxis in diesem Rahmen – einer theoretischen Kontrolle, Vor- und Maßgabe (Aufgabenstellung), die die Entwicklung und Anwendung einzelner methodischer Hilfsmittel orientiert. Für Elias, der heute vielfach als „Meister narrativer Soziologie und qualitativer Methoden gepriesen wird“ (Schröter 1996: 102), sind statistische Untersuchungen in der (figurations-)soziologischen Forschungsarbeit „in vielen Fällen unentbehrlich“ (Elias 1981: 144). Er lehnt jedoch aus den – noch genauer darzulegenden – Gründen seines Figurationsansatzes (empiriegestützten Theoriegründen und theoriegestützten Empiriegründen) jeglichen ‚methodologischen Individualismus‘ als systematisch verfehlt ab und betont: „Wenn sich die Erforschung von Figurationsprozessen, die komplexen Spielverläufen ähneln, als soziologische Aufgabe erweist, dann muß man statistische Hilfsmittel zu entwickeln suchen, die dieser Aufgabe angemessen sind“ (ebd.). Für Elias gibt es also keine irgendwie geartete prinzipielle oder tendenzielle Gegensätzlichkeit oder Inkompatibilität zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung. Vielmehr gilt es, wo es nützlich ist, die Mittel der quantitativen Sozialforschung mit ‚qualitativen‘ Daten und Verfahrensweisen, wie z. B. der teilnehmenden Beobachtung oder der ‚interpretativen‘ Auswertung historischer Objekte/Dokumente56, zu verbinden. Allerdings ergibt sich aus der prinzipiellen Logik der figurationssoziologischen Forschung, insbesondere aus ihrer (doppelten) Theorieorientierung und der sachlichen Mehrseitigkeit ihres Ansatzes, eine gewisse Schlüsselrolle, wenn nicht ein Vorrang qualitativer Vorgehensweisen. Schon die systematisch historische Ausrichtung der Figurationssoziologie begrenzt dem Blickwinkel von Theorie, hypothetischer oder analytischer Konstruktion soziologische Signifikanz gewinnen. 56 Die immanent historisch-empirische Ausrichtung der Figurationssoziologie bringt es mit sich, dass es sich bei ihren Daten auch (und bei Elias vorwiegend) um historische Hinterlassenschaften verschiedenster Art handelt. Dementsprechend relational und relativ ist die ‚Empiriebezogenheit‘. Die heutige Erforschung der (‚Gegenwarts-‘)‚Gesellschaft‘ hat es natürlich auch mit anders- und neuartigen Materialien/Daten zu tun (z. B. Filmen), und sie erlaubt natürlich ganz andere Datenbezüge und Formen der Datenerhebung, vor allem auch Befragungen und mediale Aufzeichnungen; ebenso erlaubt sie planvolle Datenerhebungen im Hinblick auf die Zukunft, während sich historische Forschung mit dem ‚abfinden‘ muss, was von Gewesenem noch da und aufzufinden ist.
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Grundfragen und Grundlagen
die Möglichkeiten quantitativer Sozialforschung und muss dazu führen, dass vor allem als qualitativ zu bezeichnende Vorgehensweisen in Bezug auf entsprechende Datentypen (bauliche oder sonstige materielle Relikte, Kleidung, Instrumente, Kunstwerke, Musik, Memoiren etc.) praktiziert werden. Die Figurationssoziologie kann (auch) auf der methodologisch-methodischen Ebene als ein Ansatz mit einem eigenen strategischen und praktischen Repertoire gelten und zugleich als ein ‚Haus‘ fungieren, das eine Reihe theoretisch voraussetzungsvoller und mit theoretischen Konstrukten verbundener qualitativer Ansätze zu integrieren und in einer Synthese aufzuheben vermag. Es bietet sich mit dem geplanten Unternehmen also im Prinzip die Möglichkeit einer theoretischmethodologisch-methodischen ‚Parallelaktion‘, wobei die theoretische Syntheseleistung auch die diversen theoretischen Hintergründe der Methoden einschließt und damit auch die Methodenintegration fundieren kann. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache zentral, dass die Figurationssoziologie theoretisch und forschungspraktisch eine Wissenssoziologie inkludiert und daher die auf dem Feld der qualitativen Sozialforschung maßgeblichen Verfahren der verschiedenen Wissenssoziologien anzuschließen und einzuschließen vermag: Diskursanalyse (Foucault), Rahmen-Analyse (Goffman), kommunikative Gattungsanalyse (Luckmann), Deutungsmusteranalyse (Oevermann), Skriptanalyse, Visuelle Soziologie/ Bildhermeneutik u. a. m. Indem die im Folgenden entfaltete und entwickelte Figurationssoziologie die entsprechenden theoretischen Konstrukte (Rahmen, Deutungsmuster, Diskurs, kommunikative Gattung, Ritual etc.) in sich aufhebt, und indem sie zugleich ihre empirisch-analytischen Arbeitsweisen praktisch (weniger theoretisch) vorführt, bildet sie auch einen Hintergrund und eine Matrix für die Entwicklung einer kohärenten Methodologie und methodischen Apparatur, einer, wenn nicht alle, so doch viele bisherige Möglichkeiten von Sozialforschung aufnehmenden und zu einem Paradigma vereinenden (Komplex-)Strategie der empirischen, genauer gesagt: theoretisch-empirischen Sozialforschung.57
57 Inwieweit sich die hier also sozusagen als andere Seite der (Figurations-)Theoriearbeit eröffnende systematische Option der Entwicklung einer synthetischen Methodologie und Methodenapparatur tatsächlich einlösen lässt, muss sich natürlich erst zeigen. Da es sich dabei um ein eigentlich gewaltiges Projekt handelt, dürften allerdings Kapazitätsprobleme entstehen. In jedem Fall sollte es im Folgenden bei aller Kapazitätsknappheit möglich sein, die Ausführung der Figurationstheorie mit methodologisch-methodischen Hinweisen zu verbinden – mindestens dort‚ wo die Entwicklung der allgemeinen Figurationstheorie methodologisch-methodische Parallelen besonders nahe legt.
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens 2.4
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Sprache, Stil und Material
Die methodologische Identität und (d. h.) die synthetische Qualität und Kraft der Elias’schen (Figurations-)Soziologie liegt auch und wesentlich in Eigenschaften ihrer Sprache, in ihrem Text-, Schreib- und Beschreibungsstil. Auch diese Aspekte verdienen hier schon eine etwas eingehendere Betrachtung, weil sie die distinkte Art (und die Arten) von Soziologie betreffen, um die es im Folgenden geht. Die wissenschaftliche Sprache und das wissenschaftliche ‚Sprechen‘ von Elias sind zunächst und in erster Linie dadurch ausgezeichnet, dass sie bei aller Theoriebezogenheit und bei allem theoretischen Implikationsreichtum um maximale Verständlichkeit und Transparenz für ein möglichst großes Publikum – nicht nur (sozial-)wissenschaftliches Fachpublikum – bemüht sind.58 Und dies ist für Elias (wie für andere) nicht bloß eine wissenschaftlich nebensächliche Ambition oder eine persönlich-beliebige Form- oder Stilfrage, sondern eine immanent und eminent (sozial-)wissenschaftliche, wissenschaftspraktische Frage, die sich vor allem aus der inter- und transdisziplinären Logik seines Denkens und seines Ansatzes ergibt. So wie er die wissenschaftliche und soziale Exklusion durch „philosophoide Reflektionen ohne Empiriebezug“ oder durch „gruppeninterne Argumentiersysteme“ (Elias 1978: 27) ablehnt, so lehnt er es auch ab, wenn ‚Sozialforscher‘ sich als Mitglieder sektenartiger „Zirkel“ (ebd.) kaum noch darum bemühen, „ihre Erkenntnisse und ihre Gesichtspunkte in einer Sprache darzulegen, die auch für nicht-zugehörige Menschen verständlich ist – und das obgleich gerade die Soziologie ihre Aufgabe verfehlt, wenn ihre Forschungsarbeit nicht auch für andere Forschungsbereiche fruchtbar gemacht werden kann“ (ebd.). Hauptsächlich zeichnet sich die Wissenschafts-Sprache (das wissenschaftliche ‚Sprechen‘) von Elias daher dadurch aus, dass sie die Möglichkeiten seiner (deutschen) ‚Muttersprache‘ – auch in der kontinuierlich betriebenen Theorie- und Begriffsbildung – ausschöpfen will. Trotz und wegen seiner entschieden und systematisch theoretischen Orientierungen, Ambitionen und Produktionen verzichtet er entsprechend auf geschlossene
58 Elias verzichtet daher so weit wie möglich auf die Verwendung und erst recht auf die Erfindung einer technischen Kunstsprache, wie sie etwa Luhmann mit sozialen Hürden- und Exklusionseffekten der (Lektüre-)Zugänglichkeit seines Werks zunehmend ausgearbeitet hat. Im Gegensatz zum Elias’schen kann das Luhmann’sche Werk, insbesondere das Spätwerk, vom nicht-sozialwissenschaftlichen Publikum kaum, aber auch vom allgemeinen soziologischen Fachpublikum nur mit größerer Mühe erschlossen werden. Ein „Luhmann-Lexikon“ (Krause 2005) soll helfen; es verdeutlicht auch die Probleme und Kosten, die Elias seinen Lesern durch eine Art von (spezial-)sprachlicher Askese und Sparsamkeit, aber auch durch Sprachkunst (statt Kunstsprache) erspart.
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Grundfragen und Grundlagen
(und ausschließende) fachterminologische Konstruktionen und Sprachspiele59, die so tun, als ließen sich soziologische Sachverhalte und Erkenntnisse nur durch technische Kunstbegriffe und Kunstbegrifflichkeiten angemessen zum Ausdruck bringen. Es geht Elias mit der Art und Gestaltung seiner Wissenschaftssprache aber nicht ‚nur‘ um inter- und transdisziplinäre Verständlichkeit und Verständigung, womit er auch auf die strategischen ‚Leistungen‘ sprachlich erzeugter Dunkelheit60 verzichtet, sondern es geht ihm darüber hinaus – und darin ist er wiederum Vorbild und Musterbeispiel – um die Optimierung von wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit, von Angemessenheit, Differenzierung und Präzision in Begriffsbildung, Beschreibung und Analyse. Dafür ist zwar auch nach Elias technische Terminologie, der Rückgriff auf fachliche Bestände solcher Terminologie und auch deren Generierung in gewissem Maße unverzichtbar, aber sie ist für ihn immer nur relativ und bedingt und längst nicht immer zwingend erforderlich, sondern nicht zuletzt im Interesse der theoretischen Arbeit möglichst sparsam zu handhaben. Die nach allgemeiner Auffassung entscheidende Funktion der (Sozial-)Wissenschaftssprache, sachgerecht, angemessen und genau zu sein, erfüllt Elias vor allem mit einer Synthese aus üblicher, allerdings häufig von ihm ‚überarbeiteter‘
59 Solche Sprachspiele, die bekanntlich nicht nur in der Soziologie gespielt und gepflegt werden, sind natürlich Hürden des Verstehens, und sie sind probate Strategien der (Selbst-)Immunisierung und (Selbst-)Mystifikation. Sie reduzieren als Knappheitsgeneratoren besonderer Art die Wahrscheinlichkeit von Zugänglichkeit, Kommunikation/gelingender Kommunikation und (Fremd-) Kontrolle. Natürlich bleibt es im Dunkeln, wie viel von bestimmten Texten von wem innerhalb oder außerhalb von Wissenschaftlergruppen (der ‚scientific community‘) tatsächlich gelesen (geschweige denn verstanden) wird, aber man kann begründet vermuten, dass die hier gemeinten technizistischen (technizistisch verschlüsselten) Diskurse faktisch „kaum“ rezipiert werden, wie Hermann Korte (2005: 7) meint. Die faktische Wissenschaftskommunikation beschränkt sich dann auf mehr oder weniger kleine Kreise (Eingeweihte, Sekten), was aber eine größere Wirksamkeit innerhalb und außerhalb der Disziplin nicht ausschließt. Sie kann sich oberflächlichen Images und der sozialen Durchschlagskraft von Worthülsen verdanken, die nicht zuletzt über eine immer mehr anschwellende Flut von sogenannter Einführungs- und Überblicksliteratur zu den jeweiligen Spezialdiskursen vermittelt werden. 60 Das heißt auf der einen Seite ‚negative‘ Eindrucksmanipulation mit entsprechenden Effekten: Abund Ausschließung, Immunität, Kritik-/Kritikerverknappung, Verhüllung von Schwächen. Die dosierte sprachliche Verdunkelung ist natürlich auf der anderen Seite eine traditionsreiche und probate Strategie der ‚positiven‘ Eindrucksmanipulation. Sie kann einem disponierten Publikum den Eindruck von Tiefe, Genialität usw. vermitteln.
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Fachterminologie61, eigenen terminologischen Schöpfungen und Metaphern62 und überhaupt einer (sozio-)„literarischen Sprache“ (Kaesler 1996: 439). In ihr verbinden und decken sich nach dem Urteil nicht nur von ‚Elias-Schülern‘ Einfachheit/ Schlichtheit, Anschaulichkeit, Informationsgehalt, technische Funktionalität (Genauigkeit) und auch Schönheit – eine Synthese von Eigenschaften und Funktionen, die die (Sozial-)Wissenschaft/Soziologie erst (wieder) potentiell ‚öffentlich‘ oder ‚öffentlich‘ wirksam macht. Dirk Kaesler hat dazu, Elias würdigend, zu Recht angemerkt: „Diese klare und schöne Sprache versteht jeder Mensch, der Lesen und Zuhören gelernt hat. Und das kann auch Wissenschaft sein, Wissenschaft, die von den Menschen verstanden sein will. Eine Soziologie also, die den soziologischen Gehalt artikuliert, ohne in Soziologismen zu verfallen. Wissenschaftliches Schreiben, und soziologisches Schreiben allemal, wird sich in Zukunft an der Sprachkunst des soziologischen Wissenschaftlers Norbert Elias messen lassen müssen.“ (Kaesler 1996: 439)63
In diesem Punkt vielleicht am ehesten mit Simmel (oder auch Nietzsche) vergleichbar, hat Elias die (sozio-)‚literarische‘ Sprachqualität seiner wissenschaft lichen Texte nicht nur gepflegt, sondern geradezu kultiviert und derart in den Dienst seiner wissenschaftlichen Zwecke gestellt, dass auch seine innovativen sprachlichen (bzw. terminologischen) Prägungen „sich so glatt in den Fundus unserer verbalen Denkmittel (schmiegen, H. W.), dass man Gefahr läuft, bei der Übernahme ihren Urheber zu vergessen“ (Schröter 1996: 94).64 Dies gilt etwa für Begriffsschöpfungen wie „Selbstzwang“ oder „Gruppencharisma“, deren genaue Bedeutung sich dem Elias-Leser an den Stellen ihrer Verwendung auch ohne ein einschlägiges (Elias-) ‚Lexikon‘ erschließt. 61 In den Sozialwissenschaften/der Soziologie gängige (und eingängige) Fachbegriffe wie Rolle, soziale Mobilität oder Interaktion hat Elias vor dem Hintergrund seiner eigenen Arbeiten und seiner theoretischen Perspektive (Figurationssoziologie) regelmäßig grundsätzlich revidiert, teilweise abgelehnt und teilweise kritisch weiterentwickelt (vgl. z. B. 1990). 62 An ihnen hat Elias ebenso kontinuierlich schöpferisch (weiter-)gearbeitet wie er kontinuierlich mit soziologischer Begriffskritik und Begriffszersetzung befasst war. 63 Ganz ähnlicher Auffassung ist Dieter Claessens, der schreibt: „Elias war ‚einfach‘, auch und gerade in seinen an sich abstrakten Begriffen, wie den ‚Verflechtungszusammenhängen‘ – einem Begriff, der trotzdem unmittelbar verständlich ist und zum Nachdenken anregt (…) Sein Werk hat ein Stigma: Man versteht es auch so; es ist in keiner Weise manieristisch …“ (1996: 148). 64 Informativ und anregend sind in diesem Zusammenhang – auch im Hinblick auf grundsätzliche Fragen des (sozial-)‚wissenschaftlichen Arbeitens‘ und der wissenschaftlichen ‚Kreativität‘ – Michael Schröters Betrachtungen der Elias’schen Text-Produktion, die er aus der Nähe beobachtet und aus der Ferne der biographischen Zeit reflektiert hat (vgl. Schröter 1996).
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Die angemessene Sprache der (Sozial-/Menschen-)Wissenschaft ist im Rahmen dieses Paradigmas also durch gewisse Zielwerte und Maximen zu bestimmen, aber nur begrenzt technisch definierbar. Es handelt sich bei dieser Sprache (und diesem ‚Sprechen‘) um ein zwar theoretisch voraussetzungs- und anspruchsvolles, aber immer empirisch-gegenstandsbezogenes Bezeichnungs- und Verständigungsrepertoire, das prinzipiell keine (sprachlichen) Möglichkeiten ausschließt und das ‚im Fluss‘ und ‚im Kontext‘ des jeweiligen Forschungsprozesses flexibel angewendet und angemessen werden muss, um seine wissenschaftlichen Zwecke erfüllen zu können. Damit geht es – wiederum – um eine Synthese und eine kaum kanonisierbare (oder gar zu verordnende) ‚Handlungskunst‘, nämlich die besagte Sprachkunst: die sprachliche Vermittlung und Verbindung von Theorie- und Empiriearbeit, die der Forscher letztlich auch in einer Gestaltung seiner sprachlichen Möglichkeiten in gewisser Weise souverän und kreativ zu leisten hat. Was damit letzten Endes bezweckt wird und erreicht werden kann ist eine Balance65 zwischen ‚Annäherung‘ an den empirischen Gegenstand (Verhalten, Handeln, Praxis, Kultur) einerseits und theoretisch-analytischer Distanzierung von ihm andererseits. Prototypisch (schon) im Eliasschen Frühwerk wird im ‚Medium‘ der Sprache eine mittlere Distanz zum Gegenstand hergestellt, der aus dem Theorie-Blickwinkel des soziologischen Beobachters erscheint und gleichzeitig eine gewisse Lebendigkeit und auch ästhetische Qualität behält oder erst gewinnt66. Im Sinne und als Ausdruck seiner Strategie der theoretisch-empirischen ‚Doppelgleisigkeit‘ geht es Elias mit seinen sprachlichen Mitteln zwar um eine theoretische und analytische Distanzierung von den Gegenständen, aber nicht in der Form einer formalistischen Projektion oder eines „Fluges über den Wolken“67, wie etwa Luhmann ihn angestrebt und realisiert hat, sondern so, dass auch die Zusammen65 Der Begriff der Balance gehört zu den Lieblings- und Schlüsselbegriffen von Elias, z. B. in den Varianten „Wir-Ich-Balance“, „Macht-Balance“ oder „Balance zwischen Engagement und Distanzierung“ (1999). Es handelt sich dabei um einen der im Folgenden noch näher zu betrachtenden figurationssoziologischen Relationsbegriffe. Der Balancebegriff bezeichnet jeweils einen dialektischen und veränderlichen Zusammenhang zwischen ‚Polen‘, ein relatives Gleichgewicht zwischen ihnen sowie entsprechende Spannungsverhältnisse. 66 Entscheidend ist für Elias die sich letztlich diskursiv (textuell) niederschlagende Synthese aus theorievermitteltem Blick auf Empirie einerseits und empirievermitteltem Blick auf Theorie andererseits. Allerdings verweigert er sich diesbezüglich wie überhaupt „kanonisierten Regeln“. Er „gehöre zu denen, die in keinem Fall gewillt sind, sich an kanonisierte Vorschriften zu halten und die immer wieder über Begrenzungen hinausgehen“ (2006a: 377). 67 So Luhmanns eigene Formulierung zur Selbstbeschreibung seines Theorieunternehmens im Vorwort zu „Soziale Systeme“ (1984: 13). Elias (2006b: 391) spricht zweifellos im Hinblick auf Systemtheoretiker wie Luhmann (und Theoriesysteme wie das Luhmann’sche) allgemein kritisch von „hoch in die Luft gebauten Gedankengebilden“.
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hänge und ‚Details‘ der empirischen (Lebens-)Wirklichkeit noch wahrnehmbar sind oder – eben weil sie aus jener Distanz wahrgenommen werden – überhaupt erst als solche wahrgenommen werden können. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der in der Figurationssoziologie generell im Hintergrund stehende theoretisch-empirische Denk- und Arbeitsstil, aus dem sich – paradigmatisch in Elias’ Untersuchungen der ‚Höfischen Gesellschaft‘ und des Zivilisationsprozesses – nicht nur eine Synthese aus Theorie- und Empiriearbeit, sondern auch eine Synthese aus theoretisch-analytischer Deutung/ Beschreibung einerseits und ausgewählter ‚Empirieentfaltung‘ verschiedener Art andererseits ergibt. Elias bringt also nicht nur seine Theorie und seine theoretischanalytischen Deutungen zur Sprache, sondern auch und zugleich die empirischen Realitäten bzw. Materialien selbst. Sie erscheinen als Belege oder Beispiele/Illustrationen derart, dass sie im Rahmen und im Lichte der theoretisch-analytischen Deutung in eigener Weise informieren. Man könnte hier also von einer ‚dichten Beschreibung‘ oder ‚dichten Analyse‘ sprechen, die gleichermaßen theoriedicht und empiriedicht ist. Elias befindet sich damit – wiederum – in der Nähe Georg Simmels und eines anderen Simmel-Erben und Simmel-Nachfolgers, der bei weitem nicht mehr zu den Klassikern der ‚ersten Generation‘ zu rechnen ist, zweifellos aber mittlerweile ein Klassiker ist: Erving Goffman68. *** Exkurs: Sprachlich-stilistische Verwandtschaften und Unterschiede zwischen Goffman, Simmel und Elias
Auch hinter Goffmans Sprache und dem Stil seines (Be-)Schreibens, die viel thematisiert und viel gerühmt worden sind, steckt letztlich ein theoretisch-empirischer Denk- und Arbeitsstil. Im Ansatz durchaus ähnlich wie Simmel und Elias denkt und operiert Goffman aus theoretischer (Modell-)Perspektive und mit theoretischer Zielsetzung immer im Hinblick auf empirische Wirklichkeit und als ‚Wirklichkeitswissenschaftler‘, der sich nicht nur um die Transparenz seiner Ge68 Man spricht in Bezug auf Goffman von einem „Klassiker der zweiten Generation“ (Hettlage/Lenz (Hg.) 1991). Elias steht eher zwischen den Klassikern der ersten und der zweiten Generation. Durkheim (†1917), Simmel (†1918) und Weber (†1920) z. B. waren jedenfalls schon tot, als er Anfang der zwanziger Jahre seine wissenschaftliche Publikationstätigkeit aufnahm. Mit Bezug auf Simmel und Weber sagt Elias über sich selbst, er sei „ein später Abkömmling dieser Soziologen der ersten Generation“ (2006a: 376).
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Grundfragen und Grundlagen
genstände, sondern auch um die Transparenz seiner darauf und daraus bezogenen Texte bemüht. Wie Simmel und Elias hatte und hat Goffman daher auch ein interund transdisziplinäres Publikum, ja sogar ein (relativ) ‚allgemeines‘ Publikum jenseits der Wissenschaft. Die Soziologie Goffmans ist wie die von Simmel und Elias nicht zuletzt (oder zuallererst) durch ihren technische Spezialterminologie verknappenden Stil auffällig und – heute vielfach – gefällig. Einen ‚ersten Eindruck‘ macht auch das Goffman’sche Werk durch den Verzicht auf „terminologisches Pathos“ (Dahrendorf 1969: IX), der in eigentümlich unauffälliger und (weil) sprachlich-innovativer Weise mit der Inanspruchnahme von Theorie und mit begrifflich-theoretischen (Eigen-)Ansprüchen verbunden ist. Einer an „schwere wissenschaftliche Prosa“ (Bergmann 1991: 324) gewöhnten (und daran schwer tragenden) Disziplin (Soziologie) zeigt Goffman ähnlich wie Elias und Simmel, dass die textliche Form soziologischer Erkenntnis bei aller Theoriebezogenheit, Theorieproduktivität und analytischer „Präzision auch leicht sein, und bei aller fachsprachlichen Qualität auch eine ästhetische Erfahrung vermitteln kann“ (Bergmann 1991: 324). Auch Goffman war ein Sprachkünstler und Spracherfinder jenseits der technischen Normalformen seiner Disziplin und ist nicht zuletzt deswegen zu einem ‚öffentlichen Soziologen‘ geworden, dessen ‚sozio-literarische‘ Methode bis heute ebenso irritiert wie beeindruckt. Zum ‚literarischen‘ Charakter und zum genetischen Hintergrund zentraler Elemente des Goffman’schen Schreib- und Beschreibungs-Stils, der ähnlich wie der Simmel’sche und Elias’sche mit dem Gewinn einer Art von Dichte in mancher Hinsicht innovativ und subversiv war, stellt Tom Burns fest: “Novelists like Compton-Burnett ‘influenced’ his style of writing just as much as Durkheim and Simmel ‘influenced’ his style of analytical thinking, but there were in both cases plenty of other models and influences. His handling of words, the tongue-incheek primness of style, the sudden insights which come from matching incongruities, the ‘plonking’ opening paragraph, the deadpan witticism, the throwaway aphorism, and even the rather awful passages of sententious moralising are all much more in keeping with the very careful prose one found in the better contributions to the New Yorker than anything one can find in professional texts.” (Burns 1992: 5)
Goffmans stilistisches (Sprach-)Spiel mit den Formen und Grenzen der ‚Genres‘, seine systematische Abweichung von der gewöhnlichen soziologischen (Diskurs-) ‚Prosa‘, insbesondere von technizistischen Sprachregelungen und Sprachspielen, war ebenso wie die ungewöhnliche Gewöhnlichkeit seiner Gegenstände und seine
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damit verbundene empirische ‚Materialverarbeitung‘ und ‚Materialentfaltung‘ ein Hauptgrund dafür, dass sein Werk von vielen Rezipienten lange Zeit verschätzt und unterschätzt wurde. Die Alltäglichkeit und scheinbare Banalität seiner Objekte und die Anschaulichkeit und Leichtigkeit seines (Be-)Schreibens und seiner Texte führte beim Publikum zu dem Eindruck der Leichtgewichtigkeit seiner wissenschaftlichen Unternehmungen und Resultate, obwohl diese stets einen theoretischen Hintergrund und Horizont hatten. Die darin und gerade auch in der Thematisierung und Vorführung des Allerselbstverständlichsten liegende Parallele zu Elias und auch zu Simmel ist deutlich. Mittlerweile hat sich jedoch insbesondere in Kreisen der qualitativen Sozialforschung zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass Sprache und Stil in den Formen, wie sie bei Goffman, Simmel und Elias zu finden sind, nicht nur der Verständlichkeit, Lesbarkeit und ‚Öffentlichkeit‘ dienen und nicht nur einen ästhetischen Charakter haben, sondern auch eine durchaus wissenschaftlichmethodische Bedeutung besitzen. „Moment der Methode“ (Twenhöfel 1991: 373) sind Sprache und Stil von Goffman, ähnlich wie die von Simmel und Elias, vor allem als Mittel einer analytischen Beschreibung, die empirisch-soziologischen Informationsgehalt, Präzision, ‚Gegenstandstreue‘ und Anschaulichkeit einerseits in Verbindung mit theoretisch-perspektivischer Distanzierung, Verschiebung oder Verfremdung andererseits bezwecken. Dank seiner theoriebasierten ‚sozio-literarischen‘ Möglichkeiten gelingt es Goffman – in einer durchaus mit Simmel und Elias (etwa dessen Untersuchung der ‚höfischen Gesellschaft‘) vergleichbaren Weise – die jeweils erforschte soziale Welt so zu beschreiben, dass man „ihre Bewohner buchstäblich sehen und hören kann – aber sehen und hören aus der Perspektive des theoretischen Bezugsrahmens“ (Glaser/Strauss 1979: 103). Dass Goffmans Beobachtungen bei aller theoretischen und analytischen Kontextierung und auch Verarbeitung dennoch gleichsam die Frische behalten, hat hauptsächlich damit zu tun, dass sie zwar im Licht der Theorie, aber auch und zugleich selbst zur Sprache kommen. Wie Elias (weniger Simmel) war Goffman ein Virtuose nicht nur der Sprache, sondern auch – und in Verbindung mit ihrem deskriptiv-analytischen Gebrauch – der Materialentfaltung69. Damit sind hier wie in allen anderen genannten (Stil-)Hinsichten auch habituelle (Schreib-)‚Talente‘ im Spiel, die, wie Bourdieu
69 Diese hat er jedoch erheblich extensiver und vielfach auch intensiver betrieben als Elias. Ja, man kann in gewisser Weise sagen, dass Goffman ein Materialist war, der in seinen Arbeiten wie kaum ein anderer den verschiedensten Materialien Raum gegeben hat. Mit zunehmender zeitlicher Distanz gewinnen diese Materialien zunehmend einen neuen soziologischen Wert oder Eigenwert.
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in seinem Nachruf auf Goffman konstatiert, „cannot be defined in terms of technique“ (Bourdieu 1983a: 112). Diese Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten sprachlicher und textlich-stilistischer Art sind jedoch nur die eine Seite der Medaille. Ihr stehen auf der anderen Seite fundamentale systematische Differenzen der Denk-, Deutungs- und Theorie(bildungs-)stile gegenüber: Goffman bleibt im Wesentlichen, eher in der Nähe Simmels, im Rahmen einer teils formalen oder formalistischen, teils „naturalistischen“ (Goffman 1974b) Mikrosoziologie der Interaktion („interaction order“), die im Unterschied, ja im prinzipiellen Gegensatz zu Elias Modelle (wie das Theater- oder das Ritualmodell) als zentrale Strategie der analytischen Kategoriengewinnung, der Gegenstandsbeobachtung und der ‚dichten Beschreibung‘ einsetzt (vgl. Burns 1992: 109 f.; Twenhöfel 1991: 374). Elias will und schafft dagegen eine ‚inhaltliche‘ Universalsoziologie, die die begrifflich-theoretischen Möglichkeiten und Ergebnisse Simmels und Goffmans zwar gebrauchen, aber auch inkludieren, weiterführen und überbieten kann. *** 2.5
Theoretischer Geist und theoretische Architektur
Die Figurationssoziologie stellt, wie schon gesagt wurde und noch genau zu zeigen ist, eine aus empirisch-analytischen Untersuchungen und Entdeckungen erwachsene Soziologie und Sozialtheorie ‚aus einem Guss‘ dar. Diese Identität und Herkunft qualifiziert sie meines Erachtens auch in besonderer Weise als und für allgemeine Soziologie, als Soziologie auf der Ebene allgemeiner Begriffs- und Theoriebildung, deren Stellung und potentielle Funktionalität im Hinblick auf andere soziologische Ansätze und Theorietraditionen sich aus ihrem Geist und ihrer – mit diesem verbundenen – theoretischen Architektur ergibt.70 Der hier gemeinte und veranschlagte Geist ist ein synthetischer Geist, der mit Begriffen wie „historische Gesellschaftspsychologie“ (Elias) und mit Formulierungen wie „theoretisch-empirische Einstellung“ (Elias) zu spezifizieren ist und von dem aus im Theorienvergleich einerseits Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Komplementaritäten des soziologischen Denkens und Arbeitens und andererseits Differenzen und Distanzen soziologischer Denkstile sowie Positionen der soziologischen Kritik von (anderer) Soziologie zu bestimmen sind. 70 Dem entspricht eine theoretisch eingestellte Mentalität der Forschung und des Forschers, eine Denkart und Haltung in der Forschungsarbeit.
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Als eine allgemeine Soziologie aus einem Guss impliziert die Figurationssoziologie also auch eine theoretische Perspektive, die sich zum einen durch die Komplexität, die Originalität und originäre Leistungsfähigkeit einer eigenen Struktur auszeichnet71. Für das hier ins Auge gefasste Projekt und Arbeitsprogramm ist die (begründete und zu begründende) Auffassung entscheidend und leitend, dass diese Art von Soziologie gewissermaßen das genetische (und generative) Programm einer ‚großen Soziologie‘ in sich trägt, mit allen – zusammenhängenden – ‚Anlagen‘, die es im Hinblick auf wesentliche Komponenten der aktuellen Theorienlandschaft und der Theoriengeschichte überhaupt zu entfalten gilt: von einer Anthropologie bis zu einer (Welt-)Gesellschafts- und einer Globalisierungstheorie (s. u.). Zum anderen zeichnet sich die figurationstheoretische Perspektive bei und mit aller theoretischen Komplexität, Vielseitigkeit und Profiliertheit durch eine besondere Weite, Inklusivität, Anschluss- und Integrationsfähigkeit aus. Ihrem Endziel und ihrer ganzen Anlage nach begründet sie eine Menschenwissenschaft, die kognitive und sprachliche Distanzen und Grenzen, eingespielte Schematisierungen, Einseitigkeiten und Polarisierungen sowohl zwischen den diversen ‚anthropologischen Disziplinen‘72 als auch innerhalb der Soziologie73 überwindet und damit Möglichkeiten eröffnet, Trennungen und Klüfte des Denkens und Arbeitens zu überbrücken und (so) auch zu neuen Perspektiven auf sachliche Zusammenhänge zu gelangen. Es ist dieser der historischen (Sozial-)Wissenschaftsentwicklung entgegengesetzte und entgegenzusetzende Charakter der Figurationssoziologie, ihre ‚Ganzheitlichkeit‘ und ‚Synthetizität‘, die zu neuen theoretischen und empirischanalytischen Verbindungen (Verknüpfungen, Synthesen) und damit zu neuen Forschungsperspektiven und Erkenntnismöglichkeiten geführt hat und führen kann. Das heißt zwar noch nicht, die Figurationssoziologie als neue (oder erneuerte) Meta- oder Zentral-Soziologie oder als Grundlage einer solchen Soziologie zu empfehlen. Es heißt aber schon, dass die hier vertretene grundsätzliche Entscheidung für die Figurationssoziologie (und nicht etwa für die Systemtheorie oder die
71 Deren Vielseitigkeit und eigentümliche Profiliertheit ist allerdings immer noch nicht hinreichend transparent gemacht worden. 72 Also neben der Soziologie alle Wissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit dem Menschen, seinem Verhalten und seinen Verhältnissen beschäftigen: von der Biologie über die Psychologie bis zur Philosophie. 73 Auf die impliziten oder halbverdeckten mentalen und ideologischen Aufspaltungen und Fixierungen sowie auf die damit zusammenhängende tendenzielle ‚Verschulung‘, ‚Sektenbildung‘ und ‚Sektionierung‘ innerhalb der Sozialwissenschaften/Soziologie bzw. ihrer Theorienlandschaft wurde oben bereits im Anschluss an Elias hingewiesen.
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Grundfragen und Grundlagen
Kritische Theorie oder Rational-Choice usw.) davon ausgeht, dass diese Art von Soziologie im bisher entwickelten Feld der soziologischen Ansätze (Theorien, Methodologien) am weitesten reicht, am weitesten führt und als theoretisch-methodologisches (Weiter-)‚Entwicklungsprogramm‘ am weitesten führen kann.74 Dass dies der Fall ist und was dies bedeutet, muss allerdings im Einzelnen gezeigt werden und muss sich letztlich auch an konkreten empirischen Gegenständen und deren theoretisch-empirischer Untersuchung erweisen. Dabei gilt es im Zuge der theoretischen Entfaltung und Entwicklung der Figurationssoziologie sowohl Positionen, insbesondere Inklusions- und Anschlussfähigkeiten, zu markieren und zu beschreiben als auch (Fundamental-)Kritiken an dieser Soziologie (Theorie) zu berücksichtigen – Kritiken, die z. B. von Seiten der Luhmann’schen Systemtheorie (vgl. z. B. Kiss 1991) oder von der Seite der historischen Forschung (vgl. z. B. van Dülmen 1996) geübt worden sind. Auch sind diejenigen Stellen und Bereiche der figurationssoziologischen Theorieanlage auszumachen und in ihren theoretischen Bedeutungen zu bestimmen, die bisher mehr oder weniger leer geblieben und daher noch auszufüllen sind. Dazu gehören etwa oder insbesondere Medien (Massenmedien, Internet), formale (Groß-)Organisationen und soziale Bewegungen. Die theoretische Architektur bzw. der Zusammenhang bestimmter theoriearchitektonischer Eigenschaften der Figurationssoziologie ist in dem programmatischen Kontext dieser und folgender Arbeiten also entscheidend. Sie macht so etwas wie die Alleinstellung oder jedenfalls eine Art Schlüsselstellung der Figurationssoziologie in den soziologischen Theoriefeldern aus und bildet mit den besagten (figurations-)theoriestrukturellen Anlagen Grundlagen und Anschlüsse einer weit über die Figurationssoziologie hinausgehenden allgemeinen – synthetischen – Soziologie. Ich meine insbesondere folgende, teils eher explizite, teils eher implizite (also noch zu explizierende) Anlagen der Figurationstheorie75: 74 Man mag Elias daher mit Dirk Kaesler einen „Beginner“ (Kaesler 1996: 434) und „prophetischen Pionier“ (ebd.: 444) der soziologischen Fachentwicklung nennen, auch wenn Elias seinerseits natürlich ‚auf den Schultern von Riesen‘ steht und sich selbst eher als einen Fortsetzer denn als einen Beginner gesehen und beschrieben hat. 75 Zum Zweck einer ersten Orientierung schicke ich hier schlagwortartig und skizzenhaft Aspekte und Argumente voraus, die im Folgenden bzw. in den geplanten Folgebänden zu ergänzen und vor allem auszuführen und zu vertiefen sind. Im letzten Teil des vorliegenden Buches wird diese ‚Rahmung‘ in einer Reihe von konzeptuellen und sachlichen Punkten aufgeschlüsselt, die weitere Spezifikationen des hier Gemeinten beinhaltet und damit ebenfalls eine programmatische Orientierung erleichtern soll. Neben und mit einem besseren Verständnis der begrifflich-theoretischen Gehalte und Potentiale des figurationssoziologischen Ansatzes geht es dabei um einen Überblick über die Möglichkeiten und das Programm seiner (Weiter-)Entwicklung.
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– ihre systematisch, allseitig und historisch-langfristig prozesstheoretische Ausrichtung, – ihre Anthropologie und in Verbindung damit ihre Evolutions- und Lerntheorie, – ihre Parallelführung von historischer „Soziogenese“ einerseits und „Psychogenese“ andererseits (Elias 1980a, b), – ihre Betrachtung von Psychogenese sowohl auf individueller Ebene76 als auch auf historischer (Gattungs-)Ebene77, – ihre Theorie sozialer/sozio-kultureller Differenzierungs-, Integrations- und Desintegrationsprozesse, einschließlich funktionaler Differenzierung, Schichtung und Globalisierung (‚Sicker-Modell‘), – ihre Gesellschafts- und Weltgesellschaftstheorie78, – ihre Konzeption sozialer Felder (auch Subsysteme/Funktionsbereiche im Sinne der Systemtheorie) und Feld-Transformationen, – ihre Habitus-Theorie bzw. Feld/Habitus-Theorie, – ihre Individuen und Kollektive einschließende akteurtheoretische Ausrichtung, – ihre Theorie der Macht, der sozialen Kontrolle und der Disziplinierung/disziplinarischen Kompetenzbildung, – ihre Handlungs- und Praxistheorie, speziell auf den Ebenen des Rituellen und des Strategischen, – ihre Anlage als allgemeine Kulturtheorie und – im Zusammenhang damit – – ihre Wissenssoziologie, – ihre Symboltheorie79/symbolische Ordnungs-, Praxis- und Kapitaltheorie, 76 Also: ‚Ontogenese‘, Sozialisation. Es ist zu zeigen und bildet einen der ins Auge gefassten Arbeitsschwerpunkte, dass die Figurationssoziologie mit einer ‚Makrotheorie‘ der (Gattungs-)Sozialisation, nämlich der Zivilisationstheorie im Ganzen, auch eine ‚Mikrotheorie‘ der Sozialisation, nämlich eine Lerntheorie der individuellen Habitusentwicklung/Psychogenese, beinhaltet und weiterzuentwickeln erlaubt. 77 Also: Zivilisation (einschließlich der großen zivilisatorischen Entwicklungstendenzen wie Pazifizierung, Rationalisierung, Psychologisierung, Intimisierung usw.) sowie auch – in Überschneidung damit – Individualisierung. 78 Auch bezüglich der ‚Weltgesellschaft‘ (Luhmann) kann Elias so etwas wie gedankliche Urheberschaft beanspruchen. Seine Zivilisationstheorie beinhaltet jedenfalls auch eine Theorie der Globalisierung und damit ein Verständnis von ‚Weltgesellschaft‘, und mehr noch: ein Verständnis ihrer Entwicklung und möglichen Zukunft. 79 Sie ist im Grunde, und durchgängig mit dem Ziel, den Dualismus von Natur und Kultur zu transzendieren, im ganzen Werk von Elias, also auch bereits und gerade in der Zivilisationstheorie, angelegt. Allerdings hat sich Elias zunehmend ausdrücklich und intensiv mit dem Begriff des Symbols und den Fragen des Symbolischen auseinandergesetzt (vgl. z. B. Elias 1981). Die (figurationssoziologische) Symboltheorie war Elias’ letztes Großprojekt, an dem er „bis zu seinem Todestag“ (Schröter 1996: 111) gearbeitet hat. Es ist buchstäblich naturgemäß unvollendet geblieben und
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ihre Moral- und Geschmackstheorie, ihre Stil- und Lebensstiltheorie, ihre Theorie der Materialität, des Raumes und der Zeit, ihre (Sozial-, Zivilisations-)Theorie des Körpers, des Bewusstseins und der Emotionen, – ihre Fassung der Verhältnisse und der Wandlungen der Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft80.
Diese kurze (und unvollständige) Reihe von Punkten mag hier genügen, um einleitend anzudeuten, wie, wie weit und wohin sich die theoretische Struktur der Figurationssoziologie erstreckt und wo daher ihre theoretischen Leistungsfähigkeiten, Anschluss- und Entwicklungspotentiale liegen. Im Folgenden bzw. in den folgenden Bänden wird es auch immer wieder darauf ankommen und darum gehen, mit und neben einzelnen theoretischen Komponenten die theoretische Architektur und damit auch die theoretische Reichweite und Potentialität der Figurationssoziologie zu identifizieren und zu entfalten81. Es geht m. a. W. um die Figurationssoziologie als synthetische Soziologie und als Grundlage einer (weiter-) zu entwickelnden synthetischen Soziologie. Im Mittelpunkt der weiteren Arbeiten (Bände) steht daher zunächst die Vorführung, Ausführung und Ausarbeitung des Zusammenhangs von Schlüsselkonzepten und theoretischen Argumentationsfiguren, den die Figurationssoziologie selbst darstellt und bereithält. Dazu gehören aufeinander verweisende und voneinander abhängige Konzepte bzw. Konzept- und Theoriekomplexe wie Figuration, Feld, Schicht/Schichtung, Stil/Lebensstil, Zivilisation/Sozialisation, soziale Mobilität, Gewohnheit, Habitus, Scham/Peinlichkeit, Ehre, Kapital, Ritual, Strategie, Geschmack, Valenz, Distinktion, Individualität/Individualisierung, Macht/Machtbalance, Etablierte/Außenseiter u. a. m. Von größter Bedeutung – und deswegen mit entsprechender Aufmerksamkeit bedacht – ist der begrifflich-theoretische Zusammenhang von Figuration/Feld und Habitus/Gewohnheit, der auch als Brü-
wurde wegen entsprechender ‚Mängel‘ kritisch bewertet (vgl. z. B. Reckwitz 2003). Eine umfassende und auch auf das Elias’sche Gesamtwerk systematisch rückbezogene figurationssoziologische Symboltheorie steht in der Tat noch aus. Die komplexe Tradition der Ritualtheorien und die Soziologie Bourdieus bilden diesbezüglich zentrale Bezugsrahmen. 80 Individualisierungen, Subjektivierungen, Identitätsbildungen verschiedener Art usw. 81 Gelegentlich mag dies um den Preis von Überexplikation oder auch Redundanz geschehen. Dieser Preis scheint mir aber durch die Vorteile der Transparenz und der Eindeutigkeit des Fundaments gerechtfertigt zu sein, auf dem in den geplanten Folgebänden begriffs- und theoriekritisch wie begriffs- und theoriebildend aufgebaut werden soll.
Charakteristika figurationssoziologischen Denkens
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cke zu Theoriekontexten jenseits der Figurationssoziologie (speziell diversen Wissenssoziologien) fungieren kann und als derart leistungsfähig vorgestellt werden soll. In diesem Zusammenhang und immer dann, wenn es um figurationssoziologische Schlüsselbegriffe (wie eben Feld oder Habitus) geht, werden auch Ansätze und Konzepte behandelt, die der Figurationssoziologie – sei es offensichtlich oder weniger offensichtlich – nahe stehen oder verwandt sind. Dazu gehören die komplexen und traditionsreichen Begriffstitel und Forschungskontexte Mentalität einerseits und Netzwerk andererseits, die sich sozusagen auf den figurationssoziologischen Schlüsselkonzepten Habitus/Gewohnheit und Figuration/Feld abbilden lassen und abzubilden sind. Darüber hinaus geht es mir um teils ähnlich weitreichende und teils wesentlich weiterreichende sozialtheoretische bzw. theoretisch-empirische Großunternehmen und Theoriefamilien, die sich mehr oder weniger in der Nähe der Figurationssoziologie befinden – partiell aber auch gleichsam quer zu ihr liegen. Sie versprechen in Bezug auf eine Vielzahl von Konzepten, Aspekten und Fragen Gewinne in dem besagten Sinne einer synthetischen Soziologie. Einige mir diesbezüglich theoriearchitektonisch besonders wichtig erscheinende Ansätze – überwiegend schon klassische, aber dennoch sehr lebendige Ansätze – seien im Folgenden genannt und programmatisch eingeordnet – auch um zentrale theoretische Arbeits- und Entwicklungsrichtungen zu markieren, um die es bei meinem Projekt im Ganzen geht.
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Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven der Figurationssoziologie
3.1
Von Elias zu Bourdieu, von Bourdieu zu Elias
Am offensichtlichsten im Kontext der Habitustheorie, aber auch in allen weiteren theoretischen und begrifflichen Zusammenhängen der folgenden Überlegungen ist der in der jüngeren soziologischen Theoriegeschichte herausragende Ansatz Pierre Bourdieus von eigener und großer Bedeutung, und zwar deswegen, weil er zumindest in theoriearchitektonisch zentralen Punkten in direkter Kontinuität der Figurationssoziologie gesehen werden kann.82 Ich behaupte und werde im Folgenden im Einzelnen zu zeigen versuchen, dass sich wesentliche, wenn nicht alle wesentlichen Komponenten und Figuren der Bourdieu’schen Theoriearchitektur vollständig auf der Figurationssoziologie abbilden lassen. Dies gilt hauptsächlich für die Konzepte – und für die konzeptuelle (Zentral-)Konfiguration – Habitus und Feld sowie damit zusammenhängend für die Begriffe Klasse, Stil/Lebensstil, (kulturelles, soziales, symbolisches) Kapital, Ritual, Strategie, Ästhetik/Geschmack und Distinktion, die die entsprechenden Elias’schen Konstrukte und Überlegungen allerdings in relevanten Punkten systematisch ausarbeiten, spezifizieren und vertiefen, vor allem aber in Bezug auf die ‚Gegenwartsgesellschaft‘83 aktualisieren. Mir geht es darum, Bourdieus Theorie bzw. Konzeptapparatur an denjenigen Stel-
82 Ich vertrete diese Auffassung schon seit langem und habe sie etwas differenzierter im Kontext einer Untersuchung von Bourdieus Journalismustheorie dargelegt (vgl. Willems 2007: 215 ff.). In den letzten Jahren ist die denkstrukturelle Parallelität zwischen Elias und Bourdieu des Öfteren bemerkt worden. Allerdings kommt es darauf an, sie genau zu bestimmen und auch die Differenzen, Inkompatibilitäten und Komplementaritäten der Ansätze zu sehen und zu explizieren. 83 Der Begriff Gegenwartsgesellschaft ist einerseits naheliegend und auch durchaus brauchbar; andererseits sind solche Begriffe aus figurationssoziologischer Perspektive insofern doppelt unglücklich, als sie sowohl das „Gewordensein“ (Elias) als auch das Immer-im-Wandel-begriffen-sein von Gesellschaft und allem, was darin an Sozialem eingeschlossen ist, unterschlagen und Statik signalisieren. Die Gegenwart ist natürlich immer die Gegenwart, die gleich wieder vergangen ist. Insofern kann der Begriff Gegenwartsgesellschaft, genau genommen, nur die Gesellschaft der jüngeren Vergangenheit bezeichnen.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven
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len gleichsam auf die Figurationssoziologie zu projizieren, wo sie diese weiterführt, spezifiziert, präzisiert und ergänzt. Umgekehrt vertrete ich die Auffassung, dass die Figurationssoziologie nicht nur in einer Reihe von zentralen Punkten als maßgeblicher Vorläufer der sozialtheoretischen Grundgedanken und Schlüsselkonzepte Bourdieus anzusehen ist, sondern auch als ‚Haus‘ fungieren kann, das (lange vor Bourdieu) über Bourdieus Werk hinausweist und die Richtung einer soziologischen Theorieentwicklung weist, die die theoretische/konzeptuelle Substanz des Bourdieu’schen Werks sozusagen mitführt und weiterführt. Elias bleibt gegenüber Bourdieu – erst recht aber gegenüber dem ‚Rest‘ der Soziologie, auch den anschlussfähigen Teilen – mindestens aus den folgenden Gründen richtungweisend: 1. Die Figurationssoziologie ist bis heute die umfassendste und konsequenteste „Prozeßsoziologie“ (Elias 1986). Im Feld der Soziologien ist es bei aller tendenziellen ‚Historisierung‘ und (Mikro-)‚Prozessualisierung‘ immer noch sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal der Figurationssoziologie, dass sie nicht nur (wie natürlich auch andere klassische und moderne Soziologien von Marx oder Weber bis Luhmann) eine historische Perspektive einnimmt, historische Vergleiche zieht, in epochalen Kategorien denkt, sondern: – alle sozialen Tatsachen und Dimensionen des Sozialen (vom Individuum über die Gruppe bis zur menschlichen Gattungsgeschichte) als Prozesse auffasst, deren (sequentielle Wandlungs-)Ordnung84 es zu analysieren und zu erklären gilt, – dass sie weiterhin die soziologische Beobachtung und Erklärung auf Zusammenhänge und „Zusammenhangsmuster“ (Schröter 1996: 109) zwischen diesen
84 Im grundsätzlichen Verständnis der Prozessualität des Sozialen bzw. im Verständnis des Sozialen als Vielheit von Prozessen und Prozessordnungen liegt eine gewisse Parallele oder Ähnlichkeit zwischen der Figurationssoziologie und verschiedenen modernen Mikrosoziologien/Alltagssoziologien, insbesondere der Ethnomethodologie (ethnomethodologische Konversationsanalyse), der objektiven Hermeneutik Oevermanns und dem Goffman’schen (Rahmen-)Ansatz. Die entscheidende Differenz ist, dass sich diese Soziologien nicht bloß im Unterschied, sondern im Gegensatz zur Figurationssoziologie auf Mikroprozesse bzw. Interaktionsprozesse konzentrieren oder beschränken und damit den übergeordneten Entwicklungs- und Strukturzusammenhang verfehlen, den Elias aufzeigt. Die Figurations-(prozess-)soziologie ist insofern vielschichtiger, umfassender und systematischer und stellt auch einen Gegenentwurf zu den mikrosoziologischen ‚Sequenzanalysen‘ dar, die ihr Heil (und das der Soziologie) in Umkehrung der figurationsoziologischen Denk- und Forschungslogik sozusagen „involutiv“ (Luhmann) in der Steigerung ihrer ‚Feinheit‘ und ‚Kleinheit‘ suchen.
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Grundfragen und Grundlagen
Prozessen einstellt, also nicht nur einzelne geschichtliche Transformationen oder Differenzen zwischen historischen Phänomenen (etwa ‚einfachen‘ und ‚modernen‘ Gesellschaftsformationen) ins Auge fasst, – und dass sie schließlich auch und bevorzugt langfristige Wandlungen und epochale (z. B. Mentalitäts-)Verschiebungen in den sozio-psychischen Verhältnissen der Gesellschaften fokussiert. Die so angelegte (Ko-)Rekonstruktion der menschheitsgeschichtlichen und menschengeschichtlichen ‚Korrelationen‘ zwischen „Sozio-“ und „Psychogenese“ ist das initiale und werkdurchgängige Zentralanliegen von Elias und ein Zentralmerkmal des figurationssoziologischen Ansatzes, der also auch und gerade als Prozesssoziologie einen systematisch synthetischen Charakter hat. 2. Indem Elias im Rahmen seiner – und dank seiner – Prozesssoziologie auch eine allgemeine und synthetische Theorie sozialer Differenzierungsprozesse bzw. aller sozialen Differenzierungsprozesstypen liefert, vermeidet und überwindet er einseitige, verengte und verkürzende Theoriefassungen, die einzelne Differenzierungsprozesse und soziale ‚Systembildungen‘ isolieren oder privilegieren, speziell den Ökonomismus und die klassen-(kampf-)theoretische Fixierung (und den damit verbundenen politischen Aktivismus) von Marx’ Soziologie, die Bourdieu auf seine Weise fortsetzt. Elias ist demgegenüber in gewisser Weise moderner als Bourdieu, weil er allgemeiner und sozusagen multidifferenzierungstheoretisch argumentiert, und zwar im Sinne einer Theorie, die zwar (wie die Luhmanns) so etwas wie eine historische Dominanz und Motorrolle funktionaler Differenzierung plausibilisiert, aber auch die historischen Bedeutungen und Bedeutungswandlungen aller anderen Differenzierungsformen, insbesondere der ‚stratifikatorischen‘ (Schicht-, Klassen-)Differenzierung, berücksichtigt und dafür theoretisch-empirisch sensibel bleibt. Damit befindet er sich mit der Implikation einer erweiterten kultur- und wissenssoziologischen Anschluss- und Operationsfähigkeit einerseits näher an der Systemtheorie bzw. Luhmann als ihm wohl selbst bewusst gewesen ist.85 Andererseits behält Elias im Rahmen seiner historischen (Langfrist-) 85 Elias war bekanntlich zeit seines Lebens ein heftiger und polemischer Kritiker und Gegner aller Arten von Systemtheorie (vgl. z. B. Elias 1978: 22 f.; 1981). Seine Ablehnung dieses Theorietyps formulierte er vor allem in Bezug auf Parsons. Aber auch gegenüber Luhmanns (Weiter-)Entwicklung der Parsons’schen Systemtheorie blieb diese grundsätzliche Position unverändert. Annette Treibel berichtet davon, dass Luhmann „während Elias’ Bielefelder Jahren sein räumlicher Nachbar und gelegentlicher Gesprächspartner (war, H. W.). Die direkte Auseinandersetzung mit ihm hat Elias jedoch nicht gesucht. Ende der 1980er Jahre kommentiert Elias die wechselseitige Distanz wie folgt:
Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven
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Perspektive auch in Bezug auf die Moderne/Gegenwartsgesellschaft ‚soziale Ungleichheiten‘ jenseits funktionaler Differenzierung (in den Schichtverhältnissen, im Geschlechterverhältnis, in segmentären Gruppenverhältnissen usw.) im Blick. Besonders interessant und wichtig ist in diesem Zusammenhang die von Elias gemeinsam mit John L. Scotson als empirische Figurationsanalyse durchgeführte und zu einer figurationstheoretischen Schlussfolgerung führende (Gemeinde-) Studie, die unter dem Titel „Etablierte und Außenseiter“ publiziert wurde (vgl. Elias/Scotson 1990). Sie zeigt und reflektiert im (relativen) ‚Mikro-Kontext‘ verortete und symbolisch ausgetragene soziale ‚Machtspiele‘, Ungleichheits- und Konkurrenzverhältnisse sowie eine Logik der Distinktion und des Distinktionskampfs jenseits funktionaler Differenzierung, aber auch jenseits von Schicht, Klasse, Rasse, Geschlecht oder Ethnizität. Die Figurationssoziologie hat und schärft in diesem Fall wie überhaupt einen systematischen Sinn für die Zusammenhänge bzw. Entwicklungszusammenhänge zwischen diversen sozialen (Ungleichheits-) Strukturen, symbolischen Ordnungen/Praxen und Akteurseigenschaften bzw. habituellen Dispositionen. In diesem Punkt nimmt Elias wiederum grundsätzlich eine Position zwischen und über verschiedenen soziologischen Theorie-Stellungen mit je eigenen Einseitigkeiten ein. Er divergiert z. B. deutlich mit dem in Bezug auf die moderne Gesellschaft einseitig auf funktionale Differenzierungsprozesse abhebenden Luhmann und konvergiert stärker mit Bourdieu, dessen im Wesentlichen klassentheoretische Ungleichheits- und Praxisvorstellung er andererseits gerade mit seiner Arbeit über „Etablierte und Außenseiter“ überschreitet und überbietet. Gleichzeitig stellt Elias den vom Ansatz her komplexesten (auch differenzierungstheoretisch ‚gepolten‘) Rahmen für die Erklärung von Individualisierungsprozessen und kann damit auch neuere einschlägige Theorien wie die von Beck oder Hitzler integrieren und ihnen sozusagen den soziologischen Platz anweisen (vgl. Treibel 1996). 3. Elias’ Menschenwissenschaft ist als Theorie und Forschungsansatz nicht nur auf der Ebene sozialstruktureller (Differenzierungs-)Prozesse und Ordnungen/Strukturen (Figurationen), sondern auch und gleichzeitig auf der Ebene des Menschen selbst, umfassender, differenzierter und tiefgreifender als ihre sozialwissenschaftlichen/soziologischen Nachbarn und Konkurrenten86. ‚Wir (Luhmann und ich; A. T.) sind uns mit Respekt und Reserve begegnet. Er wusste, dass ich seinen Intellekt respektiere und keine seiner Meinungen teile, und ich wusste das gleiche von ihm‘ (Engler-Gespräch 1989/2005: 387)“ (Treibel 2008: 31; Hervorheb. im Orig.). 86 Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Systemtheorie Luhmanns, die den Menschen (die Psyche, das psychische System) als wissenschaftliches Thema der Psychologie überlassen möchte. Es
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Grundfragen und Grundlagen
Man kann dies auch noch in Anbetracht der Bourdieu’schen Soziologie behaupten, die zwar in der (von Bourdieu nicht überall hinlänglich deutlich gemachten) Tradition von Elias eine komplexe Körpersoziologie und auch eine Psycho- und Emotionssoziologie (Geschmackssoziologie) darstellt, jedoch kaum Begriffe von der psychischen Ökonomie bzw. Triebökonomie hat, die Elias im Rahmen seiner „historischen Gesellschaftspsychologie“ und (d. h.) Habituskonzeption mit ins Zentrum seiner theoretischen und empirisch-analytischen Überlegungen stellt.87 Im Vordergrund steht bei Bourdieu stattdessen eine – auch in der Figurationssoziologie mitreflektierte und mitentworfene – soziale und sozialisierte Ökonomie des Wissens, der Kognition (des Wahrnehmens und Urteilens) und des Geschmacks, der ein entsprechend spezialisiertes (einseitiges) Verständnis von Lernprozessen bzw. Habitusbildungen/Gewohnheitsbildungen entspricht. War Elias mit der Freud-Rezeption seines Hauptwerks „Über den Prozeß der Zivilisation“ einst (vor gut 70 Jahren) modern, so ist er heute mit seiner entsprechenden Integration, soziologischen Ein- und Umarbeitung der Freud’schen Schlüsselthemen (vor allem Triebthemen: Sexualität und Aggression/Gewalt), (‚Persönlichkeits-‘)Theoriekonstrukte und Interpretationen keineswegs unmodern.88 Auch in dieser Hinsicht hat seine Soziologie immer noch und gerade heute eine richtungweisende Ausnahme- und Alleinstellung, die sich hier am ehesten in der Nähe zu Foucault befindet.89 In diesen Zusammenhang eingeschlossen ist eine
gilt aber auch für das breite Spektrum von sozialwissenschaftlichen/soziologischen (oder sozialpsychologischen) Ansätzen, die den Menschen (das Individuum, das Subjekt) so oder so einseitig ins Auge fassen – von den Rational-Choice-Theorien bis zu den Cultural Studies. Charakteristisch ist jeweils eine Schwerpunktsetzung oder anthropologische Totalvision, die nicht ganz falsch, aber eben einseitig ist: der Mensch als Funktionär des Systems oder der Normativität, als rationaler Entscheider oder Stratege, als kreativer Schöpfer, Lebenskünstler etc. Im ‚Menschenbild‘ der Figurationssoziologie ist der Mensch nichts von alledem allein oder wesentlich, sondern er ist in einer bestimmten, sozial (historisch) bestimmten und sich wandelnden Relationalität verschiedener, ihn gleichzeitig ausmachender Seiten alles zusammen. Diese Relationalität ist sein ‚Wesen‘. 87 Auch dies hat mit Bourdieus klassentheoretischer Fixierung zu tun, die nicht nur seine Gesellschafts-, sondern auch seine Menschenbeobachtung ausgerichtet hat. 88 Man könnte diesbezüglich von einer soziologischen Rationalisierung der Psychoanalyse sprechen. Elias hat Freud’sches Gedanken- und Konzeptgut nicht einfach übernommen oder angepasst, sondern vom ganzen Ansatz her radikal soziologisiert, so dass eine ganz neue theoretische Synthese und mit ihr eine neue Perspektive entstanden ist. Die scheinbare menschliche Innenwelt der Emotionen und Affekte, der Gedanken und Phantasien, der Identifikationen und Bindungen, also das ‚Psychische‘, erscheint dadurch in einem systematischen empirischen Zusammenhang mit der scheinbaren Außenwelt der sozialen Beziehungen, Strukturen und Ordnungen. Dafür steht zentral der von Elias gewählte und ausgearbeitete Begriff der Valenz (vgl. z. B. Elias 1972; 1981). 89 Dementsprechend ausgeprägt, ähnlich und komplementär sind die zivilisationstheoretischen oder zivilisationstheoretisch lesbaren Teile der Werke von Foucault und Elias (s. u.).
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spezifisch habitustheoretische Konvergenz, durch die sich Elias und Foucault wiederum erheblich von Bourdieu unterscheiden. Elias’ Zivilisationstheorie ist eine Theorie der Genese und Funktion zivilisierter Habitus – auch der ‚Psychodynamik‘, einschließlich der ‚Triebdynamik‘90. Es geht bei Elias in diesem Zusammenhang, auf dieser Seite der Zivilisation, also nicht nur (aber auch) um Konditionierungsprozesse des Verhaltens, um ‚Dressur‘ auf der Basis entsprechender Lernprozesse (und folglich um Automatismen und ‚Automaten‘), sondern der Habitusbegriff schließt die Psyche im Freud’schen Sinne mit ein und d. h. auch die Art von Lernprozessen, die diese Psyche hervorbringen und prägen. Der Elias’sche Begriff von Habitus, Habitusfunktionen und Habitusgenesen/Lernprozessen ist insofern zweidimensional91. Das macht ihn auch theoretisch besonders interessant, ist aber bislang noch nicht Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit geworden.92
3.2
Von Elias und Bourdieu zu anderen (Komplementär-)Soziologien: Foucault und Goffman zum Beispiel
Die hier vor allem prospektiv und programmatisch dargelegten Themen, Konzepte und Diskurse sind nicht nur Schwerpunkte der soziologischen Figurationstheorie und ihrer (Weiter-)Entwicklung, sondern auch Schwerpunkte einer ganzen Reihe von klassischen Forschungsrichtungen sowie gerade auch der neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeit und Theorieentwicklung überhaupt93. Dies spricht weiter für den Sinn der geplanten Arbeiten und veranlasst sie zugleich, entsprechende (Theorie-, Forschungs-)Bezüge herzustellen und 90 Sie ist in den ‚moderneren‘ und ‚modernsten‘ Soziologien, gerade denjenigen, die sich als Wissensoder Kultursoziologien deklarieren, zum Teil völlig in Vergessenheit geraten. Von menschlicher ‚Sexualität‘ oder ‚Erotik‘, ähnlich wie von Aggressivität, ist zwar als Kommunikations- oder ‚Kulturtatsache‘ (Inszenierung, Diskurs usw.) vielfach die Rede, ja in dieser Form gibt es regelmäßige Konjunkturen dieser Themen, kaum mehr jedoch wird die psychische Bedeutung menschlicher Triebhaftigkeit soziologisch thematisiert, wie Elias es in systematischer und programmatischer Weise getan hat. 91 Das Verhältnis zwischen diesen ‚Dimensionen‘ und zwischen den ihnen zuzuordnenden HabitusSeiten und Lernprozessen/Lerntheorien ist allerdings weder bei Elias noch überhaupt hinreichend geklärt. 92 Mit der Psychoanalyse selbst ist auch die entsprechende Seite der Elias’schen Theorie vielmehr aus der Mode oder auch aus dem ‚Bewusstsein‘ gekommen. 93 Man denke an Sach- und/oder Theorietitel wie: Materialität, Raum, Zeit, Körper, Wissen, Kultur, Diskurs, symbolische Ordnung/Ritual, Normalität/Normalisierung, Feld, Netzwerk, Habitus, Mentalität, (Lebens-)Stil, Theatralität/Theatralisierung, Image, strategisches Handeln, Identität usw.
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Grundfragen und Grundlagen
insbesondere nach Eckpfeilern einer systematischen Begriffs- und Theoriebildung zu suchen. Die herausragende Bedeutung Bourdieus bzw. der Theoretiker-Paarung Elias/Bourdieu liegt in diesem Zusammenhang im Prinzip auf der Hand, muss aber noch im Einzelnen geklärt und in dem besagten programmatischen Sinne umgesetzt werden. Andere, klassische und neuere Theorievarianten sind in ihrer diesbezüglichen Nützlichkeit weniger offensichtlich und bedürfen umso mehr und intensiver der Auf- und Einarbeitung. Auf der Seite der (klassischen) Soziologie gilt dies z. B. und insbesondere für Goffman und Foucault, die in ihren komplexen Werken direkt weder miteinander noch mit der Figurationssoziologie nennenswert viel zu tun haben, die aber in höchst relevanter Weise mit der Gesamtheit und dem Gesamtzusammenhang der sachlichen Schwerpunkte und der theoretischen Deutungsfiguren zu tun haben, um die es hier und im Folgenden geht. Das soll, wie gesagt, keine KlassikerExegese bedeuten, sondern vielmehr die Zusammensetzung und Fortsetzung von ‚Gedankenarbeiten‘, die nicht wegen ihrer Klassizität, sondern eher wegen der Art ihrer Grammatikalität bzw. theoretischen Produktivkraft aufgegriffen und mit theoretischen Lernzielen in Verhältnisse zueinander gebracht werden.
3.2.1
Michel Foucault
Foucault befindet sich mit vielen Arbeiten94 in Ähnlichkeits- und/oder Komplementärverhältnissen zur Figurationssoziologie. In manchen Punkten sind diese Verhältnisse ganz analoge wie im Falle Bourdieus, in anderen Punkten sind es ganz andere. Die diesbezügliche Vergleichbarkeit und theoretische Interessantheit der (Diskurs-)Soziologie Foucaults ergibt sich zunächst – und eher vordergründig betrachtet – aus einem mit Elias und Bourdieu geteilten Ensemble von Themen95, sodann aus ihrer – am stärksten an Elias erinnernden – systematisch historischen Anlage. Foucaults Denken und Arbeiten ist „durch und durch“ (Foucault) historisch. Denkstrukturell und theoriestrukturell zentral relevant ist, dass die (Diskurs-)Soziologie Foucaults – und hier konvergiert sie gleichermaßen mit Elias und Bourdieu – institutionelle Kontexte und im Zusammenhang damit Verhältnisse von
94 Vgl. insbesondere: Foucault 1973a, b; 1977a, b, c; 1986a, b. 95 Das heißt: Thematisierung/Selbstthematisierung (Schreiben, Reden, Schweigen), Macht, Kontrolle/ Selbstkontrolle, Disziplin/Disziplinierung, Grenze, Exklusion/Inklusion, Wissen, Körper, Triebhaftigkeit/Sex/Gewalt, Normalität/Stigmatisierung/Normalisierung, Individualität/Individualisierung, Raum, Strategie usw.
Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven
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Macht und Wissen als einen Gesellschaft und Individuum (‚Subjekt‘) konstituierenden Zusammenhang versteht. Verhältnisse von Macht und Wissen hat auch, wenngleich vor allem auf der besonderen Ebene der „Interaktionsordnung“ und mit besonderen (mikrosoziologischen) Deutungsmitteln, Goffman im Auge. Diesbezüglich vor allem in der Tradition Simmels stehend, thematisiert und entwirft Goffman den allgemeinen Zusammenhang zwischen sozialer Wirklichkeit/Wirklichkeitskonstruktion einerseits und objektiver (struktureller) wie subjektiver (individueller) Wissensorganisation andererseits. Bei Goffman tauchen Individuen und Gruppierungen von Individuen unter der Bedingung einer sozial tatsächlichen ‚Rahmen-Ordnung‘ des Wissens als Akteure eines Wissensmanagements (Informationsmanagements) auf, durch das sie relevante Wirklichkeit (und damit ihre sozialen Lebenschancen) zu beeinflussen versuchen und tatsächlich beeinflussen. Die Parallele zu Elias bzw. zum Elias’schen Höfling, der gewissermaßen als das historische Urbild des (wissens-)strategischen „Goffmenschen“ (Hitzler 1992) gelten kann, liegt hier auf der Hand.96 Es gibt also so etwas wie eine wissenssoziologische Schnittmenge zwischen allen hier thematisierten Autoren, die im Zuge einer allgemeinen Konjunktur der Wissenssoziologie mehr oder weniger ins Zentrum einschlägiger soziologischer Diskursivierungen geraten sind und geraten. Foucault wird gerade in der jüngeren und jüngsten Zeit als Wissenssoziologe gelesen, gedeutet und in verschiedenen Theoriekontexten verarbeitet (vgl. z. B. Kajetzke 2008; Keller u. a. (Hg.) 2006; Knoblauch 2006). Foucaults (Diskurs-)Soziologie bzw. Wissenssoziologie will ich in zwei, der Struktur der Figurationssoziologie entsprechenden Lesarten ins Spiel bringen: einerseits sozusagen als allgemeine Diskurstheorie (oder auch allgemeine Soziologie) mit figurationstheoretisch relevanten Begrifflichkeiten97 und andererseits speziell als Zivilisationstheorie, die allerdings mit jenen Begrifflichkeiten mehr oder weniger eng verknüpft ist. Vergleiche und Assoziationen bzw. Synthesen mit Elias und Bourdieu, aber auch mit Goffman, bieten sich hier zunächst auf der Ebene der allgemeinen Diskurstheorie und im Verständnis von Diskursen überhaupt an. Als Formen und Formationen von Kommunikation und Thematisierung/Selbstthema-
96 Der Höfling erscheint bei Elias geradezu prototypisch als strategischer Informationspolitiker und situativer ‚Performancekünstler‘, der dank entsprechender Habitusausstattung (Zivilisierung) strategisch relevante ‚Eindrücke‘ generiert und manipuliert. 97 Wie z. B.: Dispositiv, Diskursordnung, Diskursritual, Normalität/Normalisierung, Disziplin, BioMacht, Zensur oder Kanon.
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Grundfragen und Grundlagen
tisierung und als spezifische Wissenskomplexe verweisen Diskurse immer auf bestimmte konditionierende und/oder generative Figurationen (Felder, Institutionen, Netzwerke, räumliche Verhältnisse usw.)98. Dementsprechend liegt es nahe, Diskurse in den Kontext von Figurationen bzw. Feldern zu stellen, und ebenso (und deswegen) ist es naheliegend, die Diskurstheorie gleichsam der Figurationssoziologie bzw. der Feld/Habitus-Theorie (Elias, Bourdieu) zu unterstellen. Genau dies hat Bourdieu mit seiner eigenen Diskurstheorie getan (vgl. Kajetzke 2008), auf die im Vergleich mit dem Foucault’schen ‚Urbild‘ und im Blick auf die (synthetische) Figurationssoziologie einzugehen ist. Damit kann auch versucht werden, die Frage nach dem Ort (oder den Orten) der Diskurstheorie bzw. ihrer Elemente im ‚Haus‘ der Figurationssoziologie zu stellen und zu beantworten. Foucault liegt der figurationssoziologischen Zivilisationstheorie insbesondere dadurch nahe, dass er sich mit deren sachlichen Schlüsselaspekten99 und vor allem mit den zivilisatorischen Kontexten und Schlüsselmechanismen der (sozialen) Macht, der (sozialen) Kontrolle und der (Selbst-)Beherrschung befasst, die auch Elias im Sinn hat. Elias’ Zivilisationsbegriff – im Kern das Verständnis eines Umschlagens von „Fremdzwängen“ in „Selbstzwänge“, von Außenkontrollen in Innenkontrollen (Selbstdisziplin) – findet sich ganz analog bei Foucault, der auch die soziogenetische Logik der Zivilisation in einer mit Elias’ Version vergleichbaren Weise deutet („Panoptismus“). Ähnlich wie Elias liefert Foucault eine am habitusgenerativen Zusammenhang von Macht und Wissen festgemachte Theorie des modernen ‚Subjekts‘ bzw. der Subjektivierung. Ähnlich wie Elias – und komplementär zu ihm – ist Foucault auch als Theoretiker historischer (moderner) Normalisierungs- und Individualisierungsprozesse von Bedeutung. Foucaults Rede (Diskurs) von der „Normalisierungsgesellschaft“ (Foucault 1977c: 172 ff.) ist die Vorlage für neuere Theorien und Untersuchungen des modernen „Normalismus“ (Link 1997), der sich sozusagen als Parallelbewegung zum Individualismus ausprägt. Normalisierung und Individualisierung, Normalismus und Individualismus sind auch im Blick auf die jüngere Gesellschaftsvergangenheit (‚Gegenwartsgesellschaft‘) als Dualisierungen und Ambivalenzen der Zivilisation zu verstehen, die auf der Basis einer Verbindung von Elias und Foucault theoretisch und empirisch-analytisch erschlossen werden können (s. u.).
98 Vgl. dazu die an Foucault anschließenden Arbeiten von Hahn, der in dem hier gemeinten Sinne von „Biographiegeneratoren“ spricht (vgl. Hahn 1987c; 1984b; Hahn/Kapp (Hg.) 1987; auch Schroer 2006a; Willems 1994; Willems/Hahn (Hg.) 1999). 99 Also: Körper, körperliche Spontaneität, Sexualität, Aggressivität/Gewalt, aber auch (Selbst-)Bewusstsein und Identität/Biographie.
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Foucault ergänzt auch Elias, indem er die von diesem nur am Rande behandelte Religion (religiöse Deutungsmuster und Rituale wie etwa die Beichte) sowie die modernen (Human-)Wissenschaften und Verwissenschaftlichungen als wesentliche generative und strukturierende Faktoren von Zivilisierungs-/Normalisierungs-/Individualisierungsprozessen entwirft und beschreibt.100 Darüber hinaus – und im Zusammenhang damit – ist Foucault durch sein Spätwerk von besonderem zivilisationstheoretischen Interesse, Informations- und Inspirationswert. Durch die Deutungsmittel seiner Diskurstheorie und als ‚Zivilisationsanalytiker‘ besitzt Foucault auch eine spezifische, Elias und Bourdieu ergänzende Bedeutung für das Verständnis und die Analysierbarkeit diverser Figurations- bzw. Feldtypen, die je besondere zivilisatorische Voraussetzungen und Effekte haben. Dazu gehören totale Institutionen, deren Untersuchung Foucault und Elias in einem zivilisationstheoretisch relevanten Sinne mit Goffman (vgl. 1973a) verbindet101, ebenso wie Institutionen der Selbstthematisierung (Beichte, Psychoanalyse etc.) und Medien-Figurationen, die sich durch eigene zivilisatorische oder auch dezivilisatorische Signifikanzen auszeichnen102.
100 Alois Hahn hat diesen Zusammenhängen mit Elias und Foucault und darüber hinausgehend mit Max Weber und einer Reihe neuerer Theoretiker eingehende Aufmerksamkeit gewidmet und die These einer mehrdimensionalen (Genea-)Logik der Zivilisation entwickelt (vgl. Hahn 1984b; auch van Dülmen 1996). 101 Auch die ‚höfische Gesellschaft‘ kann als eine Art totale Institution im Sinne Goffmans (1973a) betrachtet werden. 102 Man kann und sollte von einer Medien-Zivilisation sprechen, die zumindest auch und wesentlich eine Diskurs-Zivilisation ist, denn sie läuft über Diskurse und – zunehmend – über Visualisierungen/Bebilderungen, die einen diskursiven oder quasi-diskursiven Charakter haben, da sie in ihrer expressiven und semantischen Funktion ‚teleologisch‘ reflektiert und also reflexiv sind.
78 3.2.2
Grundfragen und Grundlagen Erving Goffman
Goffmans von vielen Rezipienten103 – auch von Elias104 und Bourdieu – nicht ganz zu Unrecht, aber einseitig, als subjektivistisch, interaktionistisch oder (dem Theatermodell verdankt) dramatologisch etikettiertes Werk weist bei genauerer Betrachtung zentrale Bezüge zu allen hier relevanten Sach- und Theoriekontexten auf.105 Unter den Konzeptapparaturen und Modellen, die ich im Folgenden sozusagen auf die Figurationssoziologie projizieren will, sind die Goffman’schen auch von großer theoretisch-systematischer Bedeutung. Goffmans Nützlichkeit im programmatischen Kontext des hier begonnenen Projekts hat in erster Linie damit zu tun, dass sich seine in ihrer Grundanlage eher formale und daher keineswegs auf die ‚Mikroebene‘ begrenzte (Modell-)Soziologie mit konzeptuellen Differenzierungsgewinnen in die Figurationssoziologie einführen und gleichsam übersetzen lässt. Von größter Bedeutung ist diese Tatsache vielleicht im Hinblick auf Goffmans symbol- und wissenssoziologische Begrifflichkeiten und (Empirie-)Beobachtungen, die von seinem Frühwerk bis zu späteren 103 Die Goffman-Rezeption, die sich seit dem Tod Goffmans 1982 intensiviert hat, aber auch davor schon rege war, zeichnet sich insgesamt durch starke Uneinheitlichkeit und eine gewisse Gespaltenheit aus. Mittlerweile, nach anfänglich genereller Unsicherheit oder Ratlosigkeit in der Einschätzung seines Werks, herrscht die Tendenz vor, ihn als ‚Klassiker‘ zu betrachten und zu kanonisieren. Im Allgemeinen wurde und wird Goffmans Werk aber (wie das seines vielleicht wichtigsten ‚Lehrmeisters‘ Simmel) eher als eine Art Steinbruch verwendet. Eine systematische Auseinandersetzung im Sinne einer Gesamtlektüre und theoretischen Gesamtdeutung hat zwar (selten) ansatzweise stattgefunden (vgl. z. B. Hettlage/Lenz (Hg.) 1991; Burns 1992; Giddens 1988a; Willems 1997a), ist aber noch nicht befriedigend fortgeschritten. 104 Elias (1978) verortet Goffman im Kontext der „alltagssoziologischen Schulen“. Sie konzentrierten, so sieht es Elias, die Aufmerksamkeit in Absetzung von „objektivistischen“ Systemtheorien „mehr auf subjektive Aspekte des Zusammenlebens von Menschen, also auf den gemeinten Sinn dieser Aspekte, auf die Art, wie die beteiligten Menschen selbst Aspekte der Gesellschaft erleben, und hier wieder besonders die nicht-offiziellen, nicht-öffentlichen oder jedenfalls nicht hart und fest institutionalisierten Aspekte der Gesellschaft.“ Goffman sei in diesem Sinne der „Meister der empirischsoziologischen Kleinkunst“ und „vielleicht beispielgebend für die mögliche Fruchtbarkeit dieser Art der soziologischen Forschungsarbeit“ (ebd.: 23). Ähnlich lobend – und zugleich depotenzierend – äußert sich Bourdieu (vgl. 1982; 1983a). Er und Elias verkürzen, verkennen und unterschätzen damit den Charakter, die Substanz und die Reichweite, vor allem aber die Anschlussfähigkeit des Goffman’schen Werks, in dem sich (ähnlich wie bei Elias und Bourdieu) durchaus das Bemühen zeigt, „subjektivistische“ und „objektivistische“ Einseitigkeiten zu vermeiden und die betreffenden sozialen Ebenen (Objektivität und Subjektivität, Struktur und Handlung etc.) im Zusammenhang zu sehen. 105 Goffman selbst hat die eigene Soziologie als „Mikrosoziologie“ beschrieben und betrieben, jedoch zugleich auch die Relativität dieser Soziologie und die ‚makrostrukturelle‘ Relationalität der von ihr thematisierten Tatsachen durchaus gesehen und differenziert benannt (vgl. z. B. Goffman 1994a).
Theoretische Reichweite, Potentiale und (Entwicklungs-)Perspektiven
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und späten Arbeiten reichen (vgl. insbesondere Goffman 1977b). Goffman liefert mit seinen divers modellierten und ausgerichteten Arbeiten wichtige Beiträge, die sich gleichsam auf Knotenpunkte und Kernbereiche der Figurationssoziologie beziehen und in direkte Zusammenhänge mit deren Gegenstandsvorstellungen (Feld, Praxis, Akteur, Habitus, Kapital/symbolisches Kapital, Distinktion) bringen lassen. Im Besonderen zu nennen sind seine raumsoziologischen (Territorium, sozialer Anlass etc.), ritualtheoretischen, spieltheoretischen (Strategie), identitätstheoretischen, normalitätstheoretischen (Image, Stigma) und theatralitätstheoretischen Modelle, Konzepte und empirischen Untersuchungen. Sie verbinden Goffman – mehr oder weniger – auch mit Bourdieu106 und Foucault, bilden also so etwas wie eine Schnittmenge und teilweise eine Art Klammer zwischen den hier thematisierten, überwiegend kontaktlos nebeneinander stehenden107 ‚Schlüsselwerken‘ der (weiter) zu entwickelnden Figurationstheorie. Allerdings divergiert, ja konfligiert Goffman bei aller soziologischen Anschlussfähigkeit und Anschlusswertigkeit sowohl im Verhältnis zu Elias und Bourdieu als auch zu Foucault, insofern er sich in seinen empirischen Untersuchungen zum einen auf die soziale Mikro-Praxis von Interaktionsprozessen108 konzentriert und seine gleichsam mikroskopischen Modell- und Begriffsmittel hauptsächlich auf die entsprechende (Mikro-)Praxisanalyse bezieht.109 Zum anderen ist es Goff106 Ein wichtiger sachlicher und theoretischer Aspekt der Verwandtschaft zwischen Bourdieu und Goffman, aber auch zwischen Bourdieu, Goffman und Elias, liegt in der gemeinsamen Fokussierung symbolischer/ritueller Ordnungen bzw. deren Grenzen und Ausgrenzungsformen (Exklusion/ Inklusion). Alle drei Autoren beschäftigen sich intensiv mit sozialer Ungleichheit als symbolischer Ungleichheit und durch symbolische Ungleichheit bis hin zu Stigmatisierungen, die Elias insbesondere (aber längst nicht nur) in seinem Werk über „Etablierte und Außenseiter“ (Elias/Scotson 1990) ins Auge gefasst hat. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von symbolischer Gewalt und hat damit auch die extremen und normalen Formen der Stigmatisierung im Sinn, die Goffman vor allem in seinem Buch „Stigma“ fokussiert hat (vgl. Goffman 1967). 107 Nur Bourdieu macht hier mit seinen rezeptiven und teilweise auch verarbeitenden Bezugnahmen auf die Werke von Elias, Goffman und Foucault eine Ausnahme. Davon soll noch ausführlicher die Rede sein. 108 Goffman spricht von „Interaktionsordnung“ („interaction order“, Goffman 1994a) oder auch von „Alltag“ („everyday life“, Goffman 1969) und meint damit zumindest eine Seite der (Lebens-)Praxis, die auch Elias und Bourdieu im Auge haben, aber in einen viel weiteren und komplexeren theoretisch-empirischen Rahmen stellen. 109 Dass die Möglichkeiten der Goffman’schen Soziologie gleichwohl weit über die ‚Mikroebene‘ (der unmittelbaren Interaktion) hinausreichen und entsprechend anschlussfähig sind, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sie in Untersuchungen jenseits dieser Ebene nicht nur immer schon sondern auch immer mehr Anwendung finden. Gerade die neuere und neueste mediensoziologische Forschung greift häufig auf Goffmans Konzeptinstrumentarium (vom Theatermodell bis zur Rahmen-Analyse) zurück (vgl. z. B. Neumann-Braun 2002; Winter 1995). Die Soziologie ‚abweichenden Verhaltens‘, die Medizinsoziologie und auch die Organisationssoziologie (z. B. die frühe
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Grundfragen und Grundlagen
mans privilegierter Bezug oder, wie man mit Elias formulieren kann, Rückzug auf die (seine) ‚Gegenwart‘110, die seine Soziologie von den genannten anderen (insbesondere von Elias und Foucault) grundsätzlich unterscheidet111 und entsprechend entwicklungs- und anschlussbedürftig macht.112 Die Figurationssoziologie bzw. die Entwicklung der soziologischen Figurationstheorie kann dennoch von dem komplexen und zum Teil originären Modellund Konzeptapparat Goffmans nicht nur auf der Interaktionsebene (der Ebene der „Interaktionsordnung“), sondern auf allen sozialen Figurationsebenen profitieren. Diese Brauchbarkeit verdankt sich der Tatsache, dass Goffmans Deutungsmittel – zumindest in hohem Maße – entsprechend generalisierbar oder entwickelbar sind und sozusagen in der Nussschale der ‚Interaktionsordnung‘ alles auffangen und auffassen, was aus den Sichten von Elias, Bourdieu und Foucault in allen Figurationen (Feldern) der Gesellschaft eine zentrale und konstitutive Rolle spielt: Macht, Kapital, Wissen, Moral, symbolische Ordnung/Ritual, Konkurrenz, Kampf, Strategie, Distinktion, (Sinn-)Grenzen, Disziplin, Materialität, Raum, Körper usw.
Luhmann’sche) haben seit Goffman immer schon mit Goffman’schen Kategorien und Beobachtungen operiert und tun es auch heute noch. 110 Vgl. Elias’ fach- und fachkollegenkritische Überlegungen unter dem Titel „Rückzug auf die Gegenwart“ (2006b). 111 Übertriebene und einseitige, aber aus figurationssoziologischer Sicht prinzipiell berechtigte Kritik an der im Grunde ahistorischen Mikrosoziologie Goffmans übt z. B. Richard Sennett – mit folgenden Formulierungen: „Aus seiner (Goffmans, H. W.) Sicht stellt jede Szene eine feste Situation dar. Wie die Szene zustande kam, wie diejenigen, die in ihr eine Rolle spielen, die Szene durch ihr Handeln verändern, oder wie jede Szene aufgrund umfassender, in der Gesellschaft wirksamer Kräfte zustande kommt und wieder verschwinden kann – darum kümmert sich Goffman nicht. Die statische, geschichtslose, aus lauter Szenen zusammengesetzte Gesellschaft, die uns aus seinen Büchern entgegentritt, leitet sich aus seiner Überzeugung her, dass die Individuen in ihrem Umgang miteinander stets bestrebt sind, eine Situation des Gleichgewichts zu erzeugen. Sie geben und nehmen wechselseitig, bis sie genügend Stabilität geschaffen haben und wissen, was sie erwarten können, wenn sie ihre Handlungen gegeneinander ausbalancieren. Die zueinander ins Gleichgewicht gebrachten Handlungen sind die ‚Rollen‘ der jeweiligen Situation. Das Element von Wahrheit, das in diesem Ansatz steckt, geht freilich verloren, weil Goffman kein Ohr und kein Interesse für die Kräfte der Unordnung, der Auflösung und des Wandels hat, die in derartige Anordnungen einbrechen können. Er entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der es Szenen gibt, aber keinen Handlungsfaden. (…) Bei Goffman führen die Handlungen der Menschen nicht zu einer Veränderung ihres Lebens; es kommt lediglich zu einer endlosen Reihe von Anpassungen. In der Welt Goffmans verhalten sich die Leute, aber sie machen keine Erfahrungen“ (Sennett 1983: 51; vgl. auch Gouldner 1974: 453 f.). 112 Goffmans theoretische und methodische Ansätze sowie auch seine Beobachtungen und analytischen Beschreibungen sind mit Hilfe der Figurationssoziologie nicht nur aus ihren mikrosoziologischen Beschränktheiten und Selbstbeschränkungen herauszulösen, sondern auch – und in manchen Zusammenhängen vor allem – zu ‚historisieren‘.
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Die figurationssoziologische ‚Rahmung‘ verspricht umgekehrt gleichsam den passenden Schlüssel zu dem „ungehobenen“ theoretischen Schatz113, der aus der Sicht kompetenter Beobachter – immer noch – im Werk Goffmans liegt. Im Rahmen der Figurationssoziologie ordnen und fügen sich, so die Erwartung, die zentralen konzeptuellen, sachlichen und analytisch-deskriptiven Komponenten der Goffman’schen Soziologie114 in einem und zu einem konsistenten Ganzen. Gleichzeitig erschließen sich in diesem Rahmen erst die ganz oder eher impliziten Theoriegehalte des Werks bzw. der Praxisbeschreibungen von Goffman, insbesondere seine implizite Habitustheorie115 sowie seine Deutung/Theorie des modernen (Groß-)Stadt- und Organisations-(alltags-)lebens, die ebenso wie seine Untersuchung totaler Institutionen durchaus als eine Art Figurationstheorie gelesen werden kann. Goffmans Konzeptmittel und analytische Beschreibungen können im Rahmen einer figurationssoziologischen Lektüre auch sozusagen entformalisiert werden und sind als (Gesamt-)Deutung des sozialen Lebens seiner Zeit, als eine Art implizite Zeitdiagnose, ja mehr noch als eine Moderne- und Modernisierungstheorie zu entschlüsseln. Goffmans Werk, insbesondere die an Simmel erinnernde Fülle seiner Beobachtungen und empirisch-analytischen Feststellungen, lässt sich m. a. W. im Licht der figurationssoziologischen Gesamtvision einer Art Revision unterziehen und in eine explizite Gesellschafts- und auch Schicht- oder MilieuDeutung übersetzen. Das schließt – auch unter zivilisationstheoretischen Vorzeichen – die Feststellung eines Spektrums von Lebensstilen und Habitusformen/ Menschentypen sowie die Möglichkeit der Bildung entsprechender Idealtypen116 ein.
113 So die Feststellung und Formulierung von Anthony Giddens, der Goffmans Soziologie in seiner eigenen (Groß-)Theorie einen bedeutenden Platz eingeräumt hat (vgl. Giddens 1988a). 114 Von ihrer Konzeption von ‚Alltagswissen‘ oder „totalen Institutionen“ bis hin zu ihrer ganz besonderen Interpretation von „Außenseitern“, die bei Goffman einerseits Außenseiter der Performance (vgl. 1969) und andererseits Außenseiter der Gesellschaft bzw. ihrer moralisch-symbolischen Ordnungen sind (vgl. 1967). 115 Ihr soll in dem diesem Buch folgenden Band ausführlich (in einem eigenen Kapitel) nachgegangen werden. Ich vertrete hier in der Weiterentwicklung früherer Überlegungen die Auffassung, dass Goffmans implizite Habitustheorie als Verhaltensstil- und Kompetenztheorie das Komplement zu seiner (expliziten) Rahmentheorie (vgl. Goffman 1977b) bildet und dass man in dieser Komplementarität so etwas wie das Herzstück der Goffman’schen Theorie sehen kann (vgl. Willems 1997a). 116 Zum Beispiel: der „Goffmensch“ (Hitzler 1992).
82 3.3
Grundfragen und Grundlagen Historisch-zeitdiagnostische Sozialforschung
Für die Zielsetzung und Anlage des hier ins Auge gefassten Unternehmens einer figurationssoziologischen Theorie(n)bildung sprechen, wie gesagt, neben systematischen und theoriestrategischen auch und wesentlich empirische Argumente – vor allem: die Dynamik, Komplexität und Massivität des sozio-kulturellen Wandels, der sich, längst nicht mehr nur mit den Begriffen der Moderne und der Modernisierung verbunden117, mit zunehmender Geschwindigkeit abspielt. Die Figurationssoziologie ist in erster Linie, ja ihrem ganzen Wesen nach eine Soziologie sozio-kulturellen Wandels und erscheint daher sowie durch ihre entsprechend offenen und flexiblen Konzepte118 auch und gerade in Bezug auf die Wandlungen der ‚Gegenwart‘ (und der jüngeren Vergangenheit) besonders qualifiziert. Sie empfiehlt sich diesbezüglich als Prozess- und Struktur- und Akteursoziologie, die mit einem zu erweiternden und zu verdichtenden Netzwerk von Konzepten dasjenige Instrumentarium zur Verfügung stellt, das auch der wachsenden Diversität, Komplexität und „Fluidität“119 der sozialen Praxisformen, Beziehungs- und Sinngebilde am ehesten gerecht zu werden verspricht. Die Figurationssoziologie bzw. ihr konzeptuelles Instrumentarium kann als originärer Zugang und allgemeiner Ordnungsrahmen der empirisch-analytischen Erforschung nicht nur von langfristigen, sondern auch von relativ kurzfristigen, gegenwartsnahen Entwicklungen und Veränderungen fungieren; sie zeichnet sich zudem durch den entscheidenden strategischen Vorteil aus, eine Theorie zu beinhalten, die es gestattet, das Gegenwärtige im Lichte von Annahmen über die 117 Diese Begriffe sind ja zunehmend unmodern geworden. 118 Zum Beispiel und insbesondere das Figurationskonzept, in dem ja neben den Aspekten der Strukturiertheit und der aktiven (strategischen) Beeinflussbarkeit auch und wesentlich die figurationssoziologischen Leitideen der Prozessualität, der Veränderlichkeit und der Entwicklung/des Wandels sozialer Beziehungsgebilde manifest und deutlich werden. 119 Dieser Begriff (vgl. Hardt/Negri 2002) verweist auf eine Reihe terminologischer Analoga mit mehr oder weniger ähnlichem Inhalt und (‚diagnostischem‘) Zuschnitt, etwa den Begriff der „Offenheit“ im Kontext der Cultural Studies oder den Begriff der Hybridität bzw. der Hybridisierung (vgl. Schneider 2000). Verwiesen und hingewiesen wird mit solchen Begriffen auf die Kontingenzen erzeugende Erosion und Verflüssigung von Strukturen, das Verschwimmen von Grenzen und Differenzen, auf Prozesse der sozialen Entdifferenzierung und Indifferenzierung. Mit den so benannten Prozessen und Trends werden Begriffe wie System, Institution oder Identität zunehmend unangemessen und untauglich. Gleichzeitig steigt die Wertigkeit der figurationssoziologischen Begrifflichkeit, insbesondere des Figurationsbegriffs selbst. Er ist in gewissem Maße ein gleichsam fluider Begriff, der sich von allen sozialen Ordnungsbegriffen, die sich im gegenwärtigen Repertoire der Soziologie befinden, am besten mit der zunehmend differenzierten und zugleich zunehmend ‚offenen‘ und ‚im Fluss‘ befundenen Gesellschafts-Wirklichkeit verträgt und geeignet ist, an sie angepasst zu werden.
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Ordnungslogik des Vergangenen zu betrachten. Sie muss aber auch gerade vor dem Hintergrund weitreichender und tiefgreifender empirischer Entwicklungen, wie sie etwa (und insbesondere) die Prozesse der Mediatisierung und der (spezial-)kulturellen Differenzierung der Gesellschaft darstellen (vgl. Müller 1994: 72), auf ihre analytische Leistungsfähigkeit bzw. die Angemessenheit (angemessene Komplexität) ihrer konzeptuellen Mittel und gegenstandstheoretischen Vorstellungen hin befragt, kritisch bewertet und weiterentwickelt werden. Gerade wenn es darum geht, der (relativen) Neuheit sozio-kultureller Entwicklungen, der Neuheit der Gesellschaft oder dem Neuen in der Gesellschaft, z. B. dem Neuen der neuen Medien, soziologisch näher zu kommen, zeigt sich der Sinn der hier intendierten Begriffs- und Theorie(n)bildung, deren (begriffliche, theoretische) Ausgangsbestände sich zwar entlang der Entwicklung der sozio-kulturellen Realitäten entwickelt haben und damit auch Voraussetzungen des Alleraktuellsten treffen120, die aber auch der Einstellung auf die sich rasant ändernden Verhältnisse bedürfen. Umstellungen und Anpassungen, Ergänzungen und Differenzierungen der Figurationssoziologie, speziell der Zivilisationstheorie, tun Not, wenn die Vorzüge ihrer historischen Langzeit-Perspektive nicht mit dem Verzicht auf eine differenzierte (Komplex-)Betrachtung aktuellerer und aktueller Prozesse und Strukturen erkauft werden soll. Man kann also Elias’ Kritik am tendenziellen „Rückzug“ der neueren Soziologie auf „die Gegenwart“ (Elias 2006b)121 akzeptieren und doch festhalten, dass die Rapidität und die Komplexität des sozialen Wandels die soziologische und auch die figurationssoziologische Theoriebildung entsprechend herausfordern und sie – bei aller Nützlichkeit der Langfrist-Perspektive – zur Entwicklung und Wandlung zwingen.122 Davon unberührt ist der generelle (Eigen-)Wert der figurationssoziologischen (Deutungs-)Perspektive für das Verständnis und die Analyse von sozialen Beziehungen und Praxen aller Art und aller Zeit. 120 In dieser Richtung argumentiert z. B. Tilmann Sutter. In einer Untersuchung der Figuration (von Figurationen) des Internets hält er es für „nicht ratsam, bewährte Begriffsarsensale einfach über Bord zu werfen“ (2008: 71). 121 Symptomatisch für diesen Rückzug ist auch die anhaltende Konjunktur von sozialwissenschaftlichen und philosophischen ‚Gegenwartsdiagnosen‘, die „Lesarten des Heute und Morgen“ (Schimank 2000: 14) bezwecken und „den Puls der Zeit“ (ebd.: 17) fühlen wollen und zu fühlen glauben. Dabei geht es allerdings vielfach nicht nur um einen Rückzug, sondern auch um Teilnahmen an sozio-kulturellen (ideologischen, moralischen, politischen) Auseinandersetzungen und um die (potentiell gewinnträchtige) Befriedigung aktueller Deutungsbedürfnisse verschiedener wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Publika. 122 Die ‚Unübersichtlichkeit‘, Uneinheitlichkeit und ‚Fluidität‘ der soziologischen/sozialwissenschaftlichen Theorienlandschaft ist, so gesehen, auch eine Funktion der (Wandlungs-)Wirklichkeit des Sozialen, der „immensen Komplexität sozialer Wirklichkeit, die sich analytisch einfach nicht in eine einzige Sicht der Dinge hineinpressen lässt“ (Schimank 2000: 14).
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Grundfragen und Grundlagen
Die Figurationssoziologie kann und muss (also) diverse Theorie-, Konzept- und empirische Befundbestände integrieren und synthetisieren, um sich theoretisch selbst zu entwickeln und um den empirischen Entwicklungen der Gesellschaft (einschließlich der Selbstentwicklungen der Soziologie) bis zur Gegenwart und zur Zukunft123 auch ‚diagnostisch‘ folgen zu können. Worum es in dieser Hinsicht geht, ist die Vernetzung, Bündelung und (dadurch) Steigerung soziologischer Leistungsfähigkeiten, die schon und gerade bei den ‚Klassikern‘ – von Simmel, Durkheim oder Weber bis Parsons, Goffman oder Bourdieu – in der ‚diagnostischen‘ Beobachtung und Deutung der (modernen) Gesellschaft liegen. Hier gilt es anzuknüpfen und zudem und vor diesem Hintergrund neuere, teils diesbezüglich kontinuierliche, teils diskontinuierliche ‚Diagnosen‘ und ‚Diagnostiken‘, die sich überwiegend auf mehr oder weniger neue Entwicklungen der und in der (modernen, ‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft beziehen, aufzugreifen und zu verarbeiten. Ich meine insbesondere diskursiv herausragende Varianten des traditionsreichen und zunehmend expansiven soziologischen Genres der ‚Gegenwarts-‘ oder ‚Zeitdiagnosen‘124, die gegenwärtig noch mehr oder weniger isoliert und unverbunden in der soziologischen ‚Diskurslandschaft‘ stehen. Damit eröffnet sich also der Ausblick auf eine theoretische Synthese mit zwei Seiten: Auf der einen Seite geht es um die (Weiter-)Entwicklung der Figurationssoziologie zu einem kohärenten, komplexen und empirietauglichen theoretischen Paradigma (mindestens) der Soziologie, das deren ‚Subjekte‘ heute und zukünftig 123 Zu den Leistungsfähigkeiten der Figurationssoziologie als historischer Prozesssoziologie gehört auch die theoretisch und empirisch kontrollierte Deutung gesellschaftlicher Entwicklungstrends, und d. h. die Abschätzung von Zukunft (vgl. Müller 1994: 72). In der und mit der Figurationssoziologie geht es in gewisser Weise immer auch um Entwicklungsprognosen oder ‚Trendforschung‘, nämlich um gewesene und – möglicherweise – kommende Trends. 124 Schimank (2000: 14 f.) spricht von „Gegenwartsdiagnosen“ als einem soziologischen „Genre“. Er versteht es folgendermaßen und ordnet ihm damit einen bestimmten systematischen Status in der Bandbreite der soziologischen ‚Genres‘ zu: „Klar ist zunächst, dass Gegenwartsdiagnosen sich mit Gesellschaft befassen – also nicht bloß mit bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen und schon gar nicht mit sozialen Gebilden unterhalb der Gesellschaftsebene, also etwa Organisationen oder Interaktionen. (…) Wenn es somit um die Gesellschaft als Ganze geht, kann man Gegenwartsdiagnosen im nächsten Schritt hinsichtlich ihres Abstraktionsniveaus in der Mitte zwischen zwei anderen Arten soziologischer Gesellschaftsanalysen einordnen. Soziologische Gegenwartsdiagnosen sind einerseits abstrakter angelegt als Analysen, die sich auf bestimmte nationale Gesellschaften und dabei möglicherweise noch auf spezifische Schlüsselereignisse und zeitlich eng umgrenzte Phasen beziehen. Andererseits sind soziologische Gegenwartsdiagnosen weniger abstrakt als generelle soziologische Gesellschaftstheorien oder auch generelle Theorien der modernen Gesellschaft. (…) In der zweiten Richtung grenzen sich Gegenwartsdiagnosen etwa von Theorien gesellschaftlicher Differenzierung oder von Norbert Elias’ ‚Zivilisationstheorie‘ oder auch von der soziologischen Modernisierungstheorie ab“ (Schimank 2000: 14 f.; Hervorheb. im Orig.).
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dringender denn je brauchen. Ein solcher gemeinsamer Bezugsrahmen wäre ein ‚qualitativer Sprung‘ der Figurationssoziologie und der soziologischen Forschung im Allgemeinen; er würde auf allen Ebenen der Integration des Faches dienen; vor allem aber wäre er eine Voraussetzung für eine integrative und damit erst angemessene Bearbeitung seiner Gegenstände (unter der Bedingung ihrer dynamischen Wandlung). Die Fortschritte auf diesem Gebiet halten sich gegenwärtig noch in engen Grenzen, die Einsicht in die Notwendigkeit und Nützlichkeit einer so angelegten soziologischen und überhaupt menschenwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung wächst aber seit längerem. Auf der anderen Seite – und im Zusammenhang mit jener – geht es um die Synthese der diversen, teils kompatiblen oder komplementären, teils scheinbar gegensätzlichen, widersprüchlichen oder zusammenhanglosen ‚Gegenwartsdiagnosen‘/ ‚Zeitdiagnosen‘. Damit ist vor dem Hintergrund des Gesagten nicht nur eine Art „Puzzle“ (Schimank 2000: 20) gemeint, in dem sich verschiedene Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Mit dem theoretischen ‚Haus‘ der Figurationssoziologie deutet sich vielmehr auch die Möglichkeit an, die sich verlängernde und diversifizierende Reihe der (nicht nur soziologischen) ‚Gegenwartsdiagnosen‘/‚Zeitdiagnosen‘ in einen theoretisch perspektivierten und kontrollierten Gesamt(prozess)zusammenhang zu stellen und in einem solchen Zusammenhang zu sehen und zu nutzen. Denn es gibt zwar gute Gründe dafür, anzunehmen, dass alle diese ‚Diagnosen‘ jeweils relevante, wichtige oder sogar wesentliche Aspekte sozialer (Entwicklungs-)Wirklichkeit treffen (vgl. Schimank 2000: 19), dass an ihnen, wie man sagt, ‚etwas dran ist‘ – jeweils in ihrer Bezogenheit auf eine bestimmte historische Gesellschaft oder Phase der Gesellschaftsentwicklung. Es gibt aber auch ebenso gute Gründe für die Annahme, dass alle diese ‚Diagnosen‘ jeweils auf ihre eigene Weise zu einem verkürzten oder auch verzerrenden Realitätsbild bzw. Gesellschaftsbild führen125. Damit stellt sich die programmatisch-soziologische Anforderung und Herausforderung, nicht nur durch Relationierung der verschiedenen ‚Diagnosen‘ eine Synthese auf höherem Niveau zu bilden, sondern auch eine Art Validierungs-
125 Schimank konstatiert treffend: „In sachlicher Hinsicht ist jede Gegenwartsdiagnose eine starke Vereinseitigung. So behauptet etwa Beck, wir lebten in einer ‚Risikogesellschaft‘; Schulze wähnt uns in der ‚Erlebnisgesellschaft‘; Ritzer sieht uns in einer ‚McDonaldisierten‘ Gesellschaft; und Coleman meint, dass wir uns im Würgegriff bürokratischer Großorganisationen befinden. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass diese Perspektiven einander teilweise widersprechen, teilweise aber auch ergänzen. Sie widersprechen einander freilich frontal darin, dass das jeweils von einer bestimmten Gegenwartsdiagnose hervorgehobene Merkmal für das zentrale, alle weiteren sozusagen zu Nebensachen erklärende Merkmal der Gegenwartsgesellschaft gehalten wird“ (2000: 19).
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Grundfragen und Grundlagen
und Kontrollebene in Bezug auf jede einzelne ‚Diagnose‘ und in Bezug auf ihren Gesamtzusammenhang (Synthese) einzuschalten.126 Diese Ebene der Verknüpfung, (historischen) Einordnung und Gewichtung kann die Figurationssoziologie darstellen. Sie eröffnet damit die sozusagen strategische Option, zu historischzeitdiagnostischen Gesamtbildern oder vielleicht sogar zu einem historisch-zeitdiagnostischen Gesamtbild zu gelangen, das die wachsende und heute schon flutartige Überfülle der Betrachtungen, Beobachtungen und Gedanken zusammenfasst. Die Figurationstheorie kann bei dieser Verwendung theoretisches Lernen ermöglichen und steuern und zugleich – als Figurationstheorie – selbst lernen, sei es in kategorial-konzeptueller oder in gegenständlicher (speziell zivilisationstheoretischer) Hinsicht. Grundsätzlich taucht damit die Vision einer (gegenwarts-)‚diagnostischen‘ Soziologie auf, die die historische Langzeit-Perspektive von Elias mit variablen Kurzzeit-Perspektiven und einer entsprechenden Sensibilität für neuere und neueste Entwicklungen und Trends (Aktualität) im Gegenstandsbereich der Gesellschaft verbindet. In diesem Rahmen lassen sich die schon existierenden ‚Gegenwartsdiagnosen‘ der (die reale ‚Sozialgeschichte‘ begleitenden) Soziologiegeschichte, seien diese ‚Diagnosen‘ als solche explizit oder implizit, zum einen auf der Ebene einer tendenziellen Synchronie in Gesamtzusammenhänge bringen. Heute könnte das etwa heißen, dass ‚Wissensgesellschaft‘, ‚Kommunikationsgesellschaft‘, ‚Organisationsgesellschaft‘, ‚Dienstleistungsgesellschaft‘, ‚Multioptionsgesellschaft‘, ‚Risikogesellschaft‘, ‚Konsumgesellschaft‘, ‚Erlebnisgesellschaft‘, ‚Mediengesellschaft‘, ‚Marktgesellschaft‘, ‚Netzwerkgesellschaft‘, ‚Inszenierungsgesellschaft‘127, ‚Simulationsgesellschaft‘, ‚Image-Gesellschaft‘ usw. im Prinzip gleichzeitig, nebeneinander, miteinander, ineinander und durch einander existieren – als verschiedene Seiten ein und derselben ‚Realgesellschaft‘, die natürlich als ein und dieselbe immer nur vorübergehend existiert. Zum anderen lassen sich ‚Gegenwartsdiagnosen‘, und zwar im Prinzip alle, die es bisher gegeben hat und noch geben wird, auf der Ebene der historischen Diachronie rekonstruieren, nämlich im Sinne der historischen Prozess- und Entwicklungs-Perspektive der Figurationssoziologie sozusagen sequentialisieren. Blickt man z. B. in diesem Sinne eingehender auf (zumindest auch) ‚gegenwartsdiagnostische‘ Arbeiten von Riesman (1958) oder Gehlen (1957) aus den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und vergleicht sie mit 126 Genau in diesem Sinne hält Schimank es für entscheidend, dass die mehr oder weniger „spekulativen Einschätzungen“ der ‚Gegenwartsdiagnostiker‘ „durch theoretische Plausibilitäten kontrolliert werden“ (2000: 17). 127 Diesen Begriff habe ich (leichtsinnigerweise) selbst geprägt und zum Titel eines Sammelwerks gemacht (Willems/Jurga (Hg.) 1998).
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entsprechenden Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit (und aus der jüngeren Vergangenheit), dann kann man deutlich(er) eine gewisse Ordnung oder Ordnungsmomente des Wandels erkennen – in diesem Fall etwa bestimmte zivilisatorisch signifikante Dynamisierungen und Flexibilisierungen sozialer Beziehungen, Sozialformen und ‚Charaktere‘.128 Mit Hilfe der Figurationssoziologie ist also nicht nur auf der synchronen sondern auch auf der diachronen Ebene die Frage zu stellen und zu bearbeiten, in welchen Verhältnissen (bzw. entwicklungslogischen Verhältnissen) die diagnostizierten ‚Gesellschaften‘ oder Aspekte dieser ‚Gesellschaften‘ zueinander stehen und damit eine (Prozess-, Wandlungs-)Ordnung eigener Art bilden (vgl. Schimank/Volkmann (Hg.) 2000; Volkmann/Schimank (Hg.) 2002). Einer der strategischen Vorteile der Figurationssoziologie besteht hier darin, dass sie, indem sie einen Rahmen der reflexiven Betrachtung, Einschätzung, Gewichtung und schließlich Synthetisierung von ‚Gegenwartsdiagnosen‘ jedweder Art und Zeit liefert, zugleich von diesen ‚Diagnosen‘ Informationen und Inspirationen für ihre Weiterentwicklung erhalten kann. Auf beiden genannten Ebenen ergeben sich damit auch neue Anhaltspunkte, Anregungen und Irritationen für die Bearbeitung zivilisationstheoretischer Fragestellungen, ja für die Elaboration der Zivilisationstheorie im Ganzen. Teils schon klassische oder auch vergessene, teils mehr oder weniger aktuelle ‚Gegenwartsdiagnosen‘ können sozusagen sekundäranalytisch rekonstruiert und zugleich konstruktiv werden. Sie erscheinen durch die Zivilisationstheorie in einem neuen Licht und stellen diese Theorie in vielen Punkten in ein neues Licht. Denn diese ‚Diagnosen‘ haben im Allgemeinen direkte oder indirekte Sachbezüge zur Zivilisationstheorie129 oder können als zivilisationstheoretische ‚Aktionen‘ oder ‚Parallelaktionen‘ gelesen werden. Letzteres gilt z. B. für Ulrich Becks Individualisierungstheorie (vgl. Treibel 1996), für Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1997), für Richard Sennetts „flexiblen Kapitalismus“ (2000) oder für Jürgen Links „normalistische“ Gesellschaft (1997). Derartige (diverse) ‚Gegenwartsdiagnosen‘ lassen sich in der und mit der klassischen 128 Ich würde daher im Unterschied zu Schimank (vgl. 2000: 9) prinzipiell keine ‚Aktualitätsgrenze‘ von ‚Gegenwartsdiagnosen‘ ziehen und diesbezüglich die Grenze erst recht nicht bei irgendeinem Jahrzehnt setzen (wie Schimank es in seinem Sammelband über ‚Gegenwartsdiagnosen‘ tut. Er zieht die Grenze bei 1980). Grenzen dieser Art sind willkürlich. Eher machen große empirische Ereigniszäsuren einen Einteilungssinn. Im 20. Jahrhundert wäre das wohl z. B. das Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der Umschlag zu einer neuen Weltfiguration. 129 Dies ist z. B. der Fall‚ wenn generalisierter und wachsender Hedonismus, Narzissmus, Entsublimierung oder Subjektivismus, wenn die Ausbreitung von Formen von Selbststilisierung oder Lebensstilisierung oder auch (umgekehrt) progressiver Manierenverfall, Ritualverluste oder dergleichen konstatiert werden.
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Zivilisationstheorie zu einem soziologischen Gesamtbild sowohl von historischen Gesellschaften als auch von ‚Gesellschaftsgeschichten‘ bis zur Gegenwart zusammenführen. Sie sind aber auch regelmäßig in einem produktiven Sinne irritierend, weil sie in empirischer wie theoretisch-interpretativer Hinsicht vor Inkonsistenzen stellen und Fragen aufwerfen.130 Entsprechend ihrer theoretisch-empirischen Grundanlage („Doppelgleisigkeit“) kann sich der Realitätskontakt und erst recht der aktuelle Gegenwartskontakt der Figurationssoziologie nicht auf die Verarbeitung des ihr theorielogisch untergeordneten ‚Genres‘ der Gegenwartsdiagnosen beschränken, die in gewisser Weise ein hybrides Format zwischen Theorie- und Empiriearbeit darstellen, sondern muss immer auch (und kann vor diesem Hintergrund) darin bestehen, die eigene empirisch-analytische Arbeit voranzutreiben. Ich setze dazu in dem geplanten Folgeband an und versuche an verschiedenen Stellen – im Zusammenhang mit der Ausarbeitung allgemeiner (Figurations-)Theorie und der Verarbeitung aktueller Gegenwartsdiagnosen – empirisch-analytische/diagnostische Bezüge auf die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ (bzw. ihre jüngere Vergangenheit) herzustellen. Es geht mir um die figurationssoziologische Untersuchung, Bewertung und Verortung bestimmter sozio-kultureller (Figurations-)Wandlungen und Trends, die unter Titeln wie McDonaldisierung (George Ritzer), Normalismus (Jürgen Link), Hybridisierung (Irmela Schneider), Eventisierung (Ronald Hitzler u. a.) oder Theatralisierung diagnostiziert worden sind. In der entsprechenden Arbeit, die auch so etwas wie eine Zivilisationsanalyse der ‚Gegenwart‘ intendiert, sollen Gebrauch und Entwicklung figurationstheoretischer Konzept- und Deutungsmittel Hand in Hand gehen.
130 Viele Befunde und Thesen scheinen nicht zusammenzupassen oder sogar gegensätzlich zu sein. So wird einerseits eine zunehmende kulturelle Normalisierung, Standardisierung und Hyperformalisierung („McDonaldisierung“, „Normalismus“) und andererseits Individualisierung, Pluralisierung, Informalisierung und (Multi-)Optionalisierung behauptet. Allerdings lassen sich diese scheinbaren Gegensätze, Widersprüche oder Ambivalenzen zumindest teilweise als Tatsachen im Gegenstandsbereich der soziologischen Beobachtung plausibilisieren. Sie sind dann also keine Fehler oder Defizite dieser Beobachtung oder Hinweise auf solche Fehler oder Defizite, sondern entwickelte oder sich entwickelnde Eigenschaften der historischen Situationen selbst.
4
Programmatische Orientierungen und Schwerpunkte figurationsoziologischer Theorie(n)bildung
4.1
Der programmatische Horizont der Figurationssoziologie: Theorietypen und Typen der Theoriebildung
Beweggrund und Begründung für die vorliegenden und geplanten Arbeiten mit und an Theorien ist also nicht etwa ‚Theorie als Passion‘131, sondern vielmehr ein eher praktisches Interesse an einer Theorie(weiter)entwicklung im Sinne einer synthetischen Soziologie, die einschlägiges Fachwissen verschiedener Art und Ordnung ‚aufhebt‘, verdichtet und dadurch auch neues Wissen erzeugt oder seine Erzeugung begünstigt. Konkret motivierender Hintergrund ist, wie gesagt, die in empirisch-analytischer Forschungsarbeit gewonnene Überzeugung von der Notwendigkeit und Nützlichkeit eines sachlich möglichst weitreichenden und komplexen konzeptuellen Instrumentariums im Rahmen einer theoretischen Perspektive, die sowohl ein solches Instrumentarium integrieren und seine Entwicklung fördern kann als auch selbst eine Art Forschungsinstrument bildet, indem sie die soziologische Gegenstandsbeobachtung, Analyse und analytische Informationsverarbeitung anregt und anleitet. Hintergrund ist (damit) auch die im selben Zusammenhang gewonnene Einsicht in die Mangelhaftigkeit einer Forschung, die sich in Bezug auf konkrete soziale Realitäten oder Aspekte von sozialer Realität132 von wesentlichen Kontexten ihrer Gegenstände und entsprechenden theoretischen Bezugsrahmen abschneidet: von historischen Prozessen und Zusammenhängen (Sozio- und Psychogenese), von der Struktur/Differenzierung der Gesellschaft, von der Logik des Feldes, den habituellen Dispositionen der Akteure usw. Das mit diesem Buch begonnene Unternehmen geht unter dieser Vorausset131 So der Titel einer Festschrift für Niklas Luhmann (vgl. Baecker (Hg.) 1987) – ein Titel, dessen ‚gemeinter Sinn‘ aus der hier vertretenen Perspektive der Figurationssoziologie symptomatisch und fraglich erscheint. Aus dieser Perspektive sollte Theorie keine ‚Passion‘ und erst recht kein Selbstzweck sein, sondern sich vielmehr mit Empiriearbeit, aus Empiriearbeit, für Empiriearbeit und/ oder als Gewinn von Empiriearbeit bilden. 132 In diesem Fall war es die Realität der Theatralität, mit der ich mich speziell im Rahmen eines Forschungsprojektes zu befassen hatte (vgl. Willems/Kautt 2003; Willems (Hg.) 2009a, b).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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zung – bei gleichzeitiger Offenheit und Skepsis gegenüber dem, was die Soziologie bisher an Gedanken-, Theorie- und Konzeptgut hervorgebracht hat133 – von einem Bestand von mehr oder weniger relevanten, überwiegend traditionsreichen Theorien und Konzepten aus. Deren Auswahl und Verarbeitung erfolgte nach Maßgabe unterstellter (und überprüfter) Vergleichbarkeit bzw. Anschlussfähigkeit vom Standpunkt der Figurationssoziologie aus, die sozusagen als theoretische ‚Philosophie‘ betrachtet und in Anschlag gebracht wurde und wird. Die entsprechend zu leistende (Theorie- und Begriffs-)Arbeit hat es schwerpunktmäßig mit Vergleichen, Unterscheidungen, Verbindungen, Vernetzungen und natürlich Abgrenzungen zu tun, und sie muss, weil sie sich in dem und mit dem Bezugsrahmen der Figurationssoziologie bewegt, immer auch ‚das Ganze‘ im Auge haben und d. h. immer wieder Fragen der Theoriearchitektur stellen und beantworten. Vor diesem Hintergrund geht es um eine spezifisch sensible und kritische Sondierung, Durchwanderung und gelegentlich Unterwanderung der theoretischen Diskurslandschaft, das heißt darum, Terminologien und Diskursordnungen, Definitionen und Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, fiktive oder überdramatisierte Originalitätsansprüche aufzudecken, konventionelle Sprachspiele zu unterlaufen, ‚vergessene‘ Ideen, Argumente und Gedankenlinien zu erinnern. Auch für diese (theoretisch-methodologische) Mentalität und Aktivität einer kritischen (Selbst-)Rekonstruktion und (Selbst-)‚Dekonstruktion‘, die der Idee und erst recht der Praxis einer Synthese soziologischen Wissens voraus-, parallel- und nachläuft, gibt Elias (und in seiner Tradition vielleicht am ehesten Bourdieu) das beste Beispiel ab.134 133 Meine diesbezügliche Skepsis geht allerdings nicht ganz so weit wie die Goffmans, der der Theoriebildung der Soziologie (aber auch der anderer Disziplinen) Zirkularität, Banalität und Inkompetenz attestierte (vgl. Goffman 1994a: 54 f.). Am Ende seines auch institutionell höchst erfolgreichen Soziologenlebens stellte er fest: „Ich habe kein Allheilmittel gegen die Krankheiten der Soziologie. Viele Formen der Kurzsichtigkeit behindern den Blick auf unseren Gegenstand. Nur eine Quelle dieser Blindheit und Voreingenommenheit als die wichtigste zu bezeichnen, wäre auf übertriebene Weise optimistisch. (…) Uns (Soziologen, H. W.) wird nicht so viel Glauben geschenkt und nicht so viel Gewicht beigemessen wie den Ökonomen in jüngster Zeit, aber wir können es fast mit ihnen aufnehmen, wenn es um das Versagen präzise berechneter Prognosen geht. Zweifellos sind unsere systematischen Theorien Stück für Stück mindestens so banal wie ihre, und uns gelingt es fast so gut wie ihnen, viele wichtige Variablen zu übersehen“ (ebd.: 54). 134 Es geht Elias damit letztlich auch – wiederum ähnlich wie Bourdieu – um ein in gewisser Weise zivilisatorisches Ziel, nämlich darum, über eine universale soziologische (menschenwissenschaftliche) Rationalitäts- und Wissenssteigerung die menschliche und menschheitliche Selbstbeobachtung, ‚Selbstverständlichkeit‘/(Selbst-)Einsichtsfähigkeit und damit auch Selbstkontrolle zu fördern. Die soziologische Aufklärung des Sozialen muss für ihn aber eben (bei dem zu seinen Zeiten wie auch heute noch gegebenen Stand der Dinge) immer auch und zuallererst Aufklärung der Soziologie durch sich selbst sein, Selbstaufklärung ihrer Praxis und ihrer Begriffs-, Theorie- und Prämissenbestände.
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Auf der Ebene der figurationssoziologischen Theoriebildung geht es um drei, anhand ihres Abstraktionsniveaus zu unterscheidende Theorietypen, die nicht unabhängig voneinander, sondern – locker – abhängig voneinander bestehen, entstehen und sich (weiter-)entwickeln: – Das abstrakteste, allgemeinste und auch sicherste Niveau erreicht die Figurationstheorie als Resultat figurationssoziologischer Forschungen, das eine komplexe Perspektive und ein Netzwerk von Konzepten (Figuration, Habitus, Valenz etc.) beinhaltet. Auf dieser Ebene einer allgemeinen Soziologie kann – trotz Elias’ Werk und bereits kohärentem Ansatz – in vielerlei Hinsicht immer noch erst von einem „Beginn“ (Kaesler) gesprochen werden. Entscheidend, charakteristisch und im Hinblick auf alternative (Groß-)Theorieströmungen, wie etwa die Systemtheorie, unterscheidend ist dabei, wie gesagt, dass dieser ‚Beginn‘ seinen Ursprung in einer großen empirischen Entdeckung hat, nämlich der Entdeckung des Zivilisationsprozesses. Dies ist der Ausgangspunkt und ein bleibender Bezugspunkt der allgemeinen figurationssoziologischen Begriffsund Theoriebildung. – Die theoretisch-empirisch bzw. empirisch-analytisch gewonnene Gegenstandstheorie, die Elias unter dem Titel „Prozeß der Zivilisation“ (Zivilisationstheorie) generiert und kontinuierlich betrieben hat, liegt auf einer zweiten, der nächst ‚unteren‘ Theorieebene, die der erstgenannten (also) logisch und historisch vorausgeht. Man könnte also von einem Interdependenzverhältnis zwischen der Zivilisationstheorie und der allgemeinen Figurationstheorie sprechen, die von jener speziellen Figurationstheorie letztlich nicht zu trennen ist. Die von Elias’ Arbeiten ausgehende Zivilisationstheorie ist in den geplanten Folgebänden von zentralem Interesse und soll auch an die allgemeine (Figurations-)Theorieund Konzeptarbeit angeschlossen werden. Daneben geht es darum, die Zivilisationstheorie unter sozusagen immanenten Gesichtspunkten fortzuentwickeln, zu erweitern und im Blick auf die ‚Gegenwart‘ (jüngere Vergangenheit) zuzuspitzen. Diesbezüglich schwebt mir neben neuartigen Empiriebezügen135 die Entwicklung und Weiterentwicklung einer aus verschiedenen (klassischen und aktuellen) Theoriekontexten zu bildenden synthetischen Zivilisationstheorie vor, wie sie Alois Hahn vorgeschlagen und bereits ansatzweise ausgearbeitet hat (vgl. Hahn 1982; 1984b;
135 Insbesondere im Kontext von relativ ‚zeitnahen‘ Mediatisierungsprozessen, medienkulturellen Entwicklungen und Wandlungen.
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Grundfragen und Grundlagen
Hahn/Kapp (Hg.) 1987).136 Darüber hinaus werden die Beziehungen zwischen Zivilisationstheorie(n) und Individualisierungstheorie(n) zu untersuchen und figurationssoziologisch zu ‚organisieren‘ sein. – Von dieser Ebene einer synthetischen (allgemeinen) Theoriebildung ist mit Schimank die Ebene der ‚Gegenwartsdiagnose‘ abzugrenzen. Sie liegt auf einem wiederum niedrigeren Abstraktionsniveau, und sie ist zeitlich und/oder sachlich enger gefasst, indem sie „eindeutig auf ein Verständnis des Heute zielt“ (Schimank 2000: 16) und/oder nur ganz bestimmte Sachaspekte des gesellschaftlichen Lebens ins Auge fasst. Beispiele dafür wären George Ritzers diagnostische These der McDonaldisierung der Gesellschaft (vgl. Ritzer 1995), Christoph Türckes These einer „erregten Gesellschaft“ (Türcke 2002) oder Jürgen Links „Normalismus“-These (vgl. Link 1997). Derartige diagnostische Aktivitäten und Beschreibungen und auch solche, die erst zu unternehmen sind, lassen sich in den Rahmen der allgemeinen Figurationstheorie und speziell vor den Hintergrund der Zivilisationstheorie/Individualisierungstheorie stellen, sei es konkretisierend und spezifizierend oder ergänzend. Allerdings ergibt sich aus der historischen Entwicklung in zunehmendem Maße selbst ein besonderer Bedarf an ‚gegenwartsdiagnostischer‘ Theoriebildung und Empiriearbeit neben der und unterhalb der Ebene der Zivilisationstheorie. Diese bleibt zwar in ihrer Bezogenheit auf mehr oder weniger langfristige Entwicklungen/Wandlungen ein bis heute unverzichtbarer und nützlicher Bezugsrahmen und gleichsam eine Folie auch für das Verständnis und die Analyse der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ und der ‚Gegenwartsmenschen‘, aber es gibt auch einen teils an ihr festzumachenden und teils über sie hinausgehenden theoretisch-empirischen Anschluss- und Ergänzungsbedarf, der analog der allgemeinen Figurationstheoriebildung (und in einem gewissermaßen spiegelbildlichen Verhältnis zu ihr) besteht und zu decken ist. Hintergrund dieses Bedarfs ist die zunehmende Geschwindigkeit, Verbreiterung, Vertiefung und Penetranz des sozio-kulturellen Wandels insbesondere der ‚westlichen Zivilisation‘ (vgl. Heitmeyer (Hg.) 1997), letztlich aber der ganzen ‚Weltgesellschaft‘, in der wir schon leben oder auf die wir uns rasant 136 Dabei ist, wie erwähnt, insbesondere an eine Reihe von Klassikern (und von ihnen begründete Forschungstraditionen) zu denken, die Elias nicht, nur lückenhaft oder kaum im Zusammenhang seiner zivilisationstheoretischen Arbeiten gesehen hat: Karl Marx, Max Weber, Arnold Gehlen, Michel Foucault, Erving Goffman u. a. m. Hahn kommt in diesem Zusammenhang das Verdienst zu, die zivilisationstheoretische Relevanz oder, wie im Fall von Weber oder Foucault, die zivilisationstheoretische Architektur dieser Klassiker erkannt und in ihrer Komplementarität entworfen zu haben.
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zubewegen. Dementsprechend, dem Tempo, der Universalität, der Komplexität der Veränderungen entsprechend, bedarf es permanent und auf immer breiterer Front ‚gegenwartsdiagnostischer‘ Aktivitäten. Jedoch kommt es aus der programmatischen Sicht der Figurationssoziologie darauf an, diese Aktivitäten in dem oben dargelegten synthetischen Sinne theoretisch-empirisch einzubetten, d. h. auf allen Ebenen Zusammenhänge herzustellen, statt in der Konzentration auf die jeweilige ‚Gegenwart‘ Zusammenhänge auszublenden oder abzuschneiden. Die Verbindung von Zivilisations- und Individualisierungstheorie(n) spielt dabei im Blick auf die jüngere Gesellschaftsgeschichte eine regelrechte Schlüsselrolle.
4.2
Grenzen, Probleme und Arbeitsaufträge der Figurationssoziologie
Den Ansatz von Elias, die Architektur und das Koordinatensystem seines Denkens für bahnbrechend und richtungweisend zu halten ist also nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite erweist sich Elias’ Soziologie auch jenseits von Zivilisations- und Individualisierungstheorie in einer Reihe von Hinsichten nicht nur als anschluss-, zusammenschluss- und aufschlussfähig, sondern auch als anschluss- und aufschlussbedürftig. Dies gilt mit Konsequenzen für das Verständnis und die (Weiter-)Entwicklung seiner Theorien schon und speziell hinsichtlich seiner geistigen Wurzeln und Nachbarschaften (vgl. Rehberg (Hg.) 1996). Elias selbst hat die Quellen und genetischen Spuren seiner Soziologie (Marx, Simmel, Weber, Mannheim usw.) in zentralen Bereichen kaum oder jedenfalls an heutigen Maßstäben gemessen nicht hinreichend expliziert.137 Wichtiger ist hier, dass er relevante Teile der ihm sachlich und/oder gedanklich-theoretisch benachbarten soziologischen Diskurse, auch die, die wie die Bourdieu’sche Soziologie seiner eigenen Arbeit sehr nahe stehen, fast vollständig ignoriert oder jedenfalls kaum thematisiert hat. Die behauptete theoretische und theoriestrategische (Synthese-)Leistungsfähigkeit des Elias’schen Ansatzes muss und soll also auch sozusagen gegen Elias, Defizite der Elias’schen Arbeiten und des Elias’schen Arbeitens kompensierend, in Anspruch genommen werden. In erster Linie geht es dabei um Rezeptions-, Reflexions- und Synthesedefizite auf der theoretischen Ebene. Denn, so schreibt Claessens, Elias „las zwar und nahm auch auf, aber er las zu lange schon zu selbstbezogen, und er nahm zwar auf, aber nur selten an. In seinem Werk fand nur an137 Eine Ausnahme (die klarste Ausnahme) bildet die Freud-Rezeption. An Freud schließt Elias immer wieder auch terminologisch ausdrücklich oder unübersehbar deutlich an.
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Grundfragen und Grundlagen
deutungsweise ein Diskurs mit den Hauptströmungen der Soziologie statt, wie bezeichnenderweise ein Werk von Wallmer/Pohle/Funke heißt, in dem er nicht erwähnt wurde“ (Claessens 1996: 149; Hervorheb. im Orig.). So gab es also eine schädliche Ignoranz in zwei Richtungen.138 Und was die allgemeine soziologische Theorieentwicklung betrifft, so muss man hinzufügen: auch und erst recht nach Elias’ Tod im Jahre 1990 ist sie – von zu behandelnden Ausnahmen abgesehen – eher an den Möglichkeiten seines Ansatzes vorbeigegangen, als sie sich systematisch anzueignen und zu Nutze zu machen. Bei aller Wahrnehmung und Anerkennung, ja Huldigung von Elias gilt im Grunde bis heute, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod, was Claessens vor etwa 15 Jahren konstatiert hat: „dass eine eigenartige Abstinenz gegenüber Elias’ Denkansätzen zu bemerken ist“ (ebd.: 137). Ihre Gestalt und ihre Bedeutsamkeit für die theoretische (und methodologische) Soziologieentwicklung ist jedenfalls in weiten Kreisen der Soziologie immer noch nicht wirklich erkannt und anerkannt worden. Zu den immanenten Problematiken oder Defiziten von Elias’ (Figurations-)Soziologie gehören neben fehlenden oder unscharfen Selbstpositionierungen und neben Ignoranzen im soziologischen Theorien-Feld Unbestimmtheiten und (deswegen) Unklarheiten von Grundbegriffen. In die Reihe der klärungsbedürftigen Begriffe (und Gegenstandsverständnisse) ist auch der vielleicht wichtigste figurationssoziologische Begriff zu stellen, nämlich der Figurationsbegriff selbst. Er wird zwar von Elias (1981: 141) bewusst als „einfaches begriffliches Werkzeug“ deklariert und offen gehalten, um möglichst flexibel und sozusagen kontextsensitiv brauchbar zu bleiben, aber seine Vielseitigkeit als sozialer Beziehungs-, Konstellations-, Struktur- und Prozessbegriff, der in jeder seiner ‚Dimensionen‘ ein breites Spektrum von Phänomenen umfasst, geht auch mit einer gewissen Vieldeutigkeit einher, zumal der Begriff nicht nur theoretisch unterreflektiert ist, sondern auch in einer Vielzahl von konkreten Argumentationskontexten in Erscheinung tritt, die ihn jeweils in besonderer Weise ‚definieren‘. Ähnliches gilt für den ebenfalls zentralen Habitusbegriff von Elias (vgl. 1980a, b; 1999), dessen Bedeutungen und (damit) Potenziale – auch die spezifisch figurationssoziologischen Bedeutungen und Potenziale – weder in sich (sozusagen werk- und ansatzimmanent) noch in ihren soziologisch-diskursiven Bezüglichkeiten und Anschlussfähigkeiten (längst nicht nur in Richtung Bourdieu) hinreichend geklärt sind. Problematisch und zu problematisieren ist auch, dass Elias nur ansatzweise ausgearbeitete Begrifflichkeiten und Perspektiven für fraglos zentrale Aspekte und Bereiche der modernen (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft bereitstellt: Medien/Massen138 Man kann sagen, dass Elias nicht nur (lange Zeit) ignoriert wurde, sondern auch ignoriert hat.
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medien (heute natürlich auch Computer und Internet)139 und – vom Staat abgesehen – formale (Groß-)Organisationen gehören zu den von Elias gerade auch in konzeptioneller und konzeptueller Hinsicht zu wenig beachteten und berücksichtigten Phänomenen (vgl. Breuer 1996).140 Diesbezüglich wird man vermuten können, dass Elias’ Denken (und das seiner ‚Schüler‘) stark und bleibend vom (biographischen ‚Ur-‘)Modell der ‚höfischen Gesellschaft‘, also vom Modell einer persönlichen Beziehungs- und Interaktionswelt, geprägt war.141 Die moderne Gesellschaft ist aber ganz offensichtlich (und auch Elias würde dem prinzipiell kaum widersprechen) hauptsächlich und zunehmend eine Organisations- und Mediengesellschaft, der durch die entsprechende Einstellung der (Figurations-)Theoriebildung und der empirisch-analytischen Arbeit Rechnung getragen werden muss (und kann).142 Dies gilt umso mehr, als viel dafür spricht, dass diese Gesellschaft bei aller historischen Verwurzelung und Kontinuität (etwa höfischer Verhaltensmuster) eben wegen jener sozialen Transformationen neue Arten von Zivilisiertheit/Zivilisation und Individualität/Individualisierung hervorbringt. Jedenfalls wird man die Prozesse der Zivilisation und der Individualisierung heute mehr denn je und wesentlich im Zusammenhang mit medialen und organisationalen Strukturen und Prozessen sehen müssen. Auch auf dem soziologischen Hauptfeld des Wissens, das Elias sehr wohl kontinuierlich und intensiv bearbeitet hat, reicht seine Soziologie damit nur begrenzt weit: Wissenssoziologie – Figurationswissenssoziologie – muss oder müsste heute mehr denn je Organisations- und Medienwissenssoziologie sein. Die Elias’sche (Wissens-)Soziologie wird aber auch darüber hinaus den Strukturwandlungen des Wissens und der Formationsbedingungen 139 Sie sind in der im weitesten Sinne figurationssoziologischen Denk- und Forschungstradition überhaupt eher vernachlässigt worden. 140 Es ist ja mit unübersehbarem Recht in Bezug auf die moderne und erst recht die heutige Gesellschaft von Mediengesellschaft und Organisationsgesellschaft die Rede. 141 Auch Elias’ in mancherlei Hinsicht innovative und paradigmatische Untersuchung von „Etablierten und Außenseitern“ (vgl. Elias/Scotson 1990), die sich auf seine zeitgenössische Gesellschaft (um 1960) bezieht, bleibt als ‚Gemeindestudie‘ auf der sozialen Figurationsebene, der auch die ‚höfische Gesellschaft‘ zuzuordnen ist. Ja diese ‚Gesellschaft‘ und jene Gemeinde ähneln sich durchaus stark, was z. B. die Zahl der Akteure, die Räumlichkeit ihres Lebens, die Arten der sozialen Situationen und Anlässe u. a. m. betrifft. 142 So wie Elias den Sozialwissenschaften bzw. der Soziologie ein ‚Historisierungsdefizit‘ bzw. eine Gegenwartsfixierung attestiert hat, so wäre ihm also ein gewisses, wenn auch kein grundsätzliches Defizit in puncto Modernität/Modernisierung und Modernitäts-/Modernisierungstheorie zu attestieren – insbesondere, was die großen gesellschaftlichen Figurationen und Figurationsprozesse betrifft. Dieses Defizit ist vermutlich auch ein zivilisationstheoretisch relevantes. Jedenfalls drängen sich hier nicht zuletzt auch zivilisationstheoretische Fragen auf, z. B. Fragen nach der zivilisatorischen (oder auch anti- oder dezivilisatorischen) Bedeutung von Medienkulturen und medialen/ medienbezogenen Sozialwelten.
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Grundfragen und Grundlagen
des Wissens – und d. h. auch dessen enormer Formendifferenzierung im Zuge des historischen „Figurationsprozesses“ (Elias) – nur begrenzt gerecht.143 Hier gibt es gerade im Blick auf die empirische Entwicklungs- und Wandlungsdynamik der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ einen offensichtlichen konzeptuellen und analytischgegenstandstheoretischen Entwicklungs- und Differenzierungsbedarf 144. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Elias nicht nur auf den Schultern von (gerade auch wissenssoziologischen) Riesen steht145, sondern auch ein Riese war, auf dessen Schultern sich mittlerweile andere gestellt haben. Dazu gehört mit Bourdieu auch mindestens ein weiterer Riese, dessen Werk gerade im (Interdependenz-)Verhältnis zur Elias’schen (Wissens-)Soziologie noch keineswegs hinreichend aufgearbeitet, bewältigt oder ausgeschöpft ist.146 Es geht im Folgenden also weder um soziologische Denkmalpflege147 noch darum, sich an dem traditionellen soziologischen Sekten-, Schulen- und Vereinswesen (weiter oder wieder) zu beteiligen. Im Gegenteil ! (Sub-)Disziplinäre und doktrinäre Grenzziehungen, Selbstbegrenzungen und entsprechende begrifflich-theoretische Konstruktionen/Fiktionen/Mythen148 sollen gerade unterlaufen
143 Man denke hier etwa an jüngere (Prozess-)Richtungen und Dynamiken der sozio-kulturellen Differenzierung und Spezialisierung, für die Begriffe wie Spezialkultur oder Verszenung stehen (vgl. Schulze 1997; Hitzler 1999). Sie hängen wiederum mehr oder weniger eng mit (Internet-)Mediatisierungsprozessen zusammen, die teils ganz neue, teils neu formierte Figurationen – auch des Wissens – mit sich bringen. 144 Er wird nach meiner jetzigen Planung schwerpunktmäßig in dem übernächsten Folgeband gedeckt, wo die wichtigsten ‚mikro-‘ und ‚makrosoziologischen‘ Wissenssoziologien (von Goffmans Rahmentheorie bis Foucaults Diskurstheorie) im Kontext und als Kontext der Figurationssoziologie bzw. der Figurationswissenssoziologie zu behandeln und zu verarbeiten sind. 145 Um hier nur die wohl wichtigsten zu nennen: Karl Marx, Max Weber, Georg Simmel (in mancher Hinsicht vor allem Georg Simmel), Sigmund Freud, Karl Mannheim. 146 Ich bin also, um spätestens an dieser Stelle einem zu erwartenden Missverständnis, wenn schon nicht vorzubeugen, so doch mindestens zu widersprechen, bei allem Respekt vor dem Elias’schen Werk und Denken kein ‚Elias-Schüler‘, und zwar nicht nur aus den genannten sachlichen Gründen. Zwar bin ich wohl auch Schüler (von Lehrern), aber wenn ich ein wirklicher Schüler von Elias wäre, dürfte ich mich nicht als solchen betrachten und verhalten, denn Elias hat gelehrt und mehr noch durch sein Werk gezeigt, dass Schulenbildungen (und damit Schülerbildungen) als soziale Prozesse, dem sozial- oder menschenwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt eher im Wege stehen, als dass sie ihn fördern (vgl. Elias 1972; 1978). 147 Elias hat sie in fortgeschrittenem Alter gerade auch im Hin- und Rückblick auf sich selbst entschieden abgelehnt: „Mein Anliegen ist es, die Fackel weiterzugeben, also auch den Mut, den Autoritäten der vergangenen und der eigenen Zeit zu widerstehen. Ich möchte nicht selbst zur Autorität werden, an die man sich klammert“ (2006c: 506). 148 Elias hat sie schon in seinen frühen zivilisationstheoretischen Studien, aber auch darüber hinaus vielfach, z. B. in seinen späteren Aufsätzen zum Begriff des Alltags (1978) und zum Verhältnis von „Soziologie und Psychiatrie“ (vgl. 1972) oder auch in seiner Arbeit über „Etablierte und Außensei-
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oder aufgelöst werden, und gleichzeitig sollen Möglichkeiten einer intra- und interdisziplinären Verbindung und Bündelung zu Gunsten besserer soziologischer Verständnisse gefunden werden. Die hier dokumentierten oder angekündigten Bemühungen bewegen sich also zwar zwangsläufig an bestimmten Punkten und über bestimmte Wege der allgemeinen Theorienlandschaft, sind aber systematisch nicht auf theoretische Distinktion, Exklusion, Schließung und Distanzierung gerichtet, sondern umgekehrt auf Identifikation, Inklusion, Integration und Elaboration. Zwar können und dürfen die strukturellen Differenzen und die teilweise weitreichenden und tiefgreifenden Inkompatibilitäten der diversen soziologischen Theorieströmungen nicht ignoriert werden, aber auch sehr profilierte und distinguierte Theorieansätze und Denkstile können im Sinne und im synthetischen Geist der Figurationssoziologie gleichsam angesteuert und in der Absicht, von ihnen und mit ihnen zu lernen, ins Auge gefasst werden. So lassen sich im Folgenden durchaus bedeutsame Berührungspunkte, Parallelen und Komplementaritäten teils mit noch kaum bekannten oder (wieder) zu entdeckenden Nachbarn149 und teils mit offensichtlichen Konkurrenten (re-)konstruieren: mit der Philosophischen Anthropologie, mit der Systemtheorie Luhmanns150, mit Rational-Choice-Ansätzen, mit den Cultural Studies, mit Lebenswelt-Ansätzen und sogar mit Parsons’ Strukturfunktionalismus oder der kritischen Theorie von Horkheimer bis Honneth. Die Figurationssoziologie wird hier also als ein buchstäblich grundlegender und in verschiedener Richtung besonders entwicklungsfähiger, aber auch Theorieentwicklungen befähigender Typus von Soziologie – von allgemeiner und spezieller (Gegenstands-)Soziologie – betrachtet. Als soziologische Gesamtvision eröffnet sie in dem besagten Sinne eine theoriestrategische Perspektive und einen entsprechend originären und komplexen Zugang zu allen Gegenständen der Sozioter“ (vgl. Elias/Scotson 1990), ‚gejagt‘ bzw. fundamentalkritischer Reflexion unterzogen. Ähnlich denkt und handelt Bourdieu (als Theoriepraktiker und theoretischer ‚Mythenjäger‘). 149 Zum Beispiel (und ganz besonders) Arnold Gehlen mit seiner historischen Anthropologie und speziell mit seiner (Zivilisations-)Theorie der Technik und der technischen Entwicklung (vgl. Gehlen 1957; 1961; 1974). 150 An verschiedenen Stellen wird es sich – sozusagen gegen Elias’ Meinung und ausdrückliche Stellungnahme – aufdrängen, nicht nur mit dem Begriff des Systems, sondern auch darüber hinaus mit systemtheoretischen Begriffen und Vorstellungen, wie etwa dem Konzept der Semantik, zu arbeiten. Eine in dem geplanten Folgeband wichtig werdende theoretische Gemeinsamkeit oder jedenfalls Ähnlichkeit zwischen Systemtheorie und Figurationssoziologie liegt in der jeweils zentralen Konzeption sozialer bzw. funktionaler Differenzierungsprozesse sowie in einer korrespondierenden Vorstellung von relativ autonomen gesellschaftlichen (Sinn-, Seins-, Handlungs-)Bereichen und Ordnungsrahmen (Subsysteme, Felder, Verflechtungssphären). Ein zentraler Antagonismus ergibt sich dagegen aus dem figurationssoziologischen/habitustheoretischen Verständnis des Individuums bzw. des individuellen Akteurs.
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logie – auch zu den Wissenschaften und (damit) zur Soziologie als Gegenstand. Wissenschaft (Soziologie) kann aus der hier propagierten Perspektive sowohl als soziale Realität/Praxis wie als (Theorie-)Diskursstrom/Semantik umfassend und differenziert rekonstruiert werden. Auch insofern kann die Figurationssoziologie (wiederum im speziellen Zusammenspiel mit den Ansätzen Foucaults und Bourdieus) als eine besonders vielversprechende Art von Soziologie gelten. Sie bietet damit derzeit vielleicht die besten Chancen, sowohl zur Selbstentwicklung der soziologischen Theorie als auch – und gleichzeitig – zur Selbstaufklärung der Soziologie als Fach, Diskursgeschichte und Praxis, einschließlich von Theorie als Praxis, beizutragen. Mit dem vorliegenden Buch umreiße und beginne ich also – in allem Ernst und in aller Bescheidenheit – vor allem einen komplex angelegten Versuch, die soziologische Figurationstheorie in verschiedenen Richtungen (weiter) zu entwickeln und als Grundlage einer synthetischen Theorieentwicklung zu verwenden. Die geplanten Folgebände sollen und müssen entsprechend aufeinander aufbauen. Sie stehen zwar jeweils für sich selbst, müssen aber auch immer wieder auf gewesene und kommende Arbeiten referieren. Der geplante zweite Band spielt dabei insofern eine besondere Rolle, als mit ihm so etwas wie der Rahmen oder die basale Struktur der soziologischen Figurationstheorie erarbeitet und ausgebaut werden soll. Darauf gründen sich daran anschließende Untersuchungen, die diese Theorie als Kontext und im Kontext weiterer soziologischer Theoriediskurse behandeln und/oder sich auf empirische Phänomene beziehen – mit den erarbeiteten Theoriemitteln und mit Theoriezielen.151
151 Dementsprechend liegt der Schwerpunkt des zweiten Bandes (gegenwärtig geplant unter dem Titel oder Untertitel „Synthetische Soziologie 2“) zunächst auf eher allgemeiner begrifflich-theoretischer Arbeit. In den darauf folgenden Bänden soll diese Arbeit systematisch fortgesetzt, aber eben stärker im (figurationssoziologischen) Sinne einer theoretisch-empirischen „Doppelgleisigkeit“ (Elias 1978) betrieben werden, thematisch insbesondere im Hinblick auf mediale und medienbezogene Felder bzw. Medienfigurationen.
Teil II Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur einer synthetischen Soziologie(-Entwicklung)
Der geplante Folgeband (Band 2) umfasst drei Teile, die – in jeweils schwerpunktmäßigem Bezug auf die Konzepte und theoretischen Komplexe Figuration/Feld/ Netzwerk1 (1. Teil), Habitus/Gewohnheit/Mentalität2 (2. Teil) und Sozialisation/Zivilisation3/Individualisierung4 (3. Teil) – aufeinander aufbauen und zusammen eine Einheit darstellen, wenn auch keine abgeschlossene oder überhaupt abschließbare Einheit. Sie besteht einerseits in der herauszuarbeitenden Identität der Figurationstheorie, die auf die konzeptuelle Triade Figuration – Habitus – Zivilisation als theoretische Kernstruktur zurückgeführt wird, und andererseits in der entsprechenden Angliederung und Eingliederung von vergleichbaren Konzepten und Theorien:
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Der Figurationsbegriff kann in diesem Zusammenhang sozusagen als Oberbegriff fungieren, und die Figurationstheorie als ‚Obertheorie‘, die ‚Feld‘ und ‚Netzwerk‘ inkludiert. Zur Einführung in den sachlichen und begrifflichen Zusammenhang von Figuration und Feld dienen wohl (immer noch) am besten Elias’ klassische Werke über die „Höfische Gesellschaft“ (1983) und „Über den Prozeß der Zivilisation“ (1980a, b). Den Figurationsbegriff selbst hat Elias allerdings, der Logik seiner Art von Forschung entsprechend, erst in seinen späteren Arbeiten soziologisch-grundbegrifflich ausgeführt (vgl. z. B. Elias 1981; 1990; 1999). In das Spektrum der diversen Netzwerkansätze führen ein: Stegbauer/Häußling (Hg.) (2010). Mit diesem Begriffs- und Theorienkomplex verhält es sich ähnlich wie mit dem erstgenannten. Hier kann der Habitusbegriff als ‚Oberbegriff ‘ und die Habitustheorie als ‚Obertheorie‘ fungieren. ‚Gewohnheit‘ und ‚Mentalität‘ sind darin inkludiert oder inkludierbar. Zur Einführung in den Habitusbegriff bzw. in den Zusammenhang von Habitus und Gewohnheit eignen sich unter anderen Bohn (1991), Krais/Gebauer (2008) und Willems (1997a, b). Vgl. zur Mentalitätsforschung, speziell in Bezug auf die Habitustheorie und Elias, Rehberg (1996a: 9 ff.) und van Dülmen (1996). Der figurationssoziologische Begriff der Zivilisation schließt den Begriff der Sozialisation (von Individuen) ein. Statt von Sozialisation kann man auch – und Elias tut dies gelegentlich – von „individueller Zivilisation“ oder „individueller Zivilisierung“ sprechen. Die Besonderheit des damit indizierten Elias’schen (und figurationssoziologischen) Blicks liegt in erster Linie darin, Sozialisation als individuellen Lebens-(Lern-)Prozess im Zusammenhang mit dem historischen Gattungs-/Gesellschafts-(Lern-)Prozess zu sehen, in den er eingebettet ist. Zur Einführung in die Zivilisationsforschung und Zivilisationstheorie eignen sich unter vielen anderen Arbeiten die von Treibel (2008), Treibel/Kuzmics/Blomert (Hg.) (2000) und Korte (1999). Vgl. zur natürlich noch viel breiteren Sozialisationsforschung bzw. Sozialisationstheorie einführend Hurrelmann/Grundmann/Walper (2008). Individualisierung wird im Folgenden sowohl als langfristiger historischer Prozess als auch als relativ kurzfristiger individueller Lebensprozess verstanden – als Prozess, der sich mit dem Zivilisations- bzw. individuellen Zivilisierungsprozess einerseits überschneidet und andererseits sozusagen dessen Gegenseite bildet (s. u.). Das diesbezügliche Elias’sche ‚Hauptwerk‘, „Die Gesellschaft der Individuen“ (1999), verfolgt diese Entwicklungen bis in die jüngere Vergangenheit der ‚Gegenwartsgesellschaft‘.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
– Netzwerk und Feld5 auf der Ebene der als soziale (Beziehungs-, Verflechtungs-, Praxis-)Ordnung verstandenen Figuration, – Gewohnheit und Mentalität auf der Ebene des Habitus, – Sozialisation auf der Ebene der als historischer Prozess verstandenen Zivilisation und – Individualisierung als Sonder- und Parallelentwicklung von Zivilisation. Dieser Band, der insgesamt eher grundbegrifflich-theoretisch ausgerichtet ist, aber auch immer wieder Empiriebezüge herstellt, bildet wiederum die Grundlage für die geplanten weiteren Untersuchungen und Ausarbeitungen der soziologischen Figurationstheorie(n). Die grundbegrifflich-theoretische Schwerpunktsetzung des zweiten Bandes ist also auch durch das Gesamtprogramm meines Unternehmens begründet, das in weiteren Bänden parallel zu einer weiteren Verfolgung des Theorieprojektes stärker empirisch-analytisch akzentuiert sein soll.
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Verwendet und reflektiert wird der Feldbegriff hier natürlich auch und insbesondere im Sinne Bourdieus, der ihn bekanntlich neben und zusammen mit dem Habitusbegriff ins Zentrum seiner Sozialtheorie gerückt hat (vgl. Bourdieu 1982; 1987). Beide Begriffe tauchen in einer mit Bourdieus Versionen durchaus vergleichbaren Bedeutung aber auch schon und zentral bei Elias auf, der sie zwar bei weitem nicht so differenziert (aber auch bei weitem nicht so redundant) ausformuliert wie Bourdieu, dafür aber im Unterschied zu Bourdieu in ihrer Bezogenheit aufeinander systematisch und in langfristiger Perspektive historisiert (s. u.).
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Figuration/Feld/Netzwerk
Der geplante Folgeband beginnt in systematischer Absicht mit grundlegenden Explikationen und Spezifikationen des Figurationsbegriffs, der figurationssoziologischen Perspektive und der (sozial-)theoretischen Grundpositionen der Figurationssoziologie. Sie wird vor diesem Hintergrund in theoretischen ‚Parallelaktionen‘ einerseits auf Bourdieus Feld/Habitus-Ansatz (vgl. Bourdieu 1976; 1982; 1987) und andererseits auf Netzwerkansätze und die Untersuchung der sich abzeichnenden oder bereits entwickelten (globalen) „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2001) bezogen. Das Figurationskonzept verstehe ich in diesem Zusammenhang als Metakonzept, das sowohl den Bourdieu’schen Feldbegriff 6 als auch den Netzwerkbegriff zu inkludieren vermag, das aber auch durch diese Konzepte, die ihrerseits in einem Komplementärverhältnis zueinander zu sehen sind, spezifiziert werden kann. Hier wie in späteren Teilen meiner Arbeit geht es im Sinne des dargelegten Programms vor allem um einen auf Integration und Synthese zielenden Vergleich von zentralen, architektonischen Theoriekomponenten und Schlüsselkonzepten. Hauptsächlich soll gezeigt werden, dass und inwiefern die Figurationssoziologie als eine Art Grundlagentheorie fungieren kann und (d. h.) worin fundamentale Gemeinsamkeiten (Kontinuitäten) und Komplementaritäten zwischen dieser Soziologie und den genannten Verwandten bestehen. Dies geschieht, was Bourdieu betrifft, hauptsächlich im Bezugsrahmen eines Netzwerks von Schlüsselbegriffen, die sozusagen Knotenpunkte einer Form von Soziologie darstellen, die Elias und Bourdieu jedenfalls über eine weite Strecke im Grunde gemeinsam im Sinn haben: Figuration, Feld (Feld als Figuration), Habitus und Kapital (Habitus als Kapital) sind in erster Linie zu nennen. Die anschließenden Überlegungen konzentrieren sich auf die in den sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Diskursen – gerade auch den neueren und ganz aktuellen – immer wichtiger werdenden Netzwerkansätze, die der Figurationssoziologie bzw. dem Bourdieu’schen (Feld/Habitus-)Ansatz bei aller Hetero6
Dieser Begriff ist eigener Weise figurationssoziologisch und darüber hinaus in einem allgemeineren Sinne differenzierungstheoretisch zu verstehen. Die damit gemeinten relativ autonomen ‚Sphären‘ der sozialen Wirklichkeit, des Daseins, der Praxis, des Handelns entsprechen auf der Ebene der Gesellschaft im Prinzip den Luhmann’schen ‚Subsystemen‘ (Wirtschaft, Politik, Kunst, Recht, Religion, Erziehung, Medizin, Massenmedien usw.).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
genität der theoretischen (zum Teil auch atheoretischen) Grundorientierungen zumindest in bestimmten Grundverständnissen sozialer Ordnung und Praxis mehr oder weniger nahe stehen. Netzwerkansätze drängen sich der hier intendierten Theorieunternehmung in rekonstruktiver wie in (theorie-)konstruktiver Hinsicht von Anfang an auf, da auch schon der Grundgedanke des figurationssoziologischen (und feldsoziologischen) Gegenstands- und Selbstverständnisses auf soziale Beziehungen und Ordnungen von Beziehungen (Beziehungskomplexen), auf „Interdependenzen“, „Handlungsketten“, Verflechtungen und „Verflechtungszusammenhänge“ (Elias 1981; 1980a, b), eben im Ansatz auf das gemeinhin mit Netzwerk Gemeinte, hinausläuft. Die Verwandtschaft und Verknüpfbarkeit zwischen Figurationssoziologie bzw. Feld/Habitus-Ansatz einerseits und Netzwerkansätzen andererseits ist gleichwohl bislang nicht oft gesehen, geschweige denn soziologisch nennenswert ausgearbeitet worden. Es bietet sich hier außerdem (und gerade deswegen) an, Netzwerkansätze und Figurationstheorie auf eine (ihre) gemeinsame geistige (Haupt-)Wurzel zurückzuführen, nämlich auf die (Beziehungs-)Soziologie von Georg Simmel, der den Netzwerkbegriff bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in einem terminologisch und theoretisch anspruchsvollen Sinne verwendet hat, der vor allem aber in der diesem Begriff wie der Figurationssoziologie entsprechenden Grundsicht des Sozialen als geistiger Vater gelten kann (vgl. Simmel 1992). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch besser der oben thematisierte figurationssoziologische Geist bestimmen, der in kontinuierlichen Variationen von Simmel über Elias und Bourdieu bis zu den Netzwerkansätzen führt und einen Kontext darstellt, innerhalb dessen die verschiedenen Varianten dieses Geistes voneinander lernen und weiterführende Synthesen bilden können. Darüber hinaus ist in diesem begrifflich-theoretischen Kontext sozusagen die historische und aktuelle Empirie, nämlich die Entwicklung der modernen (Welt-) Gesellschaft, von grundlegender, das ganze figurationssoziologische Unternehmen stützender und zugleich herausfordernder Bedeutung. Die Realität der (Welt-) Gesellschaft und der (Welt-)Vergesellschaftung hat sich offensichtlich – ganz im Sinne von Elias’ Vorstellung vom historischen Prozess als zunehmender sozialer Differenzierung und Verflechtung (Figuration) – zunehmend auf die Logik der Vernetzung und die Sozialform(en) des Netzwerks hinbewegt und ist nach Einschätzung vieler sozialwissenschaftlicher Beobachter immer dynamischer und massiver dabei, sich auf diese Logik hinzubewegen. So kommt Manuel Castells im ersten Teil seines monumentalen Werks über das „Informationszeitalter“ zur Feststellung des „Aufstiegs der Netzwerkgesellschaft“ und zu dem Schluss, es lasse „sich als historische Tendenz festhalten, dass die herrschenden Funktionen und
Figuration/Feld/Netzwerk
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Prozesse im Informationszeitalter zunehmend in Netzwerken organisiert sind. Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich“ (Castells 2001: 527). Auch wenn Castells Elias (wie auch Bourdieu) in diesem Zusammenhang nicht einmal zitiert, liegt diese Schlussfolgerung genau in der Logik dessen, was dieser (schon in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts) ‚historischgesellschaftspsychologisch‘ ableitet und theoretisch-empirisch erhellt: Es sind zunehmend (welt-)gesellschaftsumfassende und (welt-)gesellschaftsprägende wie auch das individuelle Dasein und Werden erfassende und verfassende soziale „Verflechtungszusammenhänge“ (Elias), Formationen, Transformationen, Neu- und Umformationen von Netzwerken sozialer Beziehungen und damit von Identitäts-, Interaktions-, Handlungs- und Erlebnismustern, für die es möglicherweise keinen besseren Grundbegriff als den der Figuration gibt. Die überwiegend eher oder sogar gänzlich unhistorischen, weder in soziogenetischen (gesellschaftstheoretischen, gesellschaftsgeschichtlichen) noch in psychogenetischen Kategorien angelegten Netzwerkansätze können durch diesen Begriff und die Figurationssoziologie im Ganzen jedenfalls einen instruktiven (Meta-) Rahmen gewinnen, der ihre gedankliche und argumentative Anlage und auch ihre Ergebnisse in einem neuen (weiteren und helleren) Licht erscheinen lässt. Umgekehrt lassen sich diverse Netzwerkansätze und empirische Netzwerkstudien nicht nur figurationssoziologisch lesen, instruieren und reorganisieren, sondern sie liefern auch in empirischer wie theoretischer Hinsicht figurationssoziologisch informative Aufschlüsse über diverse (Feld-, Medien-, Organisations-)Figurationstypen und Figurationsstrukturen der ‚Gegenwart‘ und der jüngeren Vergangenheit – Habitus- bzw. Mentalitätsaspekte eingeschlossen (vgl. z. B. Windeler 2007; Quandt 2007). In einem engen Zusammenhang mit der Figurationsthematik des Netzwerks, der Vernetzung und der ‚Vernetzwerkung‘ der (Welt-)Gesellschaft wie auch im Zusammenhang mit der anderen Figurationsthematik der Entwicklung (Ausdifferenzierung) sozialer Felder stehen die medientheoretischen und medienempiriebezogenen Überlegungen, die einen weiteren Schwerpunkt dieses thematischen Komplexes bilden. Dieser Schwerpunkt bezweckt mit Elias und Bourdieu, aber auch jenseits von ihnen, den konzeptuellen und empirisch-analytischen Einbezug von Figurationen, die ich als ‚Medienfigurationen‘ zusammenfasse, differenziere und differenziert betrachte, nämlich Massenmedien und Internet. In diesem Zusammenhang, der für das Verständnis moderner Soziogenese und Psychogenese (Habitusformation, Zivilisation, Individualisierung) fraglos von großer und zu-
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
nehmender Bedeutung ist (vgl. Willems (Hg.) 2008b; Willems (Hg.) 2009b), soll es neben einer allgemeinen figurationssoziologischen Einordnung der verschiedenen Medienformen und Medienpraxen hauptsächlich um den figurationssoziologischen bzw. figurationswissenssoziologischen An- und Zusammenschluss gegenstandstheoretisch bedeutsamer Begrifflichkeiten und Theorien gehen: Diskurs, kommunikative Gattung, kulturelles Forum, Bühne, Markt, Symbol, Image, symbolisches Kapital, Symbolverkäufer u. a. m. Bezogen und zu beziehen sind diese Beschreibungs- und Deutungsmittel zunächst auf die spezifisch ‚gepolten‘ Figurationen der Massenmedien(-kommunikation) bzw. (Massen-)‚Medientheatralität‘: die strukturellen, strategischen und praktischen Zusammenhänge von Produktion und Rezeption, Performanz und Wahrnehmung massenmedialer Kultur. An der Vielseitigkeit und Komplexität dieser Zusammenhänge zeigt sich exemplarisch die Notwendigkeit und Nützlichkeit nicht nur eines Instrumentariums komplementärer Konzepte und Konzeptsynthesen (wie Figuration, Feld, Habitus und Rahmen), sondern auch einer gesamtvisionären Forschungsperspektive, wie sie die Figurationssoziologie fordert und bietet. Eine in diesem Zusammenhang abschließende Betrachtung soll sich auf die Figuration(en) des Internets bzw. den Figurationsprozess7 der ‚Internetisierung‘ richten, der – natürlich – von zentraler Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung der Netzwerkgesellschaft 8 ist und der Netzwerkmetaphorik besonders nahe liegt. Figurationsbegriff und Figurationssoziologie – mitsamt den inkludierten Netzwerkansätzen – erweisen sich gerade auch in diesem Bereich, auf dieser sozialen Ordnungs- und Praxisebene als höchst ‚modern‘, wenn auch zugleich als spezifisch entwicklungsbedürftig.
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Vernetzungs- und Vernetzwerkungsprozess. Man könnte auch von einer Weltnetzwerkgesellschaft sprechen.
2
Habitus/Gewohnheit/Mentalität
Im zweiten Schritt der geplanten Entfaltung und Entwicklung der Figurationstheorie rückt der Habitusbegriff und rücken diverse habitusbegriffliche Traditionen vor dem allgemeinen Hintergrund der Figurationssoziologie und in Bezug auf direkte Komplementärbegriffe wie Figuration, Feld, Kapital und Zivilisation in den Mittelpunkt vor allem konzeptueller und (figurations-)theoretischer, aber auch empiriebezogener Überlegungen. Ich gehe dabei davon aus (und werde zeigen), dass der Habitusbegriff – auch in seinen zentralen substanziellen Gehalten – nicht erst durch Bourdieu9 zu einem Grundwissen in der Soziologie, ja zu einem Grundwissen der Soziologie wurde.10 Vielmehr handelt es sich bei dem hier fokussierten Begriffs- und Theoriegebilde um einen komplexen, elaborierten und kontinuier9
Bourdieu hat den Habitusbegriff bekanntlich innerhalb und außerhalb soziologischer Diskursgrenzen prominent gemacht und ihn zusammen mit dem Feldbegriff an die prominenteste Stelle seiner Theorie gerückt. Das prinzipielle Verständnis der Operations- und Funktionslogik von Habitus ist aber an keinem zentralen Punkt eine Erfindung oder Entdeckung Bourdieus. Wie ein Habitus funktioniert wird zwar von ihm (in einer nicht enden wollenden Reihe von Variationen) ausdrücklich reflektiert, findet sich aber im Kern schon bei Elias und anderen ‚Klassikern‘ (verschiedener Generationen) – teils ohne und teils mit dem Habitusbegriff – beschrieben. Besonders nennenswert sind diesbezüglich: Weber, Durkheim, Simmel, Foucault, Gehlen, Berger/Luckmann, Riesman und Goffman. Bourdieus Leistung liegt in diesem Zusammenhang eher in der gesellschafts- und praxistheoretischen Kontextierung und Relationierung des Habituskonzepts und der Habitusanalyse. 10 Am ehesten abzusehen ist hier von Luhmanns Systemtheorie, was damit zusammenhängt oder daran liegt, dass Luhmann (seine) Soziologie als Soziologie sozialer Systeme radikalisiert und die Frage nach dem Menschen, dem Individuum, der Psyche in gewisser Weise fallen lässt bzw. in die Zuständigkeit der Psychologie verweist (vgl. Luhmann 1984; 1997). Er vollzieht im Grunde genau jene gedankliche ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Soziologie und Psychologie, die Elias für einen systematischen soziologischen Irrtum hält und ablehnt. Zwar äußert sich Luhmann durchaus häufig zu den Begriffen Individuum/Individualismus, Person und Mensch (vgl. z. B. die Textzusammenstellung in Luhmann 2005), auch fehlt es bei ihm nicht an ‚Mikrostudien‘, die das Handeln von Menschen in Interaktionsbeziehungen thematisieren, insbesondere im Zusammenhang „moralischer Kommunikation“, aber gemeinsam ist Luhmanns Texten, dass sie die entlang sozio-kultureller Strukturen generierten Identitäten und speziell die Motivlagen von Individuen nicht als Ausgangspunkt oder eigenständigen ‚Faktor‘ der Erklärung von Sozialem/Gesellschaftlichem fassen. Allerdings steht Luhmann, wie ich in einer früheren Arbeit betont habe (vgl. Willems 1997a), in Sachen ‚Akteurverständnis‘ im Prinzip ganz auf der Seite von Goffman und dessen Annahme, dass Achtungskommunikation von zentraler Bedeutung ist, wenn Menschen auf ihresgleichen treffen. Von dieser habitustheoretisch formulierbaren Position aus lässt sich wiederum eine Parallele zu Elias und Simmel ziehen. Zum Teil könnte man vielleicht sagen, dass der Themenkomplex
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
lich akkumulierten soziologischen Wissensfundus, der aus vielen Quellen gespeist wurde und wird. Allerdings existiert dieser Wissensfundus heute in disparaten, verstreuten und terminologisch inkonsistenten Formen und ‚Diskursspeichern‘, und er ist in wesentlichen Teilen, die auch seinen ‚tieferen Sinn‘ betreffen oder sogar ausmachen, gewissermaßen vergessen oder marginalisiert worden. So wird heute fälschlicherweise vielfach geglaubt und immer wieder behauptet, Bourdieus Habituskategorie, die in der Tat ein oder das Kernstück seiner Soziologie darstellt, bedeute „nichts anderes als einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen Denken, nämlich die Abkehr von einer Vorstellung vom sozialen Handeln, die dieses als Resultat bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift“ (Krais/Gebauer 2008: 5).
2.1
Allgemeine Habitustheorie: Habitus und Gewohnheit
Dieser Auffassung und ähnlichen Auffassungen möchte ich im ersten Schritt meiner habitustheoretischen Überlegungen in Anbetracht der gedanklichen ‚Traditionalität‘ und (d. h.) nur relativen Originalität Bourdieus widersprechen und zeigen, dass der besagte Paradigmenwechsel der Sache nach schon viel früher stattgefunden hat – in Ansätzen schon bei Durkheim und Weber, im Sinne eines systematischen, soziologischen und auch terminologisch gefassten Verständnisses von Habitus dann aber erst bei Elias. Es wird sich, wie ich glaube, deutlich machen und belegen lassen, dass der Habitusbegriff ziemlich genau im Sinne der Verhaltensund Handlungslogik, die Bourdieu meint, bereits im Frühwerk von Elias („Über den Prozeß der Zivilisation“; „Die höfische Gesellschaft“), dann aber auch in dessen späteren und späten Arbeiten, eine zentrale Rolle spielt. Mehr noch: Der Habitusbegriff von Elias ist in seine allgemeine Figurationstheorie und – vor allem – in seine (historische) Zivilisationstheorie eingebettet und dadurch mit gewissen Erklärungs- und generellen Nutzungsvorteilen in anderer Weise gerahmt als der Bourdieus, der primär im Rahmen einer Klassen-(kampf-)theorie der (seiner) ‚Gegenwartsgesellschaft‘ steht. Zu zeigen ist darüber hinaus, dass der Habitusbegriff und analoge Termini – jeweils in Verbindung mit Begriffskomplementen wie Figuration, Feld, Institution, sozialer Kontext, Akteur, Praxis oder Lebensstil – überhaupt zu den wichtigsten und zugleich in ihren Leistungs- und Entwicklungsfähigkeiten verkanntesten Be„moralische Kommunikation“, dem Luhmann einen zentralen Platz einräumt, Aspekte berührt, die der Elias’sche Begriff der Figuration (von Individuen) meint.
Habitus/Gewohnheit/Mentalität
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griffsschöpfungen der soziologischen Theoriegeschichte gehören. Der Habitusbegriff bildet nämlich als solcher und teilweise auch in verwandten Titulierungen wie Bewusstseins- oder Persönlichkeitsstruktur das Herzstück allgemeiner und spezieller Soziologien, nicht zuletzt auch (zeit-, gegenwarts-)‚diagnostischer‘ Soziologien, z. B. der mit dem Begriff des „sozialen Charakters“ arbeitenden Soziologie Riesmans (vgl. 1958: 20 ff.). Die verschiedenen, teils eher expliziten und teils eher impliziten Varianten und Verwandten des Habitusbegriffs sind je nach Theorie- und Verwendungskontext unterschiedlich, jedoch überschneiden sie sich auch an bestimmten (und zu bestimmenden) Punkten, und da, wo sie sich unterscheiden, ergänzen sie sich zumindest teilweise oder sind geeignet, in ein komplementäres Verhältnis zueinander gebracht zu werden. So ist es keineswegs ausgeschlossen, ja es könnte besonders gewinnbringend und vielversprechend sein, einen ‚behavioristischen‘/kognitivistischen Habitusbegriff mit einem psychoanalytischen (freudianischen) in Einklang zu bringen und zu verbinden. Diese (Am-)Bivalenz des Habitusverständnisses und der entsprechenden Lerntheorie(n) charakterisiert jedenfalls bereits die Elias’sche (und überhaupt die figurationssoziologische) Sicht der Dinge. Die mehr oder weniger starken und langen, teils offensichtlichen, teils eher verdeckten Fäden der Habitustheorie sind bislang nur ansatzweise systematisch betrachtet und auseinandergehalten worden, und ebenso wurden sie (unter der notwendigen Voraussetzung einer solchen Differenzierung) nur ansatzweise systematisch miteinander verknüpft (vgl. z. B. Krais/Gebauer 2008; Willems 1997a). Sie bestehen in einem erheblichen Maße, ja zum größten Teil – trotz Bourdieu oder auch wegen ihm11 – unvermittelt, unverbunden und scheinbar disparat nebeneinander. Eine Folge davon ist, dass das diesbezüglich bislang schon erreichte Wissen zum Teil schon wieder abhanden gekommen ist, ‚vergessen‘ wurde oder sich nicht entwickelt hat, weil man es auf sich beruhen ließ. Um es soziologisch sinnvoll zu erinnern und darüber hinaus das vorhandene habitustheoretische Wissen im Sinne einer einzelne Varianten überbietenden Synthese aufzuheben, zusammenund weiterzuführen, bedarf es seiner Rekonstruktion aus einer übergeordneten theoretischen Perspektive, wie die Figurationssoziologie sie liefert, und zwar aus den oben skizzierten – insbesondere prozesssoziologischen – Gründen mit sys-
11 Wegen Bourdieu, weil man schon lange und heute immer noch vielfach dazu neigt, den Habitusbegriff mit dem Bourdieu’schen Habitusbegriff gleichzusetzen und gar nicht (mehr) nach den übereinstimmenden, ähnlichen, verwandten oder komplementären Begriffs- und Gedankengeschichten fragt, die in diesem Zusammenhang gerade in der deutschen Soziologie zu finden sind.
110
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
tematischen Vorteilen gegenüber anderen Ansätzen, auch gegenüber dem Ansatz Bourdieus. In diesem Zusammenhang geht es also wiederum nicht oder nur am Rande um die Rekonstruktion von Begriffsgeschichten (geschweige denn Begriffsexegese oder Klassikerexegese als Selbstzweck). Vielmehr geht es im Zuge seiner figurationssoziologischen Explikation und Einbettung um die Sondierung und Steigerung der Leistungs- und Anschlussfähigkeiten des Habituskonzepts, das meines Erachtens nicht nur innerhalb der Soziologie oder der Sozialwissenschaften, sondern überhaupt in den Menschenwissenschaften, einschließlich der Psychologie12, zu einem zentralen Schlüssel und Bindeglied werden kann. Wesentlich auf figurationssoziologischer Basis bzw. auf der Grundlage der Arbeiten von Elias und Bourdieu, aber auch in Bezug auf den (nicht nur) in diesem Kontext ebenso ‚verdrängten‘ wie wichtigen Arnold Gehlen und andere (diesbezüglich vernachlässigte) Klassiker (Weber, Durkheim, Foucault, Riesman, Berger/Luckmann, Goffman u. a.), versuche ich daher so etwas wie die Bildung einer allgemeinen oder synthetischen Habitustheorie bzw. zunächst eines ‚kleinsten gemeinsamen Nenners‘ verschiedener habitustheoretischer Traditionen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der mit dem Habitusbegriff überschnittene und verbundene, aber auch von ihm zu unterscheidende Gewohnheitsbegriff 13, der tief im klassischen Begriffs- und Theorienbestand (nicht nur) der Soziologie wurzelt14 und dessen Thematisierung in der 12 In den Entwicklungen der soziologischen Habitustheorie/Habitusforschung liegen die vielleicht vielversprechendsten Möglichkeiten für einen entsprechenden ‚interdisziplinären Diskurs‘ zwischen Soziologie und Psychologie. Jedenfalls berühren oder überschneiden sich klassische Themen der Psychologie bzw. der verschiedenen Teilpsychologien (Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie) einerseits und der soziologischen Habitustheorien andererseits: Wahrnehmung, Denken, Emotion, Identität, Lernen, abweichendes (Krankheits-)Verhalten u. a. m. 13 Der Gewohnheitsbegriff verweist auf die Begriffe (und Begriffszusammenhänge) der Tradition, der Routine und des Stils bzw. des Verhaltensstils und des Lebensstils. Damit hat er nicht nur eine grundlegende (allgemeine und spezielle) sozio-psychologische, handlungs- und praxistheoretische, sondern auch eine gesellschafts- und modernisierungstheoretische Relevanz, die zum Teil mit Begriffen wie Traditionsverlust, Enttraditionalisierung, Kontingenz, Dynamisierung oder Flexibilisierung angedeutet werden kann. Eine der wichtigeren (zivilisations-)soziologischen Fragen ist, was aus dem ‚Gewohnheitstier‘ Mensch unter den Bedingungen einer Gesellschaft wird, die die Bildung und/oder das Fungieren von Gewohnheiten jedenfalls in bestimmten Bereichen tendenziell erschwert oder belastet. Umgekehrt wäre danach zu fragen, was soziale (vor allem funktionale) Differenzierungen als Differenzierungen und (d. h.) Asymmetrisierungen von speziellen Gewohnheitsbildungen (etwa beruflicher Art) bedeuten. 14 Von größter ‚klassischer‘ Bedeutung ist hier vielleicht wiederum Max Weber. Daneben sind die Arbeiten im Kontext der Philosophischen Anthropologie (insbesondere Scheler, Gehlen und Plessner) und der an sie anschließenden Wissenssoziologie (insbesondere Berger/Luckmanns „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“) zentral.
Habitus/Gewohnheit/Mentalität
111
neueren soziologischen Theoriediskussion, etwa in den Arbeiten von Giddens (z. B. 1988b) und Sennett (z. B. 2000), sozusagen wieder Fahrt aufgenommen hat.15 Eine so (figurationssoziologisch allgemein und komplex) gefasste Habitustheorie bzw. Habitus-Gewohnheits-Theorie erweist ihre Geltung und Nützlichkeit in Bezug auf ein sehr breites Spektrum soziologischer Aspekte und Grundfragen16, und sie kann auf alle sozialen Differenzierungs-, Figurations- und Ungleichheitstypen (auch jenseits der sozialen Klassenverhältnisse, die Bourdieu fokussiert) bezogen werden. Allerdings kommt es in allen diesen Zusammenhängen entscheidend darauf an zu sehen, dass der figurationssoziologische Habitusbegriff – und das macht seine ‚Alleinstellung‘ und seine besondere (überlegene) Leistungsfähigkeit aus – nicht nur ein (sozial-)struktur-, handlungs- und praxissoziologischer, sondern auch ein mehrdimensionaler prozesssoziologischer Begriff ist. Habitus sind in diesem Rahmen als bio-psychische Strukturen (des Individuums) zu verstehen, die zwar als Bedingung ihres Seins, Wirkens und Fungierens eine mehr oder weniger hochgradige Stabilität und Resistenz aufweisen, die aber auch – zusammen mit den Strukturen der Gesellschaft – geworden und immer im (Anders-)Werden begriffen sind und die sich bei aller möglichen Langsamkeit ihrer Entwicklung und bei aller momentanen Stabilität im individuellen Lebenslauf wie im Verlauf der menschlichen Gattungsgeschichte langfristig wandeln (im Sinne des allgemeinen Zusammenhangs von Soziogenese und Psychogenese). Der Habitusbegriff ist insofern immer auch als ein Begriff von Strukturprozessen und Prozessstrukturen vorzustellen. Er ist durch seine Einbettung in die allgemeine Figurationssoziologie seinem Wesen nach nicht nur ein sozialisationstheoretischer, sondern auch ein zivilisationstheoretischer Grund- und Schlüsselbegriff.17
15 An dieser Stelle ist auch und besonders an einen interdisziplinären Austausch mit Teilen der Psychologie bzw. mit einschlägigen Lerntheorien/Konditionierungstheorien zu denken. Der Gewohnheitsbegriff indiziert gerade durch die mit ihm verbundenen Lerntheorien eine gedankliche und sachliche Schnittmenge zwischen Soziologie und Psychologie und damit auch einen gemeinsamen Bezugsrahmen möglichen Austauschs und reziproken (Voneinander-)Lernens. 16 Wie z. B.: (generelle) Kompetenz (einschließlich Inkompetenz), Handeln, Zeichenhaftigkeit/Symbolizität, (Verhaltens-, Lebens-)Stil/Stilisierung, Ritual/Ritualisierung, Sympathie, Attraktivität, Vergemeinschaftung usw. 17 Zivilisation bedeutet, habitustheoretisch formuliert: Genese und Wandel von bestimmten Habitusformen (Habitus-Formation und Habitus-Transformation) im Verlauf der Gesellschaftsgeschichte und zugleich im Lebenslauf des Individuums.
112 2.2
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur Habitus – Mentalität – (Lebens-)Stil – Zivilisation
An diese Überlegungen schließt sich die Behandlung des gleichfalls traditionsreichen und auf weit verzweigte Diskurse verweisenden Konzept- und Theoriekontextes an, der sich unter dem Titel Mentalität (und analogen Titeln wie Denkgewohnheit oder kognitiver Stil) gleichsam in der direkten Nachbarschaft der Habitustheorie bzw. der Gewohnheitstheorie befindet. Liegt der Netzwerkbegriff 18 als Entsprechung des Figurationsbegriffs nahe, so bietet es sich an, den Mentalitätsbegriff und die (multidisziplinäre) Mentalitätsforschung als Entsprechung des Habitusbegriffs zu betrachten. Dieser kann in diesem Zusammenhang – in Verbindung mit anderen Komponenten des figurationssoziologischen Konzept- und Modellapparats19 – den entscheidenden figurationssoziologischen Bezugsrahmen bilden und mit allen seinen terminologisch-theoretischen Verweisungen sozusagen als Metabegriff fungieren, der ‚Mentalität‘ als eine Seite eines mehrseitigen Gefüges von (habituellen) Dispositionen entwirft und integriert. Gleichzeitig kommt es hier darauf an, Mentalität, Habitus und Zivilisation begrifflich, theoretisch und empirisch-analytisch miteinander zu vermitteln bzw. Mentalitäten oder Mentalitätsaspekte im Zusammenhang von Prozessen der Zivilisation zu sehen, in die sie eingebettet sind oder die sie darstellen (vgl. van Dülmen 1996). Die Zivilisationstheorie ist ja auch, ja im Wesentlichen, eine Habitusentwicklungstheorie / Habituswandlungstheorie bzw. eine Mentalitätsentwicklungstheorie/Mentalitätswandlungstheorie. Sie erhellt und erklärt in gewisser Weise überhaupt erst, was eine Mentalität20 ist, wie und warum sie entsteht, sich bildet und wandelt, z. B. im Zuge des (Zivilisations-)Prozesses der „Verhöflichung der Krieger“ (Elias 1980b: 351 ff.) oder der modernen „Massenindividualisierung“ (Elias 1999: 242). Zivilisation ist m. a. W. immer auch mentale Zivilisation.21 Man kann also grundsätzlich van Dülmen zustimmen, wenn er feststellt, dass Elias mit seiner Zivilisationstheorie nicht weniger vorlegt, als „den frühen Entwurf einer Mentalitätsgeschichte, den es in dieser Systematik bis dahin nicht gab“ (van
18 Wie gesagt: verstanden als sozialer Ordnungsbegriff bzw. als figurationssoziologisch lesbarer sozialer (Beziehungs-)Struktur- und (Beziehungs-)Strukturierungsbegriff. 19 Zum Beispiel mit dem Modell der sozio-kulturellen Gesellschafts-Schichtung und des historischen Schichtungswandels/‚Sickermodell‘ (vgl. Elias 1980b: 342 ff.) oder mit dem Begriff des „Gruppencharismas“ oder dem Modell der Etablierten-Außenseiter-Figuration (vgl. Elias/Scotson 1990). 20 Zum Beispiel die Mentalität des ‚freien Ritters‘ im Unterschied zu der des Höflings oder die Mentalität des Höflings im Unterschied zu der des Königs (vgl. Elias 1983; 1980a, b). 21 Damit liegt auch der Zusammenhang dieses theoretisch-empirischen mit der Wissenssoziologie auf der Hand.
Habitus/Gewohnheit/Mentalität
113
Dülmen 1996: 266). Im Hinblick auf die sich dynamisch beschleunigende Entwicklung und Wandlung der Moderne (Weltgesellschaft) bedarf die zivilisations(mentalitäts-)theoretische Perspektive und Forschung allerdings in theoretischer und empirischer Hinsicht der Ergänzung und Anpassung (Ein- und Umstellung), z. B. durch Anschluss (und Einschluss) von ‚Gegenwartsdiagnosen‘ von der Art, die Gerhard Schulze mit einem eigenen Mentalitätsverständnis und einer eigenen Mentalitätsbegrifflichkeit entwickelt hat.22 Grundsätzlich kann hier schon festgestellt werden, dass der Habitusbegriff durch seine sachliche Vielseitigkeit und seine Einbettung in die Figurationssoziologie, insbesondere in die Zivilisationstheorie, über den Mentalitätsbegriff hinausführt, dass der Mentalitätsbegriff aber auch im Rahmen der Figurationssoziologie seine Berechtigung behält und neue Berechtigung erhält, und zwar in seiner Spezialisierung auf bestimmte Sinn-, Kognitions- (Wahrnehmungs-, Denk-) und Emotionszusammenhänge im (Er-)Leben und Handeln. Diese Berechtigung soll sich in den geplanten Untersuchungen vor dem Hintergrund einer allgemeinen Parallelführung von Habitus- und Mentalitätstheorie an empirischen Beispielen aus der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ erweisen, die unter speziellen praxis- und sozialisationstheoretischen/zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten besonders interessant zu sein versprechen. Eines dieser Beispiele ist der Zusammenhang von Medialität bzw. auf verschiedene Medientypen bezogener Medienpraxis/Medienkultur einerseits und (Medienpublikums-)Mentalität andererseits. Medienkultur kann auch als Manifestation oder (teilweise strategische) Inszenierung von Mentalitäten/mentalen Strukturen oder entsprechenden Skripts verstanden werden, die – heute unter Kommunikationen organisierenden (Medien-)Markt- und (Medien-) Industriebedingungen – auf Mentalitäten von (Medien-)Publika und (Medien-) Produzenten verweisen. Mit diesen Überlegungen kommt auch ein weiterer terminologischer und theoretisch-empirischer Bezugsrahmen von großer Tragweite und diskursiver Komplexität ins Spiel: der des Lebensstils.23 Habitus/Mentalitäten und Lebensstile 22 Schulze spricht im Hinblick auf die von ihm identifizierten und typologisch differenzierten Milieus von „grupppenspezifischen Mentalitäten“ und „Mentalitätstypen“ sowie auch von „Denkmustern“, von „Lebensphilosophien“ und von Grunddispositionen der Lebenseinstellung, wie etwa der universalen Angstdisposition der Angehörigen des „Harmoniemilieus“ (vgl. 1997: 112 ff.). Den Habitusbegriff verwendet er zwar gelegentlich („sprachlicher Habitus“, „körperlicher Habitus“, „jugendlicher Habitus“ usw.), nicht aber systematisch, obwohl er in dem hier ins Auge gefassten (synthetischen) Sinne sachlich durchweg bestens passt. 23 Lebensstile, auf die ich weiter unten ausführlicher eingehe, sind aus figurationssoziologischer Sicht auf allen sozialen Figurationsebenen anzusiedeln. Es gibt demnach z. B. gruppenspezifische, szenespezifische, schichtspezifische/klassenspezifische oder auch gesellschaftsspezifische Lebensstile,
114
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
sind empirisch nicht voneinander zu trennen und auf der Basis der entsprechenden figurationstheoretischen Deutungsmittel als Zusammenhang zu verstehen und zu untersuchen, und zwar im Sinne des (nach figurationssoziologischer Lesart) übergeordneten und alles Soziale in sich einschließenden historischen Zusammenhangs von Soziogenese und Psychogenese. Der damit zu entfaltende und zu entwickelnde konzeptuelle Komplex – Habitus, Mentalität (mentale Struktur, kognitiver Stil), Lebensstil – verweist wiederum auf entsprechende wissenssoziologische/kultursoziologische Großfelder und Begrifflichkeiten: Rahmen/Kosmologie/Alltagstheorie (Goffman), kommunikative Gattung (Luckmann), Skript, Deutungsmuster (Oevermann), Semantik (Luhmann) und Diskurs/Doktrin (Foucault) sind jeweils mit methodischen Ansätzen verbundene Konzepte von Sinnund Wissenstypen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle als Hilfsmittel der Analyse und als Ankerpunkte der (Gegenstands-)Theoriebildung spielen können. Einen weiteren Schwerpunkt dieses theoretisch-empirischen Sach- und Arbeitszusammenhangs bildet der Versuch, die bis hierher angezeigten Konzept- und Theoriemittel, vor allem diejenigen habitustheoretischer Art, auf die Praxisbereiche der sozialen Rollen und Interaktionen zu applizieren, die zumindest zum Teil als soziale Figurationen eigener Art oder als eigene Figurationsebene zu verstehen sind, die aber auch auf diverse Figurationen bzw. Felder anderer Art und Ordnung (z. B. formale Organisationen) verweisen. Damit wird auch eine figurations- bzw. habitustheoretische Brücke sowohl zu Goffmans Mikrosoziologie der „Interaktionsordnung“ (s. o.) als auch zu dem neueren Ansatz der „Theatralität“24 geschlagen, der seinerseits Wurzeln in Arbeiten Goffmans hat (s. u.). Die entsprechende (figurations-, habitus-)theoretische Lesart soll wiederum dem Ziel einer synthetischen Soziologie dienen, indem sie dazu beiträgt, nicht nur Grenzen und (Selbst-)Beschränktheiten der Mikrosoziologie zu überwinden25, sondern auch die sich jeweils durch eine spezifische soziale ‚Sinnladung‘ auszeichnen, die in fungierenden Habitus bzw. Mentalitäten manifest wird. Gleichzeitig kann und muss in demselben soziologischen Bezugsrahmen auf der Ebene der Individuen von individualisierten Lebensstilen gesprochen werden (s. u.). 24 Dieser Ansatz, auf den ich weiter unten ausführlich eingehe, deklariert sich selbst – vor allem im Anschluss an programmatische Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (vgl. 1995b; 1998; 2004) – als grundlegend und umfassend kulturwissenschaftlich. Gleichzeitig bezweckt er unter dem Titel ‚Theatralisierung‘ eine Art Gegenwartsdiagnose, die gerade auch auf Habitus- und Mentalitätsaspekte referiert und zielt. Theatralisierung meint z. B. auch die Verbreitung eines bestimmten (‚expressiv individualistischen‘, ‚histrionischen‘, ‚narzißtischen‘) Persönlichkeitstyps und damit bestimmter theatraler oder theatralischer Attitüden und Verhaltensmuster. 25 Für Bourdieu (vgl. 1982; 1987) – sehr ähnlich wie schon für Elias (s. o.) – ist die ‚Mikrosoziologie‘ wegen dieser Grenzen und (Selbst-)Beschränktheiten als solche ein grundsätzlicher soziologischer Irrweg.
Habitus/Gewohnheit/Mentalität
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brauchbare mikrosoziologische Konzepte, Modelle, Theorien und analytische Beschreibungen in dem gesamtvisionären Rahmen der Figurationssoziologie (erkenntnis-)gewinnbringend aufzuheben. Ich versuche in diesem Zusammenhang im Anschluss an Goffman (und im intendierten Aufschluss von Goffmans Werk) verschiedene soziale Rollentypen, ‚das Selbst‘, die rituelle „Interaktionsordnung“ (Goffman) sowie die unmittelbare Interaktionspraxis figurationstheoretisch, insbesondere habitustheoretisch, zu entwerfen und zu erschließen. Hierbei werden anhand von Beispielen auf der empirischen Gegenstandsebene bestimmte Fragen als Schlüsselfragen zu stellen sein: Fragen des Handlungszwangs und des Handlungsspielraums, der symbolischen (Un-)Ordnung und Praxis, der Kompetenz (und Inkompetenz), der Performanz/Performance, der (Habitus-)Ich-Leistung, der Kreativität, der Korporalität, des Stils, der Identität(en) u. a. m. Diese Fragen und die besagten, zu adoptierenden Deutungsmittel sind insofern von allgemeiner figurationssoziologischer Bedeutung, als sie bei entsprechender Ausarbeitung im Prinzip auf die verschiedensten Figurationstypen zu beziehen sind: von ‚kleinen Lebenswelten‘ über große Organisationen bis hin zu den neuen Sozialformen des Internets. Es ist aber auch zu zeigen, dass die von Goffman fokussierte Sphäre der unmittelbaren Interaktionsprozesse eine Art Mikrokosmos oder Mikrofeld darstellt, das den Realitäten, Logiken und Strukturen der ‚großen Figurationen/Felder‘ korrespondiert oder ähnelt26 und (daher) auch mit figurationssoziologischen Konzepten untersucht werden kann. Ausgehend von dem figurationssoziologischen Grundgedanken und Grundansatz der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Soziogenese und Psychogenese und mit Hilfe des entsprechenden konzeptuellen Instrumentariums, insbesondere auf der Basis der Konzepte Habitus, Gewohnheit und Mentalität, geht es in diesem Kontext abschließend um die in gewissem Maße exemplarische Untersuchung von Zusammenhängen zwischen sozialen Revolutionen, d. h. mehr oder weniger abrupten und totalen Gesellschafts(kultur)wandlungen bzw. Figurationsumbrüchen, einerseits und Habitusbedingungen27 andererseits. Am Beispiel der deutschen (Gesellschafts-)‚Systemtransformation‘ nach 1989 versuche ich, die Brauchbarkeit der oft als ‚statisch‘ und ‚unhistorisch‘ (dis-)qualifizierten Habitustheorie für die Analyse revolutionärer (und ähnlich tiefgreifender) Wandlungsprozesse der Gesellschaft bzw. der menschlichen/psychischen und kollektiven Reaktionen dar26 Im Hinblick auf: Kapitaltypen, symbolische Ordnungsformen/Rituale, Machtverhältnisse, Grenzziehungen (Exklusionen/Inklusionen), Konkurrenzen/Kämpfe, (Distinktions )Strategien, Solidaritäten usw. 27 Das heißt: Habituskontinuitäten, Habitusdiskontinuitäten, Habitusirritationen, Habituswandlungen, Habitusgenesen.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
auf aufzuzeigen. Das (figurationssoziologisch verstandene) Habituskonzept wird hierbei systematisch und systematisierend auf verschiedene soziale (Ordnungs-) Ebenen bezogen: die historische Ebene, die Ebene der Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Existenzbedingungen, die Feld-Ebene, die Gruppen- und Lebensstil-Ebene, die Generationen-Ebene und die psychische Ebene der Erlebnisse, Erfahrungen und (Re-)Aktionsweisen. Das relativ komplexe Gesamtbild eines höchst komplexen Prozesses, das so entsteht, umfasst genau die Ebenen oder Seiten des Sozialen, die die Figurationssoziologie prinzipiell als Zusammenhang und im Zusammenhang betrachtet und so zu betrachten postuliert.
3
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
Vor dem Hintergrund der figurationssoziologisch gerahmten Habitustheorie, in Verbindung mit ihr und als ihre Entsprechung behandelt der letzte Teil des geplanten Folgebandes schwerpunktmäßig die sozialisationstheoretische28 und – vor allem – die Sozialisationsprozesse übergreifende zivilisationstheoretische Seite der Figurationssoziologie, die allerdings auch immer wieder in den früheren und späteren Teilen dieses Bandes und des gesamten projektierten Theorieunternehmens eine größere Rolle spielt. Die intendierte Verbindung von Habitustheorie, Sozialisationstheorie und Zivilisationstheorie bzw. die (Weiter-)Entwicklung der Zivilisationstheorie als Sozialisationstheorie und Habitustheorie, die in der Logik des Elias’schen Ansatzes liegt, ist bis heute eher eine Ausnahme in den einschlägigen sozialwissenschaftlichen/soziologischen Diskursen. Sie sind als sozialisationstheoretische überwiegend immer noch jenen traditionellen Denkschemata und Grenzziehungen (s. o.) verhaftet, die Elias und Bourdieu immer wieder als reduktionistisch, einseitig und (daher) irreführend kritisiert haben.29 Diese Denkschemata und Grenzziehungen gilt es prozesssoziologisch im Sinne einer syn-
28 Unter Sozialisation wird hier zunächst im Sinne der üblichen Begriffsverwendung die Sozialisation des Individuums verstanden, also die Gesamtheit der sozial induzierten und wirksamen Lernprozesse im Laufe des individuellen Lebens. Sozialisationstheorie ist zwar in gewisser Weise immer auch Prozesstheorie, aber sie ist (in vielen Varianten) eine, die sich auf die individuelle Psychogenese (Ontogenese, Subjekt-/Subjektivitätsgenese, Identitätsgenese, Persönlichkeitsbildung etc.) bezieht und beschränkt. 29 So taucht in einem recht aktuellen Überblicksaufsatz „Zum Stand der Sozialisationsforschung“, der von maßgeblichen Vertretern dieser Forschungsrichtung verfasst wurde, nicht nur der Begriff Zivilisation nicht ein einziges Mal auf, sondern es wird auch die entsprechende historische Prozessperspektive auf Sozialisation überhaupt ausgeblendet (vgl. Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008). Und selbst in einem ebenso aktuellen (und instruktiven) Aufsatz von Ecarius/Fuchs/ Wahl (2008), der den Titel „Der historische Wandel von Sozialisationskontexten“ trägt, geht es um ‚Historizität‘ nur in einem vergleichbar kurzfristigen Sinne. Die ‚Geschichte‘ beginnt hier im Wesentlichen mit der Nachkriegszeit (des Zweiten Weltkriegs) bzw. den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Von Historizität im Elias’schen Sinne, von Zivilisation als einem über die Jahrhunderte gehenden Figurationsprozess, ist keine Rede und keine Spur. Andererseits macht dieser Aufsatz im Vergleich der ‚Sozialisationskontexte‘ Familie, Peer Group, Schule und Medien in sehr konzentrierter Form auch deutlich, in welcher Massivität, Komplexität und Rapidität sich die Sozialisationsbedingungen in den letzten Jahrzehnten (nach dem Zweiten Weltkrieg) gewandelt haben. Eben dies ist, wie erwähnt, auch eine systematische Herausforderung der primär auf langfristige Wandlungen abhebenden Zivilisationstheorie und Zivilisationsforschung.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
thetischen Theoriebildung zu überwinden, die Sozialisation auf Zivilisation und Zivilisation auf Sozialisation projiziert. In diesem Sinne geht es in diesem Zusammenhang schließlich auch um Individualisierungsprozesse und entsprechende Theorie und Theoriebildung.
3.1
Sozialisationsprozess und (im) Zivilisationsprozess
Im Mittelpunkt der hier intendierten Untersuchungen steht also wiederum ein figurationssoziologisch ausgerichteter synthetischer Ansatz und d. h. eine synthetische Fragestellung. Sie bewegt sich zunächst vor allem – als Voraussetzung weiterführender Überlegungen – auf der Ebene der Sozialisationstheorie und versteht Sozialisation im Anschluss an Elias und Bourdieu primär als (individuelle) Habitusgenese und Habitusentwicklung30. Es geht in diesem Rahmen insbesondere um die Frage der Habitusformation im personalen Lebensprozess (Sozialisation), wobei Habitus als Funktionen sozialer Existenzbedingungen und als sich immer wieder überformende (spezifizierende) Konditionen des (weiteren) Lebens- und Sozialisationsverlaufs erscheinen. Dementsprechend tritt die Figurationssoziologie der Sozialisation einerseits immer auch als Figurationsanalyse auf den Plan, die mit den figurationsspezifischen (Eigen-)Logiken von Existenzbedingungen auch die Logiken von sozial und sozialisatorisch signifikanten Habituserfordernissen und damit von Bedingungen der Genese und Anpassung von Habitusformen aufklären will.31 Andererseits und gleichzeitig hat diese Soziologie wiederum in Konvergenz mit Bourdieu und (anderen) wissenssoziologischen Ansätzen32 die jeweilige (Eigen-)Logik der individuellen Habitusgeschichte als eine Art Habitusschichtung im Auge, die sich im Laufe des Lebens als dessen ‚Niederschlag‘ und ‚Prägung‘33 ergibt. 30 Gewohnheitsbildung, (generelle) Kompetenzbildung, Subjektivierung, Individualisierung usw. 31 Das figurationssoziologische Musterbeispiel ist Elias’ Untersuchung der Figuration (des Feldes) der ‚höfischen Gesellschaft‘, deren historische Existenz- und d. h. soziale Erfolgsbedingungen er sozusagen als Sozialisationsprogramm, als Programm der Habitusentwicklung der Höflinge beschreibt. In ähnlicher Weise lassen sich im Prinzip alle Sozialisationskontexte figurationsanalytisch als Figurationen oder Felder fassen und bestimmen, die immer geworden und immer im (Anders-)Werden oder Vergehen befunden sind, aber normalerweise auch hinreichend viel Strukturstabilität aufweisen, um die konkreten Akteure, die sich ihrerseits permanent entwickeln und wandeln, habituell prägen zu können und als fungierende Habitus zu bestätigen. 32 Zum Beispiel Berger/Luckmanns Klassiker über die ‚gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ (1969). 33 Elias hat diesen metaphorischen Ausdruck häufig verwendet.
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Eine der Habitustheorie korrespondierende (habitustheoretische) Sozialisationstheorie braucht also nicht nur Begriffe für (praxis-)sinnbezogene und sinnvermittelnde Lernprozesse und Typen von Lernprozessen/Lernmodi in sozialer Praxis, sondern auch ein Verständnis von den Resultaten dieses Lernens als individuellen (Weiter-)Lernvoraussetzungen sowie ein Verständnis von der Geschichte dieser Resultate und ihrer Lernfolgen. Neben und mit der Frage des lernenden Habituserwerbs muss es um die individuelle Habitus-Geschichte, den individuellen Lebenslauf als Habitus-Lebenslauf gehen, dessen Resultate an jedem Punkt des Lebens immer auch als Voraussetzungen von (weiteren) Lernprozessen anzusehen sind. Wenn Elias sagt, dass der Mensch ein Prozess „ist“ (Elias 1981: 127), dann meint er damit (im Konsens mit anderen Habitustheoretikern) auch, dass sich der Lebenslauf, indem er seinen ‚Niederschlag‘ im lebenden Individuum und individuellen Leben selbst findet, sukzessiv selbst konditioniert: durch die (innere) Objektivität sich strukturierender Habitus. Der Lebenslauf als Geschichte dieser Objektivität impliziert m. a. W. eine Sequenzialität nicht nur von Ereignissen und Erlebnissen, sondern auch von prägenden Erfahrungen und von (Habitus-) Prägungen, die Erfahrungen prägen. Die individuelle Lebensgeschichte des Individuums kann also als Struktur- und Strukturierungsgeschichte von habituellen Schichtungen verstanden werden. Bourdieu elaboriert den sozialisationstheoretischen Grundgedanken einer ursprünglichen (primären) Disposition als einer Art habituellen Grundschicht, die von nachfolgenden Schichten überlagert wird und die diese Überlagerung konditioniert, und prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „systematischen Biographie“ (1976: 189). Dieser Begriff, der auch an Freuds Psychologie bzw. Psychopathologie erinnert, meint also keine eigentliche Biographie im Sinne einer (reflexiven) Lebensbeschreibung, sondern vielmehr einen systematischen Lebenslauf, eine sich im Lebenslauf bildende und damit in gewisser Weise den Lebenslauf bildende Schichtung, in der jede vorhergehende Schicht die folgende bedingt. Bourdieu behauptet, dass „die Logik seiner Genesis (…) aus dem Habitus eine chronologisch geordnete Serie von Strukturen (macht, H. W.), worin eine Struktur bestimmten Rangs die Strukturen niedrigeren – folglich genetisch früheren – Rangs spezifiziert und die Strukturen höheren Rangs durch Vermittlung einer strukturierenden Aktion (…) wiederum strukturiert“ (Bourdieu 1976: 188). So liege „beispielsweise der Strukturierung der schulischen Erfahrungen (…) der innerhalb der Familie erworbene Habitus zugrunde, während der durch die sich ändernde schulische Aktion transformierte Habitus seinerseits der Strukturierung aller späteren Erfahrung unterliegt (zum Beispiel der Rezeption und Assimilierung der von der Kulturindustrie geschaffenen und ausgesendeten Botschaften oder den
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
Berufserfahrungen), und das von Restrukturierung zu Restrukturierung immer so weiter“ (Bourdieu 1976: 188 f.). Mit dieser Themenstellung und Denkrichtung sind auch bereits systematische und zentrale Positionen des diesbezüglichen figurationsoziologischen Theorieund Forschungsansatzes beschrieben: ‚Real existierende‘ Habitus stellen demnach zwar strukturelle Eigenschaften des Individuums dar, „erfahrungsbedingte, relativ überdauernde Eigenschaften der Akteure“ (Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008: 16), aber es sind – wie das Individuum überhaupt – keine isolierbaren Tatsachen, sondern in bestimmten sozialen Praxiskontexten (Figurationen) gewordene, fungierende, werdende, sich um- oder auch zurückbildende Strukturen des Individuums (der ‚Persönlichkeit‘, des Bewusstseins, der Emotionen, des Körpers). Es sind m. a. W. Momente eines durch soziale Praxen und praktische (Selbst-)‚Bildungen‘ voraussetzungsvollen Entwicklungsgangs im Lebenslauf, für den bzw. für dessen sozial vermittelte Habituseffekte man auch im Sinne der Figurationssoziologie den Begriff der Sozialisation verwenden kann (vgl. z. B. Hurrelmann/ Grundmann/Walper 2008). Während sich aber Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung typischer- und charakteristischerweise auf bestimmte Sozialisationsphasen und Sozialisationskontexte (Sozialisationsmilieus)34 konzentrieren und beschränken, so dass die Entwicklungslogik des individuellen Lebenslaufs und der ‚Habitualisation‘ im Ganzen als theoretische und empirisch-analytische Frage mehr oder weniger aus dem Blick gerät und aus dem Beobachtungsrahmen fällt, nehmen Elias und Bourdieu sowie der in diesem Zusammenhang ähnlich relevante Goffman eine sozusagen ganzheitliche oder eher ganzheitliche Perspektive gegenüber dem Lebenslauf als Sozialisationsprozess ein: Sie entfalten oder formulieren jeweils ein Verständnis des Lebenslaufs als eine begrenzt kontingent gebahnte Entwicklung oder ‚Karriere‘.35 Die Figurationssoziologie verträgt sich also einerseits prinzipiell mit einem sozialisationstheoretischen Gegenstandsverständnis im Bezugsrahmen des individuellen Lebenslaufs (als Lebens-(lern-)prozess). Andererseits ergibt sich aus der theoretisch-methodologischen Architektur dieser Soziologie, dass der in diesem Sinne übliche Sozialisationsbegriff auf verschiedenen Ebenen als eine unangemessene Verkürzung der Realität erscheint, die mit ihm adressiert wird. Letztlich 34 Diesbezüglich operiert wird bekanntlich mit lebenszeitlichen Konzepten und sachlichen Gliederungen wie primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation und/oder mit auf soziale (Feld-)Bereiche bezogenen Begriffen und Spezialisierungen wie schulische, familiale oder berufliche Sozialisation. 35 Bei Goffman geht es hauptsächlich um „moralische Karrieren“ von Insassen totaler Institutionen (vgl. 1973a) und von (anderen) Stigmatisierten (vgl. 1967). Goffmans Modell ist aber durchaus auch auf ‚Normalitäten‘ und ‚Normale‘ generalisierbar.
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entscheidend ist dabei neben und mit dem Schichtungsmodell der individuellen Psychogenese der figurationssoziologische Bezugsrahmen der historischen Soziogenese. Das heißt, der mit Sozialisation36 gemeinte oder meinbare Lebensprozess wird nicht nur im unauflöslichen Zusammenhang mit (ihrerseits ‚geschichtlichen‘) spezifischen Figurationen von Praxis gesehen, die das Individuum im Laufe des Lebens (Sozialisationsprozess) durchläuft, durch die es sich ‚bildet‘ und in denen es sich handelnd bewähren muss. Auch geht es nicht nur darum, in einem ganzheitlichen Sinne prozesssoziologisch zu denken und die Systematik des Lebenslaufs im Ganzen erfassen zu wollen. Vielmehr kommt es in diesem – dem soziogenetischen – Bezugsrahmen darauf an, das Verständnis und die Untersuchung des individuellen Sozialisationsprozesses mit dem übergeordneten historischen Entwicklungsprozess der Gesellschaft, ihrer Kollektive und der Gattung Mensch zu verknüpfen. Die Figurationssoziologie verbindet m. a. W. das Individuum mit seiner sozialen Genese (Prozessualität) im Lebenslauf und die Genese des Individuums mit deren Einbettung in historische Prozesse verschiedener sozialer Figurationen (Gruppen, Schichten/Klassen, Gesellschaften). Diese Soziologie geht damit über die Ebene der individuum- und lebenslaufzentrierten Sozialisationstheorie systematisch weit hinaus; sie ist ein viel komplexerer und vielseitigerer Ansatz, der ebenso systematisch mit der Habitustheorie zusammenhängt wie mit der theoretischen Konstruktion von sozialer Ordnung (Figuration), Praxis und Evolution. Auch auf der Ebene von Kollektiven, und nicht nur auf der der Sozialisation des Individuums, geht es bei diesem Ansatz wesentlich um eine Theorie des Lernens, um eine Theorie von Lernprozessen bis hin zur Gattung Mensch, deren Zivilisation im Grunde nichts anderes bedeutet als einen komplexen (Kollektiv-)Lernprozess. Kollektiv/Gattung einerseits und Individuum andererseits lernen demzufolge in einem prozessualen Korrespondenzverhältnis zueinander, gleichsam im Parallel- oder Gleichschritt, gleichursprünglich und in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Sozialisationsprozesse und Wandlungen von Sozialisationsprozessen und Sozialisationsbedingungen, z. B. Umstellungen von lebenspraktischen Umgangsformen, Erziehungsstilen und/oder auch Erziehungstheorien37, sind in diesem Zusammenhang – und d. h. als Zusammenhang – zu verstehen und zu untersuchen.
36 Elias spricht, wie gesagt, statt von Sozialisation auch von individueller Zivilisation oder von Psychogenese. 37 Instruktive Beispiele für solche Umstellungen finden sich etwa bei Riesman (1958) und Lasch (1986), die überhaupt in dem hier gemeinten Sinne habitus- und zivilisationstheoretisch lesbar und besonders interessant sind.
122 3.2
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur Figurationssoziologische Sozialisationstheorie
Auf der Ebene der Sozialisation (individuelle Psychogenese) zeichnen sich die (figurations-)soziologischen Ansätze von Elias und Bourdieu also dadurch aus, dass sie nicht nur beide Seiten dieses Prozesses, nämlich einerseits die ‚objektiven‘ sozialen Existenzbedingungen (Strukturen), in denen und durch die sich Sozialisation vollzieht, und andererseits das ‚Subjekt‘ bzw. das erfahrungsbedingte Produkt von Sozialisationsprozessen im Sinn und im Auge haben, sondern auch die sich prozessual abspielenden dialektischen Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen diesen Seiten. In Verbindung mit der ‚objektiven‘ Seite der Figuration, die durch ihre Funktions- und Erfolgsbedingungen als eine Art Sozialisationsprogramm (auch) Habitusprofile definiert, ist dabei auf der ‚subjektiven‘ Seite die Kategorie des Habitus als (figurationssoziologischer) Erklärungsgegenstand und als Erklärungsansatz zentral. Generell geht es damit nicht nur um die Psychogenese und Psycho-Logik, den lebensgeschichtlichen Erwerb von Habitus durch Erfahrung/Lernen, sondern auch um die Bedeutung von Habitus für Erfahrungen und (Habitus-)Lernprozesse bzw. deren Verunmöglichung, Erschwerung oder Erleichterung. Die Habitustheorie wird also bei Elias wie bei Bourdieu im Sozialisationsrahmen differentiell kontextualisiert, (lebens-)prozessualisiert und in entsprechende lerntheoretische/sozialisationstheoretische Zusammenhänge gestellt. Dementsprechend ist dann in einem sozusagen soziobiographischen und zugleich individualbiographischen Bezugsrahmen nach ‚objektiven‘ und ‚subjektiven‘ (habituellen) Bedingungen von Habitus-Lernprozessen, nach Entwicklungsbedingungen (Entstehungs- und Wandlungsbedingungen) und Entwicklungsmustern (‚Karrieren‘) von Habitus und durch Habitus zu fragen. Indem die Figurationssoziologie (Bourdieu hier eingeschlossen) in diesem Sinne als (Lebens-)Lerntheorie, als Theorie der Sozialisation und als Schlüssel zum Verständnis individueller und kollektiver Habitus-(wandlungs-)geschichten (‚Karrieren‘) fungiert, macht sie auch ein integratives Angebot zum Verständnis und zur Deutung des personalen Akteurs in diesen Prozessen und in konkreten Figurationen von Praxis. Als Habitus oder Habitusensemble erscheint dieser Akteur bei Elias wie bei Bourdieu weder als ein völlig determiniertes und fertiges Objekt noch als ein völlig indeterminiertes, offenes und ganz oder auch nur hauptsächlich freies ‚Subjekt‘, sondern im Gegensatz zu solcher Dichotomisierung als ein Wesen mit einer variablen und variierenden Doppelnatur: durch (Sozialisations-)Prozesse der Habitualisierung in jeder Phase und an jedem Punkt seines Lebenslaufs spezifisch bestimmt und als Produkt dieser Prozesse zugleich zum Handeln innerhalb dadurch gesetzter Spielräume instand- und freigesetzt. Immer allerdings ist dies
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der Fall in Relation und durch Relation zu jeweils spezifischen Figurationen von Praxis, die bestimmte Anforderungen an ihre Akteure stellen und limitierte Handlungsoptionen eröffnen, also das Passen (oder Nicht-Passen) von Habitus (habituellen Handlungspotentialen) definieren. Gewisse Grundpositionen und Grundlinien einer figurationssoziologischen Theorievorstellung von Sozialisationsprozessen, Sozialisationsbedingungen und Sozialisationsresultaten zeichnen sich also mehr oder weniger deutlich ab. Allerdings kann es eine figurationssoziologische Theoriebildung in diesem Zusammenhang kaum in der Form einer selbstständigen und kohärenten Theorie sozialisatorischer Praxis und (Selbst-)Bildungsprozesse geben. Denn die betreffenden (sozialisatorischen) Lernprozesse verweisen ja aus figurationssoziologischer Sicht immer auf differentielle und auf verschiedenen Ordnungsebenen zunehmend differenzierte und verflochtene Figurationen/Felder der Gesellschaft, die sie in je besonderer Weise bedingen oder bestimmen und die nur durch eine entsprechende – entsprechend weitreichende und komplexe – (Figurations-)Theorie eingeholt werden können: eine Theorie der Gesellschaft, eine Theorie der sozialen Felder (in der Gesellschaft), eine Theorie der Zivilisation. Solche auf Figurations-Realitäten verweisende (figurationstheoretische) Bezugsrahmen und Schlüssel erscheinen notwendig, um die Logiken der sozialen Praxen aufzuklären, aus denen sich entsprechende (sozialisatorische) Lernprozesse der beteiligten Individuen/Akteure ergeben und ableiten lassen. In diesem Rahmen kann nach Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten, Mechanismen und Mustern von Sozialisationsprozessen gefragt werden, die einzelne Figurationen, Individualitäten und Individualisierungen übergreifen. Elias und in verschiedenen Hinsichten mehr noch der gerade als Bildungs- und Bildungssystemsoziologe hervorgetretene Bourdieu haben mit dieser Grundausrichtung in vielen Kontexten ihrer Werke detaillierte Aussagen und Hinweise sowie jeweils Konzepte und perspektivisch-programmatische Theorievorstellungen geliefert. Wenn auch nur ansatzweise und in Elementen, die jeweils über die Reihe der Arbeiten verstreut sind, haben beide wesentlich zu einer theoretischen Erschließung von Sozialisationsprozessen im Sinne einer (Lern-)Theorie des lebensgeschichtlichen Habituserwerbs, der individuellen Habitusformation/Habitustransformation und nicht zuletzt der habituell bedingten Selbstbildung (von Habitus) im Lebenslauf beigetragen. Die entsprechenden Überlegungen und Untersuchungen beziehen den für die klassischen Sozialisationstheorien charakteristischen (Mikro-)Bezugsrahmen des Individuums, des individuellen Lebenslaufs, der persönlichen Interaktionen und des sozialen Nahraums systematisch mit ein, transzendieren ihn aber ebenso systematisch.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
Ein gutes Beispiel dafür findet sich bei Elias im Zusammenhang seiner gemeinsam mit John L. Scotson durchgeführten Gemeindestudie über die (Figurations-)Beziehungen von „Etablierten und Außenseitern“, in der er zum Schluss ein bestimmtes (figurations-)soziologisches „Bedürfnis“ konstatiert, nämlich das „Bedürfnis nach einer genaueren Typologie der sozialen Figurationen, die in die Bildung der Identität eines Menschen eingehen“ (Elias/Scotson 1990: 271). Diese ‚Bildung‘ verläuft Elias zufolge als Habitus-Bildung zwar immer über Formen von „Erfahrung“, aber in diesen spiegeln sich gleichsam Figurationen, die über interpersonale Beziehungen und Interaktionen von Individuen weit hinausgehen und sich auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich gestalten können. Vor dem Hintergrund seiner besagten Gemeindestudie, die eine moralisch-symbolische Distinktion und Status-Asymmetrie zwischen ‚Ortsansässigen‘ und ‚Zugereisten‘ beschreibt, stellt Elias beispielsweise fest: „Auch ohne systematische Untersuchung kann man im täglichen Leben unschwer beobachten, daß das entstehende Selbstbild von Kindern nicht nur durch direkte Erfahrungen mit ihren Eltern, sondern zugleich durch das, was andere über ihre Eltern sagen und denken, beeinflußt wird. Das Statusbewußtsein von Kindern, obwohl phantasiegebundener, ist gewiß nicht schwächer, es ist allenfalls stärker als das von Erwachsenen. Die Sicherheit, die ein Mensch als Kind aus dem Glauben an den hohen Status seiner Familie gewinnt, färbt oft genug seine Selbstsicherheit im späteren Leben, auch wenn sein eigener Status weniger gesichert oder abgesunken ist. Ebenso hinterläßt die Erfahrung eines Kindes, daß seiner Familie ein niedriger Rang zugeschrieben wird, ihre Spuren in seinem späteren Selbstbild, seiner späteren Selbstsicherheit. In diesem weiteren Sinn spielt Identifizierung für die Probleme, die der obige Text behandelt, eine Rolle, nicht zuletzt für die Situation jugendlicher Delinquenten.“ (ebd.: 270 f.)38
Innerhalb der skizzierten und noch genauer zu bestimmenden Koordinaten und Grundlinien der Figurationssoziologie sollte es möglich sein, zentrale Konzepte,
38 Im Sinne einer zu entwickelnden figurationssoziologischen Sozialisationstheorie bzw. Theorie der Habitusgenese ist Elias’ Exkurs über „Soziologische Aspekte der Identifizierung“ (vgl. Elias/Scotson 1990: 269 ff.), der auf „soziologische Vererbung“ (ebd.: 270) von (habituellen) Einstellungen zielt, spezifisch und grundsätzlich interessant. In einem anderen sachlichen und theoretischen Zusammenhang stehen Elias’ ältere Überlegungen zu dem sozialen Kontrollkontext, den man in Anlehnung an Foucault als höfischen Panoptismus bezeichnen könnte (vgl. Elias 1983). In diesem Fall geht es um sozialisatorische/zivilisatorische Lernprozesse, die sich aus der Logik sozialer Kontrollen ergeben – aus Fremdkontrollen, die in Selbstkontrollen bzw. in Vertiefungen von Selbstkontrollen umschlagen oder sich niederschlagen.
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Perspektiven und Beobachtungen wie die eben dargelegten im Sinne einer figurationssoziologischen Sozialisationstheorie gewinnbringend, nämlich auf einem höheren Syntheseniveau, zusammenzuführen. Diesbezüglich spielen Arbeiten von Elias und Bourdieu zwar Hauptrollen, sie erweisen sich aber auch als anschlussbedürftig und anschlussfähig. Daher sollen vor dem Hintergrund der anvisierten (figurations-)sozialisationstheoretischen Synthese weiterführende Anschlüsse an relevante (klassische) Sozialisationstheorien hergestellt werden. Als zumindest partielle Komplemente zu Elias und Bourdieu sind Arbeiten von Ulrich Oevermann39, Erving Goffman40, Michel Foucault41 und Alois Hahn42 vorzustellen, die auf der Ebene der Psychogenese/Habitusentwicklung des Individuums wesentliche (sozialisationstheoretische/zivilisationstheoretische) Unterscheidungen, Konzepte und Argumente liefern. Diese sollen, mit dem Anspruch, wenn schon nicht eine komplette (Sozialisations-)Theorie, so doch eine theoretische Perspektive und einen komplexen theoretischen Zusammenhang zu bilden, entfaltet und im Rahmen der Figurationssoziologie verortet werden. So mag sich mindestens ein Zusammenhang von Antworten auf Fragen nach der Bedingtheit und Verfasstheit, 39 Oevermann hat über die Jahrzehnte seines publizierten Arbeitens (seit etwa Anfang der 1970er Jahre) eine profilierte Sozialisationstheorie entwickelt, deren Verwandtschaft mit Überlegungen Bourdieus hier ebenso wichtig ist wie ihre Herkunft aus psychoanalytischem Gedankengut (vgl. Liebau 1987). Damit liegt auch die theoretische Diskussionsfähigkeit und Anschlussfähigkeit der Oevermann’schen Sozialisationstheorie im Rahmen der Figurationssoziologie auf der Hand. 40 Goffman liefert eine teils begrifflich-explizite („moralische Karriere“, „Selbst“, „sekundäre Anpassung“ etc.), teils in analytischen Beschreibungen steckende Sozialisationstheorie, deren Bedeutung in dem hier zugrunde gelegten theoretischen und programmatischen Rahmen insbesondere in der Fokussierung und Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Moral, symbolischer Ordnung und Identität einerseits und Macht und Kontrolle andererseits besteht (vgl. insbesondere Goffman 1973a, b; 1967; 1971a, b). Goffmans Sozialisationstheorie ist hier nicht zuletzt insofern spezifisch relevant, als sie nicht nur das Bild eines zivilisierten und zivilisierbaren Individuums zeichnet, sondern auch zeigt, dass und inwiefern zivilisierte Habitus der Stützung durch soziale Beziehungen und Interaktionen bedürfen und durch soziale Bedingungen und Reaktionen systematisch zerstört werden können (vgl. 1973a; 1967). Goffmans Sozialisationstheorie ist m. a. W. auch eine Verlerntheorie. 41 Foucault ist – in vielen Punkten parallel und komplementär zu Elias, Bourdieu und Goffman – als Macht/Wissen-Theoretiker der Genese/Generierung von (Selbst-)Disziplin auch von grundlegender sozialisationstheoretischer Bedeutung. Zu denken ist hier speziell an seine Normalisierungstheorie („Normalisierungsgesellschaft“, s. o.) und seine Theorie totaler Institutionen bzw. sein Konzept des „Panoptismus“ (vgl. Foucault 1977b; Smith 2000). 42 Alois Hahn hat mit seinen gedanklich nicht zuletzt an Foucault anknüpfenden Überlegungen zu Institutionen der Selbstthematisierung („Biographiegeneratoren“) wie der Beichte oder der Psychoanalyse auch sozialisationstheoretische Erkenntnisse gewonnen, die hier (figurationssoziologisch) von Bedeutung sind. Es geht in diesen Kontexten – zunehmend auf medialer Ebene – im Wesentlichen auch um die manifeste und latente Bildung und Umbildung von Identität (vgl. Hahn 1982; 1984b; 1987d; Hahn/Kapp (Hg.) 1987; Hahn/Willems 1993; 1996a, b; auch Willems 1994).
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
nach dem Woraus, nach dem Wie und nach dem Was von Sozialisationsprozessen und auch Zivilisationsprozessen ergeben. Die komplexe Frage nach der (letztlich habitusgenerativen) Logik oder nach den Logiken von Sozialisationsprozessen/Zivilisationsprozessen führt dabei mindestens in einer wesentlichen Variante über eine Theorie der Macht und der sozialen Kontrolle.43
3.3
Zivilisationstheorie(n) und Zivilisationsdiagnose(n)
Neben dem und mit dem Fokus auf Sozialisationsprozesse und Sozialisationstheorien setzt der dritte Teil des Folgebandes in einem zweiten Schritt auch eigenständige zivilisationstheoretische und zivilisationsdiagnostische Akzente, die immer auch Sozialisations- und Habitusaspekte inkludieren, wenn auch sozusagen sekundär in dem weiteren und komplexeren Rahmen der Zivilisationstheorie. Ausgangspunkte, Schwerpunkte und bleibende Bezugspunkte sind dabei Fragen nach dem Verhältnis von Modernisierung/‚Gegenwartsgesellschaft‘ einerseits und Zivilisation/Zivilisierung/Entzivilisierung andererseits bzw. entsprechende Fragen nach Formen, Basen, Generatoren und Degeneratoren von Zivilisation.
3.3.1
Zivilisationsbegriffe und Zivilisationstatsachen
Mit diesen Fragen stehen auch die von Elias ausgehende (diagnostisch und prognostisch implikationsreiche) Zivilisationstheorie und auch der Zivilisationsbegriff selbst zur Disposition und zur Untersuchung. Hier gilt es zunächst, im Anschluss an Elias die Besonderheit(en) des Elias’schen Zivilisationsverständnisses und zivilisationstheoretischen Ansatzes zu explizieren und zu klären. Speziell erhellend verspricht in diesem Zusammenhang ein Vergleich des Simmel’schen mit dem Elias’schen Schambegriff zu sein (vgl. Simmel 1983; Elias 1980b: 397 ff.). Diesbezügliche Klärungen sind grundlegend und tragen zur Schärfung der zivilisationstheoretischen und empirisch-zivilisationsanalytischen Aussagemöglichkeiten 43 Hier wird wieder der vergleichende und verbindende Bezug auf Arbeiten von Elias, Weber, Foucault, Goffman und Hahn eine zentrale Rolle spielen. Diese Arbeiten fokussieren teils ähnliche, teils unterschiedliche Bereiche und Aspekte von sozialer bzw. sozialisatorischer Kontrolle und sind vor allem im Hinblick auf Konvergenzen im Verständnis der (Sozio-)Logik dieser Kontrollen und ihrer (sozialisatorischen) Habituseffekte von Interesse. Darüber hinaus führen sie, im Zusammenhang gesehen, zu einem besseren Verständnis der empirischen Komplexität der betreffenden sozialen Prozesse.
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bei. Zu zeigen ist, dass die bis zur Moderne und zur Gegenwart fortgeschrittene Zivilisierung für den Elias der ‚Prozessbände‘ nicht nur eine Expansion von Disziplin und Selbstdisziplinierung bedeutet, sondern an einer bestimmten strukturellen Habitusform festgemacht wird: Es geht um einen relativ autonomen, mit einer äußeren und inneren (‚Über-Ich‘) Moral verbundenen „Selbstzwang“. Dessen Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit versteht sich allerdings auch oder gerade unter modernen bzw. heutigen Bedingungen keineswegs von selbst und möglicherweise immer weniger von selbst. (Selbst-)Disziplin ist zwar immer in dieser oder jener Form gesellschaftlich und figurational grundlegend. Auf gewissen, sehr fundamentalen sozialen Figurations-, Struktur- oder ‚Systemebenen‘ moderner (heutiger) Gesellschaften mag aber so etwas wie eine funktionale (Oberflächen-)Disziplin und Mentalität genügen und auch der Normalfall sein. Hier handelt es sich jedenfalls nicht unbedingt um Zivilisierung in dem moralisch-symbolischen Sinne, den Elias mit dem anspruchsvollen Freud’schen Begriff des ÜberIchs im Auge hat. Es mag vielmehr normalerweise ausreichen, wenn die Akteure im Handeln irgendwie funktionieren und nicht auffallen, wenn sie, ohne wirklich normkonform und ‚gewissenhaft‘ zu sein‚ ‚anschlussfähig‘ bleiben und eine gewisse Reibungslosigkeit der sozialen Abläufe gewährleisten. Es ist also jedenfalls keineswegs klar und daher zu fragen, wie viel und welche Arten von Zivilisierung/ Zivilisiertheit die sozialen Figurationen bzw. bestimmte Figurationen (‚Systeme‘) brauchen, anfordern und hervortreiben. Mit Feststellungen (oder Mutmaßungen) dieser Art, die in einem durchaus grundsätzlichen Sinne zivilisationstheoretisch belangvoll sind, ist allerdings nur ein Teilaspekt oder eine Seite des zu behandelnden Problemfeldes angesprochen. In einem weiteren Sinne verweist Zivilisierung auf die Ebene der symbolischen Praxen/Ordnungen und der ihnen entsprechenden moralischen und kathektischen Disponierungen der Akteure durch Habitus.44 Auf dieser Ebene, auf der besondere Selbst- und Weltverhältnisse des Individuums, soziale Zugehörigkeiten, Zugelassenheiten und Status auf dem Spiel stehen, liegen auch wiederum besondere sachliche Schnittmengen zwischen Sozialisations- und Zivilisationstheorie.45 Hier liegen zudem zentrale soziologische Schlüssel zur Verfassung und Entwicklung von Habitusmustern (Mentalitätsformen, mentalen Strukturen) und Habitusnor44 Dem weiten Themenfeld der symbolischen und damit in vielen Bereichen auch rituellen Ordnungen, die auf symbolische/rituelle Praxen und Habitus/Akteure verweisen, soll später in einem eigenen Band im Sinne der dargelegten figurationssoziologischen Programmatik ausführlicher nachgegangen werden (s. u.). 45 Der Habitusbegriff fungiert damit wiederum als ein Brückenbegriff. Er verbindet hier die Sozialisationstheorie (des Individuums) mit der allgemeineren und weitreichenderen Zivilisationstheorie.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
men moderner/heutiger Individuen (‚Selbste‘), die im Elias’schen Sinne als sich im individuellen Sozialisationsprozess wiederholende und variierende Resultate von langfristigen Zivilisations- und (d. h. auch) Individualisierungsprozessen zu verstehen sind. Damit geht es im Kontext des (individuellen) Sozialisationsprozesses wie im Kontext langfristiger (historischer) Zivilisationsprozesse immer auch und im Kern um das Werden (und Gewordensein) jener (Struktur-)Tatsachen des ‚sozio-psychischen Haushalts‘, die Elias und andere mit einer Reihe zivilisations- und habitustheoretischer Schlüsselbegriffe gefasst haben, und zwar mit negativen, wie Scham, Peinlichkeit, Ekel, Abscheu oder Widerwillen, und mit positiven, wie (Selbst-) Achtung, Autorität, Ehrgefühl, Prestige, Stolz, Sympathie oder Attraktivität. Diese für die Diskussion und Entwicklung von Zivilisationstheorie und empirischer Zivilisationsanalyse zentralen Begriffe (und Argumente) sind im Zusammenhang mit entsprechenden Zivilisationsdiskursen, die von Simmel über Riesman und Goffman bis Dreitzel, Link, Lasch oder Sennett reichen, zu rekonstruieren und mit Blick auf ‚zeitnahe‘ Entwicklungen, z. B. von moralisch-symbolischen Grenzen und entsprechenden (Scham-, Peinlichkeits-, Stolz- etc.) Gefühlen, zu bearbeiten. Dabei interessieren sowohl konzeptuelle (Deutungs-)Angebote, Anschlüsse und Differenzierungen, wie z. B. die, die Goffmans primär auf die Interaktionsebene bezogene Begrifflichkeiten des Selbst („Image“, „Stigma“), der „Regionen“/Regionalisierungen46 und der rituellen Interaktionsordnung47 erlauben, als auch empirisch-gegenwartsdiagnostische Fragestellungen der Gesellschafts-, Kultur- und Habitusentwicklung, die unter zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten auch im Hinblick auf vermutete neuere oder neue Zivilisationsphasen und (d. h.) Habitus46 Es macht durchaus theoretischen Sinn, und zwar allgemeinen figurationstheoretischen und speziellen zivilisationstheoretischen Sinn, Goffmans (Bühnen-)Regionen-Modell des Alltagslebens (vgl. 1969; 1974b) mit analogen Vorstellungen von Elias zu vergleichen und auch zu verknüpfen. So ruft Elias’ Rede von der Verschiebung bestimmter (Körper-)Verhaltensweisen „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“ (Elias 1980b: 408) Goffmans Begriff der „backstage“ (Goffman 1959) auf. Andererseits mag man in dem Goffman’schen Regionen-, Bühnen- und Eindrucksmanipulateur gleichsam ein Symptom für eine gewisse Oberflächlichkeit oder ‚Entinnerlichung‘ zivilisatorischer Verhaltensstandards sehen. Wenn diesbezügliche Konformität, wie man es aus Goffmans Werk herauslesen kann, nur (noch) eine Art ‚Show‘ ist, hat sie jedenfalls ihren zivilisatorischen Charakter im Elias’schen (Innerlichkeits-)Sinne verloren oder einen solchen Charakter nie gehabt. 47 Also: symbolische/rituelle Ordnungsformen wie Benehmen, Höflichkeit, Ehrerbietung und Anstand, aber auch symbolische/rituelle Störungen wie Taktlosigkeit, Verlegenheit oder Stigmatisierung und symbolische/rituelle Strategien wie Rollendistanz, Formen der Entschuldigung usw. Mit seiner (Interaktions-)Ritualtheorie und (Interaktions-)Ritualanalyse – auch und gerade von Abweichungen – zielt Goffman genau auf die Ebene der zivilisatorisch (trans-)formierten personalen Verhaltens- und interpersonalen Umgangsformen, die auch Elias im Sinn und im Auge hat.
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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formen behandelt werden sollen. Ein Thema ist z. B. der von Hans Peter Dreitzel im Anschluss an Elias und Goffman behauptete und behandelte (Zivilisations-) Aspekt eines Schubs der Reflexivierung von Emotionen und expressiven Körpermomenten (vgl. Dreitzel 1981). Immer wieder stellen sich in diesen Zusammenhängen auch grundlegende Verständnisse und Thesen betreffende Fragen der Eigenlogik und der Entwicklungslogik von Zivilisation – Fragen, die von Elias gerade in seinen Bezügen auf die jüngere Vergangenheit der Moderne (‚Gegenwartsgesellschaft‘) keineswegs hinreichend umfassend, eindeutig und befriedigend beantwortet worden sind. Vielmehr zeigt sich im Blick auf den Prozess des Elias’schen Werks sowohl eine gewisse Mehrdeutigkeit des Zivilisationsbegriffs in dem obigen Sinne als auch eine sich tendenziell verschärfende Ambivalenz in der Sache der Zivilisation selbst: Einerseits geht das Elias’sche Verständnis von Zivilisierung in die Richtung des Gedankens einer immer umfassenderen und tiefgreifenderen Habitusumstellung. Dafür stehen zentrale klassisch-zivilisationstheoretische Formulierungen und Begriffe wie „Selbstzwang“, „Über-Ich“, „Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsgrenzen“ oder „Dämpfung der Triebe“. Andererseits vermittelt Elias in Bezug auf die modernen und modernsten Menschen, speziell die eigenen Zeitgenossen nach dem Zweiten Weltkrieg, keineswegs den Eindruck umfassend fortgeschrittener oder fortschreitender Zivilisierung. Vielleicht als eine Wirkung des deutschen „Zusammenbruchs der Zivilisation“ (Elias 1990: 391 ff.), der sich nach der Fertigstellung des Elias’schen Hauptwerks über den Prozess der Zivilisation ereignet hat, betont er später stärker die konstitutionelle und stabile (Sexual- und Aggressions-)Triebhaftigkeit des Menschen und den ‚Hüllencharakter‘ der Zivilisation. Sie erscheint nicht nur in den Gestalten der weniger zivilisierten Varianten oder der scheinbar fast unzivilisierten Extremfälle, sondern auch in der Gestalt des normal oder hoch zivilisierten Habitus als eine mehr oder weniger dünne und prekäre Hülle oder Schale48, deren Eigenstabilität und Resistenz sich bis in die Gegenwart in eher engen Grenzen hält. In den Vordergrund tritt beim späten Elias eher oder zumindest auch die Relativität der Autonomie des „Selbstzwangs“ und dessen Angewiesenheit auf soziale (‚Umwelt-‘)Voraussetzungen, wie z. B. Statusstabilität (vgl. Elias 1984; 1990).49
48 Hier denkt Elias also (wieder) eher klassisch freudianisch. 49 Sie hat bekanntlich in den letzten Jahrzehnten (welt-)gesellschaftsweit eher abgenommen und dürfte in absehbarer Zukunft auf breiter sozialer Front noch weiter abnehmen, so dass diesbezüglich dezivilisatorische Effekte zu erwarten sind. ‚Soziale Verwerfungen‘ (z. B. im Zusammenhang mit Verarmungen, sich verschärfenden Kontrasten zwischen Armen und Reichen, ökonomischen
130 3.3.2
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur Zivilisation und Sozialisation: Generative Bedingungen
In diesen Zusammenhängen erweist sich gleichwohl die Nützlichkeit oder der besondere Sinn der Zivilisationstheorie als allgemeiner Rahmen und Einbettung einer Sozialisationstheorie und einer Sozialisationsforschung, die nicht nur dem individuellen Lebenslauf, sondern auch dem Lauf der Zeit (der Gesellschaft) folgt und auf der Höhe der Zeit operiert, operieren will und muss. Die Zivilisationstheorie eröffnet dazu eine (historische) Perspektive und zugleich einen Hintergrund, vor dem das gesellschaftlich/kulturell Neue (Entwicklungen, Wandlungen) in zunächst hypothetischer Orientierung identifiziert, eingeschätzt und untersucht werden kann. Damit lassen sich auch Kontinuitäten und Diskontinuitäten (Transformationen) von Sozialisationsbedingungen, Sozialisationsprozessen, Sozialisationslogiken und Sozialisationseffekten aufklären, besser verstehen oder sogar erklären. Eingeschlossen sind dabei habituelle (Prä-)Dispositionen, an die Sozialisationsprozesse bzw. soziale Wandlungen, Entwicklungen oder Verschiebungen von Sozialisationsprozessen anschließen können oder müssen. Moderne bzw. heutige Sozialisationsprozesse verweisen in verschiedenen (Figurations-)Kontexten (Schule, Medien, Intimbeziehungen usw.) immer noch, mehr denn je und/oder in je besonderer Weise auf habituelle Zivilisationstatsachen, die sie aufgreifen, nutzen, fortsetzen und fortentwickeln. Scham- und Peinlichkeitsgefühle, Verlegenheitsängste, Geltungs- und Distinktionsbedürfnisse, Prestigestreben, Selbstachtung und ähnliche moralisch-symbolisch-emotionale Verhaltensmuster und Verhaltensdispositionen sind als Zivilisationsresultate und zugleich als ganz aktuelle Voraussetzungen, Basen und Ressourcen von Sozialisationsprozessen zu verstehen – z. B. von Sozialisationsprozessen, die von Bildungsinstitutionen, massenmedialen Kommunikationskomplexen oder der kommerziellen Waren- und Konsumkultur ausgehen (s. u.). Damit sind auch schon mögliche Generatoren und ‚Katalysatoren‘ von Zivilisierungen benannt, die sowohl in den Zusammenhang langfristiger Zivilisationsprozesse im Elias’schen Sinne gestellt werden können als auch, insofern sie eine eigene zivilisatorische Logik, Bedeutung und Relevanz besitzen, der Elias’schen Theorie der Zivilisation bzw. der ‚Zivilisationsfaktoren‘50 an die Seite zu stellen sind. Der Prozess der Zivilisation hat sich vermutlich, auch wenn dies nicht die ganze Krisen oder dem (gleichzeitigen) Abbau des Wohlfahrtsstaats) ziehen m. a. W. die Wahrscheinlichkeit zivilisatorischer ‚Verwerfungen‘ nach sich. 50 Zum Beispiel der historischen Rolle der höfischen Gesellschaften.
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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Wahrheit ist (s. u.), zumindest in einigen Entwicklungslinien in der besagten Richtung fortgesetzt, und die Theorie der Zivilisation und die empirisch-analytische Zivilisationsforschung kann und sollte in dieser Richtung, über Elias systematisch hinausgehend, fortgesetzt werden. In diesem Zusammenhang versprechen die diversen Ansätze der Wissenssoziologie von besonderem Nutzen zu sein und zugleich Nutzen aus der Figurationssoziologie/Zivilisationstheorie ziehen zu können – auch deswegen, weil eine Wissenssoziologie schon bei Elias bzw. in der Figurationssoziologie/Zivilisationstheorie angelegt und teilweise auch komplex ausgearbeitet ist (s. u.). Wiederum an Elias anknüpfend und über ihn hinausgehend, zielen in diesem Arbeitskontext abschließende Untersuchungen darauf, die sozusagen materiale Zivilisationstheorie in theoriearchitektonischen Hinsichten zu differenzieren und im Hinblick auf die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ (jüngere Vergangenheit) weiterzuentwickeln, aber auch in Frage zu stellen. Dies soll zunächst im Elias’schen Rahmen gewissermaßen (zivilisations-)theorieimmanent geschehen – ausgehend von den Ankerpunkten der Zivilisationstheorie51 als Punkten möglicher und nötiger Theorie-(weiter-)bildung. Vor diesem Hintergrund geht es mir in erster Linie um theoretische Weiterarbeit durch die Herstellung integrativer Bezüge auf insbesondere klassische zivilisationstheoretische oder zivilisationstheoretisch lesbare Ansätze (Theorien, Perspektiven). Neben und mit Elias’ Zivilisationstheorie interessieren andere Theorien, die wie die Weber’schen und die Foucault’schen insofern als Zivilisationstheorien zu verstehen sind, als sie sich zumindest teilweise auf dieselben Gegenstände richten wie Elias (Aggression, Sexualität, der spontane Körper) und auch zivilisatorische Prinzipien und Mechanismen identifizieren, die den von Elias beschriebenen ähneln und jedenfalls partiell an die Seite gestellt werden können.52 Damit sollte es auf der einen Seite möglich sein, zur genaueren Aufklärung der Logik von Zivilisationsprozessen auf der Ebene der Sozialisation (individuellen Psychogenese) beizutragen (s. o.). Auf der anderen Seite ist die Zivilisationstheorie im weiteren Sinne zu untermauern, zu verbreitern und zu differenzieren, indem neben den von Elias fokussierten Wurzeln des Zivilisationsprozesses noch andere Wurzeln identifiziert und kontextiert werden (s. o.). Ich teile diesbezüglich die Auffassung van Dülmens, dass „sich der Zivilisationsprozeß komplexer gestaltet 51 Also insbesondere: Differenzierungstheorie, Feldtheorie, Habitustheorie/Akteurstheorie, Schichtungstheorie, Staatstheorie, Symboltheorie, Distinktionstheorie, Globalisierungstheorie. 52 Dies darf natürlich nicht umstandslos und ohne Rücksicht auf den Eigensinn der heranzuziehenden Werke oder Ansätze geschehen, sondern bedarf immer einer entsprechenden Einschätzung und Abwägung in den Bezugsrahmen der jeweiligen theoretischen und empirischen (Gesamt-) Kontexte.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
als Elias es annimmt“ (van Dülmen 1996: 273). Eine entsprechende Untersuchung (und Klärung) der Diversität von insbesondere institutionellen Bedingungen und Faktoren der Zivilisation, die Elias nicht hinlänglich geleistet hat (leisten konnte), mag für die Fundierung und für die Entwicklung der Zivilisationstheorie bzw. einer synthetischen Zivilisationstheorie von größerer Bedeutung sein. Es geht mir aber nicht nur um die historischen Wurzeln53 von (moderner) Zivilisation, sondern auch – und vor diesem Hintergrund – um zivilisationstheoretische und zivilisationsdiagnostische Weiterarbeit in eher neueren und aktuellen Empiriebezügen: durch die Systematisierung und Betrachtung verschiedenartiger struktureller, institutioneller und kultureller Hintergründe und Faktoren von Prozessen, die als Zivilisierungsprozesse zu verstehen sind. In diesem Sinne und wiederum in der Absicht, einen Beitrag zu einer synthetischen Zivilisationsforschung und Zivilisationstheorie zu leisten54, unterscheide und betrachte ich generative oder forcierende Kontexte und Ebenen moderner bzw. ‚gegenwartsnaher‘ Zivilisierungsprozesse.55 Die zivilisationstheoretischen General- und Schlüsselfragen, ob und wie Formen von Zivilisiertheit – im Sinne bestimmter Habitusbildungen bzw. habitueller „Selbstzwänge“56 – generiert und regeneriert werden, und wie sich dieses Ob und Wie mit Implikationen für das Was bis zur Gegenwart verändert hat, sollen dabei auch im Kontext sozusagen hoch moderner und aktueller Zivilisierungsgeneratoren untersucht werden, die Elias noch nicht oder kaum im Blick hatte oder haben konnte. In diesem Zusammenhang werden einerseits (m. E. starke) theoretische Argumente und empirische Befunde zu entfalten sein, die (auch zwei Jahrzehnte nach Elias’ Tod) mindestens für den Geist seiner Zivilisationstheorie sprechen, aber auch dafür, dass diese sowohl auf der Ebene der zivilisatorischen Realitäten als auch auf der Ebene der (erklärenden) Wurzeln der Zivilisation zu ergänzen ist.
53 Oder, um in der Elias’schen Metaphorik genauer zu formulieren: das historische Wurzelgeflecht. 54 Wie erwähnt, operiere ich diesbezüglich in dem programmatischen Sinne Alois Hahns. Hahn hat in diesem Zusammenhang außer theoretischen auch schwerpunktmäßig empirisch-analytische Arbeiten geliefert – einige zusammen mit mir. Vgl. Hahn (1982; 1984b; 1987c), Hahn/Kapp (Hg.) (1987) und Hahn/Willems (1993; 1996a, b). 55 Dabei geht es zunächst um eine gewissermaßen virtuelle Rekonstruktion, die die empirischen Komplexitäten, Interdependenzen und Interferenzen nur sehr einseitig, typologisch und selektiv ‚anschneiden‘ kann. 56 Das Umschlagen von „Fremdzwängen“ (Kontrollen, Sanktionen) in habituelle „Selbstzwänge“ (Elias) stellt ja nach Elias (und nicht nur nach Elias) den zentralen Mechanismus und auch das zentrale Merkmal von Zivilisierung bzw. Zivilisiertheit dar. Die entsprechende theoretisch-empirische Arbeit muss von diesem Punkt ausgehen und immer wieder zu ihm zurückkehren, um nicht in Konfusion oder Diffusion darüber zu geraten, worum es eigentlich geht.
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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Ich denke bei Letzteren z. B. (und gerade) an die zivilisatorische Bedeutung von (Massen-)Medien57, von kommerzieller Waren- und Konsumkultur58 und von institutionellen Diskursen und Verfahren der ‚Bildung‘59, aber auch an strukturelle 57 Werbung oder Unterhaltungsprogramme zum Beispiel. Die Werbung als inszenierte symbolische Verdichtung von motivational relevanter Publikumskultur ist vermutlich von größter zivilisatorischer Bedeutung. Werbung ‚spiegelt‘ nicht nur, durch professionelle Publikumsbeobachtung vermittelt, Werte, Normen und Wünsche des Publikums, sondern forciert sie auch dadurch, dass sie sie in stilisierter Form zum Ausdruck bringt. Sie induziert eine kulturelle Zivilisierung durch die Verbreitung und Dramatisierung zivilisatorisch signifikanter normativer Sinngehalte, Ideen und Verhaltensmodelle (vgl. Willems/Kautt 2003; Kautt 2008). 58 Bestimmte Teile der kommerziellen Produktwelten und ihrer semantisch entsprechenden (Medien-)‚Bewerbungen‘ sind von offensichtlicher und offensichtlich zunehmender zivilisatorischer Bedeutung, aber natürlich auch zivilisatorisch voraussetzungsvoll. Körperhygiene, Körperpfl ege, ‚Körperbildung‘, (Körper-)Kleidung oder (andere) korporale Selbststilisierungen z. B. werden auch ‚produktiv‘ im Sinne zivilisatorischer Standards angeregt, angehalten und unterhalten. Offensichtlich wird in diesem Zusammenhang von immer mehr Menschen immer mehr Geld, Zeit und (physisches und psychisches) Engagement aufgewandt. Ganz allgemein kann die Geschichte der Konsumkultur als Zivilisationsgeschichte verstanden werden, in der Zivilisationsprozesse durch konsumkulturelle Tatsachen (Waren, Werbung) sowohl gleichsam symptomatisch indiziert als auch in einem generativen oder forcierenden Sinne beeinflusst wurden und werden. 59 In mehr oder weniger engen Zusammenhängen mit speziellen Diskursen stehen jene Institutionen, die unter Zivilisierungsgesichtspunkten insofern besonders relevant sind, als sie im weitesten Sinne subjektive bzw. subjektivierende (normativ orientierte) Lernprozesse bezwecken und bewirken. Die historische Entwicklung, die zunehmende Ausbreitung, Pluralisierung, Professionalisierung und technische Elaboration dieser Institutionen ist als ein Ausdruck, aber auch als eine spezifisch generative Seite, als eine Ursachenseite von Zivilisierungsprozessen zu verstehen. Sie hängen in verschiedenen Formen und sachlichen Hinsichten wesentlich auch mit dem hier gemeinten, immer dichter und weiter werdenden Netz von Institutionen des Lehrens und Lernens, des Erziehens und Ausbildens, des Therapierens usw. zusammen, das die (Welt-)Gesellschaft sozusagen parallel zu (anderen) Differenzierungs- und Verflechtungsprozessen überzogen hat und überzieht. In diesen Zusammenhang gehören verschiedene institutionelle Sphären oder Institutionenklassen, die sich (und ihre Gesellschaft) dadurch auszeichnen, dass sie historisch zunehmend an sozialer und sozialisatorischer/zivilisatorischer Bedeutung gewonnen haben und gewinnen. Drei historisch ebenso expandierte und expansive wie in ihren Funktionsweisen und Methoden zunehmend intensivierte institutionelle ‚Komplexe‘ sind zumindest potentiell mehr oder weniger stark habituswirksam und damit auch von zivilisatorischer Relevanz: 1. der ‚pädagogische Komplex‘ mit seinen sich immer stärker ausweitenden und differenzierenden Erziehungs- und Ausbildungskomponenten – von der Kinderkrippe bis zur Volkshochschule, von der Fahrschule bis zur Universität, 2. der ‚Beratungskomplex‘ (von der Studienberatung bis zur Eheberatung), der in bestimmten institutionellen Sphären, aber auch jenseits von ihnen gerade in medialen Kontexten an sozialer und sozialisatorischer/ zivilisatorischer Bedeutsamkeit gewonnen hat, und 3. der medizinisch-psychologisch-psychotherapeutische (Gesundheits-)‚Komplex‘ – von der medizinisch überwachten Diät über das Selbsterfahrungswochenende bis zur jahrelangen Psychoanalyse. Auch diese institutionelle Sphäre, die auch oder in erster Linie auf die Herstellung von Selbstkontrollen und Kompetenzen, d. h. von habituellen Eigenschaften, zielt, wird historisch immer wichtiger, massiver und differenzierter, und sie wirkt immer stärker und intensiver in die (Er-)Lebenswelten und Befindlichkeiten der Individuen hinein.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
und kulturelle Globalisierungsprozesse bzw. globale Gewaltmonopolisierungsprozesse (Verweltstaatlichungsprozesse), die offensichtlich durch (Welt-)Krisen60 verstärkt wurden und werden (vgl. Beck 2007). Unübersehbar ist so etwas wie ein globaler (struktureller und kultureller) Integrationsschub, der ganz in der Logik der Elias’schen Verflechtungsidee und damit Zivilisationsidee liegt.61 Mit der Zivilisationstheorie hat Elias auch einen globalisierungstheoretischen Ansatz, ja eine komplette und entwicklungsfähige Globalisierungstheorie geliefert, für die gerade angesichts der dynamischen Empirie des jüngeren und aktuellen Welt-Wandels bzw. der diversen Welt-Krisen viel spricht.
3.3.3
Zivilisationsdiagnostische Fragen und Einwände (?) gegen die Elias’sche Zivilisationstheorie
Der (zugegebenen) Einseitigkeit dieser Perspektive soll – durchaus im Rahmen der Anlage der Elias’schen Zivilisationstheorie, die weder eine Teleologie noch eine Geradlinigkeit der Zivilisation voraussetzt oder behauptet – dadurch begegnet werden, dass immer auch nach gegenläufigen Entwicklungen gefragt wird, nach zivilisatorischen (Ein-)Brüchen, Umbrüchen und Ambivalenzen und nach Phänomenen, Prozessen und Faktoren, die möglicherweise den Titel Dezivilisierung oder Entzivilisierung verdienen (vgl. Treibel/Kuzmics/Blomert (Hg.) 2000). Es geht also weniger darum, ob Elias’ Zivilisationstheorie – im Kern die These eines Vorrückens von Scham- und Peinlichkeitsschwellen und einer zunehmenden Subjektivierung62 und Individualisierung – zu bestätigen oder zu widerlegen ist. Vielmehr interessieren die Möglichkeiten (und Grenzen), die Zivilisationstheorie angesichts von mehr oder weniger neuen Entwicklungen gleichsam auszubuchstabieren, als Beobachtungs- und Erklärungsrahmen anzusetzen und zugleich zu erweitern, um damit ein möglichst realistisches Wirklichkeits-(entwicklungs-)bild und Wirklichkeits-(entwicklungs-)verständnis zu gewinnen. 60 ‚Umweltkrisen‘, Kriege, ‚atomare Bedrohungen‘, ‚Rohstoff krisen‘‚ ‚Finanzkrisen‘, ‚Hungerkrisen‘, Terrorismus usw. 61 Auf Parallelen zwischen Elias einerseits und Becks „Risikogesellschaft“ andererseits wurde in diesem Zusammenhang bereits hingewiesen (vgl. Treibel 1996). Umso mehr gilt diese Feststellung für Becks „Welt-Risikogesellschaft“ (2007) mit ihren noch weiter fortgeschrittenen Interdependenzen, Verflechtungen und Kooperationszwängen, also Verflechtungszwängen und Verflechtungseffekten. 62 Subjektivierung einerseits im Sinne von individueller Selbstermächtigung durch die Steigerung von Selbstkontrollen und andererseits im Sinne von ‚Psychisierung‘ des Individuums als „homo clausus“, der einsamer und zugleich ‚gefühlvoller‘, reflektierter und selbstbewusster wird (vgl. auch Gehlen 1957: 57 ff.).
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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Die gegenläufigen oder scheinbar gegenläufigen Entwicklungen, die hier von Bedeutung sind, liegen zum Teil auf der Hand, sind aber im Einzelnen und mehr noch in ihren (zu unterstellenden) Zusammenhängen zivilisationstheoretisch insgesamt eher uneindeutig, schwer zu beurteilen und einzuordnen. Viele dieser Entwicklungen erscheinen bei genauerem Hinsehen als ambig, ambivalent oder mehrschichtig. Ich kann hier nur in einer unsystematischen Reihe von Punkten andeuten, was später differenzierter und empirienäher anzugehen und auszuführen ist: – eine tendenzielle Entfernung von der für Elias zentralen zivilisatorischen Logik des (nicht nur Trieb-)Befriedigungsverzichts, der ‚Sublimation‘ und des Befriedigungsaufschubs und eine Entwicklung hin zu einer Art Befriedigungsimperativ. Schulze konstatiert einen Wandel von einem Arbeits- und (d. h.) Verzichtsmenschen zu einem konsumistischen Genussmenschen, der seinen Lebenssinn als Erlebnissinn (eine Art Konsumsinn) konstruiert. Mit Bourdieu mag man von einer „Pflicht zum Genuß“ (1982: 576)63 sprechen, die nicht nur die Sphäre der materiellen Konsumgüter, sondern im Prinzip alle Befriedigungsoptionen umfasst. – eine z. B. unter dem Titel Eventisierung konstatierte tendenzielle Anheizung des persönlichen Beziehungs- und Gefühlslebens, Tendenzen zur ‚Regression‘, zur Spannungs- und Entspannungssuche (vgl. Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer (Hg.) 2000) zu Ungunsten der von Elias gemeinten und erwarteten Distanz/ Distanzierung, emotionalen Abkühlung und Rationalisierung. – eine entsprechende Anreizung und Anheizung des Trieblebens, jedenfalls des Sexualtrieblebens, statt einer „Dämpfung der Triebe“, wie Elias sie als Cha-
63 Die grundlegende zivilisatorische bzw. moralische Umstellung, um die es damit geht, beschreibt Bourdieu folgendermaßen: „Der Moral der Pflicht, die sich auf den Gegensatz von Vergnügen und Gutem stützt, Lust und Angenehmes generell unter Verdacht stellt, zur Angst vorm Genießen und einer Beziehung zum Körper führt, die ganz aus ‚Scheu‘, ‚Scham‘ und ‚Zurückhaltung‘ besteht und jede Befriedigung verbotener Impulse mit Schuldgefühlen begleitet, stellt die neue ethische Avantgarde eine Moral der Pflicht zum Genuß gegenüber, die dazu führt, dass jede Unfähigkeit sich zu ‚amüsieren‘, to have fun (…) als Misserfolg empfunden wird, der das Selbstwertgefühl bedroht, so dass aus Gründen, die sich weniger ethisch als wissenschaftlich geben, Genuß nicht nur erlaubt, sondern vorgeschrieben ist“ (Bourdieu 1982: 575 f.; Hervorheb. im Orig.). Es geht hier also nicht um eine Verringerung von sozialen Kontrollen, Fremdzwängen oder Selbstkontrollen, und es geht auch nicht um ‚Emanzipation‘ oder ‚Selbstverwirklichung‘, sondern um gewandelten und neuen Zwang oder Druck, einschließlich eines „Normalitätszwangs“ und eines „Kults um die Gesundheit der Person“ (ebd.: 577). Man könnte auch von einer Umzivilisierung sprechen, die nicht zuletzt mit der kulturellen Rolle der Psychoanalyse und ihrer Gesundheitsvorstellung zu tun hat.
136
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
rakteristikum des Zivilisationsprozesses beschreibt.64 (Auch) Diesbezüglich scheint das einstige zivilisatorische Regime der Versagung, der Askese, der Schamhaftigkeit und der Verdrängung längst der Vergangenheit (des 19. Jahrhunderts) anzugehören und von einem neuen Regime abgelöst worden zu sein, das sozusagen ein Lust- und Reizprinzip propagiert und postuliert.65 – eine gewisse Erosion und in manchen Bereichen gar das Ende jener „Langsicht“, die für Elias ein Zentrum oder das Zentrum des zivilisierten Zeit- und Selbstbewusstseins und des zivilisierten Habitus überhaupt darstellt. Im Anschluss an Sennetts „flexiblen Menschen“ (vgl. 2000) oder Becks ‚Risikogesell64 Die Erotisierung des (Er-)Lebens – gerade auch des Alltags-(er-)lebens – ist ja buchstäblich mit Händen zu greifen. 65 Bezüglich dieser Entwicklungen liegen verschiedene soziologische Beschreibungs- und Erklärungsversuche vor, die teils direkt und teils indirekt von zivilisationstheoretischer Bedeutung sind, indem sie entsprechende Fragen aufwerfen oder aber so etwas wie eine implizite Zivilisationstheorie enthalten. Roland Eckert z. B. hat im Kontext einer Untersuchung der video-medialen Massenverbreitung und Massennutzung von Pornographie die zivilisationstheoretische These einer „Partialisierung des Zivilisationsprozesses“ formuliert (vgl. Eckert u. a. 1991). Ähnlich ist Gerhard Schulzes ‚Hedonismus-These‘, die er im Kontext seiner ‚Erlebnisgesellschaft‘ aufstellt, zwar nicht in einem zivilisationstheoretischen Rahmen verortet, aber von erheblicher zivilisationstheoretischer Bedeutung und Tragweite. Die Überlegungen von Schulze, Eckert und anderen (Zeit-)‚Diagnostikern‘ der (eher) ‚Gegenwartsgesellschaft‘ sind zwar sehr unterschiedlich gegenstandsbezogen (vom Porno- und Horrorfilm-Konsum bis zum Kunst-Konsum reicht das Spektrum der Gegenstände) und von ebenso unterschiedlicher empirischer Basiertheit, aber in der argumentativen Grundtendenz durchaus ähnlich: Demnach leben wir in einem tendenziell hedonistischen und konsumistischen Zeitalter, in dem Verdrängung, Askese und Sublimation (auch und insbesondere im Bereich des Sexuellen) längst der Vergangenheit (des 19. Jahrhunderts) angehören und Genuss in allen Bereichen zum zentralen Lebenssinn, zum Lebensauftrag und zur permanenten ‚Sorge‘ geworden ist. (Diesbezüglich ist natürlich auch schon an Freud zu denken, der dem Genuss die Qualität einer „Fähigkeit“ zugeschrieben hat, über die man verfügen sollte, die man also auch unter Beweis zu stellen hat.) Entsprechend intensiv, aber auch flexibel, angepasst und eingepasst ist die Handlungsund Lebensführung sozusagen als Genussführung zu organisieren und zu gestalten. Konsum, ‚Erlebnis‘, Genuss/Genusshandeln besitzen und brauchen eine eigene „Rationalität“ (Schulze 1997) und damit auch eine entsprechende Zivilisiertheit und Zivilisation, die letztlich einer sozialen und individuellen Differenzierungslogik folgen. Im Prinzip ist nichts mehr ‚unmöglich‘, aber alles muss entlang sozialer (Grenz-)Bedingungen und diesen Bedingungen entsprechend ‚gemanagt‘ werden. Demzufolge ist, so Roland Eckert, „flächendeckende Affektkontrolle (…) obsolet geworden. Was heute zählt, ist situationsangepaßtes Emotionsmanagement, man könnte karikieren: das Ausschalten und Anschalten von Gefühlen“ (Eckert u. a. 1991: 157). Diese Flexibilität und Souveränität spricht allerdings weniger, wie Eckert meint, für eine „Partialisierung des Zivilisationsprozesses“ (ebd.: 155) als für dessen Intensivierung und Generalisierung. Das besagte Emotionsmanagement ist jedenfalls zivilisatorisch höchst voraussetzungsvoll und als Ausdruck einer fortgeschrittenen Zivilisierung, nämlich einer automatisch fungierenden und in ihrer Stabilität gesteigerten „Selbstkontrollapparatur“ (Elias 1980b: 317 ff.), zu werten, die eine eigenmächtige und flexible emotional-gratifikatorische Selbstregulierung (‚Selbstsorge‘) unter den Bedingungen dieser (Industrie-, Markt-, Konsum-)Gesellschaft erst möglich macht.
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schaften‘ (vgl. 1986; 2007) kann man zu dem Schluss kommen, dass die sozialen Voraussetzungen von Langsicht, nämlich langfristig stabile Verhältnisse und Berechenbarkeit, in vielen Lebensbereichen zunehmend entfallen. Gleichzeitig lässt sich aus verschiedenen Gegenwartsdiagnosen (etwa Schulzes ‚Erlebnisgesellschaft‘) eine sich verbreitende Mentalität der kurzfristigen (schnellen) Befriedigung und eine Verkürzung und Umwertung der biographischen Zeithorizonte ableiten. Vergangenheit wird demnach unwichtiger, Zukunft unkalkulierbarer, Gegenwart (also) wichtiger. Biographische (Selbst-)Festlegungen werden entsprechend überflüssig oder (selbst-)störend. Die zivilisatorische ‚Errungenschaft‘ des biographischen Selbstes (vgl. Hahn 1982) scheint wieder aus der Geschichte zu verschwinden oder bereits verschwunden zu sein. – eine tendenzielle Habitus-Umstellung von prinzipieller moralischer „Innenlenkung“ zu Formen von „Außenlenkung“ (Riesman 1958) mit einer entsprechenden Umwertung oder Entstehung von (neuen) ‚Autoritäten‘ wie den diversen ‚öffentlichen Meinungen‘ (im Großen wie im Kleinen). Riesmans „außen-geleiteter“ Menschentypus (Habitus) ist in seinem Erleben und Handeln weniger durch ein einheitliches, konkret ausdefiniertes und bindendes ‚ÜberIch‘ (Gewissen) als durch die Diversität aktuell relevanter Publika bestimmt. ‚Über dem Ich‘ scheinen, wenn man Riesman und neueren ‚Diagnostikern‘ wie Jürgen Link (1997) folgt, immer mehr die jeweils aktuell relevanten Anderen zu stehen, deren insgesamt weitgehend unzusammenhängenden Beurteilungen man sich je nach struktureller oder situativer (Zwangs- oder Opportunitäts-)Lage der Dinge zu unterstellen oder auch zu entziehen hat. – ein vielfach beklagter Verfall der interaktionsrituellen Formalität, Moralität und Disziplin (Interaktionsmoral, Interaktionsordnung), der auch für ‚bürgerliche‘ (‚zivilisierte‘) Schichten verzeichnet wird. Festgestellt wird eine gewisse Degenerierung oder ein Verlust genau jener ‚guten Manieren‘, z. B. der Höflichkeit, die für Elias das über Jahrhunderte gewordene Wesen des zivilisierten Umgangs ausgemacht haben. Die generalisierte „Informalisierung“ der Umgangsformen (Entritualisierung), die auch von Elias selbst und im Anschluss an ihn von Wouters (1979) konstatiert wurde, steht für Sennett als ein symbolischer Erosionskomplex unter anderen in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer ‚unzivilisierten‘, ja antizivilisatorischen „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1983), in der sich mit Formen und Distanzen auch Feinheiten des Handelns, der Kommunikation und der sozialen Beziehung auflösen. – damit zusammenhängend eine gerade auch massenmedial bediente und zelebrierte Lust an der teilweise als manifeste Gewalt anzusehenden Verletzung symbolischer und stilistischer Rahmen, eine praktizierte Schamlosigkeit und
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
symbolische „Vergewöhnlichung“ (Weiß 2003), die der von Elias behaupteten historischen Schambildung und „Verfeinerung der Sitten“ (gewissermaßen als Entfeinerung), aber auch der behaupteten Pazifizierungstendenz genau gegenläufig zu sein scheint. Nicht nur im Kontext bestimmter massenmedialer Unterhaltungsformate, sondern auch in ‚lebendigen‘ Beziehungen und Diskursen scheint es gewisse (symbolische) Verrohungstendenzen, eine tendenzielle ‚Entpsychologisierung‘ und (also) ‚Enthumanisierung‘ des Beziehungs- und Gefühlslebens (Mitleid, Rücksicht, Feingefühl betreffend) zu geben. Symbolische Gewalt, so hat es vielfach den Anschein, ist bei aller physischen Gewaltmonopolisierung und Pazifizierung (und gegen sie), nicht im Schwinden, sondern eher im Kommen und dabei, sich zu verschärfen und zu vervielfältigen. – und vor allem, und offenbar mit allem Genannten zusammenhängend: eine vielgestaltige Entzivilisierung durch die Entwicklungen und Krisen des (Welt-) Kapitalismus. Sie lassen sich als Verluste von sozialen, psychischen und soziopsychischen Balancen beschreiben, die für Elias das Wesen der (modernen) Zivilisiertheit und der Zivilisierung ausmachen. Die Entwicklung des Kapitalismus, die auch für Elias nicht nur eine Begleiterscheinung oder Folge, sondern auch einen genetischen Faktor von Zivilisierung darstellte, scheint über das bekannte Maß an gleichzeitiger ‚Barbarei‘ hinaus, das mit ihm historisch verbunden war und ist, immer mehr zum wichtigsten Gegenprozess der Zivilisierung überhaupt zu werden. Das (im Elias’schen Sinne) De- oder Antizivilisatorische dieser Entwicklung steckt in Implikationen und Effekten der sozialen Polarisierung und Asymmetrisierung, der Aggressivität und der (nicht nur symbolischen) Gewalttätigkeit, der Entsolidarisierung (vgl. Etzioni 1997), der Generalisierung einer mit einer emotionalen Primitivisierung66 einhergehenden praktischen ‚Rational-Choice-Mentalität‘, der Auflösung ‚traditioneller‘ Moralvorstellungen und ‚Tugenden‘, wie z. B. der Leistungsmoral, die scheinbar auf breiter sozialer Front zu Gunsten einer praktischen Spieltheorie und Spielmoral des Erfolgs(-menschen) degeneriert ist (vgl. Neckel 2001; 2008).67
66 Gier, Rücksichtslosigkeit, Mitleidslosigkeit usw. 67 Schimank (2000) konstatiert im Zusammenhang von Gegenwartsdiagnosen auch so etwas wie einen negativen gesellschaftlichen Klimawandel und behauptet, dass sich in Deutschland seit den 80er Jahren die „kollektive Stimmungslage spürbar gewandelt hat; (…) Die Gesellschaft ist seit Anfang der achtziger Jahre offenbar wieder konflikthafter, ‚kälter‘, unbehaglicher geworden; anstelle von Überfluss und Wohlfahrt sind Knappheiten und Risiken ins Bild gerückt; und eine im Grundsatz überwiegend optimistische Zukunftserwartung ist einer eher pessimistisch getönten gewichen“ (ebd.: 11). Dafür, dass dieser Trend existiert und dass er sich zwischenzeitlich noch verstärkt hat und vermutlich noch weiter verstärken wird, spricht gegenwärtig viel.
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Mit allen diesen Aspekten – und ihre Reihe wäre zu verlängern – kann und soll jedoch nicht das Gebäude der Elias’schen Zivilisationstheorie bestritten oder erschüttert werden. Gegenbewegungen, Schwankungen, Einbrüche, ‚Rückschläge‘, teilweise Abbrüche und sogar totale Zusammenbrüche von Zivilisation sowie auch diesbezügliche Ambiguitäten, Hybriditäten und Ambivalenzen sind, wie gesagt, in ihrem Rahmen durchaus vorgesehen und zu erwarten. Vor allem aber zeigt der genauere Blick auf jedes einzelne (Entwicklungs-)Phänomen, dass Diagnosen von Entzivilisierungen mit Vorsicht zu betrachten und zu betreiben sind. Nicht nur sind sie immer nur eine Seite der Medaille, sondern sie sind auch vielfach in sich uneindeutig oder vordergründig. So kann ‚Informalisierung‘ durchaus auch eine forcierte (Auto-)Disziplinierung, Subjektivierung und Individualisierung bedeuten oder darauf hindeuten. Dennoch: Je mehr man sich, sozusagen aus der Ferne der Geschichte kommend, der Gegenwart nähert, desto komplizierter, vielschichtiger, widersprüchlicher, vieldeutiger und unübersichtlicher erscheinen die empirischen Realitäten, desto schwieriger wird es, einzuschätzen, in welcher Zivilisation, in welchen Zivilisationen wir eigentlich leben (und erst recht leben werden) und was der Zivilisationsbegriff überhaupt (noch) leistet und leisten kann, um soziale Wirklichkeit(en) zu beschreiben und zu erklären. Es bedarf also jedenfalls eines sowohl empirisch-analytischen als auch theoretischen, und zwar gegenstandstheoretischen und grundlagentheoretischen, Weiterarbeitens im Sinne einer synthetischen (Zivilisations-)Soziologie.
3.4
Individuum und Individualisierung
Mit den bisher fokussierten Sach-, Konzept- und Theorieaspekten (Figuration, Feld, Netzwerk, Habitus, Mentalität usw.) und allgemein dadurch, dass sie Zusammenhänge von Sozio- und Psychogenese (Sozialisation/Zivilisation) in den Mittelpunkt von Gegenstandsbeobachtung und Theoriebildung rückt, stellen sich für die Figurationssoziologie immer auch Fragen nach dem Individuum und nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.68 Für Elias (und nicht nur für ihn) ist Letzteres ein „Kardinalproblem der Soziologie“ (1999: 10), dem er sich mit entsprechender Intensität und Kontinuität widmet. Die Figurationssoziologie bietet diesbezüglich einen eigenen Rahmen und einen eigenen Schlüssel, nicht nur zu 68 Prozesssoziologisch bzw. zivilisationstheoretisch gesehen, ist die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gleichbedeutend mit der nach dem Verhältnis von Sozio- und Psychogenese.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
den damit gemeinten sozialen Tatsachen, sondern auch zu den darauf bezogenen soziologischen Tatsachen: speziell zu dem weiten, unübersichtlichen und inkonsistenten Feld der individualisierungstheoretischen Diskurse69.
3.4.1
Zivilisierung, Individualisierung und Normalisierung
Es versteht sich hier schon fast von selbst, dass die figurationssoziologischen Fragen nach dem Individuum und nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und dass schließlich die Antworten der Figurationssoziologie auf jenes ‚Kardinalproblem‘ auf allen Ebenen prozesstheoretisch angelegt sind. Das Individuum erscheint in dieser und durch diese Soziologie also nicht als eine irgendwie statische, (für sich) ‚seiende‘, geschlossene, abgeschlossene Einheit oder ‚Identität‘, sondern eher als die permanent sozial vernetzte und sozial gestaltete Gestalt eines Menschen70, der in einem (Lebens-)Prozess von Figurationen und in Figurationen/ Beziehungen wird und als werdendes und gewordenes Individuum zugleich zunehmend auch selbst gestaltend auf seine Figurationen einwirkt und zurückwirkt. Im Verständnis der Figurationssoziologie tritt das Individuum also als zweiseitig in Erscheinung: auf der einen Seite sozusagen als sich ständig ‚weiterbildender‘ Niederschlag eines Sozialschicksals71 im Gang des ‚Gesellschaftsschicksals‘ und auf der
69 Von Simmel bis zur ‚Gegenwartssoziologie‘ reichend, sind diese Diskurse bekanntlich ebenso traditionsreich wie aktuell und wiederkehrend, und sie sind in ihrer Heterogenität, wechselseitigen Inkompatibilität, Widersprüchlichkeit und terminologischen Verwirrung symptomatisch für den Stand der soziologischen/sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und Forschung. Elias’ Individuum- und Individualisierungstheorie, die in der einschlägigen soziologischen Diskussion bis heute (trotz aller ‚Elias-Konjunktur‘ und trotz aller Konjunktur der Individualisierungstheorie) zu wenig beachtet wurde, steckt im Ansatz bereits in seiner Untersuchung „Über den Prozeß der Zivilisation“. Systematisch und programmatisch zentral ist diesbezüglich das Buch „Die Gesellschaft der Individuen“ (Elias 1999), das aus drei, in aufeinander folgenden Schaffensperioden von Elias entstandenen Texten besteht. Den ältesten und an erster Stelle platzierten, der den Titel des Buches („Die Gesellschaft der Individuen“) trägt, hatte Elias bereits 1939 im Kontext seiner (frühen) Zivilisationstheorie fertiggestellt. Das Buch schließt mit einem auch unter programmatisch-theoretischen – insbesondere habitustheoretischen – Gesichtspunkten besonders interessanten Text, den Elias 1987, also gegen Ende seines Lebens, vollendet hat. In diesem Buch laufen viele in früheren Arbeiten von Elias begonnene Gedankenfäden zusammen. Gleichzeitig und dadurch eröffnet sich ein breiter Horizont der Theorie(weiter)bildung und empirischen Forschung. 70 Am Begriff des Menschen hält Elias ja entschieden und auch programmatisch (im Sinne von Menschenwissenschaft) fest. 71 Habitusschicksal bzw. ‚Trieb(habitus)schicksal‘ eingeschlossen.
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anderen Seite als Akteur72, als aktives, handelndes, seine Welt und sich selbst (um-) bildendes Ich – als Ich in der Zeit seines Lebens und in der (Gleich-)Zeit seiner sozialen (Gesellschafts-)Figurationen. Diese erscheinen allerdings als die objektiven sozialen Tatsachen, die die (Entscheidungs-, Gestaltungs-)Spielräume der Individuen bedingen, eröffnen und limitieren: „Gerade dies ist für die Stellung des Einzelnen inmitten seiner Gesellschaft bezeichnend, daß auch die Art und Größe des Entscheidungsspielraums, der sich dem einzelnen Individuum eröffnet, von dem Aufbau und der geschichtlichen Konstellation des Menschenverbandes abhängt, in dem er lebt und handelt“ (Elias 1999: 79). Mit dem prozesssoziologischen Begriff des Individuums sind die Begriffe Zivilisation und Sozialisation/„individuelle Zivilisierung“ auf engste verbunden (vgl. z. B. Elias 1999: 169). Jedes Individuum ist Elias zufolge ein Lebens- und (Um-) Bildungsprozess in dem gleichzeitig stattfindenden und ihm zugleich vor- und übergeordneten Prozess der Gesellschafts- und Menschheitsgeschichte bzw. der Zivilisation. Dieser Zweiseitigkeit korrespondiert die Zweiseitigkeit der figurationssoziologischen Individualisierungsvorstellung und Individualisierungstheorie. Die Individualität und die Individualisierung des Individuums erscheinen ebenso wie die generationenübergreifenden (Massen-)Individualisierungsprozesse untrennbar mit dem Prozess der Zivilisation verbunden, der als historisch fortschreitend und sich dabei immer wieder im einzelnen Leben wiederholend gedacht wird.73 In diesem (Menschen-)Leben bedeutet Zivilisierung zugleich Subjektivierung, Genese des Akteurs als befähigtes und befähigendes Habitusensemble und „Ich-Identität“ (Elias 1999: 209 ff.)74, Steigerung von Ich-Autonomie und sozialer Handlungsfähigkeit. Die Realität und der Begriff der Zivilisierung sind insofern fundamental und begründen auch den Begriff der Individualisierung.
72 Akteur heißt hier längst nicht nur, aber immer auch, Interakteur. Es besteht also schon von daher eine gewisse Verwandtschaft der Figurationssoziologie mit dem Symbolischen Interaktionismus und mit (dem nicht nur ‚interaktionistischen‘) Goffman. Von anderen Verwandtschaften in diesen Richtungen (Wissenssoziologie, Symboltheorie) wird noch die Rede sein. 73 Aus seiner Arbeit über den „Prozeß der Zivilisation“ ergab sich für Elias die auch sozusagen sozialisationstheoretische Schlüssel-Erkenntnis, „daß Menschen einer jeweils späteren Generation in eine spätere Phase des Zivilisationsprozesses eintraten. Als Individuen mußten sie beim Heranwachsen einen späteren Standard der Scham, der Peinlichkeit, des ganzen sozialen Prozesses der Gewissensbildung in sich verarbeiten als Menschen der vorangegangenen Generationen. Die gesamten sozialen Selbstregulierungsmuster, die der einzelne Mensch bei seiner Heranbildung zu einem einzigartigen Individuum durch Lernen in sich entwickeln muß, sind generationsspezifisch und so im weiteren Sinne gesellschaftsspezifisch“ (1999: 10). 74 Als sozialer Differenzierungseffekt ist sie eigentlich Ich-Differenz, nämlich das, „wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden“ (Elias 1999: 210).
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Allerdings ist bei aller Deutlichkeit des Zusammenhangs von Zivilisierung und Individualisierung weder das Verhältnis dieser komplexen Prozesse noch das Verhältnis der entsprechenden Theorien und Theoriegeschichten befriedigend geklärt. So sehr Individualisierung und Zivilisierung als zwei Seiten einer Medaille erscheinen75 und so sehr Individualisierung auch als eine Funktion von Zivilisierung zu verstehen ist76, so wenig erschöpft sich Individualisierung in Zivilisierung oder löst sich darin auf. Das Verhältnis von Zivilisierung und Individualisierung (und damit auch das mit diesen Begriffen jeweils Gemeinte) bedarf also weiterer begrifflichtheoretischer Reflexion und empirisch-analytischer Untersuchung77. Die Figurationssoziologie bildet in diesem Zusammenhang aber immerhin eine ausgearbeitete Basis und eine strategische Ausrichtung sowohl für empirische Forschung als auch für begrifflich-theoretische (Weiter-)Arbeit bzw. für eine soziologische ‚Revision‘ und ein soziologisches ‚Recycling‘ von (reichlich) vorhandenem Begriffs- und Theoriengut, insbesondere von individualisierungstheoretischen Diskursen und – damit zusammenhängend – von individuum- und kollektivitätsbezogenen Identitätstheorien78. Zu diesen Theorien und Diskursen
75 Das heißt: „Was sich auf der einen Seite als Prozeß der zunehmenden Individualisierung darstellt, ist auf der anderen zugleich auch ein Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1999: 168) – und umgekehrt. Gemeinsamer sozialer und soziogenetischer Bezugsrahmen beider Prozesse ist die (fortschreitende) soziale Differenzierung/Verflechtung. 76 Zivilisierung heißt ja auch, dass das ‚Ich‘ stärker und (also) komplexer wird, dass die „Selbstzwangapparatur“ sowie die damit verbundene unbewusste und bewusste „Selbstregulierung“ an Gewicht und Autonomie gewinnen, dass die Distanzen zwischen dem Individuum (‚Ich‘) und seinen äußeren und inneren ‚Umwelten‘ größer und fühlbarer werden. 77 Eine interessante Frage ist z. B. die nach der Individualisierung von zivilisatorischen Dispositionen, etwa der Scham- und Peinlichkeitsgefühle. Es ist davon auszugehen, dass (auch) Letztere einem Individualisierungsprozess unterliegen und heutzutage typischerweise mehr oder weniger hochgradig individualisiert sind, was jedoch nicht gegen die Elias’sche These einer globalen Entwicklungstendenz in diesem Punkt spricht. 78 Die Vielzahl und Vielfalt der soziologischen Identitätsbegriffe und Identitätstheorien hat etwa seit den 1960er Jahren immer mehr zugenommen und ist heute kaum noch zu überblicken. Neben immer noch gängige und gebräuchliche ältere und alte Begriffsfassungen wie die klassische Goffman’sche Triade „soziale Identität“, „persönliche Identität“ und „Ich-Identität“ (vgl. Goffman 1967; Krappmann 1971) sind neue getreten, z. B. der Begriff der „partizipativen Identität“, den Hahn eingeführt hat (vgl. Hahn 1997; Willems/Hahn 1999: 9 ff.). Allgemein und in den speziellen Fassungen kann von Einheitlichkeit in der Begriffsbildung und Begriffsverwendung keine Rede sein. Vielmehr verdeckt die Identität des Begriffs die Differenz, Diversität und Diffusion seiner Bedeutungen. Das gilt z. B. für die Variante ‚Ich-Identität‘, die Elias (ohne Bezug auf diesbezügliche Vorgänger) ganz anders gebraucht als etwa Goffman oder Erikson. Für Elias, der an zentraler Stelle seiner Individualisierungstheorie von Wir-Identität und Ich-Identität spricht, den Identitätsbegriff insgesamt aber eher selten verwendet, fallen die zeitgenössischen Identitätsbegriffe und Identitätsdiskurse überwiegend in die Kategorie der von ihm kritisierten ‚Homo clausus-Theorien‘.
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verhält sich der Ansatz der Figurationssoziologie gleichzeitig ‚dekonstruktiv‘79/dekomponierend und konstruktiv/synthetisierend. Er hält an den Begriffen des Menschen, des Individuums, der Individualität, des Akteurs und auch der Identität als Zusammenhängen (Synthesen) fest, ja er macht sie theoretisch besonders stark, zielt aber zugleich darauf, sie in ihren und mit ihren sozialen Zusammenhängen zu sehen, sie zu relationieren und (damit) auch zu entsubstanzialisieren80 und zu entmythisieren81. Dies geschieht z. B. und schwerpunktmäßig unter dem Titel „homo clausus“ (vgl. Elias 1972; 1981; 1999), der eine (figurations-)wissenssoziologische Kritik am wissenschaftlichen (sozialwissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen/psychoanalytischen) Individualismus signalisiert und zugleich eine soziale (Selbst-)Erfahrungs- und (Selbst-)Wissens-Realität des Individuums markiert82, die es soziologisch zu erforschen, aufzuklären und zu erklären gilt. Wie in anderen Kontexten verbindet die Figurationssoziologie auch in diesem die (figurations-)wissenssoziologische Problematisierung und ‚Dekonstruktion‘ disziplinär selbstverständlicher und eingespielter „Denkgewohnheiten“ (Elias 1999: 35), Begriffe, Modelle und Theorien mit der Absicht und Aussicht einer analytischen und synthetischen ‚Gegenleistung‘. Es geht darum, als unangemessen kritisierte soziale und soziologische Vorstellungen und Konstrukte (Deutungsmuster, Diskurse) als gleichsam symptomatische Anzeiger sozialer Tatsachen zu verstehen. Auch scheinbar subjektive (Selbst-)Erfahrungs- und Wissens-Wirklichkeiten von Individuen(-massen) werden hier m. a. W. als Ausdrücke historischer Zusammenhänge von Sozio- und Psychogenese, sozialer (Praxis-)Ordnung und individueller 79 ‚Dekonstruktiv‘ im Sinne von auflösend oder zersetzend und auch im Sinne von ‚Mythen jagend‘ (vgl. Elias 1981: 51 ff.). 80 Dies ist sozusagen ein werkdurchgängiges Hauptanliegen von Elias, der seit seiner und mit seiner Zivilisationstheorie immer wieder mit dem Versuch zu tun hat, ontologisierende und (d. h.) substantivierende Redeweisen und Ausdrücke als unrealistische Konstrukte zu entlarven und prozesssoziologisch einzuordnen. Eine ähnliche, allerdings weniger prozess- als struktursoziologische Orientierung und Bemühung zeichnet die Arbeiten Goffmans aus, der auf seine Weise praktisches Reden und praktisches Wissen – auch vom ‚Individuum‘, von ‚Identität‘, vom ‚Selbst‘ usw. – in theoretisch-empirischer Arbeit zerlegt (vgl. z. B. Goffman 1974a; 1977b; Willems 1997a). 81 Zu den Mythen, die Elias in diesem Zusammenhang jagt, gehört die modern-psychologische Innerlichkeits- und Eigentlichkeitssemantik: die Rede vom ‚wahren Selbst‘, von ‚Authentizität‘ usw. 82 In diesem Zusammenhang ist auch an andere Elias’sche Begriffe und Metaphern wie „Selbstzwang“ oder „innerer Kriegsschauplatz“ (Elias 1980b) zu denken, die jene Wirklichkeit des „homo clausus“ bezeichnen oder mitbezeichnen. Individualisierung erscheint hier also weniger als ein Prozess der ‚Emanzipation‘ oder ‚Selbstverwirklichung‘ (wie schwerpunktmäßig in vielen neueren individualisierungstheoretischen Diskursen), sondern vielmehr als eine mit psychischen Kosten verbundene Zunahme der „Getrenntheit und Absonderung der einzelnen Menschen in ihren Beziehungen zueinander“ (Elias 1999: 167).
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(Selbst-, Akteur-)Perspektive behandelt. Im Rahmen der figurationstheoretischen Gesamtvision wird noch und gerade die scheinbar innerste Subjektivität soziologisch eingeholt83 und als ein Schema und ‚Bild‘ relativiert, das sich der Objektivität sozialer (Figurations-, Differenzierungs-, Verflechtungs-)Verhältnisse verdankt.84 In diesem Rahmen und aus diesem Rahmen gesehen, erscheinen historische Individualisierungsprozesse zum einen als eine Klasse historischer Teilprozesse in einem Bündel verschiedener miteinander zusammenhängender und sich teilweise auch überschneidender Klassen von historischen Teilprozessen. Individualisierung bzw. (moderne) „Massenindividualisierung“ (Elias 1999: 242) verweist auf Zivilisierung und (als) „Rationalisierung“, „Psychologisierung“85, „Privatisierung“86, Intimisierung, Sensibilisierung u. a. m. Zum anderen wird Individualisierung nur als eine Seite der (historischen Prozess-)Medaille verstanden und behandelt. Die andere (Gegen-)Seite ist – und bleibt und wird auch und gerade unter modernen Bedingungen – die Gesellschaft in den Formen und Formationen nicht nur des bewussten, ausdrücklichen ‚Wir‘ oder ‚Wirgefühls‘, sondern auch der faktischen, 83 Elias widmet der Wirklichkeit der „Selbsterfahrung“ (Elias 1999: 175) als „homo clausus“, die er als eine zentrale Seite des Individualisierungsprozesses ansieht und ansichtig macht, in verschiedenen Arbeiten mit oft geradezu poetischen Formulierungen immer wieder größere Aufmerksamkeit. So beschreibt er sie als die Tendenz „hoch individualisierter Menschen (…) sich als etwas zu empfinden, dessen ‚Inneres‘ anderen Menschen unzugänglich und verborgen ist, als ‚Selbst im Gehäuse‘, dem die anderen Menschen als etwas Äußeres und Fremdes oder gar als Kerkermeister gegenüberstehen, und die ganze Skala der Empfindungen, die mit dieser Selbsterfahrung verbunden sind, das Empfinden etwa, nicht sein eigenes Leben leben zu können, das des fundamentalen Alleinseins oder Gefühle der Einsamkeit (…)“ (ebd.: 177). Man assoziiert hier natürlich den Begriff der Entfremdung, und in der Tat liefert Elias so etwas wie einen eigenen Entfremdungsbegriff und damit auch einen Begriff von (moderner) Subjektivität und (modernem) Subjektivismus. Von ihm aus eröffnet sich eine erhellende Perspektive auf entsprechende Semantiken, Diskurse und Institutionen, wie z. B. die der Selbstthematisierung (s. u.). 84 Mit diesen Fragen und diesem Ansatz trifft und deutet die Figurationssoziologie also immer auch sozusagen existentielle (Daseins-)Aspekte, und insofern ist sie nicht trivial. Man kann sie sogar als eine Art soziologische Daseinstheorie und Daseinsanalyse verstehen und betreiben. 85 Im Unterschied zu den Begriffen Rationalisierung und Individualisierung ist der Begriff der Psychologisierung meines Wissens ein genuin Elias’scher; jedoch steht er in einem Strom semantisch ähnlicher Begriffe wie „Psychisierung“ (Gehlen 1957) oder Subjektivierung/Subjektivismus. Diesbezüglich ist Gehlens historische Sozialpsychologie (vgl. 1957) der Elias’schen sachlich sehr verwandt. 86 Elias meint mit diesem Begriff, den er gelegentlich in Anführungszeichen setzt (z. B. 1999: 168; vgl. demgegenüber ebd.: 174), insbesondere die historisch-tendenziell zunehmende individuelle und individualisierende Distanznahme zur ‚Öffentlichkeit‘ bzw. zur Anwesenheit anderer bei bestimmten „mehr animalischen“ Verhaltensweisen (ebd.: 174). Im „Prozeß der Zivilisation“ spricht er in diesem Sinne von einer Verschiebung „hinter Kulissen“. Individualisierung bedeutet hier also soziale Distanzierung bzw. Alleinstellung des Individuums, das sich dabei und dadurch als solches bzw. als ‚homo clausus‘ bewusst wird.
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insbesondere habituellen, Gemeinsamkeit, der eher impliziten und unterschwelligen Kollektivität, Normalität und Normalisierung. Zwar lässt sich mit Elias87 eine historische Verschiebung vom „Wir“ zum „Ich“, eine Verlagerung der „Wir-Ich-Balance“ konstatieren88, aber das bedeutet weder ein Ende noch einen Bedeutungsverlust von Gesellschaft, sondern vielmehr eine neue Qualität bestimmter Seiten des „Gesellschaftsprozesses“ (ebd.: 166), der dem Individuum auch individualisierungstranszendent sowie partiell entindividualisierend gegenübertritt und zugleich innewird und innewohnt. Individuum, Individualisierung, Individualität, Individualismus sind demnach nicht nur zutiefst sozial (und historisch), sondern stehen auch im immanenten Zusammenhang mit jener Gegenseite der Gesellschaft und der Vergesellschaftung, des Kollektivs, der Kollektivität, der „Wir-Identität“ als dem, was Menschen „miteinander gemein haben“ (ebd.: 210), und in diesem Sinne sind sie prozesssoziologisch zu verstehen und zu rekonstruieren.
3.4.2
Strukturelle und kulturelle Individualisierung und Normalisierung
Teils im direkten Anschluss an Elias, teils in Anlehnung an ihn macht es in diesem Kontext Sinn, in Bezug auf den ‚Ich-Pol‘ der „Wir-Ich-Balance“ von struktureller Individualisierung zu sprechen89 und diese Art oder Ebene von Individualisierung von kultureller Individualisierung zu unterscheiden. Strukturelle Individualisierung findet im Zuge sozialer (Funktions-, Rollen-, Schicht-)Differenzierungs- bzw. Verflechtungsprozesse statt, in deren Verlauf die Individuen sozusagen als strukturelle „Knotenpunkte“90 immer individueller werden. In dieselbe Richtung wirkt im selben sozialen Entwicklungszusammenhang 87 Im Grunde im Konsens mit vielen anderen (nicht nur soziologischen) Beobachtern der Moderne und der Modernisierung. 88 Besonders derart, dass das Individuum sozial allseitig (funktional, material, normativ, semantisch, diskursiv) wichtiger wird, sich selbst wichtiger nimmt und wichtiger genommen wird – mit bestimmten Wir-Verlustkorrelaten oder Verlustimplikationen: tendenziell sich lockernden oder schwindenden Gemeinschaftsbindungen, Entsolidarisierungen etc. 89 Elias’ Gedankengang in diesem Punkt steht deutlich in der Kontinuität von Simmels klassischen Überlegungen „Über die Kreuzung sozialer Kreise“. 90 Elias verwendet die auch bei anderen Soziologen beliebte und auf den Netzwerkgedanken verweisende Metapher des Knotenpunkts. (Sie findet sich auch z. B. bei Luhmann.) Bei Elias meint sie einen ‚Punkt‘ im sich entwickelnden Netzwerk sozialer Beziehungen von Individuen. In der „Gesellschaft der Individuen“ heißt es: „Es ist die Ordnung dieser unaufhörlichen Verflechtung ohne Anfang, es ist die Geschichte seiner Beziehungen, die Wesen und Gestalt des einzelnen Menschen bestimmt. Noch die Art und Gestalt seines Alleinseins, noch das, was er als sein ‚Inneres‘ empfindet, erhält durch diese Geschichte seiner Beziehungen sein Gepräge – durch den Aufbau des Men-
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die strukturelle Freisetzung der Individuen91. Dass der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft eine Individualisierung der (ihrer) Individuen entspricht (vgl. ebd.: 191 f.), ist aber nur als die eine Seite der Medaille. Andererseits und gleichzeitig geraten dieselben (individualisierten) Individuen struktur(ierungs)bedingt und struktur(ierungs)erzeugt unter immer ähnlichere Existenzbedingungen bzw. in immer größere wechselseitige Abhängigkeit voneinander, so dass sie auch einander immer ähnlicher – habitusähnlicher – werden.92 Elias erfasst und entwirft diese bivalente und ambivalente Entwicklung im Grunde schon in seiner Zivilisationstheorie. In der „Gesellschaft der Individuen“ konstatiert er, ganz im Sinne dieser Theorie historisch rückblickend, einen Entwicklungszusammenhang von struktureller Differenzierung und Interdependenzverdichtung, der mit einer entsprechenden ‚Vergesellschaftung‘ der Individuen einhergeht, einerseits und Individualisierung andererseits: „Mehr und mehr Menschen lebten in wachsender Abhängigkeit voneinander, während jeder Einzelne zugleich verschiedener von allen anderen wurde“ (ebd.: 185). Elias sieht strukturelle Individualisierungsprozesse also im immanenten Zusammenhang mit strukturellen Parallel- und Gegenentwicklungen. Während die Individuen immer individueller geworden sind und „die Wir-Ich-Balance tendenziell zu einer IchWir-Balance geworden“ ist, sich die „Balance zugunsten des Ichs verlagert“ hat (Treibel 2008: 92), haben sich zugleich implizite Habitus-Gemeinsamkeiten und damit Gemeinsamkeiten des Wissens und (Selbst-, Welt-)‚Bewusstseins‘ ergeben. Diesseits und jenseits von verschwundenen oder schwindenden ‚Wir-Gefühlen‘ (Solidaritäten, Gemeinschaften) haben sich (struktur-)differenzierungs- und verflechtungsbedingt und (struktur-)differenzierungs- und verflechtungserzeugt kolschengeflechts, in dem er, als einer seiner Knotenpunkte, zu einer Individualität heranwächst und lebt“ (Elias 1999: 55 f.). 91 Das Individuum, das durch die Besonderheit seiner sozialen (Figurations-)‚Anschlüsse‘, Verflechtungen und (d. h.) Einbindungen individualisiert wird, wird auch durch die gleichzeitige strukturelle Erweiterung seiner individuellen Spielräume, durch seine zunehmenden sozialen Unbestimmtheiten und Entlassenheiten aus ‚primären‘ Sozialbindungen und Sozialkontrollen individualisiert. Es wächst damit der soziale und individuell-existentielle Freiraum der Entscheidung und (Selbst-)Gestaltung und zugleich wachsen der Zwang zur Entscheidung und (Selbst-)Gestaltung und der „Zwang zum Selbstzwang“ (Elias 1980b: 312 ff.), worin eigene Faktoren der (Habitus-)Individualisierung bestehen. An dieser Stelle trifft sich die Elias’sche Theorie der Zivilisation und der Individualisierung wiederum mit Simmels Theorie der Individualisierung und mit der Beck’schen Weiterentwicklung dieser Theorie (vgl. Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Treibel 1996). 92 Es geht hier also sozusagen um einen Doppeleffekt einer strukturellen (figurationalen) Sozialisation und einer Art von Sozialisationsprogramm, das sich im Habitus(-ensemble) und d. h. auch im Gedächtnis des Individuums niederschlägt.
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lektive und kollektivierende Gemeinsamkeiten und Normalitäten etabliert, die auch als Arten von Identität oder sogar als eine Art von (kollektiver) Identität verstanden werden können. Diesen zweiwertigen strukturellen Sozialisationsprozessen / Zivilisierungsprozessen korrespondieren entsprechende kulturelle Prozesse, Formationen und Transformationen von Ideen, Deutungsmustern, Semantiken, Symboliken, Ritualen, Diskursen, Moralen, Institutionen etc. Individualisierung bedeutet auf dieser (kulturellen) Ebene insbesondere den historischen Siegeszug des Individualismus und damit einhergehend: den gesellschaftlichen Aufstieg von individuellen Geltungs-, (Ich-)Autonomie- und Freiheitsidealen; die Legitimierung und Postulierung von individueller Selbstverwirklichung; die Etablierung von Ansprüchen und Institutionen der Ich-Pflege; die Kultivierung von individueller Originalität; die Umstellung von einer wir-orientierten Ehremoral zu einer ich-orientierten Würdemoral (vgl. Berger/Berger/Kellner 1975) u. a. m. Elias konstatiert vor allem eine individualistische Wert- und Normentwicklung im Gefolge struktureller Differenzierungsprozesse (und damit Individualisierungsprozesse) und bemerkt: „Mit der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft und der entsprechenden Individualisierung der Individuen wird dieses Verschiedensein eines Menschen von allen anderen zu etwas, das besonders hoch in der Wertskala solcher Gesellschaften steht. Es wird in solchen Gesellschaften zu einem persönlichen Ideal des Heranwachsenden und des Erwachsenen, sich in der einen oder anderen Weise, von anderen zu unterscheiden.“ (Elias 1999: 191 f.)
Elias zufolge spielt sich also die historische Entwicklung und (gesamt-)gesellschaftliche Generalisierung individualistischer Distinktionswerte (Distinktionsbedürfnisse, Distinktionsaspirationen) vor dem Hintergrund sozialer Differenzierungsprozesse ab, die (auch) in diesem Zusammenhang(wie in dem der Zivilisation) gleichsam als Motor der sozio-kulturellen Entwicklung erscheinen. Individualismus und individualistische Distinktion sind aber auch noch in verschiedenen anderen Hinsichten ‚historisch-gesellschaftspsychologisch‘ zu relationieren und zu relativieren: Sie stehen erstens immer neben oder im Rahmen von mannigfaltigen kollektiven Distinktionsbewegungen, Distinktionsaspirationen und Distinktionspraxen.93 93 Hier geht es um die Ebene der größeren und kleineren Gruppen und Gruppierungen, der Schichten, Klassen, Milieus, Szenen, die sich voneinander distinguieren wollen und faktisch distinguieren und in denen immer auch Individuen (z. B. Höflinge in der ‚höfischen Gesellschaft‘) im jeweili-
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Sie sind zweitens auch nach den (funktionalen) Differenzierungs-, Integrations- und Individualisierungsschüben der Modernisierung (nach dem Untergang der ‚höfischen Gesellschaft‘) nicht unabhängig von der Schichtung der (Gesamt-)Gesellschaft, sondern vielmehr in sie und ihre Entwicklung eingelassen und davon geprägt. Elias betont in diesem Zusammenhang – und bringt damit wiederum sein zivilisationstheoretisch kontextiertes ‚Sickermodell‘ in Anschlag –, dass sich das individualistische Ideal selbst „in den differenzierteren Staatsgesellschaften Europas (…) erst allmählich von kleineren über weitere Schichten hin“ ausbreitet (Elias 1999: 192 f.). Es gibt demnach – bis heute – nicht nur eine schichtungsimmanente Distinktions(kampf)logik, distinktive Abgrenzungsbewegungen und gegenläufige Aufstiegsbewegungen zwischen und in Schichten, sondern auch eine entwickelte und sich entwickelnde Schichtdifferenzierung von individualistischen Distinktionsbedürfnissen, Distinktionskompetenzen und Distinktionsleistungen. Die oberen und obersten Schichten waren und sind auch diesbezüglich ‚führend‘94, wenngleich der individualistische „Sickerprozeß“ heute schon die breitesten (Unter-)Schichten erfasst und mehr oder weniger durchdrungen hat. Drittens stehen kulturelle Individualisierungsprozesse nicht nur in sozusagen dialektischen Zusammenhängen mit strukturellen Differenzierungs- und Individualisierungsprozessen, sondern sie stehen auch in Zusammenhängen und Spannungsverhältnissen mit Prozessen, die der strukturellen und kulturellen Individualisierung entgegengesetzt sind: Prozessen der strukturellen und kulturellen Normalisierung, der Integration, Egalisierung, Nivellierung (Kontrastverringerung)95. Für den Einzelnen stellen sich damit unter habituellen Voraussetzungen und mit Habituseffekten sozial und subjektiv schwerwiegende Aufgaben und Probleme der Balancierung zwischen dem Zwang zur Individualität und dem Zwang zur Normaligen kollektiven Rahmen ihre eigenen Distinktionsstrategien entfalten. Elias widmet sich den Thematiken der kollektiven und der individuellen bzw. individualistischen Distinktion bereits in der „Höfischen Gesellschaft“ und in der Zivilisationstheorie, später auch in der Untersuchung über „Etablierte und Außenseiter“ und in der „Gesellschaft der Individuen“. Neben Elias war es bekanntlich Bourdieu, der das Thema der – vor allem kollektiven – Distinktion als soziologisches Schlüsselthema (re-)etabliert und fokussiert hat (vgl. Bourdieu 1982). Während Bourdieu es in den Kontext seiner Klassentheorie stellt, schafft Elias eine darüber hinausgehende und komplexere (angemessenere) Synthese aus Schichtungs- und Individualisierungstheorie der Distinktion(en). 94 Hier ist ein Blick auf neuere empirisch-kultursoziologische Untersuchungen wie die von Gerhard Schulze (1997) aufschlussreich. Dessen „Erlebnisgesellschaft“ passt mit ihrer milieuspezifischen Individualisierung bzw. (Nicht-)Ausprägung von Individualisierungs- und Individualismusbedürfnissen durchaus in den Rahmen des Elias’schen Schichtungs- und (Schichtungs-)Sickermodells der (kulturellen) Individualisierung. 95 Elias spricht ja von der historisch-tendenziellen „Verringerung der Kontraste“ bei gleichzeitiger „Vergrößerung der Spielarten“ (Elias 1980b: 342 ff.).
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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tät, zwischen individualistischer Distinktion und normalistischer Konformität (vgl. ebd.: 196 f., 204). Elias sieht diesen Zwangszusammenhang als Resultat sozialer (soziogenetischer) Entwicklungen und zugleich als Resultat sozialisatorischer/zivilisatorischer (psychogenetischer) Erfahrungen und Lernprozesse tief im Einzelnen verwurzelt, sozusagen als dessen Differenz-Identität, mit der und in der sich die soziale Identitätskonstruktion des Individuums als permanente Lebenspraxis abspielt. „Er (der Einzelne, H. W.) wird von Kindheit an auf ein verhältnismäßig hohes Maß von Selbstregulierung und persönlicher Unabhängigkeit abgestellt. Er wird daran gewöhnt, mit anderen in Wettbewerb zu treten; er lernt frühzeitig als etwas, das ihm Beifall einbringt und worauf er stolz ist, daß es wertvoll und wünschenswert ist, sich durch seine eigenen Eigenschaften, seine persönlichen Anstrengungen und Leistungen von anderen zu unterscheiden und vor anderen auszuzeichnen, und er lernt Befriedigung in Erfolgen solcher Art zu finden. Aber zugleich sind in allen solchen Gesellschaften der Art und Weise, in der man sich unterscheiden, und den Bezirken, in denen man sich auszeichnen kann und darf, ganz strikte Grenzen gesetzt. Außerhalb ihrer wird das genaue Gegenteil erwartet. Da wird erwartet, daß der eine Mensch sich nicht von anderen unterscheidet; da löst es Mißbilligung, Mißachtung und oft weit stärkere negative Haltungen aus, wenn er sich von anderen abhebt; seine Selbststeuerung ist dementsprechend darauf ausgerichtet, hier so zu handeln oder zu sein, daß er nicht aus dem Rahmen fällt, daß er allen anderen gleicht und mit ihnen konform geht; und es ist oft nicht weniger schwer, in der einen Richtung konform zu gehen, als es ist, sich in anderen Hinsichten zu unterscheiden.“ (ebd.: 196 f.)96
Diese – das individuelle Leben und die individuelle Lebensführung erheblich bestimmende – Ambivalenz und (Spannungs-)Balance von Erwartungen und Anforderungen hat heute vielleicht auf beiden Seiten auf breitester sozialer Front einen historischen Höhepunkt erreicht.97 Das historische Verhältnis von Indivi96 Das Spannungs- und Balance-Verhältnis, um das es Elias hier geht, hat auch Goffman im Blick. Für Goffman sind beide Seiten Fiktionen, die sozial über dramaturgische Konstruktionen aufgebaut und aufrechterhalten werden (vgl. 1967). 97 Allerdings sind hier neben bestimmten historischen (zivilisatorischen) Normalisierungsprozessen bzw. Entwicklungen normalistischer Grenzdefinitionen, Diskurs- und Kontroll-Strukturen auch Desintegrationsprozesse, Denormalisierungen und „Informalisierungen“ ins Auge zu fassen – wiederum struktur- und kulturbedingte Prozesse, die auch im Anschluss an Elias und teilweise von Elias selbst als solche konstatiert wurden. Vor allem geht es um in den habitusprägenden Wirklichkeits- und Erfahrungsraum des Individuums tretende Tendenzen zur Lockerung und Erosion von Normalitäten und Normalitätszwängen, ja um Tendenzen zum Anti-Normalismus, mit denen sich wiederum der Raum der Individualisierung und des Individualismus erweitert.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
dualisierung einerseits und Normalisierung/Zivilisierung andererseits stellt sich hier jedenfalls als eine theoretisch-empirische Schlüsselfrage, von der aus sich die Perspektive einer Theoriensynthese eröffnet, die auch neues Licht auf einschlägige empirische Entwicklungen/Entwicklungszusammenhänge98 und theoretische Diskurse zu werfen verspricht. Besonders relevante und mindestens teilweise komplementäre soziologische Ansätze und Zugänge liefern in diesem Zusammenhang – neben und mit Elias – Foucault mit seiner Theorie der Normalisierung/„Normalisierungsgesellschaft“ (s. o.) und Link mit seiner an Foucault anschließenden Konzeption der Normalität und des „Normalismus“ (Link 1997). Auch andere und teilweise ältere Ansätze sind hier zu bedenken – so z. B. eine ‚Theorielinie‘ Goffmans, der sich als Individualitäts-/Individualisierungs- und Normalitäts-/ Normalisierungstheoretiker lesen und auf dieser Ebene gleichsam auf die Figurationssoziologie projizieren lässt; auch Riesmans klassische These der „Außen-Lenkung“ (s. o.) kommt in diesem Zusammenhang in Betracht und verspricht, sich instruktiv in einer theoretischen Synthese aufheben zu lassen.99
3.4.3
Habituelle und reflexive Individualisierung und Normalisierung
Im Kontext der hier thematisierten Prozesse und Prozesszusammenhänge spielt die Habitusebene und damit die Habitustheorie eine besondere und besonders wichtige, ja fundamentale Rolle. So lassen sich Individualisierungsprozesse auch als Prozesse der Habitus-Individualisierung beschreiben, und ebenso kann man von einer umgekehrten Habitus- und Habitualisierungslogik sprechen, von zivilisatorischer Habitus-Generalisierung, von Habitus-Normalisierung oder von einer Verringerung der Habitus-Kontraste bei gleichzeitiger Vergrößerung der HabitusSpielarten.100 Habitustheorie, Individualisierungstheorie und Zivilisationstheorie/ Normalisierungstheorie können also einen Zusammenhang und eine Synthese bil98 Die hier gemeinte Parallel-/Doppel-Entwicklung – Individualisierung einerseits und Normalisierung andererseits – spiegelt und konzentriert sich in besonderer Weise in der Entwicklung der ‚kulturellen Foren‘ der Massenmedien (z. B. der massenmedialen Werbung), die in diesen Zusammenhängen auch eine eigene, mindestens kulturell/zivilisatorisch verstärkende, wenn nicht generative Rolle spielen. 99 Die (Re-)Lektüre von Riesman ist in diesen Zusammenhängen auch deswegen vielversprechend, weil er sich in seinem ebenso klassischen und vielgenannten wie faktisch vergessenen Hauptwerk mit entsprechenden epochalen Wandlungen von Sozialisationsstilen/Erziehungsstilen befasst – und dies in einer habitustheoretischen oder habitustheorienahen Weise, die mit der Elias’schen Habitustheorie und auch mit der Zivilisationstheorie durchweg vergleichbar und verbindbar ist. 100 Im Sinne der entsprechenden Elias-These (s. o.).
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
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den und damit einen Ansatz zur Aufklärung oder Lösung des besagten ‚Kardinalproblems der Soziologie‘: des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Gegen Ende seines Schaffens und Lebens, in dem 1987 unter dem Titel „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“ fertiggestellten Beitrag zur „Gesellschaft der Individuen“, betont Elias in einem „kleinen Exkurs zum Problem des Habitus“ (1999: 243 ff.) in diesem Sinne die soziologisch-theoretische „Schlüsselstellung“ (ebd.: 244) des von ihm selbst schon sehr früh eingeführten und dann über die Jahrzehnte kontinuierlich verwendeten Habitusbegriffs101. Diese Schlüsselstellung sieht er darin begründet, dass dieser Begriff im „Verein mit dem Begriff der (…) Individualisierung“ (ebd.) die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft zu überwinden und beide ‚Seiten‘ so miteinander zu vermitteln vermag, dass sich Verständnisse von Normalität/Kollektivität und Individualität, Normalisierung und Individualisierung ergeben.102 Der „soziale Habitus der Individuen“103 bildet für Elias dementsprechend einerseits den „Habitus einer Gruppe“ (ebd.), die das Individuum in ihrem Sinne „prägt“, ihm ihr „Gepräge“ verleiht, sich ihm auf- und einprägt, so „dass der einzelne Mensch den Habitus einer Gruppe an sich trägt“ (ebd.). Andererseits bildet dieser Habitus „gewissermaßen den Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale herauswachsen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet. So wächst ja etwa auch aus der gemeinsamen Sprache, die der Einzelne mit anderen teilt und die ganz gewiß einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus bildet, ein mehr oder weniger individueller Stil heraus oder aus der sozialen Schrift eine unverkennbar individuelle Handschrift“ (ebd.: 244).104 Habitus und Individualität, Habitualisierung und In101 Ich hatte oben schon darauf hingewiesen, dass Elias den in jüngerer Zeit durch Bourdieu prominent gewordenen Habitusbegriff bereits in seinen frühen zivilisationstheoretischen Arbeiten nicht nur explizit und häufig, sondern auch systematisch verwendet und dadurch in gewisser Weise ausarbeitet. In der zivilisationstheoretischen und zivilisationsanalytischen Habitusbegriffspraxis von Elias, auch in dessen späteren Arbeiten, z. B. in seinen „Studien über die Deutschen“ (1990), steckt eine – zunehmend – elaborierte Habitustheorie; ja man kann, von ihrer Grundanlage her gesehen, sagen: die elaborierteste Habitustheorie überhaupt. Mit ihrer Entwicklung geht ein immer komplexer werdendes Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, Individualität und Normalität, Individualisierung und Zivilisierung/Normalisierung einher. 102 Diese integrative, synthetische Begriffs- und Theoriefassung ist durchaus auch im Sinne der Programmatik Bourdieus, der diesbezüglich sehr ähnlich argumentiert wie Elias. 103 Bourdieu sieht darin bekanntlich auch im Blick auf die (seine) ‚Gegenwartsgesellschaft‘ vor allem den Klassen-Habitus. 104 Auch in diesem Punkt ist die Parallele zu Bourdieu unübersehbar, der vom sozialen Klassen-Habitus den Individual-Habitus unterscheidet und mit Habitus auf beiden Ebenen auch den Körper meint und fokussiert.
152
Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
dividualisierung bilden für Elias insofern also zwei Seiten einer Medaille. Der ‚soziale Habitus‘ ist ein kollektiver Habitus (geworden), und er wird (sekundär) zum individuellen Habitus, zu einem Habitus, den „ein einzelner Mensch (…) im Heranwachsen mehr oder weniger individualisiert“ (ebd.: 245).105 Der Gesellschaft bzw. ihrem Differenzierungs- oder Komplexitätsgrad (vgl. ebd.) spricht Elias in diesem Zusammenhang insofern einen genetischen/generativen und sachlichen Vorrang zu, als sie als die allgemeinste Ordnungsebene fungiert, aus der der Habitus als ‚Mutterboden‘ (von Individualisierungen und Subjektivierungen) hervorgeht. In der Ordnung bzw. der strukturellen Ordnungsform der Gesellschaft sieht Elias das weitreichendste und tiefgreifendste Prinzip der Ordnung des Habitus oder Habitusensembles, die zentrale Logik der Habitusform und Habitusformation. Dementsprechend verwendet er – ähnlich wie Bourdieu – den Begriff der habituellen Schicht und unterscheidet sozusagen habituelle Komplexitätsniveaus, Schichtungsniveaus, die von „einschichtigen“ Habitus der Mitglieder wenig differenzierter Gesellschaften bis zu „vielschichtigen“ Habitus der Mitglieder moderner (‚Industrie-‘, ‚Gegenwarts-‘)Gesellschaften reichen (vgl. ebd.). Der Habitusbegriff ist hier also einerseits wiederum ein strategischer Schlüsselbegriff im Sinne einer synthetischen Soziologie: eine Möglichkeit, die Chance zu vergrößern, „dem Entweder-Oder, das sich so oft in soziologischen Erörterungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft findet, zu entkommen“ (ebd.: 244). Andererseits ist dieser Begriff (und diese Theorie) in diesem thema105 Zum Habitus bzw. zum individuellen/individualisierten Habitus gehört für Elias ähnlich wie für Bourdieu auch und hauptsächlich der Körper bzw. die Gestalt des Körpers. Elias hat in diesem Zusammenhang und ganz allgemein die Gestalttheorie als wichtigen Bezugs- und Orientierungsrahmen der (allgemeinen und speziellen) Figurationstheorie betrachtet, ins Spiel gebracht und verwendet (vgl. z. B. 1999: 22 f.). Habitualisierung/Habitus-Individualisierung bedeutet für ihn auf der Ebene der Gestalt des Körpers nicht zuletzt eine individualisierte (weil individualisierbare) „Gesichtskonfiguration“ (ebd.: 257), die zugleich Medium der expressiven und kommunikativen Gestaltung und sozial identifizierende Gestalt ist: „Die Menschen sind die einzigen bisher bekannt gewordenen Lebewesen, denen gesellschaftsspezifische und nicht gattungsspezifische Kommunikationsmittel als hauptsächliches Mittel der Verständigung miteinander dienen, und sie sind ebenfalls die einzige uns bekannte Gattung von Lebewesen mit einem Körperteil, der einer individuell so verschiedenen Ausprägung fähig ist, daß sich mit seiner Hilfe auf die Dauer und oft genug lebenslang Hunderte von Individuen als verschieden, als solche erkennen lassen“ (Elias 1999: 257). Ähnliche Gedanken zur Habitusbildung und Habitusindividualisierung des Gesichts finden sich bereits in der Elias’schen Zivilisationstheorie (vgl. Elias 1980b: 377 f.). Anschlüsse bieten sich von hier aus nicht zuletzt zu Goffman an, der dem Gesicht in verschiedenen Hinsichten und konzeptuellen Bezugsrahmen ebenfalls besondere Aufmerksamkeit widmet. Er misst ihm auch einen besonderen sozialen Wirklichkeitsstatus und eine besondere Rolle in der sozialen ‚Wirklichkeitskonstruktion‘ bei und spricht in diesem Zusammenhang von einem (Sinn-)„Rahmen“ eigener Art: dem „Gesichtsrahmen“ (Goffman 1977b).
Sozialisation/Zivilisation/Individualisierung
153
tischen Zusammenhang seinerseits auf Komplettierung, auf ein Sowohl-als-auch angewiesen, darauf, mit anderen begrifflich-theoretischen Zusammenhängen Synthesen zu bilden, um den empirischen Gegenstandsbereich besser repräsentieren, besser beschreiben und die Reichweite der soziologischen Erklärung vergrößern zu können. Von der wesentlich impliziten und präreflexiven Habitusebene, die sich je nach ihren sozialen und individualbiographischen Voraussetzungen in entsprechenden Stilen106 des Verhaltens manifestiert, gilt es in denselben Sach- und Theoriebezügen wie oben (Individualisierung, Zivilisierung/Normalisierung) die Ebenen des „diskursiven Bewusstseins“ (Giddens), der (Selbst-)Reflexivität und (Selbst-)Reflexion, der Selbst- und Fremdthematisierung zu unterscheiden.107 Individualisierung und Zivilisierung/Normalisierung erschöpfen sich natürlich nicht (und immer weniger) in habituellen Niederschlägen, Habitualisierungen oder Habitus-Funktionen (fungierenden Habitus), sondern stehen gleichzeitig (und immer mehr) in Zusammenhängen mit wachem und gewecktem (Selbst-, Welt-, Kontingenz-)‚Bewusstsein‘, mit Unsicherheiten, (Habitus-)Irritationen und Reflexionsgründen, mit Möglichkeiten und Zwängen, ‚Alternativen‘ zu sehen und alternativ zu sehen, zu wählen, zu entscheiden usw. Nicht zuletzt verlaufen Individualisierungen und Zivilisierungen/Normalisierungen im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zunehmend auch jenseits von Habitus, wenn auch nicht völlig unabhängig von ihnen: innerhalb bestimmter sozialer Figurationstypen, in denen sozusagen als Parallel- und Gegenseite von (impliziten) Habitus entsprechende (explizite) Reflexivierungen, Diskurse und Diskursivierungen stattfinden, zirkulieren, angeregt, um- und eingesetzt werden. Hier, auf der Ebene der Institutionen der Selbst- und Fremdthematisierung, der Theatralität der Massenmedien, des Internets, manifestieren und entwickeln sich Individualität und Normalität/Normalismus, Zivilisierung und Individualisierung in besonderen Weisen und in besonderer ‚Kulturalität‘: mit Habitus gekoppelt oder von Habitus entkoppelt, Habitus irritierend, Habitus erodierend oder auflösend, Habitus (um-)bildend oder funktional ersetzend. Auf dieser Ebene kann es zwar auch Habituseffekte geben, aber ebenso können die verschiedensten Aspekte zum Thema werden, können Individualität und 106 Davon und von den entsprechenden Habitusbezügen auch des ‚persönlichen Stils‘ wird unten ausführlich die Rede sein. 107 Hahn hat in diesem Zusammenhang identitätstheoretisch argumentiert und das „Habitusensemble“ eines Individuums sein „implizites Selbst“ genannt. Von diesem Selbst hat er ein „explizites Selbst“ unterschieden (Hahn 1987d: 10 f.), das sich der Selbst- und/oder Fremdthematisierung und den strukturellen Bedingungen dieser Thematisierung (z. B. im Rahmen von Institutionen der Selbstthematisierung) verdankt.
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Die soziologische Figurationstheorie als Ausgangsstruktur
Normalität definiert oder umdefiniert werden, explizite Selbst- und Fremdbilder entstehen usw. Es kommt hier also wiederum darauf an, die Verschiedenheit und Vielschichtigkeit von empirischen Gegenstandsebenen in ihrer historischen Prozesshaftigkeit und zugleich in ihren inneren und äußeren Zusammenhängen zu sehen und zu suchen – und das heißt auch: Begriffs- und Theoriemittel zu finden und zu gebrauchen, die dies gestatten und begünstigen. Die Figurationssoziologie ist diesbezüglich zwar schon im Ansatz qualifiziert, aber auch bedürftig und zugänglich.
Teil III Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie: Weiteres Arbeitsprogramm und Vorüberlegungen zu Arbeitsschwerpunkten
Die mit dem vorliegenden Buch projektierte und eröffnete Reihe von Untersuchungen folgt auf der dargelegten und im zweiten Band weiter auszuführenden Basis einer theorie- und konzeptprogrammatischen Grund- und Leitidee; sie kann aber natürlich weder eine durchgängig vorstrukturierte und geschlossene Einheit noch in jedem Schritt eine sachlich erschöpfende Behandlung der jeweiligen (Theorie-, Konzept-, Gegenstands-)Themenfelder sein und will es auch nicht. Vielmehr versteht sich das ganze Unternehmen von vorneherein als ein zwar relativ klar verankerter und fundamentierter, aber auch letztlich offener, weder absehbarer noch abschließbarer Prozess, der an vielen Punkten kontingent ist, der auch Kontingenzen und Anschlussfähigkeiten generiert und der immer nur zu vorläufigen Resultaten führen kann1. Das heißt auch, dass mehr oder weniger tiefgreifende Umstellungen, Ergänzungen, Korrekturen und Neuausrichtungen gegenüber dem bisher Gedachten und Geplanten in den diesem Buch folgenden Bänden nicht nur nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich sind. Mein Ehrgeiz erstreckt und beschränkt sich bis jetzt im Wesentlichen darauf, im Ganzen der geplanten Reihe von Untersuchungen eine Art Doppelstrategie zu verfolgen. Einerseits soll es um die weitere Rekonstruktion und Fortentwicklung einer theoretischen Perspektive, eines Theorieprogramms und eines entsprechenden konzeptuellen Instrumentariums gehen. Dabei denke ich unter dem Titel Synthetische Soziologie wie gesagt an eine von der Figurationssoziologie ausgehende soziologische Gesamtvision und an den damit verbundenen integrativen Auf- und Ausbau eines nicht nur theoretisch möglichst anschlussfähigen, sondern auch empirisch-analytisch möglichst aufschlussfähigen Zusammenhangs von Denk- und Deutungsmitteln. Diesbezügliche Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten) sind auf der – weitere Arbeiten fundierenden – Grundlage dieses Buches und des geplanten Folgebandes sozusagen gegen Hauptströmungen der Fachentwicklung2 zu entdecken, zu sondieren, zu vermehren und zu implementieren. Auf der Basis und gleichsam als Parallelaktion dieser theoretisch-begrifflichen Arbeiten geht es mir andererseits in den geplanten Bänden um theorieorientierte und (gegenstands-)theorieproduktive Empiriearbeiten. Sie sollen auf der Folie prozesssoziologisch orientierter Forschung zum einen auf bestimmte Gegenstandsbereiche und den Zusammenhang bestimmter Gegenstandsbereiche zielen, z. B. auf Materialität, Körper, Raum, Bewegung und Zeit als Zusammenhänge und im Zusammenhang. Die entsprechenden Gegenstandstheorien (Körpertheorie, 1 2
In diesem Sinne hat auch Elias sein wissenschaftliches Arbeiten verstanden (grundsätzlich in offensichtlicher Nähe zur Wissenschaftstheorie Poppers). Sie wurden im Vorwort und im ersten Teil dieses Buches zum Thema gemacht.
158
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Raumtheorie, Zeittheorie etc.) sind Teile der angestrebten synthetischen Soziologie/allgemeinen Soziologie. Zum anderen zielt die Empiriearbeit eher ‚gegenwartsdiagnostisch‘/‚zeitdiagnostisch‘ auf sozio-kulturelle Entwicklungen bis hin zur ‚Gegenwartsgesellschaft‘. Die besagten Theorie- und Konzeptmittel versuche ich im regelmäßigen (Empirie-)Bezug darauf anzuwenden und (weiter) zu entwickeln; jedoch wäre eine systematische und durchgängige Parallelaktion von Begriffsbildung/Theoriebildung einerseits und empirisch-analytischer Arbeit andererseits ein zu ehrgeiziges Ziel. Empiriebezüge sollen in den geplanten Bänden aber immer wieder auch in erster Linie hergestellt werden, nämlich in exemplarischen Untersuchungen figurationssoziologisch signifikant erscheinender sozialer Kontexte, Entwicklungen und Wandlungen3. In diesen Zusammenhängen, aber auch unabhängig von ihnen, sind auch figurationssoziologische ‚Relektüren‘ von ‚Gegenwartsdiagnosen‘/‚Zeitdiagnosen‘ ins Auge zu fassen – Relektüren, die nicht zuletzt Möglichkeiten von Synthesen bedenken. Die theoretisch-begriffliche Arbeit geht also auch mit dem Versuch einher, ein umfassenderes und komplexeres Bild von der Gesellschaft, der Gesellschaftsgeschichte und Gesellschaftsentwicklung herzustellen. Die Arbeit an diesem Projekt ist auch im Anschluss an die in dem geplanten Folgeband entfaltete Figurationstheorie und auf ihrer orientierenden und strukturierenden Grundlage breit, vielschichtig und langfristig angelegt und muss schon deswegen an vielen Stellen offen und auch limitiert bleiben. Sie hat trotz ihrer relativ gesicherten und sichernden Ausgangsbasis an vielen Stellen und über weite Strecken den Charakter eines Versuchs, von dem jetzt erst in Umrissen gesagt werden kann, wie er verlaufen soll. Ich verzichte daher zwar nicht darauf, dem Ganzen einen Einheit und Anspruch signalisierenden Obertitel zu geben bzw. mich auf einen solchen Obertitel zu berufen (Synthetische Soziologie), kündige aber jetzt noch keine konkret betitelte Reihe von Folgebänden an4. Die Richtung dieser Arbeiten, ihr Grundriss und damit wesentliche, um zentrale Theorien, Theoriefamilien und Diskurse kreisende thematische Arbeitsschwerpunkte, denen zum einen Teil einzelne Bände entsprechen können und die sich zum anderen Teil über die ganze geplante Reihe von Untersuchungen erstrecken müssen, zeichnen sich allerdings schon ab. Mit dem Zusammenhang dieser Arbeitsschwerpunkte, die sich mit bestimmten Theoriezusammenhängen immer
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Zum Beispiel neuerer sozial und sozialisatorisch/zivilisatorisch implikationsreicher ‚Brennpunkte‘, wie sie die (Selbst-)Thematisierungsbasen des Internets darstellen (vgl. Willems (Hg.) 2008b; Pranz 2008). „Synthetische Soziologie 3, 4, 5 …“.
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
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auch auf konkrete empirische Gegenstände oder Bereiche beziehen (Materialität, Wissen, Raum, Körper, Stil, Performativität, Rituale, strategisches Handeln usw.), sind auch gleichsam Fundamente, Eckpfeiler und tragende Teile der übergreifenden inhaltlichen (Begriffsbildungs-/Theoriebildungs-)Idee benannt und umrissen. Der sachliche und theoretische Zusammenhang dieser Idee trifft sich – und auch dies kann als Argument für sie sprechen – in einem sehr hohen Maße mit empirischen und gedanklichen Schwerpunkten neuerer und aktueller, aber auch traditionsreicher Forschungsaktivitäten nicht nur in der Soziologie, sondern auch in einer ganzen Reihe von benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften – mit Schwerpunkten, die bislang überwiegend eher locker oder gar nicht verbunden worden sind oder auch zunehmend auseinanderdriften. Im Folgenden versuche ich diese Arbeitsschwerpunkte, deren Struktur von der Gliederung der letzten Teile (II und III) des vorliegenden Buches abgekürzt repräsentiert wird, immer vor dem Hintergrund der Figurationstheorie, die sie organisieren und zugleich von ihnen profitieren soll, in ihrem komplexen Eigensinn und in ihren Zusammenhängen zu entfalten. Es ergibt sich damit eine Reihe großer theoretischer und sachlicher ‚Komplexe‘ unterschiedlichen Typs und unterschiedlichen inneren und äußeren Zusammenhangs. Insgesamt zeigt sich aber, wie ich glaube, bereits ein hohes Maß an Einheitlichkeit in den grundsätzlichen Linien und auch im begrifflichen und argumentativen Detail.
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Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
Zu den wichtigsten und zugleich schwierigsten und problematischsten Begriffen und soziologischen Theorie- und Forschungskontexten, die hier bisher eine Rolle gespielt haben und im Weiteren eine Rolle spielen sollen, gehören ‚Kultur‘ und – davon kaum zu trennen – ‚Wissen‘ bzw. Kultursoziologie/Kulturwissenschaft/Kulturtheorie und Wissenssoziologie. Obwohl in diesen Zusammenhängen auf allen Seiten und Ebenen alles andere als Klarheit, Eindeutigkeit und Trennschärfe herrschen, nämlich stattdessen das Gegenteil davon, möchte ich hier den Begriff der Kultur5 als eine Art Schlüsselbegriff ins Spiel bringen – als einen soziologischen Begriff, der in vielen Hinsichten allerdings auch erst zu erschließen oder neu zu erschließen ist (vgl. Reckwitz 2000a; Schwietring 2006; Lichtblau 2002; 2010). Die Gründe für diesen systematischen Fokus liegen, wie bereits deutlich geworden sein sollte, zunächst und hauptsächlich in der Realität der soziologischen (Kultur-)Theoriengeschichte und sind auch sozusagen grundlagentheoretischer und empirisch-gegenstandstheoretischer Art. Es liegt auf der Hand, dass eine synthetische Theorieentwicklung in dem dargelegten Sinne nur über eine Auseinandersetzung mit Kulturbegriffen, Kulturforschungen und Kulturtheorien führen kann. Das gilt auch in einem engeren Sinne im direkten Bezug auf die Figurationssoziologie. Diesbezüglich wird Kultur schon seit geraumer Zeit intra- und interdisziplinär als ein Begriff und Theorienfeld thematisiert, von dem aus sich das Elias’sche Werk nicht nur lesen, sondern auch als ein Paradigma verstehen und ansetzen lässt.6 So behauptet etwa Karl-Siegbert Rehberg, Elias habe „sein Lebens-
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Der Kulturbegriff ist in den Sozialwissenschaften (wie im Alltagsleben) nicht nur omnipräsent und inflationär gebraucht, sondern bekanntlich auch schon lange und gerade heute ambivalent positioniert (vgl. Helduser/Schwietring 2002, (Hg.) 2002; Lichtblau 2002). Einzelne Theorieströmungen der Sozialwissenschaften (Rational Choice, Systemtheorie) haben ihn faktisch fast abgeschafft oder marginalisiert. Andere Richtungen halten dagegen nicht nur an ihm fest, sondern halten ihn hoch und stilisieren ihn hoch (Kultursoziologie, Cultural Studies). Bezüglich der ‚Gegenwartssoziologie‘ (der letzten Jahrzehnte) wird sogar ein ‚cultural turn‘ behauptet und/oder postuliert. Wie immer es sich damit verhält, von einer überwiegend anhaltenden Gebräuchlichkeit und Konjunktur des Kulturbegriffs kann mindestens die Rede sein. Vgl. z. B. den von Helmut Kuzmics und Ingo Mörth herausgegebenen Sammelband „Zur Kultursoziologie der Moderne nach Norbert Elias“ (Kuzmics/Mörth (Hg.) 1991) sowie den von Claudia Opitz herausgegebenen Sammelband zu „Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perpektive“ (Opitz (Hg.) 2005).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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werk einer integrativen Kulturwissenschaft gewidmet“ (Rehberg 1996a: 10) und „das Entstehen der kulturellen Eigentümlichkeiten großer gesellschaftlicher Gruppen“ (ebd.: 9) zum Gegenstand gehabt. Auch finde „sich bei ihm im Ansatz eine Wissenssoziologie der kulturprägenden Intelligenz“. Man könne sagen, dass Elias den „Grundstein für eine eigenständige historisch-soziologische Kulturtheorie gelegt hat“ (ebd.). Elias wird allerdings bis heute im Allgemeinen, wenn überhaupt, dann nur bedingt als Kulturwissenschaftler oder gar als Kulturtheoretiker (geschweige denn als Begründer einer eigenständigen oder allgemeinen Kulturtheorie) wahrgenommen7, was damit zu tun hat, dass er den Zivilisationsbegriff privilegiert und die Zivilisationstheorie in gewisser Weise über die Kulturtheorie stellt. Das mit den diversen Kulturbegriffen hauptsächlich gemeinte – Sprache, Wissen, Symbole, Sitten, Moral, Rituale, Deutungsmuster, Weltanschauungen, Geschmack, Mentalitäten, Diskurse usw. – steht gleichwohl auch im Zentrum der theoretisch-empirischen bzw. empirisch-analytischen Arbeiten von Elias. Dieser hat sich Kulturbegriffen und vor allem Kulturphänomenen auch immer wieder ausdrücklich als solchen zugewandt, und zwar (bekanntlich) bereits in seiner frühen Zivilisationstheorie (vgl. Elias 1980a: 1 ff.)8, die eine historische Reflexion und Einordnung des Kulturbegriffs und in gewisser Weise auch eine allgemeine Kulturtheorie inkludiert. Kultur bzw. ein Spektrum von Kulturtatsachen ist auch später, werkdurchgängig und bis zum Schluss seiner (unabgeschlossenen) Symboltheorie ein systematisches Hauptthema von Elias und so auch der Figurationssoziologie, die es ja schwerpunktmäßig mit der (psycho-)sozialen Entwicklung und historischen ‚Karriere‘ von Kultur in dem skizzierten Sinne zu tun hat und haben muss. An dieser Stelle (und auch im Folgenden) ist es nun nicht möglich, das weite Feld der kulturbegrifflichen, kulturwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Diskurse aufzuarbeiten9, und erst recht ist es nicht möglich, es systematisch auf die Perspektive der Figurationssoziologie (oder umgekehrt) zu beziehen. Deren kulturtheoretische Bedeutungen, Implikationen und (Anschluss-)Potentiale müs-
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So taucht er in der umfangreichen kulturtheoretischen Arbeit von Andreas Reckwitz (2000a), die in systematischer Rekonstruktion vor allem klassischer Ansätze ein komplexes „Theorieprogramm“ entwirft, so gut wie nicht auf bzw. nur an sehr wenigen Stellen und nur am Rande. Der Kulturbegriff hat dort zwar eingehende Untersuchung und gewisse figurationssoziologische Klärungen erfahren, die auch von allgemeiner kulturtheoretischer Bedeutung sind, er bedarf aber natürlich gerade im Zusammenhang der hier betriebenen Synthese (und damit ins Spiel gebrachten Ansätze) weiterer Untersuchung und Klärung. Sie ist die Voraussetzung und zugleich das anzustrebende Ergebnis der zu entwickelnden synthetischen Soziologie. Vgl. dazu z. B. Reckwitz (2000a) und Helduser/Schwietring (Hg.) (2002).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sen hier allerdings im Prinzip nicht gesondert ausgeführt und weitergeführt werden, sondern liegen sozusagen in dem gesamten Unternehmen, das in gewisser Weise in allen seinen Aspekten immer auch das Unternehmen einer allgemeinen Kulturtheorie ist. Es genügt daher zunächst, die grundsätzlichen Aspekte des figurationssoziologischen Ansatzes mit Blick auf ‚Kultur‘ (erneut) zu unterstreichen und auf wesentliche Anschlüsse und Anschlussoptionen kulturtheoretischer Art hinzuweisen. Darüber hinaus werde ich mich weiter unten mit einem sich als kulturwissenschaftlich/kulturtheoretisch deklarierenden Ansatz – dem der Theatralität/Performativität – gesondert und schwerpunktmäßig beschäftigen – im Rahmen und mit dem Rahmen der Figurationssoziologie und mit einer Vielzahl von Bezügen auf (andere) Kulturbegriffe und Kulturtheorien. Entscheidender Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass Elias bereits mit seinem zivilisationstheoretischen Frühwerk, das eine allgemeine Figurationstheorie impliziert, in der Tat auch den „Grundstein für eine eigenständige historisch-soziologische Kulturtheorie gelegt hat“ (Rehberg 1996a: 9). Es kommt daher darauf an, die Architektur der Figurationssoziologie bzw. die figurationstheoretische Architektur der Zivilisationstheorie10 als Schlüssel zu einer und als den Schlüssel einer – (weiter) zu entwickelnden – Kulturtheorie zu verstehen. Das heißt insbesondere, in dem programmatischen Sinne der ‚historischen Gesellschaftspsychologie‘/Prozesssoziologie von dem Zusammenhang von Soziound Psychogenese auszugehen. Der mit strukturellen Gesellschafts(trans)formationen einhergehende Prozess der Zivilisation erscheint dann auch als Prozess von (z. B. Ideen-)Kulturgenesen/Kulturwandlungen und als Hintergrund für und von ‚Kulturforschungen‘. Aus dieser Sicht ist Kultur also systematisch zu relationieren und zu relativieren; sie erscheint dann weniger (aber auch) als eine erklärende und mehr als eine zu erklärende, erklärbare und erklärte Realität, nämlich als eine historische Prozess-Realität, die von sozialen Strukturbildungen abhängt und je nach Abhängigkeit von diesen Strukturbildungen höchstens relativ autonom ist. Theoretisch grundlegender als der Begriff und die Begrifflichkeit der Kultur sind in diesem Rahmen also der Begriff und die Begrifflichkeit der Figuration – einschließlich der (Teil-)Begriffe Feld, Habitus, Zivilisation und damit auch Macht. Kultur ist für Elias jedenfalls nicht von sozialen Figurationen (Feldern, Figurationsprozessen) und damit von Macht, Machtbeziehungen, Machtbalancen und Machtkämpfen zu trennen. Das verbindet ihn ebenso mit Marx wie mit Bourdieu und Foucault11. 10 Wie ich sie oben stark abkürzend entfaltet habe. 11 Auf die entsprechende wissenssoziologische Parallelität wird im Folgenden gesondert eingegangen.
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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Die Figurationssoziologie kann also auch als Kulturtheorie gelesen und als Basis für eine entsprechende allgemeine (Kultur-)Theoriebildung angesetzt werden. Als solche verspricht sie die Entwicklung eines sachlich ebenso umfassenden wie differenzierenden und kontextierenden kulturtheoretischen Paradigmas.12 Es kann und soll sich auch dadurch bilden und zugleich dadurch fungieren, dass es ältere und neuere Varianten von Kulturwissenschaft, Kultursoziologie und empirischer Kulturforschung integriert (vgl. Müller 1994; Schwietring 2006). Im Zuge dieser Integration mag sich die Figurationssoziologie selbst wesentlich weiterentwickeln und mit dem Aufbau entsprechender perspektivischer und kategorialer Komplexität auch empirischen Entwicklungen/Modernisierungsprozessen im soziologischen Gegenstandsbereich besser Rechnung tragen. So sollte es, wie gesagt, unter der Bedingung dynamisch fortschreitender sozio-kultureller Wandlungen, Differenzierungen und Verschiebungen auch besser (wenn nicht überhaupt erst) möglich sein, „in Gestalt von Kultur- und Zeitdiagnosen eine theoretisch und historisch-empirisch kontrollierte Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung zu unterbreiten (…)“ (Müller 1994: 72). Im Folgenden gehe ich also – auch mit Blick auf die direkt anschließenden wissenssoziologischen Vorüberlegungen – von der Möglichkeit einer in der Figurationssoziologie wurzelnden Kulturtheorie aus, die sich in sachlicher wie in theoretisch-diskursiver Hinsicht durch Synthetizität auszeichnet, d. h. in der Lage ist, sowohl die verschiedenen Seiten oder Dimensionen von Kultur (vgl. Schwietring
12 Es geht hier aber, wie gesagt, nicht um eine kulturwissenschaftliche oder kulturtheoretische Fundierung der Soziologie. Vielmehr muss der „Versuch, die Soziologie insgesamt als eine ‚Kulturwissenschaft‘ zu etablieren, (…) endgültig als gescheitert betrachtet werden“ (Lichtblau 2010: 282). Im Rahmen der hier propagierten synthetischen Soziologie wird Kultur (Kulturtheorie, Kulturforschung) dementsprechend zwar als relativ autonom, potentiell ‚eigenmächtig‘ und zentral verstanden und fokussiert, aber dies geschieht eben im Rahmen dieser – allgemeinen – Soziologie und nicht zu deren Grundlegung. ‚Kultur‘ wird in diesem Rahmen vielmehr immer systematisch relationiert und relativiert, als Relationalität, Zusammenhang (von Zusammenhängen) und Funktion gedeutet. Ähnlich wie der Begriff der Gesellschaft löst sich auch der Begriff der Kultur im Zuge seiner figurationssoziologischen Rekonstruktion zwar nicht auf, aber er wird durch seine ‚Einbettung‘ einerseits und seine Differenzierung und ‚Operationalisierung‘ andererseits entsubstantialisiert, entmystifiziert und damit auch im Einzelnen substituierbar – durch Konzepte wie Wissen, Stil, Habitus, Diskurs, Semantik, Rahmen, Ritual oder Deutungsmuster. Man könnte also sagen: Nachdem es sich als unmöglich erwiesen hat, die Soziologie kulturwissenschaftlich/kulturtheoretisch zu begründen, geht es darum, die Kulturwissenschaft/Kulturtheorie (figurations-)soziologisch zu begründen und mit der Soziologie selbst zu entwickeln. Mit diesem sachlich übergreifenden und durchgängigen Versuch, Themen- und Fragenkomplex will ich mich schwerpunktmäßig in einem gesonderten Band beschäftigen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
2006)13 als auch scheinbar gegensätzliche, disparate und/oder kontroverse kulturtheoretische Positionen/Strömungen aufeinanderzuzuführen. Ich vermute zudem und gehe der Vermutung nach, dass sich bestimmte Kultursoziologien und Kulturstudien nicht nur perspektivisch und kategorial, sondern auch in der (Rück-) Projektion auf den empirischen Gang der Gesellschaftsgeschichte/Kulturgeschichte inhaltlich ergänzen. Im Sinne einer ersten, teilweise noch eher experimentellen und fragilen Andeutung des Gemeinten und Geplanten möchte ich einige mir besonders relevant erscheinende kulturtheoretische/kulturwissenschaftliche/kultursoziologische Ansätze und Aspekte nennen und in einschlägigen programmatischen Bezügen mehr oder weniger skizzenartig beschreiben:
1.1
Arnold Gehlen
Von den (relativ) alten und älteren Kultursoziologien/Wissenssoziologien ist neben und mit der (Max) Weber’schen und der Simmel’schen (s. o.) die Gehlen’sche in der hier verfolgten theoretischen (Entwicklungs-)Perspektive besonders interessant (und bisher eher verkannt), und zwar in allgemein theoretischer wie in spezifisch empirischer und gegenstandstheoretischer Hinsicht. Bemerkenswert und vielversprechend sind vor allem zivilisations-, mentalitätsund habitustheoretische sowie entsprechende zeitdiagnostische/epochendiagnostische Parallelen und Komplementaritäten zwischen der Figurationssoziologie und der Soziologie Gehlens. In Verbindung mit seiner (und in der Konsequenz seiner) auch für die Figurationssoziologie in zentralen Punkten relevanten Anthropologie14 entwickelt Gehlen eine sozial- und kulturtheoretisch grundlegende und 13 Also: Objektivität und Subjektivität, Struktur und Prozess, Ordnung und Spielraum, Aktualität und Historizität etc. 14 Die Figurationssoziologie kann sich in wesentlichen anthropologischen Hinsichten nicht nur auf Gehlen sondern auf die ganze Philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner etc.) stützen und auch in dieser Richtung sozusagen in einen Diskurs eintreten. Dabei geht es insbesondere um Antworten auf die fundamentalen Fragen der Körperlichkeit, der (‚residualen‘) Instinktivität, der Lernfähigkeit, Lerngezwungenheit und (sozialisatorischen, habitusgeschichtlichen) Lernlogik des Menschen. Mit der Philosophischen Anthropologie wie auch mit der damit allerdings nur eingeschränkt kompatiblen Anthropologie Freuds und der Psychoanalyse im Ganzen kann die Figurationssoziologie eine anthropologische Einheit auf höherem (Synthese-)Niveau bilden. Die Freud’sche Anthropologie ist ja mit ihrer Trieblehre, ihrem Persönlichkeitsmodell und ihrer eigenen Lerntheorie ein grundlegender Bezugsrahmen für Elias. Dieser stimmt mit der (anthropologischen) ‚Philosophie‘ der Philosophischen Anthropologie prinzipiell überein, hält aber das Maß, in dem diese die kulturelle „Plastizität“ bzw. die ‚Kulturalität‘ des Menschen veranschlagt, für über-
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
165
höchst aktuelle Gewohnheits- und Habitustheorie (vgl. z. B. 1957; 1961), die sich mit der von Elias und Bourdieu durchaus – und durchaus mit der Aussicht auf theoretische Erkenntnis- und Kompetenzgewinne – vergleichen lässt.15 Von großer (und ebenso allgemein unterschätzter) Bedeutung ist hier auch Gehlens Verständnis von Technik und von der historischen Entwicklung von Technik (als einer Form von Wissen), das dem Elias’schen Verständnis von Zivilisation (als Naturkontrolle im weitesten Sinne) nahe kommt. Soweit Elias unter Zivilisation Selbstkontrollen von Individuen bzw. (zweck-)rationale und rationalisierende Selbstkontrollen versteht, mag man den Technikbegriff in seiner Richtung auf äußere Natur umwenden und in Bezug auf die ‚natürliche‘ (innere) Natur des Menschen von Selbsttechnik sprechen. Damit klingt dann auch ein ‚Zivilisationstheoretiker‘ bzw. ‚Kulturtheoretiker‘ an, der von Gehlen auf den ersten Blick (noch) weiter entfernt zu sein scheint als Elias: Foucault (s. o.). Hier zeichnen sich m. E. vielversprechende Vergleichs- und Synthese-Perspektiven ab, die bislang kaum gesehen, geschweige denn theoriebildend umgesetzt wurden. Dazu gehört auch, dass Gehlen – im Zusammenhang mit seinem Verständnis von sozialer/kultureller Entwicklung als Technikentwicklung – den Ansatz einer Wissenstheorie der Moderne/Modernisierung vorgelegt hat, die eine Mentalitäts- und Rationalisierungstheorie inkludiert. Wenn Gehlen (1957) vom „technischen Zeitalter“, von „Entsinnlichung“, „Intellektualisierung“ usw. spricht, dann hat er ganz ähnliche historische Prozesse im Sinn wie Elias. Und er veranschlagt auch deren Bedeutung ganz ähnlich wie Elias in seiner Zivilisationstheorie. So heißt es bei Gehlen über den (Zivilisations-)Prozess der „Entsinnlichung“: „Es handelt sich da um eine der ganz seltenen, großen Veränderungen des Zustandes, Mensch zu sein, um eine der säkularen Veränderungen nicht etwa nur der Lebensführung oder Wirtschaftsweise, sondern weit tiefer der Bewußtseinsstrukturen selber, ja der menschlichen Antriebsdynamik“ (ebd.: 27).
zogen. Elias ist m. a. W. eher ein Körper- und Triebmaterialist als etwa Gehlen und steht in diesem Punkt Freud am nächsten. 15 Auf die habitustheoretische Parallelität zwischen Elias, Gehlen und Bourdieu wurde oben bereits hingewiesen und soll in dem geplanten Folgeband ausführlich eingegangen werden.
166 1.2
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Friedrich Tenbruck
Zu den Vertretern der älteren Kultursoziologie, die hier von Interesse sind, gehört auch Friedrich Tenbruck.16 Er steht mit seiner Vorstellung von (Kultur-)Soziologie allerdings zunächst in grundsätzlichen Hinsichten im Gegensatz zu Elias. Während dieser (wie später am profiliertesten Bourdieu) in einer Synthese von Marx und Weber macht-/herrschafts- und schicht-/klassensoziologische Überlegungen mit kultursoziologischen/zivilisationssoziologischen verknüpfte, entwickelte Tenbruck „eine Weber-Deutung (…), in der nicht die Sozialstruktur, sondern die Kultur als der Inbegriff aller überlieferten Sinnzusammenhänge und symbolischen Selbstdeutungen einer Gesellschaft im Zentrum der soziologischen Begriffsbildung stand“ (Lichtblau 2002: 105).17 Auch dadurch, dass Tenbruck im Anschluss an Weber und in Frontstellung gegen die von ihm (wie von Elias) beklagte Diffusion des Kulturbegriffs unter Kultur im Wesentlichen Ideen verstand (vgl. Tenbruck 1989: 7 ff.), befand er sich in einem gewissen Gegensatz zu Elias (und zur Figurationssoziologie), der sein entsprechendes Gegenstandsverständnis weiter und als Wissenssoziologie fasste (s. u.). Andererseits ist Tenbrucks Kulturbegriff und kulturanalytische Perspektive zwar aus figurationssoziologischer Sicht einseitig und überzogen, aber sowohl theoretisch als auch hinsichtlich der empirischen Tatsachen und Entwicklungen alles andere als verfehlt und nutzlos. Vielmehr trifft dieser Kulturbegriff eine auf diverse Figurationsprozesse verweisende Schlüsselrealität gerade auch der modernen (Gegenwarts-)Gesellschaft und eine programmatische Schlüsselfrage der modernen Soziologie und gerade auch der Figurationssoziologie. Man denke in diesem Zusammenhang nicht zuletzt an die ‚kulturellen Foren‘ (s. o.) und Aktivitäten, die die diversen Mediatisierungsprozesse mit sich bringen.18 Diesbezüglich, 16 Natürlich ist hier auch an andere Vertreter der deutschen Kultursoziologie zu denken – im direkten Zusammenhang mit Tenbruck vor allem an Wolfgang Lipp, dessen (eigene Aufmerksamkeit verdienende) Gemeinsamkeiten mit den Cultural Studies von Rainer Winter betont werden (vgl. Winter 2002). Tenbruck spielte allerdings in programmatischer Hinsicht und (damit) auch in der ‚Sektionalisierung‘ der Kultursoziologie eine herausragende Rolle. 17 „Tenbrucks emphatisches Verständnis von Gesellschaft als Kultur“ (Lichtblau 2002: 106) richtet sich mit Weber (und für Weber) gegen Marx und ist damit inhaltlich auch gegen Positionen wie die von Elias und Bourdieu gerichtet, die aus der Brille Tenbrucks als Residuum (Elias) oder Rückfall (Bourdieu) erscheinen müssen. Umgekehrt sind Tenbruck und der ganzen Tradition seiner Kultursoziologie aus der Sicht von Elias ein antimarxistischer Affekt und halbverdeckte ideologische Fixierungen zu attestieren. 18 Mediatisierungsprozesse sind ja auch Prozesse der Entwicklung, Expansion, Differenzierung und Wandlung ‚kultureller Foren‘ (s. u.), in und mit deren Theatralitäten und Theatralisierungen es um Ideen (Deutungsmuster, Ideologien etc.) geht.
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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aber auch bezüglich aller anderen Sphären der Gesellschaft und der Lebenswelt19 gilt heute nach wie vor oder gerade, was Tenbruck vor (an historischen Dimensionen gemessen) noch nicht allzu langer Zeit konstatierte: „Mehr denn je sind wir heute Ideen – in sprachlicher oder sinnlicher Veranschaulichung – ausgesetzt, die stets Kern und Werk der Kultur bilden.“ Und: Ideen bilden den „Kern der Kultur, weil sie die stets nötigen Schlüssel zur Deutung der Wirklichkeit liefern“ (ebd.: 7). Die hier in diesem Kontext behandelten und zu behandelnden Soziologien, seien es ihrer Selbsttitulierung nach Kultur- und/oder Wissenssoziologien, fragen denn auch mit je eigenen Akzentsetzungen und Mitteln gerade in Bezug auf die moderne Gesellschaft durchaus, wenn nicht genau in diesem Sinne, dann doch ähnlich, immer auch nach Kultur als den Vorstellungen, Bedeutungen und Symbolen, die alles menschliche Leben und Handeln ‚einbetten‘ und zugleich Gegenstände und Mittel des Handelns sind. Dies gilt etwa und in besonderer Weise für Gehlen, z. B. dessen Fokussierungen epochaler Mentalitäten („Bewußtseinsstrukturen“, „Denkarten“). Das gilt aber auch für seinen (als solchen mehr oder weniger erkennbaren) ‚Schüler‘ Luhmann mit seinem Begriff der („gepflegten“) „Semantik“, für Foucault mit verschiedenen diskurstheoretischen Begriffen oder für Goffman, wenn er es mit diversen Rahmensystemen bzw. Alltagstheorien zu tun hat.20 Und auch die Elias’sche Soziologie ist (auch) in diesem Sinne Kultursoziologie, die nach der ‚ideellen‘ Sinnhaftigkeit, Sinngeladenheit, Sinngesteuertheit und (Sinn-)Symbolizität von sozialer Praxis, nach deren Symbol- und Sinngrundlagen, Symbol- und Sinnprozessen, Symbol- und Sinneffekten fragt. Auch für Elias sind Ideen Voraussetzungen, Momente und (Re-)Produkte sozialer Praxisformen; auch für ihn ist die soziale Welt eine – wenn auch in den sich wandelnden Rahmen bestimmter und bestimmender Figurationen – immer schon vorinterpretierte, vorverschlüsselte Welt verschiedenartiger Sinntypen und ‚Sinnwelten‘, eine Welt von praktischen Begriffen, Klassifikationssystemen, Weltanschauungen, Ideologien, „Mythen“21. Wenngleich er daraus kein Dogma macht, teilt Elias auch durchaus die Webersche und Tenbrucksche Auffassung, dass „die kulturellen Überlieferun-
19 Architektur, Konsum, Umgangsformen usw. 20 Beispielsweise mit der „kosmologischen“ Ordnung der Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern (vgl. Goffman 1981b) oder zwischen Stigmatisierten und ‚Normalen‘ (vgl. Goffman 1967). 21 Sich selbst und ‚den Soziologen‘ (in seinem Sinne) versteht Elias ja nicht zuletzt als „Mythenjäger“ (1981: 51 ff.). Als solcher hat er sich z. B. (und immer wieder) mit der gesellschaftsweit verbreiteten ‚Homo clausus-Anthropologie‘ und mit den mentalen Sinnimplikationen von Stigmatisierungen beschäftigt (vgl. Elias 1972; Elias/Scotson 1990). Auch dabei handelt es sich natürlich in gewissem Sinne um Ideen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
gen selbst als eine reale geschichtliche Kraft betrachtet werden müssen“ (Lichtblau 2002: 106). Allerdings fragt Elias eben gleichzeitig immer und primär nach Prozess-, Struktur-, Macht- und Akteur-Zusammenhängen dieser Kulturtatsachen, nach Figurations(hinter)gründen und Figurationszusammenhängen ihrer Genese, ihres Wandels und (d. h.) ihrer Aktualität und praktischen Umsetzung. Das entsprechende Kulturverständnis ist also, statt ‚idealistisch‘ oder (ideen-) ‚kulturalistisch‘ zu sein, ein in gewisser Weise polykontexturales und polyvalentes, und es ist auch ein spezifisch bivalentes: Kultur erscheint einerseits als gewordene (ideelle, symbolische) Ordnung situativ gegeben, objektiv und primär implizit (auch als implizites, praktisches, habituelles Wissen) und andererseits als dynamischer (Praxis-)Prozess und Kontingenzspielraum, der von entsprechend sozial/ figurational positionierten und habituell disponierten Akteuren vielfältig gehandhabt und genutzt werden kann und tatsächlich gehandhabt und genutzt wird. Kultur steht m. a. W. bei aller Abhängigkeit von Aspekten der Soziogenese und bei aller gegenwärtigen ‚Tatsächlichkeit‘ immer auch in gewissem Maße zur Disposition disponierter und disponierender Akteure, die als strategische Akteure22 zwar (sozialisations-)schicksalhaft kulturell bedingt und geprägt sind, aber mit kulturellen Tatsachen auch ‚spielen‘ und sie sich zunutze machen können. Von diesen Überlegungen führt ein direkter Weg zu Goffman, zu den Cultural Studies23 und auch zu Bourdieu.
1.3
Pierre Bourdieu
Auch für die (Kultur-)Soziologie Bourdieus kann festgestellt werden, dass sie ein im Kern auf Sinn, Wissen, Symbole und (damit) Ideen abhebendes Verständnis von Kultur beinhaltet und zugleich – durchaus im prinzipiellen Sinne von Elias – überschreitet. Die Kultursoziologie Bourdieus folgt jedenfalls der Elias’schen ‚MarxWeber-Synthese‘, indem sie Kultur, insbesondere symbolische Ordnungen und Praxen, auf soziale Ungleichheits-, Macht-, Konkurrenz-, Konflikt- und Kampfverhältnisse bezogen sieht und bezieht. Bourdieu deutet ‚Kulturalität‘ ja vor allem „als symbolische Dimension sozialen Lebens und Handelns, konzeptualisiert also Kultur nicht als abstrakte Wertideen (Weber) oder reifizierten Wertehimmel (Par22 Vgl. dazu die weiter unten ausgeführten programmatischen Überlegungen zu einer figurationssoziologisch gerahmten Theorie strategischen Handelns. 23 Im Rahmen dieses Ansatzes wie in neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen generell wird ja die Prozesshaftigkeit und die Produktivität von Kultur betont bzw. die strategische Subjektivität (personaler) Akteure.
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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sons), sondern als ständig umkämpftes symbolisches Kapital. Die Schilderung der sozialen Gebrauchsweisen von Kultur zeigt, „daß neben dem ‚Klassenkampf ‘ um knappe Güter und Ressourcen stets auch ein ‚Klassifikationskampf ‘ um die legitime Sicht der Sozialwelt im allgemeinen, die verbindliche ‚Kultur‘ im besonderen stattfindet“ (Müller 1994: 71). Man könnte also sagen, dass Bourdieu (wie Elias) ein bestimmtes Verständnis von Gesellschaft als Kultur mit einem bestimmten Verständnis von Kultur als Gesellschaft (Spielern, Interessen, Feldern, Kräften usw.) verbindet. Kultur erscheint als ‚machtvolles‘, spannungsreiches und konflikthaftes soziales Geschehen und als Prozess, in dem die sozialen Beziehungen von Akteuren zum Ausdruck kommen, zur Disposition stehen und ‚umkämpft‘ sind. Wie gesagt wird damit der Habitusbegriff im Zusammenhang mit (Lebens-)Stilbegriffen (kultur-)theoretisch zentral und verbindet Bourdieu (wie Elias) mehr oder weniger mit den genannten (Kultur-)Soziologen (Weber, Gehlen, Tenbruck) und einer langen und heterogenen Reihe weiterer Autoren und Ansätze: Riesman, Giddens, Sennett, Schulze, ‚Rational Choice‘ (Esser) u. a. m. Entscheidend und unterscheidend ist dabei allerdings, dass Bourdieu (ähnlich wie Elias) im Habitus auch eine Form von (kulturellem) Kapital sieht, das sozial systematisch ungleich verteilt ist und sozial differenzierend wirkt. In dem synthetischen Denken, das Gesellschaft als Kultur und Kultur als Gesellschaft bzw. als ‚ständig umkämpftes symbolisches Kapital‘ versteht, konvergiert Bourdieu nicht nur mit Elias, sondern auch wiederum speziell mit der sozusagen andersformatigen (Mikro-)Soziologie Goffmans. (Auch) Diese deutet das soziale Alltagsleben, die soziale Praxis jedermanns (mit Begriffen wie Bühne, Interaktionsritual, Image, Stigmatisierung und impression management) als permanenten symbolischen Überlebens-, Konkurrenz- und Statuskampf, der auf der Basis von Habitus und bewussten wie unbewussten (habituellen) Strategien wesentlich performativ geführt wird.24 Auch im Leben des Goffmanschen Akteurs sind kulturelle Tatsachen mit sozialen Lagen und Interessen verschwistert, geht es um symbolisches Kapital (Image) und entsprechende Distinktionen, die etwas – Soziales – zu bedeuten haben.25
24 Auf die diesbezüglichen Grundsatzdifferenzen in der Reichweite der Ansätze zwischen Elias und Bourdieu einerseits und Goffman andererseits wurde oben bereits hingewiesen. 25 In einer gewissen Parallelität zum – nicht nur, aber hauptsächlich auch – ‚dramaturgischen Ansatz‘ Goffmans und zu dem (interdisziplinär) kulturwissenschaftlichen Theatralitätsansatz (s. u.) wird auch gerade „in der neueren Diskussion der Cultural Studies, insbesondere in ihren Beiträgen zur qualitativen Sozialforschung, (…) im Anschluss an Turner der Performance-Aspekt von Kultur betont“ (Winter 2002: 133). Rainer Winter (2002) hat in diesem Zusammenhang die zu Unrecht fast vergessene ‚dramatologische‘ Kultursoziologie (oder kultursoziologische ‚Dramatologie‘) Wolfgang
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Bourdieus Richtung der Deutung kultureller Prozesse, Dinge, Ereignisse und Handlungen hat Elias, wie ich gezeigt habe und noch genauer zeigen werde, im Prinzip bereits in seiner Zivilisationstheorie sowie in seiner Untersuchung der Verhältnisse zwischen „Etablierten und Außenseitern“ (Elias/Scotson 1990) entwickelt.26 Das Kulturelle/das Symbolische/die symbolische Praxis, einschließlich der Entwicklungen und Gebrauchsweisen von ‚Semantiken‘, verknüpft Elias allerdings in Bezug auf die moderne (Gegenwarts-)Gesellschaft nicht nur und immer weniger mit sozialen Schicht-/Klassenverhältnissen (und entsprechenden Konkurrenzen und Distinktionen), sondern auch und immer mehr mit anderen gesellschaftlichen (Prozess-)Bedingungen, insbesondere funktionalen Differenzierungs-, Segmentierungs- und Individualisierungsprozessen. Heute könnte man vielleicht sagen, dass er in dieser Hinsicht Autoren wie Gerhard Schulze näher steht als Bourdieu.
1.4
Gerhard Schulze
Gerhard Schulzes modernisierungstheoretische und zeitdiagnostische Untersuchung „Die Erlebnisgesellschaft“ (1997), die sich hinsichtlich (Groß-)Format, Inhalt und Resonanz mit Bourdieus theoretisch-empirischem Hauptwerk über „Die feinen Unterschiede“ vergleichen lässt, ist hier ebenfalls von besonderer oder sogar zentraler Bedeutung. Sie lässt sich nämlich, obwohl sie sich eher als ein Gegenentwurf zu Bourdieu versteht und, wie bereits der Untertitel „Kultursoziologie der Gegenwart“ signalisiert, kaum Bezüge zu einer historisch-langfristig orientierten Entwicklungssoziologie/Zivilisationstheorie herstellt, durchaus zivilisationstheoretisch und allgemein figurationssoziologisch lesen und dabei auch mit Teilen der Bourdieu’schen Soziologie verknüpfen. Jedenfalls sind die sachlichen und terminologischen Schnittmengen zwischen Elias und Bourdieu einerseits und Schulze andererseits mehr oder weniger beträchtlich, deutlich und weitreichend. Auch bei Schulze geht es um die Kultur(en)
Lipps in Erinnerung gerufen. ‚Dramatologien‘ und ‚dramatologische‘ Perspektiven spielen natürlich auch in den aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften bzw. in der Soziologie (in Deutschland Ronald Hitzler, Hans Georg Soeffner, Hubert Knoblauch, Dirk Tänzler u. v. a. m.) in vielen Varianten und Applikationen eine große Rolle. 26 Die Zivilisationstheorie ist ja auch eine Zivilisationstheorie sozialer Schichtungsverhältnisse/Klassenverhältnisse. Man könnte von einer Schichtungsgeschichte sprechen, die in Bezug auf die ‚höfische Gesellschaft‘ im Prinzip genau jene sozio-symbolische Distinktionslogik thematisiert, die auch Bourdieu im Auge hat (vgl. Bourdieu 1982).
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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sozialer ‚Großgruppen‘ (Milieus), um sozial (milieu-)differenzierte und differenzierende kulturelle Formationen und Wandlungen, um die „Ästhetisierung des Alltagslebens“ (ebd.: 33 ff.), um soziale Zeichenhaftigkeit, um symbolische Ordnungen, Praxen und Distinktionen (wenn auch weniger um ‚umkämpftes symbolisches Kapital‘), um Gewohnheiten und Stile, Verhaltens-, Lebens-, Geschmacksstile, die an Ideen hängen und an denen Ideen hängen, und es geht (damit) auch bei Schulze um Wissen, insbesondere Alltagswissen, Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktionen, um epochale, gesellschaftliche und gruppenspezifische Mentalitäten und Mentalitätstypen, hinter denen die Art von Dispositionen steht, die Elias und Bourdieu Habitus nennen. Mit diesen Feststellungen deutet sich hier zunächst ein von den gegenstandstheoretischen Inhalten relativ unabhängiger begrifflich-theoretisch relevanter Reflexions- und Fragehorizont an. Wie unterschiedlich oder gegensätzlich auch immer die jeweiligen Blickwinkel, die Beobachtungen, Beschreibungen und Deutungen der jeweiligen ‚Gesellschaft‘ sind, sie bewegen sich in einem terminologisch/konzeptuell/theoretisch durchaus beziehungs- und verweisungsreichen Kosmos, der als solcher natürlich gerade im Hinblick auf Differenzen27 genauere Betrachtung verdient, der aber auch durch die Ähnlichkeit, die Berührungspunkte und Schnittmengen der Perspektiven und Begrifflichkeiten für den Versuch einer synthetischen Unternehmung, für die hier anvisierte Begriffs- und Theoriebildung spricht. Schulze selbst deutet diese Möglichkeit und dieses Erfordernis an verschiedenen Stellen an (vgl. z. B. ebd.: 130, 175). Daneben bietet es sich aber auch auf der empirischen bzw. gegenstandstheoretischen Ebene an, Schulze mit der (figurationssoziologischen) Brille von Elias zu lesen (oder auch Elias mit der Brille von Schulze). Eine solche Lektüre verspricht ein besseres Verständnis der (aktuellen) Zivilisation/‚Erlebnisgesellschaft‘ (und ihrer Menschen), eine elaborierte Zivilisationstheorie und Zivilisationsdiagnose. Diesbezüglich ist Schulzes Untersuchung jedenfalls irritierend und (d. h.) anregend, und sie stellt auch eine Herausforderung gerade der zivilisationstheoretischen Kernthesen von Elias dar, scheint sie doch dessen Version/Vision von der gesellschaftlichen (Kultur-)Entwicklung in wesentlichen Punkten eher umzukehren als zu bestätigen. Meines Erachtens ist aber zu zeigen (und soll gezeigt werden), dass sich Schulze sowohl in empirisch-analytischer wie in begrifflich-theoretischer Hinsicht durchaus weitgehend mit Elias ‚verträgt‘ oder sogar eine weiterführende Synthese mit 27 Wie sie Schulze (ebd.: 125 ff.) etwa mit seinem Begriff des „alltagsästhetischen Schemas“ markiert, das er selbst in der Nähe von Begriffen wie Habitus sieht.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
dessen Überlegungen zu bilden erlaubt. So lassen sich etwa der figurationssoziologische/zivilisationstheoretische Habitusbegriff und auch das Elias’sche Schichtungs- und (Kultur-)‚Sickermodell‘ (s. o.) auf die Feststellungen und Deutungen Schulzes projizieren und insofern mindestens grundsätzlich bestätigen, aber auch ‚verlängern‘ und aktualisieren. Gerade auch Elias’ Verständnisse der zivilisierten Formen und Formationen des ‚Subjekts‘ können mit Informations- und Inspirationsgewinnen gegen die von Schulze gehalten werden, der nicht zuletzt neue („erlebnisrationale“) Formen von Selbstkontrolle, Selbstreflexion und Selbststeuerung beschreibt. Von Elias kann man sich schließlich auch so etwas wie eine Vermittlung zwischen Bourdieu und Schulze versprechen, liefert er doch einen Ansatz zum Verständnis und Vergleich von ‚Nationalkulturen‘ (und „Nationalcharakteren“) bzw. der ‚Nationalkulturen‘, mit denen sich Schulze und Bourdieu schwerpunktmäßig beschäftigen (Deutschland und Frankreich).
1.5
Individualisierungs-, Subjektivierungs- und Subjekttheorien
Von systematischer und programmatisch-perspektivischer Bedeutung sind hier auch die verschiedenen (anderen) Individualisierungstheorien28, insbesondere diejenigen, die mehr oder weniger direkt (und offen) in der Tradition Simmels stehen und in dem hiesigen Zusammenhang schon deswegen eine besondere Anschlussfähigkeit und ein besonderes ‚theoriesynthetisches‘ Potential versprechen29. Dass hier – vor diesem Hintergrund – die Parallelität und Komplementarität zwischen den Individualisierungs(schub)theorien von Elias und Beck eine Schlüsselrolle spielen kann, ist bereits des öfteren bemerkt (vgl. Treibel 1996; 2008) und auch oben schon thematisiert worden. Elias (vgl. insbesondere 1990; 1999) bietet in diesem Zusammenhang nicht nur eine spezielle (Gegenstands-)Theorie der Individualisierung, sondern mit der Figurationssoziologie zugleich auch einen ‚allgemeinen Rahmen‘, innerhalb dessen Individualisierungstheorien mehr oder weniger unterschiedlicher Art verglichen und verknüpft werden können. In diesem
28 In diesen Zusammenhang gehören auch alle bereits genannten Autoren, die alle mindestens in Teilen und Aspekten auch individualisierungstheoretische Überlegungen, wenn nicht regelrechte Individualisierungstheorien bzw. Kulturtheorien der Individualisierung geliefert haben. Das gilt natürlich speziell für Schulze, dessen ‚Erlebnisgesellschaft‘ auch eine ‚Gesellschaft der Individuen‘ im Sinne von Elias ist. 29 Simmel ist ja gleichsam als Urvater des sozialwissenschaftlichen ‚Figurationsdenkens‘, der Figurationssoziologie und (d. h.) der (figurations-)soziologischen Individualisierungstheorie zu verstehen (s. o.).
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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Rahmen ist, wie gesagt, auch die offene Frage der Unterscheidung und des Zusammenhangs zwischen Individualisierungs- und Zivilisierungsprozessen, Individualisierungs- und Zivilisierungstheorien zu bearbeiten. Mit den und jenseits der Theorienspektren der Individualisierung und der Zivilisierung geht es auch um die Thematisierung und Bildung einer allgemeineren Gegenstandstheorie des (modernen) Subjekts und der (modernen) Subjektivierung. In dieser vielseitigen Frage (des Subjekts, des Individuums, des Selbst) treffen und überschneiden sich natürlich viele Kulturtheorien und empirische Kulturforschungen, die aufzuarbeiten und in dem dargelegten programmatischen Sinne weiterzuverarbeiten sind (vgl. Reckwitz 2008). Diesbezüglich gilt es, klassische Taditionen des Denkens (von Weber und Simmel über Gehlen bis Tenbruck), aber auch eine Art Wiederentdeckung des ‚Menschen‘ aufzuarbeiten, wie sie sich etwa im Rahmen der Cultural Studies vollzogen hat und vollzieht. Dabei können wiederum figurationssoziologisch basale Konzepte und Theoriekomplexe wie Feld, Habitus/Gewohnheit, Stil und Mentalität Schlüsselrollen spielen – in Verbindung mit theoretisch-empirischen Ansätzen und Forschungstraditionen, die unter Titeln wie Diskurs, Normalismus, Selbstthematisierung oder Biographiegenerator laufen. Dass das ganze Werk von Elias (nicht nur die Zivilisationstheorie im engeren Sinne und nicht nur die Figurationssoziologie als ‚allgemeiner Rahmen‘) auf dieser Ebene grundlegend und anschlussfähig ist30, muss an dieser Stelle nicht mehr gesagt werden.
1.6
Cultural Studies
In theoretischer und empirischer Hinsicht relevant und in verschiedenen Richtungen anschlussfähig und komplementär, allerdings zugleich (figurations-)soziologisch relationierungs- und relativierungsbedürftig, sind hier auch die Cultural Studies. Deren Interessantheit und potentielle Nützlichkeit liegt im Kontext des Projektes einer synthetischen Soziologie über das bereits Gesagte hinaus vor allem darin, dass sie bestimmte sozial- und kulturtheoretische Grundverständnisse und Grundorientierungen der Figurationssoziologie teilen und zuspitzen und in Bezug auf (eher) ‚gegenwartsgesellschaftliche‘ Figurationen partiell auch umsetzen. Zu 30 Von den mit den eben genannten Titeln angesprochenen Autoren war es vor allem Alois Hahn, der im Zuge seiner Untersuchungen der Genese des modernen Subjekts immer wieder auf Elias’ Arbeiten Bezug genommen hat. Mit dem Begriff des Biographiegenerators beschreibt Hahn (vgl. z. B. 1987c) die moderne Subjektgenese als eine Individualisierung inkludierende Generierung wesentlich kultureller Art (s. o.).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
den Parallelen, Ähnlichkeiten oder Konvergenzen, die teilweise offensichtlich sind, aber auch einer genaueren Untersuchung bedürfen, gehören Verständnisse und Begriffe des Akteurs, der Macht und der sozialen Praxis. Prozessualität, Kontextualität, Symbolizität, Perspektivität, (Handlungs-)Spielräume, Produktivität und (strategische, performative/theatrale) ‚Spielhaftigkeit‘ werden sowohl im Rahmen der Figurationssoziologie als auch in dem der Cultural Studies als wesentliche Merkmale oder Seiten von Praxis herausgestellt. Hier wie dort sind es in gewisser Weise alltägliche, gewöhnliche Praxen und Praktiken und die entsprechenden Akteure/Subjekte, denen und deren ‚Handlungskünsten‘ systematische Aufmerksamkeit zugestanden wird und die systematische Aufmerksamkeit erhalten31. Eine herausragend wichtige Rolle spielen die Cultural Studies bekanntlich in Bezug auf diverse Medien-Praxen (Medien-Figurationen, Medien-Kulturen), die im Kontext der Figurationssoziologie relativ vernachlässigt oder auch unterschätzt worden sind. Hier zeichnen sich vor dem Hintergrund der vorausgesetzten und zu entwickelnden (allgemeinen) Figurationssoziologie fruchtbare theoretisch-empirische Vernetzungs-, Synthese- und Forschungsperspektiven ab, einschließlich wechselseitiger Irritations- und Lernchancen. Diesbezüglich relevant sind z. B. auf die verschiedensten Medienbereiche bezogene, aber auch allgemein-sozialtheoretisch bedeutsame Hinweise der Cultural Studies, dass und inwiefern Mediennutzungsprozesse als Aneignungs-, Übersetzungs- und Einbettungsprozesse von und in Kultur zu verstehen sind (vgl. Hepp 1999 und Hepp/Winter (Hg.) 2006).32 Solche Blickwinkel oder auch das Verständnis von ‚widerständiger‘ und/oder subversiver Kultur und Praxis (vgl. Winter 1999)33 rufen auch die Perspektive der Fi31 Vgl. dazu im Hinblick auf die Cultural Studies Winter (2002: 125 ff.). 32 So zeigen zahlreiche Untersuchungen der Cultural Studies und in ihrem Umkreis, dass der Umgang mit Medien als eine aktive und reflexive Tätigkeit oder Arbeit der Beteiligten an und mit Symbol- und Sinn-Ressourcen zu verstehen ist und dass man es jedenfalls heutzutage in vielen sozialen Zusammenhängen mit produktiven und kreativen Akteuren bzw. „produktiven Zuschauern“ (Winter 1995) zu tun hat, die Medien und Medieninhalte in soziale Kontexte einbinden und an diversen Bedeutungsgenerierungen beteiligt sind (vgl. z. B. Faßler (Hg.) 1996; Boehnke u. a. 1999; Beck (Hg.) 2000). 33 Diesbezüglich ist auch und besonders an sogenannte Subkulturen und Subkulturtheorien klassischer und neuerer Art zu denken (vgl. Schwendter 2002). Schnittmengen und Parallelen bestehen in diesem Zusammenhang auch wiederum im Verhältnis zu Goffman, der dem widerständig-subversiven Kollektiv („Insassenkultur“) und Individuum/Akteur einen systematischen und wichtigen Platz in seinem Bild von der sozialen Wirklichkeit/Praxis zugewiesen hat. Aus Goffmans stark empiriegestützter Sicht verschwindet das Individuum als Subjekt selbst unter den ungünstigsten (repressivsten) sozialen Umständen (etwa von totalen Institutionen) nicht, sondern entfaltet gerade unter solchen Umständen produktive, adaptive und kreative Potentiale. Gerade Umstände der Repression, der Knappheit und des Mangels scheinen das Goffmansche Subjekt anzustacheln, zu aktivieren und erfinderisch zu machen – nach dem alltagsweltlichen Motto: ‚Not macht erfinderisch‘.
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gurationssoziologie und Elemente ihrer Begrifflichkeit auf (Feld, Macht, Habitus, Akteur, Individualisierung usw.). Das Verhältnis bzw. das mögliche Anregungs- und Austauschverhältnis zwischen Figurationssoziologie und Cultural Studies ist bislang insgesamt erst in Aspekten und Umrissen geklärt, aber – trotz der auf der Hand liegenden grundsätzlichen Unterschiedlichkeiten, z. B. in der Einschätzung der Relevanz und Funktion des Kulturbegriffs – vielversprechend. Die Untersuchungen der Cultural Studies, die sich hauptsächlich auf Bereiche von (relativen) ‚Gegenwartsgesellschaften‘ beziehen, können als Aufforderung, Anregung und Herausforderung für die figurationssoziologische bzw. synthetische Theorie(n)bildung verstanden werden. Allerdings sind von hier aus auch kritische Positionen zu beziehen, die wiederum nur kurz angedeutet werden können. Abzulehnen sind aus figurationssoziologischer Sicht vor allem die Überziehung des Kulturbegriffs und des kulturtheoretischen (Fundamental-)Anspruchs sowie die zumindest tendenzielle Reduktion der theoretisch-empirischen Perspektive auf ‚Gegenwartsgesellschaften‘. Viele (z. B. die erwähnten) An- oder Einsichten, Feststellungen und Deutungen der Cultural Studies dürften sich im Rahmen der Figurationssoziologie gerade vor dem Hintergrund ihrer historischen Langfrist-Perspektive neu betrachten, perspektivieren und einordnen lassen. Für überzogen ist auch die Vorstellung von der ‚Handlungsdimension‘ der Praxis (von der Handlungs(eigen)mächtigkeit, Produktivität, Kreativität usw. der Akteure) zu halten. In diesem Zusammenhang ist es insbesondere die (figurationssoziologische) Habitustheorie, aus der sich systematische Relationierungen und Relativierungen ergeben. In ihrer Verwiesenheit auf den historisch-gesellschaftstheoretischen Zusammenhang von Sozio- und Psychogenese und den Kontext sozialer Felder verweist die Habitustheorie auch auf eine gewisse Haltlosigkeit der Cultural Studies.
Das Goffman’sche Subjekt ähnelt damit (mindestens) stark einer Version der Cultural Studies. So konstatiert Winter in Bezug auf Fiske: „Den ‚Widerstand‘ bestimmt er (…) als den Versuch, die unmittelbaren Lebensbedingungen zu kontrollieren, als personale Handlungsmächtigkeit, die, lokal verankert, eher als defensiv zu begreifen ist. Die Untersuchung der Gesellschaft aus der Perspektive der Subordinierten und Marginalisierten zeigt, dass sie eigene Sichtweisen ausgeprägt haben und immer auch Handelnde sind, die Interessen, Identitäten und Kompetenzen auf der Basis ihrer extradisziplinären Geschichte entwickelt haben“ (Winter 2002: 128). Genau dies ist auch das Credo Goffmans wie der (anderen) Subkulturtheoretiker (und Subkulturalisten) von Rolf Schwendter bis Roland Girtler.
176 1.7
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie New Historicism und synthetische (Kultur-)Soziologie: Foucault, Elias, Bourdieu, Luhmann34
Der Anfang der 1980er Jahre von Stephen Greenblatt geprägte „New Historicism“ ist hier sowohl in begrifflich-theoretischer als auch in empirisch-gegenständlicher/gegenstandstheoretischer Hinsicht von Bedeutung, handelt es sich doch um einen historisch-kulturwissenschaftlichen bzw. literaturgeschichtlichen Ansatz, der sich in wesentlichen Hinsichten mit den bereits behandelten Ansätzen berührt, überschneidet und ergänzt, aber auch Ergänzung erfordert und eine theoretischempirische Herausforderung darstellt. Ich behandle diesen Ansatz hier schon relativ ausführlich, weil sich von ihm aus (bislang kaum gesehene) besonders weit reichende Parallelen zur Figurationssoziologie/Zivilisationstheorie ziehen lassen, sowie auch und vor allem deswegen, weil in diesem Bezugsrahmen die Struktur einer synthetischen Kulturtheorie im Sinne einer von der Figurationssoziologie ausgehenden synthetischen (allgemeinen) Soziologie vielleicht am besten, wenn auch zunächst nur in wenigen Umrissen, entworfen werden kann. Einige diesbezügliche Punkte betreffen jedenfalls konzeptuelle und thematische Kernbestände der Figurationssoziologie, insbesondere unter den Titeln: Figuration, Feld, Habitus, Zivilisation. Darüber hinaus ist es der grundsätzliche kulturbegriffliche und kulturtheoretische Anspruch und der spezifische (die obige Reihe von Autoren und Ansätzen ergänzende) Anschluss an die Theorie Foucaults und deren einschlägige Weiterentwicklung, die hier schon eine besondere Ausführlichkeit der Beschäftigung mit dem New Historicism begründen. Die offensichtlichsten und wichtigsten Gemeinsamkeiten zwischen „New Historicism“ und Figurationssoziologie bzw. Zivilisationstheorie liegen in der „historischen Ausrichtung“ (Kaes 2002: 253), die ein Verständnis empirischer (Praxis-) Tatsachen (z. B. Texte oder Rituale) als „historisch bedingte Produkte“ (ebd.: 254) impliziert, und zwar im Rahmen eines Verständnisses von Kultur, das einerseits weit, ja total, und andererseits spezifisch gefasst ist. Weit (und damit mit dem Gegenstandsverständnis der Figurationssoziologie vergleichbar) ist das Kulturverständnis des „New Historicism“ insofern, als es alle Arten und Ebenen kultureller Praxis und Praktiken, Wissens- und Sinnbestände einschließt, diese als Zusammenhang oder Zusammenhänge betrachtet und entsprechenden Prozessen der Zirkulation und des Austauschs zentrale Aufmerksamkeit widmet. Greenblatt interessieren insbesondere „die Mikro-Transaktionen, die zwischen Literatur, Kultur 34 Die folgenden Überlegungen basieren teilweise auf einem Aufsatz, den ich zusammen mit Marianne Willems verfasst habe (vgl. Willems/Willems 2001).
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und Gesellschaft auf der Ebene von Texten stattfinden. New Historicism als ‚Poetics of Culture‘ untersucht das Gemenge kultureller und gesellschaftlicher Praktiken, um die Kräfte zu akzentuieren, die in einem literarischen Werk noch heute mitschwingen“ (Kaes 2002: 256 f.). Ähnlich wie bei Elias geht es hier also um Kultur als umfassenden Bezugsrahmen, innerhalb dessen sozusagen (kultur-)indikatorische oder gleichsam (kultur-)symptomatische Texte hervorgebracht werden und ihrerseits als Bedingungen kultureller Praxis eine Rolle spielen. Dieses weite Verständnis von Kultur oder Kulturalität, dem (wie bei Elias) die methodologische Orientierung der Interdisziplinarität korrespondiert35, ist andererseits insofern spezifisch, als Greenblatt sich ausdrücklich und stark an die (Diskurs-)Theorie und das Denken Foucaults anlehnt36 und damit zusammen mit einer Theorie des (Alltags-)Wissens und einer Art Habitustheorie/Gewohnheitstheorie auch die Dimensionen der Macht, der Kontrolle und der Disziplin ins Spiel bringt. Wie vor ihm Foucault, aber auch ähnlich wie Elias und Bourdieu in ihren diesbezüglich durchaus entsprechenden (Macht-, Kontroll- und Disziplin-)Theorien, betont auch Greenblatt zunächst den restriktiven und regulatorischen Charakter der kollektiven Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Unter Kultur versteht er, Clifford Geertz zitierend, „nicht primär ‚Komplexe konkreter Verhaltensmuster – Sitten, Gebräuche, Traditionen, Gewohnheitsmuster –‘ (…) sondern vielmehr ‚einen Satz von Kontrollmechanismen – Pläne, Rezepte, Regeln, Instruktionen … –, die das Verhalten regieren‘“ (Greenblatt 1995b: 38). In seinem Handbuchartikel Kultur (Greenblatt 1995a) von 1990 setzt er diesen Kulturbegriff dem berühmt gewordenen Edward B. Tylors entgegen, den er für zu „vage“ und zu „umfassend“ und damit für zu „uneffektiv“ für die Arbeit des Literaturwissenschaftlers hält (ebd.: 48).37 Die sich damit stellende Frage, wie sich die „Effektivi35 Anton Kaes spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Clifford Geertz und ganz im Sinne von Elias zustimmend von sich zunehmend „verwischenden“ „Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen“, von „Interdisziplinarität als Ziel und Methode“ (ebd.: 259) und von einer entsprechend „respektlosen“ Haltung gegenüber den „Grenzbeamten der Disziplinen“ (ebd.: 260). 36 Greenblatt sieht sich selbst in der Tradition des französischen Poststrukturalismus. Insbesondere hebt er die Prägung seiner Arbeit durch Foucault hervor (vgl. Greenblatt 1995c: 107 f.). Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis bezeichnet er als „anregend“ (Greenblatt 1990: 211). 37 Greenblatt zitiert Tylors Kulturdefinition aus dem Jahre 1871 und verwirft sie als „geradezu unglaublich vage und umfassend“. Die Definition lautet: „Kultur oder Zivilisation, im weiten ethnographischen Sinne verstanden, ist jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfaßt, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat“ (Greenblatt 1995a: 48). Für Greenblatt (wie für viele andere Kommentatoren des Begriffs, darunter wie gesagt Elias, Luhmann und Esser) ist ‚Kultur‘ überhaupt „(wie die begrifflich eng verwandte ‚Ideologie‘) ein Ausdruck, der immer wieder benutzt wird, ohne überhaupt sonderlich viel zu bedeuten“ (ebd.).
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tät des Kulturbegriffs erhöhen“ lässt (ebd.: 49), beantwortet er mit dem Vorschlag eines zweiseitigen Kulturbegriffs: „Beginnen wir vielleicht mit einer Reflexion auf die Tatsache, daß der Begriff auf so etwas wie eine Opposition verweist: Restriktion und Mobilität. Das Ensemble von Überzeugungen und Praktiken, die eine gegebene Kultur bilden, fungiert als eine umfassende Kontrolltechnologie, eine Reihe von Beschränkungen, in denen sich das Sozialverhalten zu bewegen hat, ein Repertoire von Modellen, mit denen die Individuen konform gehen müssen.“ (ebd., Hervorheb. im Orig.)
Der so eingeführte und eingestellte generelle Kulturbegriff fokussiert also im Zusammenhang mit (sozialen) Macht- und Kontrollverhältnissen38, die Spielräume der ‚Beweglichkeit‘ (des Akteurs) rahmen, Sinn- und Wissensformen bzw. Handlungs(stil)formen („Überzeugungen und Praktiken“), und zwar nicht in erster Linie (lebens-)praxisferne Sinn- und Wissensformen, nicht besonders ‚gepflegte‘ oder kanonisierte ‚Semantiken‘ (z. B. der Welt- oder Geschichtsdeutung), sondern vor allem verinnerlichte, inkorporierte „kulturelle Verhaltenscodes“ (ebd.: 52), die das alltagspraktische Erleben und Handeln, Wahrnehmen und Erwarten unmittelbar steuern und anleiten. In dieser Richtung wird der Kulturbegriff durch Greenblatt noch weiter spezifiziert und akzentuiert, indem er feststellt: „Kultur kommt hier in der Tat ihrer früheren Bedeutung von ‚Kultivierung‘ nahe – der Verinnerlichung und Ausübung eines Sittencodes“ (ebd.: 51 f.). Mit dem „Repertoire von Modellen“, den „Pläne[n], Rezepte[n], Regel[n], Instruktione[n] (…), die das Verhalten regieren“ (ebd.), sind also primär limitierende, strukturierende und zugleich (re-)generative Schemata eines routinierten, spontanen, unreflektierten, gleichsam automatisch ablaufenden Verhaltens gemeint. Greenblatt wendet sich mit diesem grundsätzlichen Kulturverständnis – offensichtlich ganz in der Nähe verschiedener (kultur-, wissens-)soziologischer Ansätze – dezidiert Formen und Strukturen des Alltagssinns und Alltagswissens zu und geht damit wie jene Ansätze davon aus, dass die gesellschaftlichen Realitäten sich erst in den Deutungen der historischen Akteure konstituieren – in Deutungen, die auf kollektiven Deutungsmustern von Wirklichkeit beruhen, die Wahrnehmungen und Handlungen organisieren und mit denen Menschen auch auf
38 Kultur als „umfassende Kontrolltechnologie“ bzw. „Satz von Kontrollmechanismen“ (ebd.: 49).
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gesellschaftliche Prozesse reagieren.39 Es geht mit dieser Ausrichtung aber eben nicht nur um Sinn- und Wissenstypen, die in der (Mikro-)Wissenssoziologie unter Titeln wie Rahmen, Skript oder Deutungsmuster (s. u.) gefasst werden, sondern um kulturell eingebettete Zusammenhänge von Macht, Kontrolle und Wissen, um Formen eines komplexen und subtilen Zusammenspiels auch von Beherrschung und Selbstbeherrschung, Fremdkontrolle und Selbstkontrolle. Greenblatt bringt dies, in direkter Anlehnung an Foucault, aber auch sehr an Elias, Bourdieu oder Goffman erinnernd, deutlich zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Die wirkungsvollsten Disziplinartechniken, die man auf diejenigen anwendet, die sich außerhalb der Beschränkungen einer gegebenen Kultur bewegen, sind dabei wahrscheinlich gar nicht die spektakulären Bestrafungen, die den schweren Fällen vorbehalten bleiben – Vertreibung, Festsetzung in einer Irrenanstalt, Zuchthausstrafe oder Hinrichtung –, sondern scheinbar harmlose Reaktionen: ein herablassendes Lächeln, ein Lachen irgendwo zwischen dem Genialen und dem Sarkastischen, ein kleine Dosis nachgiebigen Mitleids mit einer Spitze Verachtung, kühles Schweigen. Und wir sollten hinzufügen, dass die Grenzen einer Kultur auch auf eher positive Weise geltend gemacht werden: durch das System von Belohnungen, das wiederum vom Spektakulären (große öffentliche Auszeichnungen, glänzende Preise) bis zum scheinbar Bescheidenen reicht (ein bewundernder Blick, ein respektvolles Nicken, ein paar Dankesworte).“ (Greenblatt 1995a: 49)
Mit solchen Überlegungen argumentiert Greenblatt nicht nur im Sinne Foucaults, sondern auch im Sinne von (anderen) Habitustheorien, seien sie eher explizit oder implizit (s. o.), und ganz besonders im Sinne der Eliasschen (Habitus-) Zivilisationstheorie.40 Damit gefasst und angesprochen sind hier hauptsächlich objektive und inkorporierte Sinnstrukturen, Grenzen und Verhaltensdispositionen, die Kognition, Geschmack und Moral spontan und unmittelbar orientieren und sich – wie ja insbesondere Elias herausstellt – in entsprechenden Empfindungen der Scham, der Peinlichkeit, des Stolzes, der Verachtung, des Ekels usw. äußern. Dass auch Greenblatt primär solche ‚verinnerlichten Strukturen‘ im Auge hat, zeigt 39 Gelebt und gehandelt wird, wie Hahn im Sinne Webers und Tenbrucks formuliert, „immer in einer Welt, die manifest oder latent mittels kulturspezifischer (…) Kategorien ausgelegt ist“ (Hahn 1979: 504). 40 Dort geht es ja wesentlich um eine Sensibilisierung des Wahrnehmens, Empfindens und Reagierens im Sinne kultureller Gebots- und Verbotsstandards, um eine Steigerung bestimmter Empfindsamkeiten und Empfindlichkeiten, die das Individuum (jedermann) gleichermaßen zum ‚lehrenden‘ Subjekt und zum ‚gelehrigen‘ Objekt sozialer Kontrollen und Disziplinierungen macht.
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sich nicht nur in seinem Begriff von Kultur als „umfassende[r] Kontrolltechnologie“ (s. o.).41 Dafür spricht auch seine ständige Betonung der emotionalen/affek41 Wenn Greenblatt Kultur so definiert, und wenn er sie als eine „Reihe von Beschränkungen, in denen sich das Sozialverhalten zu bewegen hat“ (Greenblatt 1995a: 49), bzw. als „ein Repertoire von Modellen, mit denen die Individuen konform gehen müssen“ (ebd.), paraphrasiert, dann lässt er eine fundamentale Differenz verschwimmen, die sein Ansatz gleichwohl konsequent voraussetzt: die Differenz zwischen der Sinnstruktur einerseits und der Praxis, in der sie aktualisiert wird, andererseits. Wäre für Greenblatt in orthodox strukturalistischer Manier die Aktualisierung der Struktur generell so etwas wie ein bloßer Kopiervorgang, dann spielte diese Differenz in seiner Konzeption keine Rolle, und er würde sie begründet ignorieren. Dem ist aber keineswegs so. Die kulturellen Codes stellen für Greenblatt kein starres Regelsystem dar, das das Handeln, Denken und Wahrnehmen der Akteure mechanisch determiniert. „Was etabliert wird, unter höchst unterschiedlichen Umständen (…), ist eine Struktur, über die sich improvisieren läßt, eine Reihe von Mustern, die genügend Elastizität und genügend Raum für Variationen aufweisen, um die meisten Teilnehmer einer gegebenen Kultur aufzunehmen“ (ebd.: 54). Die Betonung von Grenzen und Spielräumen als notwendigen Eigenschaften jeder Kultur verbindet Greenblatt mit einer ganzen Reihe von Kulturwissenschaftlern und (Kultur-)Soziologen. Bei diesen finden sich aber nur selten explizite Begründungen für die relative Offenheit der kulturellen Codes, die auch bei Greenblatt mit Hinweisen auf die Integrations-, Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit von Kultur nur angedeutet werden. Eine Ausnahme macht Bourdieu, wenn er die Vorstellung einer mechanischen Determiniertheit der Praxis durch die ihr zugrunde liegenden Schemata zurückweist: „Um zu ermessen, auf welche Schwierigkeiten eine mechanistische Theorie der Praxis stieße, bei der diese als eine rein mechanische Reaktion definiert würde (…), braucht man sich nur das grandiose und verzweifelte Vorhaben jenes Ethnologen vorzustellen, der mit schönstem positivistischen Wagemut nach zwanzigminütiger Beobachtung der Küchenarbeit seiner Frau 480 elementare Verhaltenseinheiten aufzeichnet und dann die ‚Episoden‘, die wissenschaftlich verarbeitet werden müssen, auf 20 000 pro Tag und pro Akteur, also für eine Gruppe von mehreren Hundert Klassen von Akteuren auf mehrere Millionen jährlich schätzt“ (Bourdieu 1987: 115). Wenn gilt, dass keine Sinnstruktur die ins Unendliche gehende Fülle der konkreten Situationen vorherbestimmen und im voraus ‚regeln‘ kann, dann müssen die Akteure immer wieder „unvorhergesehenen und immer wieder neuen Situationen die Stirn bieten“ (ebd.) können. Die Sinnstrukturen müssen dementsprechend an eine Fülle unterschiedlicher Kontexte und Situationen anpassbar sein und auch unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, die die Praxis neu konstituieren, anwendbar bleiben. Um dies leisten zu können, brauchen die kulturellen Muster – wie es bei Greenblatt heißt – „Elastizität und genügend Raum für Variationen“ (Greenblatt 1995a: 54), was eine grundsätzliche Differenz zwischen Sinnstruktur und Praxis voraussetzt. Die Praxis konstituiert sich entsprechend im Verhältnis zur Sinnstruktur als „regelhafte Improvisation“ (Bourdieu 1987: 107). Wenn aber in dieser Weise eine grundsätzliche Differenz zwischen Sinnstruktur und Praxis angenommen wird, dann muss auch eine Ebene oder ‚Instanz‘ angenommen werden, die zwischen Sinnstruktur und Praxis vermittelt. Von Greenblatt wird diese ‚Instanz‘ oder Funktion nicht weiter reflektiert. Es bleibt bei ihm bei einer diffusen Vorstellung vom ‚Subjekt‘. Bourdieus Habituskonzept hilft diesem theoretischen Mangel ab, weil es nicht nur die Ebene der (reflexhaften) Gewohnheiten erfasst, sondern auch die Logik des Verhältnisses von Restriktion (Beschränkung, Grenze) und Produktion (Spezifikation, Innovation). Der Habitus fungiert Bourdieu zufolge als Erzeugungsschema immer neuer – potentiell „unendlich viele[r]“ – Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen von „dennoch begrenzter Verschiedenartigkeit“ (ebd.: 104). Er generiert die ‚geregelten Improvisationen‘, die auch für Greenblatt die Praxis wesentlich kennzeichnen.
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tiven Komponente der kulturellen Codes, was ihn in die direkte Nähe von Elias und Bourdieu rückt. Die emotionale/affektive Komponente der kulturellen Codes taucht bei Greenblatt geradezu programmatisch auf, wenn er erklärt, seine „Rekonstruktion“ von Kultur ziele darauf, „einen Sinn für die entscheidenden Dinge wiederzugewinnen“, die den Zeitgenossen „Vergnügen und Schmerz bereiteten“ (ebd: 50). Zu denken ist hier nicht nur an die Konditionierungen von Geschmacksund Moralempfindungen; ebenso sind nicht nur Ängste wie Scham und Peinlichkeit gemeint, die aus der drohenden oder tatsächlichen Übertretung der jeweiligen kulturellen Verhaltensstandards resultieren. Es geht vielmehr auch, und darin besteht ein weiteres Moment der Nähe zu Elias und Bourdieu, um die emotionalen Bindungen der Mitglieder einer Gesellschaft, die in gemeinsamen Symbolen verankert sind.42 Vor diesem Hintergrund wird man vielleicht auch sagen können, dass das Elias’sche Werk neben die Reihe der Arbeiten zu stellen ist, für die ‚New Historicism‘ als „loser Sammelbegriff “ dient, die Arbeiten nämlich, „die die Geschichtlichkeit der Texte und die Textualität der Geschichte betonen“ (Kaes 2002: 252). Allerdings wäre diese Aussage dahingehend zu spezifizieren, dass Elias einerseits nicht nur die Geschichtlichkeit der Texte, sondern die Geschichtlichkeit aller Arten menschlicher ‚Hervorbringung‘ (Kultur) betont und andererseits nicht nur die Textualität der Geschichte43, sondern (also) überhaupt deren Sinnhaftigkeit, Zeichenhaftigkeit und Symbolizität im Sinn hat. Letzteres betrifft etwa den Körper, die Kleidung oder die Architektur ebenso wie semantische Konstruktionen wie die der Literatur. Mit der Habitustheorie und der (Habitus)Zivilisationstheorie lassen sich also verschiedene Seiten und der Zusammenhang verschiedener Seiten des von Greenblatt mit Kultur Gemeinten klären und erklären. Ganz im Sinne Greenblatts zeichnet sich dieser begrifflich-theoretische Komplex und Ansatz dadurch aus, Wissen allseitig und in seiner Mehrschichtigkeit oder Bivalenz zu fassen. Es geht damit sowohl um präreflexives (Alltags-)Wissen als auch um reflexives Wissen, um ‚gepflegte Semantik‘ wie um Habitus-Wissen. Es geht auch darum, Wissen als psychisch-kulturelle Struktur (Habitus) nicht nur allseitig zu fassen, als Einheit von Kognition und Emotion/Affektualität, sondern auch sozusagen die beiden Seiten des Greenblattschen Grundverständnisses von Kultur aufzugreifen und abzubilden: Restriktion und Mobilität, Geschlossenheit und Offenheit, Bestimmtheit und 42 Diese gelten Elias, der in diesem Zusammenhang von Valenzen spricht, als wesentliche und wesentlich historische Grundlagen sozialer Integration (vgl. Elias 1981: 150). 43 Was immer darunter genau zu verstehen ist.
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Unbestimmtheit, Zwang und Freiheit. Habitus bzw. zivilisierte Habitus sind einerseits als restriktive und restringierende Macht- und Wissensspeicher zu verstehen und andererseits als Grundlagen von Mobilität, von Beweglichkeit, Produktivität, „Improvisation“ (Greenblatt 1995a: 53 ff.) und Kreativität jeglicher Art und jeglichen Akteurtyps – von jedermann bis zum Autor ‚hoher Literatur‘. Mit seiner gleichzeitigen Betonung der Machtdimension und des restriktiven Kontroll-Charakters der kulturellen Codes einerseits und der Handlungs-Spielräume, Freiheiten und kreativen Potentiale der Akteure andererseits steht Greenblatt den theoretischen Entwürfen von Elias und Bourdieu wie auch anderen oben genannten Ansätzen (bis hin zum Symbolischen Interaktionismus und zu den Cultural Studies) faktisch näher als der Foucaultschen Diskurstheorie, an die er sich ja programmatisch anschließt. Wie schon aus der oben zitierten Definition deutlich hervorgeht, ist Kultur für Greenblatt eben nicht nur durch „Restriktion“, sondern immer auch durch „Mobilität“ gekennzeichnet. Den „Beschränkungen“ werden die „Freiheiten“ gegenübergestellt, den „Grenzen“ die „Spielräume“. Das für jede Kultur konstitutive „Kalkül“ oder Spannungsgleichgewicht von Freiheit und Beschränkung, das für das Subjekt als Erfinder und Schöpfer Raum lässt, wird allerdings in Greenblatts Theorie, so konstitutiv es für sie auch ist, ebenso wenig aufgeklärt wie das Subjekt oder die Handlungskompetenz selbst. Das ‚oppositionelle‘ Verhältnis von Restriktion und Mobilität und mit ihm der Kulturbegriff als Ganzer bleiben bei Greenblatt vielmehr vage. Diesem Defizit kann im Rahmen des hier propagierten Theorieprogramms ebenso abgeholfen werden wie einem anderen zentralen Mangel (nicht nur) des Greenblattschen Ansatzes. Bei Greenblatt finden sich nämlich auch keine Aussagen zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Strukturentwicklungen einerseits und kulturellen Strukturen und Strukturentwicklungen andererseits. Gleichwohl ignoriert oder leugnet er die Existenz solcher Strukturen/Strukturentwicklungen nicht. So spricht er z. B. von einer „gesellschaftlichen und historischen Dimension symbolischer Praxis“ (Greenblatt 1995a: 56). Ebenso selbstverständlich setzt er den historischen Wandel von Kultur voraus. Er nimmt einen substantiellen Wandel der kulturellen Muster (vgl. ebd.: 49) und allgemein „historische Kontingenzen“ an, in die die Kultur eingebettet sei (ebd.: 57), und er konstatiert, „daß es zwischen verschiedenen Kulturen große Unterschiede im Kalkül von Mobilität und Restriktion gibt“ (ebd.: 53). Die sich damit aufdrängende Frage nach den gesellschaftlichen/gesellschaftsgeschichtlichen Bedingungen und Ursachen dieser Unterschiede stellt sich speziell und verschärft, wenn Greenblatt den literarischen Texten ein sehr unterschiedliches Kalkül von Restriktion und
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Mobilität zuschreibt und dieses Kalkül einem historischen Wandel unterworfen sieht (vgl. ebd.: 49, 52 f.). Befragt man die einschlägig relevanten soziologischen Ansätze im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen/ Strukturentwicklungen, dann zeigt sich zunächst eine weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die gesellschaftlichen Strukturen eine primäre Rolle spielen. Bourdieu zufolge werden die Habitusformen (und damit die entsprechenden Wissensformen) durch die jeweiligen sozialen Existenzbedingungen, vor allem die schichtspezifischen/klassenspezifischen Existenzbedingungen der primären Familiensozialisation, erzeugt. Ähnlich wie Bourdieu führt Elias die habituellen Dispositionen auf die Bedingungen sozialer Figurationen/Felder zurück, die sich zum Teil schichtspezifisch konstituieren. Einen weniger direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen bzw. Wissensformen stellt Luhmann her, der den Begriff der Kultur im Wesentlichen durch den der Semantik44 ersetzt. Luhmann behauptet zunächst nur, dass semantische Strukturen nicht unabhängig von den Gesellschaftsstrukturen variieren, ihr Wandel also durch den der gesellschaftlichen Strukturen limitiert wird. Ebenso wie Elias und anders als Greenblatt, der wie Bourdieu die Erklärung des historischen Wandels aus seiner Argumentation ausschließt, verfügt Luhmann über eine Theorie des gesellschaftlichen Wandels, auf die er den Wandel der von ihm fokussierten Wissensformen/Semantiken bezieht. Für die Entwicklung der semantischen Strukturen behauptet Luhmann allerdings eine gewisse Eigenständigkeit und Eigenlogik. Diese These besitzt Plausibilität insbesondere für die Ideen der „gepflegten Semantik“, also für den Bereich des Wissens, den Luhmann in seinen Untersuchungen zur Semantik privilegiert.45 Die semantischen Konzepte dieses Typs, die dem von Elias und Bourdieu fokussierten (wesentlich 44 Luhmann versteht unter der „Semantik einer Gesellschaft“ ihren „Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln (…), einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1980: 19), der im Handeln und Erleben aktualisiert wird. Damit ist zunächst der „Alltagsgebrauch“ von Sinn gemeint. Auf dieser Ebene ist die Semantik einer Gesellschaft ausschnitthaft für jedermann verfügbar (ebd.). Davon zu unterscheiden ist der Bereich „gepflegter Semantik“ (ebd.). Auch sie wird im Erleben und Handeln aktualisiert, ist aber an dafür ausdifferenzierte Situationen, Rollen und Teilsysteme sowie an Schrift gebunden (ebd.: 20). 45 Luhmanns Semantikbegriff ist zwar so umfassend, dass er alle Wissensformen umgreift. In den faktischen Untersuchungen aber zeigt sich eine sachliche Gewichtung, die die der meisten soziologischen Ansätze umkehrt. Luhmanns Hauptinteresse gilt der „gepflegten Semantik“, den explizit ausformulierten Ideen von Religion, Kunst, Philosophie, Wissenschaft etc.; daneben widmet er sich den kollektiven Vorstellungen von Liebe, Sexualität, Individualität etc., die er in einer Art ‚Sickertheorie‘ von der „gepflegten Semantik“ ableitet. Automatismen des Verhaltens (Wahrnehmens, Denkens, Orientiertseins), wie sie bei Gehlen, Bourdieu, Elias und Greenblatt im Vordergrund
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präreflexiven und impliziten) Habitus-Wissen gegenüberzustellen sind, werden Luhmann zufolge nicht direkt von den gesellschaftlichen Verhältnissen der historischen Akteure bestimmt, sie stehen vielmehr in eigenen Traditionszusammenhängen, die für ihre Genese und ihren Wandel im Prinzip ebenso bedeutsam sind wie die gesellschaftlichen Strukturen. Ideen entwickeln sich demnach notwendig in der Anknüpfung und Auseinandersetzung mit den in der Tradition bereitstehenden semantischen Konzepten, die sie variieren und umdeuten. Die Variationen des Ideengutes sind insofern ‚innersemantisch‘ erklärbar. Welche Ideen sich aber durchsetzen, Dominanz gewinnen und überdauern, das hängt Luhmann zufolge von den gesellschaftlichen Strukturen ab: Der durch sie erzeugte Problemlösungsbedarf wirkt als Selektionsrahmen für die Ideen. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Umstellung der Differenzierungsform der Gesellschaft von primär stratifikatorischer auf primär funktionale Differenzierung zu, die für Luhmann die wichtigste Variable des Modernisierungsprozesses darstellt. Die sich mit dieser Umstellung wandelnden sozialen Bedingungen konstituieren bestimmte Probleme, die die semantische Entwicklung (als Entwicklung von Problemlösungen) regulieren46. Die funktionale Differenzierung spielt, wie gesagt, auch in den Überlegungen von Elias eine zentrale Rolle. Ähnlich wie bei Luhmann erscheint sie als die maßgebliche Variable des Modernisierungsprozesses. Sie ist gleichsam der Motor des gesellschaftlichen Wandels und bildet zusammen mit der Gewaltmonopolisierung die allgemeine Bedingung der umfassenden Habitustransformationen, die Elias als Zivilisierung beschreibt: Die funktionale Differenzierung führt zu immer längeren und komplexeren Abhängigkeitsketten, in die das Verhalten des Einzelnen eingebettet ist, und zwingt ihn so zur Regulierung seines Verhaltens im Hinblick auf diese Abhängigkeitsketten. Diese Regulierung wird zum Habitus des Individuums; sie wird „von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet“ (Elias 1980b: 317). Die funktionale Differenzierung konstituiert auch soziale Felder mit ihren speziellen Abhängigkeiten, z. B. die Stadt als Verkehrs- und Handelszentrum. Mit fortschreitender funktionaler Differenzierung werden immer
stehen, kommen bei Luhmann kaum vor. Eine Ausnahme bildet die stark an Elias angelehnte Beschreibung der Disziplinierungseffekte der Oberschichtinteraktion; vgl. Luhmann 1980: 72–161. 46 So führt die Umstellung auf funktionale Differenzierung zur sozialstrukturellen Außenstellung des Individuums und damit zur Notwendigkeit, Individualität neu zu definieren und Kommunikationsformen für Individualität bereitzustellen. Die sich im gleichen Prozess vollziehende ‚Entlastung‘ der Oberschichtinteraktion von gesellschaftlichen Leitungsaufgaben schafft den Bedarf für eine neue Interaktionssemantik; ebenso schafft die Lösung der Ehe aus gesellschaftlichen Bezügen den Bedarf für eine neue Liebessemantik etc. Vgl. Luhmann 1989: 149–258; Luhmann 1982; Luhmann 1980: 72–161.
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breitere soziale Schichten von ihren Implikationen betroffen. Zugleich verbreiten sich die Verhaltensmodelle der Oberschichten, an denen sich die nachfolgenden Schichten orientieren, und amalgamieren mit denen der unteren Schichten. Damit nehmen die Verhaltensstil- und Habitusunterschiede zwischen den Schichten ab, die Varianten und Spielarten zivilisierten Verhaltens nehmen gleichzeitig zu (ebd.: 342 ff.) – im Zusammenhang und Zusammenspiel mit Informalisierungsund Individualisierungsprozessen. Im Anschluss an Luhmann und Elias lässt sich auch die von Greenblatt (nur) konstatierte Variabilität im kulturellen ‚Kalkül‘ von Mobilität und Restriktion bzw. die Verschiebung der kulturellen Balance von der Restriktion zur Mobilität erklären: Während in der primär stratifikatorisch differenzierten (vormodernen) Gesellschaft schichtspezifische Verhaltenscodes das Verhalten relativ konkret regeln und der einzelne dort in allen seinen Lebensäußerungen normalerweise lebenslang der Kontrolle durch eine relativ homogene Gruppe ausgesetzt ist, müssen in der primär funktional differenzierten Gesellschaft Menschen unterschiedlichster Herkunft und Identität integriert werden, die in diversen, mehr oder weniger eigenständigen und nicht aufeinander abgestimmten gesellschaftlichen Feldern zu agieren haben. Je mehr sich diese Situation im Zuge fortschreitender Differenzierungsprozesse verschärft, umso mehr ‚Elastizität‘ müssen die kulturellen Strukturen aufweisen, umso mehr Spielräume und Freiheiten für individuelle Variationen müssen sie zulassen. Bourdieu nimmt auf diesen Zusammenhang Bezug, wenn er es als „Sonderfall“ bezeichnet, dass „der Habitus unter Bedingungen zur Anwendung gelangt, die identisch oder homothetisch mit denen seiner Erzeugung sind“ (Bourdieu 1987: 117).47 Was Bourdieu allerdings unerörtert lässt, ist, dass es sich hierbei keineswegs um ein universales Problem handelt, sondern um eines, das sich historisch entwickelt und verschärft hat. In der primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft war noch die Regel, was erst in der primär funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne zum ‚Sonderfall‘ wird: Die Bedingungen der primären Familiensozialisation, unter denen die habituellen Verhaltensmuster erworben wurden, waren normalerweise zugleich die Bedingungen, unter denen sie lebenslang zur Anwendung kamen.48 Erst in der modernen Gesellschaft wird das Individuum im Verlauf seines Lebens immer wieder mit neuen, vielfältigen 47 „In diesem Sonderfall“ erzeugen „die durch die objektiven Bedingungen und durch ein tendenziell an diese Bedingungen angepaßtes pädagogisches Handeln dauerhaft aufgeprägten Dispositionen (…) objektiv mit diesen Bedingungen vereinbare Praktiken und an deren objektive Erfordernisse (…) vorangepaßte Erwartungen“ (Bourdieu 1987: 117). 48 Bei Luhmann heißt es: Früher wurde man „dort sozialisiert, wo man sein gesellschaftliches Leben zu führen hatte: im Hause“ (Luhmann 1989: 167).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und oft widersprüchlichen Handlungs- und Existenzbedingungen konfrontiert und gerät unter einen erhöhten und permanenten Flexibilitäts- und Anpassungsdruck. Die Konsequenzen dieser Umstellung für die Identitätsbildung/Habitusbildung und für die Verfasstheit der kulturellen Muster reflektieren weder Bourdieu noch Greenblatt. Beide beschreiben Spielräume für kulturelle Improvisationen und Variationen, sehen aber nicht die notwendige und systematische Zunahme dieses Moments in der Moderne. Mit Elias und Luhmann lässt sich demgegenüber zeigen, dass und wie sich die Dominanz des Moments der Mobilität der historischen Entwicklung bzw. Differenzierungsprozessen verdankt. Vor diesem Hintergrund findet auch der große strukturelle Spielraum, den Greenblatt dem literarischen Kunstwerk zuschreibt, eine Bestimmung und Erklärung. Wenn Greenblatt von den vergangenen Zeiten spricht, in denen die „westliche Literatur (…) eine der großen Institutionen gewesen (ist, H. W.), die den kulturellen Grenzen durch Lob und Tadel Geltung verschafft haben“ (Greenblatt 1995a: 49), deutet er das selbst an. Eine Literatur, die im Dienst der „Übertragung von Kultur“ (ebd.: 53) steht, und deren Autoren „diese Funktion höchst bewußt“ (ebd.) ist, entspricht der Logik und den Erfordernissen einer primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft mit ihren schichtspezifischen Moral- und Verhaltenscodes. Dementsprechend hält Greenblatt fest, dass die Literatur die Funktion, „Verhaltensrollen“ (ebd.: 53) und „Sittencodes“ (ebd.: 52) zu übertragen, „insbesondere in Zeiten“ erfüllte, „in denen die Sitten ein entscheidendes Zeichen für Standesunterschiede waren“ (ebd.). Im Zuge der Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung löst sich die Literatur aus dieser Funktion. Mit ihrer Ausdifferenzierung entsteht das Konzept einer ‚autonomen Kunst‘.49 Sie ist von direkten gesellschaftlichen Funktionen wie der Erziehung oder der politischen Repräsentation und damit von der unmittelbaren Bindung an andere kulturelle Felder (Erziehung, Religion, Politik etc.) entlastet. An die Stelle des Zweck- und des Realitätsbezuges, wie er in der traditionellen Nachahmungspoetik gefasst war, tritt nun der Autorbezug. Plausibilisiert und legitimiert wird diese Umstellung durch das neue Autorkonzept, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Geniebegriff ausformuliert vorliegt. Der Autor als ‚Schöpfer‘, als ‚individuelles Subjekt‘, begründet nun die Regeln seines Werks und nicht mehr der Bezug auf die ‚Natur‘ und einen ‚vernünftigen Zweck‘. Damit erst kann die von Greenblatt den Autoren zugeschriebene Kraft zur ‚Improvisation‘ und ‚Variation‘ der kulturellen Muster zur vollen Entfaltung kommen. Erst mit der Abkoppelung der Literatur von direkten 49 Zum Zusammenhang zwischen der funktionalen Ausdifferenzierung und der Autonomiekonzeption der Kunst vgl. M. Willems 2000; vgl. auch M. Willems 1995.
Kultur, Kulturwissenschaft und Kulturtheorie
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gesellschaftlichen Funktionen und der damit gegebenen Lösung aus der Unterordnung unter bestimmte kulturelle Felder kann der ‚mediale‘ Aspekt der Literatur, ihre Fähigkeit, Wissensformen aus den heterogensten kulturellen Feldern zu kombinieren und zu transformieren und so an die Grenzen des in einer Kultur ‚Sagbaren‘ vorzustoßen (vgl. Greenblatt 1995a: 57), voll ausgeschöpft werden.50 Mit diesen Überlegungen von und zu Greenblatt, insbesondere im Zusammenhang mit dem ‚medialen‘ Aspekt von Literatur, deutet sich ein mehrseitiges und auch allgemein kulturtheoretisch belangvolles Verständnis von Literatur (und von Autor- und Leserschaft) an – ein Verständnis, in dem sich verschiedene Theorien und Theoriefelder berühren, überschneiden und ergänzen: Figurationstheorie, Differenzierungstheorie, Gesellschaftstheorie, Feldtheorie, Habitustheorie, Zivilisationstheorie, Diskurstheorie, Wissenstheorie. Damit erscheinen auch zwei weitere kulturwissenschaftliche/kulturtheoretische Konzepte und Ansätze als spezifisch anschlussfähig und zugleich in einem besonderen und besseren Licht: nämlich die mit den Begriffen kulturelles Forum (Newcomb/Hirsch 1986) und Theatralität (Performativität/Inszenierung usw.) verbundenen Ansätze, mit denen ich mich weiter unten ausführlich beschäftige.51 Der Bezug zum Konzept des kulturellen Forums liegt besonders nahe, wenn man bedenkt, dass Literatur für Greenblatt im Schnittpunkt unterschiedlichster Diskurstypen steht und aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Feldern stammende Wissensformen kombiniert, die sonst nicht miteinander in Kontakt kämen.52 Ganz im Sinne des kulturellen Forumbegriffs von Newcomb und Hirsch stellt Greenblatt fest: „Sie (die literarischen Künstler, H. W.) nehmen symbolisches Material aus einer kulturellen Sphäre und bewegen es in eine andere (…), wandeln seine Bedeutung ab, verbinden es mit weiterem Material aus einem anderen Bereich und verändern so seinen Ort in einem umfassenden gesellschaftlichen Entwurf.“ (Greenblatt 1995a: 55 f.)
50 Die Trennung von Kunst und Gesellschaft, die natürlich auch schon vor der expliziten Autonomiekonzeption der Kunst vollzogen wird, ist die generelle Bedingung für die besonderen ‚medialen‘ Möglichkeiten der Kunst. Greenblatt deutet dies an, wenn er schreibt: Die „Illusion“, das Theater „sei von jeder gewöhnlichen gesellschaftlichen Praktik meilenweit entfernt“, der Glaube „an seine Nutzlosigkeit und praktische Wertlosigkeit (…) verschafft dem Theater einen ungewöhnlich großen Freiraum für seine Verhandlungen und Tauschgeschäfte mit den umliegenden Institutionen, Autoritäten, Diskursen und Praktiken“ (Greenblatt 1990: 30). 51 Im Kontext der Überlegungen zu ‚Theatralität und (Ent-)Theatralisierung‘. 52 Dieser Aspekt steht für Greenblatt im Mittelpunkt. Der Austausch zwischen der Kunst und den anderen gesellschaftlichen Feldern bezieht sich dabei nicht nur auf Deutungsmuster, Semantiken und Diskurse, sondern auf kulturelles Material im weitesten Sinne bis hin zu Kostümen und Requisiten, vgl. insbes. Greenblatt 1990: 9–33.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Für Greenblatt, wie im Prinzip für Newcomb und Hirsch, wenn sie von kulturellen Foren wie dem Fernsehen sprechen, sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Aspekte der kulturellen Referenzialität und Reflexivität entscheidend, die Tatsache, dass die ‚Schöpfer‘ von Literatur in kulturellen (Sinn-, Wissens-)Zusammenhängen stehen und ihr Material aus diesen Zusammenhängen ‚schöpfen‘. Vielmehr kommt es ihm auch darauf an, dass die Verarbeitung und Kombination des diversen kulturellen Materials (aus unterschiedlichen ‚kulturellen Orten‘) und seine Inszenierung im Medium der Literatur das Material verändert. In „große[n] Kunstwerke[n]“ wird es für Greenblatt transformiert und in einer neuen, Grenzen berührenden, überschreitenden, umdefinierenden Sinngestalt aufgehoben: „Große Kunstwerke sind keine neutralen Relaisstationen im Umlauf des kulturellen Materials. Es geschieht etwas mit den Dingen, Überzeugungen und Praktiken, wenn sie in literarischen Texten dargestellt, neu imaginiert und inszeniert werden, etwas oft Unvorhersehbares und Beunruhigendes.“ (ebd.: 57)
Die „neuartige Montage und Gestaltung“ der kulturellen Muster, Vorstellungen und Praktiken lässt Sinnelemente „machtvoll interagieren“, die sonst „kaum miteinander in Kontakt treten“, und ermöglicht so, dass „große Kunstwerke“ sich „an den Grenzen dessen bewegen, was zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort sagbar ist“ (ebd.).53 Das kulturelle Forum der Literatur impliziert also (historisch-)kulturell voraussetzungsvolle und limitierte, aber auch weite und erweiterte Spielräume der Transformation und Innovation von Kultur (Sinn, Wissen). Wie weit diese Spielräume sind, in welchem Maße sie wie genutzt werden und was diese Nutzung kulturell bedeuten kann, das hängt von Bedingungen ab, die jenseits des kulturellen Forums liegen und jenseits des kulturellen Forumkonzepts zu klären sind. Dabei ist im Hinblick auf den (beweglichen, produktiven, kreativen) Autor – gewissermaßen in paradigmatischer Weise – nicht nur an dessen Spielräume (die konkreten
53 Greenblatt attestiert dem literarischen Künstler einen großen strukturellen Spielraum im Umgang mit dem kulturellen Material. Die Kultur verändernde und erneuernde Potenz des ‚großen Kunstwerks‘ zeichnet es nach Greenblatt vor allen anderen Texten aus. Durchgehend unterscheidet Greenblatt ‚große Kunstwerke‘ von der Masse literarischer Texte. Er geht wie selbstverständlich von der Dichotomie von hoher und niederer Literatur aus. Sieht man einmal von dem Wertungsaspekt ab, ist die Differenzierung, die er implizit vornimmt, durchaus nachvollziehbar. Es bedarf aber eben einer erklärenden Kontextierung sowohl des spezifischen Spielraums, den er dem literarischen Kunstwerk zuschreibt, als auch des in diesem Spielraum ‚beweglichen‘ und sich ‚bewegenden‘ Autors, seiner Leistung, seines Könnens, seiner Interessen, seines Stils/seiner Stile usw.
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Verhältnisse von ‚Restriktion‘ und ‚Mobilität‘), sondern auch an dessen ‚Spielfähigkeiten‘ und ‚Spielorientierungen‘ zu denken – ein Thema, das hier wiederum vor allem die Theorien des Habitus, der Zivilisierung und der Individualisierung auf den Plan ruft. (Moderne) Literatur ist – als kulturelles Forum – in Form, Funktion und Effekt gewiss eigentümlich, aber durchaus mit anderen Mediendiskursen und auch mit ganz anderen Bereichen oder Feldern kultureller Manifestation wie der Architektur, der (Kleidungs-)Mode oder dem Marketing vergleichbar. Indem sie kulturelle Muster, Sinn- und Wissensbestände (selektiv) aufgreifen, verarbeiten, umarbeiten und verbreiten, fungieren z. B. auch der Journalismus oder die Werbung als kulturelle Foren, und zwar jedenfalls teilweise auch in einem produktiven, kreativen und irritierenden Sinne. In allen genannten Fällen stellen sich damit in ähnlicher Weise Fragen nach den historischen Gegebenheiten und Entwicklungen der jeweiligen Verhältnisse zwischen ‚Restriktion‘ und ‚Mobilität‘ und nach den entsprechenden (z. B. semantischen, habituellen, zivilisatorischen) Bedingungen und Effekten kultureller Produktivität, Kreativität, Transgression, Subversion usw. So kann der modernen poetischen Literatur eine besondere (gewordene und sich wandelnde) Bedeutung und Funktion als Instanz der (Selbst-)Thematisierung, (Selbst-)Reflexion, Generierung und Zirkulation eines bestimmten Erlebnis-, Erfahrungs- und Phantasiewissens attestiert werden.54 Im Rahmen des kulturellen Forumskonzepts kommt es darauf an und ist es in dem angedeuteten theoretischen Kontext möglich, die verschiedenen kulturellen Felder und Foren in ihrer historischen und aktuellen Eigenart und in ihrem historischen und aktuellen Zusammenhang zu betrachten bzw. miteinander zu vergleichen. Damit ist theoretisch und empirisch-analytisch schon viel zu gewinnen, denn die verschiedenen kulturellen Foren werden so als je besondere kulturelle Realitäten, als Zugänge zu kulturellen Realitäten und als potentielle kulturelle Sinngeneratoren sichtbar und informativ.
54 Anton Kaes zitiert einen in der Germanistik einflussreich gewesenen Aufsatz Eberhart Lämmerts, der davon ausgeht, „daß die poetische Literatur mit Vorzug gerade diejenigen menschlichen Lebensbewandtnisse und -konflikte zu ihrem Thema macht, die weder von den staatlichen Instanzen noch auch von den institutionalisierten Wissenschaften schon versöhnt oder wenigstens geregelt sind (…)“ (Lämmert, zit. n. Kaes 1995: 251). Lämmert zieht vor dem Hintergrund dieser Annahme (Literatur als bestimmtes kulturelles Forum) den Schluss, „am Ende“ sei „die Literaturwissenschaft vor anderen Disziplinen fähig, eine profunde Kulturgeschichte zu schreiben, in der für unsere Zeitgenossen die Herkunft ihrer heutigen Lebensverfassung samt ihren Nöten und unerfüllten Wünschen allgemeiner und besser sichtbar zu machen ist als mit der bloßen Beschreibung ihrer politischen und wirtschaftlichen Geschichte“ (ebd., Hervorheb. im Orig.).
190 1.8
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Schlussbemerkung: Synthetische Kulturtheorie im Rahmen einer allgemeinen (Figurations-)Soziologie
Es zeigt sich also, dass die hier nur skizzenhaft dargestellten Ansätze, die sicher zu den wichtigsten modernen Kulturtheorien zu rechnen sind, in wesentlichen Punkten einander nicht widersprechen, sondern sich wechselseitig bestätigen, informieren und ergänzen. Ebenso zeigt sich oder deutet sich zumindest an, dass die Figurationssoziologie nicht nur als eine eigene Kulturtheorie verstanden werden kann, sondern auch geeignet ist, in dem diskutierten Gesamtzusammenhang von Theorien die Bildung einer synthetischen Kulturtheorie anzuleiten, zu instruieren und zu orientieren. Dass dem Thema Wissen und dass der Wissenssoziologie in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung zukommt und dass sich diesbezüglich auch neue oder erneuerte gegenstandstheoretische Zugänge eröffnen (z. B. im Sinne einer Unterscheidung und Relationierung von Wissensformen), ist ebenfalls deutlich. Es geht hier und im Folgenden also wesentlich darum, diverse Kulturbegriffe und Kulturtheorien und damit zugleich empirische Kulturtatsachen und Kulturstudien aus dem Blickwinkel der (allgemeinen) Figurationssoziologie und im Hinblick auf die Entwicklung einer synthetischen Soziologie aufeinander zu beziehen und integrativ zu verarbeiten. Dadurch soll auch zur Klärung des Kulturbegriffs und zur (Weiter-)Entwicklung einer historisch-soziologischen Kulturtheorie und Kulturwissenschaft beigetragen werden, ohne den Kulturbegriff sozusagen fundamental theorie(bildungs)strategisch zu privilegieren. In diesem Sinne und nur in diesem Sinne will die vorliegende und kommende Arbeit in allen Teilen als Arbeit an einem kulturtheoretischen Paradigma (mit einem entsprechend komplexen, den Kulturbegriff spezifizierenden Konzeptapparat) verstanden werden. Es geht also zwar hauptsächlich um Kultur oder ‚Kulturalität‘, aber es geht auch darum, den „Kulturbegriff dort zu behandeln, wo er im Grunde genommen hingehört: nämlich innerhalb des Bereichs der allgemeinen Soziologie“ (Lichtblau 2002: 114, Hervorheb. im Orig.). Diese Soziologie (weiter) zu entwickeln ist das primäre Ziel meines Unternehmens. Es rechtfertigt seine kulturtheoretischen Ambitionen in diesem Rahmen sowie aus der Dynamik, der Komplexität und der Vielschichtigkeit der empirischen Kulturentwicklungen selbst.
2
Wissen und Wissenssoziologie
2.1
Figurationen und Figurationssoziologie des Wissens
Einen im Kontext von Kulturphänomenen55 und Kulturtheorien verweisungs- und überschneidungsreichen Schwerpunkt der weiteren Arbeit bildet die Sichtung, Untersuchung und Verarbeitung verschiedener Soziologien, die sich selbst als Wissenssoziologien oder auch als Wissenssoziologien beschreiben oder unter diesem Titel firmieren.56 Damit geht es innerhalb des dargelegten programmatischen Rahmens einer synthetischen Soziologie um ein Wechselspiel der Information und Instruktion zwischen diesen Soziologien einerseits und der Figurationssoziologie andererseits bzw. um die Weiterentwicklung der figurationstheoretischen Wissenssoziologie57, die bereits oben thematisiert wurde und in verschiedenen Sach- und Begriffskontexten (Figuration/Feld, Habitus/Mentalität, Zivilisation, Individualisierung) der geplanten Folgebände schwerpunktmäßig thematisiert werden soll. Im Vordergrund steht die weitere, mit theoretischen Be- und Verwertungen verbundene figurationssoziologische Erschließung von verschiedenen, auch von
55 Also, wie gesagt: Symbole, Sprache, Ideologien, Wertvorstellungen, Rituale, Sitten, Gewohnheiten etc. 56 In gewissem Sinne kann es natürlich keine Soziologie geben und gibt es auch keine soziologische Forschung, die keine Wissenssoziologie ist. Wissen im weitesten (wissenssoziologischen) Sinne ist ja in oder bei allem menschlichen Handeln und Erleben involviert. Entsprechende Phänomene, die Bedeutungen, die verschiedenen Wissenstypen als sozialen/kulturellen Tatsachen zugewiesen werden, und der Wissensbegriff selbst spielen allerdings in den verschiedenen Soziologien eine sehr unterschiedliche und unterschiedlich relevante Rolle. Der Titel Wissenssoziologie verweist bekanntlich auf verschiedene Klassiker und Klassiker-Generationen, die verschiedene Denk- und Forschungstraditionen mit sich gebracht und nach sich gezogen haben – von Marx bis Weber, von Simmel bis Mannheim (mit dem Elias institutionell und sachlich eng verbunden war), von Schütz bis Goffman, von Foucault bis Bourdieu, von Luhmann bis Schulze oder Luckmann. Von ihnen allen wird mehr oder weniger ausführlich die Rede sein. 57 Man könnte den Begriff hier in Anführungszeichen setzen, um ihn im Sinne der Figurationssoziologie (und meiner Arbeit) zu relativieren. Denn es geht in diesem Rahmen natürlich nicht um irgendeine Isolation oder theoretische Privilegierung eines Sachaspekts (‚Wissen‘) oder gar um eine ‚Bindestrich-Soziologie‘, sondern gerade umgekehrt darum, (in seinen Formen und Formationen genauer zu bestimmendes) Wissen in dem oder den Bezugsrahmen der Figurationssoziologie zu relationieren. Der Begriff der „historischen Gesellschaftspsychologie“ (Elias) bringt den Hintergrund und Zusammenhang dieser Relationierung (wie im Falle von ‚Kultur‘ überhaupt) vielleicht immer noch am besten auf den Punkt.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
(bereits) klassisch zu nennenden Wissenssoziologien sowie von entsprechenden Kernkonzepten. Die ins Auge gefassten theoretischen Zusammenhänge und Konstrukte sind, wie zu zeigen ist, figurationssoziologisch nicht nur anschlussfähig sondern auch anschlussbedürftig, und sie führen, indem sie so angeschlossen werden, zugleich weiter. Sie erlauben einerseits, das einschlägige Begriffsnetz der Figurationssoziologie zu verdichten bzw. entsprechende konzeptuelle/theoretische Leerstellen auszufüllen, und werden andererseits umgekehrt auch ihrerseits durch die Figurationssoziologie weitergeführt, nämlich über je eigene Grenzen, insbesondere solche kognitivistischer und mikrosoziologistischer Art, hinausgeführt und integriert. Ich denke in diesem Zusammenhang etwa (und momentan vor allem) an die Ansätze und konzeptuellen Instrumentarien unter den Titeln Lebenswelt (Schütz 1960; Schütz/Luckmann 1979; 1984; Hitzler/Honer 1984), Rahmen/Kosmologie58/Alltagstheorie (Goffman 1967; 1977b), kommunikative Gattung (Luckmann 1986)59, Skript (vgl. Kruse 1986; Cohen/Taylor 1980; Luhmann 1996)60, Deutungsmuster61, alltagsästhetische Schemata/Denkmuster/Lebensphilosophie 58 In seiner Rahmen-Analyse hat Goffman (1977b) den Begriff der Kosmologie für seine wissenssoziologischen Zwecke definiert und verwendet. Er versteht darunter einen theorieanalogen Gesamtzusammenhang von Rahmen, also lebenspraktischen Interpretationsschemata. In diesen Kontext passt auch eine ganze Reihe neuerer (alltags-)wissenssoziologischer Arbeiten und Überlegungen, z. B. zu naiven Ansteckungstheorien (vgl. Lettke u. a. 1999) oder zu „Denkmustern“/„Lebensphilosophien“ sozialer Milieus (vgl. Schulze 1997: 119 ff.). 59 Luckmanns Konzeption der kommunikativen Gattungen liegt in der Tradition und Logik der klassischen (Alltags-)Wissenssoziologie von Berger und Luckmann, und d. h. wiederum in erster Linie: von Alfred Schütz. Die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969) wird mit dem kommunikativen Gattungskonzept gewissermaßen zur ‚kommunikativen Gattungskonstruktion der Wirklichkeit‘. Mittlerweile hat der Gattungs-Ansatz von Luckmann in vielen empirisch-analytischen Untersuchungen Anwendung gefunden und ist auch Gegenstand theoretischer und methodologischer (Selbst-)Reflexionen gewesen. Vgl. zum Konzept und zur wissenssoziologischen Bedeutung der kommunikativen Gattungen Luckmann (1986), Bergmann (1987), Knoblauch/Luckmann (2000) und Knoblauch (2008). 60 Schemakonzepte wie Rahmen und Skript spielen heute in vielen Soziologien ganz unterschiedlicher Art eine wichtige bis tragende Rolle – so z. B. im Kontext von ‚Rational Choice‘, aber auch der Luhmannschen Systemtheorie und der diversen ‚Mikrosoziologien‘ bis hin zur Sozialpsychologie. Allerdings sind die Verständnisse, Definitionen und Gebrauchsweisen dieser Begriffe alles andere als einheitlich. 61 Zum Deutungsmusterbegriff und zu den verschiedenen Deutungsmusteransätzen vgl. Oevermann (1973; 2001), Arnold (1983), Liebau (1987: 107 f.), Meuser (1998) und Meuser/Sackmann (1992). Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die wohl elaborierteste und profilierteste Variante, die Ulrich Oevermann in einer ersten Fassung Anfang der 70er Jahre geliefert hat. In einem neueren Text hat Oevermann (2001) diese Fassung erneuert und geklärt. Dabei geht er auch auf einige zeitgenössische Hintergründe und Motive seiner ursprünglichen Begriffsfassung ein. Die Wahl des Begriffs Deutungsmuster führt er auf die unveröffentlichte Habilitationsschrift von M. Rainer Lepsius zurück (vgl. Oevermann 2001: 37).
Wissen und Wissenssoziologie
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(Schulze 1997)62, Semantik/gepflegte Semantik (Luhmann)63 und Diskurs/Dispositiv (Foucault 1973a; 1977a, c). Mit diesem (erweiterbaren und spezifizierbaren) Ensemble von begrifflichtheoretischen Ansätzen, Beschreibungs- und Deutungsmitteln stellt sich die soziologische Frage des Wissens64 letztlich als Frage nach der Wirklichkeit bzw. nach den differentiellen und (aus-)differenzierten Wirklichkeiten, Wirklichkeitskonstruktionen und Wirklichkeitsverständnissen im Kontext der sozio-kulturellen Modernisierung. Mit dieser Grundfrage der modernen Wissenssoziologie, die sich und der sich auch Elias stellt, sind zugleich die soziologischen Schlüsselbegriffe und Schlüsseltatsachen des (sozialen) Sinns und des Verstehens65 (von Akteuren) im Spiel, und damit ist hier die Frage nach der Gegegebenheit und Entwickelbarkeit entsprechender Zugänge und Mittel der Analyse (z. B. sozialer Sinn- und Realitätskomplexität) gestellt. Diese Frage führt zurück zu den genannten Wissenssoziologien, die sich in diesem Zusammenhang schon bei oberflächlicher Betrachtung als mehr oder weniger spezialisiert und leistungsfähig erweisen. Die Goff man’sche Rahmen-Analyse (vgl. 1977b) z. B. stellt einen der elaborierteren Ansätze dar, die die Frage nach einem soziologischen Verständnis von Wirklichkeit bzw. einem analytischen Zugang zu Wirklichkeit (Realitätsebenen, Realitätssphären, Realitätsübersetzungen) als soziale Sinn(ordnungs)frage und als Verstehensfrage stellen (vgl. Willems 1997a). Generell besteht allerdings ein erheblicher theoretischer und terminologischer Klärungs-, Entwicklungs- und Synthesebedarf, zumal mit den Grundbegriffen Wissen, Sinn, Verstehen und Wirklichkeit sehr traditionsreiche, komplexe und
62 Schulzes Milieubegriff und seine Milieubeschreibungen sind eng an den Begriff des Wissens bzw. verschiedene Wissensbegriffe (z. B. „kollektives Wissen“) gebunden. Im Zentrum der Schulze’schen „Kultursoziologie der Gegenwart“ steht eine „wissenssoziologische Interpretation sozialer Milieus“ (Schulze 1997: 219 ff.). 63 Vgl. zum Luhmann’schen Semantikbegriff vor allem den ersten Band seines vierbändigen Werkes „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (1980; 1981; 1989; 1995) sowie die obigen Überlegungen im Kontext des „New Historicism“. Thomas Schwietring (2006: 209 ff.) hat grundsätzliche kulturtheoretische Bezüge und Bedeutungen der Luhmann’schen Wissenssoziologie bzw. ihres Semantikbegriffs herausgearbeitet. 64 Das heißt: der Wissensbestände, Wissenstypen, Wissensstrukturen, Wissensträger, Wissenssubjekte, Wissenskontexte usw. 65 Thomas Schwietring ist diesbezüglich Recht zu geben, wenn er feststellt, dass die Soziologie das (praktische) Verstehen, dessen faktische Bedeutsamkeit sehr wohl klar ist, zwar häufig thematisiert, aber längst noch nicht verstanden hat: „Wie dieses Verstehen möglich ist, was seine Voraussetzungen sind, und wie viel ‚richtiges‘ Verstehen erforderlich bzw. wie viel ‚Missverstehen‘ im sozialen Alltag normal und akzeptabel ist, damit erfolgreich kommuniziert und gehandelt werden kann, ist eine Frage, der sich die Soziologie noch nicht wirklich gestellt hat“ (2006: 201).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
heterogene Denk- und Begriffsgeschichten aufgerufen und aufzurufen sind. Die beabsichtigten Analysen und Synthesen, gerade die Verbindung von Ansätzen der ‚Mikrowissenssoziologie‘ (wie etwa der Goffman’schen oder der Oevermann’schen) mit der wissenssoziologischen Gesamtvision der „historischen Gesellschaftspsychologie“, bezwecken und versprechen hier theoretisch-empirischen Fortschritt, der umso dringlicher ist, als die zu untersuchende empirische Praxis und Wirklichkeit (von Wirklichkeiten) gerade durch ihre Mediatisierung immer vielschichtiger, vieldeutiger, ambivalenter, offener, flüssiger und reflexiver wird.66 In gewisser Weise kann und muss man sagen, dass die Figurationssoziologie als Ganze und nur als Ganze eine Wissenssoziologie ist und sein kann und dass genau darin ihr Charakter und ihr entscheidender strategischer Vorteil als Wissenssoziologie besteht. Wissen ist also sozusagen ein Generalthema der Figurationssoziologie und im weitesten und engsten Sinne in ihrem Rahmen sozusagen omnipräsent, taucht immer wieder und überall auf, als ‚abhängige Variable‘ wie als ‚unabhängige‘, als Figurations- und Feld-Wissen wie als gesellschaftliches WeltWissen, in ‚objektiven‘ Wissensspeichern wie in ‚subjektiven‘ Formen von Bewusstsein und Gespeichertsein. Allerdings hat die Figurationssoziologie nicht nur eine Matrix und einen Hintergrund zu bieten, vor dem Wissen, Sinn, Verstehen und Wirklichkeit sich gleichsam abheben, soziologische Bedeutung gewinnen und sich soziologische Bedeutung abgewinnen lassen. Auf der Ebene der genannten wissenssoziologischen Beschreibungs- und Deutungsmittel verfügt sie – vor allem mit dem Habituskonzept und damit verbundenen Begriffen wie Denkgewohnheit, Mentalität, kognitiver Stil oder Valenz67 – vielmehr auch über ein eigenes (wissens-)terminologisches und (wissens-)perspektivisches Repertoire. Wissen wird damit als eine vielseitige und mehrdimensionale Realität entworfen und fassbar. Die hier ins Auge gefasste synthetische (Figurations-)Soziologie hat und bezweckt also einen weiten, komplexen und komplex angebundenen Wissensbegriff. Auf der Ebene der Akteure (Individuen, Menschen) heißt das im Unterschied zu den meisten anderen wissenssoziologischen Ansätzen (auch Luhmann und Foucault) zunächst und vor allem, eine kognitive oder kognitivistische Einseitigkeit zu
66 Die Fragen nach Wissen, Sinn, Verstehen und Wirklichkeit stellen sich also immer auch und immer mehr als Fragen nach der (Kompetenz-)‚Korrespondenz‘ der Akteure (z. B. als praktische ‚Rahmenanalytiker‘) und fordern daher Theorie- und Analysemittel, die entsprechend eingestellt und d. h. vielseitig sind. 67 Der Elias’sche Begriff der Valenz (vgl. z. B. 1972) ist in erster Linie ein sozialer Beziehungs- und Bindungsbegriff, meint aber auch moralische und geschmackliche Empfindungsmuster bzw. ein ‚Gespür‘, das Wissen darstellt und Wissen nach sich zieht. Valenzen verweisen also auch auf Habitus, genauer gesagt: auf Beziehungen zwischen Habitus.
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vermeiden. Wissen und Kultur/Ideen begreift schon Elias (schon der Elias der Zivilisationsbände) ganz im Gegensatz, ja in programmatischer Entgegensetzung zu jeder sachlichen Isolation, Verabsolutierung oder Privilegierung des ‚Kognitiven‘/ ‚Ideellen‘. Vielmehr versteht und entwirft er – und das macht den Begriff der Zivilisation wesentlich aus – diese Seite des Akteurs und Akteurwissens im Zusammenhang mit der anderen Seite (oder den anderen Seiten): den Körperzuständen, den Emotionen, Affekten und (d. h.) auch Trieben, die die meisten (anderen) Wissensund Kultursoziologen gerne vergessen oder unterschätzen. Mit diesem zunächst auffälligsten Distinktionsmerkmal, ja ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der figurationssoziologischen Wissenssoziologie geht ihre Konstruktion von Zusammenhängen zwischen Wissen und Verstehen, Wissen und Lernen, Wissen und Kompetenz68 und Wissen und Stil, nämlich Verhaltensstil und Lebensstil, einher. Wissen wird in diesem Sinne vor allem als (lebens-)praktisches Wissen oder Alltagswissen verstanden, als Wissen, das Praxis fundiert und (sich) in Praxis entfaltet. Mit dem darauf bezogenen (insbesondere habitus-)terminologischen Repertoire ist dann auch wieder der ganze weitere terminologisch-theoretische Kontext und Verweisungszusammenhang der Figurationssoziologie69 aufgerufen, der sozusagen den Unterbau und den Rahmen, die soziologische Verstehensanweisung für ihre begrifflichen Versionen und Untersuchungen von Wissen bildet. Mit dem theoretischen Grundansatz der Figurationssoziologie, Soziogenese und Psychogenese70 als zwei Seiten einer Medaille zu betrachten und als Zusammenhang zu rekonstruieren, ist auch der Grundansatz definiert, mit dem sie Wissen als Gegenstand konstruieren und Wissenssoziologie betreiben kann. Wissen taucht hier m. a. W. nicht als eine irgendwie ‚ontische‘, „substantivische“ (Elias), autonome, sozial grundlegende oder vergleichsweise wichtigere Tatsache oder Kategorie auf (mit einer entsprechend legitimierten Wissenssoziologie) und auch nicht nur in einem modern-alltagsweltlichen oder technologischen Sinn71, sondern als eine Art Sammelbegriff für höchst unterschiedliche, gewordene, werdende, (kontext-)relationale und interdependente Phänomene, die es als solche zu beschreiben und zu erklären gilt. In diesem Sinne und nur in diesem Sinne ist die Figurationssoziologie als Wissenssoziologie angelegt und operativ, insbesondere 68 Nicht zuletzt: Wissen und Urteilskraft, Kreativität, Flexibilität usw. 69 Also: Figuration, Feld, symbolische Ordnung/Ritual, Kapital/kulturelles Kapital, Strategie, Distinktion usw. 70 Psychogenese ist hier im doppelten Sinne gemeint – zum einen im Sinne der Psychogenese des Individuums, auf die der Sozialisationsbegriff zielt, und zum anderen im Sinne der langfristigen Habitusformation von Kollektiven. 71 Wofür etwa Titel wie ‚Wissens-‘ oder ‚Informationsgesellschaft‘ stehen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
als Zivilisationssoziologie/Zivilisationstheorie des Wissens. Das damit gemeinte Spektrum von Phänomenen und ‚Aspekten‘ reicht von voll Bewusstem bis zu ganz Unbewusstem, von Alltäglichstem bis zu Außergewöhnlichstem, von Profanem bis zu Heiligem, von explizitem oder kanonisiertem Wissen bis zu implizit Gewusstem, von der spontanen Intuition oder ‚Ahnung‘ bis zur methodisch kontrollierten Reflexion oder zur ausgearbeiteten Technologie, von der Kunst, dem Glauben oder der Phantasie bis zur Wissenschaft, von der Sprache bis zum Bild, von ästhetischen Empfindungen oder Stilen bis zu ‚gepflegten Semantiken‘. Im figurationssoziologischen bzw. zivilisationssoziologischen Begriff von und Zugriff auf Wissen geht es also längst nicht nur um praktisches Akteurwissen, um implizites, ‚stillschweigendes‘ Habitus- oder Alltagswissen, wenngleich diesem Wissen so etwas wie eine Haupt- und Schlüsselrolle in verschiedenen Zusammenhängen sozialer Praxis zuerkannt wird. Es erscheint bei Elias in Abhängigkeit vom Zivilisationsprozess als relativ autonom und – als Habitus, Mentalität und Korrelat von ‚Lebenswelt‘ – von höchster Wichtigkeit für die ‚gesellschaft liche Konstruktion der Wirklichkeit‘ im Ganzen. Es erscheint aber auch in vielfältiger Interdependenz mit expliziten und reflexiven, theoretischen und quasi-theoretischen Wissensformen, die sowohl aus jenem Wissen (Alltagswissen/Habituswissen) hervorgehen und von ihm (z. B. als Resonanzbedingung) abhängen als auch in es eingehen können.72 Formen von Akteurwissen bzw. Habituswissen bilden aus figurationssoziologischer Sicht auch insofern immer nur (und immer nur in der historischen Langfrist-Perspektive) eine Seite der Medaille, als Wissen auf der Ebene der sozialen (Praxis-)Figurationen bzw. Felder, wenn auch in Interdependenz mit Akteuren und Habitus, eigene Bedeutungen besitzt und eigene ‚Rollen‘ spielt. Auf dieser Ebene könnte man von Figurations- oder Feld-Wissen sprechen, das sich jeweils durch eine gewisse Objektivität und Spezifität, aber auch durch Gewordenheit, Verwurzelung und Effektivität auszeichnet. Ein im Blick auf die moderne (‚Gegenwarts-‘) Gesellschaft spezifisch wichtiges Beispiel ist das Feld der Wissenschaften als (historisch spät entstandener) Teilbereich der menschlichen Wissensentwicklung73, der einerseits relativ autonom (geworden) ist und andererseits die ganze Gesellschaft und ihre Menschen prägt. Die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Gesellschaft ist, wie neben Elias Gehlen (praktisch zeitgleich und ohne Berührung mit ihm) konsta-
72 Davon soll – auch mit vergleichenden Bezügen auf die systemtheoretische Wissenssoziologie Luhmanns und die Diskurs-Wissenssoziologie Foucaults – noch ausführlich die Rede sein. 73 Elias hat diesem Bereich und speziell dem Sektor der Sozialwissenschaften/Soziologie kontinuierlich viel Aufmerksamkeit gewidmet.
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tierte, ein zutiefst zivilisatorischer Prozess, der auch das ‚Bewusstsein‘, die Habitus jenseits des Wissenschafts-Feldes (mit-)formt74. Ein anderes, nicht weniger, aber in anderer Hinsicht wichtiges Beispiel für die hier gemeinten Wissens-Sphären und Wissens-Zusammenhänge und damit auch für die relative, relationale und historisch relativierte Rolle von Habitus(-Wissen) sind die Massenmedien. Sie stellen nicht nur einen eigenen, relativ autonomen, komplexen und in permanentem Fluss befindlichen Wissensraum (von Wissensräumen) dar, der auf die Habitus von Publika und Medienakteuren rekurriert, sondern (re-)präsentieren, formieren und generieren auch Wissen75, so dass sowohl in den Massenmedien als auch jenseits von ihnen „Realitäten der Massenmedien“ entstehen und sich wandeln. Hier geht es (wiederum) um Formen praktischen und reflexiven Wissens, das sich schließlich habituell ablagern kann. Hier geht es auch um (neue) Formen von Wissenseffekten, Wissensströmen und Figurationen des Wissens, die Habitusoder Attitüden-Formationen auf Seiten der Akteure implizieren. So fungieren die Massenmedien als ein breitenwirksamer (Sinn-)Generator bestimmter diskursiver Kenntnisse, aber auch als ein Generator von Kontingenzbewusstsein und als ‚Reflexionssteigerungsmechanismus‘ (vgl. Luhmann 1996; Stiegler 2009). Die sozialen und (figurations-)soziologischen Relevanzen und auch eine gewisse ‚Zentralität‘ und ‚Basalität‘76 der hier fokussierten Wissensformen und Wissensebenen liegen auf der Hand. Und ebenso liegt auf der Hand, dass die jüngeren und jüngsten Figurationsprozesse der Gesellschaft höchst bedeutsame (Re-)Figurationen des oben thematisierten Wissens mit sich gebracht haben und mit sich bringen. Die Bandbreite des damit Gemeinten reicht von eher allgemeinen (Wissens-)Modernisierungsprozessen, wie z. B. tendenziellen „Realitätsverlusten“ (Gehlen 1957)77, Anomisierungen/Desorientierungen, „Informalisierungen“ (s. o.) oder Entfremdungen, bis hin zu Prozessen der Bildung und Umbildung von Wissen, die
74 Verwissenschaftlichung ist als ein Moment oder Teilprozess jener übergreifenden Rationalisierung zu verstehen, die Elias als substanzielle Seite der Zivilisation ansieht. Auf die Parallelität zu Gehlen wurde bereits hingewiesen. Neuere Überlegungen zum Prozess der Verwissenschaftlichung, die teilweise ebenfalls in diese Richtung gehen, stellt Oevermann im Kontext seines Deutungsmusteransatzes an (vgl. 2001). 75 „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, meint Luhmann (1996: 9). Diese Behauptung dürfte übertrieben sein, macht aber auch basale Relationen klar – zwischen den Wissens- und Wirklichkeitsbedeutungen der ‚Nahwelten‘ einerseits und der medialen ‚Fern-‘ bzw. ‚Fernseh-Welten‘ andererseits. 76 ‚Basalität‘ vor allem insofern, als Wissen in der (Speicher-)Form von Habitus von größter praktischer Bedeutung ist und eine relative Eigenständigkeit und Resistenz besitzt. 77 Also auch gewissermaßen Wissensverlusten: Kenntnis-, Verständnis-, Gewissheitsverlusten.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
mit heute schon geläufigen Schlagworten wie Mediatisierung, Internetisierung78, (spezial-)kulturelle Differenzierung oder Verszenung belegt werden. All das schließt auch in Art oder Grad neue wissenssoziologische Herausforderungen und Aufgabenstellungen ein. Beispielsweise gilt es heute mehr und anders denn je, mit Hilfe eines entsprechend einzustellenden Instrumentariums bildlichen Wissensformen und Formen visuellen Kommunizierens/Darstellens und Wahrnehmens/Verstehens gerecht zu werden.79 So stellt sich also nicht (weniger denn je) die Frage nach der Relevanz der Wissenssoziologie(n), sondern die nach den Möglichkeiten ihrer Entwicklung, für die hier die Figurationssoziologie bzw. die figurationssoziologische Wissenssoziologie sozusagen als Leitsoziologie in einem diversifizierten und desintegrierten Konzept- und Theorienfeld vorgeschlagen wird.
2.2
Integrative Figurationswissenssoziologie
Betrachtet man das Konzept- und Theorienfeld der modernen Wissenssoziologien (neben und nach Elias) in dem programmatischen Sinne dieser Arbeit, also im Sinne einer (weiter) zu entwickelnden synthetischen Soziologie, dann zeigt sich, dass sich die verschiedenen Ansätze in ihrer theoretischen Dimensionierung stark 78 Man denkt hier natürlich an die revolutionären Wissensimplikationen und Wissenseffekte des Internets (vgl. Willems (Hg.) 2008b). 79 Ein deutlicher Schwerpunkt bisheriger Analysen liegt auf der Rekonstruktion latenter Wissensformen und deren Bedeutung im praktischen Umgang mit Medien. Entsprechend nimmt der Begriff des Habitus eine zentrale Stellung ein, wenn es z. B. um die theoretische oder empirisch-analytische Beschreibung eines medienbedingten Bild-Wissens geht (vgl. Michel 2006). Insbesondere die Science and Technology Studies beschäftigen sich schon seit längerer Zeit mit dem latenten Stellenwert und der latenten Bedeutung von Bildern im Kontext der Wissensgenerierung. Bilder und Bildlichkeit werden dabei nicht nur als Medien der Herstellung, Durchsetzung und Legitimation von (wissenschaftlichem) Wissen, sondern auch als Schau- und Verhandlungsplatz sozialer Kategorien (z. B.: Geschlecht, (Berufs-)Status) aufgefasst, die auf die Kommunikation von Bildern einwirken (vgl. Latour 1988; Knorr-Cetina 1999; Burri 2008). In den letzten Jahren hat vor allem die hermeneutische Wissenssoziologie Wissen als wesentliche Dimension verschiedenster Bildkulturen (re-)konstruiert, wobei neben und mit dem Wissen der Bilder das Wissen der Produzenten und Rezipienten eine zentrale Rolle spielt (vgl. Keppler 2006; Raab 2008). Neuere Studien deuten darauf hin, dass sich mit den digitalen Medien die Wissensbezogenheit und die Wissensbedingungen der Kommunikation von Bildern drastisch verändern (vgl. Barrett 1994; Beck 2000; Krämer (Hg.) 1998; Mitchell 2003; Krotz 2007; Baecker 2008). Aktuelle Konzepte und Ansätze wie die der „performativen Sozialwissenschaften“ nutzen Bilder und Bildlichkeit zudem als Medien, mit denen Formen der (Selbst-)Darstellung und des (visuellen) Wissens in neuartiger Weise als Daten erhoben und für die sozialwissenschaftliche Analyse erschlossen werden können (vgl. Bergmann 2008a, b; Denzin/Winter/Thies 2008; Jones u. a. 2008).
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unterscheiden und dass sie in sehr unterschiedlichen Verhältnissen zueinander und zur Figurationssoziologie bzw. zur figurationstheoretischen Wissenssoziologie stehen. Zwei theoretische Grundformate zeichnen sich ab: Auf der einen Seite stehen eher ‚mikro(wissens)soziologische‘ Ansätze und Konzepte entsprechend begrenzter Reichweite mit unterschiedlichen sachlichen Schwerpunktsetzungen. Verschiedene relevante Titel sind (ohne Anspruch auf sachlich systematische Differenzierung und auch nur annähernde Vollständigkeit) zu nennen oder wurden bereits genannt (s. o.): a) ältere und neuere Lebensweltansätze in der Tradition von Schütz und Luckmann; b) der Symbolische Interaktionismus bzw. die Soziologie sozialer Interaktionen/ ‚Situationen‘; c) die Soziologie der Alltagstheorien/naiven (Lebens-)Weltbilder, insbesondere im Anschluss an Schütz sowie Goffman (Rahmen-Analyse); d) die Ethnomethodologie bzw. die ethnomethodologische Konversationsanalyse; e) Deutungsmusteransätze, die sich mit a), b), c), d), f), h) und i) teilweise überschneiden; f) die Soziologie strategischen Wissens und Wissensmanagements (Informationskontrolle, Theatralität, s. u.)80; g) Luckmanns kommunikativer Gattungsansatz; h) Skriptansätze; i) Ritualtheorien (s. u.). Auf dieser (Mikro-)Ebene bietet die Figurationssoziologie neben bestimmten gegenstandstheoretischen Entwürfen und empirisch-analytischen Beschreibungen, z. B. der ‚Lebenswelt‘ der höfischen Gesellschaft, vor allem die allgemeine (Zivilisations-)Habitustheorie an, die jene Ansätze und Begrifflichkeiten teils zu reformulieren und teils zu ergänzen bzw. zu fundieren vermag und die auch als eine 80 Diese Art von Wissenssoziologie wurde und wird häufig gar nicht als solche wahrgenommen bzw. nimmt sich selbst nicht als solche wahr. Allerdings handelt es sich um eine besondere Form von Wissenssoziologie, insofern sie der subjektiven und objektiven Konstruktion von Wirklichkeit durch praktische Kontrolle und Handhabung von Wissen im Sinne bestimmter Informationentypen (z. B. Geheimnisse) nachgeht. Die wichtigsten diesbezüglichen Klassiker sind Simmel und – in seiner Nachfolge – Goffman, der die wissenssoziologische Schlüsselfrage der Wirklichkeitskonstruktion als Frage des strategischen Wissens- bzw. Informationsmanagements behandelt hat. Simmel und Goffman thematisieren damit immer auch die Moderne mit ihren spezifischen strukturellen Wissensverhältnissen und entsprechenden Handlungsspielräumen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Bekanntheit und Fremdheit, Intimität und Anonymität (s. u.).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Art Bindeglied zu ‚Makrostrukturen‘ und zur ‚Makrosoziologie‘ fungieren kann. Als Ganze kann die Figurationssoziologie die genannten ‚mikro(wissens)soziologischen‘ Ansätze an bestimmten (und zu bestimmenden) strukturellen Punkten integrieren und sie und sich selbst dadurch weiterentwickeln. Auf der anderen Seite stehen eher ‚makro(wissens)soziologische‘ Konzepte und Ansätze, deren (Groß-)‚Format‘ mit dem der figurationstheoretischen Wissenssoziologie (Bourdieu eingeschlossen) zu vergleichen ist und verglichen werden soll. Ich meine die Ansätze der vielleicht (immer noch) prominentesten Wissenssoziologien der (relativ) jüngeren Vergangenheit, nämlich einerseits die Diskurstheorie Foucaults und andererseits die systemtheoretische Wissenssoziologie Luhmanns81. Beide Ansätze (und anschließende Arbeiten) sollen in ihren Grundzügen, Perspektiven und terminologischen Konstrukten auf korrespondente Teile der figurationstheoretischen Wissenssoziologie bezogen werden – mit dem Ziel reziproker Lernprozesse der besagten Art. Zu zeigen ist in Bezug auf Luhmanns Wissenssoziologie, dass sich die Figurationssoziologie bzw. die figurationssoziologische Zivilisationstheorie zur theoretischen ‚Semantik‘ Luhmanns einerseits – im Gegensatz zum Verständnis und Selbstverständnis von Elias – in gewissen Kernpunkten durchaus konvergent verhält. Wie Elias oder ähnlich wie Elias verfolgt Luhmann mit seiner Wissenssoziologie eine langfristige historische, differenzierungs- und gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Perspektive, die primär die Entwicklung von Sozialstrukturen (Soziogenese) als Gründe und Hintergründe von Wissensentwicklungen und (d. h.) Wissenswandlungen (Semantik) veranschlagt (s. o.). Andererseits steht die ‚Figurationswissenssoziologie‘ in einem systematisch divergenten, ja antagonistischen Verhältnis zur systemtheoretischen Wissenssoziologie, und zwar vor allem deswegen, weil sie die Evolutionen aller Formen des Wissens an die (Ko-)Evolutionen von sozialen Strukturen (Soziogenese) und Habitus (Psychogenese) gebunden sieht und dementsprechend die Analyse und Deutung anlegt. Das impliziert neben einem systematischen Stellenwert von Personen bzw. Habitus und personalen Akteuren, die Luhmann im Rahmen seines kommunikationstheoretischen Paradigmas sozusagen aus seiner Theorie exkludiert, einen entsprechend tiefer ansetzenden, komplexeren und vielseitigeren Wissensbegriff der Figurationssoziologie.
81 Hier ist neben Luhmanns Bänden über „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (1980; 1981; 1989; 1995) an sein Buch „Liebe als Passion“ (1982) zu denken, das auch – schon wegen der ‚Sachen‘ (Sex, Körper, Emotionen, Mentalitäten, Diskurse) – von besonderer figurations- bzw. zivilisationstheoretischer Relevanz ist oder zu sein verspricht.
Wissen und Wissenssoziologie
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Er setzt insbesondere als Begriff von Habitus-Wissen82 schon beim vorreflexiven und vorsprachlichen (Moral- und Geschmacks-)Empfinden und Urteilen an, geht (also) über die kognitive Seite der („gepflegten“) Semantik hinaus, bezieht Emotionalität/Affektualität mit ein und beinhaltet ein komplexes (Handlungs-)Kompetenzverständnis. Wissen heißt in diesem Rahmen auch, und in mancher (Praxis-) Hinsicht vor allem, das in der neueren Sozial- und Kulturforschung (von Goffman oder Bourdieu über die Cultural Studies bis zu Essers Rational-Choice-Ansatz) besonders herausgestellte praktische Wissen und Können: eher oder ganz ‚unbewusstes‘ Gewohnheits- und Routinewissen und (damit) auch gewisse Formen von Virtuosität, Urteilskraft, Gespür, Intuition, Flexibilität in allen Arten und Bereichen von Praxis. Luhmann (und ähnlich Foucault) konzentriert sich demgegenüber sozusagen auf die andere Seite der historischen ‚Wissenshaushalte‘, nämlich auf Bereiche und Systeme expliziten bzw. reflexiven Wissens und expliziter bzw. reflexiver Kommunikation, insbesondere auf die Seite der „gepflegten Semantik“ von (schriftlichen) Texten. In dieser Ausrichtung liegt eine gewisse Divergenz zu Elias, der die „gepflegte Semantik“ aufgrund seiner und zugunsten seiner (zivilisations-) habitustheoretischen Orientierungen und Erkenntnisinteressen eher nachrangig veranschlagt und behandelt. Zwar hat es auch Elias – durchaus systematisch und extensiv – mit dem hier gemeinten Spektrum von Wissenstypen (und Diskurstypen) zu tun, z. B. mit Benimm- und Klugheitsliteraturen, jedoch sieht er darin (und dadurch) vor allem Anzeiger (Symptome) und Faktoren der Entwicklung (Transformation, Verschiebung) von zivilisatorischen Habitusformen (als impliziten Wissensformen eigener Art). Gleichwohl mag sich in diesem Zusammenhang auch die Aussicht auf gewisse Komplementaritäten oder jedenfalls sinnvolle wechselseitige Irritationen und Anregungen zwischen diesen Ansätzen eröff nen, so verschieden auch ihre theoretische Architektur im Ganzen oder in wesentlichen Teilen ist. Auch Foucaults Diskurstheorie/Diskursanalysen und diverse daran anschließende (diskurs-)theoretische und empirisch-analytische Untersuchungen83, wie
82 Solches Wissen taucht allerdings auch bei Luhmann auf: ganz allgemein im Begriff der Semantik (1980), spezifischer im Zusammenhang mit Begriffen wie Schema und Skript (vgl. z. B. 1996 oder 1997). Mit ihnen bezieht sich Luhmann wohl am ehesten auf habituelle Wissensformen. 83 Das sozial- und kulturwissenschaftliche Interesse an Foucaults Arbeiten und (Diskurs-)Ansatz ist auch drei Jahrzehnte nach seinem Tod ungebrochen, ja gerade in der jüngeren Vergangenheit – und gerade im Kontext der Wissenssoziologie – zunehmend. Diskurstheorie und Diskursanalyse/Diskursforschung sind auch schon lange selbst Gegenstände von dynamisch wuchernden (Spezial-)Diskursen. Vgl. für die neuere Diskussion im deutschen Sprachraum: Bublitz u. a. (Hg.)
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z. B. Jürgen Links Studien zum modernen (Diskurs-)„Normalismus“ (vgl. 1997), sind mit den ‚(Groß-)Formaten‘ der figurationssoziologischen und der systemtheoretischen Wissenssoziologie zu vergleichen und damit auch in den programmatischen Rahmen der vorliegenden und kommenden Arbeiten zu stellen. Zwar liefert Foucault im Gegensatz zu Elias und Luhmann keine explizite (Feld-)Differenzierungstheorie oder gar Gesellschaftstheorie im engeren Sinne, aber seine Diskurstheorie bewegt sich durchaus auch auf den sozialen (Makro-)Ordnungsebenen der Elias’schen und der Luhmann’schen (Wissens-)Soziologie und hat insofern eine entsprechende Reichweite.84 Für die Annahme von Vergleichbarkeit und (mindestens figurationssoziologischer) Anschlussfähigkeit sprechen auch gewisse Gemeinsamkeiten der Thematik, die allerdings zwischen Foucault und Elias am größten sind. Die thematischen Schnittbereiche zwischen beiden Autoren – vor allem: Wissen, Macht, Kampf, Disziplin/Disziplinierung und Identität – verweisen wiederum auf prinzipielle Ähnlichkeiten der theoretischen Perspektive bzw. des Blicks auf die Wirklichkeit des Sozialen, nämlich ein Denken in Differenzen, Relationen und Grenzen85. Bei allen Unterschieden, Besonderheiten und auch Gegensätzen verbindet dieses Denken Foucault vor allem mit Elias, aber in gewisser Weise auch mit Luhmann86. Besonders wichtig (und dieses Denken auszeichnend) ist hier die grundsätzlich historische Ausrichtung, die Foucault mit jenen Wissenssoziologen teilt. Für Foucault sind Diskurse und Eigenschaften von Diskurstypen, z. B. deren Funktion, Kommunikationen auszuweisen und zu gruppieren, „durch und durch historisch“ (Foucault 1973a: 170). Der Diskurs erscheint als „Fragment der Geschichte, Einheit
(1999); Diaz-Bone (2006); Jäger (1999); Kassel (2004); Keller (1997); Keller u. a. (Hg.) (2005; 2006); Kocyba (2006); Winter (1997); Woetzel (1980). 84 Deutlich ist auch die prinzipielle Kompatibilität und Komplementarität der Begriffe Diskurs und Semantik. Diskurse beinhalten sozusagen eine Semantik oder Semantiken als Sinntypenschätze, gehen aber als ‚Ordnungen‘ ihrer Erzeugung, Regulierung, Umsetzung und Fortsetzung weit darüber hinaus. Der Diskursbegriff ist insofern dem Semantikbegriff übergeordnet oder überzuordnen. 85 In Bezug auf Foucault spricht Waldenfels zu Recht von einem „Denken in Grenzen“ (Waldenfels 1985: 17). 86 Auch für Luhmann ist insbesondere ein ‚Denken in (Sinn-)Grenzen‘ charakteristisch. Das Ziehen und die Reproduktion von (Sinn-)Grenzen versteht er als einen Prozess, der sich nicht nur innerhalb von „Funktionssystemen“ (und deren „Umwelt“), sondern in allen Kommunikationen ereignet (vgl. Luhmann 1988). Auch Simmel und Goffman können hier als Vertreter eines ‚Denkens in Grenzen‘ genannt werden, insbesondere mit ihrer soziologischen Rahmenmetaphorik. Gerade in Goffmans Werk taucht das Thema der Grenze aber auch darüber hinaus immer wieder auf – in Bezug auf eine große Vielfalt von Phänomenen und anhand einer Vielfalt von Begriffen, wie z. B.: Bühne, Territorium, Ritual, Stigma oder Selbst.
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und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit“ (ebd.: 170). Die „Instanzen der diskursiven Produktion“ zu analysieren muss für Foucault also heißen, die „Geschichte dieser Instanzen und ihrer Transformationen“ zu schreiben (Foucault 1977b: 22 f.). Hierbei gilt es im Auge zu behalten (oder ins Auge zu fassen) – und dies führt von Luhmann weg und hin zu Elias, ja ins Zentrum seiner Soziologie –, dass Foucault auch ein Verständnis von Habitus/Gewohnheit und Habitusgenese/Gewohnheitsbildung entwickelt hat und als ‚Zivilisationstheoretiker‘ gelesen werden kann (s. o.). Ähnlich wie für Elias und Bourdieu ist auch für Foucault der Körper Zielscheibe, Wirkungsfeld, Basis und Medium historischer (sozialer) Macht-, Wissens- und damit Sinnverhältnisse, die sich an und in ihm niederschlagen oder ablagern. Wissenssoziologie muss damit immer auch Körpersoziologie sein und umgekehrt. In dem hier skizzierten Arbeitskontext der intendierten synthetischen Soziologie muss es zunächst darum gehen, die eigentümliche wissenssoziologische Perspektive und die zentralen wissenssoziologischen Komponenten und Konzepte der Diskurstheorie auf die Figurations(wissens)soziologie (und damit auch auf verschiedene empirische Figurationen als ‚Kontexte‘ von Diskursen) zu beziehen. Die Diskurstheorie liefert vor allem mit ihrer machttheoretisch ausgerichteten und fundierten Konzentration auf reflexive, institutionelle und mediale Kommunikationsformen/(Selbst-)Thematisierungsformen, Kommunikationsbedingungen und Wissenstypen eine sachliche und perspektivische Ergänzung zu Elias, aber auch zu den anderen zu behandelnden Wissenssoziologien. Sie beinhaltet auch ein in sich integriertes und verspricht ein komplementäres konzeptuelles Instrumentarium (Dispositiv, Zensur, Kanon, Ritual usw.), das dieser Gegenstandsebene – der Diskurse – korrespondiert. Andererseits können Diskurstheorie und Diskursanalyse von der Verknüpfung mit jenen wissenssoziologischen Ansätzen profitieren, die in je eigener Weise, mehr aber noch in ihrer anzustrebenden figurationssoziologischen Synthese zur Konzeptualisierung und Aufklärung der Ordnungen, Praxen, Voraussetzungen und Geschichten von Diskursen beizutragen vermögen. Alle Zusammenhänge der empirischen Diskurse und der Diskurstheorie/Diskursanalyse verweisen nämlich auf den sachlichen und konzeptuellen Zusammenhang der intendierten synthetischen (Figurations-)Soziologie (mitsamt allen wissenssoziologischen Implementierungen) oder können darauf bezogen werden. Man denke nur an Begriffe (und Phänomene) wie: Figuration, Feld, Netzwerk, Machtbalance, Mentalität, Gewohnheit, Habitus, Kapital, Rahmen, kommunikative Gattung, Stil/Lebensstil, Deutungsmuster, Semantik, Skript, Setting, Ritual, Strategie, Bühne, Image oder Theatralität. Damit deutet sich an (und wird zu zeigen sein), dass der
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zwar sachlich (zunehmend) angeforderte und aufschlussreiche, aber auch soziologisch unbefriedigende und oft diffus gebrauchte Diskursbegriff gleichzeitig zu erweitern, zu kontextieren und zu spezifizieren ist und so auch den empirischen Realitäten, die mit diesem Begriff gemeint sein können, besser gerecht werden kann. Von besonderer theoretischer oder sogar theorie(bildungs)strategischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Bourdieu (im Unterschied zu Elias) den Diskursbegriff und eine diskurstheoretische Perspektive seiner eigenen Theorie (schon früh) einverleibt hat (vgl. z. B. Bourdieu 1976). Damit weist er nämlich auch die Richtung für die Beantwortung der Frage, wo und wie die Diskurstheorie und die Diskursbegriff lichkeit im ‚System‘ oder ‚Gebäude‘ der Figurationssoziologie zu verorten und zu verwerten sind. Die Bourdieu’sche ‚Inkorporation‘ der Diskurstheorie impliziert vor dem Hintergrund seines Feld/Habitus-Ansatzes m. a. W. eine Art (figurations-)theoretische Verstehens- und Platzanweisung, der es genauer nachzugehen gilt. Einen Ansatzpunkt und eine Deutung liefert in diesem Zusammenhang Laura Kajetzke (2008), die Bourdieus Diskurstheorie als eine Macht/Wissen-Theorie im Vergleich mit und in Abgrenzung von Foucault betrachtet. Kajetzke kommt zu dem Schluss, dass die Diskurstheorie und die Diskursanalyse Bourdieus gänzlich vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Sozialtheorie und damit vor dem Hintergrund seiner Schlüsselkategorien – Feld, Habitus, Lebensstil, Kapital usw. – angelegt und zu verstehen sind: „Die erkennbaren Merkmale einer Diskursanalyse nach Bourdieu (…) sind diejenigen seiner Gesellschaftstheorie selbst. Er zielt auf keine diskursinterne Analyse ab, sondern will den Diskurs in seinen gesellschaftlichen Kontext verorten und somit erklären. Eine ‚Diskursanalyse nach Bourdieu‘ ist somit eine Analyse des Zusammenspiels von Habitus und (sprachlichem) Feld, eine Analyse symbolischer Machtverhältnisse und ihrer Entstehung“ (Kajetzke 2008: 72 f.). In eben diesem Sinne oder jedenfalls in dieser Denkrichtung sind Diskursbegriff(e), Diskurstheorie(n) und Diskursanalyse(n) auf die Figurationssoziologie und auf das Projekt einer entsprechenden synthetischen Soziologie zu projizieren.87
87 Aus figurationssoziologischer Perspektive ist es also zentral, Diskurse – als reflexive Kommunikationszusammenhänge bzw. „Mengen von Aussagen“ (Foucault 1973a: 145) – in Verhältnissen der Dependenz oder Interdependenz mit sozialen Figurationen/Feldern (Machtbalancen, Kapitalverteilungen, Konkurrenzen etc.) und damit auch mit (Akteur-)Habitus(-formen) zu sehen. Diskurse finden aus diesem Blickwinkel immer unter der sie konstituierenden und zugleich limitierenden Voraussetzung von Figurationen/Feldern und Habitus statt; sie hängen immer von Figurationen/ Feldern, figurationsspezifischen Strukturen (z. B. „Instanzen der diskursiven Produktion“) und Habitus ab, aber sie können auch Figurationen/Felder oder Momente von Figurationen bedingen, be-
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Zentral sind hier aber nicht nur grundsätzliche konzeptuelle und theoretische Überlegungen, sondern ist immer auch ihr Zusammenhang mit einer synthetischen Wissenssoziologie, die den eigentümlichen reflexiven und reflektorischen Kommunikations-Realitäten und Entwicklungstendenzen der Moderne und der Modernisierung gerecht werden will und gerecht zu werden hat. Die empirischen Aufgaben und Herausforderungen liegen dabei jedenfalls teilweise auf der Hand und können auf Begriffe wie Reflexivierung und Diskursivierung gebracht werden: Die moderne und mehr denn je die heutige Gesellschaft ist ja wie keine andere eine differenzierte Explikations-, Beschreibungs-, Thematisierungs- und Inszenierungsgesellschaft (geworden)88, eine Gesellschaft der (sprachlich) ausgedrückten und ausdrücklichen ‚Definitionen‘, der ‚bewussten‘ (Selbst-)Beobachtungen, der Fremd- und Selbstthematisierungen, der Image-Inszenierungen, der (medien-) kommunikativen Auseinandersetzungen und Kämpfe um ‚definitorische‘ Geltungen, Klassifikationen, Bewertungen usw. Diese Gesellschaft ist eine, die wohl schon auf der Ebene ihres Alltags durch ihre ‚Redseligkeit‘ und „Geschwätzigkeit“ (Hubert Knoblauch) auffällt, die aber auch auf allen ihren ausdifferenzierten Feldern/Subsystemen, immer im Zusammenhang mit spezifischen Wissensbedingungen und (habituellen) Wissenseffekten, Reflexivitäten, (Dauer-)Reflexionen und (Dauer-)Thematisierungen kultiviert und mit den diversen Mediatisierungen dynamisch steigert und diversifiziert. Es ist offensichtlich, dass neue Medien (Internet), Medien-Bühnen (s. u.) und Medien-Diskurse (auch als Räume und Modi von Wissen, Wissensverteilungen und Wissensgenerierungen) in diesen Zusammenhängen eine besondere, zentrale und immer größere Rolle spielen89 und daher besonders und mit besonderen (wissens-)soziologischen Mitteln zu untersuchen sind. Vor allem diese Tatsache einer in ihrer ‚Architektur‘ veränderten und sich verändernden sozialen (Kommunikations-)Ordnung, Praxis und Wirklichkeit ist es, die die Diskurstheorie – neben und mit anderen Wissenssoziologien – als analytisches Instrumentarium spezifisch wichtig macht und ihre integrative Verbindung mit der Figurationssoziologie nahe legt. einflussen und (mit-)konstituieren. In jedem Fall geht es damit um reflexive Formen des Wissens, das zugrunde gelegt, prozessiert und/oder generiert wird – auch mit Habitusimplikationen und Habituseffekten. Und in bestimmten Fällen (wie etwa der Psychotherapie, der Beratung oder der Erziehung) geht es um spezielles (Diskurs-)Wissen, das eine spezifisch sozialisatorische bzw. zivilisatorische Bedeutung hat. 88 Bei gleichzeitigem Fortbestand und gleichzeitiger Fortentwicklung von (Habitus-)‚Traditionalismen‘ verschiedener Art. 89 Auch als eine Art Überbau von Figurationen/Feldern, der sich diesen Figurationen gegenüber in einer relativen Autonomie, aber auch in Verhältnissen der ‚symptomatischen‘ Indikation und der kulturellen/zivilisatorischen Rückwirkung befindet.
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Alle genannten, im weiteren oder engeren Sinne mit Wissen befassten und mit Wissensbegriffen operierenden soziologischen Ansätze sind in ihren hauptsächlichen sachlichen Bezügen und in ihrer (gegenstands-)theoretischen Anlage und Reichweite mehr oder weniger spezifisch profiliert. Sie sind in dieser Form, und dies gilt es genau herauszuarbeiten und auszuarbeiten, von je eigenem Nutzen, und sie stehen jeweils auch in einem doppelten Komplementärverhältnis – nämlich in einem weitgehend komplementären Verhältnis sowohl zueinander als auch gemeinsam zur Figurationssoziologie, die sozusagen als Metatheorie und Forschungsprogramm die Entwicklung einschlägiger (wissenssoziologischer) Synthesen voranbringen kann.90 Die mindeste Nützlichkeit dieser Anstrengung sollte in konzeptuellen und theoretischen Komplementaritäten, Spezifikationen und ‚Synergieffekten‘ zu Gunsten einer (figurations-)soziologischen Aufklärung historischer Entwicklungen in dem dargelegten Sinne bestehen. Was man also hier und weiterhin erhoffen und sich versprechen kann, sind gebündelte und (deswegen) gesteigerte soziologische Leistungen und Leistungsfähigkeiten nicht nur in Richtung der allgemeinen Figurations-(Wissens-)Soziologie/Figurationstheorie91, sondern auch im Hinblick auf empirische Entwicklungen und Wandlungen, für die neben oder mit der Zivilisationstheorie zeitdiagnostische92 Schlagworte und Signaturbegriffe wie etwa Netzwerkgesellschaft, Informationszeitalter, Wissensgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Mediengesellschaft oder auch Massenkultur, „flexibler Kapitalismus“ (Sennett) oder „neuer Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2006) stehen. Diese Begriffe indizieren eine von empirischen Verhältnissen und Prozessen ausgehende begrifflichtheoretische Anforderungs- und Herausforderungslage, der es durch die (Weiter-)Entwicklung der figurationssoziologischen Wissenssoziologie und durch parallel laufende empirisch-analytische Forschungen gerecht zu werden gilt. In diesen Kontexten muss es immer auch darum gehen, Wechselbezüge zwischen Theorie- und Empiriearbeit herzustellen (s. o.) – etwa und gerade im Hinblick
90 Natürlich muss es im Zusammenhang dieses Versuchs immer auch um begriffs- und theoriekritische Einschätzungen (und daraus zu ziehende Konsequenzen) gehen. 91 Der hier gemeinte (Wissens-)Fortschritt betrifft auch alle anderen im Folgenden behandelten oder ins Auge gefassten Arbeitsschwerpunkte, die immer auch mit Wissen (in einem noch differenziert zu explizierenden Sinne) zu tun haben. Symbolische oder rituelle Ordnung z. B. ist auch – und wesentlich – Wissensordnung; räumliches oder strategisches Handeln ist auch – und wesentlich – auf Wissen gegründet und Wissenshandeln; die soziale Ordnung der Zeit ist auch – und wesentlich – eine Ordnung des Wissens, usw. 92 Und ‚zeitsymptomatische‘.
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auf die überall durchdringenden Mediatisierungen und (neuen oder erneuerten) Medienfigurationen.
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Materialität, Raum, Körper/Bewegung und Zeit
Die Elias’sche Figurationssoziologie und – in ihrer Kontinuität – der Ansatz Bourdieus haben hier auch als Soziologie der Materialität93, d. h. der (menschlichen) Dinge94, Dingwelten und Körper/Korporalität, sowie in enger Verbindung damit als Soziologie von Raum und (Ding-, Körper-)Bewegung einen besonderen theoriestrategischen und programmatischen Stellenwert. Man kann diesbezüglich angesichts der gesteigerten Aufmerksamkeit, die diese Autoren den genannten Aspekten widmen, durchaus von einem gewissen Materialismus sprechen – jedoch nicht im Sinne einer irgendwie gearteten Privilegierung von Materialität, sondern im Sinne einer systematischen sachlichen Veranschlagung, Einordnung und Bewertung, die sich aus der theoretisch-empirischen Untersuchung des Sozialen ergibt. Neben diesem und in Verbindung mit diesem ‚Materialismus‘ steht die Elias’sche (figurationssoziologische) und die Bourdieu’sche Fokussierung der Zeitlichkeit des Sozialen und der Sozialität der Zeit95 – eine Thematik, die Elias bereits in den (frühen) Zivilisationsbänden (Elias 1980a, b) und schließlich im Rahmen einer eigenen, ausdrücklich als Wissenssoziologie deklarierten Monographie „Über die Zeit“ (1984) untersucht, und zwar in systematischer und paradigmatischer Weise und mit dem Ergebnis einer originären Zeittheorie, die in die allgemeine Figurationssoziologie und in die speziellere Zivilisationstheorie eingebettet ist. Mit diesen Thematiken macht sich die Figurationssoziologie sozusagen in 93 Vgl. zum Begriff und zur ‚Sache‘ der Materialität des Sozialen/der sozialen Materialität den unter dem Titel „Materialität der Kommunikation“ erschienenen Sammelband von Gumbrecht und Pfeiffer (Hg.) (1988), der eine breite interdisziplinäre Diskussion repräsentiert und angeregt hat. 94 Wenn hier und im Folgenden von Dingen die Rede ist, dann sind im Blick auf die moderne (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft natürlich auch und hauptsächlich hergestellte bzw. industriell produzierte Dinge, insbesondere Waren, gemeint. Die kommerzielle Produktkultur/Warenkultur spielt in allen konzeptuellen und theoretischen Kontexten, um die es hier geht (Habitus, Stil, Ritual, Theatralität usw.), eine wichtige Rolle. 95 (Auch) In diesem Zusammenhang – wie in den Zusammenhängen der Materialität, des Körpers und des Raumes – hat die Soziologie schon seit längerem eine allerdings lange andauernde empirische Gegenstandsvergessenheit beendet (vgl. z. B. Heinemann/Ludes 1978; Bergmann 1983). Nicht nur gibt es eine seit Jahrzehnten wachsende Zahl von Arbeiten über die Zeit; Zeit/Zeitlichkeit ist vielmehr auch in verschiedenen neueren Großtheorien (von Luhmann über Bourdieu bis Giddens) zum systematisch beachteten und entworfenen ‚Faktor‘ geworden.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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allen Dimensionen der ‚realweltlichen‘ Empirie fest – in Dimensionen, die aus ihrer Sicht zusammenhängen, figurationssoziologisch im Zusammenhang auftauchen müssen und so – und nur so – verstanden und erklärt werden können. Raum, Materialität, Körper, Bewegung und (damit) Zeit stehen m. a. W. in inneren, immanent historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen, denen ihre Erforschung nur durch eine entsprechende ‚Synthetizität‘ gerecht werden kann (vgl. Elias 1984; Graumann/Kruse 1978). Genau diese ‚Synthetizität‘ ist das Ziel der schwerpunktmäßig in einem der geplanten Bände anzustellenden Überlegungen und Untersuchungen. Hierin liegt die Begründung für ein kontinuierliches, mit Elias über Elias hinausgehendes Arbeitsprogramm, das die besagten Themen gerade auch im Hinblick auf die immer schnelleren Entwicklungen ‚unserer Zeit‘ zusammen betrachtet und in ihren Interdependenzen zu untersuchen trachtet.96 Auch bezüglich der hier ins Aufmerksamkeitszentrum tretenden Themen und Thematisierungen ist Georg Simmel – zunächst hinsichtlich der thematischen Inhalte selbst, dann aber auch im Hinblick auf die historisch-anthropologische Art ihrer Untersuchung – als einer der großen, wenn nicht als der große klassische Vorläufer der Figurationssoziologie zu betrachten. Vor allem mit der Sozialität des Materiellen und der Materialität des Sozialen, mit Dinglichkeit, Raum, Körper, Korporalität/Kleidung97 und Bewegung, aber durchaus auch mit Zeit und Zeitlichkeit, hat Simmel sich teils in speziellen Untersuchungen, teils in verstreuten Überlegungen immer wieder beschäftigt – und geriet damit wie später Elias lange in Vergessenheit, bevor thematisch entsprechende und bis heute anhaltende Konjunkturen sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen98 einsetzten. Wie in den anderen genannten Sachbezügen, so bietet Elias auch in den hier 96 So stellt sich z. B. die Frage, was die Wandlungen der sozialen Zeiten, Zeitordnungen und Zeitpraxen (Zeitrahmen, Zeitdifferenzierungen, strukturelle Zeitverteilungen, Zeitverknappungen, Beschleunigungen etc.) und die davon nicht unabhängigen Wandlungen von (Sozial-)Räumen und Räumlichkeiten, Wegen und Bewegungen (Mobilisierungen, mediale Enträumlichungen und Verräumlichungen etc.) für die Zivilisation oder auch Dezivilisation (des Körpers, des Bewusstseins) bedeuten. Für die Beantwortung von Fragen dieser Art bietet Elias zwar einen paradigmatischen Ansatz. Er selbst hat diesbezüglich aber nur ansatzweise Antworten gegeben bzw. nur einen relativ schwachen Kontakt zu den neueren (insbesondere Organisations- und Medien-)Entwicklungen ‚seiner Zeit‘ gehabt. 97 In diesem Zusammenhang sind nicht zuletzt die Thematiken der Geschlechter(-körper), der Erotik(-körper) und des Sexes bzw. der Sexualität zu nennen, denen Simmel sich ausführlich zugewandt hat und die er konsequent als historisch relative soziale bzw. kulturelle/symbolische Tatsachen verstanden und gedeutet hat. Auch darin ist er einer der wichtigsten Vorläufer von Elias und Bourdieu und der einschlägigen soziologischen Strömungen überhaupt. 98 Im Feld der Soziologie: Körpersoziologie, Konsumsoziologie‚ Kleidungssoziologie, Modesoziologie, Geschlechtersoziologie, Raumsoziologie, Architektursoziologie, Zeitsoziologie etc.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
gemeinten einen mehrseitigen und integrativen Theorieansatz. Synthetisch ist dieser Ansatz zunächst und in erster Linie insofern, als er auf innere Zusammenhänge der betreffenden empirischen (Sozial-)Tatsachen, z. B. von Raum, Zeit und Körper(-Zivilisation), abhebt.99 Alles gedanklich-perspektivisch Wesentliche ist (auch) dabei schon in den frühen Studien von Elias angelegt. Vor allem in seinen Untersuchungen der ‚höfischen Gesellschaft‘ und des Zivilisationsprozesses, und dann in den späteren und späten Ausarbeitungen und Weiterentwicklungen des Gedankenguts dieser Arbeiten, hat Elias selbst die ‚Orte‘ der Materialität (z. B. Architektur), des Körpers, des Raumes, der (Körper-)Bewegung und der Zeit im Theorieraum der Figurationssoziologie markiert, und zwar im Sinne eines Gesamtbilds sozialer Tatsachen, die untrennbar miteinander wie mit anderen ‚Dimensionen‘ von Sozialität verbunden sind – mit Sinn, Wissen, symbolischer (Status-) Ordnung, Ritualität, Theatralität, Identität, Image usw. Elias hat damit sowohl (seinerzeit) soziologisch lange vergessene oder vernachlässigte Realitäten und deren soziologische Reflexionstraditionen wieder ‚erinnert‘100 als auch einen soziologischen Gegen- und Metaentwurf zur Sache präsentiert. Mit ihm und in ihm geht es auch darum, fachlich eingespielte Ignoranzen, Blindheiten und reduktionistische Partialisierungen (als Soziologie des Raumes, Soziologie des Körpers, Soziologie der Kleidung usw.) zu überwinden. Materialität, Raum, Körper/Korporalität, Bewegung und Zeit werden von Elias aber nicht nur als empirisch zusammenhängend gedacht und theoretisch wie empirisch-analytisch behandelt, sondern auch umfassend und radikal soziologisiert. So sehr Elias einerseits kulturalistischen/ idealistischen Ansätzen opponent gegenübersteht, so wenig bezieht er andererseits in perspektivischer und theoretischer Hinsicht einen ‚objektivistischen‘ oder ‚materialistischen‘ Standpunkt. In und an jenen ‚objektiven‘ Tatsachen, die auch sozusagen eine Seite jenseits des Sozialen/Kulturellen (und d. h. Menschlichen) haben, erscheint immer das soziologisch einzuholende Soziale/Kulturelle am Werk: Sinn, Ideen, Wissen, eine Realität von (Be-)Deutungen, Symbolen, Interessen, Bedürfnissen, Strategien usw. Drei sachliche Zusammenhänge seien im Hinblick auf die gesetzten programmatischen Ziele etwas näher betrachtet: Raum, Körper und Zeit.
99 So kommt es auch und insbesondere zu einer (figurations-)soziologischen „Wiedervereinigung von ‚Zeit‘ und ‚Raum‘“ (Elias 1984: 74). 100 Wenn es ihm auch zunächst nicht gelungen ist, sie ins ‚Bewusstsein‘ des Faches und überhaupt der Menschenwissenschaften zu heben.
Materialität, Raum, Körper/Bewegung und Zeit 3.1
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Raum
Der Raum und die Behandlung des Raumes, das Handeln in Räumen, zwischen Räumen und in Verbindung mit Räumen ist für Elias zutiefst sozial, symbolisch und d. h. historisch relativ. Im Raum drückt sich sozusagen die Gesellschaft oder die Gruppe, drückt sich insbesondere auch die Fähigkeit ihrer Mitglieder aus, sei es bewusst oder unbewusst, ‚etwas‘ bzw. ‚sich selbst‘ zum Ausdruck zu bringen. Dass Aspekte von Räumlichkeit/Lokalität (als soziale, ‚sozialisierte‘ und ‚sozialisierbare‘ Tatsachen) historisch relative Sinn- und Symboltatsachen sind, die gesellschaftliches und individuelles Sein und Leben ebenso anzeigen, repräsentieren oder symptomatisch indizieren wie bedingen und ausmachen, ist eine Position, die Elias bereits in seiner Untersuchung der ‚höfischen Gesellschaft‘ bezieht und differenziert ausführt.101 In seiner figurationssoziologischen Analyse von „Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen“ (Elias 1983: 68 ff.) stellt er hinsichtlich „aller sozialen Einheiten oder Integrationsformen“ grundsätzlich – und mit programmatischem Orientierungswert nicht nur für Raumforschungen/ Raumsoziologien – fest: „Sie (diese Einheiten, H. W.) sind ja immer Einheiten aufeinander bezogener, ineinander verflochtener Menschen; und wenn auch Art oder Typus dieser Beziehungen gewiß niemals bis ins Letzte und Wesentliche durch räumliche Kategorien ausdrückbar sind, so sind sie doch immer auch durch räumliche Kategorien ausdrückbar. Denn jeder Art eines ‚Beisammen‘ von Menschen entspricht eine bestimmte Ausgestaltung des Raumes, wo die zugehörigen Menschen, wenn nicht insgesamt, dann wenigstens in Teileinheiten tatsächlich beisammen sind oder sein können. Und so ist also der Niederschlag einer sozialen Einheit im Raume, der Typus ihrer Raumgestaltung eine handgreifliche, eine – im wörtlichen Sinne – sichtbare Repräsentation ihrer Eigenart.“ (Elias 1983: 70 f.; Hervorheb. im Orig.)102
101 Spezifisch (raumsoziologisch) interessant und mit der Raumsoziologie der „Höfischen Gesellschaft“ verknüpfbar ist hier auch die spätere gemeindesoziologische Untersuchung, die Elias zusammen mit John Scotson durchgeführt und publiziert hat (vgl. Elias/Scotson 1990). Die Räumlichkeit der betreffenden Gemeinde ist durchaus mit der der ‚höfischen Gesellschaft‘ zu vergleichen. 102 Elias hat empirisch-analytisch genau gezeigt, was dies im Falle der Figuration der ‚höfischen Gesellschaft‘ bedeutet, wie sich deren spezifisch differenzierte Struktur und symbolische Ordnung in räumlichen Organisationsformen ausdrückt und wie diese Organisationsformen zugleich das rituelle und strategische (Er-)Leben und Handeln der beteiligten Akteure bedingen und prägen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die Soziologie der Figurationen, der sozialen Differenzierungs- und Verflechtungsprozesse muss also immer auch eine Soziologie des Raumes sein und findet im Raum und am Raum Anhaltspunkte für die theoretisch-empirische Untersuchung der Gesellschaft und ihrer Felder im Ganzen. Und damit ist auch schon so etwas wie eine soziologische Theorie des Raumes als eine Theorie der Figurationsräume und der Raumfigurationen angedeutet. Sie kann sich auf Elias und Simmel und entsprechende Forschungstraditionen stützen (vgl. z. B. Blok 1979), darüber hinaus aber (wie in den Fällen der Materialität, des Körpers, der Zeit) auch andere klassische sowie neuere Forschungen heranziehen und dabei wiederum zugleich die Perspektive einer (synthetischen) Gesamtvision eröffnen. In diesem Sinne (als anschlussfähig) besonders nennenswert sind klassische Arbeiten von Foucault (vgl. 1977b) und Goffman (vgl. 1969; 1973a; 1974b; 1981b)103, die den Raum als eine soziologische Kategorie verstanden und teilweise auch theoretisch entworfen haben.104 Ja man kann durchaus davon sprechen, dass die Werke dieser Autoren regelrechte Raumsoziologien beinhalten, die sich zum Teil ähneln und zum Teil ergänzen. Die Raumsoziologien von Elias, Foucault und Goffman fokussieren sachlich z. B. durchaus miteinander vergleichbare institutionelle Großkontexte – die ‚höfische Gesellschaft‘ einerseits und totale Institutionen andererseits. Vergleichbar und ähnlich sind auch die Perspektiven auf den Raum, in dem in allen Fällen ein Indikator und (Re-)Generator sozialer Strukturen, Ungleichheits- und Machtverhältnisse sowie ein nicht zuletzt disziplinarischer ‚Habitusfaktor‘ gesehen wird. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Makro- und Mikro-Raumsoziologie Goffmans, die den Raum hauptsächlich als theatralen, strategischen (vgl. 1969; 1981d), symbolischen und rituellen Raum (vgl. 1974b; 1981b) sowie als sozialen Sinn-/Rahmen- und Identitätsraum (vgl. 1977b) entworfen und thematisiert hat. Auch die neuere und neueste Soziologie und einschlägige So103 Bei Goffman, der sich größeren, kleineren und kleinsten Räumen verschiedenster Art gewidmet hat, taucht der Raum in mancher Hinsicht ähnlich auf wie bei Elias, nämlich in verschiedenen ‚dimensionalen‘ Varianten und Bedeutungen: als materieller, sozialer, symbolischer, ritueller, informationeller, theatraler, strategischer Raum, als Zeichen-, Sinn-, Praxis- und Realitätsraum, dem Dispositionen und Kompetenzen von (Raum-)Akteuren entsprechen (müssen). 104 Einschlägig ‚klassisch‘ und von größerer Bedeutung ist auch die allerdings eher (sozial-)psychologische Raummodellierung und empirische Raumforschung Roger Barkers und seiner Schüler (vgl. Barker 1968; Kaminski (Hg.) 1986). Sie fassen den sozialen Raum als Figurationen von und in „Behavior Settings“ und konzentrieren sich damit eher objektivistisch und mechanistisch auf die Materialität des Raumes als Gefüge von Örtlichkeiten, an denen (mentale) „Skripts“ sozusagen festgemacht sind und werden (vgl. Willems/Eichholz 2008). Die interessanten Parallelen zu Elias bzw. zur Figurationssoziologie des Raumes liegen zum einen im Ernstnehmen der Materialität des Raumes und zum anderen in der Gemeinde(figurations)soziologie, die Barker allerdings in anderer Weise als Elias betrieben hat.
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zialforschung, die den differenzierten und sich differenzierenden ‚(Sozial-)Raum der Gesellschaft‘ schon seit längerem zunehmend zum Gegenstand der Theoriebildung und Analyse macht, ist hier von besonderem Interesse.105 Neben Beiträgen, die die grundlegende Räumlichkeit des Sozialen und die Grundlagen menschlicher Raumwahrnehmung theoretisch zu fassen suchen106, finden sich mittlerweile zahlreiche Studien, in denen bestimmte räumliche Arrangements sowie raumbezogenes und raumkonstitutives Handeln untersucht werden107. Vergleichbarkeiten und Anschlussfähigkeiten in dem besagten Sinne (einer synthetischen Soziologie) liegen hier teilweise auf der Hand und sind teilweise erst noch herauszuarbeiten. Das neu erwachte oder forcierte Interesse am Raum hat sicher auch damit zu tun, und auch dies spricht für das geplante Unternehmen einer figurations-(raum-) soziologischen Synthese, dass sich die (Sozial-)Räume, Räumlichkeiten und RaumPraxen der Gesellschaft in ihrer jüngeren Vergangenheit (in den vergangenen Jahrzehnten) zunehmend dynamisch, umfassend und tiefgreifend gewandelt haben. Diese Wandlungen wiederum hängen vermutlich mit allen Prozessen zusammen, die gemeinhin als Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung (Modernisierung) bis hin zur ‚Gegenwartsgesellschaft‘ gelten. Darauf bezogene Schlagworte sind: Industrialisierung/Technisierung, Mobilisierung, Individualisierung, Kommerzialisierung, Vermarktlichung, Mediatisierung/Internetisierung, Eventisierung, Verszenung usw. Alle die damit gemeinten Prozesse betreffen immer auch und in je besonderer Weise den Raum, sind mit Entwicklungen und Veränderungen des Raumes, der objektiven Raumgegebenheiten, der praktischen Raumbedeutungen und des subjektiven Raumerlebens und Raum(er)handelns verbunden. Individualisierungsprozesse z. B. (und damit Vorstellungen von personaler Originalität, Ansprüche an ‚Selbstverwirklichung‘ etc.) schlagen sich auch (und mannigfaltig) in räumlichen Aspekten (räumlichen Bedingungen, Erfahrungen, Bedürfnisssen etc.) nieder: in durchschnittlich gesteigerten Raum- bzw. Wohnraumansprüchen, in raumgestalterischer Originalisierung, in Distinktionsbemühungen der Architektur und Einrichtung von Gebäuden, Büros und Wohnungen, in verstärkten territoria-
105 Von einer ‚Raumblindheit‘ der Soziologie, wie sie noch Läpple (1991) diagnostiziert hat, kann also heute längst nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil, Raum ist zu einer Art Modethema geworden (vgl. z. B. Schroer 2006b). 106 Vgl. zur Übersicht: Löw (2005). 107 Vgl. z. B. zum Verhalten in öffentlichen Räumen: Schubert (2000); zu Freizeitparks und Shopping Malls: Legnaro/Birenheide (2005); zu Vergnügungswelten: Schirrmeister (2002); zu Museen: Heath/ vom Lehn (2003); zur Raumwahrnehmung Jugendlicher: Reutlinger (2001).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
len108 Distanzierungsneigungen u. a. m. Ebenso ist in diesem Zusammenhang an die bekanntlich mit enormen sozio-kulturellen Umwälzungen verbundene technische Enträumlichung oder Überwindung von Raumgrenzen durch Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien zu denken, speziell an die Entwicklungen der ‚visuellen Kommunikation‘, die auch neue Raum-Wirklichkeiten (‚zweiter Ordnung‘) mit sich gebracht haben und mit sich bringen (vgl. Pranz 2008; 2009a, b). All dies trägt auf breiter sozialer Front dazu bei, neue oder veränderte Formen von praktischem Raumbewusstsein, praktischer Raumaufmerksamkeit und praktischem Rauminteresse zu schaffen, und dies wiederum ist auch ein Mutterboden und ein Resonanzboden der Raumsoziologie, die angesichts der Gesamtheit der hier gemeinten Entwicklungen umso mehr um eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeiten und eine integrative Perspektive bemüht sein muss oder sollte.
3.2
Körper
Die Räume, Räumlichkeiten und Raumentwicklungen109 (in) der Gesellschaft verweisen im Allgemeinen auf zugehörige menschliche Körper bzw. Körpermomente. Umgekehrt gibt es natürlich keinen Körper ohne Raum (Räume) und Raumbezüge. Jeder Körper, auch derjenige, der Räume mit welchem Verkehrs- oder Kommunikationsmedium auch immer überwindet, ist immer ein Körper in einem Raum oder in Räumen; er hat (mindestens) einen Raum, ist ein Raum und bildet Räume; und er bewegt sich auch im Raum, in Räumen, als Raum, aus Räumen und auf Räume hin. Schon von daher, von diesen schlichten An- und Einsichten aus gesehen, scheint es sinnvoll, Körper und Raum, Raum und Körper – und damit auch die sich bewegenden und (z. B. durch Verkehrsmittel) bewegten Körper – im Zusammenhang und als Zusammenhänge zu verstehen, zu beobachten und zu untersuchen. Genau dies geschieht auch bereits im zivilisationstheoretischen (Früh-) Werk von Elias, der neben den räumlichen auch zeitliche und andere strukturelle Bedingungen und (Fremd-)Zwänge in die hier gemeinten Zusammenhänge einbezogen sieht, und zwar derart, dass Körper oder Körpermomente gleichzeitig geprägt und im (z. B. Ausdrucks-)Verhalten und Handeln (an-)gefordert werden. Der Körper spielt bei Elias also zwar eine zentrale und unter bestimmten Um108 Vgl. zum Begriff und zur Empirie der Territorialität Goffman (1974b; 1981b), der sie und ihre strukturellen Varianten hauptsächlich mit dem personalen Selbst bzw. dessen Interaktionen in Verbindung bringt. 109 Verräumlichungen, Enträumlichungen, Raumdifferenzierungen, Raumgrenzverschiebungen, Raumüberwindungen usw.
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ständen herausragende, aber nie eine bloß ‚natürliche‘ und nie eine ‚autarke‘ Rolle. Vielmehr erscheint er – ähnlich wie bei Bourdieu oder auch Foucault – als ein begrenzt sozial formbares und in ständiger (Trans-)Formation befundenes ‚Medium‘, in das sich die Gesellschaft in der Fassung konkreter Praxis vom Lebensanfang an gleichsam einschreibt und das damit zu einer Art Sprache und zugleich zu einem ‚Text‘, einer ‚gesprochenen Sprache‘, wird. Hier geht es schwerpunktmäßig um den Prozess der Zivilisation und d. h. auch um einen Prozess der Körper-Habitusbildung, dessen effektive sachliche Bandbreite von der Entwicklung der (menschlichen) Triebdynamik über figurationsspezifische Formen von Körper-Symbolik und Körper-Performanz bis hin zu den mit Körper-Habitus verbundenen zwischenmenschlichen „Valenzen“ reicht (vgl. z. B. Elias 1972; 1981: 146 ff.). Gleichwohl ist Elias’ Soziologie – und auch Elias’ Soziologie des Körpers – nicht, wie es immer noch oft geschieht, auf (oder als) Körpersoziologie zu reduzieren oder zu konzentrieren110. Sie rückt zwar den Körper in allen Aspekten seiner Materialität (‚Naturalität‘, Triebhaftigkeit, Äußerlichkeit) ins Zentrum soziologischer Aufmerksamkeit, aber sie löst ihn nicht von seinen sozialen bzw. kulturellen Kontexten ab, sondern eher in diese Kontexte auf, und d. h. auch: sie versteht den Körper im untrennbaren Zusammenhang mit dem Bewusstsein bzw. dem Unbewussten. Entsprechend komplex und mehrdimensional fällt die figurationssoziologische Vorstellung vom personalen Denken und Fühlen, von Emotionalität und Affektivität, von Ausdruck und Darstellung auf der Ebene des Menschen selbst aus. Diese Ebene wiederum wird als untrennbar von der der sozialen Beziehungen, der Figurationen des Menschen mit anderen Menschen, und d. h. auch: mit anderen Körpern, gedacht. Von hier aus sind Anschlüsse und Zusammenschlüsse in verschiedene Richtungen sozialwissenschaftlicher Körperforschung bzw. Körperkulturforschung und Körpersoziologie unternommen worden und im Sinne einer synthetischen (Körper-)Soziologie unternehmbar. So erscheint es wiederum möglich, sinnvoll und vielversprechend, die einschlägigen Klassiker – Simmel, die Vertreter der Philosophischen Anthropologie, Bourdieu, Goffman, Foucault – (figurations-)theoretisch und sachlich zusammenzuführen und zu vernetzen. Auch ‚Körper-Themen‘ gewidmete neuere Forschungen und Ansätze111 lassen sich hier gewinnbringend (und ihrerseits gewinnend) ins Spiel bringen, wobei sich Zusammenhänge zwischen (sozial-)wissenschaftlichen bzw. soziologischen Entwicklungen einerseits
110 So wenig wie auf Machtsoziologie, Raumsoziologie oder Interaktionssoziologie. 111 Zum Beispiel eine ganze Reihe interdisziplinär angelegter Arbeiten Alois Hahns (vgl. etwa 1977; 1985; 2000: 353 ff.) oder systemtheoretisch ausgerichtete Körpersoziologien (z. B. Bette 1987). Vgl. auch Koppetsch (2002); Koppetsch (Hg.) (2000).
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und Gesellschafts(kultur)entwicklungen, wie etwa Theatralisierungsprozessen (s. u.), andererseits zeigen. Ein Beispiel dafür und zugleich für einen erhofften Nutzen des hier verfolgten Ansatzes ist das neuere kulturwissenschaftliche Körperkonzept der „Korporalität“112, das den Körper als „Aspekt“ von „Theatralität“ (Fischer-Lichte) entwirft und im Sinne des Theatralitätsansatzes expressive/dramaturgische/kommunikative Körperbedeutungen, Körperrequisiten (insbesondere Kleidung) und Körperfunktionen in sozialen Interaktionsprozessen meint (s. u.). In jedem Fall sprechen die heute höchst vielfältigen, vielfach expansiven und verweisungsreichen Realitäten der Körper, die lebendigen und die virtuellen Körper, die lebensweltlichen und die medialen (medieninszenierten) Körper, die wirklichen, die fiktionalen und die fiktiven Körper, die ‚Körperkulturen‘113, Körpermärkte und Körperindustrien, die Körperstilisierungen, Körperbilder und Körperdiskurse, Sport, Medizin, Körpererziehung, Körpertherapien, Fitness-Bewegung, Hygiene, ‚Körperpflege‘, Kosmetik, ‚Anti-Aging‘ usw. sowohl für die Aktualität als auch für die Aktualisierung der Zivilisationstheorie, der empirischen Zivilisationsforschung und der Figurationssoziologie im Ganzen.
3.3
Zeit
Aus figurationssoziologischer Sicht stellt sich (also) immer auch, und immer auch in Bezug auf die hier besonders angesprochenen Tatsachen, die Frage der Zeit. Als radikale und (d. h.) allseitige Prozesssoziologie ist die Figurationssoziologie eine radikal zeitorientierte, zeitinteressierte und verzeitlichte Soziologie, die das Soziale in allen seinen Erscheinungsformen als etwas Zeitliches und das Zeitliche als etwas Soziales auffasst und in diesem Sinne zentral an Zeit und Zeitlichkeit ausgerichtet sein muss. Auch die jeweils als Zusammenhang und im Zusammenhang zu untersuchenden Themenfelder Materialität, Raum, Körper und Bewegung müssen und können im Rahmen der Figurationssoziologie als Prozesse oder in Prozessbezügen, also zeitlich, gedacht, konzipiert und analysiert werden. Dass Zeit und Zeitlichkeit hier in diesem Sinne Aufmerksamkeit erhalten, schließt eine Zivilisationstheorie der Zeit ein, die die Entwicklung und Wandlung von Zeit-Verhalten/Zeit-Handeln, Zeit-Habitus/Zeit-Gewohnheiten und (damit) Zeit-Bewusstsein im Zusammenhang mit der Soziogenese von Zeit-Ordnungen 112 Vgl. zu diesem Konzept und zu einigen Anwendungen Fischer-Lichte (1998) sowie den Sammelband von Fischer-Lichte/Horn/Warstat (Hg.) (2001). 113 Mode, Ernährungs-, Koch- und Esskultur, Erotikkultur usw.
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und Zeit-Praxen beschreibt und erklärt. Damit hängt eine (figurationssoziologische) Wissenssoziologie untrennbar zusammen, die Zeit-Wissen/Zeit-Ideen/ZeitKönnen – in der historischen (Gesellschafts-)Zeit – zum Thema macht.114 Die soziale Zeit, die zeitlichen, zeitbegrifflichen und zeitpraktischen Implikationen sozialer Figurationsprozesse, Differenzierungs- und Verflechtungsprozesse, insbesondere das Zeit-Bewusstsein, die Zeit-Mentalität und die zeitlichen Aspekte der Fremd- und Selbstkontrolle, hat Elias ansatzweise schon im Rahmen seiner Arbeiten „Über den Prozeß der Zivilisation“ untersucht. In der Logik der (zivilisationstheoretischen) Argumentation dieser Arbeiten, die eine radikale Verzeitlichung des soziologischen Gegenstandsverständnisses beinhalten, liegt auch Elias’ spätere Untersuchung „Über die Zeit“ (Elias 1984). Der Zusammenhang dieser Arbeiten entwickelt und eröffnet die – auch forschungsperspektivischen – Vorstellungen einer Zivilisations-Zeit und einer Zeit-Zivilisation, einschließlich einer Zeit-Normativität und Zeit-Normalität115, einer Zeit-Praxis, eines Zeit-Lebensstils, einer Zeit-Kompetenz und einer Zeit-Semantik. Damit deuten sich auch wichtige zivilisationsdiagnostische und – in jedem Sinne – zeitdiagnostische Fragen, theoretische Verständnisse und empirisch-analytische Möglichkeiten an, die Gegenstand weiterer Überlegungen und Untersuchungen sein sollen. Sie betreffen beispielsweise: – Zeit-Sozialisation/Zeit-Erziehung und Zeit-Dissozialisation: Sozialen Figurationen/Feldern (figurationalen Normen und Handlungsanforderungen) entsprechendes Zeit-Verhalten bzw. Zeit-Handeln verweist auf entsprechend ‚gebildete‘ Habitus116, die wie alle Habitusformen über spezifische Lernprozesse vermittelt und erworben werden.117 Zeit-Sozialisation/Zeit-Erziehung, aber auch Zeit-Dissozialisation, Möglichkeiten des systematischen Verlernens von
114 Hier gilt, was für die Elias’sche (Figurations-) Wissenssoziologie überhaupt gilt: Es geht zunächst und in erster Linie um Praxiswissen: Alltagswissen, Habitus-Wissen, Lebenswelt- und Erlebensweltwissen. 115 Mit Zeit-Werten bzw. zeitlichen Disziplin-Werten wie Pünktlichkeit, Schnelligkeit, Ausdauer, ‚Langsicht‘ usw. 116 Habitus können generell unter verschiedenen Zeit- und Zeitlichkeitsaspekten beobachtet und beschrieben werden. Sie haben eigene Zeiteigenschaften, und sie werden in Bezug darauf auch praktisch wahrgenommen und beurteilt. Jedenfalls gibt es entsprechende praktische Selbst- und Fremdbeschreibungen bzw. Images und (Quasi-)Stigmatisierungen (die pünktlichen Deutschen, die unpünktlichen Frauen, die langsamen Beamten usw.). 117 Elias (1984) betont die Schwierigkeit und Langwierigkeit des individuellen ‚Zeitlernens‘ und die habitusverdankte Selbstverständlichkeit der diesbezüglichen Kompetenzen als unverzichtbaren psychogenetischen Korrelaten der modernen Soziogenese.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zeit-Selbstkontrollen sind Themen, die im geplanten Folgeband eine Rolle spielen sollen. – Zeit-Kompetenz, Zeit-Souveränität und Zeit-Virtuosität: Hier handelt es sich um ein sozialisatorisch und sozialisationstheoretisch, zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch relevantes Feld, das vom personalen Alltagsgespür für Zeitgrenzen und ‚timing‘ bis hin zur professionell organisierten Zeit-Rationalität und Zeit-Rationalisierung reicht. Zu den damit gemeinten Zeit-Kompetenzen und Zeit-Orientierungen, die sich offenbar zunehmend verbreiten und zu einer Art (Zeit-)Handlungskunst jedermanns steigern, gehört nicht zuletzt die Fähigkeit, viele und viele heterogene Engagements – auch situativ – gleichzeitig zu betreiben. Karlheinz Geißler spricht diesbezüglich von dem (in dieser Form und Quantität neuen) sozialen Typus des „Simultanten“118. Neben und mit der Entwicklung solcher zeitpraktischen ‚Synthetiker‘ und Synthesen (einstmals getrennter Engagements) haben sich Zeit-Bewusstsein und Zeit-Mentalität und (damit) auch das Alltagsleben gewandelt und wandeln müssen. Immer mehr Menschen müssen immer mehr ‚Projekte‘ gleichzeitig im Blick behalten, d. h. permanent sich, Andere und Anderes beobachten, einschätzen, steuern, verwalten. Man könnte also von einer spezifischen, nämlich zeitlichen, Subjektivierung und zugleich von einer Informalisierung des (Alltags-)Lebens und der Lebens(zeit)führung sprechen – mit der zivilisatorischen Implikation und Folge, seinem Leben, seinem Zeit-Leben und seiner Lebenszeit nunmehr selbst – immer wieder neu und immer nur vorübergehend – Form geben zu müssen. – Zeitbewusstsein, Zeiterleben, Zeit(er)leiden: Mit den besagten objektiven ZeitStrukturen und den entsprechenden (Zeit-)Sozialisationsprozessen, Kompetenzen und Kompetenzbildungen hängen Zeiterlebnisse, Zeiterfahrungen und Zeitperspektiven zusammen, die ebenfalls Gegenstände figurationssoziologischer Untersuchung sind und sein müssen. Hierher gehört z. B., und in gewissem Maße sozusagen zeittypisch, das Warten. Es ist für den modernen (modernisierten) Menschen – als eine Art Kontrastprogramm zum Aktivismus und zur ‚Schnell-Lebigkeit‘ seines Lebens – eine höchst charakteristische
118 Geißler schreibt: „Man begegnet Simultanten, die mit 150 Stundenkilometern am Steuer ihrer Automobile lang anhaltende Telefongespräche führen, andere, die beim Einkaufen, im Zug, am Badestrand und manchmal auch beim Mittagessen Geschäfte tätigen, die sie dann bei einer Tasse Kaffee wieder rückgängig machen, und schließlich auch noch solche, die an Stehtischen ihre Laptops füttern, dabei wahlweise Prosecco oder Espresso zu sich nehmen und seichte Gespräche mit ihren Tischnachbarn führen. Niemals zuvor in der Geschichte wurde so offensichtlich und so augenfällig, dass der Mensch nicht nur ein tätiges, sondern auch ein nebentätiges Wesen ist“ (Geißler 2007: 109 f.; vgl. Treibel 2008: 46 f.).
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und höchst mannigfaltige Zeit(un)tätigkeit, die sich mehr oder weniger direkt und zwangsläufig aus sozialen Differenzierungs-, Ver- und Entflechtungsprozessen und d. h. aus individuellen und individualisierten Figurationsanschlüssen und Handlungsketten ergibt. Das Warten ist eine eigene soziale Zeitform, eine Zeitsinn-, eine Zeiterlebens- und eine Zeitbehandlungsform und ein eigener Zeitzwang, der eine gewisse Zivilisiertheit voraussetzt und mit sich bringt. Wie keine andere ‚Zeit‘ ist ‚unsere Zeit‘ auch eine Zeit des Wartens, deren Besonderheit gerade auch in ihrer Verbindung mit jener anderen Seite der Medaille liegt: der Knappheit der Zeit, der Geschwindigkeit, der Schleunigkeit und Beschleunigung des Lebens, der Hektik usw. Das Warten ist, jedenfalls in bestimmten Formen, auch ein Beispiel für eine allgemeinere ‚subjektive‘ ZeitProblematik: das Leiden an Zeit bzw. an Zeitmangel, Zeitüberfluss oder ‚Zeitlänge‘. Das Warten und ebenso natürlich das Bewusstsein oder Gefühl, keine Zeit (mehr) zu haben, kann Schmerzen besonderer Art hervorrufen.119 – Zeitbestände, Zeitressourcen, Zeitverteilungen und Zeithaushalte: Soziale Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse implizieren auch eine Differenzierung und Individualisierung von Zeitbeständen, Zeitressourcen/Zeitkapital, Zeithaushalten und Praxen des Zeithaushaltens, d. h. von Praxen der Zeitinvestition, des Zeitsparens, aber auch des Zeitvergeudens oder des (kultivierten, luxuriösen) ‚Müßiggangs‘. Es gibt m. a. W. eine soziale Zeit-Ungleichheit und eine soziale Ungleichheit der Zeit als einer Art Besitz und auch als Luxus – mit der Implikation der Asymmetrie und Asymmetrisierung von Gratifikations- und Handlungsspielräumen. Es gibt natürlich auch Ökonomien und Ökonomisierungen der Zeit, Strategien der rationalisierten Zeit-Verwaltung und der strategischen Zeit-Gestaltung, sei es von Individuen oder Organisationen. All dies hat in jedem Fall immer auch viel und in besonderer Weise mit Zivilisiertheit und Zivilisation zu tun. Man muss z. B., gerade heutzutage, unter Zeitdruck (unter der Bedingung von Zeitknappheit) effizient arbeiten können oder auch in der Lage sein, auf die strategisch (s. u.) richtigen ‚Zeitpunkte‘ zu warten.
119 Das Leiden oder potentielle Leiden an Zeit ist bekanntlich mit praktischen Versuchen der Leidensvermeidung und der ‚Therapie‘ verbunden. Menschen, wiederum gerade die ‚unserer Zeit‘, verbringen ihre Zeit vielfach damit, sie sich zu ‚vertreiben‘ oder stehen, wenn sie nicht von zu knapper Zeit ‚totgeschlagen‘ werden, vor dem Problem, die Zeit ‚totschlagen‘ zu wollen oder zu müssen. ‚Freie Zeit‘ ist jedenfalls nicht in allen Varianten ein Privileg oder Luxus, sondern kann auch ein (Sinn-) Problem und einen (Sinnlosigkeits-)Druck eigener Art darstellen – vor allem für diejenigen, die nicht in sinnstiftenden (Er-)Lebenszusammenhängen bzw. den Märkten der ‚Erlebnisgesellschaft‘ verankert sind.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch spezifisch belangvoll sind auch die sozialen Differenzierungen und Ungleichheiten der Verteilung der gebundenen und der entbundenen, der ‚freien‘ Zeit. Beispielsweise wird Zeit einerseits für die Einen in immer mehr Bereichen zu einem immer knapperen Gut bzw. durch Verknappung überhaupt erst zu einem Gut. (Vielfach und vielfach berechtigt ist die Klage über fehlende Zeit, Zeitdruck, Hektik, Rastlosigkeit, Unruhe usw.) Das hat, indem es Selbstkontrollzwänge bedeutet, auch Zivilisierungsimplikationen und -effekte; es hat aber ebenso genau gegenteilige Implikationen und Effekte. Zivilisiertheit und Zivilisierung brauchen m. a. W. auch Zeit. Andererseits wird Zeit für die Anderen, und zwar für immer mehr Menschen über einen sich immer länger erstreckenden Zeitraum ihres Lebens zu einer immer verfügbareren und freieren Ressource bzw. zu ‚etwas‘, das man – oft gegen den eigenen Willen – mehr oder weniger im Überfluss ‚hat‘ und nach eigenem Belieben nutzen kann. Diese Expansion, Entknappung und Entbindung von Zeit, von Freizeit(en) beinhaltet Handlungsspielräume und Handlungszwänge, Optionen und Zwänge der Selbst- und Lebenskultivierung, aber auch den Selbstkontrolldruck reduzierende systematische Entlastungen, Langsamkeiten und Verlangsamungen des Lebens. Gleichzeitig wird Zeit für bestimmte soziale Gruppen/Klassen sozusagen zum zivilisatorisch produktiven Kulturthema und zur Frage des Lebensstils und der Stilisierung des Lebens (s. u.). Beispielsweise darf, ja soll man heutzutage, jedenfalls in bestimmten Kreisen, immer öfter auch ‚Auszeiten‘ nehmen, ‚Sabbatjahre‘ etc., und man wird auch durch medizinische, psychologische und philosophische Experten dazu angeregt und angehalten, sein Leben in einer Art Zeit-Diät (zeit-)maßvoll, rhythmisch und ‚im Takt‘ zu führen, um die richtige Befindlichkeit, Gesundheit (ein langes Leben) und Glück (Wellness) zu erreichen. Auch darin liegt natürlich, zumindest von der Idee her, Disziplin, Zivilisierung und Zivilisation. – Soziale Strukturverluste und Flexibilisierungen der Zeit: Teils parallel, teils gegenläufig zur Etablierung und Forcierung des und der modernen ‚ZeitRegimes‘, zur sozialen Differenzierung der Zeit(en) bzw. ‚Systemzeiten‘120, Gruppenzeiten, Klassenzeiten usw. (vgl. Elias 1984) gibt es eine gesellschaftsgenerelle Tendenz nicht nur zur Ausdehnung der ‚Freizeit‘, sondern auch zur Entstrukturierung und Flexibilisierung der Zeit-Ordnungen und Zeit-Praxen. Dies hat natürlich wesentlich mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien zu tun, mit den erweiterten Möglichkeiten des medialen Informationsmanagements, der medialen Verständigung und Inter120 Konkret: der öffentlichen Verkehrsmittel, der Behörden, der Schulen, der Betriebe usw.
Materialität, Raum, Körper/Bewegung und Zeit
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aktion. Eine Art von zeitlichem Strukturverlust bzw. eine gewisse Entzeitlichung oder Umzeitlichung liegt in der heutigen Normalität, medial jederzeit erreichbar zu sein und erreichen zu können. Bedeutete räumlich-physische Abwesenheit früher zu der entsprechenden Zeit auch soziale Abwesenheit, so ist man heute ‚dank‘ medialer Vermittlung sozial gewissermaßen daueranwesend, es sei denn, man nimmt sich eine (unter Umständen erklärungsbedürftige) ‚Auszeit‘. Eine andere, ebenfalls sozial und zivilisatorisch belangvolle Art von zeitlichem Strukturverlust und wiederum eine gewisse Entzeitlichung (oder Umzeitlichung) kann man in der zunehmenden sozialen Deregulation des Verhältnisses von Arbeitszeit und Freizeit sehen, die ihrerseits medienverdankt ist.121 Die zunehmende Abkopplung insbesondere höher qualifizierter Arbeit von festgelegten Arbeitsräumen und Arbeitszeiten ist auch ein sozialisatorisch/zivilisatorisch bedeutungsvoller Vorgang. Er verweist auf die Voraussetzung und Bildung bestimmter Kompetenzen (Selbstkontrollen) ebenso wie auf Individualisierung als seine Voraussetzung und Folge. Die Tendenz zur Entstrukturierung, Flexibilisierung und Individualisierung der Zeit-Ordnungen und Zeit-Praxen hat auch mit vermehrtem sozialen bzw. interpersonalen Koordinationsbedarf, mit verschärftem Koordinationsdruck und (d. h.) mit verkürzten Koordinationszeiten vor dem Hintergrund dynamisierter Rollen-Beziehungen (z. B. in Organisationen) und fortgeschrittener Mediatisierung zu tun. Man muss (und kann medienverdankt) angesichts von wahrscheinlichen Situationsveränderungen/Lageveränderungen, Handlungs- und Anpassungszwängen heute mehr denn je im Zusammenwirken mit anderen beweglich sein, sich schnell und (trotzdem) effektiv um- und einstellen. Das bedeutet Dauerirritation, Dauerunruhe und erfordert wiederum Kompetenz bzw. eine gewisse Souveränität und Dynamik, die sich (zivilisierten) Habitus verdankt oder verdanken sollte. Mit der medial und organisatorisch gesteigerten Zeit-Macht und Zeit-Souveränität der Akteure kann sich aber auch deren Zeit-Problematik und Zeit-Spannung entschärfen. Mit fortschreitender Zeitsubjektivierung, mit der Lockerung objektiver Zeitordnungen und Zeit-Normen kann man selbst lockerer mit Grenzen und Grenzziehungen der Zeit umgehen. 121 Der Wandel vollzog und vollzieht sich zum Beispiel im Sinne einer schleichenden ‚Bürokratisierung‘ des gesamten ‚öffentlichen Lebens‘, die das Ende der klassischen Büro-Zeit und damit auch anderer ‚Zeiten‘, wie etwa der ‚Mahlzeit‘, impliziert. Wenn man heute etwa im Speisewagen der Bahn sitzt, dann tut man dies schon fast normalerweise mit Laptop und Handy. Scheinbar immer selbstverständlicher (und rücksichtsloser) geht jedermann überall und so lange er möchte seinen (medial getätigten) ‚Geschäften‘ nach.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Schließlich ist hier an neuere ‚Zeitdiagnosen‘ wie die von Sennett (2000) zu denken, derzufolge die Entwicklung des modernen und modernsten Kapitalismus zunehmend die Grundlagen von Zivilisiertheit, Zivilisierung und Zivilisation dadurch untergräbt, dass sie biographische Stabilität, Zeitplanung, Langsicht und biographische Selbstkontrolle verunmöglicht. Demnach gerät der ‚an sich‘ (habituell) zivilisierte, zukunftsorientierte und langsichtige moderne Mensch insbesondere durch die auf breiter Front fortschreitende ‚Flexibilisierung‘ des Berufslebens(-laufs) zunehmend in Lagen, die ihm den kalkulierenden Blick nach vorn und damit die Planung und Gestaltung seines Lebens, seiner Lebenszeit und seiner selbst verunmöglichen. Mit der von Sennett beschriebenen tendenziellen Anomisierung des (Berufs-)Lebenslaufs und der praktischen (Selbst-)Biographisierung schwinden auch Nomien der Zivilisiertheit und Voraussetzungen der Zivilisation. Vor dem Hintergrund dieser (einer ersten Orientierung dienenden) Überlegungen über räumliche, körperliche und zeitliche ‚Zusammenhänge‘ und den Zusammenhang dieser ‚Zusammenhänge‘ mag die einschlägige Perspektive, die sachliche Bezogenheit, Erkenntnisinteressiertheit und Brauchbarkeit der Figurationssoziologie auch in programmatischer Hinsicht deutlicher werden. Im Sinne einer synthetischen Theoriebildung und Forschung entscheidend ist zuallererst, dass sie sich überhaupt systematisch in den besagten ‚Dimensionen‘ der Sozialität und der Sozialität fundierenden Realität verankert: in den ‚Dimensionen‘ der Materialität, der Dinge, des Raumes, der Zeit, des Körpers und der Bewegung. Entscheidend ist auch, dass sie nach diesen ‚Dimensionen‘ nicht nur systematisch und schwerpunktmäßig fragt, sondern auch einen gesamtvisionären Ansatz liefert, der sowohl dieses Fragen als auch die theoretisch-empirische Arbeit auf (Gesamt-) Zusammenhänge dieser ‚Dimensionen‘ ausrichtet: auf Zusammenhänge zwischen diesen ‚Dimensionen‘ und auf Zusammenhänge mit über sie hinausweisenden Strukturen und Prozessen der Sozio- und Psychogenese. Die Figurationssoziologie kann hier also wiederum als eine Art Rahmen, Netzwerk und Vernetzungswerk fungieren, um sachliche ‚Systematiken‘ aufzudecken und aufzuklären. Die Zivilisationstheorie erweist sich dabei als spezifisch aufschlussreich und zugleich als entwicklungsbedürftig und entwicklungsfähig. Besonders leistungsfähige, vielversprechende und (weil) komplementäre Deutungsmittel bilden in diesem Kontext die diversen kultur- und wissenssoziologischen Konzepte, die bereits genannt wurden: Habitus, Gewohnheit, Mentalität, Diskurs, Semantik, Stil/Lebensstil usw. Im Zusammenhang der allgemeinen Figurationssoziologie, der sie unterstehen oder zu unterstellen sind, bilden sie gleichsam Schlüssel zu jenen empirischen Gegen-
Materialität, Raum, Körper/Bewegung und Zeit
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standsbereichen, und sie bilden Bezugsrahmen entsprechender Gegenstandstheorien (des Raumes, der Zeit, des Körpers usw.), mit denen auch die allgemeine Figurationstheorie und ein ganzes Spektrum einschlägiger soziologischer Ansätze im Sinne einer synthetischen Theorie weitergeführt werden können.
4
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
Im programmatischen Überblick, Rückblick und Vorausblick der vorliegenden Arbeit ist die zentrale Rolle von Symbolphänomenen, Symbolbegriffen und Symboltheorien offensichtlich. Sie bilden bekanntlich auch einen Schwerpunkt und einen breiten, wenngleich sehr uneinheitlichen Strom der Soziologiegeschichte. In ihr führten und führen viele Wege früher oder später zu Aspekten des symbolischen Charakters aller sozialen Praxis und Wirklichkeit und damit auch zu entsprechenden Arbeitsaufträgen und Arbeitserträgen. Sie ziehen sich durch alle Phasen und viele Kontexte und Werke der Soziologie – von den ‚Urvätern‘ (Marx, Weber, Durkheim, Simmel) über den Symbolischen Interaktionismus, Schütz und Luckmann und Parsons bis hin zu neueren und neuesten Soziologien, für die Namen wie Goffman, Bourdieu, Luhmann oder Schulze stehen. Begriffe wie Statussymbol122, symbolische Ordnung oder symbolisches Kapital sind heutzutage nicht nur dem soziologischen Jedermann geläufig; sie sind schon (oder beinahe schon) zum Bestand des Alltagswissens geworden. Gleichwohl zeigt sich auch in diesem Zusammenhang die bereits deutlich gemachte allgemeine Theorieverfassung des Fachs, das einerseits von einer allgemeinen Theorie der Symbole, der symbolischen Ordnungen, Symbolsysteme und symbolischen Praxen weit entfernt ist, andererseits aber eine Vielzahl von Symbolverständnissen, Symbolbegriffen und Symboltheorien hervorgebracht hat, von denen zu vermuten ist, dass sie jeweils einen ‚Eigenwert‘ besitzen und dass sie sich jedenfalls in gewissem Maße vergleichen, integrieren und auch (so) elaborieren lassen. Kurz gesagt: Das Projekt einer synthetischen Soziologie hat hier eine eigene Arbeitsaufgabe, ein eigenes Arbeitsfeld und eine eigene programmatische Per-
122 Etwa bei Goffman („symbols of class status“), der in der Nähe dieses Begriffs auch von „Prestige-“ und „Stigmasymbolen“ spricht (vgl. 1968; 1967). Hinsichtlich der Geschlechtsidentitäten verwendet er den Begriff „essentielles Zeichen“ (vgl. 1981b). Zeichen- bzw. Symbolsysteme spielen bei ihm aber auch jenseits von Identitäten und Rollen eine buchstäbliche Schlüsselrolle in der ‚gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‘, z. B. auf der Ebene der (symbolischen, rituellen) „Territorialität“ der Gesellschaft (vgl. 1974b; 1977b). Auch die Goffman’sche Rahmentheorie ist eine Symboltheorie, insofern sie davon ausgeht und darauf zielt, dass Rahmen symbolisch repräsentiert und über Symbole identifiziert werden (vgl. 1977b).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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spektive, die angesichts der begrifflich-theoretischen und empirisch-analytischen Wissensbestände, von denen auszugehen oder auf die zu zielen ist, besonders vielversprechend erscheint.
4.1
Figurationssoziologie und Symboltheorie
Das Elias’sche Werk spielt in diesem Zusammenhang allerdings eine ambivalente Rolle. Einerseits ist die „Symboltheorie“, die der späte Elias (2001) vorgelegt hat, entgegen erstem Anschein keine allgemeine oder verallgemeinerbare Theorie in dem hier ins Auge gefassten Sinne.123 Die Elias’sche ‚Symboltheorie‘ bietet weder einen allgemeinen symboltheoretischen Rahmen (mit entsprechend komplexer kategorialer Differenzierung) noch werden in ihr systematisch die symboltheoretischen Konsequenzen aus Elias’ früheren Untersuchungen gezogen, die – bei schwerpunktmäßig empirisch-analytischer Orientierung – symboltheoretisch bereits hoch implikationsreich und gehaltvoll sind.124 Man kann (also) auch sagen, dass Elias mit diesem insbesondere ‚anthropologisch‘, kultur- und wissenssoziologisch angelegten Werk in gewisser Weise hinter sich selbst, nämlich hinter seine Figurationssoziologie, zurückfällt (vgl. Reckwitz 2003: 455). Andererseits ist eben diese Soziologie auch in den hier gemeinten Hinsichten besonders brauchbar und fruchtbar. Und mehr noch: Elias liefert mit seinem Gesamtwerk (die ‚Symboltheorie‘ in bestimmten und zu bestimmenden Punkten eingeschlossen) eine in diesem Rahmen formulierbare, gleichsam ausbuchstabierbare und weiterzuentwickelnde Theorie symbolischer Ordnungen und Praxen, die das Fundament einer synthetischen Soziologie des Symbolischen bilden kann und bilden soll. Elias kann hier schon deswegen als einer der wichtigsten Begründer und Impulsgeber, aber auch als Wegweiser und Korrektiv einer sich entwickelnden und 123 Elias hatte seine ‚Symboltheorie‘ allerdings auch nur als „Einführung“ (2001: 13) verstanden und konnte sie im hohen Alter und gegen Ende seines Lebens nicht mehr mit voller Kraft und nicht mehr wirklich systematisch betreiben, geschweige denn vollenden. An ihrer Ausführung, die an seiner fortschreitenden Erblindung litt, hat er buchstäblich bis zu seinem Lebensende gearbeitet (vgl. Schröter 1996). Die ‚Symboltheorie‘ kreist im Wesentlichen in einem sehr grundlegenden (‚anthropologischen‘) Sinne um den thematischen Zusammenhang von Sprache, Wissen und Denken, den Elias in kritischer Wendung gegen diesbezügliche disziplinäre und theoretische ‚Arbeitsteilungen‘ als thematischen Zusammenhang betont und entworfen hat. Dies ist ein Aspekt seiner synthetischen Soziologie und seines Verständnisses von der ‚Synthetizität‘ der sozialen Wirklichkeit. 124 Das systematische Ziehen dieser Konsequenzen, für das Elias offensichtlich die Lebenszeit fehlte, kann und sollte man sich jedoch vorstellen.
226
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
zu entwickelnden Soziologie des Symbolischen betrachtet werden, weil er Sozialität/Kulturalität von Anfang an als eine umfassend und grundlegend symbolische Realität versteht, entwirft und verstehbar macht.125 Ein breites Spektrum von Symbolthemen, Symbolbegriffen und Symbolverständnissen zieht sich durch das ganze Elias’sche Werk und berührt alle seine theoretischen Seiten und Schwerpunkte – von der Anthropologie126 über den Entwurf der Verhältnisse von ‚Etablierten und Außenseitern‘ bis zur Theorie der Gesellschafts- und (zivilisatorischen) HabitusEntwicklung. Es sind damit sehr verschiedene „symbolische Formen“ und „Typen der symbolischen Repräsentation“ (Elias 2001: 9), von denen Elias ausgeht und mit denen er sich befasst: Stadtpläne gehören ebenso dazu wie Wappen, Orden oder Fahnen, körperliche Habitus-Merkmale oder Kleidung ebenso wie die Sprache („sprachliche Lautmuster“), Etiquetten/Rituale des Verhaltens, seien sie implizit oder explizit, ebenso wie Architektur. Entscheidend ist hier zunächst, Elias’ Fassungen und Untersuchungen der symbolischen ‚Dimensionen‘ des sozialen Lebens und schließlich auch seine ‚Symboltheorie‘ im Rahmen und als Funktion oder Ergebnis der Figurationssoziologie als Ganzer aufzufassen. In der Architektur und im Konzeptapparat der Figurationstheorie steckt demnach sozusagen auch eine Symboltheorie127, und das Symbolische selbst ist entsprechend im Prinzip in aller sozialen Realität zu sehen und wird damit zum figurationssoziologischen General- und Schlüsselthema. Es steckt in sozialen Strukturen, Handlungen, Ereignissen und Vorgängen, in Dingen, Räumen, Körpern, Bewegungen und Zeiten, in sprachlichem wie nicht-sprachlichem Ausdruck128, und zwar als etwas immanent Gesellschaftliches, Historisches und 125 Hinsichtlich der soziologischen Klassiker der ‚ersten Generation‘ befindet er sich dabei wohl wiederum am stärksten in der Tradition Simmels. 126 Elias argumentiert auf dieser Ebene, wie schon gesagt, im Wesentlichen wie die Vertreter der Philosophischen Anthropologie. Ähnlich wie diese betont er die umfassende Befähigung und Gezwungenheit des Menschen zum Lernen und spricht diesbezüglich von der „Symbolemanzipation der Menschheit (…), von ihrer Befreiung aus der Fesselung an überwiegend nicht-erlernte, angeborene Signale und vom Übergang zur Vorherrschaft einer weitgehend erlernten Modulation der Stimme zu Zwecken der Kommunikation“ (Elias 2001: 86). 127 Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Figurationstheorie nicht nur eine Prozesstheorie, sondern auch ein Theorieprozess ist. Sie stand und steht nie ‚fest‘, sondern hat sich – auch auf der Ebene der Symboltheorie – immer entwickelt und befindet sich immer in Entwicklung und in einer Situation der Entwicklungsbedürftigkeit. 128 Das gilt auch für die noch ausführlich zu behandelnde symbolische Hauptform der Rituale/Ritualisierungen (s. u.). Sie sind nicht nur universell, alle Epochen und alle sozio-kulturellen Bereiche übergreifend, sondern können auch prinzipiell alle Materialitäten und Ausdrucksformen zugrundelegen und nutzen. Basen und ‚Medien‘ sind: verbale Sprache, Gesichtsausdrücke, Kleidung, Schmuck und andere Formen der Darstellung, wie z. B. Musik, Tanz oder Trance, aber auch Gebäude/Architektur, Farben, Stoffe u. a. m. Goffman (1981b; 1974b) zeigt darüber hinaus, dass
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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auch ‚Psychologisches‘, nämlich Habituelles, das letztlich in dem (Totalitäts-)Zusammenhang von Sozio- und Psychogenese zu suchen und aus ihm zu erklären ist. Damit ist auch klar, dass die figurationssoziologische Theorie des Symbolischen nicht von der Prozesssoziologie und insbesondere nicht von der Zivilisationstheorie zu trennen ist. Vielmehr ist (im Grunde leicht) zu zeigen, dass die Zivilisationstheorie eine vielseitige Symboltheorie inkludiert und dass die ‚Symboltheorie‘, die der späte Elias formuliert hat, der Zivilisationstheorie mindestens teilweise korrespondiert.129 Zwar umfasst der in der Zivilisationstheorie fokussierte Zusammenhang von Prozessen längst nicht nur Symbolisches, sondern z. B. auch den ganzen Komplex der wissenschaftlich-technischen Entwicklung130, aber wenn Elias vom Prozess der Zivilisation spricht, dann meint er wesentlich symbolische Tatsachen bzw. Tatsachen, die in diesem Prozess zu symbolischen Tatsachen geworden sind. Dazu gehört die ganze als Ensemble symbolischer Grenzdefinitionen und Praktiken bestimmbare Sphäre des (guten) ‚Benehmens‘, der schon Simmel, dann aber auch und vor allem Goffman im Rahmen seiner Soziologie der ‚Interaktionsordnung‘ große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung und Transformation sozialer Wissensbestände, die Elias in engster Verbindung mit der Sprache und der Sprachentwicklung sieht (vgl. 2001: 9 ff.)131 und die (natürlich mit Anklang an Max Weber) einen Schlüsselbegriff der Zivilisationstheorie aufruft: Rationalisierung. Elias’ späte ‚Symboltheorie‘ ist auch Rationalisierungstheorie in einem Sinne, der mit dem zivilisationstheoretischen Verständnis von Rationalisierung (s. o.) zwar nicht deckungsgleich ist, ihm aber entspricht oder als eine besondere Seite des Zivilisationsprozesses verstanden werden kann. Jedenfalls geht es dem späten Elias mit der Symboltheorie auch um eine historische Wissensentwicklungstheorie, die „Phantasiewissen im Vergleich zu rationalem Wissen“ (2001: 123) sieht, also z. B. Religion im Vergleich zu Wissenschaft und Technik. Man könnte hier auch von Rationalisierung als einer Zivilisation des Denkens sprechen, die der auch der Raum bzw. der Mikroraum, physische Distanzen und Relationen im Materiellen, z. B. Größenverhältnisse, dazu taugen und tatsächlich dazu dienen, symbolische Inhalte/Vorstellungen zu verkörpern. 129 Diese Symboltheorie spannt den zeitlichen Bogen allerdings (und sogar) noch weiter und bezieht auch noch die „große Evolution“ in die Betrachtung des Menschen und der Menschheit ein. Dies liegt ganz in der Logik der Figurations(prozess)soziologie, die in der ‚Symboltheorie‘ insofern fortgeführt und radikalisiert wird. 130 Dieser Komplex hat natürlich seinerseits symbolische Implikationen und Entsprechungen. 131 Für Elias stellt und beantwortet sich mit der ‚Symboltheorie‘ „die Frage ‚Was ist Wissen ?‘ Die Symboltheorie ruft schlicht in Erinnerung, was künstlich komplizierte Erkenntnistheorien aus den Augen verlieren. Sie gibt dem Wissen seinen sprachlichen Charakter (…) zurück“ (2001: 173).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zivilisation des Körpers, der Affekte und – vor allem – der Triebe spiegelbildlich entspricht und durchaus mit der Konnotation von (‚humanem‘) Fortschritt verbunden ist.132 Aber auch die Zivilisation des Körpers, wie Elias sie versteht und rekonstruiert, besteht nicht nur in der Entwicklung von habituellen Selbstkontrollen, Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, sondern ist zugleich eine Wissens- und Kognitionsentwicklung (der betreffenden Erwartungen, der Vorstellungen von Anstand, von Grenzen, rituellen ‚Reparaturtechniken‘ usw.). Indem Elias (auch) symbolische Tatsachen grundsätzlich prozesssoziologisch bzw. zivilisationssoziologisch (re-)konstruiert, bewegt er sich primär auf der Ebene verschiedener, mehr oder weniger langfristiger Figurationsprozesse: der sozialen Differenzierung, der Zivilisierung, der Rationalisierung usw. Zugleich geht es ihm aber auch um die Struktur- und Praxisebene gegebener historischer Figurationen aller Art. Auf dieser Ebene erscheinen symbolische Wirklichkeiten als figurationsimmanente und figurationsspezifische soziale Tatsachen, die einerseits innerhalb von oder abhängig von sozialen Strukturen/Machtstrukturen mehr oder weniger objektiv geordnet und dem situativen Handeln vor- und übergeordnet sind und andererseits von Akteuren permanent – und nicht zuletzt strategisch – ‚erhandelt‘ oder im Handeln hergestellt werden (müssen). Neben dieser prinzipiellen Zweiseitigkeit des Symbolischen ist hier (und wird im Folgenden) eine andere von Bedeutung, nämlich die Annahme von personalen Akteuren und Gruppen, die – je nach historischem/zivilisatorischem Entwicklungsstand – auch oder hauptsächlich auf symbolischer Basis aneinander gebunden und voneinander distanziert sind, sich aneinander binden und voneinander distanzieren, sich identifizieren und distinguieren oder miteinander konkurrieren.133 Auch in diesem Zusammenhang zeichnet sich also ein Bild von der sozialen Wirklichkeit als historischen Synthesen ab134, die bipolar, bivalent oder ambivalent
132 Als ein Beispiel dafür mag man das – sprachbasierte – ‚Umdenken‘ und ‚Umsprechen‘ im Verhältnis der Geschlechter nehmen. Das entsprechende traditionelle ‚Phantasiewissen‘, dessen symbolische/rituelle Kodierungen noch Goffman recht eindeutig nachweisen konnte, scheint sich langsam aufzulösen und mit ‚emanzipatorischen‘ Implikationen angemesseneren Sichtweisen auf die Geschlechter Platz zu machen, und zwar auf zunehmend breiter sozialer Front und nicht zuletzt vermittelt durch ‚popularisiertes‘ (sozial-)wissenschaftliches Wissen. 133 In diesem sozialtheoretisch prinzipiellen Punkt konvergiert Elias erneut mit Goffman, der vor allem auf der Interaktionsebene eine Gleichzeitigkeit, ein Nebeneinander und ein Spannungsverhältnis von symbolisch-moralischer Solidarität und Konkurrenz, von kooperativem Miteinander und strategischem Gegeneinander als Normalität konstatiert und theoretisch entworfen hat. 134 Den synthetischen (Gestalt-)Charakter der sozialen Wirklichkeit betont Elias in der Kontinuität seiner früheren Arbeiten auch und gerade in der ‚Symboltheorie‘.
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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angelegt und so auch im psychischen Haushalt der Akteure gespiegelt oder verankert sind. Das impliziert sozusagen auf der einen Seite der Medaille – neben sprachlichen Vergemeinschaftungen und Rationalisierungen – die historische Entwicklung von (neuen) Bindungen bzw. von „Formen der Gefühlsbindungen“, die sich „nicht nur an Personen, sondern in zunehmendem Maße auch an Symbole der größeren Einheiten, an Wappen, an Fahnen und an gefühlsgeladene Begriffe“ heften (Elias 1981: 150; Hervorh. d. Verf.). Bei Elias heißt es diesbezüglich im Hinblick auf moderne/modernisierte Verhältnisse weiter: „Diese emotionalen Bindungen der Menschen aneinander durch die Vermittlung symbolischer Formen haben für die Interdependenz der Menschen keine geringere Bedeutung als die (…) Bindungen auf Grund zunehmender Spezialisierung. In der Tat sind die verschiedenen Typen der affektiven Bindungen unabtrennbar. Die emotionalen Valenzen, die Menschen, sei es direkt in ‚face-to-face‘-Beziehungen, sei es indirekt durch die Verankerung in gemeinsamen Symbolen, aneinander binden, stellen eine Bindungsebene spezifischer Art dar.“ (Elias 1981: 150)
Damit deuten sich schon wesentliche Aspekte dessen an, was die synthetische (Figurations-)Soziologie von Elias auf der Ebene des Symbolischen bzw. der Symboltheorie bedeutet und im Sinne ihrer Weiterentwicklung bedeuten kann, nämlich: – das Verständnis aller sozialen Praxis als zumindest potentiell symbolische Praxis und umgekehrt das Verständnis aller symbolischen Praxis als soziale Praxis, und d. h. nicht zuletzt: als Praxis, in der sich strukturelle Machtverhältnisse entfalten und Machtchancen zu realisieren sind, – den systematischen Bezug des Symbolischen auf bestimmte soziale Figurationen bzw. Felder handlungskompetenter und handlungsmotivierter Akteure, die sich auch aktiv, kreativ und konstruktiv ihrer symbolischen Bedingungen und Ressourcen bemächtigen und bedienen, – die Verknüpfung des Symbolischen mit dem Kognitiven und der praktischen Kognition einerseits und mit dem Affektiven/Emotionalen andererseits, – die Einnahme einer langfristig-historischen Entwicklungsperspektive und die entsprechende Relationierung symbolischer Formen und symbolisch vermittelter Bindungen, – und: die Vorstellung des Symbolischen nicht nur als bindend und verbindend, vergemeinschaftend und integrierend, sondern als zweiwertig: als verbindend
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und trennend, vergemeinschaftend und spaltend, integrierend und desintegrierend. Charakteristisch für die Elias’sche bzw. im Elias’schen Gesamtwerk implizierte Symboltheorie ist damit und weiterhin die Vorstellung, dass das Symbolische auf allen Ebenen des personalen Akteurs und seiner Praxen (Kognition, Affektualität, Strategie, Performanz) Habitusaspekte hat135 und dass es sich (daher) teilweise oder ganz auf der Ebene impliziter Verhaltensweisen abspielen kann, wobei dem Körper als symbolischer Ausdrucksfläche eine besondere Bedeutung zukommt und zivilisatorisch/zivilisationsgeschichtlich zuwächst. Für die insgesamt in vielerlei Hinsicht wichtigste und verweisungsreichste symbolische Ordnungsform hält Elias allerdings die Sprache, deren anthropologisch voraussetzungsvolle Entwicklung und deren Leistungen für die (sozialisatorisch immer wieder neu nachzuvollziehende) Gattungsentwicklung er in der ‚Symboltheorie‘ herausstellt.136 In der Sprache bzw. dem sachlich unauflösbaren „Komplex ‚Wissen, Sprache, Gedächtnis und Denken‘“ (2001: 13) sieht der Elias der ‚Symboltheorie‘137 letztlich den entscheidenden Lern-, Entwicklungs- und Kompetenzvorteil der Gattung/Menschheit. Die Sprache hält er aber auch wie andere symbolische Ordnungsformen (z. B. Rituale, s. u.) insofern für bivalent oder ambivalent, als sie in sozialen Beziehungen und Gruppen einerseits Gemeinsamkeit und Gemeinschaft und andererseits Differenz und Fremdheit bedeutet bzw. Bezugsrahmen und Ressource für Konkurrenz, Kampf und strategisches Handeln ist. Nicht zuletzt sieht er in der Sprache ein doppelt symbolisches ‚Medium‘, nämlich ein ‚Medium‘ nicht nur der Gemeinschaftlichkeit, der Verständigung und Vergemeinschaftung, sondern auch der der Distinktion und sozialen Trennung. Damit und überhaupt mit symbolischen Formen und Ordnungen geht es also auch um (sozial ungleiche) symbolische Status und (sozial ungleich verteilte und erwerbbare) Formen symbolischen Kapitals von Akteuren, die in objektive und veränderliche Machtbeziehungen und Machtbalancen eingebettet sind und in Kon-
135 Damit kommt natürlich die Habitustheorie in dem oben skizzierten und später ausführlich zu behandelnden Sinne ins Spiel. Sie liefert sozusagen eine spezifische symboltheoretische Perspektive. Aus ihr erschließt sich z. B. der symbolische Habitus-Körper/Körper-Habitus, aber auch die Wahrnehmung des Symbolischen als solches. 136 Auch die Sprache (und das Sprechen) versteht Elias (wie Bourdieu) wesentlich unter dem Blickwinkel der Habitustheorie. Sie erscheint als ein „Habitus-Merkmal“ in einer Reihe von „HabitusMerkmalen“ (Elias 2001: 165). 137 Im Konsens mit vielen anderen Soziologen und Sozialphilosophen, etwa der Philosophischen Anthropologie.
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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kurrenzen/Kämpfen um symbolisches Kapital Strategien entwickeln und – auf der Basis von oder in Form von Habitus – Strategien verfolgen.138 Das Symbolische (Kapital) erscheint insofern als (objektive) Bedingung, Moment und (herzustellendes) Produkt in einer (macht-)spannungs- und konfliktreichen Praxis. Diese gedankliche Grundausrichtung verbindet Elias und die Figurationssoziologie im höchsten Maße mit der Soziologie Bourdieus; aber auch Goffman kann hier (und soll hier) mit theoretischem Gewicht und Gewinn ins Spiel kommen, hat er doch – jenseits von Elias und Bourdieu, aber in direktem Anschluss an Simmel – sukzessive eine eigene (Wissens-)Soziologie des Symbolischen ausgearbeitet: eine Soziologie symbolischer Ordnungen, symbolischer Räume, symbolischer Kapitalien, symbolischer Gemeinschaften/Vergemeinschaftungen, symbolischer Konkurrenzen/Kämpfe und entsprechender ritueller und strategischer (Inter-)Aktionen.
4.2
Elias und Bourdieu: Figurationsprozesse und Feld-Figurationen
Die Figurationssoziologie im Allgemeinen und die Zivilisationstheorie im Besonderen liefern also ein systematisch vielseitiges Grundverständnis von symbolischen Tatsachen als sozialen Tatsachen, die im Kontext mehr oder weniger langfristiger Figurationsprozesse stehen und entstehen. Auf der Ebene gegebener Figurationen/ Felder bzw. auf der Ebene gegebener Zusammenhänge von Figurationen und Habitus geht es insofern immer nur sozusagen um Momentaufnahmen, hinter denen und vor denen eine lange (Entwicklungs-)Geschichte liegt. Für Elias ist dies vor allem der mit sozialen Differenzierungsprozessen, genauer gesagt: mit Schicht-, Funktions- und Feld-Differenzierungsprozessen, verbundene Zivilisationsprozess als ein Prozess, in dem im Kern symbolische Formen/Ordnungen mit kognitivem, moralischem und geschmacklichem ‚Inhalt‘ generiert und gleichzeitig soziostrukturell (normativ, institutionell) und psychostrukturell (habituell) verankert werden. Dieser (figurations-)soziologische Deutungsrahmen impliziert also auch ein Verständnis von Verhältnissen zwischen sozialer Ungleichheit und symbolischer Ungleichheit bzw. ein Verständnis von sozialer Ungleichheit als symbolische Ungleichheit, das wesentlich auf den Begriff der sozialen Distinktion gebracht werden kann und insgesamt – sozusagen abzüglich der Prozesssoziologie – der Bour138 Ich werde weiter unten im Kontext weiterer Überlegungen zur ‚höfischen Gesellschaft‘ darauf sowie auf die generelle Figurationspezifität der diversen ‚Symbolspiele‘ eingehen. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der Zeremonie des königlichen „Lever“. Als Rahmen der symbolischen Auszeichnung und Abstufung eröffnete es dem König strategische Machtchancen, Möglichkeiten (Beziehungs-, Figurations-)‚Politik‘ zu machen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
dieu’schen Distinktions-Theorie („La distinction“/„Die feinen Unterschiede“) nahekommt. Ein Beispiel dafür (und auch für die diesbezügliche Nähe und Distanz zwischen Elias und Bourdieu) ist Elias’ Vorstellung von der (historischen) Soziogenese der zunehmenden höfischen „Abwehr des Vulgären“: Diese „steigende Empfindlichkeit gegenüber allem, was der geringeren Sensibilität von niedriger rangierenden Schichten entspricht“, entwickelt sich Elias’ Untersuchung zufolge langsam und geht (vorläufig) schließlich „in der höfischen Oberschicht durch alle Sphären des gesellschaftlich-geselligen Verhaltens hin“ (Elias 1980b: 409 f.). So wird etwa die (auch) von Bourdieu – klassen- und habitustheoretisch – fokussierte „Delikatesse“ der Sprache und des Sprechens, d. h. ein Verhaltensstil bzw. Verhaltensstilmerkmal, zu einem symbolischen Anzeiger für ein soziales und ‚menschliches‘ (Besser-)Sein und umgekehrt für ein ebensolches Nicht(besser)sein, für Exklusivität und Inklusivität, Oben und Unten, Höher und Tiefer. In diesem (figurationssoziologischen) Verständnis erscheinen symbolische Tatsachen (Symbolisierungen) also in direktem Zusammenhang mit figurationalen und habituellen Differenzierungen, mit soziale Ungleichheiten ausmachenden und stabilisierenden habituellen Generatoren entsprechenden Verhaltens (Handelns, Empfindens, Deutens), das sich als Stil (s. u.) zum Symbol und zur Grundlage symbolischer Ordnung und Distinktion eignet. Das Symbolische ist demnach in diesem Fall (und in allen Fällen, in denen ihm wahrnehmbares Verhalten zugrunde liegt) eine komplexe und verweisungsreiche sozio-psychologische Realität, etwas zugleich Expressives, Kognitives, Moralisches und Affektuelles, das gewissermaßen in historischsozialen (Prozess-)Synthesen steckt. Die Figurationssoziologie/Zivilisationstheorie liefert also ein Paradigma für das Verständnis und die Untersuchung symbolischer Formen/Ordnungen und ihrer Entwicklung – ein Verständnis, das sich mit dem Bourdieuschen insofern berührt und überschneidet, als es diese Formen/Ordnungen (und damit moderne/ modernisierte Gesellschaften und Menschen) im Rahmen einer Vorstellung von sozialer Ungleicheit, Macht, Konkurrenz und Kampf unter einen generellen Interessen-, Strategie- und Ideologieverdacht stellt. Zwar denkt Elias als Symboltheoretiker und Symbolanalytiker nicht nur in Kategorien sozialer Ungleichheit, Macht, Konkurrenz und Kampf, sondern auch in genau gegenteiligen Kategorien (der sozialen Identitätsbildung, Vergemeinschaftung, Solidarisierung), aber er denkt jedenfalls in seinen empiriebezogenen Arbeiten immer auch in jenen Kategorien. Nicht erst Bourdieu sondern längst vorher schon Elias hat in diesem Sinne soziale Distinktionen, Grenzen und Grenzziehungen, Abgrenzungen, Ausgrenzungen (Exklusionen) und Stigmatisierungen als symbolische, symbolbasierte und symbolinduzierte Prozesse verstanden und beschrieben – als Prozesse, die symboli-
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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sche Ressourcen (eine Art von Kapital) voraussetzen, aktualisieren, verwenden, generieren und degenerieren. Es geht auch bereits bei Elias um das wesentlich habitusbezogene „symbolische Kapital der Lebensstile“ (Mörth/Fröhlich (Hg.) 1994), also jene symbolische Kapitalform, die Bourdieu in den Mittelpunkt seines (modernen) Gesellschaftsbildes und seiner allgemeinen Sozialtheorie (sozialen Ungleichheitstheorie) gerückt hat (s. u.). Vor dem Hintergrund dieses Blicks auf die Elias’sche Soziologie, insbesondere die „Höfische Gesellschaft“, wird man der Ansicht Friedrich Balkes zustimmen können, dass Bourdieus „Kultur- und Herrschaftssoziologie verschränkender Ansatz vor allem aus dieser theoriegeschichtlichen Quelle schöpft“ (Balke 2003: 136). Die „Höfische Gesellschaft“ war für Bourdieu wohl eine Art Musterbeispiel für sein soziologisches Kultur- und Feld-Verständnis139, seine Kapitalientheorie eingeschlossen. Elias’ „paradigmatische Analyse der höfischen Gesellschaft“ (Balke 2003: 136) und dann die ‚allgemeine‘ Figurationssoziologie bieten jedenfalls einen dem Bourdieu’schen Denken vorausgehenden Feld- und Habitus-Theorie verbindenen Ansatz, soziale Felder als symbolische (Kapital-)Ordnungen und Kampfplätze zu verstehen. Das Symbolische, z. B. das Rituelle oder das Stilistische, erscheint in diesem Rahmen ähnlich wie bei Bourdieu einerseits als Eigenschaft oder Implikation des Feldes in Verbindung mit dessen sozialen Strukturen und damit Machtverhältnissen, die Bedingungen figurationaler Praxis und (strategischer) Handlungsspielräume darstellen. Andererseits wird das Feld als ein strukturierter symbolischer Operations-, Handlungs- und Interaktionsraum vorgestellt140, aus dem in spielähnlichen Auseinandersetzungen und (Handlungs-) Prozessen, in denen diverse (symbolische, soziale, ökonomische) Kapitalien auf dem Spiel stehen, auch Macht- und Symboleffekte bzw. symbolische Kapitaleffekte hervorgehen. Auf dieser Seite der symbolischen Wirklichkeit und Praxis spielen also individuelle und kollektive Akteure, und zwar habituell entsprechend disponierte (oder indisponierte) Akteure, eine und ihre ‚Rolle‘, unter Umständen eine Schlüsselrolle.141 139 Wie schon gesagt, ist auch der Feldbegriff selbst durchaus in dem Bourdieu’schen Sinne und durchaus häufig bereits bei Elias zu finden (sowohl in der „Höfischen Gesellschaft“ als auch im Rahmen der Zivilisationstheoriebände). 140 Dies ist natürlich die Ebene, auf der die figurationssoziologische Symboltheorie/Symbolforschung sich besonders stark mit ‚interaktionistischen‘ Ansätzen berührt, überschneidet oder ergänzt – auch hinsichtlich der Frage, ob, inwieweit und wie (mit welchen symbolischen Mitteln und Strategien) personale (Inter-)Akteure und „Ensembles“ (Goffman 1969) ‚Situationen definieren‘ und überhaupt an sozialer ‚Wirklichkeitskonstruktion‘ beteiligt sind. 141 Als Theoretiker symbolischer Ordnungen, Kapitalformen und (Konkurrenz-, Kampf-)Praxen ist Bourdieu also bei allem, was er sonst noch ist, zwar ein maßgeblicher Erneuerer der (Kultur-)
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Elias’ ‚paradigmatische‘ Sicht der symbolischen Kapital-, Konkurrenz- und Kampf-Ordnung der Dinge findet sich nach seiner und durchaus in der Logik seiner Untersuchung der ‚höfischen Gesellschaft‘ auch in seiner (weniger berühmt gewordenen) ‚gemeindesoziologischen‘ (Feld-)Studie, die er um 1960 zusammen mit John Scotson durchgeführt und unter dem Titel „Etablierte und Außenseiter“ publiziert hat (vgl. Elias/Scotson 1990). (Auch) In dieser auf die (damalige) ‚Gegenwartsgesellschaft‘ bezogenen Arbeit widmet sich Elias mit teilweise neuen symbolischen Ordnungs-, Handlungs- und Funktionsbegriffen142 auf unterschiedlichen sozialen Figurationsebenen dem komplexen Thema, um das es im Grunde schon in der „Höfischen Gesellschaft“ geht und das auf je besondere Weise auch Bourdieu und Goffman fokussiert haben. Nunmehr stellt er sich ihm aber und behandelt es als „universal-menschliches Thema“ (ebd.: 7): „Immer wieder läßt sich beobachten, daß Mitglieder von Gruppen, die im Hinblick auf ihre Macht anderen, interdependenten Gruppen überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre menschliche Qualität besser als die anderen. (…) Wie kommt das ? Wie können die Mitglieder einer solchen Gruppe unter sich das Gefühl aufrechterhalten, daß sie nicht nur mächtiger, sondern auch in menschlicher Hinsicht besser seien als die einer anderen Gruppe ? Welche Mittel benutzen sie, um den weniger Mächtigen den Glauben an ihre eigene Höherwertigkeit aufzudrängen ?“ (Elias/Scotson 1990: 7 f.; Hervorheb. im Orig.)143
Es geht hier also um praktische Verhältnisse zwischen Macht und Moral, Herrschaft, Legitimation und Wirklichkeit / Wissen. Die diesbezüglichen ‚Mittel‘, die Elias in „Etablierte und Außenseiter“ wie schon in der „Höfischen Gesellschaft“ meint und ausmacht, sind symbolische Mittel (z. B. symbolisch signifikante stilistische und rituelle Mittel), die einen figurationsbestimmten strukturellen Soziologie. Aber es ist die (alte) Figurationssoziologie, die in diesem Zusammenhang die hauptsächliche Pionierarbeit geleistet hat und – wichtiger noch – eine über Bourdieu hinausreichende Entwicklungsperspektive der Soziologie bietet. Jene (alte) Soziologie vermag dies vor allem dank ihrer Architektur als historische Prozesssoziologie, die sie überhaupt auch als eine Art Rahmen einer integrativen Soziologie des Symbolischen empfiehlt. 142 Wie z. B. „Gruppencharisma“, „Machtbalance-Kampf “, „Gruppenschande“, „Gegenstigmatisierung“, „Wir-Bild“, „Wir-Ideal“ oder „Phantasiepanzer“ (vgl. Elias/Scotson 1990: 7 ff.). Auch noch in seiner ‚Symboltheorie‘ ist Elias auf dieser Ebene terminologisch innovativ, etwa mit dem Begriff des „Phantasiewissens“ (Elias 2001: 123 ff.) oder mit dem der „Symbolemanzipation“ (ebd.: 86). 143 Um ziemlich genau diese Thematik und Fragestellung geht es auch Bourdieu mit seinem Werk über die „feinen Unterschiede“; und auch Goffmans stigma- und ritualtheoretisches Werk kann als eine Antwort auf diese Frage gelesen werden.
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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(Macht-)Hintergrund und einen sozusagen (macht-)politischen Charakter haben, indem sie soziale Distinktionen, Distanzen und Ungleichheiten produzieren und reproduzieren. Von diesen empirisch gedeckten Theorievorstellungen ausgehend kann man die soziologische Theorie sozialer Ungleichheit, symbolischer Ordnung und Distinktion im Sinne einer ‚universal-menschlichen Thematisierung‘ maximal weit fassen – bis hinunter zu der Ebene, auf der sich noch der bloß ‚normale‘ Jedermann durch Stigmatisierung einerseits und Idealisierung andererseits distinguieren kann.144 Darüber hinaus ist hier auch an symbolische Formen, Ordnungen und Praxen sowie an entsprechende Logiken der Distinktion zu denken und zu erinnern, die mit Individualisierungsprozessen zu tun haben oder ihnen innewohnen. Diese Prozesse, die Elias als Teil- oder Parallelprozesse der Zivilisation thematisiert, sind ebenfalls im höchsten Maße und in besonderer Weise symbolische oder symbolisch gehaltvolle Prozesse. Von Elias führt diesbezüglich der Weg (zurück) zu Simmel und zu neueren und aktuellen Individualisierungstheoretikern, in deren Arbeiten man auch symbolische Ordnungs- und Distinktionstheorien der (zeitgenössischen) Individualität und der Individualisierung erkennen kann (s. o.).
4.3
Elias, Bourdieu und Goffman
Mit den bisherigen Überlegungen ist auch schon eine weitere Brücke zu dem neben Simmel, Elias und Bourdieu vielleicht wichtigsten soziologischen Theoretiker und Empiriker der symbolischen Ordnungen moderner Gesellschaften gebaut: Goffman, zu dem sich hier eine besonders vielseitige und systematische Verbindung herstellen lässt. Wie für Elias und Bourdieu so ist das soziale Leben auch für 144 Dies ist die Ebene, die Goffman in seiner Untersuchung der Stigmatisierungen und Stigmatisierten(-Praxis) hauptsächlich im Blick hat (vgl. 1967). Goffman interessiert sich allerdings nicht nur für die Seite der Stigmatisierenden, sondern vor allem für die Stigmatisierten und deren Strategien und Techniken, sich gegenüber jener Seite und dem, was sie sozial voraussetzt und bewirkt, zu verhalten. Goffman teilt mit Elias und Bourdieu das Interesse an dem ‚Glauben‘ von Gruppen an das eigene Bessersein (und das Schlechtersein Anderer), aber er bezieht eine Perspektive abseits von den systematischen Struktur- und Machtfragen, die Elias und Bourdieu dabei stellen. Dies hat natürlich hauptsächlich mit seinem mikrosoziologischen Ansatz zu tun. Dennoch kann man als Gemeinsamkeit von Elias, Bourdieu und Goffman festhalten, dass es jenes ‚universal-menschliche Thema‘ ist und dass es dabei die Machtschwächeren, die sozial Unterlegenen, die ‚Außenseiter‘ sind, für die sie sich schwerpunktmäßig interessieren und deren Partei sie auch in gewisser Weise (wissenschaftlich) ergreifen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Goffman in vollem Umfang, auf allen Ebenen und bis in die winzigsten (Alltags-) Details hinein durch und durch symbolgeladen, symboldurchdrungen, symbolisch geordnet, symbolisch (re-)produziert und auch symbolisch umkämpft. Goffman ist allerdings in gewisser Weise, nämlich durch sein empirisches Forschungsprogramm, symbolischer Interaktionist145, was sein Werk aus figurationssoziologischer Sicht einerseits spezifisch aufschlussreich und andererseits anschluss- und (um-) deutungsbedürftig macht. Die Soziologie Goffmans ist mit den symbolischen Ordnungs- und Praxistheorien von Elias und Bourdieu in mindestens folgenden Punkten und Hinsichten, die sich allerdings überschneiden, verwandt und zugleich zu verknüpfen: 1. Über sein gesamtes Werk hinweg (und mit Hilfe einer ganzen Reihe von Modellen) entwickelt Goffman Begriffe und empiriebezogene Verständnisse von symbolischen Formen/Symboltypen (Statussymbole, Prestigesymbole, Stigmasymbole etc.) und Ordnungen bzw. Anlässen. Damit verbunden ist einerseits eine (Alltags-) Wissenssoziologie sozialer Sinnstrukturen und Deutungsmuster („kosmologischer“ Vorstellungen) und andererseits eine Theorie performativen Handelns und praktischen Erkennens (Wahrnehmens, Beobachtens, Identifizierens, Verstehens), auf die, in welcher Form auch immer, letztendlich jede Symboltheorie verweist. In seiner Rahmen-Analyse hat sich Goffman am systematischsten und ausführlichsten mit symbolischen Formen/Interaktionsformen und Ordnungen sowie ihren Sinn-, Praxis- und Kognitionsimplikationen auseinandergesetzt. 2. Goffman hat Verständnisse und Konzepte von symbolischem Kapital und von symbolischem Wirtschaften (‚Kapitalbildung‘, ‚Kapitalschutz‘ etc.) entwickelt, die den Elias’schen und den Bourdieu’schen durchaus vergleichbar und teilweise komplementär sind. (Auch) Bei Goffman dreht sich das soziale (Interaktions-)Leben und Handeln um ständig begehrtes, riskiertes und umkämpftes symbolisches Kapital, um symbolische Status und Statussymbole, Geltungen, Prestige, Ehre und Würde, um „Images“, symbolische „Plus-“ und „Minuspunkte“, die im – wesentlich auch strategischen – Handeln und Behandeltwerden, in Darstellungen und Vor-
145 ‚Interaktionist‘ ist Goffman aber weniger im Sinne der theoretischen Perspektive (‚Philosophie‘) des Symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer) als im Sinne seines mit dem Begriff der „Interaktionsordnung“ markierten Forschungsprogramms. Es geht Goffman m. a. W. hauptsächlich um die sachliche Ebene der Interaktion, jedoch denkt er diese nicht durchweg ‚interaktionistisch‘ bzw. konstruktivistisch, sondern eher strukturtheoretisch oder strukturalistisch (vgl. Gonos 1977; Goffman 1981c).
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
237
stellungen, Erkennungen und Anerkennungen ‚gemacht‘ und zugeteilt, gewonnen und verloren werden. Die Parallelen zwischen Elias auf der einen Seite und Goffman auf der anderen sind zwar weniger offensichtlich als die zwischen Elias und Bourdieu. Bei näherer Betrachtung erkennt man aber, dass die Soziologien von Elias und Goffman, so grundverschieden sie in ihrer architektonischen Anlage (und Reichweite) sind, sich ähneln, was bestimmte Grundverständnisse von sozialer Ordnung als symbolischer – und d. h. auch moralischer – Kapital-Ordnung betrifft.146 Beide denken symbolische Ordnungen als Ordnungen sozialer Ungleichheit und Ungleichheitsbalance und (damit) als Handlungsspielräume individueller und kollektiver Akteure, hinter denen Deutungen, Meinungen und Formen von Glauben stehen. In mancher Hinsicht durchaus ähnlich wie Goffman, wenn auch keineswegs deckungsgleich mit diesem, argumentiert Elias beispielsweise, wenn er den Hof folgendermaßen beschreibt: „Der Hof ist eine Art von Börse; wie in jeder ‚guten Gesellschaft‘ bildet sich beständig im Austausch der Menschen eine ‚Meinung‘ über den Wert jedes Einzelnen; aber dieser Wert hat hier seine reale Grundlage nicht in dem Geldvermögen und auch nicht in den Leistungen oder dem Können des Einzelnen, sondern in der Gunst, die er beim König genießt, in dem Einfluß, den er bei anderen Mächtigen, in der Bedeutung, die er für das Spiel der höfischen Cliquen hat. Alles das, Gunst, Einfluß, Bedeutung, dieses ganze komplizierte und gefährliche Spiel, bei dem körperliche Gewaltanwendung und unmittelbare Affektausbrüche verboten sind und die Existenz bedrohen, verlangt von jedem Beteiligten eine beständige Langsicht, eine genaue Kenntnis jedes Anderen und seiner Stellung, seines Kurswertes im Geflecht der höfischen Meinungen; es erfordert eine genaue Differenzierung des eigenen Verhaltens entsprechend diesem Verflechtungswert. Jeder Mißgriff, jeder unvorsichtige Schritt drückt den Kurswert dessen, der ihn getan hat, in der höfischen Meinung herab; er bedroht unter Umständen seine ganze Stellung am Hof.“ (Elias 1980b: 371)
Mit Goffman (und anderen) könnte man hier auch von Image, Image-Kämpfen oder Image-Arbeit sprechen und damit Begriffe verwenden, die gerade auch für neuere und neueste Figurationen/Felder und entsprechende Formen von symbolischem Kapital und symbolischer Ökonomie besonders angemessen erscheinen. Angesichts sich rasant entwickelnder symbolischer Konkurrenz-, Markt- und 146 Und damit kann auch festgestellt werden, dass es eine entsprechende Ähnlichkeit zwischen Goffman und Bourdieu gibt.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
(Selbst-)Vermarktungsverhältnisse (symbolischer Wirtschaften) und insbesondere angesichts von (Internet-)Mediatisierungs- und Individualisierungsprozessen, die durch diese Verhältnisse (dieses Wirtschaften) vorangetrieben werden und sie zugleich vorantreiben, dürfte solchen schon lange gängigen Begriffen weitere theoretische und praktische Bedeutung als symbolischen Kapital-, Praxis- und Handlungsbegriffen zugewachsen sein und weiter zuwachsen (vgl. Kautt 2008; Pranz 2009b).147 Das Beispiel der höfischen Gesellschaft zeigt in diesem Zusammenhang aber auch die wesentliche Differenz zwischen einem interaktions(ordnungs)zentrierten oder ‚interaktionistischen‘ und einem figurationssoziologischen Gegenstandsverständnis. Während sich jenes auf die Interaktionsebene beschränkt und formal bleibt, kommt es bei diesem darauf an, die jeweilige ‚soziale Tatsächlichkeit‘ von Images und Image-Praxen (Image-Werten, Image-Bildungen, Image-Arbeiten usw.) – und damit auch die Konzeption des Image-Begriffs – an die entsprechenden sozialen Figurationen, Felder und Machtverhältnisse einerseits und Akteure, Habitusformen und Strategien andererseits zu binden. Die Bedeutungen von Images und aller anderen symbolischen Tatsachen lassen sich demzufolge nur im Rahmen ihrer komplexen empirischen Figurationsbezogenheit und einer entsprechend umfassenden und differenzierten Figurationsanalyse aufklären, die sozusagen die Ganzheit und Gesamtheit der sozialen Praxisbedingungen – und insbesondere die Figuration des (Spiel-)Feldes – im Sinn hat und als Gründe und Hintergründe der symbolischen (Image-)Realitäten veranschlagt. 3. Mit Goffmans Begriffen von symbolischem Kapital (auch ‚Negativkapital‘) hängen Verständnisse von symbolischen Ungleichheiten sowie von Grenzen der Ausund Einschließung zusammen, die mit Elias’schen und Bourdieu’schen Vorstellungen und Untersuchungen in Vergleich und Verbindung gebracht werden können. Wie Elias und Bourdieu fokussiert Goffman neben normalen Abstufungen von Images und Statussymbolen (vgl. Goffman 1967; 1968; 1969) die symbolischen Extreme Stigma148 und Charisma. Die symbolisch-moralischen Gering- und Hoch-
147 Man denke im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Image(-bildung) und Massenmedien auch an Begriffe und (Sonder-)Phänomene wie Prominenz. Diesbezüglich und überhaupt in Bezug auf Phänomene der ‚öffentlichen (Medien-)Meinung‘ und (Medien-)Meinungsbildung bis heute interessante Überlegungen hat Gehlen bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts angestellt (vgl. z. B. Gehlen 1957; 1961: 132). 148 Goffmans klassische Stigmatisierungsstudie (vgl. 1967) lässt sich in begrifflich-theoretischer wie in empirischer Hinsicht bestens mit den entsprechenden Elias’schen Vorstellungen (vgl. insbesondere 1990) verbinden und (damit) im ‚Haus‘ der Figurationssoziologie verorten.
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
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schätzungen, Aus- und Eingrenzungen, Ent- und Verwirklichungen, die Goffman mit Begriffen wie Stigmatisierung und – umgekehrt – „Idealisierung“ und „Mystifikation“ (vgl. 1969) bezeichnet, korrespondieren denjenigen, die Elias speziell in seiner Untersuchung der Beziehungen zwischen „Etablierten und Außenseitern“ (Elias/Scotson 1990)149 im Auge hat. Damit geht es auch um praktische und (zivilisations-)theoretische Fragen der Normalität und der „Normalisierungsgesellschaft“ (Foucault) sowie auf der negativen Seite um symbolische Gewalt, die Bourdieu so genannt und als solche konzipiert hat (vgl. Bourdieu/Passeron 1973), die unter anderen Titeln und aus anderen Perspektiven aber auch von Elias und Goffman bedacht und behandelt wird. Die Nähe und die Distanz, die Divergenz und die Konvergenz zwischen diesen Autoren versprechen in diesem Zusammenhang wiederum wechselseitige Anregungen und weiterführende Theorie- und Deutungs-Synthesen. 4. Symbolisches Kapital und symbolische Ordnungen überhaupt verweisen für Goffman – ähnlich wie für Elias und Bourdieu – immer auch auf Handlungsspielräume und auf (Inter-)Akteure, die dazu neigen, symbolische Gewinne machen (und bewahren) zu wollen und also permanent dabei sind, sich entsprechend zu verhalten – in der Form von teils eher unbewussten (habituellen) Verhaltensstilen und teils sehr bewussten Handlungen. Elias, Bourdieu und Goffman konvergieren, genauer gesagt, in einem Blick auf soziale Praxis als (Macht-)Praxis strategischer ‚Spiele‘ und ‚Spieler‘ (Akteure), die unter der Voraussetzung entsprechender Kapitalisierung und Zivilisierung sozusagen als Symbolarbeiter bzw. „Symbolverkäufer“ (Sahlins 1976) tätig sind.150 Goffman entwickelt in verschiedenen Modellrahmen (Bühnenmodell, Spielmodell, Rahmenmodell) Vorstellungen von strategischer Handlungsrationalität als einer Rationalität der Beobachtung, Informationspolitik und Dramaturgie, die zwar über die Ebene der symbolischen Ordnung hinausgeht, aber wesentlich mit ihr zu tun hat und mit ihr verbunden ist. Hier liegt es, wenn man etwa an das obige Beispiel der höfischen ‚Image-Börse‘ denkt, besonders nahe, den Vergleich mit der Figurationssoziologie und die Syn-
149 In dieser Untersuchung arbeitet auch Elias mit dem Begriff der Stigmatisierung, den er um den der „Gegenstigmatisierung“ ergänzt. 150 In diesem Zusammenhang, mit diesem Blick befinden sich diese Ansätze in offensichtlicher Nähe zu ‚Rational-Choice-Ansätzen‘, deren grundgedankliche Verwandtschaften mit der Figurationssoziologie Hartmut Esser bereits vor längerer Zeit betont hat (vgl. Esser 1984). Weiter unten, im Kontext einer zu entwickelnden Figurationstheorie strategischen Handelns, ist darauf zurückzukommen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
these mit ihr zu suchen. Dabei ist an zwei gedankliche und konzeptuelle Grundrichtungen der Figurationstheorie zu denken: einerseits an soziale Figurationen und (‚Spiel-‘)Felder als strategische Handlungsfelder, andererseits an Habitus, in denen sozusagen die Werte, die Motive, die Kompetenzen und Orientierungen der Akteure stecken. Goffmans Theorie des strategischen Handelns ist auch eine implizite Habitus- bzw. Gewohnheitstheorie, die sich durch die und in die Figurationssoziologie theoretisch übersetzen lässt. Erst dadurch werden ihre theoretischen Signifikanzen und ihre theoretischen Gehalte – gerade im Kontext der Thematik und der Theorie symbolischer Ordnung und Praxis – voll sichtbar und zugleich entwickelbar. Eine besondere und besonders wichtige Rolle kann dabei die Zivilisationstheorie spielen: als Zugang zu der spezifischen Zivilisiertheit des strategisch (aber schwerpunktmäßig auch rituell) handelnden ‚Goffmenschen‘ (Hitzler). Goffman spricht diese Zivilisiertheit zwar an und teilweise auch aus, indem er einzelne Attitüden und Kompetenzen nennt (Gelassenheit, Diplomatie, Charakterstärke etc.), unternimmt aber keine weiteren soziologischen Einordnungen und Erklärungsversuche. 5. In Goffmans Arbeiten kann man schließlich auch eine – allerdings eher implizite – symbolische Ordnungs-, Praxis- und Handlungstheorie nicht nur auf der Ebene der (zivilisierten) Normalität/Normalisierung, sondern auch auf der Ebene der Individualität und der Individualisierung erkennen (s. o.). Der (zeitgenössische) Mensch, den Goffman beschreibt, ist zwar ein von (symbolischen) Abweichungsängsten umgetriebener und angetriebener symbolischer Normalist, aber er ist auch ein tendenziell einsamer, selbstbewusster und individualistischer Symbolarbeiter, Symbolkapitalist und Symbolkämpfer – mit einer entsprechenden Zivilisiertheit und Mentalität. Die obigen Überlegungen zur Eliasschen Individualisierungstheorie sind insofern zu ergänzen, wobei der Kategorie des Images wiederum eine besondere Bedeutung zukommt. Auf dieser Ebene liefert Goffman auch so etwas wie eine symbolische Distinktionstheorie: Die Individualität des Individuums ist und wird demnach als soziale Tatsache wesentlich auf symbolischer Basis (z. B. der des Körpers) konstituiert, und das Individuum konstituiert und bestimmt sich – seine Individualität – in gewissen Grenzen auch selbst, indem es seine symbolischen Ressourcen (z. B. Kleidung) entsprechend arrangiert. Goffman spricht in diesen Hinsichten von „persönlicher Identität“ (1967) und meint damit die soziale Einzigartigkeit des Individuums als symbolische Einzigartigkeit (für andere). Von hier aus ist es nur ein kurzer Schritt zu der oben – im Anschluss an Elias – thematisierten (individualistischen) Vorstellung von Individualität als ‚Eigenwert‘, den das individualisierte Individuum durch entsprechende (symbo-
Symbolische Ordnung, symbolisches Kapital und symbolische Praxis
241
lische) Image-Arbeit ‚kultiviert‘, ja als eine Art „Kult des Selbst“ (Goffman 1981b) betreibt.151
4.4
Symbolentwicklungen und Entwicklung der Symboltheorie
Der Sinn meines Unternehmens ergibt sich auch in den hier thematischen Sachzusammenhängen (des Symbolischen und der Symboltheorie) nicht nur aus dem unterstellten Eigensinn der synthetischen Begriffs- und Theoriebildung, sondern auch aus den empirischen Entwicklungen der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft, die sich offensichtlich wesentlich in Bereichen des Symbolischen abspielen. Gerade die oben genannten Autoren (Elias, Bourdieu, Goffman) zeigen ja mit je besonderen Empiriebezügen und analytischen/diagnostischen Resultaten auch entsprechende empirische Entwicklungen152, die insgesamt begrifflich-theoretisch anspruchsvoll sind und der Soziologie(-entwicklung) auf allen Ebenen gleichsam vorauseilen. Der sich unübersehbar beschleunigende sozio-kulturelle Wandel im Ganzen erweist sich auch als ein immer dynamischer und komplexer werdender Wandel im Symbolischen153, mit dem es soziologisch Schritt zu halten oder überhaupt erst Schritt zu gewinnen gilt. Man denke etwa an die permanenten symbolischen Formgenesen und Formwandlungen der Massenmedien und der ‚neuen Medien‘, mit denen und in denen sich bekanntlich erneuerte und neuartige symbolische Tatsachen (Symbolsysteme, Images, Praktiken, Stile, Rituale) ergeben haben und ergeben154, die aber immer auch zurückverweisen auf Quellen, Bestände und Reservoires, aus denen sie entstanden sind (vgl. Willems/Kautt 2003). Oder man betrachte mehr oder weniger aktuelle Zeitdiagnosen, die mit Begriffen wie „Zeitalter der Images“ (Boorstin 1987), „Normalismus“ (Link 1997), „Vergewöhnlichung“/ „Reprimitivisierung“ (Weiß 2003) oder „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1997) auch symbolische Verfassungen und Transformationen der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft
151 Goffman widmet sich diesem ‚Kult‘ in seinem Buch „Geschlecht und Werbung“, also in der Untersuchung eines Medienbereichs, der die symbolischen Ordnungen und Wissensformen seiner Publika in eigentümlichen Inszenierungen systematisch hochstilisiert, ‚hinaufmoduliert‘ und damit eine symbolische Formenwelt und Ordnung besonderer Art (re-)produziert. 152 Wofür Begriffe wie Image, (symbolisches) Kapital, Distinktion, Individualisierung, Normalisierung oder Stigmatisierung stehen. 153 Symbolsysteme, symbolische Sphären, Praktiken, Formen, Bedeutungen, Kommunikationsmöglichkeiten, Interaktionsordnungen usw. betreffend. 154 Vgl. dazu beispielsweise Willems (Hg.) 2008b; Pranz 2009b; Kautt 2008.
242
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
angehen und dabei nicht zuletzt Aspekte der Zivilisation und der Zivilisationstheorie berühren und als Fragen aufwerfen155. Die hier gemeinten Gegebenheiten und Prozesse sind mit Implikationen für die Anforderungslage der einschlägigen Begriffs- und Theoriebildung offensichtlich heterogen, verweisungsreich, interdependent, miteinander verflochten und immer eingebettet in mehr oder weniger langfristige historische Entwicklungszusammenhänge. Das spricht grundsätzlich für die hier vertretene soziologische Gesamtvision, die auf der Ebene der Symboltheorie allerdings erst in Ansätzen ausgearbeitet ist. Worum es diesbezüglich weiterhin geht, ist zunächst die Explikation und Ausführung der symboltheoretischen Grundanlage der Figurationssoziologie und damit eine Art figurationssoziologische Selbstverständigung, die (mit Elias und im Rekurs auf sein Gesamtwerk) über die ausdrückliche ‚Symboltheorie‘ von Elias systematisch hinausgeht. Vor diesem Hintergrund scheint es möglich und gilt es, ein symboltheoretisches und symbolkonzeptuelles Instrumentarium zu entwickeln und weiterzuentwickeln, das der Aktualität oder Neuheit symbolischer Tatsachen im Gesamtzusammenhang ihrer Entwicklung gerecht werden kann – ein Instrumentarium, das das ‚Alte‘ wie das ‚Neue‘ und den Entwicklungszusammenhang zwischen beidem abdeckt. Die auszuarbeitende Symboltheorie verweist damit auch auf die begrifflich-theoretischen Schwerpunkte der anvisierten synthetischen Soziologie und des vorliegenden Arbeitsprogramms. Dazu gehören neben den bereits thematisierten Schwerpunkten, insbesondere der Wissenssoziologie, vor allem die noch zu thematisierenden ‚Ritual‘, ‚Stil‘, ‚Theatralität‘ und ‚strategisches Handeln‘. Die mit diesen Titeln markierten, ihrerseits wechselseitig aufeinander verweisenden begrifflich-theoretischen Zusammenhänge sind zu einem erheblichen Teil auch symboltheoretische Zusammenhänge, von denen hier angenommen wird, dass sie sich zum Ganzen einer synthetischen Symboltheorie verknüpfen lassen. Wohl vor allem und jedenfalls in besonderer Weise gilt dies für die Ritualtheorie, die Gegenstand der folgenden Überlegungen ist. Diese gelten also auch – als Weiterführung und Spezifikation – den Voraussetzungen und dem Programm einer synthetischen Symboltheorie im Rahmen der projizierten synthetischen Soziologie.
155 Hinsichtlich aktueller ‚Medienlandschaften‘ kann man unter zivilisations(symbol)theoretischen Gesichtspunkten z. B. danach fragen, was es bedeutet, wenn – offenbar zunehmend – Images von Menschen zu medialen (Massen-)Unterhaltungszwecken systematisch verletzt, verstört oder zerstört werden. Oder umgekehrt: Was bedeutet es, wenn Menschen auf Medienbasis zunehmend Images von sich selbst und anderen gestalten, stilisieren, idealisieren und dadurch strategisch operieren können und müssen ?
5
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
5.1
Annäherung an den Gegenstandsbereich und erster Definitionsversuch
Ritualbegriffe, Ritualtheorien und die damit gemeinten empirischen Phänomene, hauptsächlich bestimmte Formen symbolischer Ordnung und Praxis, bilden eine weitere Schwerpunktthematik des hier projektierten Unternehmens. Die vorausgegangenen symboltheoretischen Überlegungen gelten insofern grundsätzlich auch für die folgenden, die allerdings wichtige Besonderheiten und besondere Wichtigkeiten ihres Gegenstandsbereichs unterstellen. In einem ersten einführend-spezifizierenden Schritt lassen sich Rituale, einem weitreichenden Konsens in der interdisziplinären Ritualforschung folgend, formal oder struktural definieren: als eine variantenreiche Art der Abfolge sozialer Verhaltensweisen, Handlungen oder Interaktionen, und zwar als eine Abfolge, die „durch Wiederholung konventionalisiert und formalisiert und somit zur Gewohnheit gemacht wird“ (Platvoet 1998: 175). Bei einem Teil von Ritualen, etwa im Rahmen der Liturgie oder des ‚Protokolls‘, ist diese Abfolge explizit aus- und festgeschrieben. Hier geht es also um regelrechte Skripts (s. o.). Zum anderen Teil, z. B. im Rahmen der alltäglichen Interaktionsrituale156, handelt es sich bei den Skripts von Ritualen um eher oder ganz implizite Skripts. Nach diesem Verständnis ist das Ritual also in jedem Fall „repetitiv. Normalerweise läuft es nach einem früher fixierten und seitdem als Tradition sanktionierten Muster ab“ und tendiert dazu, „formalistisch, stereotyp und rigide zu sein“ (ebd.: 176). Als charakteristisch erscheint darüber hinaus, den immanenten Formalismus zuspitzend, eine Pointierungs- oder Stilisierungstendenz des Rituals: Die Skripts von Ritualen manifestieren sich „mittels Stilisierung und in einer evozierenden, darbietenden Art und Weise“ (ebd.: 180). Rituale der verschiedensten Art sind insofern gewissermaßen theatral oder theatralisch. Funktionen dieser Eigenschaft werden in der sozialen (Publikums-)Wahrnehmungs- und Verstehenserleichterung, in der Aufmerksamkeitserzeugung und in der demonstrativen Betonung von symbolischen Inhalten gesehen, die sich im jeweiligen Ritual bzw. in dessen Performanz manifestieren. Rituale sind also nicht nur Skripts und Performanzen, sondern auch soziale Sinnträger und Sinn156 Des Benehmens, der Ehrerbietung, der Entschuldigung usw.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
vermittler oder Sinngeneratoren. Als solche verweisen sie auf bestimmte soziale Sinntypen/Sinngehalte und Sinnzusammenhänge sowie auf entsprechende soziale Gruppen, Kollektive oder Kollektivitäten und deren Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion: „Ritualgemeinschaften“ sind als Symbol-, Performanz- und sozusagen Praxisgemeinschaften auch Wissensgemeinschaften, Glaubens- und Kompetenzgemeinschaften (vgl. Goffman 1981b; Platvoet 1998). Was Rituale sind, beinhalten und bewirken oder ‚leisten‘, lässt sich allerdings letztlich weder in dieser Definition noch in irgendeiner der zahlreichen anderen Definitionen157 fixieren, die weder der Formenvielfalt noch der Variabilität noch der Gemeinsamkeit der Varianten von Ritualen gerecht werden können.158 Es wird sich zeigen und zu zeigen sein, dass dazu eine weitreichende Theorie bzw. Theoriebildung notwendig ist, die jene symbolischen (Prozess-)Formen in ihrer vielseitigen (Prozess-)Kontextualität versteht und damit Verständnisse aller ihrer Aspekte liefert, ihrer Bedingungen, Formen, Inhalte, Funktionen usw. Umgekehrt wird hier aber auch davon ausgegangen, dass die Ritualtheorie/Ritualbegrifflichkeit eine notwendige Komponente jener allgemeinen Theorie und Theoriebildung ist, in deren Rahmen sie sich entwickeln soll. Ausgangspunkt meiner diesbezüglichen Arbeit ist die Annahme, dass die mit Ritualbegriffen (und verwandten Begriffen) aufgerufenen Themen sowohl auf der konzeptuell-theoretischen wie auf der analytisch-diagnostischen Ebene des dargelegten Projektes von zentraler Bedeutung sind159. Dafür spricht auch die Tatsache, dass von Ritualen, von rituellen Ordnungen, Zeremonien, Etiquetten usw. schon in den bisherigen Überlegungen – gerade in Bezug auf Arbeiten von Elias, Bourdieu und Goffman – regelmäßig die Rede war.160 Vor allem auf der Basis dieser Arbeiten kann und soll sozusagen die Grundkonzeption einer figurationssoziologischen Ritualtheorie gewonnen werden, die sich in dem besagten Sinne weiterentwickeln und ausbauen lässt – auch in Bezug auf bereits eingeführte oder noch einzufüh157 Solche Definitionen sind vielfach versucht worden und werden immer wieder versucht, ohne in Bezug auf die empirischen Tatsachen einigermaßen befriedigen zu können und wirklich haltbar zu sein. 158 So kann man nicht (mehr) ohne weiteres sagen, dass alle Rituale ‚zur Gewohnheit gemacht‘ werden oder im gleichen Maß zur Gewohnheit gemacht werden oder sich (im gleichen Maß) durch Stereotypie oder Rigidität auszeichnen. 159 Auf beiden Ebenen ist die Bedeutung dieser Themen vergleichbar mit der Bedeutung der Thematik des strategischen Handelns (s. u.) – ein Gebiet, das sich mit dem der Rituale teils berührt, teils überschneidet und teils ergänzt. 160 Mit der Thematik der Rituale und ihrer Reflexion sind – natürlich – auch Kultur-, Wissens- und Körpersoziologien im Spiel. Rituale sind Kultur-, Wissens- und Körpertatsachen par excellence, so dass hier auch auf die obigen Ausführungen dazu (zurück) zu verweisen ist.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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rende Begriffe, die dieser Theorie immanent oder mehr oder weniger benachbart, verwandt oder komplementär sind, wie z. B.: Zeremonie/Zeremoniell, Magie, Kult, Aura, Nimbus, Charisma/Gruppencharisma, Status, Image, symbolisches Kapital, Stigma/Stigmatisierung, Scham, Peinlichkeit, Verlegenheit, Stolz, (Selbst- und Fremd-)Achtung u. a. m. Besonders zu beachten und zu berücksichtigen ist dabei zunächst, dass sich im Elias’schen Werk nicht nur eine mit diesen Begriffen verbundene oder sich überschneidende Ritualbegrifflichkeit, sondern ansatzweise auch bereits eine – teils explizite und teils implizite – Ritualtheorie findet.
5.2
Figurationssoziologische Ritualtheorie
Die lange und – an den Ausmaßen seiner Verwendung gemessen – höchst erfolgreiche Tradition des Ritualbegriffs seit den soziologischen Klassikern der ‚ersten Generation‘ (wie Durkheim und Simmel), seine Aktualität und seine geradezu universelle Gebräuchlichkeit über alle sozialen Bereiche161 und über alle anthropologischen Disziplinen hinweg können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er insgesamt alles andere als klar oder gar theoretisch konsistent entwickelt ist. Im Gegenteil ! Selbst durch die Geschichte der „Ritualforschung hindurch spielte der Ritualbegriff eine mehrdeutige und z. T. widersprüchliche Rolle“ (Krieger/Belliger 1998: 27) – und zwar in einem immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Feld von unterschiedlich ausfallenden und weitreichenden Begriffen, Ansätzen und Theorien, sei es mit oder ohne Empiriebezug. Belliger und Krieger sprechen im Rück- und Überblick zu Recht vom „‚Dschungel‘ der heutigen Ritualforschung“ (ebd.: 9). Bei aller daraus auch zu schließenden Unverzichtbarkeit, Unersetzbarkeit und Leistungsfähigkeit des Ritualbegriffs mangelt es offensichtlich an einem theoretisch und empirisch übergreifenden Ansatz, der über die diversen Rituale und Ri-
161 Jenseits seines religiösen Herkunftskontextes und jenseits seiner Applikation auf ‚einfache Gesellschaften‘ fand und findet der Ritualbegriff Anwendung auf die verschiedensten Felder und Daseinsaspekte auch der modernen und modernsten Gesellschaften: ‚Einfache‘ Alltagsinteraktion, erotische Intimität, Lebenszyklus, Geselligkeit, Familie, Erziehung, Politik, Sport, Kunst, Recht, Wissenschaft, Medizin, Psychotherapie, Medien usw. wurden und werden als Kontexte oder Räume des Rituellen identifiziert. Die ‚Bodenküsse‘ eines Papstes (vgl. Soeffner 1995) oder die Krawall-Aktionen von Hooligans erscheinen ebenso als Rituale wie sexuelle Praktiken (vgl. Hitzler 1994a, b, c), die Kleidung der Punks (vgl. Soeffner 1995), das Heilverfahren der Psychoanalyse (vgl. Willems 1994), die Fernsehnachrichten oder das ‚TV-Duell der Kanzlerkandidaten‘ (vgl. Jerkovic 2005).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
tualisierungen162, Ritualbegriffe und Ritualstudien hinausweist und sie zugleich – auf einem höheren theoretischen Syntheseniveau – kontextiert, ‚aufhebt‘ und instruiert. In dem projektierten Arbeitskontext soll daher parallel zur Rekonstruktion sozial- und kulturwissenschaftlicher Ritual(theorie)diskurse das Ziel einer entsprechenden Theoriebildung verfolgt werden, nämlich das Ziel der Entfaltung und der Weiterentwicklung der ihrerseits noch relativ ‚unterentwickelten‘ figurationssoziologischen Ritualtheorie163 als Komponente einer übergeordneten synthetischen Soziologie, die schließlich auch als allgemeine Soziologie des Rituellen gelten und fungieren kann. Bereits die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Figurationssoziologie als eine Art Rahmen einer Theorie symbolischer Ordnungen und somit auch einer synthetischen Ritualtheorie taugt. Es ist darüber hinaus deutlich oder wird sich zeigen lassen, dass das figurationssoziologische und figurationssoziologisch zu entwickelnde Konzeptinstrumentarium (Figuration, Feld, Habitus, Mentalität, Theatralität/Performance/Korporalität, Rahmen, Deutungsmuster, Skript usw.) mit verschiedenen Ritualbegriffen164/Ritualtheorien zu verknüpfen ist und damit, wiederum mit Gewinn auch für die Figurationssoziologie im Ganzen, zur systematischen Entwicklung der Ritualtheorie beitragen kann. Ich glaube also, dass es 162 Der Begriff der Ritualisierung wird in der neueren Ritualforschung häufig anstelle von ‚Ritual‘ und fast synonym zu ‚Performance‘ verwendet. Belliger und Krieger bemerken dazu: „In vielen Zusammenhängen wird von ‚ritualisiertem Handeln‘ und nicht von Ritualen gesprochen. Gemeint ist damit, daß fast jede Handlung unter bestimmten Bedingungen ‚ritualisiert‘ werden kann. Grundidee dieser neuen Begrifflichkeit ist einmal mehr die Überwindung der alten Gegensätze zwischen Handeln und Denken, Theorie und Praxis, Ausführung und Skript. In diesem Zusammenhang muß auf die damit implizierte, besonders praxisorientierte Dimension von Sinngebung verwiesen werden, bei der das Handeln als Prozeß und Dynamik Sinn verkörpert und konstruiert. Mit Begriffen wie ‚Performance‘ und ‚Ritualisierung‘ wird versucht, die Aufmerksamkeit auf die sinnkonstitutiven Aspekte des Handelns zu lenken“ (Krieger/Belliger 1998: 10). Diese Formulierungen sind zwar ziemlich vage, deuten aber auf eine gewisse Nähe zur theoretischen Grundintention der Figurationssoziologie als Prozess- und Praxissoziologie – auch des Rituellen – hin. ‚Ritualisierung‘ würde demnach jedenfalls auch auf figurationale Relationalität, Kontextualität, Prozessualität, Machbarkeit, Veränderlichkeit und Transitorität verweisen. 163 Bei Elias spielen empirische Ritualaspekte und Ritualbegriffe zwar durchgängig eine Rolle oder sogar eine große Rolle, jedoch wird ihre (Selbst-)Reflexion unter systematischen soziologischen Gesichtspunkten eher vernachlässigt. Das gilt überraschenderweise auch für die Elias’sche „Symboltheorie“, der ja immerhin ein ganzes Buch gewidmet ist. In ihm werden die symbolischen (Handlungs-)Formen der Rituale zu Gunsten der Sprache fast völlig ignoriert. Im Gegensatz dazu scheinen mir hauptsächlich nicht-sprachliche und jedenfalls zu einem großen Teil körperbezogene oder dem Körper-Habitus immanente Rituale sowie entsprechende Ritualbegriffe mit im Zentrum einer figurationssoziologischen Symboltheorie stehen zu müssen. 164 Und auch damit verwandten oder zusammenhängenden Begriffen, wie z. B. Kult, Charisma oder Image.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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möglich und nützlich ist, im Rahmen der Figurationssoziologie und mit dem Rahmen der Figurationssoziologie zu einer weiterführenden begrifflich-theoretischen Vernetzung und insbesondere zu einer Integration von diversen Ritualkonzepten und Ritualtheorien zu gelangen. Damit wäre auch in einem notwendigen Maße zur Steigerung der empirischanalytischen Brauchbarkeit und Leistungsfähigkeit nicht nur des Ritualkonzepts/ der Ritualtheorie, sondern auch der Figurationssoziologie im Ganzen beigetragen. Sie muss und soll sich in diesem Zusammenhang gerade auch an ‚gegenwartsgesellschaftlichen‘ Empiriebezügen, die sich einerseits geradezu aufdrängen und andererseits eher „undurchschaut“ (Soeffner 1995: 103) sind, bewähren und auch in diesem Sinne als synthetische Soziologie erweisen.
5.2.1
Ritualtheorie im Kontext der figurationstheoretischen Grundrelation von Figuration und Habitus
Der Ansatz der figurationssoziologischen Ritualforschung und Ritualtheorie(-bildung) besteht zunächst darin, Figurationen immer auch als Figurationen von symbolischen Ordnungen und (d. h.) Ritualen/Ritualisierungen zu verstehen und zu deuten. Rituale/Ritualisierungen erscheinen hier also nicht als irgendwie isolierbare, selbstständige oder autonome Sozial- oder Kulturtatsachen, sondern in ihrer empirischen Gegebenheit als Momente strukturierter sozialer Beziehungs-, Handlungs- und Praxiszusammenhänge, die sie konstituieren und in die sie als symbolische Prozessformen mit der Implikation historischen Gewordenseins und historischer (Dauer-)Wandlung eingebettet sind. Elias’ Analyse der ‚höfischen Gesellschaft‘ ist diesbezüglich wiederum paradigmatisch165, geht es dort doch wesentlich um symbolische Ordnungen in den Formen von Ritualen (Zeremonien, Zeremoniellen, Etiquetten usw.). Entscheidend ist dabei die Doppelorientierung sowohl am Bezugsrahmen des Feldes, der Feld-Figuration, als auch am langfristigen historischen Figurations-Prozess, der auch die Entwicklung und Wandlung von Feldern einschließt. Auch der gleichsam durch den Katalysator der ‚höfischen Gesellschaft‘ laufende Prozess der (Ha165 Das Beispiel der höfischen Gesellschaft ist für die Ritualtheorie und Ritualforschung auch deswegen besonders relevant, weil diese Figuration im höchsten Maß auf der Basis von Ritualen/Ritualisierungen/Zeremonien organisiert und bestimmt war. Neben (und nach) der Religion ist die höfische Gesellschaft einer der wichtigsten historischen Ritualkontexte und auch Modelllieferanten für spätere Ritualentwicklungen. Bis heute wird sie auch immer wieder medial als Inbegriff von Ritualität und Ritualismus zitiert.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
bitus-)Zivilisation im Ganzen wird von Elias wesentlich unter den Vorzeichen von Ritualen/Ritualisierungen gesehen und entsprechend mit Hilfe des Ritualbegriffs beschrieben166. Indem Elias den Ritualbegriff und die Ritualanalyse, wie in der „Höfischen Gesellschaft“ geschehen, konsequent an den Begriff und die Analyse der Figuration im Sinne von Feld-Figuration bindet und Ritualanalyse folglich als Feld-Figurationsanalyse (und umgekehrt) betreibt, macht er bestimmte Rituale, Ritualisierungen und Ritual-Entwicklungen nicht nur in ihrer (relationalen) Besonderheit, sondern überhaupt erst als solche sichtbar.167 So werden heute zunächst als befremdlich und irrational erscheinende Handlungskontexte und Prozeduren wie das königliche Aufstehen („lever“) am Hof Ludwig des XIV. als höchst sinnvolle Rituale (Zeremonien) verständlich und erklärbar, und zwar als Funktionen von Figurationen und Habitus (vgl. z. B. Elias 1983: 126). Es offenbaren sich so insbesondere Zusammenhänge zwischen figurationsspezifischen Macht-/Herrschaftsverhältnissen einerseits und Ritualen/Ritualisierungen andererseits. Man erkennt deren Bedeutungen für das Macht-/Herrschaftssystem, den Lebensstil, die kollektive und personale Identität, die Mentalität, den sozialen Status, das strategische Handeln, die Gemeinschaft und Vergemeinschaftung, die Distinktion der Akteure. Diese im Rahmen einer ‚historisch gesellschaftspsychologischen‘ FigurationsPerspektive168 stehende Feld-Figurations-Perspektive auf Rituale/Ritualisierungen ist nicht nur historisch aufklärend, sondern auch im Blick auf Modernität und ‚Gegenwart‘ forschungsstrategisch paradigmatisch. Sie ermöglicht, erweitert oder vertieft auch das Verständnis ritueller ‚Gegenwartskultur‘ (wie sie etwa Goffman fokussiert hat) und vermag die teilweise verdeckte rituelle Verfasstheit und (Eigen-)Rationalität der ‚Gegenwartsgesellschaft‘, die vielfach als symbolisch-rituell degeneriert oder anomisch erscheint (s. u.), überhaupt erst in den Blick zu
166 Elias bestimmt auf der Ebene der Zivilisation bzw. der Zivilisationstheorie insbesondere die Verfeinerung der Verhaltens- und Umgangsformen (Sitten, Manieren) – auch ausdrücklich ritualbegrifflich – als Ritualisierung, so z. B. in Bezug auf das Essen mit Messer und Gabel. 167 In einer mit der „Höfischen Gesellschaft“ in gewissen Hinsichten durchaus vergleichbaren Weise, wenn auch vom Ansatz her unhistorisch, setzt Goffman (1973a) in seiner Untersuchung totaler Institutionen an. In einer Art Figurationsanalyse werden (auch) dort Rituale auf den Kontext eines Feldes (die Klinik, das Gefängnis etc.) bezogen und in diesem Kontext von sozialen (Macht-, Herrschafts-)Beziehungen verstanden und überhaupt sichtbar. In diesem Sinne beschreibt Goffman z. B. interaktionelle Initiations-, Demütigungs- und Degradierungsrituale (vgl. Goffman 1973a; Bohr 1970; Fontana 1980). Auch körperliche Zurichtungen (einschließlich Kleidung) und räumliche Arrangements (z. B. getrennte Kantinen und Toiletten) deutet er vor diesem (Figurations-) Hintergrund als symbolische bzw. rituelle Tatsachen (vgl. auch Goffman 1971a, b; 1974b). 168 Im Sinne des Zusammenhangs von Sozio- und Psychogenese.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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bringen. Das impliziert z. B. ein (Ritual-)Verständnis vieler heutiger Bereiche des Berufs- und Freizeitlebens, der Geselligkeit, des (Medien-)Sports169, der Organisationspraxis und nicht zuletzt der massenmedialen Programme, die weiter unten ausführlicher betrachtet werden. Mit dem ritualtheoretisch implikationsreichen Doppel-Ansatz der Figurationssoziologie bei der Feld-Figuration und zugleich beim historischen (Gesamt-)Figurationsprozess kommt auch (wieder) die figurationssoziologische Habitustheorie (s. o.)170 bzw. die Möglichkeit ihrer Synthese mit Ritualkonzepten und Ritualtheorien ins Spiel. Auch wenn nicht alle Rituale, Ritualebenen und Ritualaspekte mit Habitus zu tun haben, bestehen hier systematische Zusammenhänge, die vor allem Fragen der Kompetenz (und Inkompetenz), der Praxis und des (Handlungs-, Lebens-)Stils betreffen. Die Habitustheorie beschreibt und erklärt insbesondere feldspezifisches Ritual-Wissen in den praktisch zentralen Modi der Spontaneität, der Selbstverständlichkeit und der ‚Natürlichkeit‘171 einerseits und der Urteilskraft (‚Gespür‘) und der kreativen Gestaltung andererseits. Plausibel wird so auch ein gewisses (habitusverdanktes) Maß an Flexibilität, Anpassungs- und Konkretisierungsfähigkeit seitens der rituellen (Inter-)Akteure – also nicht nur ein spezifisches Skript- oder Programmwissen, sondern auch ein spezifisches rituelles Können, eine einschlägige Beweglichkeit im Denken, Deuten, (Be-)Urteilen und (Be-)Handeln.172 169 Elias hat sich – zivilisationstheoretisch naheliegend – mit dem Thema Sport (speziell Fußball) eingehend befasst. Seine zivilisationstheoretischen und zivilisationsanalytischen Arbeiten dazu sind zugleich wesentlich ritualtheoretische und ritualanalytische. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die direkt an Elias anschließende Arbeit von Bromberger (1998) über „Fußball als Weltsicht und Ritual“. 170 Die Seite und die Theorie der Gewohnheiten bzw. Gewohnheitsbildungen (s. o.) ist dabei immer mit eingeschlossen. 171 Im Rahmen der Habitustheorien von Elias, Bourdieu und (eher implizit) Goffman erscheinen Rituale/Ritualisierungen auch als Mechanismen einer Naturalisierung sozialer (kontingenter) Wirklichkeiten. Die praktizierten Rituale/Ritualisierungen (re-)produzieren eine ‚natürliche‘ (alternativlose, normale, selbstverständliche) Welt, die als solche maximal tief verankert ist. In diesem Effekt kann eine Reihe von Funktionen gesehen werden: Entlastung, Orientierung, Handlungsbefähigung, Sicherung. Elias, Bourdieu und Goffman sehen hier in Bezug auf verschiedene Kontexte auch eine Machtstrategie, eine ‚stillschweigende‘ und (daher) subtile Form von ‚Herrschaft‘. Für Goffman ist sie z. B. in der Form von Interaktionsritualen im Verhältnis der Geschlechter am Werk (vgl. 1981b; 1994b). Ganz ähnlich denken und argumentieren Elias (vgl. Klein/Liebsch (Hg.) 1997) und Bourdieu (2005) in ihren wesentlich symbol- und habitustheoretischen ‚Geschlechtersoziologien‘. 172 Prinzipiell gilt aus figurationssoziologischer bzw. feld-/habitustheoretischer Sicht, dass rituelle Handlungsfelder auf bestimmte, durch sie bestimmte, habituelle Dispositionen der entsprechenden (positionierten und legitimierten) rituellen Akteure, d. h. Orientierungen, Neigungen und Kompetenzen, verweisen. Bei fehlender oder mangelhafter Habitus-Passung der Akteure kommt es demnach zu systematischen Fehlern und Störungen im Erleben und Handeln.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Diese Aspekte sind sowohl allgemein ritualbegrifflich/ritualtheoretisch wichtig als auch spezifisch bedeutsam im Hinblick auf die empirische ‚Ritualität‘ der Moderne und der ‚Gegenwartsgesellschaft‘. Flexibilität, Urteils- und Gestaltungsfähigkeit gehören heutzutage mehr denn je notwendig zur Performance173 von Ritualen bzw. zur rituellen Performance und damit auch zu einem (Inter-)Akteur, der das jeweilige Ritual als Struktur situationsangemessen auszulegen und/oder zu performieren hat. Im besten Fall ist dieser Akteur ein Virtuose. Dessen besonderes Können ist gerade auch in den Fällen gefragt, in denen es darum geht, das Ritual zu verändern, anzupassen oder gar zu erfinden (vgl. Platvoet 1998: 176)174. Wie auf allen sozialen Ebenen ist heute auch auf der Ebene der rituellen Ordnung ein „begrenztes Maß an Veränderung und Innovation (…) aufgrund verschiedener Faktoren normal“ (ebd.). Bearbeitungen und Überarbeitungen von Ritualen und Ritual-Innovationen setzen natürlich die einfache (und vereinfachende) Gewohnheitslogik rituellen Handelns außer Kraft oder schränken sie ein. An ihre Stelle muss dann in gewissem Maße bewusste Ich-Leistung – und das heißt IchLeistungsfähigkeit – treten. Diesbezüglich vermag die Habitustheorie als Teil allgemeiner Sozialtheorie, insbesondere in den Varianten von Elias und Bourdieu, wesentliche Aufschlüsse zu geben, die Fragen der sozialen (ungleichen) Verteilung, der Organisations- und Funktionsweise und der (Funktions-)Relevanzen dieser Leistungsfähigkeit betreffen. Die bisher angedeutete und weiter zu entfaltende figurationssoziologische Ritual-Perspektive und Ritual-Begriff lichkeit, die im Kontext der figurationstheoretischen Grundrelation von Figuration (Feld, Netzwerk) einerseits und Habitus (Gewohnheit, Mentalität) andererseits steht, kann und soll in wesentlichen Punkten durch benachbarte Konzepte und Theorien, insbesondere wissenssoziologische und kulturwissenschaftliche, elaboriert werden. Ein Ansatzpunkt entsprechender Konzept- und Theorieentwicklung ist auf der ‚Mikroebene‘, der der Ritualbegriff als Performanzbegriff hauptsächlich zuzuordnen ist175, neben mikrosoziologischen 173 Vgl. dazu die weiter unten folgenden Überlegungen im Kontext von Theatralität und Theatralisierung. 174 Ritual-Erfindungen spielen im heutigen Alltagsleben jedermanns wie auf bestimmten Feldern, z. B. in der Pädagogik, der Psychotherapie und der Kunst (vgl. Goethals 1998), eine erhebliche Rolle. Im Kontext totalitärer Regimes ist der ‚Hitlergruß‘ ein interessantes historisches Beispiel für eine Ritualerfindung bzw. grundlegende Ritualmodulation. Daneben gibt es auch (symptomatische) ‚Ritualreformen‘ (‚Ritualmodernisierungen‘). Man denke etwa an die Liturgiereform der katholischen Kirche. (De-)Konstruktionen dieser und jener Art entfernen sich mehr oder weniger von ihren Vor- oder Urbildern. 175 Das heißt aber nicht, den Ritualbegriff an Personen und/oder unmittelbare Interaktionen zu binden oder binden zu müssen. Von Ritualen/Ritualisierungen kann vielmehr auf allen sozialen Fi-
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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und sozialpsychologischen Ansätzen wie den Skripttheorien176 auch das neuere kulturwissenschaftliche Konzept der Theatralität177. Es sind, genauer gesagt, dessen weiter unten ausführlich behandelte ‚Aspekte‘ Performance178, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung, die hier eine Rolle spielen können. gurationsebenen und Feldern die Rede sein, und tatsächlich ist dies auch der Fall. In der heutigen Ritualforschung herrscht die Auffassung vor, dass das Ritual/Rituelle/Ritualisierte in allen gesellschaftlichen Feldern oder „Subsystemen, handle es sich dabei um Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Wirtschaft oder Religion, eine gewisse Rolle spielt“ (Krieger/Belliger 1998: 9). Und diese ‚Rolle‘ wird in sehr unterschiedlichen Formen und Formaten gesehen. Jenseits situativprozessualer und menschlich-korporaler Performances kann etwa die Ordnung des Raumes bzw. Architektur als Ritual oder Ritualisierung verstanden werden (vgl. etwa Goffman 1981b). 176 Bei Ritualen handelt es sich ja, wie erwähnt, immer auch um Skripts, teils um explizite und teils um ganz oder eher implizite. Natürlich erschöpfen sich Rituale nicht in Skripts, wie es auch Skripts jenseits von Ritualen gibt. 177 Erika Fischer-Lichte sieht in Ritualen so etwas wie den Inbegriff von Theatralität: „Handelt es sich hier doch um geradezu modellhafte Inszenierungen von Körpern im Hinblick auf eine bestimmte Wahrnehmung. Dies gilt für Königskrönungen wie für Trauer- und Bestattungsrituale, für öffentliche Hinrichtungen wie für religiöse und weltliche Feste“ (Fischer-Lichte 2003: 28). 178 In der neueren Ritualforschung besteht, wie gesagt, die Tendenz, das Ritual als Performance zu betrachten, die als situativer Prozess Sinn verkörpert, zum Ausdruck bringt und generiert (vgl. Krieger/Belliger 1998: 9 f.). Der Begriff der Performance zielt hier durchaus im Sinne der Figurationssoziologie zunächst auf menschliche Akteure ab, auf deren symbolische und symbolisierende Konstellationen und Zusammenspiele ‚hier und jetzt‘. Mit dem Verständnis von Ritual/Ritualisierung als Performance kommen auch die (Theatralitäts-Teil-)Begriffe der Korporalität und der (situativen) Darstellung ins Spiel (s. u.). Die körperliche Ausdrucksgebundenheit von Ritualen und die mit ihnen verbundenen Ausdruckskontrollen, Emotionen, Affekte und Stimmungen verweisen wiederum auf historische Entwicklungen und Wandlungen, insbesondere auf den Zivilisationsprozess. Im Blick auf die moderne Gesellschaftsgeschichte, insbesondere die ‚Gegenwartsgesellschaft‘, ist es einerseits sinnvoll und notwendig, die Betrachtung von Performance-Aspekten über die situationale (Theater-)Ebene hinauszuführen, generell zu unterstreichen und zu differenzieren. Performance hat generell an Bedeutung und Relevanz gewonnen: insbesondere in Mediatisierungsprozessen und auf Medienbühnen und dort, aber auch darüber hinaus, als symbolische (Selbst-) Gestaltung von Darstellungen und ‚Selbstdarstellungen‘ immer diverserer Art. Andererseits und gleichzeitig sind die Performance-Aspekte von rituellem Verhalten/Handeln systematisch zu relativieren, und zwar auf der Ebene von Theatralität zu Gunsten des ‚Aspektes‘ der Inszenierung. Diesseits und jenseits der Performance-Ebene werden Ritualität, rituelle Sujets und rituelles Handeln zunehmend zum Gegenstand von Inszenierungen, also von planvollen Aktionen, an deren Ende Performances stehen. Rituelle Formen und Praxen sind m. a. W. zunehmend reflexiv und strategisch reflektiert (geworden) und haben ihre sozialen Orte dementsprechend auf diversen Bühnen, die von den (Inter-)Akteuren als solche wahrgenommen werden und vom lebensweltlichen Alltag über das Theater bis hin zu den Gattungen der Massenmedien und des Internets reichen. Die Reflexivierung von Ritualen und Ritualisierungen, die systematisch mit Mediatisierungsprozessen, insbesondere medialen Inszenierungspraxen, zusammenhängt, stellt einen bedeutsamen historischen Wandlungsaspekt der symbolischen Ordnung und Praxis (des ‚öffentlichen Lebens‘) dar, der auch von zivilisatorischer und zivilisationstheoretischer Bedeutung ist.
252 5.2.2
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Goffmans (Interaktions-)Ritualtheorie im Kontext der Figurationssoziologie
In potentiellen und herzustellenden Zusammenhängen mit diesen Beschreibungsund Deutungsmitteln ist Goffmans ritualtheoretisches und ritualanalytisches Werk von zentraler Bedeutung. In einer Reihe von Arbeiten (über sein umfangreiches Gesamtwerk hinweg) und in verschiedenen Modellrahmen hat Goffman eine komplexe Ritualtheorie bzw. eine Theorie der symbolischen Ordnung als ritueller Interaktionsordnung179 entwickelt, die sich in allen Punkten mit den bisher behandelten Aspekten und Konzepten symbolischer Ordnung und Praxis (Image, Charisma, symbolische Gewalt etc.) berührt oder überschneidet. Von größter Wichtigkeit ist hierbei die Vergleichbarkeit und Anschlussfähigkeit der einschlägigen Goffman’schen Untersuchungen in Richtung der figurationssoziologischen bzw. feld-/habitussoziologischen Ritualtheorie. Auch Elias und Bourdieu arbeiten ja mit ritualtheoretischen Perspektiven und Begriffen; sie bieten aber, indem sie systematisch über die Interaktionsebene hinausgehen, im Unterschied zu Goffman (und anderen ‚Mikrosoziologen‘) zugleich eine Perspektive und ein Netzwerk, das diese Ebene umfasst180 und aus übergeordneten Blickwinkeln erfasst. Dies verspricht wiederum einen grundlegenden und spezifischen Ansatz für das zu verfolgende Projekt einer synthetischen Soziologie: Vor dem Hintergrund der allgemeinen Figurationssoziologie und der mit ihr assoziierten und assoziierbaren Konzeptmittel181 eröffnet sich die strategische Möglichkeit, die einschlägigen Goffman’schen und vergleichbare andere Ritual-Studien aufzugreifen und im Sinne einer einheitlichen (synthetischen) soziologischen Ritualtheorie zu ver- und bearbeiten. Umgekehrt ist die Figurationssoziologie bzw. die figurationssoziologische Ritualtheorie durch die Assoziation mit diesen teils näher, teils ferner liegenden Strömungen der Ritualforschung sowie auch mit An179 Das sachliche Spektrum des damit Gemeinten ist breit und beschränkt sich nicht auf die Ebene der „einfachen Interaktion“ (Luhmann 1972) des Alltagslebens. Es reicht vielmehr von der „Enthüllungsetikette“ (Goffman 1967) stigmatisierter Individuen, die gegenüber ‚Normalen‘ rituelle Bekenntnisse ihrer ‚Identitätsschäden‘ ablegen (vgl. Goffman 1967: 127), über Rituale der „Rollendistanz“ (Goffman 1973b; 1974b: 189 ff.), die von jedermann wie von Spezialisten ‚praktiziert‘ werden, bis zu Interaktionsritualen zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern oder zwischen Rangungleichen in beruflichen Kontexten (vgl. Goffman 1977a; 1981a). 180 Nicht zu vergessen ist, dass Elias’ gesamte Forschungs- und Theorieunternehmung im Grunde auf der Ebene der ‚Interaktionsordnung‘ beginnt oder jedenfalls von dort ihre charakteristische Richtung einschlägt, nämlich mit der Erkenntnis, dass sich die Sitten, die Manieren, die Interaktionsformen des Benehmens über die Jahrhunderte tendenziell in einer bestimmten (Zivilisations-) Richtung verändert haben. 181 Hier ist erneut an den ganzen Komplex von Konzepten zu denken, die als Komponenten und potentielle Anschlüsse der Figurationssoziologie bereits angesprochen wurden.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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sätzen der neueren Kulturforschung, die den Ritualbegriff (wieder) als Schlüsselbegriff einsetzen, weiterzuentwickeln.182 Diese Option betrifft auch und gerade die Zivilisationstheorie und die empirische Zivilisationsforschung. So ist es nicht nur möglich und nötig, sondern besonders vielversprechend, Goffmans Soziologie der rituellen Interaktionsordnung, die es ja wie die Elias’sche Empirie schwerpunktmäßig mit der Thematik der ‚Umgangsformen‘ im Verhältnis zu und zwischen Individuen183 zu tun hat, figurationsund zivilisationssoziologisch zu relationieren (s. u.). Ich behaupte, dass in diesem Fall eine sehr weitgehende, wenn nicht vollständige Komplementarität der Ansätze besteht. Goffman kann sozusagen auf die Ebene und in das ‚Haus‘ der Zivilisationstheorie gestellt und zugleich als Zivilisationsdiagnostiker der (seiner) ‚Gegenwart‘ gelesen werden. Auf der personalen (Habitus-)Ebene zeigt sich dann im Kern das im Elias’schen Sinne psychologisierte, (strategisch) rationalisierte und individualisierte Individuum, das ‚Selbst‘ mit systematisch und spezifisch gesteigerten Achtungs- und Geltungs-Ansprüchen, rituellen Kompetenzen und Neigungen. In Goffmans Werk findet sich auch eine ganze Reihe entsprechend habitus- und zivilisationstheoretisch aufschlussreicher und nützlicher Konzepte, die die analytisch-deskriptive Begrifflichkeit von Elias ergänzen bzw. vertiefen können (Anstand, Image, Takt, Verlegenheit, Rollendistanz, Bühne (Vorder- und Hinterbühne), Geheimnis, Bühnensicherheit u. v. a. m.). Goffman hat mit seinen begrifflichen, theoretischen und empirisch-analytischen Beiträgen zur Untersuchung der rituellen Interaktionsordnungen und Performances auch wissenssoziologische Perspektiven auf Rituale/Ritualisierungen geliefert, die sich als Ansätze der Ritualanalyse in das (zivilisations-)deskriptive und konzeptuelle Gefüge der Figurationssoziologie integrieren lassen. Dabei geht es zum einen im weitesten Sinne um soziologische (Welt-)Deutungsmusteranalyse/‚Kosmologieanalyse‘ (vgl. Goffman 1977b). Goffmans diesbezügliche ritualtheoretische Arbeiten, insbesondere die frühen, stehen in der religionssoziologischen Tradition Durkheims. In dieser Tradition, wie (auch) in der Elias’schen, sind Rituale bzw. Interaktionsrituale als Träger, Vermittler und Generatoren verschiedener Typen von symbolischen Sinnzusammenhängen zu verstehen. (Interaktions-)Rituale haben demnach eine spezifisch expressive, präsenta182 Ein Weg führt hier zu den sogenannten ritual studies (vgl. Grimes 1995; (Hg.) 1996; Schilderman (Hg.) 2007), ein anderer zum Ansatz und Diskurs der Theatralität, in dessen Rahmen der Ritualbegriff wie gesagt eine erhebliche Rolle gespielt hat und spielt (s. u.). 183 Also: Manieren, Anstand, Benehmen, Ehrbezeugung, (Un-)Feinheit des Verhaltens – und damit zusammenhängend oder darauf basierend: Ehre, Würde, Prestige, Sympathie, Achtung/Verachtung/Selbstachtung, Demütigung, Scham, Peinlichkeit, Verlegenheit usw.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
tive oder kommunikative Dimension; sie sind eine nicht nur wahrnehmbare und beobachtbare, sondern auch auf Wahrnehmung, Beobachtung und Beachtung angelegte Handlungs- oder Interaktionsform, die verdichtend und/oder ‚dichtend‘ etwas zum Ausdruck bringt, nämlich mehr oder weniger komplexe symbolische oder „kosmologische“ (Goffman 1977b) Inhalte.184 Goffman zeigt an Fällen wie dem ‚rituellen Idiom‘ der Geschlechterinteraktion, dass die kosmologische Repräsentationsfunktion von Ritualen in Analogie zur Sprache und zum Sprechen einer Sprache vorgestellt werden kann. Die verschiedenen (Interaktions-)Ritualklassen (rituelle Kodes) verkörpern demnach – immer vermittelt, konkretisiert oder angepasst durch den (unter Umständen dramatisch) gestaltenden Akteur – praktische Deutungsmuster, mehr oder weniger komplexe Konstrukte, Welt- und Selbstbilder, wie z. B. die der (zivilisatorischen) ‚Normalität‘ oder der Geschlechtsidentität (vgl. Goffman 1967; 1981b). Zum anderen deutet Goffman die (Interaktions-)Rituale selbst185 als spezifische soziale Sinntypen, als praktische (Sinn-)„Rahmen“ (Goffman 1977b)186, die sich von anderen Rahmentypen (Sinnzusammenhängen) unterscheiden und zugleich mit ihnen verknüpft und verknüpfbar sind. Grüße, Beschimpfungen, Gebete, Gedenktage, Amtseinführungen usw. sind, „rahmenanalytisch“ (ebd.) gesehen, spezifische rituelle Rahmen, die jeweils als (Rahmen-)Regelsystem eine bestimmte Art der ‚intersubjektiven‘ Sinntransformation („Modulation“) anleiten. Die „RahmenAnalyse“ stellt einen formalen Zugang zur Sinnstruktur von Ritual-Rahmen dar und ermöglicht es, die Eigen- und Transformationslogik bzw. das Regelgefüge des jeweiligen Rituals aufzudecken. Sie fragt zudem als eine Art Praxisanalyse nach der Differenz und der praktischen Differenzierung von Rahmen und „Rahmung“, Sinnstruktur- und Handlungsebene/Interaktionsebene. In diesem Sinne sind die rituellen Formen und „Syntaxen“ (Goffman 1974b: 475) als Rahmen („Module“) vom empirischen Verhalten als Rahmung („Modulation“) zu unterscheiden: Die rituelle Rahmenebene, das ‚rituelle Idiom‘, impliziert ein Bedeutungs-, Verstehensund Handlungspotential, das in Rahmungen situativ zu aktualisieren und selek184 Platvoet spricht von „dichten, zentralen Kernsymbolen, die (…) ‚Schlüsselkonzepte eines ganzen Systems von Kultur und Glauben‘ darstellen“ (1998: 178). Die Bandbreite der „Systeme von Vorstellungen“ (Goffman 1977b), auf die Rituale als Manifestations- und Organisationsformen der Selbst- und Weltanschauung verweisen, reicht in der modernen (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft von politischen Doktrinen und ‚Unternehmensphilosophien‘ bis hin zu ‚Lebensphilosophien‘ oder ‚Anthropologien‘ jedermanns (z. B. ‚Geschlechteranthropologien‘). 185 Auf der Ebene der Interaktionsordnung zum Beispiel: Formen der „Ehrerbietung“, wie das Grüßen oder Komplimentemachen, oder Formen des „korrektiven Austauschs“, wie etwa die Entschuldigung (vgl. Goffman 1971a; 1974b). 186 Vom Ritual als Rahmen spricht auch Goethals (1998: 304).
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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tiv anzuwenden, ‚auszubuchstabieren‘ ist. Auf dieser Ebene kann metaphorisch von einem Sprechen der Sprache des Rituals gesprochen werden.187 Damit sind dann auch objektive und subjektive Wirklichkeiten bestimmbar und beschreibbar, die durch rituelle Rahmen und Rahmungen (Rituale/Ritualisierungen) hervorgebracht werden. Als formaler, kategorialer und methodischer Zugang zur symbolischen/rituellen Sinnkomplexität sozialer Praxis188 kann die Rahmen-Analyse die Figurationsanalyse sowohl ergänzen als auch – sozusagen als Rahmen höherer Ordnung – gebrauchen. Dies zeigt sich gerade im Hinblick auf die in ihrer Sinn(formen)entwicklung immer dynamischer und komplexer werdenden (Figurations-)Kulturen der ‚Gegenwart‘, insbesondere mediale Kulturen. Als Beispiel dafür mag ein relativ neues medienkulturelles Erzeugnis und Ereignis dienen, das zugleich für verschiedene Figurationen/Felder und deren Wandel steht: das ‚TV-Duell der Kanzlerkandidaten‘ (vgl. Jerkovic 2005). Es erweist sich bei näherer Betrachtung nicht nur als eine hoch und vielseitig symbolische, sondern auch als eine durchaus rahmenkomplexe Veranstaltung, in der verschiedene Rahmentypen (‚demokratischer Diskurs‘, Wettkampf, Werbung, Show) eine eigentümliche Synthese mit verschiedenen rituellen Rahmenvarianten bilden (Zeremonie, Imagepflege, Stigmatisierung, Rollendistanz, Interaktionsrituale des Benehmens, der Geschlechtsidentität usw.). Diese Veranstaltung stellt jedoch nur einen (relativ kleinen) Ausschnitt aus einem Komplex von Figurationen und Figurationsprozessen dar, die jene eigentümliche RahmenVerfassung (Sinn-Verfassung) erst verständlich machen und erklären können.189 Figurationsanalyse, Ritual-Analyse und Rahmen-Analyse sollten daher in diesem Fall in Verbindung und Verschränkung miteinander erfolgen.
187 Dies unabhängig davon, ob dieses ‚Sprechen‘ normkonform oder das Gegenteil davon ist. So erscheint, um ein Beispiel Goffmans zu geben, das Verhalten des Psychiatriepatienten, der seinen Wärter mit Kot bewirft, als eine Ritualisierung, die in ihrer (grob normverletzenden) „Art so perfekt ist wie eine galante, anmutige Verbeugung. Der Patient spricht bewußt oder unbewußt dieselbe Sprache wie die, die ihn gefangen halten“ (Goffman 1971a: 98). 188 Das heißt auch: Sinndifferenzierungen, Sinnschichtungen und Sinntransformationen. 189 Für fernere Beobachter mögen diese Medienprodukte daher, für sich genommen, ähnlich unverständlich sein wie das ‚Lever‘ des Königs in der ‚höfischen Gesellschaft‘ für heutige Beobachter.
256 5.3
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Figurationssoziologische Ritualtheorie und Ritualanalyse: Ritualisierungen, Deritualisierungen und Reritualisierungen
Eine figurationssoziologische Ritualtheorie und Ritualanalyse findet empirische Gründe, Anregungen und Arbeitsaufträge gerade auch im Blick auf die jüngere Vergangenheit der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ sowie in Bezug auf entsprechende sozialwissenschaftliche Beobachtungen und Deutungen, die sich wie jene Empirie durch Unübersichtlichkeit, Vielschichtigkeit und Ambivalenz auszeichnen. Aus figurationssoziologischer Sicht muss es in erster Linie darum gehen, den Gesamtzusammenhang der rituellen Verfassung(en) dieser Gesellschaft sowie deren Entwicklung im Gesamtzusammenhang des Verhältnisses von Sozio- und Psychogenese zu rekonstruieren, zu beschreiben und zu erklären. Diesbezüglich möchte ich im Folgenden auf eine fundamentale Zweiseitigkeit und Gegenläufigkeit von Prozessen und damit zugleich auf Relevanzen (und Schwierigkeiten) des Ritualthemas und der Thematisierung soziologischer Ritualthematisierungen im hier anvisierten Kontext hinweisen. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass einzelne Phänomene, wie z. B. Prozesse der Informalisierung, in der besagten Weise einer synthetischen Soziologie am besten soziologisch beurteilt werden können, also auch zu relationieren und zu relativieren sind. Von Bedeutung ist auch der Hinweis auf Punkte, in denen die figurationssoziologische Ritualtheorie der Moderne sich mit anderen Ritualtheorien und Ritualdiagnosen berührt, überschneidet und ergänzt oder sich als ergänzungsbedürftig erweist.
5.3.1
Deritualisierungen und Ritualtransformationen
Eine Seite der Medaille, um die es hier geht, sind historische Prozesse, die man auf den Begriff der Deritualisierung bringen kann. Erosionen, Form-, Funktions- und Akzeptanzverluste von Ritualen/Ritualisierungen sind ebenso unübersehbar wie häufig diagnostiziert worden. Typischerweise werden sie in sozialwissenschaftlichen Diskursen mit grundlegenden gesellschaftlichen Strukturwandlungen und Strukturbedingungen der Moderne (Modernisierung) in Verbindung gebracht (funktionale Differenzierung, Entinstitutionalisierung, Enttraditionalisierung, Säkularisierung, Individualisierung usw.) und auch als ein epochales Wesensmerkmal (‚Signatur‘) herausgestellt. So sprechen z. B. Krieger und Belliger (1998: 31) von einer chronischen „Krise der ‚rituellen Repräsentation‘“ in der Moderne. Historisch gesehen am offensichtlichsten und auch wichtigsten ist, jedenfalls im Hinblick auf die ‚westliche Zivilisation‘ Europas, der weitgehende und fort-
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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schreitende Verlust der religiös-kirchlichen Ritualordnung, Ritualbindung und Ritualpraxis. Die traditionellen Rituale kirchlicher Religion, die einmal tendenziell für die ganze Gesellschaft verbindlich, tragend und prägend waren, existieren bekanntlich fast nur noch, und fast nur noch in erheblich gelockerter Form, am Rande der (dieser) Gesellschaft. Das ‚allgemeine Publikum‘ entzieht sich, von einer immer kleiner werdenden Minderheit abgesehen, ihrer Performanz oder nutzt sie nur noch selten, nach eigenem Gutdünken und okkasionell190. Mehr oder weniger gleichzeitig, parallel zum religiösen Ritualverlust, der mit einem kosmologischen Sinngebungsverlust einhergeht, hat ein ebenso umfassender und ebenfalls fundamental bedeutsamer Prozess der zeremoniellen Informalisierung stattgefunden. Es sind also, wie Goffman formuliert, „überall Rituale gegenüber Repräsentanten übernatürlicher Entitäten ebenso im Niedergang begriffen wie extensive zeremonielle Agenden, die lange Ketten obligatorischer Riten implizieren“ (1974b: 97). Diese Entwicklung impliziert gesellschaftsweit nicht nur formale und inhaltliche (glaubensmäßige), sondern auch funktionale Leerstellen und damit spezifische Sinn- und Orientierungsprobleme, Desorientierungen und Störungen. Dies gilt für die alltägliche Lebensführung ebenso wie für die großen existentiellen Schwellen und Krisensituationen des Lebens, speziell für den Umgang mit Verlusten, Krankheit, Sterben191, Tod und Leid. Hans Peter Dreitzel deutet die betreffende ‚Anomie‘ vor allem vor dem kulturellen Hintergrund des religiösen Sinn- und Glaubensverlustes und stellt fest: „Die Verdrängung dieser Probleme aus dem sichtbaren Bereich unserer Gesellschaft und die Auflösung einer religiösen Verankerung ihrer Interpretation (der Interpretation von Krankheit und Tod, H. W.) haben eine Situation geschaffen, die sich durch fast völliges Fehlen von Verhaltensnormen gegenüber Kranken und Sterbenden auszeichnet. Die meisten Menschen ziehen sich vom Sterbenden zurück, besuchen ihn schlechten Gewissens nicht mehr, ja meiden selbst den bloß Kranken nach Möglichkeit, weil sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Und das kann ihnen nicht einmal verübelt werden: die großen Einbrüche in das normale Leben – Geburt und Tod, aber auch Krankheit, Krieg und selbst Heirat – entziehen sich mehr oder weniger jeder nicht religiösen Interpretation: alle Gesellschaften haben diese Einbrüche nur durch starke Ritualisierungen bewältigen können. Wird aber die institutionelle Verankerung dieses ritualisierten Verhaltens fragwürdig, dann bleiben nur noch schale Konventionen, wie sie bei Hochzeiten und Begräbnissen heute üblich sind. An sie klammert man sich umso stärker, als 190 In Krisensituationen, als Stimmungsfaktoren zu Weihnachten usw. 191 Vgl. dazu auch Elias: „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ (2003).
258
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie man nicht der puren Sprachlosigkeit verfallen darf, der zu entgehen nur die Flucht aus der Rollenbeziehung bliebe.“ (Dreitzel 1980: 257 f.)
Mit den religiösen Sinn- und Ritualverlusten werden also auch sozusagen Leistungen hinfällig und Funktionsstellen frei, die die modernen Funktionsnachfolger der Religion (Staat, Wissenschaft, Medizin, Psychologie, Beratung etc.), wenn überhaupt, nur teilweise äquivalent besetzen oder kompensieren können. Damit wächst der Verarbeitungs-, Bewältigungs- und auch (Be-)Handlungsdruck auf das Individuum – mit psychogenetisch prinzipiell offenem Ausgang und Möglichkeiten wie: (Selbst-)Disziplinierung/Zivilisierung und Individualisierung, aber auch Neurotisierung und Leiden.192 Symbolische bzw. rituelle Auflösungs- und Schwundprozesse mit Problemfolgen sind sozial wie soziologisch auch jenseits der Sphären des Religiösen und jenseits des im engeren Sinne Zeremoniellen wahrgenommen worden. Einschlägige (kultur-, zeit-)diagnostische Befunde beziehen sich insbesondere auf die Bereiche des ‚öffentlichen Lebens‘ bzw. der öffentlichen Interaktionsordnung und laufen seit der klassischen Soziologie der ersten Generation bis heute mehr oder weniger kontinuierlich unter Titeln wie „Primitivisierung“, „Manierenverlust“ (Gehlen 1957), „Niedergang der Ehre“ (Berger/Berger/Kellner 1975), „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1983) oder „Vergewöhnlichung“ (Weiß 2003). Auch Goffman, in dessen Werk ja die rituelle Organisation der (seiner ‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft eine Hauptrolle spielt, identifiziert problematische Verfallserscheinungen und Anomien des Rituellen: die Konsequenzen symbolischer „Grausamkeiten“ und „negativer Erfahrungen“ (Goffman 1977b) auf der Ebene der Interaktion. Goffmans ritualsoziologisches Werk kann auch als eine (Modernisierungs-)Diagnose und (Modernisierungs-)Theorie ritueller Formverluste, Desorganisationen, Störungen und Problemlagen gelesen werden. Elias und andere (mit ihm verbundene oder ihm nachfolgende) Vertreter der Figurationssoziologie sind ebenfalls in diesen Zusammenhang zu stellen. Cas Wouters hat diesbezüglich im Anschluss an Elias und im Blick auf die jüngere Gesellschaftsgeschichte (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg) den Begriff der „Informalisierung“ geprägt, unter dem er einen längerfristigen Trans- und Defor-
192 Elias und die Figurationssoziologie im Ganzen haben dieser Seite der gesellschaftlichen Entwicklung, wie der Religion überhaupt, nur wenig systematische Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei geht es hier auch um einen Kernbereich der gesellschaftlichen Wissensentwicklung (Wissenstransformation und Wissensdeformation, Habitus- und Mentalitäts(um)bildung), mit der es Elias (und die Figurationssoziologie) ja hauptsächlich zu tun hat.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
259
mationsprozess vor allem auf der Ebene der symbolischen/rituellen ‚Interaktionsordnungen‘ (Manieren) versteht. „Das schließt ein, daß viele Verhaltensweisen, die verboten waren, nun erlaubt sind und daß in Verhaltensbereichen wie geschriebene und gesprochene Sprache, Kleidung, Musik, Tanz und Haartracht sowohl das Verhalten als auch Empfindungen sehr viel weniger streng reglementiert sind als früher. Der Betrachter, der das Bild des gesellschaftlichen Lebens der früheren Generationen mit dem heutigen vergleicht, wird bemerken, daß in mancher Hinsicht das letztere sehr viel farbiger im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ist.“ (Wouters 1979: 282)193
Auch der späte Elias (1990: 31 ff.) spricht in Bezug auf „Veränderungen europäischer Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert“ – im ausdrücklichen Anschluss an Wouters (vgl. Elias 1990: 43) – von Informalisierung, ja von einem „Informalisierungsschub“ (ebd.: 43 ff.), den er wie Wouters vor allem nach dem zweiten Weltkrieg an Fahrt gewinnen sieht. Damit denkt und argumentiert er durchaus in der Logik seiner frühen Zivilisationstheorie, in der er etwa feststellt, dass mit und nach dem Untergang der ‚höfischen Gesellschaft‘ Beruf und Geld zu primären Prestigequellen werden und die Verhaltensverfeinerung im geselligen Verkehr korrelativ dazu als Prestigequelle an Bedeutung verliert. In seinen späten Überlegungen über „Zivilisation und Informalisierung“ konstatiert Elias unter starkem Rückgriff auf den Ritualbegriff einen noch weiter und tiefer gehenden Informalisierungsprozess – vor allem auf der Ebene der Interaktionsrituale, aber auch hinsichtlich der symbolischen Ordnungen im Allgemeinen.194 Die Logik der Informalisierung impliziert für ihn, dass Rituale/Ritualisierungen auf breiter Front, wenn sie nicht ganz verschwunden oder unverbindlich geworden sind, an Form (Geschlossenheit, Bestimmtheit), Verbindlichkeit und Funktionalität verloren haben. Damit stellt sich hier die Frage, wie es unter figurations- bzw. zivilisations(habitus)theoretischen Gesichtspunkten zu erklären ist und was es unter diesen Gesichtspunkten bedeutet, dass die Gesellschaft einen derartigen „Ent-Ritualisie-
193 Man kann demnach von einer gewissen kulturellen Liberalisierung und Pluralisierung und auch von kulturellem Liberalismus und Pluralismus sprechen. Toleranz ist im Zusammenhang dieser Entwicklung ein praktischer Schlüsselbegriff (geworden), und zwar nicht nur im Sinne von faktischer Duldung, sondern auch im Sinne einer Norm. 194 So weist er darauf hin, dass früher sehr komplexe und verbindliche allgemeine Rituale, wie etwa die der Anrede, aber auch spezielle Rituale, wie etwa die des „Hofmachens“ (Elias 1990: 53) zwischen den Geschlechtern, wenn sie denn noch existieren, „nur noch in sehr rudimentärer Form in Gebrauch“ sind (ebd.: 52).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
rungs- und Ent-Konventionalisierungsprozeß durchmacht, in dem die Sitten und Gebräuche immer flexibler, modeabhängiger und insgesamt ungewisser werden“ (Dreitzel 1980: 291). Elias (vgl. 1990: 33 ff.) und andere Figurationssoziologen und figurationssoziologisch inspirierte Autoren wie Dreitzel verweisen in diesem Zusammenhang vor allem auf den prinzipiellen gesellschaftlichen Strukturwandel (mit dem Untergang der gesellschaftlich und auch symbolisch herrschenden Oberschicht), auf fortschreitende und gesellschaftlich dominant werdende funktionale Differenzierungsprozesse195, auf Verschiebungen in der „Machtbalance“ zwischen sozialen (Groß-)Gruppen (z. B. zwischen den Geschlechtern) und auf Prozesse der Rationalisierung bzw. Mentalitätswandlung (‚Aufklärung‘196, der Siegeszug der ‚instrumentellen Vernunft‘). Eine besondere Bedeutung wird in diesen Zusammenhängen vielfach Individualisierungsprozessen beigemessen (s. o.). Diese Prozesse werden für Elias nicht zuletzt durch den Informalisierungsprozess angetrieben, aus dem und mit dem sich insbesondere neue Planungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsfunktionen und d. h. neue Freiheiten und Zwänge für das Individuum ergeben. Umgekehrt, und diesen Punkt hat Elias weniger im Blick, kann Informalisierung bzw. Entritualisierung auch als Effekt von Individualisierungsprozessen verstanden werden. Individualisierung und Individualismus drängen sozusagen auf die Aufhebung formeller Grenzsetzungen und ritueller Formen197 und werden gleichzeitig durch diese Aufhebung angefordert und angefacht. Auf der rituellen Ebene heißt das, dass das Individuum nun zunehmend selbst die Funktion und auch die performative Aktion des Rituals, der ‚Form‘ übernehmen muss oder übernehmen sollte. An
195 Teilweise ähnlich wie bereits Elias argumentieren modernere ‚Differenzierungstheoretiker‘ (wie etwa Luhmann), dass mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft – und d. h. auch mit der sozialen Mobilisierung ihrer Mitglieder – soziale Inklusions- und Integrationserfordernisse einhergehen, die als Lösungsmittel oder Sprengsätze traditioneller symbolischer Ordnungen bzw. Rituale wirken. Mit zunehmender Interdependenz und (d. h.) mit zunehmenden Koexistenz-, Kooperations- und Koordinationszwängen der Akteure müssen die Kommunikationen und Interaktionen auch aus figurationssoziologischer Sicht ‚sachlicher‘ und symbolisch/rituell formloser, unbestimmter und beweglicher werden. 196 Vor allem in seiner religiösen (Ur-)Form sowie als säkulare Etiquette/Zeremoniell widerspricht das Ritual dem ‚aufgeklärten‘ Bewusstsein. Für die Aufklärung ist der Ritus als solcher „ein Ärgernis. Der Ritus ist das Vernunftwidrige schlechthin“ (Hahn 1977: 75). Er steht zudem im Gegensatz zu modernen (Welt-)Anschauungen wie dem (aufgeklärten) Naturalismus, der (aufgeklärten) Würdemoral und der (aufgeklärten) Idee der ‚Selbstverwirklichung‘. 197 Rituale sind, wo sie nicht ganz verschwunden sind, nicht nur tendenziell offener und damit gestaltbarer geworden, sondern heute auch individualisierungs- und individualismusbedingt vielfach mit der ‚Auflage‘ verbunden, gar nicht als Rituale zu erscheinen, also entsprechend ‚kreativ‘ variiert und performiert zu werden.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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die Stelle einer Vielzahl früher selbstverständlicher, weil institutionell und habituell abgestützter Rituale/Ritualisierungen müssen als „funktionales Äquivalent (…) Ich-Leistungen“ und Eigenschaften der ‚Persönlichkeit‘ treten (Dreitzel 1980: 145), ist der Handelnde auch und gerade als Regisseur und symbolischer Performancekünstler gefragt bzw. als Subjekt, das seinem Verhalten und Leben Form gibt. Das heißt nicht zuletzt, dass dem Individuum – an der Stelle traditioneller Symbole und Rituale – „ein ‚persönlicher Stil‘ als Erkennungsmerkmal zugemutet“ wird (ebd.: 291). War einst die Etikette der ‚guten Gesellschaft‘ eine orientierende Verhaltensmatrix oder sogar „ein Verhaltenskorsett, das der individuellen Selbstdarstellung einen sicheren Halt bot“ (ebd.: 245), so muss sich heute jedermann – von solchen Ordnungen mehr oder weniger weitgehend ‚befreit‘ – sozusagen selbst erfinden und vorhandene symbolische Ressourcen entsprechend organisieren und gestalten. Informalisierung/Deritualisierung erweitert demnach zwar Toleranzen, Spielräume und Freiheiten, aber sie impliziert zugleich auch eine Art programmatische Anforderung und Anregung von Individualisierung und Zivilisierung. Sie bedeutet, so der Schluss des späten Elias, keineswegs einen „Übergang zur Regellosigkeit“ (Elias 1990: 60) oder gar „beginnende Rebarbarisierung“ (ebd.: 54), sondern vielmehr „einen Schub der Individualisierung“, keineswegs „Entzivilisierung“, sondern eher das Gegenteil davon. „Wenn man eine solche Wandlung als Entzivilisierung auffasst, dann“, so betont Elias, „beruht das auf einem Missverständnis der Zivilisationstheorie“ (ebd.: 60). Dem kann man folgen und dennoch konstatieren, dass der Zusammenhang zwischen Informalisierung/Deritualisierung einerseits und Zivilisation und Individualisierung andererseits keineswegs befriedigend geklärt ist. (Status-)Verunsicherung (als Informalisierungsfolge) wird von Elias selbst konstatiert (vgl. ebd.: 37); in zivilisatorischer Hinsicht liegen mindestens problematischer Überdruck und Überlastung als wahrscheinliche Folgen nahe – gerade auch wegen des Bedeutungsverlustes der Religion. Auch können die rituellen Ordnungsleistungen individualisierter Individuen kaum ein volles Äquivalent eingespielter ritueller Ordnungen darstellen. Ihr Ersatz ist immanent prekär und lässt das Individuum und die betreffenden Figurationen nicht zur Ruhe kommen.
5.3.2
(Re-)Ritualisierungen
Deritualisierungen bilden aber nur die eine Seite der Figurationsprozesse, um die es hier und in Folgendem geht. Ritualtraditionen, überformte und neue (Re-)Ritualisierungen und sogar Ritualismus bis hinein in die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ (und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
vielleicht besonders dort) sind die andere Seite, die von jener nicht unabhängig ist und ebenfalls größere und besondere soziologische Aufmerksamkeit verdient. Auf dieser Seite kann zunächst konstatiert werden, dass es neben und zusammen mit Deritualisierungen (rituellen Formverlusten, Anomien, Antiritualismen usw.) offensichtlich auch rituelle Kontinuitäten, Traditionen und Traditionspflegen, (ritual-)traditionalistische Milieus198 und Renaissancen historischer Rituale gibt (vgl. z. B. Schorch 2009). Es gibt auch auf verschiedenen Feldern (z. B. der Religion und der Wissenschaft) so etwas wie ritualistische Gegenbewegungen zu Entritualisierungstendenzen. Besonders zu beachten ist in diesem Zusammenhang der ‚Zeitgeist‘, der einmal in diese und ein anderes Mal in eine andere Richtung geht.199 Auf dem Gebiet der Rituale/Ritualisierungen sind polarisierte Bewegungen und Gegenbewegungen, Schwankungen und Moden gerade in der jüngeren Gesellschaftsgeschichte normal (vgl. Krieger/Belliger 1998: 10 ff.). Dementsprechend wichtig und schwierig ist es, diesbezügliche (zivilisatorische) Entwicklungstendenzen (‚Richtungen‘) überhaupt hypothetisch auszumachen und erst recht, sie unter Beweis zu stellen, einzuordnen und zu erklären. Der vermutlich wichtigste Bereich ritueller Kontinuität, aber auch eine Sphäre dynamischer Wandlung und Innovation von Ritualen/Ritualisierungen, ist die rituelle Interaktionsordnung des Alltagslebens. Bei allem Verfall und Verschwinden ritueller Ordnungen bleiben jedenfalls Goffman zufolge „kurze, von einem Individuum gegenüber einem anderen vollzogene Rituale, die Höflichkeit und wohlmeinende Absicht auf Seiten des Ausführenden und die Existenz eines kleinen geheiligten Patrimoniums auf Seiten des Empfängers bezeugen, kurz, was bleibt, sind interpersonelle Rituale“ (Goffman 1974b: 97 f.). Diese (Interaktions-) Rituale sind zwar variierbar und auch erodierbar, aber sie sind als solche auch außerordentlich hartnäckig existent. Wesentlich dürfte dies daran liegen, dass sie (zivilisatorisch) normalerweise habituell relativ tief verankert sind. Das hier gemeinte kontinuierliche ‚Ritualresiduum‘ hat im historischen (Modernisierungs-) Figurationsprozess wohl auch deswegen (und in dem Maße) Bedeutung behalten und sogar Bedeutung gewonnen, weil es durch die Bedingungen dieses Prozesses (Anonymisierungen, Entfremdungen, Mobilisierungen etc.) funktional wichtig geblieben oder wichtiger geworden ist. Auch die Tatsache, dass es in Medien198 Zu nennen sind etwa die Bereiche der Berufsstände, des Militärs, des ‚Hochadels‘ (und anderer ‚feiner Leute‘) oder der ‚Landsmannschaften‘. Die entsprechenden Rituale/Ritualisierungen bestehen nicht nur lebensweltlich-praktisch, sondern auch oder gerade als Medienthemen weiter. 199 Man denke etwa an die ‚68er‘ (‚Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren …‘). Der gegenwärtige ‚Zeitgeist‘ findet offenbar wieder mehr Gefallen an der Pflege ritueller Formen, an ‚gutem Benehmen‘ usw.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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erzeugnissen, die sozusagen als ritualkulturelle Foren fungieren (s. u.), permanent wiederholt und stilisiert wird, mag in diese Richtung wirken. Gerade hier zeigen sich auch überraschend stabile Ritual- bzw. Interaktionsritualtraditionen (vgl. z. B. Willems/Kautt 2003), ja es zeigt sich eine Art (interaktions-)ritueller Traditionalismus: rituelle und (damit) kosmologische Kontinuitäten, die viel weitreichender und tiefgreifender sind, als vielfach angenommen wird (in der Sozialwelt wie in den Sozialwissenschaften). Blickt man etwa auf das kulturelle Forum der massenmedialen Werbungen (s. u.) – auch als Fenster zu den rituellen Ordnungen der Lebenswelt –, dann erkennt man eine weitgehende Kontinuität, ja oft eine Privilegierung traditioneller ritueller Formen, und zwar selbst auf scheinbar so modernistischen Gebieten wie den Geschlechterdarstellungen. So kontinuieren z. B. die rituellen Hierarchisierungen/Asymmetrisierungen der Geschlechter (vgl. Goffman 1981b), die in der Werbung seit medialen Urzeiten Tradition haben, bis heute – wenn auch vielfach in einer (eher dünnen) Hülle scheinbar ‚emanzipierter‘ Semantik und Symbolik (vgl. Willems/Kautt 2003: 334 ff.).200 Die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ bzw. deren jüngere Vergangenheit zeichnet sich aber nicht nur durch gewisse Ritualtraditionen und Ritualtraditionalismen, sondern auch durch eine eigene Ritual- und Ritualisierungsproduktivität aus, die wiederum teils eher offen und teils eher implizit oder verdeckt ist. Zwar gibt es neben und mit schleichenden Prozessen der Entritualisierung auch so etwas wie kultivierten (oder auch unkultivierten) Antiritualismus und Ritualverachtung, die sich z. B. in der Rede vom ‚bloßen Ritual‘ und in der Hochschätzung des ‚bloßen (und rituell entblößten) Menschen‘ äußert. In anderen Diskursen und feldspezifischen Lebenspraxen aber werden der Wert und der Sinn des Rituals (im Sinne einer Performance) betont, und Rituale werden sogar zunehmend erfunden, weil man sich von ihnen Nutzen verspricht – in der Therapie, in der Erziehung, in der Schule, in 200 Als Beispiel nehme man die (Ritualisierungs-)Variante, die Goffman „spielerischer Angriff “ genannt hat und die ihm zufolge auf das ‚Urbild‘ des „Eltern-Kind-Komplexes“ verweist. In „Geschlecht und Werbung“ heißt es dazu: „Erwachsene spielen gern mit Kindern unernste Angriffsspiele wie Jagen-und-Fangen oder Haschen-und-Festhalten. Das Kind wird bei solchen Spielen wie ein Beutetier in den Klauen eines Raubtiers behandelt. Bestimmte Materialien (Kopfkissen, Wasserspritzer, leichte Strandbälle) dienen als Geschosse, die treffen, ohne zu verletzen. (…) Nun zeigt sich aber, daß Männer solche Spiele auch mit Frauen spielen, wobei letztere ein kollaborierendes Verhalten zeigen, das durch Fluchtversuche oder durch Warn-, Angst- oder Beschwichtigungsschreie gekennzeichnet ist“ (Goffman 1981b: 203). Bis heute ist dieses traditionelle rituelle Verhaltensmuster in der Werbe-Welt regelmäßig präsent; neuerdings sieht man es aber auch häufiger in umgekehrter Besetzung, nämlich mit dem Typ der ‚angreifenden‘ Frau bzw. dem Typ der ‚Herrin‘. In den meisten Fällen ist jedoch unschwer zu erkennen, dass diese Umkehrung als Modulation inszeniert wird: Durch ein spielerisches Sich-geschlagen-geben erscheint er weiterhin als eigentlicher Herr der Lage (vgl. Willems/Kautt 2003: 340).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
der Politik, in der Religion, in der Kunst usw. Diese Tendenz zeigt sich auch und gerade dort, wo ‚alte‘ Rituale erodiert sind, abgeschafft wurden oder ihre Funktionskraft verloren haben. Die christlichen Kirchen, die auf den Schwund und auf den Mentalitätswandel ihres Publikums sowohl mit Modernisierungen (insbesondere Flexibilisierungen und Individualisierungen) als auch mit Neuschöpfungen von Ritualen reagiert haben und reagieren, sind ein Beispiel dafür. Momente der symbolischen (Ritual-)Produktivität dieser Gesellschaft sind auch scheinbar eher spontan-innovative Ritualisierungen jedermanns, wie z. B. rituelle Trauerbekundungen im (dramatischen) Falle von verstorbenen Prominenten, Katastrophenopfern oder kindlichen Verbrechensopfern. Generell wird man feststellen können, dass die Prozesse der (Re-)Ritualisierung wie die der Deritualisierung sozio-kulturellen Differenzierungsprozessen und d. h. auch Entwicklungen von sozialen Figurationen und Feldern folgen. Beispiele dafür sind die (Sub-)Felder des Sports, etwa das Feld des heutigen (Fernseh-)Fußballs (vgl. Bromberger 1998; Schwier/Schauerte 2009; Gumbrecht 2009), oder auch das Feld der Politik, das heutzutage eher mehr denn weniger als je zuvor Erkenntnisgewinne unter ritualtheoretischen Gesichtspunkten verspricht. Ein anderes Beispiel sind neuere soziale Bewegungen und Gruppierungen wie die Ökologiebewegung und die Frauenbewegung (vgl. Northup 1998). Sie „nutzen die Kraft rituellen Handelns für die Schaffung von Identität und Gruppensolidarität in Subkulturen. In diesen und ähnlichen Zusammenhängen wurden viele ‚neue‘ Rituale entwickelt und bisweilen an die etablierten religiösen Gemeinschaften weitergegeben“ (Krieger/Belliger 1998: 11). Von größter Wichtigkeit dürfte in allen Kontexten der modernen Feld-Differenzierung von rituellen Ordnungen und (Re-)Ritualisierungsprozessen die Genese bzw. der gesellschaftliche Aufstieg formaler Organisationen sein (vgl. Luhmann 1964). Diesbezüglich ist es (wiederum) Goffman, der bis heute grundlegend wichtige ritualtheoretische Einsichten in moderne (Organisations-)Praxis und auch einen theoretischen und forschungsstrategischen Zugang dazu liefert. In „Asyle“ (Goffman 1973a) hat er die formale Organisationsvariante der totalen Institution auch unter ritualtheoretischen Gesichtspunkten fokussiert und gezeigt, dass, wie und warum dieser Organisationstyp sowohl habitualisierte rituelle Formen außer Kraft setzt und bricht als auch eigene rituelle Formen mit sich bringt und etabliert (Demütigungsrituale, ‚Enthüllungsetiketten‘, bestimmte Zeremonien etc.). Für Goffman bilden Rituale in diesem Fall sozusagen das Haus des Selbst und zugleich ein System der Organisation, das jenes ‚Haus‘ umfassend und grundlegend tangiert, benutzt, degeneriert und regeneriert. Grundsätzlich ist also Hans-Georg Soeffner zuzustimmen, wenn er der Vermu-
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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tung von Mary Douglas widerspricht, „daß wir, die modernen oder schon ‚postmodernen‘ Menschen und Gesellschaften uns in unterschiedlichen Formen eines Antiritualismus bewegten, wofür eine – zumindest oberflächlich erkennbare – Destabilisierung oder Umordnung überkommener gesellschaftlicher Ordnungsmuster und Hierarchien spräche“ (Soeffner 1995: 103). Dem von Douglas beschriebenen „‚Ritualismus‘“ einfacher Gesellschaften, d. h. einer „auf hochgradige Ordnung und Gliederung sozialen Verhaltens und eine gemeinsame Weltsicht hin orientierten Darstellungsform, die diese Weltsicht und Ordnung zugleich symbolisch repräsentiert“ (ebd.: 102), steht jedenfalls mit der modernen Gesellschafts- und Kulturverfassung nicht einfach nur seine Umkehrung gegenüber. Vielmehr bewegt man sich heute auch in unterschiedlichen ‚Ritualitäten‘ und ‚Ritualismen‘ – einschließlich eines tendenziell „undurchschauten Ritualismus“ (ebd.: 103). Die tradierten, die erneuerten und die neuen Formen ritueller Ordnung sind vermutlich ähnlich wesentliche Momente der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ wie deren Ritualdegenerierungen, Ritualverluste und rituelle Leerstellen. In diesem Zusammenhang mag man sogar mit Fischer-Lichte von einer eigentümlichen Theatralisierung der Gesellschaft in der Form ihrer „Ritualisierung“ sprechen, die in Korrespondenz und Interdependenz mit anderen Theatralisierungsprozessen steht. Das heißt, dass die insbesondere „für das 20. Jahrhundert zu konstatierende Theatralisierung weiter Lebensbereiche (…) häufig mit ihrer Ritualisierung einhergeht“ (Fischer-Lichte 2003: 28). Aus figurationssoziologischer Sicht greifen Vorstellungen wie die des ‚undurchschauten Ritualismus‘ oder der ‚Theatralisierung des Rituellen‘ allerdings zu kurz, wenn sie nicht auf konkrete Figurationen/Felder und Figurationszusammenhänge sozialer Praxis und zugleich auf übergreifende historische Figurationsprozesse bezogen werden. Auch die oben skizzierten ritualkulturellen (Teil-)Prozesse (der Deritualisierung, der Reritualisierung, der Ritualtransformation) können nur in diesem ‚Gesamtzusammenhang‘ verstanden, in ihrer relationalen und relativen Bedeutung eingeordnet und erklärt werden. In Bezug auf die jüngere Vergangenheit (‚Gegenwartsgesellschaft‘) lässt sich das damit Gemeinte vielleicht am besten am Beispiel der Medien bzw. der Mediatisierungen und der Medien(programm)kulturen verdeutlichen, die hier auch als solche besondere Aufmerksamkeit verdienen und Aufschlüsse versprechen. An diesem Beispiel sind jedenfalls alle angesprochenen Aspekte und Ebenen des Symbolischen/Rituellen aufzuzeigen – und zwar im Zusammenhang einer entwickelten und sich dynamisch weiterentwickelnden Feld-Figuration bzw. eines Zusammenhangs von Figurationen, dessen zentrale und wachsende sozio-kulturelle Bedeutung offensichtlich ist. Mit den Massenmedien geht es um soziale Figura-
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
tionen/Felder, die in den Bereichen des Symbolischen/Rituellen nicht nur vielfältig voraussetzungsvoll, interdependent und vernetzt sind, sondern auch eine relative Autonomie und eine eigene und expandierende (Wirk-)‚Mächtigkeit‘ besitzen. Sie bilden nicht zuletzt eine eigene, ausdifferenzierte und in sich differenzierte Sphäre des Symbolischen/Rituellen mit einer eigenen ‚Ritualität‘ und auch einer eigenen rituellen Destruktions- und Sprengkraft, und sie bilden eine Art Gegenpol zu der Sphäre und Ebene der ‚lebensweltlichen‘ Interaktionsordnung/Interaktionsrituale, die sie gleichzeitig transzendieren und als symbolisches Formenrepertoire der Inszenierung und Performanz reproduzieren und gebrauchen. Die Massenmedien scheinen also einer figurationstheoretisch (komplex) angelegten Symbol- und Ritual-Perspektive sowohl besonders zugänglich als auch besonders bedürftig zu sein. Dies, insbesondere der soziologische Sinn einer figurationstheoretischen Ritualperspektive, soll im Folgenden kurz angedeutet und veranschaulicht werden. Ich konzentriere mich dabei im Wesentlichen auf die Ebene der Medienkultur, nämlich die großen Erzeugnisklassen der massenmedialen ‚Kulturindustrie‘ (Werbung, Journalismus/Nachrichten/Berichte, Unterhaltung), die schon bei oberflächlicher Betrachtung als vielfältig symbol- und ritualgeladen erscheinen und sich einer entsprechenden Untersuchung aufdrängen.
5.3.3
Massenmedien
Eine figurationssoziologische Annäherung an die symbolischen/rituellen ‚Dimensionen‘ der Massenmedien kann also bei deren kulturellen Manifestationen ansetzen. Gegenstandsverständnis und Untersuchung müssen dann über deren Zusammenhänge mit den figurationsspezifischen/feldspezifischen Rahmenbedingungen ihrer Erzeugung und Kommunikation einerseits und den (habituellen) Dispositionen und Praxen ihrer Rezipienten/Publika andererseits erfolgen. Mit den Mitteln der entsprechenden Wissenssoziologie (s. o.) sind Medienerzeugnisse im Hinblick auf symbolische/rituelle Ordnungsaspekte zu rekonstruieren, die aufgrund der systematischen Publikumsabhängigkeit dieser Erzeugnisse mindestens teilweise auf ‚lebensweltliche‘ und (d. h.) habituell gespeicherte und reproduzierte symbolische/rituelle Ordnungen referieren. Diese müssen einen zentralen Bezugsrahmen oder Hauptbestandteil der Kultur der Massenmedien bilden, die diese Ordnungen jedoch nicht bloß wiederholen, sondern auf verschiedenen Ebenen vermitteln, indem sie in figurationsspezifischen/feldspezifischen Prozessen ihrer Verarbeitung und Aufbereitung Selektionen und Modulationen steuern. Verschiedene Mediengattungen greifen z. B. regelmäßig das spezielle rituelle
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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Formenrepertoire und Ritualwissen von Zeremonien (Hochzeiten, Begräbnisse, Festansprachen etc.) auf und bilden damit auch – möglicherweise mit dem Effekt von gesellschaftlichen (Re-)Zeremonialisierungstendenzen – eigene rituelle/ zeremonielle Räume, Praxen und Diskurstypen, z. B. in Form einer (expandierenden) Ehrungs- und Preisverleihungskultur oder einer (pseudo-)individualistischexpressiven Hochzeits(zeremonie)kultur (vgl. Reichertz 2009). Damit ist auch klar, dass Massenmedien nicht nur als theateranaloge Einrichtungen (mit Bühnen, Inszenierungen usw.) sondern auch auf der Ebene ihrer ‚Inhalte‘ in verschiedenen symbolischen/rituellen Hinsichten viel mit Theatralität bzw. Theatralisierung zu tun haben und dass ihre diesbezügliche figurationssoziologische Untersuchung mit einem entsprechend angepassten Theatralitätskonzept operieren kann und sollte (s. u.). Massenmedien sind vor diesem Hintergrund auch als rituelle Sinnperformatoren und Sinnanbieter zu verstehen, die sich – nicht nur, aber gerade auch – auf der Ebene ihres Sinnangebots durch eine Markt- und (Publikums-)Bedienungslogik mit zwei sozusagen auseinandergezogenen Seiten auszeichnen. Auf der einen Seite bieten sie mit ihren bereichs- und gattungsspezifischen (Symbol-)Performanzen (s. u.) einen systematischen und stetig wachsenden symbolischen Sinnraum und Sinn(gebungs)überschuss, und auf der anderen Seite eröffnen und steigern sie Selektions-, Wahl- und Nutzungsfreiheiten für die Sinnempfänglichen und/ oder Sinnbedürftigen, die sich damit sozusagen zielgenau und immer zielgenauer mit Sinn versorgen (lassen) können. Man kann Massenmedien wie dem Fernsehen imsofern auch eine religionsanaloge oder quasi-religiöse Funktion oder Funktionsfähigkeit unterstellen (vgl. Thomas (Hg.) 2000), die sich dadurch als eine gewissermaßen modernisierte qualifiziert, dass der (individualisierte) Sinnbedürftige subjektiviert wird. In der massenmedialen Figuration wird das Individuum als (allerdings habituell bedingter) ‚Sinnbraucher‘ und Sinnsucher zum (allerdings habituell bedingt) selbst bestimmenden, nämlich wählenden, ab- und umwählenden, Sinnverbraucher. Die Massenmedien – mit dem Fernsehen als ‚Leitmedium‘ – bilden nicht nur „kulturelle Foren“ (Newcomb/Hirsch 1986), die vorgegebene symbolische/rituelle Sinnbestände performativ wiederholen, sondern auch eigene symbolische/rituelle (Sinn-)Räume. Sie haben jeweils auch eigene symbolische/rituelle Strukturen und Sphären, Felder und Ökonomien entwickelt, die im Verhältnis zueinander wie zur Welt jenseits der Medien relativ autonom sind. Eingeschlossen in diese symbolische Realität der Massenmedien, die mindestens auf der Oberfläche vielfältiger, varianten- und abwechslungsreicher ist als der lebenspraktische Alltag, ist ihre Identität und Funktion als „ritueller Grenzbereich“ im Sinne Victor Turners. Das
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
heißt: Mit den Massenmedien bzw. dem Fernsehen gibt es – analog zum Theater – „eine Art Niemandsland, in dem man sich weder ganz außerhalb der Gesellschaft noch wirklich innerhalb ihrer Grenzen befindet, einen Freiraum, in dem Regeln strapaziert oder gar gebrochen werden können, in dem sich Rollen umkehren und Kategorien umstoßen lassen“ (Newcomb/Hirsch 1986: 180). Allerdings ist dieser ‚Freiraum‘ begrenzt, sind die Grenzen der Spielräume der symbolischen/rituellen Realitäts(de)konstruktion der Massenmedien durchaus stark und systematisch gezogen. Es handelt sich hier also bei aller immer auch zugelassenen und nötigen Kreativität der medialen Akteure („Symbolverkäufer“) nicht um einen eigentlichen Freiraum, in dem ‚Spieler‘ völlig selbstbestimmt agieren oder willkürlich eine Demontage des sogenannten gesunden Menschenverstandes betreiben könnten. Vielmehr muss in den massenmedialen Publikumsadressierungen eben dieser ‚Verstand‘, diese (Normalitäts-, Habitus-)Dimension von Kultur gerade auch durch symbolische/rituelle Konstruktionen, die immer auch aus unterschiedlichen Traditionsquellen schöpfen, bereichsspezifisch rational und pragmatisch bedient werden.201 Das entsprechende produktive und kreative Handeln der Medienakteure erfolgt also aus der Gesetzmäßigkeit bestimmter Figurationen bzw. (Handlungs-)Felder heraus, die mit dem Handlungszweck auch die Logik der Publikumsadressierung und damit die symbolische/rituelle Performanz bestimmen. Drei ebenso traditionsreiche wie aktuelle Beispiele seien kurz und andeutungsweise betrachtet: die großen massenmedialen Programm-Bereiche Werbung, Journalismus/Nachrichten/Berichte und Unterhaltung.
5.3.3.1
Werbung
Die heutige Werbung ist ein relativ autonomes soziales Feld mit einer eigenen Kultur202 und einer speziellen und spezialisierten (Medien-)Kulturproduktion, die schwerpunktmäßig symbolische/rituelle Performanzen einschließt. Ihre professionellen Akteure müssen aufgrund und im Sinne ihrer feldspezifischen Zweck- und Handlungslogik, nämlich bestimmte Publika zu bestimmten Handlungen (z. B. 201 Die Sphäre der Unterhaltung bietet schon wegen ihrer ‚künstlerischen (Fiktionalisierungs-)Freiheiten‘ insgesamt den größten Spielraum für Variationen, Abweichungen und Experimente im Symbolischen/Rituellen. Jedoch muss es auch hier darauf ankommen, beim Publikum ‚anzukommen‘. Dessen Moral oder Geschmack setzt also Grenzen, stellt Erfolgsbedingungen dar und legt Erfolgsrezepte nahe, z. B. in der Produktion von Komik durch Ritualbrüche. 202 Eigenen Rollen, Status, Images, Formen symbolischen Kapitals usw.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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Käufen) zu motivieren, immer auch die symbolischen/rituellen Ordnungen und Wissensbestände dieser Publika strategisch gezielt aufgreifen und instrumentieren. Diese Ordnungen sind sozusagen das Medium des Werbungshandelns, aus dem sich neben und mit dem bloßen Verstehen auch das Glauben (Glaubwürdigkeit), das Wollen und Wünschen (Begehren) des jeweiligen Publikums ergeben soll und ergeben kann. Die Werbung tendiert daher geradezu zur Zelebrierung von entsprechenden Teilen der symbolischen/rituellen (Grund-)Ordnungen ihrer Publika, die sie als Basis und als bewegenden Inhalt ihrer Performanzen verarbeitet: vor allem als Ressourcen der Verständlichkeit, der Überzeugung und der Motivation, von deren Ausprägung der strategische Wert der werblichen Mitteilungen und Darstellungen abhängt. Goffman hat das Ergebnis dieser Operations- und Funktionslogik der massenmedialen Werbung mit dem Begriff der „Hyper-Ritualisierung“ belegt (vgl. Goffman 1981b) und behauptet, dass es sich bei der Werbung um eine Art soziale Zeremonie handelt, durch die eine Gesellschaft sich selbst, d. h. ihre aktuellen symbolisch-kosmologischen Ordnungen und Ordnungsgrundlagen, in verdichteter Form zum Ausdruck bringt. Als eine ritualisierte, abgekürzte und dramatisch verdichtete Selbstthematisierung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft oder auch einer ihrer (Groß-)Gruppen spiegelt die Werbung demnach entsprechend wirklichkeitsgrundlegende Vorstellungen, insbesondere Identitäts-, Norm-, Normalitäts- und Paradiesvorstellungen (von Selbstverwirklichung, Liebe, Gesundheit, Jugendlichkeit, Reinlichkeit usw.)203. Diese Vorstellungen (Ideen) gehen also nicht von der Werbung aus, sondern vom Publikum und werden dem Publikum durch die werbemedialen Performanzen, hinter denen natürlich strategische (Spezial-)Akteure stehen (professionelle Beobachter, Dramaturgen usw.), in Variationen zurückgespiegelt. Das heißt allerdings nicht, dass die Werbung nicht auch als symbolischer/ritueller Grenz- und sogar Transzendenzbereich fungieren kann. Tatsächlich ist dies der Fall und seit einiger Zeit sogar zunehmend der Fall, so dass bereits vom Typ der provokativen Werbung die Rede ist (vgl. Jäckel/Reinhardt 2002). Wenn die neuere Werbung symbolische Grenzen204 berührt, rituelle Rahmen bricht, Rollen 203 Diese Vorstellungen der Werbung sind im Prinzip so vielseitig und komplex wie die der Publikumskultur, die ‚zitiert‘ (moduliert) wird. Ein besonderer Bereich und Haltepunkt im Bereich des Rituellen sind z. B. die jedermann bekannten zeremoniellen Anlässe des Feierns und die Feiertage. Mittlerweile scheint es vor allem die Werbung zu sein, die durch die Inszenierung romantischer Skripts das öffentliche Bewusstsein von Feiertagen wie Weihnachten und Ostern lebendig hält und prägt. 204 Der Selbst- und Fremdachtung, der Scham und Peinlichkeit usw.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
umkehrt und Kategorien umstößt, dann geschieht dies jedoch – immer noch – nur ausnahmsweise und aus ‚guten‘ strategischen Gründen, nämlich vor allem, um feldspezifischen Aufmerksamkeitsknappheiten entgegenzuwirken und Aufmerksamkeitsprobleme zu lösen.205 Wiederum in stilisierter, hyperritualisierter Weise wird dann unter anderem mit Elementen von jedermanns habitueller ‚Normalritualität‘ bzw. mit den entsprechenden Erwartungen gespielt – heute schon bis hin zu massiven Rahmenbrüchen und eklatanten Provokationen (vgl. Willems/Kautt 2003: 94 ff.).206 Auch sie spiegeln in gewisser Weise, nämlich mit umgekehrten Vorzeichen, die symbolische/rituelle Publikumskultur. Normalerweise aber bildet die heutige Werbung nach wie vor alles andere als einen symbolischen/rituellen Grenzbereich, sondern vielmehr so etwas wie einen Zentralbereich, der bei aller Differenzierung und Diversifizierung der Zielgruppen und Zielgruppenansprachen die symbolischen/rituellen und damit kosmologischen ‚Kerne‘, ja die symbolische Identität der jeweiligen (‚Gegenwarts-‘) Gesellschaft oder (Groß-)Gruppe formuliert, überhöht und tendenziell verklärt. Damit fungiert die Werbung als eine Art Überbau und auch als „Stützkonstruktion“ (Berger/Luckmann 1969) gesellschaftlicher Wirklichkeit – als ein Überbau, der den Unterbau von Publikums-Habitus gleichsam anzapft und zugleich permanent und immer wieder neu mit symbolischem/rituellem Sinn und symbolischen/ rituellen Bestätigungen und Informationen versorgt. In gewissem Maße mag die Werbung damit auch jene Desorganisationen und Anomien kompensieren können, von denen oben unter Titeln wie Deritualisierung und Informalisierung die Rede war.207
5.3.3.2
Journalismus/Nachrichten und Berichte
Ähnlich wie die Werbung kann auch der heutige Journalismus (des ‚Westens‘) als ein relativ autonomes soziales Feld mit einer eigenen, in ‚Subkulturen‘ zerfallenden Kultur und einer speziellen und spezialisierten Kulturproduktion betrachtet wer-
205 Aus diesen systematischen Knappheiten und Problemen resultieren systematische Variationszwänge der Werbung. Diese ist ebenso wie andere Typen der Medienkommunikation immer und zunehmend „darauf angewiesen, neue Einfälle in die stereotypen Darstellungsmuster zu bringen“ (Newcomb/Hirsch 1986: 184). Spiele mit symbolischen Grenzen sind natürlich nur eine Strategie, dies zu tun. 206 Deren Aufmerksamkeitsgewinne sind allerdings riskant und können mit strategisch kontraproduktiven Imageverlusten erkauft sein. 207 Die im engeren Sinne religiösen Ritual- und Sinngebungsverluste eingeschlossen.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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den, die schwerpunktmäßig symbolische/rituelle Performanzen einschließt. Und ähnlich wie die kultur(industriell)produktive Praxis der Werbung (der Werber) erscheint auch die des Journalismus (der Journalisten) in feldspezifischer Weise auf Publika und Publikumskulturen bezogen, die jeweils eine bestimmte Art der Kultur(industrie)produktion und damit hauptsächlich auch symbolische/rituelle Performanzen bedingen, limitieren und mitbestimmen. Die massenmediale Programmsphäre der Nachrichten und Berichte bzw. das Produktfeld des Journalismus ist ein symbolischer/ritueller Ordnungs-, Praxisund Funktionsbereich eigener Art, dessen Besonderheit auf der Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeitsgeltung und Wirklichkeitskonstruktion liegt. Die Realitätslogik (die ‚Rahmung‘, das ‚Gesetz‘) dieser Sphäre und damit auch der ihr entsprechenden Sphäre des Symbolischen/Rituellen unterscheidet sich von der der Werbung und Unterhaltung grundsätzlich durch ihren doppelten Wahrheitsanspruch: nämlich wahr zu sein und Wahrheit – als Nachricht oder Bericht – zu bezwecken. Wird in Bezug auf Werbung und Unterhaltung prinzipiell Unernst oder sogar Unwahrhaftigkeit208 unterstellt und unterstellt, dass dies unterstellt wird, so ist der Bereich der Nachrichten und Berichte prinzipiell auf Wahrheit gepolt und zur Wahrheit, Wahrheitsherstellung und Wahrheitsdarstellung verpflichtet und verpflichtend. Das bestimmt auch seine symbolischen/rituellen Implikationen, Bedeutungen und Funktionen, die sich auf praktische Fragen und Probleme der Wirklichkeit beziehen und entsprechende (Wirklichkeits-)Wirkungen auf Publika nach sich ziehen. Symbolische Formen/Rituale bzw. Interaktionsrituale sind im Kontext journalistischer Erzeugnisse (Nachrichten und Berichte) zunächst in ähnlicher Weise von Bedeutung wie in den anderen Programmbereichen: als Bezugsrahmen und scheinbar eher nebensächliche Aspekte der (journalistischen) Performanz. Die ganze immer noch und immer wieder enorme Bandbreite von sozial tatsächlichen Ritualen und Ritualisierungen spielt auch in den journalistischen Benachrichtigungen und Berichterstattungen eine Rolle. Rituale/Ritualisierungen tauchen hier im Zusammenhang von ‚pragmatischen‘ Welt-Thematisierungen auf, sind also im Unterschied zur Werbung oder zu bestimmten Unterhaltungsgattungen nicht systematisch (hyper-)stilisiert oder (hyper-)ritualisiert, sondern mindestens tendenziell ‚unverfälscht‘. Allerdings ist diese (auch diese) journalistische Repräsentation wiederum keine eigentliche Abbildung der Wirklichkeit (des Rituellen), sondern hat einen durchaus systematisch einseitigen Charakter. So privilegieren die Nachrichten des Fernsehens aus Gründen, die in der Logik ihres Feldes und in ihrer 208 Manipulationsabsichten im Falle der Werbung.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Eigenlogik als medienkommunikative Gattung liegen, zeremonielle Anlässe und Zeremonien (Paraden, Amtseinführungen, Gedenkveranstaltungen etc.) sowie spezifisch ‚aussagekräftige‘ Interaktionsrituale, z. B. küssende, weinende oder klagende Menschen. Ähnlich wie die Bildkommunikation der Werbung nimmt auch die des (Fernseh-, Presse-) Journalismus das Symbol- und Ritualwissen des Publikums in Anspruch und nutzt es sozusagen kommunikationstechnisch – zur Erleichterung, Beschleunigung und Verkürzung der Kommunikation. Die Performanzen und die Performatoren dieser medialen Späre bzw. dieses Programmbereichs verfügen auch über eigene rituelle Formen, die allerdings – jedenfalls zu einem großen Teil – ihrerseits auf (publikums-)‚lebensweltliche‘ Rituale und Ritualisierungen (als ‚Urbilder‘) zurückgehen und sich zurückführen lassen. Ausgehend von einer Ritualtheorie der ‚lebensweltlichen‘ Interaktion (speziell im Anschluss an Goffmans Ritualbegriff ) kann man also auch danach fragen, wie in entsprechenden medienkommunikativen Gattungen, etwa Nachrichten oder Kommentaren, die rituellen Formen, Ordnungen und Bedeutungen dieser Interaktionsebene (selektiv) aufgegriffen, modifiziert und eventuell ergänzt werden. Wenn Fernseh-Journalisten z. B. Betroffenheit und Mitgefühl (angesichts des von ihnen immer wieder kommunizierten ‚Elends der Welt‘) oder auch besondere Achtung zum Ausdruck bringen, dann bedienen sie sich – normalerweise im modulierenden Rahmen einer spezifischen Neutralitäts- und Sachlichkeitsdramaturgie – jenes „rituellen Idioms“, das auch Teil der ‚lebensweltlichen‘ Interaktion ist. Gerade mit der (fernseh-)bildmedialen Renaissance des Körpers bzw. der symbolischen/rituellen Korporalität (s. u.) ist diese Ausdrucks-Dimension journalistischer Praxis wichtiger oder überhaupt erst wichtig geworden. Sie betrifft natürlich nicht nur die Journalisten selbst, sondern auch die, über die sie berichten, bzw. die, die sich (wie die Politiker und andere Image-Arbeiter) der journalistischen Berichterstattung als ‚Medium‘ bedienen (wollen, müssen). Auch und gerade solche ‚Akteure‘ müssen sich ihrer bildlich repräsentierten symbolischen/rituellen Bedeutungsträgerschaft und ihrer entsprechenden Bedeutungsgeneratorenfunktion bewusst sein und über dieses reflexive ‚Bewusstsein‘ hinaus ein entsprechendes expressives/präsentatives Management der Eindrucksmanipulation betreiben, wenn sie (Publikums-)Erfolge erzielen wollen. Gleichzeitig und auf einer anderen Ebene kann im journalistischen Feld und in seinen Erzeugnissen als solchen eine eigene rituelle (Sinn-)Dimension und Funktion gesehen werden, die es hier wiederum einzuschätzen und einzuordnen gilt. Journalisten sind als eine bestimmte Klasse ritueller Akteure zu verstehen, die im Rahmen entsprechender kommunikativer und zeremonieller (Medien-)Formen (Nachrichten, Reportagen, Live-Übertragungen, Kommentare etc.) als Welt-Deu-
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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ter fungieren und zu Gunsten des (allgemeinen oder speziellen) Publikums kosmologischen Sinn generieren. Carolyn Marvin spricht in diesem Zusammenhang in Bezug auf verschiedene journalistische Mediengattungen von „Medienritualen“ und sieht insbesondere in den täglichen Fernsehnachrichten einen für die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion und Wirklichkeitsstabilisierung „wesentlichen Teil des Ritualsystems der Nationalstaaten – auch dann wenn sie diese nicht allein erhalten können“ (Marvin 2000: 187). Auch Gregor Goethals schreibt den Massenmedien, speziell dem Journalismus, in diesem (rituellen) Sinne eine kosmologische Schlüsselrolle zu: „In pluralistischen, demokratischen Gesellschaften haben die Nachrichtenmedien zunehmend die Rolle übernommen, Bilder der Wirklichkeit zu gestalten und zu präsentieren“ (Goethals 1998: 317).209 Der Journalismus ist damit auch als ein rituelles Funktions- und Operationsfeld zu verstehen, das schwerpunktmäßig Antworten auf publikumskulturell bedingte Sinnfragen und Sinnprobleme der Praxis versucht und liefert. Hier geht es insbesondere um die Be- und Verarbeitung von (sozial) beobachteten und thematisierten ‚negativen Ereignissen‘, von ‚zeitnahen‘ Einbrüchen, Zusammenbrüchen und Bedrohungen von Normalität, von Risiken, Gefahren und Krisen der verschiedensten Art. In einer ständig irritierten und irritierenden, abweichungs- und problembewegten (‚Gegenwarts-‘)Welt, einer Welt der Ungewissheiten, Enttäuschungen, ‚sozialen Probleme‘, Katastrophen, Nöte und Erstaunlichkeiten, die der Journalismus bei aller ihm immanenten Konstruktivität und Theatralität immer auch wahrnimmt210, liefern Journalisten (Sinn-)Verständnisse, ‚Ansichten‘, scheinbare Aufklärungen und Erklärungen, schaffen sie (Ein-)Ordnung und kommunizieren sie Problemlösungen oder die Aussicht darauf. Damit fungieren sie auf den Ebenen der Gesellschaft und der Gruppen religionsanalog, partiell auch religionsäquivalent und religionskompensativ – ähnlich wie die Psychotherapeuten auf der
209 Diese Rolle spielt der Journalismus natürlich nicht – und immer weniger – allein, sondern neben und mit anderen kosmologischen Sinngeneratoren, die in anderen Figurationen (Feldern) situiert sind, nicht zuletzt in Interdependenz-, Komplementär- und Kooperationsverhältnissen mit anderen selbst- oder fremdernannten Welt-Deutern wie – vor allem – den Vertretern der Wissenschaft. Der Journalismus fungiert der Wissenschaft in kosmologischer Hinsicht durchaus analog, und er ergänzt und verstärkt sie in diesem Sinne auch. Wissenschaft und Journalismus sind, in je besonderer Weise, auf Wahrheit gepolt und produzieren permanent und extensiv Wahrheiten und Wahrheitseindrücke, die relevante Wirklichkeitsbilder implizieren und nach sich ziehen. Auch Journalisten betrachten sich und gelten ja gewissermaßen als (Nach-)Forscher, die Entdeckungen und Erkenntnisse machen (‚recherchieren‘) und mit Aufklärungsansprüchen kommunizieren. 210 Das heißt: nicht erfindet.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Ebene des (sinn-, orientierungs-, entlastungs- und beruhigungsbedürftigen) Individuums (vgl. Willems 1994).211 Allerdings ist diese rituelle Funktionalität journalistischer (Text- und Bild-) Produktion – Sinngebung, Orientierung, Ordnung, Komplexitätsreduktion, Angstreduktion – nur die eine Seite der Medaille. Andererseits tun und bewirken Journalisten, wiederum in der Logik ihres Feldes und (Feld-)Zwecks, auch das genaue Gegenteil davon: Sie fokussieren und dramatisieren Abweichungen, Absonderlichkeiten, Abscheulichkeiten, Brüche, Probleme, Risiken; sie verschärfen Komplexitätsund Kontingenzbewusstsein, schüren Ängste, lösen Skandale aus, demontieren Autoritäten (und damit deren Funktionalität), verunsichern, verwirren, beunruhigen, verängstigen. Man könnte also sagen, dass Journalisten bei allen ihren kosmologischen Ordnungs-, Reparatur- und Stabilisierungsleistungen auch kosmologische Irritatoren und Sinndegeneratoren sind. Sie tragen in gewisser Weise zu einer permanenten Verunsicherung, Verkrisung, ja symbolisch-imaginären Verelendung der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft bei. Wie die Werbung Ideal-, Norm-, Normalitäts- und Paradiesvorstellungen privilegiert und kultiviert212, so privilegiert und kultiviert der Journalismus Vorstellungen negativer (Gegen-)Welten, gerade auch gewisse Horror- und Höllenvorstellungen, die angesichts ihrer angenommenen Sachlichkeit und Wahrheit besonders beunruhigen und belasten können. So schafft und reproduziert der Journalismus – aus systematischen Feld(figurations)gründen – auch die Nachfrage nach seinen gleichsam gesellschafts- und gruppentherapeutischen Mitteln, Diensten und Leistungen.
5.3.3.3
Unterhaltung
‚Unterhaltung‘ ist schon lange – und heute mehr denn je – die mit Abstand umfangreichste und zugleich die gattungsmäßig vielfältigste Programmsphäre der Mas-
211 Abnehmer dieser Funktion und dieser ‚Leistung‘ sind Publika, die dafür nichts weiter tun müssen, als die an- und dargebotenen (Sinn-)Produkte wahrzunehmen und zu glauben. Hinsichtlich der journalistischen Sinnangebote gilt aber auch, was oben allgemein über massenmediale Sinnangebote gesagt wurde: Der Abnehmer und Verbraucher ist buchstäblich und in allen Hinsichten entscheidend. 212 Die Welt der Werbung ist bekanntlich typischerweise (von Ausnahmen und aufmerksamkeitsökonomisch bedingten Gegentendenzen abgesehen) eine schöne, gute und freundliche Welt, in der es zwar auf das beworbene Produkt bezogene (also lösbare) Probleme gibt, aber eben im Allgemeinen nur solche.
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
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senmedien213, deren symbolische/rituelle Komponenten entsprechend ausgeprägt und differenziert sind. Auch diese Mediensphäre verweist mit ihren Produktklassen auf ein bestimmtes soziales Feld214, das sie hervorbringt und ‚unterhält‘, und sie verweist ebenso auf Publika, die sie wollen, brauchen und benutzen – wie umgekehrt das Feld und die Produzenten der Unterhaltung (ihre) Publika brauchen und daher entsprechend bedienen. Wie die anderen massenmedialen Programmbereiche ist also auch der Unterhaltungsbereich als eine Sphäre symbolischer/ritueller Formen und Ordnungen zu verstehen, die sich in Interdependenzverhältnissen mit publikumskulturellen Dispositionen (Habitus) befunden und entwickelt hat und befindet und entwickelt. Diese Dispositionen bedingen und bestimmen die Unterhaltsamkeiten und Unterhaltbarkeiten, die Unterhaltungswünsche und Unterhaltungsurteile des Publikums und damit letztlich auch die medialen Unterhaltungserzeugnisse. Sie (mitsamt allen symbolischen Implikationen) müssen vor allem publikumsspezifische Moral-, Schicklichkeits- und Geschmacksvorstellungen berücksichtigen und mehr oder weniger habituell präformierte Bedürfnisse/ Wünsche/Lüste anregen und bedienen. In diesem Fall führt die (figurationssoziologische) Analyse der diversen medienkulturellen Angebote also vielleicht am direktesten zur Zivilisations(habitus) theorie215, die gerade und besonders von Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit auf den Plan gerufen und zugleich in gewissen Punkten irritiert wird. Blickt man etwa auf neuere oder neuerdings sich vermehrende Fernsehunterhaltungsgattungen wie die der ‚Comedy‘, der ‚Casting Shows‘, der ‚Camp Shows‘, der ‚Koch Shows‘ (vgl. Kautt 2010) oder der Talk Shows, dann zeigt sich jedenfalls schnell, dass sie stark und systematisch unterschiedlich symbolisch/rituell geordnet und geladen sind, dass symbolische/rituelle Themen und Ordnungsformen, z. B. Strukturen lebensweltlicher Interaktionsordnungen, hier vielfach in ganz verschiedenen Richtungen, die sich als Stile diskriminieren lassen, dramatisiert, stilisiert oder bis zur Entstellung moduliert werden.216 Zumindest auf den ersten Blick macht 213 Die Expansion der medialen Unterhaltung ist natürlich auch eine Komponente und ein Ausdruck der ‚Erlebnisgesellschaft‘, die aus ihren medialen Bereichen und Spiegelungen auch Impulse für die ‚lebensweltliche‘ Erlebnis(konsum)praxis erhält. Die mediale ‚Erlebnisgesellschaft‘ fungiert auch gewissermaßen als Überbau der gelebten ‚Erlebnisgesellschaft‘, die sich in diesem Überbau gewissermaßen selbst bestätigt und feiert. In der medialen Unterhaltungssphäre könnte man insofern auch (und auch insofern) eine rituelle oder quasi-rituelle Funktion sehen. 214 Mit vielen und immer mehr Subfeldern. 215 Man ist versucht zu sagen: ‚Sage mir, was Dich unterhält, und ich sage Dir, wie zivilisiert Du bist oder wie Du zivilisiert bist‘. 216 Darauf wird im Folgenden im Kontext von Theatralität und Theatralisierung bzw. Enttheatralisierung noch näher eingegangen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
die jüngere Fernsehunterhaltung in diesen Hinsichten den Eindruck nicht nur von Vielfalt und nicht nur von inkonsistenter Vielfalt, sondern auch von einer extremen und extremer werdenden Gegensätzlichkeit und Kontrastierung, die zentrale Zivilisations- und Zivilisationstheoriethemen berührt und betrifft. Auf der einen Seite findet man etwa scheinbar hohe und erhöhte Grade der Subtilität, der Feinheit und der Sensibilität des sprachlichen und expressiven Verhaltens, ‚Niveauthemen‘ und entsprechend ‚gepflegte‘ (Selbst-)Thematisierungen, starke Ausprägungen moralisch-emotionalen Mit- und Einfühlens, ‚praktische Psychologien‘ und Psychologisierungen, Kultivierungen von Umgangsformen, (‚ästhetische‘) Selbst- und Lebensstilisierungen (neuerdings speziell im Rahmen von Koch- und Esskultivierungen). Auf der anderen Seite häufen sich z. B. derbe und derbste ‚Geschmacklosigkeiten‘, ‚Primitivitäten‘ und ‚Primitivisierungen‘, Obszönitäten (längst nicht nur im sexuellen Bereich), absichtliche und bildlich direkte Ekelerregungen, symbolische (wenn nicht physische) Grenzverletzungen, ja Gewaltakte, Formen der basalen Image-Verletzung, der Demütigung und Verspottung von Menschen und ähnliche zivilisatorisch signifikante Heruntermodulationen symbolischer/ritueller Ordnungsniveaus, die dem jeweiligen Publikum – tendenziell erfolgreich – zur Unterhaltung, zum Vergnügen, zur Belustigung, zum Lustgewinn vorgeführt werden. Es scheint angesichts der relativen Ausprägung (Krassheit), Zunahme oder Neuheit der hier gemeinten symbolischen/rituellen Phänomene, seien sie ‚negativer‘ oder ‚positiver‘ Art, klar, dass sie (de-)zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch bedeutsam sind, dass sie mit sozio-kulturellen Entwicklungen/Wandlungen bzw. Figurations- und Habitus-Entwicklungen zusammenhängen, aber es ist bisher alles andere als (figurations-, zivilisations-)soziologisch genau geklärt, was sie zu bedeuten haben. Unübersehbar ist jedenfalls gerade, aber nicht nur, im Bereich der Unterhaltung die (relative) Aktualität, Zentralität, Komplexität und Heterogenität symbolischer/ritueller Ordnungs- und Praxisthemen als zivilisatorischen und zivilisationstheoretischen Themen. Im Kontext moderner und modernster Medien-Figurationen sind sie generell – auch jenseits des Unterhaltungsbereichs – nicht nur auf diese und von diesen bezogen, sondern verweisen schließlich auch auf Figurationen realer und lebendiger Menschen und damit auf differentielle Habitusformen (zurück). Man gelangt hier also zu komplexen figurations- und zivilisations(habitus)analytischen Fragestellungen, die alle Seiten der allgemeinen Figurationstheorie ansprechen und in Anspruch nehmen – nicht zuletzt die Seite der sozio-kulturellen Differenzierung bzw. der Schichtdifferenzierung/Klassendif-
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
277
ferenzierung und damit der Lebensstile und Mentalitätsformen/Habitusformen (‚Sickermodell‘, s. o.).217
5.4
Figurationsrituale und Ritualfigurationen
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Ritualtheorie als Theorie symbolischer Ordnungen und Praxen in sehr grundlegenden Hinsichten von der – allerdings weiterzuentwickelnden – theoretischen Gesamtanlage und Gesamtvision der Figurationssoziologie profitiert und dass umgekehrt diese Gesamtanlage und Gesamtvision aus der weiteren (synthetischen) Ausarbeitung der Ritualtheorie Nutzen ziehen kann. Der Nutzen der Figurationssoziologie für die Ritualtheorie liegt zunächst und vor allem darin, den Begriff und die Rede von Ritualen, Ritualisierungen, Symbolen usw. zu entsubstanzialisieren und mit der Umstellung auf die Perspektive und Begrifflichkeit der Figurationstheorie zugleich zu relationieren, zu differenzieren und zu präzisieren. Die figurationstheoretische Ritual-Perspektive führt zu einer radikalen, komplexen und mehrdimensionalen Kontextualisierung von Ritualen/Ritualisierungen, die als soziale Kontexte und aus sozialen Kontexten in Bezug auf (historische) Prozesse (Phasen, Epochen), Felder, Gruppen und Akteure wie auch auf entsprechend unterschiedliche soziale Seins- und Wirklichkeitsebenen verstanden werden. Diesbezüglich könnte man von Figurationsritualen sprechen, um zu unterstreichen, dass Rituale/Ritualisierungen nicht an sich und nicht ohne weiteres der Fall sind, sondern in gewisser Weise buchstäblich nur als Momente verschiedenartiger sozialer Praxis- und (Beziehungs-)Ordnungszusammenhänge, die ihren sozusagen konstitutionellen Grund und Hintergrund bilden. Das heißt z. B. davon auszugehen und darauf abzuzielen, dass die Funktionen218 von Ritualen/Ritualisierungen in allen ihren Aspekten Funktionen figurationaler Zusammenhänge sind. Als ein figurationssoziologisch anschlussfähiger und spezifisch nützlicher Ansatz der Kontextualisierung und Kontextanalyse erweist sich (auch) in diesem Zusammenhang die Goffman’sche Rahmen-Analyse. Sie bildet einen begrifflichtheoretischen und methodischen Zugang zu den praktischen (Ritual-) Sinn217 Dass von hier aus auch Wege zu prominenten Kultursoziologien der Moderne (und zurück) führen, liegt auf der Hand. 218 Die Reihe der Funktionen, die Ritualen und Ritualisierungen zugeschrieben werden, ist lang und macht insgesamt wenig soziologischen Sinn, solange die soziale (Figurations-)Systematik der Rituale/Ritualisierungen ausgeblendet oder verkürzt wird, aus der sich ihre Funktionalität ergibt, sich entwickelt und wandelt.
278
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
kontexten und (Ritual-)Sinnkontextierungen, die sich sozusagen auf der Ebene synchroner Figurations-Praxis abspielen, die sich aber auch mit dem historischen Figurationsprozess entwickeln und systematisch wandeln. Indem sie einen Ansatz zur Differenzierung von objektiven sozialen Sinnstrukturen, Seins- und Wirklichkeitsstatus darstellt und dabei die Praktikabilität, Variabilität, Wechselbarkeit und subjektive Handhabbarkeit von sozialen Sinntypen und Sinnkontexten mitreflektiert, empfiehlt sich die Rahmen-Analyse auch als ein strategischer Beitrag zu einer adäquaten/adäquateren Untersuchung und theoretischen Fassung der rituellen Realitäten und des ‚undurchschauten Ritualismus‘ moderner (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaften. So erschließen sich z. B. die rituellen Sinnkomplexitäten und Prozesse der alltäglichen Interaktion, aber auch etwa die (Sinn-)Transformationen alltagspraktischer Interaktionsrituale in speziell (um-)strukturierte Interaktionsrahmen wie die Psychotherapie oder in mediale Rahmen wie die Werbeanzeige. Die Rahmen-Analyse taugt also in besonderer Weise zur wissenssoziologischen bzw. sinnsoziologischen Perspektivierung und Analyse sozialer Formen und (Trans-) Formationen der rituellen Sinnorganisation und des entsprechenden (Rahmungs-) Wissens. Als Ritualwissenssoziologie wird sie umso brauchbarer und dringender gebraucht, je mehr Sinnkomplexität und je mehr sinnpraktische Kontingenz und (Wandlungs-)Dynamik sich im historischen Prozess, rituelle Tatsachen und Rahmungen (Klammerungen) ausmachend und betreffend, aufbauen. Figurations- und Rahmen-Analyse können sich in diesen Sachbezügen also ergänzen, miteinander einhergehen und – als theoretisch-methodologische Synthese – zur Aufklärung von sozialen Sinn- und Wissenszusammenhängen beitragen, die ihrerseits einen synthetischen Charakter haben und in dieser Eigenschaft historisch immer komplexer, vielfältiger, variabler und dynamisch-veränderlicher werden. Die obigen Überlegungen und gegebenen Beispiele deuten bereits an, dass die Realität des Rituellen immer weniger in Analogie oder in Anlehnung an die ursprüngliche Tatsache oder Modellvorstellung des religiösen Rituals gedacht werden kann, sondern im Fortgang der Gesellschafts- und Kulturgeschichte sehr viel beugsamer, flexibler und dynamischer gefasst werden muss – als Realität von Ritualisierungen sehr verschiedener und immer verschiedener werdender Art, Form, Funktion und Einbettung. Genau dies ist hier mit – figurationssoziologischer – Kontextualisierung gemeint und möglich. Heutzutage ist diese theoriefundierte und (ritual-)theoriefundierende Operation mehr denn je erforderlich. Ihr Gegenstand ist, bedingt vor allem durch sozio-kulturelle Differenzierungs- und Mediatisierungsprozesse, vielfältiger, voraussetzungsvoller, variabler und variierter denn je, mehr denn je auch (sinn-)eingeklammert und (damit) verhüllt, ambig, hybrid
Rituale und (Ent-)Ritualisierungen
279
oder Moment komplexer Sinnschichtungen, die sich typischerweise in mehr oder weniger dynamischer Wandlung befinden. Die hier fokussierte Thematik stellt also nicht nur, aber immer auch eine Aufgabe und Herausforderung für die Wissenssoziologie bzw. die figurationssoziologische Wissenssoziologie und deren Entwicklung dar. Rituale/Ritualisierungen sind Wissenstypen (Sinntypen) und verweisen auf Wissenstypen (Sinntypen) gleicher oder ähnlicher und vielfältig anderer Art sowie auch auf diverse Wissensfelder, (kulturelle) Wissensforen/Wissensbühnen und Wissensspeicher/(kulturelle) Gedächtnisse. Dazu gehören z. B. die spezifisch gerahmten und rahmenden Massenmedien, die Ritual-Wissen – in lockerem Zusammenspiel, aber auch Gegenspiel, mit dem Gedächtnis/Wissensspeicher der Habitus – aufheben wie auch tangieren, verarbeiten, verbreiten und einschärfen. Ritualen/Ritualisierungen ist insofern prinzipiell eine systematische und vielseitige Abhängigkeit, aber auch eine relative Eigenständigkeit zuzuschreiben, eine Eigenständigkeit, die in den Formen ihrer kulturellen Aufhebung liegt (den Gedächtnissen der Medienperformanz, der kulturellen Traditionspflege, der Habitus/Gewohnheiten usw.). Die figurationstheoretische Ritual-Perspektive führt damit und darüber hinaus auch zu einer radikalen und mehrdimensionalen (Inter-)Aktorialisierung, die – immer im Zusammenhang mit den genannten Kontextualisierungen – wiederum mehrere Seiten einschließt. Eine Seite ist die des Akteurwissens, einschließlich bestimmten Rahmungswissens und einschließlich der Aspekte der Orientierung und der Kompetenz bzw. der Urteilskraft, die hier natürlich die (figurationssoziologische) Habitustheorie aufrufen. Sie erklärt praktisches Ritualwissen und Ritualkönnen aller Art. Viele, aber längst nicht alle und wohl immer weniger Rituale/ Ritualisierungen sind habitualisiert, aber jede rituelle Manifestation oder Performanz trifft auf Wahrnehmungen, Wahrnehmende (z. T. Publika) und (Be-)Handelnde, deren Reaktionen mindestens auch habituell bedingt oder bestimmt sind (s. o.). Darüber hinaus geht es in diesem Zusammenhang um rituelle (Inter-)Akteure als – teilweise strategische – Subjekte oder Agenten auf und von Feldern und um rituelle Publika, die ihrerseits nicht nur wahrnehmen, sondern auch – symbolisch/rituell bedeutsam – agieren. Damit kommt auch wiederum die Vorstellung von Ritualitäten/Ritualisierungen als symbolischen Kapitalformen und symbolischen (Klassen-, Konkurrenz-)Kämpfen ins Spiel, wie sie neben Elias insbesondere Goffman und Bourdieu formuliert haben. Für die Massenmedien und gerade auch für das Medium Internet gilt jedenfalls, dass sie auch und zunehmend symbolische Kampfplätze, Arenen und Schauplätze von symbolischen und ritualisierten Kämpfen sind, auch wenn ihre symbolische/rituelle Sinnkomplexität, Wirklichkeit
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und Praxis in dem oben skizzierten Sinne weit davor liegt und weit darüber hinaus geht. Die Massenmedien und das Internet fungieren und entwickeln sich nicht zuletzt als Basen von Ritualen/Ritualisierungen der Vergemeinschaftung, der Solidarisierung und sogar der kollektiven Identitätsbildung (in kleinerem oder großem Maßstab). Insofern es sich bei den rituellen Momenten figurationaler Zusammenhänge um Momente in und von – mehr oder weniger langfristigen – Entwicklungen handelt, könnte man nicht nur von Figurationsritualen, sondern auch von Ritualfigurationen sprechen – im Sinne von historischen Prozessen der Strukturierung und Restrukturierung von rituellen Strukturen bzw. Ritualzusammenhängen oder Ritualklassen. Sie, z. B. die alltäglichen Interaktionsrituale oder die politischen Herrschaftsrituale, haben in ihrer konkreten Gegebenheit eine Form-, Sinn- und Funktionsgeschichte, die als Zivilisationsgeschichte rekonstruiert wurde und weiter zu rekonstruieren ist.219
219 Man kann eine Ritualgeschichte als Zivilisationsgeschichte und eine Zivilisationsgeschichte als Ritualgeschichte schreiben (was Elias ansatzweise getan hat). Damit stellen sich Fragen nicht nur nach den historischen Entwicklungsbedingungen, den Entwicklungsverläufen und den Wandlungen von Ritualen/Ritualisierungen, sondern auch nach analogen Strukturen und nach den Leistungsfähigkeiten und Leistungsunfähigkeiten eventueller Struktur- und Funktionsnachfolger. Als solche kommen auf der Ebene der modernen Gesellschaft z. B. die Wissenschaft, die Technik, das Geld und das Recht in Betracht und sind entsprechend (unter symbolischen/rituellen Gesichtspunkten) zu betrachten.
6
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
Die sozial- und kulturwissenschaftlich220 ebenso zentrale wie komplexe und verweisungsreiche Begrifflichkeit des Stils – Stil als Verhaltensstil, kognitiver Stil, Handlungsstil, Epochenstil, Lebensstil, (Selbst-)Stilisierung usw.221 – und die damit angezeigten sozio-kulturellen (Entwicklungs-)Tatsachen bilden einen weiteren Schwerpunkt der geplanten Arbeiten. Dieser Schwerpunkt setzt die entfaltete und zu entwickelnde figurationssoziologische Konzeptapparatur und Theorie-(Re-) Konstruktion voraus, führt sie weiter und setzt sie ein, um die Begrifflichkeit des Stils auszuarbeiten und um umgekehrt jene Konzeptapparatur und Theorie-Konstruktion anhand dieser Begrifflichkeit zu elaborieren. Im Folgenden möchte ich vor allem die Rolle des Stilbegriffs im Kontext der Figurationssoziologie skizzieren und Umrisse einer figurationssoziologischen Stiltheorie markieren, die sich durch Anschluss- und Integrationsfähigkeit auszeichnet. Für diesen Arbeitszusammenhang gibt es also hauptsächlich theoretische Gründe. Sie bestehen zunächst darin, dass der Stilbegriff sowie entsprechende Konzepte und Gegenstandsdefinitionen (wie Symbol, Geschmack, Scham, Distinktion usw.) wesentliche, sozusagen architektonisch tragende Teile der Figurationssoziologie bzw. der Zivilisationssoziologie sind und zugleich Brücken zu benachbarten und auch zu konkurrierenden Ansätzen darstellen. Die Figurationssoziologie versteht ihren Gegenstandsbereich teils explizit, teils implizit als einen Bereich von (Lebens-, Verhaltens-, Denk-, Emotions-, Handlungs-)Stilen; sie arbeitet mit Stilbegriffen und weist ihnen durch die Verknüpfung mit ihren (anderen) Grundbegriffen spezifische Bedeutungen und Funktionen zu. Besonders zu beachten ist hierbei die (im Folgenden ausführlicher thematisierte) Assoziation der Stil-Begrifflichkeit mit dem Habitusbegriff sowie mit den Begriffen Figuration, Feld, Schicht/Klasse (als sozialen Strukturbegriffen), Kapital (s. o.) und
220 Das heißt: soziologisch, geschichtswissenschaftlich, kommunikationswissenschaftlich, medienwissenschaftlich, theaterwissenschaftlich usw. 221 Von der multidisziplinären und interdisziplinären (Diskurs-)Bedeutung und Tradition dieses Begriffs zeugt etwa der 1986 unter dem schlichten Titel „Stil“ erschienene monumentale Tagungsband von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, der einen Umfang von fast 800 Seiten hat.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Distinktion.222 Die Figurationssoziologie bildet auch einen Rahmen, innerhalb dessen der Stilbegriff durch die Vernetzung mit mehr oder weniger weit entfernten Begrifflichkeiten (und Theoriezusammenhängen) wie Netzwerk/Szene/Spezialkultur, Mentalität, Diskurs, Semantik, Rahmen, kommunikative Gattung, Skript, Ritual oder Deutungsmuster wichtige Spezifikationen, Kontextierungen und Ergänzungen erfahren kann. Ein derart informierter Stilbegriff kann umgekehrt eben solche Deutungsmittel und letztlich die Figurationssoziologie überhaupt ergänzen und steigern. Stile, Verhaltensstile, Lebensstile, (Lebens-, Selbst-)Stilisierungen usw. sind hier aber auch schwerpunktmäßig – und im Zusammenhang mit ihrer Konzeptualisierung – als empirische Themen von Interesse, die im Kontext der Figurationssoziologie vor allem die Gegenstandstheorien der Zivilisation und der Individualisierung223 auf den Plan rufen. Im Blick auf Figuration(en) der modernen (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft stellt sich vor diesem Hintergrund vor allem die Frage nach den Bedeutungen der sozialen Entwicklungen und Wandlungen, die unter dem (Ober-)Titel des Stils (Lebensstil, Lebensstilgruppen, Lebensstilsemantik, Stilisierung usw.) oder in enger Verbindung mit ihm (unter Titeln wie Milieu, Theatralität, Image usw.) konstatiert worden sind und werden.224 (Lebens-)Stil bzw. (Lebens-, Selbst-)Stilisierung wird ja vielfach geradezu als Signatur der jüngeren Gesellschaftsgeschichte (sozio-kulturellen Entwicklung) und dementsprechend auch als theoretischer und analytischer Schlüsselbegriff verstanden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen damit die – von Elias und auch noch Bourdieu mehr oder weniger vernachlässigten – Figurationen der Massenmedien, deren Untersuchung besondere, auch (figurations-)theoretisch schwerwiegende Fragen aufwirft. Sie betreffen sowohl die Figuration(en) der Massenmedien als solche als auch deren kulturelle (Wissens-)Implikationen. Zum Beispiel: Welches (Lebens-)Stil-Wissen greifen die Massenmedien aufgrund welcher Strukturbedingungen wie auf, und wie verarbeiten sie es in ihren Performanzen ? Welche Bedeutung kann die stilistische Medien-Performanz für die (Lebens-)Stilsozialisation der Publika haben ? Oder: „Über welche Öffentlichkeiten konstituieren sich heute
222 Von zentraler Bedeutung ist diesbezüglich natürlich die Feld/Habitus-Theorie Bourdieus, die den Stilbegriff bzw. den Lebensstilbegriff (allerdings durchaus in der Tradition von Elias) in den Mittelpunkt ihrer Argumentation rückt. 223 Und damit Aspekte und Konzepte wie Selbstzwang, Selbstbewusstsein, Scham und Peinlichkeit, (kulturelles) Kapital, Status, Prestige, Distinktion usw. 224 Zeitlich rückt insbesondere die (relativ) jüngere Vergangenheit seit dem zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Lebensstilgruppen, und welchen Stellenwert haben (Massen-)Medien als symbolische Verstärker von Lebensstildifferenzen ?“ (Fröhlich/Mörth 1994: 11). Es muss im Folgenden bzw. in den geplanten Arbeiten also auch immer wieder um Fragen der figurationssoziologischen Deutung der empirischen Bedingungen, Möglichkeiten, Grenzen und Formen von (Lebens-)Stilen, Stilbildungen und (Lebens-, Selbst-) Stilisierungen gehen und darum, welche theoretische und instrumentelle Rolle in den entsprechenden sozialwissenschaftlichen Diskursen die Figurationssoziologie spielen kann. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht jedoch das Bemühen um Klärungen, Anschlüsse und konzeptuelle Vernetzungen des Stilbegriffs in dem skizzierten theorieprogrammatischen Rahmen der Entwicklung der Figurationssoziologie. In ihr sehe ich nicht zuletzt eine Perspektive für eine grundsätzliche Revision, Neuordnung und Neuorientierung der nicht nur unübersichtlich und disparat gewordenen, sondern auch in Sackgassen steckenden sozialwissenschaftlichen/soziologischen Lebensstildiskurse. Angesichts von scheinbar unüberbrückbaren Antagonismen, Trennungen und Konfliktlinien könnte sich die Figurationssoziologie auch in diesem Zusammenhang als eine Art Lösungsmittel und zugleich als Bindemittel erweisen. All dies setzt grundsätzlich voraus, den Stilbegriff – ähnlich wie etwa die komplementären Begriffe Ritual und Deutungsmuster – für einen fundamental weitreichenden und zugleich entwicklungsfähigen (Grund-)Begriff zu halten und ihn nicht, wie etwa Thomas Luckmann (1986a)225, auf die Ebene der „Gestaltung“ zu beschränken. Es ist zu zeigen, dass ein über diese Ebene hinausgehender, differenzierter und zu differenzierender Stilbegriff, wie ihn Alois Hahn (1986) mit seiner Unterscheidung zwischen „impliziten“ und „expliziten Stilen“ anvisiert hat, gerade angesichts fortgeschrittener und fortschreitender sozio-kultureller Differenzierung, (d. h.) Verflechtung/Interdependenz, Mediatisierung und Individualisierung besonders notwendig und nützlich ist. Den Stilbegriff auf die Ebene der ‚Gestaltung‘ zu reduzieren würde ihn einerseits von den habituellen Dispositionen und ihren lebenspraktischen (Verhaltens-, Interaktions-)Korrespondenzen abziehen, auf die er sich besonders gewinnbringend anwenden lässt. Andererseits würde man sich so auch einen Zugang zu dem zentralen und immer wichtiger werdenden Zusammenhang zwischen dieser Ebene und der der ‚Gestaltung‘, speziell der
225 Und in seiner Kontinuität und Nachfolge eine ganze Reihe von Wissenssoziologen, z. B. Ronald Hitzler mit seinem Konzept des (stilistischen) „Sinnbastelns“. Für Hitzler ist Stil dadurch definiert, dass sich mit ihm eine „Gestaltungsabsicht verknüpft. Erst wenn das, was ist, weil es (warum auch immer) sein muss, überhöht wird zu etwas, was (auch) sein soll, entsteht ‚Stil‘“ (Hitzler 1994: 80).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
massenmedialen Performanz226, verschließen. Eben diese Ebene soll im Folgenden anhand eines empirischen Feldes von Stilen und Stilisierungen exemplarisch betrachtet werden.
6.1
Praktische und theoretische Stilbegriffe, Stilformen und Stilwissen
In der modernen Soziologie gehört der Stilbegriff zwar nicht wie etwa Sozialisation, Norm oder Rolle zu den klassischen (kanonisierten) Grundbegriffen, aber er ist ein durchaus wichtiger Teil der soziologisch ‚gepflegten Semantik‘. Das gilt vor allem für den Begriff des Lebensstils, der in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zu einem geradezu inflationär verwendeten Schlüsselbegriff in der Soziologie und in den Sozial- und Kulturwissenschaften überhaupt wurde, sondern auch so etwas wie einen Paradigmawechsel, einen neuen Denkstil in diesen Wissenschaften markiert. Darüber hinaus häuft sich die Verwendung des Stilbegriffs in einschlägigen Spezialdisziplinen und Spezialdiskursen – in der Kultursoziologie, in der Wissenssoziologie und in denjenigen Sozial- und Kulturwissenschaften bzw. ‚Soziologien‘, die sich ganz oder hauptsächlich mit bestimmten Bereichen wie ‚Ästhetik‘, Medien, Kunst, Konsum, Architektur, Kleidung/Mode, Jugend oder Körper befassen. Auch in den praktischen Selbst- und Weltbeschreibungen jedermanns, in lebensweltlichen Alltagsdiskursen und alltäglichen Mediendiskursen sind Varianten des Stilbegriffs schon lange fest verwurzelt und offenbar zunehmend und zunehmend spezifisch gängig. Man spricht heute z. B. oft – Stilbewusstsein und Bewusstsein von Stilbewusstsein indizierend – von Lifestyle und von Styling; man sieht und unterscheidet auch etwa (teilweise im Gefolge sozialwissenschaftlicher Diskurse) Lebensstile, Politikstile, Führungsstile, Ernährungsstile oder Erziehungsstile und belegt sie typischerweise mit wertenden Begriffen. Regelmäßig (dis-) qualifiziert man ein Tun oder Lassen (anderer) als ‚guten Stil‘227 oder ‚schlechten
226 Die Massenmedien sind es ja, die im sinnverarbeitenden Rückbezug auf Habitus und ‚Lebenswelt‘ und in darauf bezogener sinngebender Performanz von zunehmender Bedeutung für die Realität der (Lebens-) Stile und (Selbst-)Stilisierungen geworden sind und werden. 227 Gemeint ist mit solchen Ausdrucksweisen normalerweise – und durchaus im Sinne sozialwissenschaftlicher Begriffsverwendung – eine sich in Handlungen entfaltende Haltung und die Gebundenheit oder Selbstbindung an eine Form. Auch eine zivilisatorisch signifikante moralische/ normative Idee von Selbstbeherrschung und „starkem Charakter“ (Goffman 1971a) schwingt hier oft mit. Unter Druck, in der Krise, im Scheitern Haltung und Form zu wahren wird in unserer Gesellschaft als ‚Stil haben‘ im Allgemeinen (immer noch) hoch geschätzt.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Stil‘. Diskriminationen und Identifikationen dieser Art haben nicht nur einen evaluativen, sondern auch einen reflexiven, ja einen geradezu analytischen Charakter. Dass die Alltagsverwendung und Alltagsdiskursivierung des Stilbegriffs und von bestimmten Stilbegriffen tendenziell zugenommen hat, kann auch als soziologisch signifikantes Symptom einer praktischen Reflexivierung, einer Relevanzoder Wertsteigerung der (Form-)Kategorie Stil und/oder als Symptom praktischer Stilzwänge, Stilprobleme, Stilverluste (Entstilisierungen) oder Stilkrisen gedeutet werden. Stilaspekte und Stilfragen sind jedenfalls in vielen Bereichen mindestens bedeutsamer, bewusster, reflektierter und expliziter geworden. Es wird heute allgemein, wenn auch zugleich sozial sehr differenziert, mehr ‚Wert‘ auf Stil oder (Selbst-)Stilisierung gelegt; es gibt ein historisch einmalig weit verbreitetes Stil-, Stilpluralitäts- und Stilkontingenzbewusstsein und auch so etwas wie einen – dieses Bewusstsein fördernden – alltäglichen Stil-Imperativ, der gleichzeitig an (general-)normalistischen, (groß-)gruppenspezifischen und individualistischen Modellen, Idealen und Postulaten ausgerichtet ist. Jedermann soll auf verschiedenen Gebieten nicht zuletzt seinen eigenen Stil haben und pflegen – und gerät damit jeweils in besonderer Weise unter (Selbst-)Beobachtungs-, (Selbst-)Reflexions- und (Selbst-)Stilisierungsdruck. Schwerpunktmäßig geht es hier also wiederum um verschiedene gesellschaftliche und gruppenspezifische Wissensformen bzw. Stilwissensformen. Diesbezüglich sind zunächst und immer wieder praktische und theoretische (soziologische, sozialwissenschaftliche) Stilbegriffe zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. In einer wissenssoziologischen Betrachtung beider Begriffsebenen wird mit figurationssoziologischen Deutungsmitteln zu versuchen sein, praktische oder auch praktische Stilbegriffe als (gleichsam symptomatische) Indikatoren oder Funktionen sozialer (Struktur-)Tatsachen, Entwicklungen und Wandlungen zu lesen und zu ‚übersetzen‘.228 Neben (praktischen) Stil-Semantiken und Stil-Diskur228 Elias hat das Auftauchen und die Karriere von alltäglichen Begriffen und Redewendungen als Hinweise auf soziale Wandlungen gedeutet oder als entsprechende ‚symptomatische‘ Indikatoren betrachtet. Vor allem neue Begriffe, Begriffsbedeutungen oder Häufigkeiten bestimmter Begriffsverwendungen können ihm zufolge in diesem Sinne verstanden und als (figurations-)soziologischer Ansatzpunkt verwendet werden (s. o.). Beispiele dafür sind im Kontext von Stil Begriffsschöpfungen und/oder Begriffsveralltäglichungen wie Lifestyle, Styling, Design, Performance oder auch Lebensstil. Sie stehen dafür oder deuten darauf hin, dass sich ein spezifisches Wissen und (Kontingenz-, Problem-)‚Bewusstsein‘, eine praktische Reflexivität und ‚Relevanzstruktur‘ von Stil/Stilisierung, aber auch eine gewisse Distanz dazu verbreitet und gesteigert haben. Begriffe wie Lifestyle bringen neue oder gewandelte Wirklichkeiten, Attitüden und Erfahrungen auf den Punkt und machen sie kommunizierbar. Sie sind ‚Symbolmittel‘, die, wenn auch mehr oder weniger vieldeutig, auf geteilte Bedeutungen und Sinnzusammenhänge verweisen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sen sind hier aber auch sozusagen primäre, dem Verhalten/Handeln immanente Stile und Stilbildungen der verschiedensten Art, die den beteiligten Akteuren selbst gar nicht als solche vorkommen, in das soziologische Gegenstandsspektrum eingeschlossen. Diese wie jene Stiltatsachen gilt es vor dem Hintergrund grundsätzlicher terminologischer Klärungen, vor allem einer Bestimmung allgemeiner ‚Strukturmerkmale‘ von Stil, figurationssoziologisch zu erschließen – mit Hilfe des besagten figurationstheoretischen Rahmens und des entsprechenden Netzwerks von Begriffen. Einige grundlegende stilbegriffliche und gegenstandstheoretische Ausgangspunkte können hier schon andeutungsweise formuliert werden: 1. Stile sind soziale Tatsachen und Manifestationen bzw. Kulturtatsachen. Sie haben auf der ‚primären‘ Ebene, im wahrnehmbaren Verhalten/Handeln, wo sie als Haltungen „eher expressiver als instrumenteller Natur sind“ (Hahn 1986: 603), soziale Bedeutungen und Wirkungen. 2. Die praktische (Selbst-)Feststellung (Zuschreibung) eines Stils oder Stilmoments ist immer auch ein Wahrnehmungs-/Beobachtungs- und Verstehensresultat bzw. eine Konstruktion eines (Selbst-)Wahrnehmenden/(Selbst-)Beobachters, der aufgrund eines entsprechenden (Typisierungs-, Rahmungs-) Wissens wahrnimmt, beobachtet und versteht. 3. Wahrnehmungen von Stilen sind Wahrnehmungen von (sprachlichen oder nicht-sprachlichen/materiellen) Zeichen/Symbolen als Grundlagen und Haltepunkten von Selbst- und Fremdidentifizierungen. 4. Stile können aufgrund ihres habituellen ‚Gewusstseins‘ auch als verstehenanweisende Zeichen (Zeichenklassen, Zeichensysteme) oder Metazeichen/ ‚Rahmungshinweise‘ fungieren, an denen sich soziale Kennungen und Erkennungen und damit Diskriminationen, Inklusionen, Exklusionen und Abstufungen (Vergemeinschaftungen, Stigmatisierungen usw.) festmachen. 5. Die Formen des Stilwissens und die entsprechenden kognitiven Prozesse (Wahrnehmungen, Denkprozesse) haben wie die – von ihnen zu unterscheidenden – im Ausdrucksverhalten generierten Stile zumindest im lebenspraktischen Alltag typischerweise einen habituellen Charakter. Auf der Basis habitueller Dispositionen wird Stil primär intuitiv generiert und ebenso festgestellt, d. h., man gelangt spontan zu Urteilen über bestimmte Regelmäßigkeiten und Angemessenheiten, zu einer entsprechenden Identifizierung und Unterscheidung. So sprechen wir vom „Stil einer Person, wenn wir in allen ihren Handlungen ein vielleicht nicht leicht oder überhaupt nicht definierbares Prinzip am Werke sehen, das als ein konstantes Moment in den verschiedenen
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
287
Aktivitäten nur moduliert wird“ (Hahn 1986: 604). Man kann daher von impliziten Stilen und von implizitem Stilwissen sprechen. 6. Jenseits dieser – primären – Ebene von Stil, Stilbildung und Stilwahrnehmung gibt es historisch und inter- wie intrakulturell variierendes Stilbewusstsein und – damit einhergehend – explizite Stile und explizites Stilwissen, das in diversen Diskursen zirkuliert.229 Diese Ebene von Stil setzt jene aber voraus und sitzt ihr auch unter modernen bzw. heutigen Bedingungen gleichsam auf. 7. Stil ist also auch eine differenzierte und differenzierende Form von Sinn bzw. eine Form von Sinntransformation. Einen soziologisch-definitorisch brauchbaren Zugang zum Stil als Sinn bzw. zum Stilsinn und einen entsprechenden Begriff von Stil als Verhaltensstil/Handlungsstil liefert Goffman. Er deutet Stil als Sinnform des performativen und kognitiven Verhaltens/Handelns und spricht in diesem Sinne vom Stil als Rahmen. In der „Rahmen-Analyse“ bestimmt er ihn als einen spezifischen Rahmentyp, nämlich als Rahmen einer ‚intersubjektiven‘ Sinntransformation, die er mit dem Begriff des Moduls (key) bzw. der Modulation belegt: „Man kann den Stil als eine Modulation sehen, als offene Transformation von etwas, die etwas anderem (oder einer Transformation von etwas anderem) nachgebildet ist“ (Goffman 1977b: 319).230 8. Bei Stilen bzw. Verhaltens- oder Handlungsstilen handelt es sich zum einen um empirische Eigenschaften von Objekten oder (Verhaltens-)Prozessen. Sie können als Rahmungen erkannt werden, weil (und wenn) sie sich als solche tatsächlich manifestiert haben und wahrnehmbar sind. Zum anderen verweist die Rahmung des Stils auf einen sozusagen unsichtbaren, latenten Urheber, einen Generator oder Produzenten, d. h., sie geht mit einer zu erschließenden Eigenschaft des Sich-Verhaltenden/Handelnden einher. Stil lässt sich, so formuliert Goffman in der „Rahmen-Analyse“, als eine Eigenschaft irgendeiner bestimmten Verhaltens- oder Handlungsweise „sehen, die ihr Urheber in alle seine Betätigungen einbringt, wobei die Eigenschaft selbst irgendwie in ihm fortbesteht“ (Goffman 1977b: 320). Auf dieser habitustheoretisch zu fassenden Ebene spricht Goffman von „Basiskontinuität“ (ebd.: 317 f.).
229 Zu den entsprechenden Wissensbeständen gehört neben (‚hochkulturellem‘) Bildungswissen, das institutionell gepflegt und primär über familiale und schulische Sozialisationsprozesse vermittelt wird, zunehmend spezialkulturelles Stilwissen, z. B. von Jugendsubkulturen. Wie alles Stilwissen kann auch solches als Voraussetzung von Stilwahrnehmungen, Stilreflexionen und Stilbildungen (spezial-)kulturelles Kapital darstellen und damit soziale Handlungs- und Erfolgschancen (Positionierungen, Karrieren) bestimmen. 230 Rahmungen dieser (‚offenen‘) Art stellt Goffman die Rahmungsklasse der Täuschungen gegenüber.
288 6.2
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Figurationssoziologische Entwicklung des Stilbegriffs
Der Stilbegriff hat schon bei den Klassikern der (Kultur-)Soziologie (Simmel, Sombart, Weber) regelmäßig und an prominenten Stellen Verwendung gefunden, ja er ist nicht weniger als eine der wichtigsten „Umschreibungen“ des klassischen Kulturkonzepts (vgl. Müller 1994: 60 f.). Und auch in der neueren Soziologie findet der Stilbegriff nicht nur immer noch, immer wieder und immer mehr Verwendung, sondern er spielt bezeichnenderweise auch in ganz unterschiedlichen und sogar argumentativ gegensätzlichen Theoriekontexten und Theoriediskursen231 eine zentrale Rolle, wenn nicht eine Schlüsselrolle. So stehen sich die Werke Bourdieus und Schulzes (vgl. 1997) bekanntlich inhaltlich-grundsätzlich ziemlich diametral gegenüber232, aber in beiden ist der Stilbegriff von herausragender Bedeutung. Und auch bei Elias und im Rahmen der Figurationssoziologie überhaupt geht es, wie gesagt, sachlich und begrifflich wesentlich um Stile: Verhaltensstile, Ausdrucksstile, Interaktionsstile, Denkstile, Emotionsstile, Lebensstile usw. Schon diese Tatsachen lassen den Stilbegriff hier in einem programmatischen Sinne vielversprechend erscheinen und sprechen dafür, der Stilthematik weitere begrifflich-theoretische und empirisch-analytische Aufmerksamkeit zu widmen. Der Stilbegriff verspricht ähnlich wie der Ritualbegriff (und zusammen mit ihm), ein Schlüsselbegriff der (synthetischen) Figurationstheorie werden zu können sowie auch ein komplementäres konzeptuelles Werkzeug innerhalb des komplexen figurationssoziologischen Konzeptinstrumentariums – ein in sich vielseitiges Werkzeug, das auch zentrale Ansatzpunkte für ein umfassendes und soziologisch integratives Verständnis der Gesellschaftsgeschichte bis zur aktuellsten ‚Gegenwart‘ bildet. Die entsprechende Entwicklung des Stilbegriffs kann über das bereits Gesagte hinaus einige Grundverständnisse voraussetzen, die in der Soziologie allgemein (bzw. in der allgemeinen Soziologie), aber auch in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften mehr oder weniger konsentiert sind: Als gängiger sozial- und kulturwissenschaftlicher/soziologischer Begriff (wie auch als alltagspraktischer Begriff ) zeichnet sich der Stilbegriff in erster Linie durch sachliche Weite und universelle Anwendbarkeit aus. Er ist geeignet, diverse Phänomene in den verschiedensten sozio-kulturellen Kontexten zu bezeichnen.
231 Man könnte auch von Theoriemilieus oder Milieus der Theoriebildung sprechen. 232 Schulze empfiehlt sogar, Bourdieu „an bestimmten Stellen systematisch zu vergessen“ (Schulze 1997: 16). Dessen Ergebnisse lehnt er im Hinblick auf die deutsche Gesellschaft der achtziger und neunziger Jahre komplett ab (vgl. ebd.).
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Jenseits seines traditionellen Orts, der Kunst, lässt er sich „auf alle Bereiche des menschlichen Handelns anwenden, auf Profanes und Sakrales, auf Arbeit und Spiel, auf äußere Bewegungen und innere Vorgänge, auf Körperliches und Seelisches. Voraussetzung dafür ist, daß sich in den Handlungen oder ihren Resultaten charakteristische Merkmale finden lassen, die nicht einfach auf die manifesten Ziele dieser Aktivitäten oder auf ausdrückliche Verhaltensregeln zu reduzieren sind“ (Hahn 1986: 603). Beim so verstandenen Stil handelt es sich also um eine sehr allgemeine und zugleich sehr variantenreiche Realität der Form, des Wie. Als charakteristische Eigenschaft233 von Verhalten, Handeln und Praxis sowie von dem, was daraus ‚objektiv‘ resultiert (z. B. Architektur), verweist diese Realität auf soziale Differenzierung und differenzierte Sozialität, auf unterschiedliche Individuen, Gruppen, Epochen, Subkulturen, Szenen usw., aus denen sie hervorgeht und die sie als solche charakterisiert, d. h. deren Identität sie ausmacht oder mitausmacht. „Es gibt“, so konstatiert Goffman in seiner Rahmen-Analyse des Stils, „den Stil eines bestimmten Schachspielers und etwa den Stil sowjetischer im Unterschied zu dem amerikanischer Spieler. Es gibt Nationalstile der Diplomatie oder zumindest Tendenzen in dieser Richtung. Eine Diebesbande kann Stil haben, einen charakteristischen modus operandi. Es gibt einen männlichen und einen weiblichen Pokerstil. Ja, unsere ganzen sogenannten diffusen sozialen Rollen lassen sich zum Teil als Stile sehen, nämlich als die Art, etwas zu tun, die für ein bestimmtes Alter, Geschlecht, eine bestimmte Schicht usw. angemessen ist“ (Goffman 1977b: 318 f.; Hervorheb. im Orig.). In ihrer (dynamisch fortschreitenden) Differenzierung und (identifizierenden) Differenziertheit weisen die Realitäten der Stile aber auch über alle sozio-kulturellen Differenzen hinaus. Die Fähigkeit, die Neigung und die Gezwungenheit zum Stil und auch zur (Selbst-)Stilisierung sind bei aller Unterschiedlichkeit der sozialen Hintergründe, Inhalte und Ausprägungen sozusagen anthropologische Konstanten. Der Mensch ist ein ‚stilistisches‘ Wesen, ein stilbedürftiges und stilkompetentes, ein an Stile gebundenes und sich bindendes, aus Stilen bestehendes und entstehendes, stilisiertes und (sich) stilisierendes Wesen. Verstanden als die einem inneren Ordnungsprinzip folgende (charakteristische) Art, sich zu verhalten bzw. etwas zu tun, ist der Stilbegriff sowohl auf spezifisch Förmliches, Oberflächliches, Ästhetisches im äußeren (Re-)Agieren, Handeln
233 Man könnte hier und an anderen Stellen der Stil-Theorie auch und wiederum (s. o.) den Begriff der Gestalt im Sinne der Gestalttheorie verwenden. Stile des Verhaltens sind in gewisser Weise Verhaltensgestalten. Darüber hinaus geht es um Gestalten als, in und von Gestaltungen und um Verhältnisse zwischen Gestalt und Gestaltung.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
oder Handlungsresultat zu beziehen als auch auf Prozesse des Bewusstseins und überhaupt des – individuellen wie kollektiven – Erlebens anzuwenden. Es gibt auch Stile des Fühlens, des Wahrnehmens und des Denkens, „Denkarten“, wie Gehlen (1957: 27) sie nennt.234 Damit kommen hier für die Figurationssoziologie und die moderne Soziologie überhaupt zentrale Begriffe wie Mentalität (mentale Struktur), Deutungsmuster, Skript und/oder Habitus ins Spiel, die entsprechend, in ihrer ‚stilphänomenalen‘ und stiltheoretischen Bezogenheit und Beziehbarkeit, zu betrachten, miteinander zu vergleichen und zu verbinden sind. Dass die Ebene des Lebensstils, z. B. der Zusammenhang von Lebensstil und Mentalität, hierbei von besonderer Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Mit der empirischen Reichweite, universalen Einsetzbarkeit, Vielseitigkeit und relativen Offenheit des Stilbegriffs geht aber auch ein grundsätzlicher und umfassender begrifflich-theoretischer Vernetzungs- und Spezifikationsbedarf einher – ein Bedarf, der durch die Einschaltung der Figurationssoziologie im Ganzen gedeckt werden kann und soll. Denn diese arbeitet nicht nur selbst mit Stilbegriffen, sondern stellt auch einen darüber hinausgehenden konzeptuell-theoretischen Bezugsrahmen dar, innerhalb dessen alle Stilbegriffe zu verorten sind und ein differenziertes Format gewinnen, aber auch zum (theoretischen) Format der Figurationssoziologie beitragen können. Auf der Ebene der Begriffsrekonstruktion und Begriffsbildung/Theoriebildung schließt der hier ins Auge gefasste Arbeitszusammenhang also systematisch an die vorher entfaltete figurationssoziologische Konzeptapparatur und Theorie-Konstruktion an und führt sie – auch mit empirisch-(zivilisations-)analytischen Bezügen – weiter. Der Stilbegriff gewinnt damit (wiederum ähnlich wie der Ritualbegriff ) in jedem grundbegrifflichen Kontext der Figurationssoziologie eine spezifische und komplementäre Bedeutung.235 Besonders zu beachten sind dabei durchgängig die gegebenen oder herzustellenden Zusammenhänge der Stilbegrifflichkeit mit den figurationssoziologischen Kern-
234 Ein Beispiel dafür ist die „experimentelle Denkart“, die Gehlen (1957: 27 ff.) im Sinne eines Idealtyps für die Epoche der Moderne (das „technische Zeitalter“) konstatiert. Denkarten oder Denkstile sind natürlich auch mit sozialen Figurationen/Feldern, Positionen und Rollen zu verbinden, mit den sozialen Klassen oder Milieus, mit den Generationen, Berufen, ‚diffusen Rollen‘ (wie den Geschlechtern, den Altersklassen) usw. 235 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die erwähnten Schlüsselkonzepte (Figuration, Feld, Netzwerk, Habitus, Mentalität, Kapital, Praxis, Schicht/Klasse, soziale Distinktion, Sozialisation, Zivilisation, Individualisierung usw.). Darüber hinaus ist aber auch an eine Reihe weniger zentraler Begriffe oder Konzepte zu denken. Zum Beispiel: Gewohnheit, Valenz, Rationalisierung, Psychologisierung, Wir-Ich-Balance, Fremdzwang/Selbstzwang, Scham/Peinlichkeit, Etablierte/Außenseiter oder Engagement/Distanzierung.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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konzepten Figuration/Feld und Habitus sowie mit den entsprechenden Denk- und Theorietraditionen.236 In diesem Kontext liegt die besondere Relevanz, Vergleichbarkeit und auch Anschlussfähigkeit (lebens-)stiltheoretischer Begriffsmittel und Deutungen Bourdieus auf der Hand, die entsprechend ausführlich heranzuziehen und zu reflektieren sind. Jedoch soll es hier nicht um eine bloße (figurationssoziologische) ‚Übersetzung‘ oder Einsetzung Bourdieu’schen Begriffs- und Gedankenguts gehen. Vielmehr ist dieses gerade in diesem Bereich sowohl theoretisch – in Bezug auf ein figurationssoziologisches Stilverständnis und eine entsprechende Stilbegrifflichkeit – als auch empirisch-analytisch – in Bezug auf gesellschaftliche Limitierungen von (Primär-)Habitus-Funktionen, Entkopplungen von Stilen/Stilisierungen und Habitus sowie die Genese und Wirkung neuer oder gewandelter Stil-Generatoren237 und Stildegeneratoren238 – in Frage zu stellen und auch zu relativieren. Man könnte hier also vom Stilbegriff als einem Universal-, Meta- und Leitbegriff sprechen, der sich zunächst durch Weite und innere Offenheit auszeichnet, der aber gleichsam im Medium der theoretischen Figurationssoziologie Struktur, Gehalt und Flexibilität gewinnen und damit auch zu einem leistungsfähigeren ‚Medium‘ der Soziologie werden kann. In diesem Sinne möchte ich diesen Begriff als einen figurationssoziologischen Grundbegriff verstehen, verständlich machen und durch Verbindungen und Anbindungen konzeptueller und theoretischer Art ausarbeiten. Die Gesamtheit seiner figurationssoziologischen (Konzept-)Kontextierungen kann dann als ein eigentliches Stilkonzept oder sogar als eine Stiltheorie betrachtet werden. Deren soziologische Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit erweist sich nicht nur prinzipiell (in Bezug auf alles Soziale/Kulturelle), sondern wächst auch mit der historisch zunehmenden Komplexität und Relevanz von sozio-kulturellen Tatsachen, die als Stile/Stilisierungen oder unter Stil-/Stilisierungsgesichtspunkten zu fassen sind. 236 Zu bedenken sind damit auch sich ähnelnde und überschneidende Begriffe wie Gewohnheit und Geschmack, die gemeinsam dem Habitusbegriff nahe stehen oder verwandt sind und ihrerseits wiederum auf soziale Strukturbegriffe wie Figuration, Feld, Schicht/Klasse/Milieu oder Status verweisen. 237 Dazu gehören insbesondere die Massenmedien. 238 Gemeint sind hier (Modernisierungs-)Prozesse, die Elias unter Titeln wie „Individualisierung“ oder „Verringerung der Kontraste“ behandelt. Vgl. im Anschluss an Elias Wouters, der mit dem Begriff der „Informalisierung“ nicht zuletzt gewisse Stilverluste oder Entstilisierungen bezeichnet (Wouters 1979). Wie erwähnt verwendet auch Elias selbst den Begriff im Sinne von Wouters und folgt insoweit auch dessen negativer Stil-Diagnose. Elias (vgl. 1990) deutet sie allerdings spezifisch zivilisationstheoretisch bzw. individualisierungstheoretisch und legt damit die Vermutung nahe, dass mit dem Schwinden von Stilen Stilisierungen bzw. Selbststilisierungen zunehmen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Fundamentale sachliche und begriffliche Bezugspunkte sind hier Habitus und Lebensstile – zusammenhängende Aspekte, die ich im Folgenden im Hinblick auf ihre grundlegenden programmatischen Bedeutungen eingehender betrachte.
6.2.1
Stile, Habitus und Lebensstile
Innerhalb des dargelegten stilbegrifflichen Vernetzungs- und Verweisungszusammenhangs der Figurationssoziologie ist der Habitusbegriff zunächst deswegen von zentraler Relevanz, weil er als ein dem Stilbegriff korrespondierender deskriptiver Gestalt-Begriff (Form-Begriff ) fungiert. Man spricht ja auch vom äußeren Habitus (von Individuen und Gruppen) und meint damit wie mit Stilen aller Art ein (Gestalt-)Charakteristikum, nämlich das charakteristische, sozusagen geronnene korporale Erscheinungsbild eines Menschen oder einer Menschengruppe.239 Der äußere Habitus eines Menschen stellt ein dem Stil analoges und im Prinzip effektiv oder ‚funktional äquivalentes‘ Erkennungszeichen(system) dar; er ist auch eine Funktion von Stil, nämlich des als eine Art „Prägeapparatur“ (Elias) oder Konditionierungsprogramm wirkenden Lebensstils, der sich im Figurationsprozess bis hin zum personalen Lebenslauf ergebenden Art(en) zu leben. Elias geht mit diesem Habitus-Verständnis der Bourdieuschen ‚Körper(habitus)lehre‘ richtungweisend voraus. Der Habitusbegriff stellt daneben auch einen den Stilbegriff fundierenden, Stile, Stilbildungen und Stilfunktionen erklärenden Begriff dar240. Bei Bourdieu, aber 239 Eine besondere Rolle spielt dabei bekanntlich das Gesicht. Für Elias steht hinter dessen Prägung, und der individuellen ‚Formation‘ des Individuums überhaupt, letztlich die historische Realität sozialer Figurationen, die sich systematisch in individuellen Erfahrungen niederschlagen: „Verschiedenartig modelliert wird im Lauf der Geschichte und entsprechend dem Geflecht von Abhängigkeiten, das durch ein Menschenleben hingeht, auch die ‚Physis‘ des Einzelnen in unablösbarem Zusammenhang mit dem, was wir ‚Psyche‘ nennen; man denke etwa an die Modellierung der Gesichtsmuskulatur und damit des Gesichtsausdrucks durch den Lebensgang eines Menschen; man denke an die Ausbildung von Lese- oder Schreibzentren im Gehirn“ (Elias 1980, Bd. 2: 378). 240 An dieser Stelle und in diesem Rahmen ist natürlich auch Bourdieus Feld/Habitus-Konzeption aufgerufen, die den Stilbegriff in verschiedenen Varianten in den Mittelpunkt ihrer Argumentation rückt und sozusagen am Habitusbegriff festmacht. Bei und mit Bourdieu geht es um den Stilbegriff insbesondere in der Variante eines klassentheoretischen Lebensstilbegriffs, der sozusagen in einem dialektischen Zusammenhang mit dem Habitusbegriff steht. Der Lebensstilbegriff ist aber bekanntlich auch jenseits von Bourdieu zu einem Schlüsselbegriff der modernen Soziologie überhaupt geworden – und auch dort, wo er nicht im engeren Sinne klassen- und habitustheoretisch entwickelt ist, ist er immer und notwendigerweise auf soziale Gruppen und psychische Dispositionen (Gewohnheiten, Kompetenzen, Orientierungen) bzw. auf Zusammenhänge zwischen diesen ‚Polen‘ bezogen. Insofern sind die diesbezüglichen systematischen Distanzen zu Bourdieu begrenzt
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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auch schon in der deutschen Tradition der Habitustheorie, bei Elias, Gehlen u. a., erscheinen Stile als weitgehend verinnerlichte Habitus, denen eine „handlungsgenerative Funktion eignet. Ein sehr begrenzter Satz von Dispositionen erzeugt eine nahezu unendliche Zahl von Handlungen, denen man nachträglich ihre Stilähnlichkeiten ansieht, ohne daß man sie immer vorhersehen könnte“ (Hahn 1986: 609). Auch Goffmans rahmen-analytischer Hinweis auf Stil (s. o.) als eine „Eigenschaft irgendeiner bestimmten Handlung“, die in ihrem „Urheber (…) irgendwie (…) fortbesteht“ (Goffman 1977b: 320), ist in diesem Sinne zu deuten. Worum es hier geht, ist aber nicht nur die (verhaltensstil-)generative Logik des Habitus, sondern auch die in Bezug auf (Verhaltens-, Lebens-)‚Stil-Fragen‘ generell relevante Habitusfunktionslogik, wie sie wiederum im Konsens verschiedener Habitustheoretiker241 gesehen und hier als Ausgangspunkt der weiteren begrifflichtheoretischen Arbeit genommen wird. Habituserzeugte Verhaltensstile, wie etwa der Stil des Handschreibens, des Gehens oder des Sprechens, zeichnen sich nach diesem konsentierten Verständnis in erster Linie dadurch aus, dass sie sich als charakteristische Potentiale des Verhaltens wesentlich spontan und unbewusst (implizit, ‚stillschweigend‘, selbstverständlich) vollziehen und damit den Akteur wie die (Inter-)Aktion zugunsten von zum Handeln befähigender Aufmerksamkeit, Reflexion und Energie entlasten.242 Derartige Stile haben also primär einen reaktiven und symptomanalogen Charakter und laufen erst einmal ‚hinter dem Rücken‘ des Akteurs ab, der ihnen insofern als Subjekt in gewisser Weise untergeordnet ist. Vor allem die (habituelle) ‚Macht der Gewohnheit‘ behält in diesem Zusammenhang schließlich die Oberhand; ‚Neigung‘ und ‚Hang‘ setzen sich im Allgemeinen durch, wenn nicht kurzfristig, dann langfristig. So mag es unter (günstigen) Umständen möglich sein, eine Handschrift nahezu perfekt zu fälschen, aber beim spontanen Schreiben – vor allem unter Zeitdruck – schlägt die eigene Handschrift doch durch (vgl. Hahn 1986: 608).243
und Versuche aussichtsreich, im Rahmen der Figurationssoziologie Vergleiche zu ziehen und Synthesen herzustellen. 241 Das Spektrum reicht von Weber und Durkheim über Elias, Gehlen und Berger/Luckmann bis zu Bourdieu und zur neueren Wissenssoziologie (vgl. z. B. Knoblauch 1998). 242 Auf grundsätzlichen habitus(funktions)theoretischen Feststellungen und Überlegungen dieser Art aufbauend, plädiere ich für eine figurationssoziologische Stilbegrifflichkeit, die die Begriffe Verhaltensstil und Lebensstil voneinander unterscheidet und – im Sinne einer ‚Operationalisierung‘ von Lebensstil durch Verhaltensstil(e) – aufeinander bezieht. 243 Die Logik und die ‚Macht‘ der hier gemeinten Automatismen kann man auch daran erkennen, dass diese (dank ihrer ‚zweiten Natürlichkeit‘) selbst dann noch ablaufen, wenn sie sozusagen sozial/ kommunikativ sinnlos geworden sind. Dies ist z. B. an den korporalen Ausdrucksweisen zu beob-
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die stilistische ‚Natürlichkeit‘, um die es hier geht, ist auch eine fundamentale Voraussetzung und ein Wesenszug symbolischer/ritueller Praxis244 (s. o.) und darüber hinaus ein Fundament von jedermanns (Interaktions-)Alltagswirklichkeit und ihrer ‚Konstruktion‘. Goffman zeigt vor allem im Hinblick auf die für die soziale Integration zentrale Ebene der rituellen Achtungskommunikation, dass die habitusverdankte Spontaneität und der Eindruck des Spontanen sozial grundlegende Wirklichkeitsbedingungen sind: Jedermann und seine Interaktionen leben auf dieser Ebene davon, dass mit dem Erweis von Achtung (Ehrerbietung) auch der Eindruck der Echtheit entsteht. Aber auch in anderen Darstellungen und Performances (s. u.) bildet (habitusverdankte) ‚Natürlichkeit‘, neben anderen Funktionsvorteilen wie Schnelligkeit und Leichtigkeit des Handelns, eine wichtige oder unverzichtbare Eindrucks- und Geltungsressource. Im Blick auf unmittelbare Interaktion kommt Goffman zu dem habitustheoretisch begründbaren Schluss, dass sich Stil nicht für bewusste Selbstinszenierung eignet: „Stil kommt uns unecht vor, wenn er absichtsvoll ist“ (Goffman 1977b: 319).245 In dem hier anvisierten theoretischen Horizont erscheinen Habitus nicht nur als Stilgeneratoren und damit als stilerklärend, sondern sind auch sozusagen als soziale (Lebens-)Stilkorrespondenten und Stilresultate zu verstehen, nämlich als Resultate von (figurations-)praxisimmanenten Lebensstilen, die jeweils gleichsam ein Qualifikationsprofil implizieren und eine Art Sozialisationsprogramm bilden (und so die Individuen ‚bilden‘). Im Rahmen der Figurationssoziologie kann man an dieser Stelle ‚axiomatisch‘ formulieren: In dem Maße und in der Eigenart, wie sie figurationsspezifischen (Lebens-)Praxen inhärent sind, ‚definieren‘ und erfordern Lebensstile auch habituelle Dispositionen und erhalten und prägen diese zugleich.246
achten, die sich beim Telefonieren, also ohne visuelle Wahrnehmung des adressierten Publikums, manifestieren. 244 Image, Aura und Charisma der verschiedensten Art eingeschlossen. 245 Das impliziert eine gewisse Relativierung der erwähnten und noch ausführlicher zu behandelnden theatralen Stil- und Stilisierungswirklichkeiten. Es liegt aus habitustheoretischer Sicht auf der Hand: Die zur Normalität dieser Gesellschaft gewordenen Bemühungen um (Selbst-)Stilisierung tendieren dazu, nicht mehr zu sein als bemühte (Selbst-)Stilisierungen bzw. durchsichtige Stil-Kopien. Das schließt erfolgreiche ‚Stilisten zweiter Ordnung‘, Stil-Kopisten und stilistische ‚BastelExistenzen‘ (Hitzler) nicht aus: Akteure, die sich weit jenseits ihrer Kindheit bestimmte theatrale Verhaltensstile (immer wieder neu) aneignen und diese ziemlich ‚natürlich‘ performieren. Die Lernprozesse, die dieser ‚Subjektivität‘ vorausgehen, können allerdings wiederum auf habituelle Voraussetzungen bzw. Anschlusspunkte zurückgeführt werden. 246 Voraussetzung für diesen Effekt ist natürlich eine gewisse Intensität (Dauerhaftigkeit, Regelmäßigkeit, Häufigkeit) der Teilnahme des Individuums an der jeweiligen Praxis.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Ich plädiere im Folgenden bzw. in den geplanten Arbeiten grundsätzlich für einen – gegenwärtig allerdings erst ansatzweise existenten und also zu elaborierenden – figurationssoziologischen Lebensstilbegriff, der in der Grundanlage unspezifischer und umfassender und damit zugleich differenzierbarer und flexibler ist als der von Bourdieu. Dessen Lebensstilbegriff steht zwar durchaus auch in der Tradition von Elias, ist aber stärker durch Weber und vor allem Marx (bzw. die Marx’sche Klassentheorie) geprägt und damit vom Ansatz her enger und zentrierter als das Elias’sche Grundverständnis von Lebensstil. In diesem Verständnis wird Lebensstil primär an soziale (Figurations-)Differenzierungs- und Integrationsprozesse („Verflechtungen“, „Verflechtungssphären“) und deren Zusammenhang gebunden und damit an die entsprechenden Figurationen und Figurationsebenen bis hin zur Ebene der Gesellschaft (Gesellschaftsfiguration) gekoppelt. Eingeschlossen ist dabei neben und mit einer Theorie funktionaler Differenzierungsprozesse ein historisch-gesellschaftstheoretisches Schichtungsmodell (‚Sickermodell‘), das auch und hauptsächlich soziale Stil-, Lebensstil- und (Lebens-)Stilisierungsdifferenzen behandelt und erklärt. Demnach gibt es zwar bis heute schicht- oder klassenspezifische Lebensstile, die allerdings konvergieren („Verringerung der Kontraste“); von Lebensstilen kann aber auch auf ganz anderen (und ganz unterschiedlich komplexen) Figurationsebenen die Rede sein, nämlich insofern diese einer bestimmten Lebenspraxis dauerhaft eine bestimmte und bestimmende – habitusbestimmende – Form geben. Entscheidend ist hier also zunächst nicht der Lebensstilbegriff als solcher (geschweige dessen differenzierte ‚Ausdefinition‘), sondern die grundsätzliche, sozusagen perspektivische Vorstellung (und empiriegestützte Einsicht), dass bestimmte gesellschaftliche Figurationsprozesse und gegebene (Teil-)Figurationtypen, wie sie etwa der moderne Straßenverkehr (s. o.) oder formale Organisationen bilden, Stile oder einen Stil des Handelns, des Erlebens, des Denkens und auch des Lebens im Ganzen bedingen oder vorgeben. In diesem Sinne versteht und deutet Elias schon das höfische Leben (das Leben in der höfischen ‚Lebenswelt‘), und so versteht und deutet er auch das Leben von und in bestimmten sozialen Schichten und ‚Segmenten‘ der modernen Gesellschaft, z. B. das Leben in einer Gemeinde (vgl. Elias/Scotson 1990). Ähnlich wie Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“ hat Elias auch den modernen Stil des Lebens als einen (gesamt-)gesellschaftlichen Lebensstil im Sinn. In allen diesen Fällen geht es zunächst und hauptsächlich darum, dass eine soziale (Feld-)Figuration für diejenigen, die sich in ihr bewegen, einen objektiven Stil des Lebens impliziert und damit auch habituelle Dispositionen anfordert und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
(re-)produziert.247 Man könnte daher in Ergänzung der Begriffe Verhaltensstil und Lebensstil von Figurations- oder Feldstilen sprechen oder auch von Figurationslebensstilen oder Feldlebensstilen. Daneben und in diesem Rahmen bestehen immer auch mit (Fremd-)Zwängen gepaarte individuelle (Entscheidungs-, Gestaltungs-)Spielräume/Freiheiten der Handlungs- und Lebensführung und damit auch der Selbst- und Lebensstilisierung. Sie variieren in Art und Grad mit den jeweils gegebenen Figurationstypen und den individuellen ‚Figurationshaushalten‘, die sich im Lauf des Lebens entwickeln und wandeln. Elias zufolge sind und ‚definieren‘ die spezifischen Figurationen/Felder je spezifische Spielräume, deren konkrete Nutzbarkeit und Nutzung wiederum wesentlich von den Habitus (also: Kompetenzen, Bereitschaften, Tendenzen, symbolischen Eigenschaften) der Akteure in ihrem Passen oder Nicht-Passen (Mehr-oder-weniger-Passen) auf die jeweilige (Figurations-)Praxis abhängen. Stile/Stilisierungen bzw. Lebensstile rufen hier – im Kontext von Habitus und Figuration – natürlich auch die (Gegenstands-)Theorie der Zivilisation auf den Plan.248 Der Zivilisationsbegriff selbst lässt sich in gewissem Maße stilbegrifflich bzw. lebensstilbegrifflich (re-)formulieren oder ‚operationalisieren‘. Zivilisation bedeutet dann, genauer gesagt, eine systematische Umstellung von Verhaltensstilen und Lebensstilen – letztlich des (gesamt-)gesellschaftlichen Lebensstils und damit auch personaler Lebensstile als Ensembles von Verhaltensstilen (Erlebensstilen, Handlungsstilen). Die zentralen ‚Entwicklungsmarken‘ dieser (langfristigen) Umstellung werden in der Zivilisationstheorie nicht zuletzt als Stilisierungen und Stilisierungsschübe, als stilistische (Um-)Formungen und Verfeinerungen des Verhaltens, Handelns und (Er-)Lebens vorgestellt und beschrieben. Der Zivilisationsprozess ist m. a. W. – bei allem, was er sonst noch ist (ein Prozess der Gewissensbildung, der Subjektivierung usw.) – ein Prozess von Stilbildungen und Stilisierungen249, aber auch von Stilauflösungen und Stiltransformationen. Mit und nach Elias ist in diesem Zusammenhang also auch an generalisierte Prozesse der Informalisierung (s. o.) und der Individualisierung zu denken. Sie er247 Unter modernen (Differenzierungs-)Bedingungen – zugespitzt unter den Bedingungen der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ – gibt es, so gesehen, einmalig viele und einmalig viele in das Individuum gleichsam abgespiegelte figurationsspezifische Stile des Lebens (des Familienlebens, des Organisationslebens, des Milieu- oder Szenelebens usw.), die sozusagen Habitusprogramme darstellen und als Habitualisierungsprogramme wirken. 248 Und damit entsprechend einzuordnende Aspekte und Konzepte wie Selbstzwang, Selbstbewusstsein, Scham und Peinlichkeit, kulturelles Kapital, Prestige, Distinktion oder Individualisierung. 249 Man kann in diesem Sinne auch von Formalisierung sprechen. ‚Informalisierung‘ bedeutet dann aber nicht zwangsläufig das Gegenteil von Zivilisation, sondern jedenfalls auch die Möglichkeit ihrer Umstellung auf subjektive und individuelle Freiheit und (Kontingenz-)Gezwungenheit.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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scheinen hier insofern als ambivalent, als sich bei ihnen und durch sie stilistische Form-, Norm- und/oder Habitusverluste (Kompetenzverluste, Orientierungsverluste, Bereitschaftsverluste) mit stilistischen Differenzierungen, Subjektivierungen und Reflexivierungen sowie mit intensivierten und extensivierten Aktivitäten der (Selbst-)Stilisierung verbinden. Schon seit Jahrzehnten unübersehbar und heute mehr denn je ausgeprägt sind ein stilistischer Pluralismus und Relativismus, aber auch ein stilistischer Aktivismus bei gleichzeitigem Vordringen einer Mentalität „des Laisser-faire in fast allen Lebensbereichen“ (Ferchhoff 2002: 383) – einschließlich einer offenbar wachsenden Toleranz gegenüber mit Ritualbrüchen einhergehenden oder in Ritualbrüchen steckenden Stilbrüchen und (medialen) Stilbruchinszenierungen. *** Exkurs: Jugendlichkeit als gesellschaftlicher Lebensstil und Lebensstilmodell
Zu den empirischen Tatsachen, die in diesen Zusammenhängen von systematischer und auch exemplarischer Bedeutung sind, gehört ein mannigfaltiger kultureller und (d. h.) stilistischer Komplex, der unter dem Begriff Jugendlichkeit bzw. Verjugendlichung zu fassen ist. Man kann diesbezüglich von einem auf Stile und Stilisierungen bezogenen Lebensstil (und einem Lebensstil-Image) sprechen, dessen Entwicklung und Aufstieg unmittelbar, wenn auch in einem scheinbar ambivalenten Sinne, mit Zivilisationsprozessen assoziiert oder in ihnen impliziert ist und damit auf die Zivilisationstheorie und allgemeiner auf die Möglichkeiten der Figurationssoziologie verweist. Blickt man auf die jüngere Vergangenheit der ‚Gegenwartsgesellschaft‘, dann kann man heute mehr denn je die zivilisationstheoretisch bedeutsame (allerdings nicht so gemeinte und im Allgemeinen nicht so verstandene) These Friedrich Tenbrucks bestätigt sehen, dass die Kultur der modernen Gesellschaft von einem „Puerilismus“ durchdrungen und die Jugend „in mancher Hinsicht zur dominanten Teilkultur geworden“ sei (Tenbruck 1965: 56). Für die Gesamtkultur der Gesellschaft galt schon vor einem halben Jahrhundert und gilt heute erst recht, dass „Umgang, Vergnügen, Lektüre, Freizeit, Moral, Sprache, Sitte der Erwachsenen (…) zunehmend jugendliche Züge“ (ebd.) aufweisen. Als kosmologisches (Selbst- und Fremd-)Deutungsmuster und (Ideal-)Modell, d. h. als eine Konfiguration von Vorstellungen, Werten, Erwartungen, Ansprüchen, Wünschen und Bedürfnissen, dringt Jugendlichkeit nicht nur in der Erwachsenenwelt vor und durch, sondern auch in beiden Altersrichtungen: in die Kindheit, Kinderkultur und Kinderwelt
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
einerseits und in die höheren Altersklassen jenseits der Jugend andererseits. In diesem für das (Selbst-)Bewusstsein wie für soziale Praxis folgenreichen Sinne überwindet Jugendlichkeit aber nicht nur die Grenzen der Altersklassen, sondern – sozusagen als Leitkultur – auch die aller anderen sozialen ‚Klassen‘, Schichten, Milieus. Sie gilt heute gesellschaftsweit, ja weltgesellschaftsweit, so dass man von einer universellen Verjugendlichung sprechen kann. Jugendlichkeit als kosmologisches und (d. h.) mentales Modell und Lebensstil ist – natürlich – sozial und historisch variabel und variant, bis heute in ständiger Entwicklung, Differenzierung und Wandlung begriffen. Für die jüngere Vergangenheit (‚Gegenwartsgesellschaft‘) kann man etwa mit Wilfried Ferchhoff einen generalisierten ‚Jugendlichkeitskomplex‘ im Sinne eines Idealtyps feststellen, der wesentlich auf einen zivilisatorisch aspektreichen und tiefgreifenden ‚Stilismus‘ hinausläuft. Das heißt: „Ästhetisierende und pseudoästhetisierende Dimensionen werden zentral. (…) Die Außenwahrnehmung des Menschen, seine inszenierte Erscheinungsweise hat an Bedeutung gewonnen, und Individualität wird mehr denn je durch eklektizistische (Lebens-)Stildifferenzen, durch Kontingenz, Beweglichkeit und Offenbleiben definiert und betont“ (Ferchhoff 2002: 384). Was nunmehr „wirklich zählt, ist das (Lebensstil-)Design. (…) Das sichtbar Tiefste am (jugendlichen) Menschen ist seine – über gepflegtes Outfit, Körperdesign, Musik und Mode inszenierte – Oberflächenselbstdarstellung, -stilisierung, -reflexivität und -kostümierung“ (ebd.). Gewiss ist dies nur eine Tendenz, und es ist nur eine Tendenz, die sich primär auf die (relativ) Jugendlichen selbst erstreckt. Sie ist aber offenbar auch von genereller, generationen-, kulturen- und gesellschaftenübergreifender Relevanz. Worum es damit geht, ist nicht weniger als eine prinzipielle Verschiebung von Werten, Wertgewichten und auch praktischen (Er-)Lebens- und Handlungsorientierungen, die zivilisatorische Signifikanzen besitzen. Diese Verschiebung betrifft nicht zuletzt den ganzen Komplex der ‚personalen Identität‘, einschließlich der Fragen der Biographie und der Biographisierung, des Alters und des Alterns, sowie (damit) die Logik der Selbstdisziplin, der Selbstkontrolle und der ‚Selbstkontrollapparatur‘. Mit der hier hauptsächlich gemeinten Aufwertung und Ästhetisierung/Verfeinerung des Außen, der Formen, der Oberflächen werden der Körper und alles, was mit ihm zusammenhängt, insbesondere Kleidung und Mode, zu einem Zentrum der Selbst- und Fremd-Aufmerksamkeit, (weil) der Selbst- und Fremd-Bewertung und der Selbst- und Fremdkontrolle. Der Körper wird zu einem oder dem zentralen Bezugspunkt einer Art ‚Außenlenkung‘ (Riesman), der ein (Körper-)Kapital, ein Habitus, ein Distinktionsmittel und eine Form von Selbststeuerung entsprechen. Begleitet und verstärkt von der Theatralität der Massenmedien, gerade auch,
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aber längst nicht nur der Werbung250, und auf der Basis eines korrespondierenden (enormen) Relevanzgewinns von Visualität hat sich Jugendlichkeit als jugendliche Korporalität zum Richtpunkt manifester und latenter Selbstidentifizierung und ‚Selbstsorge‘ von jedermann und jederfrau entwickelt (vgl. Koppetsch (Hg.) 2000). Die Kraft, die vom Leitbild Jugendlichkeit ausgeht, impliziert eine entsprechende und führt zu einer entsprechenden (Neu-)Definition des Körpers und der (Dauer-)‚Pflege‘ des Körpers, an dem heute von mehr Menschen denn je mehr, engagierter, systematischer, disziplinierter und rationaler denn je gearbeitet wird. Die Kraft des Jugendlichkeitsmodells führt auch zu immer größeren Investitionen in korporale/theatrale „Restitutionsprozesse, die maßgeblich dazu beigetragen, dass Bereiche wie Sport, Mode, Kosmetik und Schönheitschirurgie seit Jahrzehnten beispiellos prosperieren“ (Ferchhoff 2002: 390 f.). ‚Forever young‘ lautet die entsprechende, zwar nicht realistische, aber realitätswirksame Utopie und Illusion, zu der vor allem medial mannigfaltig Beihilfe geleistet wird. Die Theatralität des Körpers (Korporalität), insbesondere auch seine Gestaltung aus eigener oder fremder Kraft, ist zu einem zentralen Diskurs- und Daseinsthema sowie auch zu einem kommerziellen, industriellen und medialen Arbeits- und Kampfbereich geworden, in dem sich in vielerlei Hinsicht Fremd- und Selbstkontrollen, Fremd- und Selbsterzeugungen abspielen. Die ‚Jugendlichkeit‘/‚Verjugendlichung‘ der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft ist aber auch jenseits von Korporalität und Korporalisierung, von Oberflächen(selbst)darstellung, Mode, Körperstyling, Versportung usw. von großer Bedeutung. Sie hat den Charakter einer komplexen, vielseitigen Mentalität und findet – wiederum mit zivilisatorischen Implikationen – insbesondere auch in der Form von Informalisierung statt, ja dieser Prozess im Ganzen kann zu einem großen Teil als Verjugendlichung verstanden werden. Die Lockerheit, die Lässigkeit und die „OK-Gesellschaft“
250 Die werblichen Performanzen, speziell die werblichen Jugendlichkeitsperformanzen, besitzen eigene zivilisatorische und zivilisationstheoretische Bedeutsamkeiten. Diese bestehen grundsätzlich in der Effektivität und Funktion der Werbung als zivilisatorische Stil- und Stilisierungs-Bühne, auf der im Rekurs auf Publikumskultur(en) Stile, Verhaltensstile und Lebensstile als kopierbare Modelle mit Informations- und Verstärkereffekten für Rezipienten performiert werden. Die symbolischen Performanzen der Jugendlichkeit sind in diesem Zusammenhang natürlich nur ein Komplex, neben dem und in Überschneidung mit dem z. B. performierte Individualisierungs- und Normalisierungsaspekte eine Rolle spielen. Allerdings ist der werbliche ‚Jugendlichkeitskomplex‘ unter den besagten Gesichtspunkten ein besonders wichtiger. Genauer zu zeigen ist, dass Jugendlichkeit ein (werbe-)medial kopiertes Lebensstil-Image und Lebensstil-Modell darstellt, das zivilisatorische Sinnimplikationen und eine zivilisatorische Wirkmacht hat. Es geht hierbei auch um Eigenschaften und Eigenschaftsbilder des ‚Selbst‘, um ein besonders kompetentes, flexibles, offenes und dynamisches ‚Selbst‘, um einen höchst modernen Typus von Zivilisierung und Zivilisiertheit.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
(H. E. Richter) der Jugend wie auch die jugendliche Coolness (Affekt- und Selbstbeherrschung bzw. Selbstausdrucksbeherrschung) sind zu allgemeinen Idealen und Modellen geworden. Ähnlich wichtig – auch zivilisatorisch wichtig – erscheinen Verjugendlichungen als hedonistische, individualistische und (damit) ludische Tendenzen. Eine offensichtlich dynamisch fortschreitende ‚Verspielung‘ mag es heute (bereits) rechtfertigen, von einer ‚verspielten Gesellschaft‘ zu sprechen, die sich jedenfalls auch an der ‚Verspieltheit‘ der Jugend bzw. der entsprechenden Vorstellung von Jugend orientiert.251 Daneben sind aber auch Kompetenz- und Leistungsimages von Jugendlichkeit existent und zivilisatorisch signifikant: Aufgeschlossenheit, Neugier, Beweglichkeit, Experimentierfreudigkeit, Lernfähigkeit, Dynamik, Schnelligkeit, Ausdauer, Kraft, Zukunftsorientierung usw.252 Auch diesbezüglich kann von (kulturellen) Momenten einer gesellschaftlichen Mentalität gesprochen werden, die mit einem Lebensstil einhergeht und sozusagen einen Lebensstil abbildet. *** Unter dem Blickwinkel der Figurationssoziologie sind Lebensstile (und Lebensstilisierungen) also sozusagen auf verschiedenen Ebenen und im Sinne dialektischer (Wechsel-)Beziehungen und (Wechsel-)Wirkungen zu verstehen und zu untersuchen: Einerseits sind sie auf der Ebene sozialer Figurationen, verschiedener Figurationstypen und figurationaler Zusammenhänge anzusiedeln, die immer auch vielseitige Kulturtatsachen und Kulturverhältnisse einschließen: symbolische Formen, Requisiten, Images, Deutungsmuster, Semantiken, Diskurse usw. Der aktuelle Lebensstil eines Individuums kann insofern aus den Figurationen und als die Figuration der Figurationen bestimmt werden, die es tatsächlich ‚erlebt‘ und ‚erhandelt‘. Die individuelle Figuration der Figurationen, in die ein Individuum an einem bestimmten Punkt oder in einer bestimmten Phase seines Lebenslaufs eingelassen oder eingespannt ist, bildet seinen aktuellen Lebensstil, den spezifisch strukturierten Zusammenhang der Zwangs-, Anforderungs-, Spiel- und Freiheits-
251 Das allerdings auch auf die höfische Gesellschaft und nachfolgende ‚gute Gesellschaften‘/Oberschichten (zurück-)verweisende Spiel und das Spielerische als Lebens- und Handlungsprinzip gehören offenbar zunehmend zum allgemeinen Stil des Lebens in der ‚Erlebnisgesellschaft‘ – bis hin zu Feldern wie der Politik oder den ‚persönlichen (Intim-)Beziehungen‘, wo heute offenbar mehr denn je Verspieltheit herrscht und Spieler am Werk sind. 252 Von eigener und besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die alltagskulturelle Koppelung von Jugend/Jugendlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber medientechnischen Entwicklungen bzw. die Gleichsetzung von Jugend/Jugendlichkeit und ‚Medienkompetenz‘ (s. u.).
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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räume seines Lebens, seiner Lebenspraxis und seiner Lebensführung. Andererseits und gleichzeitig stecken Lebensstile gleichsam in relativ autonomen Habitus und Habitusensembles, die als strukturierte und strukturierende Potentiale und Tendenzen des Erlebens und Handelns in wirksamen (Un-)Passungsverhältnissen zu den jeweils faktisch gegebenen (Praxis-)Figurationen und ihren Bedingungen (Anforderungen, Spielräumen usw.) stehen. Der real existierende und fungierende Habitus (das Habitusensemble) erscheint damit auch insofern als lebensstilwirksam oder lebensstilbildend, als er sich als Faktor von figurationalen Exklusionen und Inklusionen und zugleich als den ‚Spieler‘ und das ‚Spielen‘ bestimmender (und damit auch ‚spielbestimmender‘) Faktor in den Anforderungs- und Spielräumen der Figurationen erweist. Der Habitus (das Habitusensemble) präkonditioniert, präformiert oder moduliert sozusagen das Leben, die Erlebnisse, die Erfahrungen, die Reaktionen, die Lern- und Nichtlernprozesse. Von dieser wie von jener Seite her gesehen253 heißt Lebensstil damit primär impliziter Lebensstil: die Form gelebten und zu lebenden Lebens als impliziter Praxis, die sich aus den jeweiligen sozialen Figurations- und Habitusbedingungen bzw. figurational-habituellen Konstellationen ergibt. Unter bestimmten historischen (Entwicklungs-)Bedingungen, nämlich den Bedingungen der jüngeren Gesellschaftsgeschichte, geht es aber nicht (mehr) nur um einen impliziten Lebensstil. Vielmehr wird Lebensstil, wenn auch immer vor diesem Hintergrund, zunehmend explizit: zum Gegenstand des (Selbst-)‚Bewusstseins‘, der (Selbst-)Beobachtung, der (Selbst-)Reflexion, der (Selbst- und Fremd-)Thematisierung, der produktiven und konsumptiven Herstellung und Darstellung, der Image-Arbeit, der (Selbst-) Inszenierung, der (Selbst-)Stilisierung.254 Diese Bivalenz und Ambivalenz von Lebensstil bzw. Lebensstilisierung verweist also letztlich wiederum auf den historischen Zusammenhang zwischen Sozio- und Psychogenese und damit auch auf Prozesse der Zivilisation und der Individualisierung. Das hier in seiner ansatzweisen Entwickeltheit und weiteren Entwicklungsfähigkeit nur skizzenartig anzudeutende figurationssoziologische/zivilisationstheo-
253 Beide Seiten des Lebensstils – Figurationen (Felder) einerseits und Habitus andererseits – sind und werden natürlich im Rahmen des figurationssoziologisch (re-)konstruierten Zusammenhangs von Sozio- und Psychogenese ‚historisiert‘. 254 In diesem Zusammenhang spielen heute natürlich die Massenmedien und zunehmend auch das Internet eine wesentliche Rolle als Irritatoren, Informatoren, Impulsgeber und Stimulatoren (s. u.). Der Gebrauch der Medien wurde und wird aber auch selbst zum selbstverständlichen Moment des Lebensstils. Der heutige Lebensstil jedermanns und erst recht der bestimmter Generationen und Sondergruppen (‚Spezialkulturen‘) ist bekanntlich immer mehr ein Lebensstil, in den Medien eingelassen sind und Synthesen mit anderen Existenzbedingungen bilden.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
retische Lebensstil(theorie)verständnis bildet einen Ausgangspunkt nicht nur für entsprechende theoretisch-empirische Forschung, sondern auch für eine allgemeine Konzept- und Theoriebildung. Diese kann auch eine integrative Aufarbeitung der disparaten und kontroversen Lebensstil- und Individualisierungsdiskurse anstreben, mit denen es die Sozial- und Kulturwissenschaften bzw. die Soziologie seit langem zu tun haben. Diesbezüglich sollte – und wird meines Erachtens – ein figurationssoziologischer Lebensstilansatz geeignet sein, auch unüberbrückbar scheinende Differenzen und Distanzen zwischen den betreffenden sozial- und kulturwissenschaftlichen/soziologischen Ansätzen, Begriff lichkeiten und Forschungsresultaten zu überwinden.
6.2.2
Gesellschaftsfigurationen und Habitus(de)generierungen
Habituelle (Lebens-)Stilbildungen und (Lebens-)Stilfunktionen ‚primärer‘ und ‚sekundärer‘ Art sind (also) auch unter den in gewisser Weise traditions- und gewohnheitsfeindlichen Struktur(entwicklungs)bedingungen der jüngeren Gesellschaftsgeschichte gesellschaftsgenerell wie bereichsspezifisch möglich, real und lebenspraktisch bewährt. So sehr die unter Titeln wie Moderne oder Postmoderne zusammengefassten Prozesse (der Entinstitutionalisierung, der Informalisierung, der Entritualisierung, der Entsolidarisierung, der Individualisierung usw.) auch habituelle Dispositionen wegbrechen lassen, auflösen, irritieren und belasten, so sehr entstehen neue und erneuerte Habitusformen und damit Stilformen, und ebenso widerstehen alte Habitusformen den fortschreitenden sozio-kulturellen Wandlungen. Man kann auf der Basis empirischer Beobachtungen sogar zu dem Schluss kommen, dass die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ in habitueller und d. h. (habitus-)stilistischer Hinsicht viel traditionaler (und d. h. ‚unmoderner‘) ist, als sie sich selbst versteht und beschreibt und ihre Menschen sie und sich selbst verstehen und beschreiben.255 Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist aus figurations- bzw. differenzierungstheoretischer Perspektive anzunehmen und festzustellen, dass grundlegende gesellschaftliche Struktur(entwicklungs)bedingungen habituellen Stilen, Stilbildungen und Stilfunktionen tatsächlich entgegenstehen und entgegenwirken. Die ‚Gegenwarts-
255 Dafür sprechen beispielsweise die (Alltags-)Kosmologieanalysen Goffmans und anschließende Untersuchungen (vgl. z. B. Willems/Kautt 2003). So ist etwa das Geschlechterverhältnis – bei allen strukturellen und kulturellen Wandlungen – als ein in vielen symbolischen Bereichen relativ kontinuierliches Habitusverhältnis zu verstehen.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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gesellschaft‘ limitiert und relativiert ‚primäre‘ Habitusfunktionen, habituelle Stilbindungen und Stilbildungen vor allem dadurch, dass sie ihre Mitglieder/Akteure systematisch in im Verhältnis zueinander relativ autonome und inkonsistente sowie tendenziell zunehmend komplexe und veränderliche Sinn- und Handlungsfelder einbindet und immer wieder dazu zwingt, in mehr oder weniger neuen (Praxis-)Lagen jenseits ihrer ‚primären‘ Figurationen und Habitus zu (er-)leben und zu handeln. Die figurationsspezifischen (Lebens-)Formen und (Lebens-)Stile, an denen das Individuum partizipiert, stehen auf synchroner wie auf diachroner Ebene höchstens noch partiell und bedingt, nicht mehr aber im Gesamtzusammenhang in einem konsistenten Verhältnis zueinander. Sie sind heute generell weiter denn je davon entfernt, eine Einheit oder einen ‚Metastil‘ zu bilden oder auch nur miteinander verträglich zu sein, und sie sind in einem permanenten und immer schneller verlaufenden Wandel befunden, so dass die Passungs- und Funktionsgrundlage ‚primärer‘ Habitusbildungen/Gewohnheitsbildungen schwindet. Darüber hinaus sind viele heutige Handlungssphären und Verhaltensaspekte systematisch stilistisch unterbestimmt, ‚unterstilisiert‘, und auch die Stile selbst weisen vielfach eine Tendenz zur Unbestimmtheit auf. Gehlen hat schon Mitte des vorigen Jahrhunderts zu Recht von „Unbestimmtheit als Zeitsignatur“ (Gehlen 1957: 89 ff.) gesprochen und damit auch so etwas wie einen gesellschaftlichen (Meta-)Stil der Stillosigkeit gemeint, der eigentümlicherweise neben einer Inflation von Stilen und Stilisierungen und neben einem Hang (Habitus) zur (Selbst-)Stilisierung steht. ‚Man‘ kann sich daher, und auch im Blick auf die gesteigerte und sich steigernde Unbestimmtheit von (eigener) Zukunft und zukünftigen Praxisanforderungen, heute weniger denn je (und immer weniger) auf inhaltlich ‚ausdefinierte‘ habituelle Voraussetzungen und erst recht nicht auf bloße Gewohnheiten (‚Automatismen‘) verlassen. Umso mehr kommt es für die Akteure zu ihren eigenen Gunsten wie auch zu Gunsten ihrer sozialen (Praxis-)Figurationen/Felder darauf an, differenziert, differenz- und kontingenzbewusst und gerade nicht ‚automatisch‘ (oder gar ‚vollautomatisch‘), sondern mit erhöhter Aufmerksamkeit, Vorsicht oder Wachsamkeit situationsbezogen zu handeln. Viel mehr als je zuvor bedarf es heute einer – allerdings wiederum in gewisser Weise habitualisierbaren – Einstellung auf Neuheit, Offenheit, Diversität, Riskanz, Veränderlichkeit, Dynamik und (d. h.) Anpassungsund Lernerfordernisse. Es bedarf insbesondere auch einer ‚Gefasstheit‘ auf Überraschungen und Enttäuschungen und der Fähigkeit, sich immer wieder neu zu fassen und einzustellen. In diesem Sinne muss man heute disponiert sein, um einem gesellschaftlichen Lebensstil ‚die Stirn bieten‘ zu können, der nicht zur Disposition steht.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die Figuration der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft impliziert aber nicht nur eine Limitierung, (Kontingenz-)Umstrukturierung und Neuentwicklung von Habitusbzw. Gewohnheitsformen und damit von entsprechenden Stilen, sondern auch eine systematische und fortschreitende Entkoppelung von Stilen und Habitus. Die Realitäten der Stile, der Stilperformanzen und Stilbildungen tendieren m. a. W. zunehmend dazu, sich sozusagen von Habitus zu emanzipieren. Neben den Habitus bestehen und entstehen heute noch andere, ebenso wichtige oder noch wichtigere Stilgeneratoren, Stilgedächtnisse und Stilforen auf den Ebenen der figurationsspezifischen (feldspezifischen) Kommunikationen, Diskurse und Visualisierungen, insbesondere auf den Ebenen der Massenkommunikationsmedien, des Internets und der Märkte für Konsumgüter. Stile, Stilelemente und Stilkomponenten sind und werden hier explizit, reflektiert, thematisiert und ganz bewusst kreiert.256 In der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ geht also die (Rest-)Existenz und (Neu-)Entwicklung von (eher unbewussten und präreflexiven) Habitusstilen einher mit von diesen Stilen mehr oder weniger abgelösten Stil-Universen, mit stilistischen Innovationen, Modulationen und Pluralisierungen sowie mit einem Vordringen von stilistischen Regeln/Regelungen und (Regel-)Kreationen. Und dies wiederum impliziert ein geschärftes Stil-Bewusstsein, eine stilistische Regelaufmerksamkeit, Stil-Unsicherheit und Stil-Vergewisserungsbedürftigkeit, der Stil-Modelllieferanten, Stil-Informanten und Stil-Definitoren wie die Massenmedien einen Teil ihrer Resonanz verdanken. In allen diesen Zusammenhängen – der Stilirritation, Stilblockade, Stilbildung, Stilwandlung, Stilreflexion usw. – sind die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse bzw. die verschiedenen gesellschaftlichen Differenzierungsformen, und das heißt Figurationsformen, von systematischer und größter Bedeutung. Mit Hahn ist hier – durchaus auch im Sinne von Elias – zunächst eine sozusagen führende stilgenerative Rolle der funktionalen Differenzierung zu konstatieren: „Je stärker (…) die funktionale Ausdifferenzierung der verschiedenen Daseinssphären, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Stilbildungen eher durch die subsystemische Tradition als durch die frühkindlich erworbenen Dispositionen der Individuen erklärbar sind“ (Hahn 1986: 609). Der funktionalen Differenzierung korrespondieren gleichzeitig andere sozio-kulturelle Differenzierungen mit spezifischen Stilbzw. Lebensstilkorrelaten – vor allem: Aus- und Binnen-Differenzierungen von
256 Natürlich ist hier auch und gerade an die moderne Kunst zu denken. Hier können sich spezifische Stile entwickeln, die – obwohl niemals unabhängig von den unbewussten ‚Basiskontinuitäten‘ (epochalen oder gruppengebundenen Dispositionen) der Künstler – in hohem Maße bewusster Kreation entspringen (vgl. Hahn 1986).
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Schichten, Klassen, Milieus257. Im Übergang zur primär funktional differenzierten modernen Gesellschaft verschwindet die alte Oberschicht mehr oder weniger, aber sie verschwindet nicht ersatzlos, sondern wird – teilweise in den Rahmen der sozialen Felder (‚Subsysteme‘) – abgelöst von neuen „guten Gesellschaften“ (Elias), die alte und neue (Lebens-)Stile und auch orientierende Stilmodelle kultivieren (vgl. Girtler 1991). Neben die und an die Stelle der großen, homogenen sozio-kulturellen ‚Blöcke‘ (Schichten/Klassen) treten auch zunehmend diversifizierte Figurationen anderen Formats: Subkulturen, Szenen, medienzentrierte Netzwerke, ‚Spezialkulturen‘, ‚kleine Lebenswelten‘ usw., die eigene Stile, Stilmodelle, ‚Stilsemantiken‘ und auch Lebensstile generieren und regenerieren. Ein anschauliches Beispiel für die hier gemeinten – figurationssoziologisch einzuordnenden – Zusammenhänge von Stilbildungen, Stilen/Stilisierungen, stilistischen Distinktionen und Theatralitäten liefert Hans-Georg Soeffner (1995: 76 ff.) in einer Untersuchung der (Sub-)Kultur der Punks. Sie zeigt, dass und wie die Punks mit spezifisch theatralen (und theatralischen) Mitteln sehr bewusst und subtil einen Habitus gestalten und einen Stil bilden und ‚pflegen‘: „Spezifische Erscheinungsform und Inszenierungspraxis von ‚Punk‘ als Stil und von ‚Punks‘ als Gruppenmitgliedern und Designern dieses Stils sind (…) Ergebnis einer bewußten Stilisierung und eines impliziten, kollektiv geteilten Wissens der Punks darum, welche Details und Elemente eines Symbolsystems ausgewählt und realisiert werden müssen, um die richtige ‚performance‘ von ‚Punk‘ zu inszenieren“ (ebd.: 83). Diese ‚performance‘ ist also (unter der Voraussetzung einer gesellschaftlichen Normalität, die dies zulässt) zwar antinormalistisch, aber sie ist alles andere als ‚stillos‘, ‚geschmacklos‘ oder gar ‚unzivilisiert‘. Vielmehr stellt sie ein komplexes (Spezial-) Wissen und eine (Spezial-)Urteilskraft voraussetzende und entfaltende Gestaltung und eine Art Fremd- und Selbst-Beschreibung dar, eine stilistisch-symbolische Entscheidung und eine Selbstfestlegung auf ein distinktes und distinktives Modell, das nicht nur auf andere Möglichkeiten verweist, sondern auch ein demonstratives Gegen- und Anti-Modell dazu bildet und sein will. Wer sich so ‚stylt‘, d. h. zunächst und vor allem: seinem ‚äußeren Habitus‘ eine entsprechende Form (Gestalt) gibt, beabsichtigt und bewirkt eine soziale Unterscheidung – im Falle der Punks eine spektakuläre und provokatorische Totalunterscheidung im Rahmen der ganzen Gesellschaft bzw. Normalität.258 257 Deren gesellschaftsgeschichtliche Stil-Bedeutung lässt sich mindestens ansatzweise im Rahmen des Elias’schen ‚Sickermodells‘ beschreiben und erklären. 258 Eine frühe Form solch bewusster und theatralischer Selbststilisierung mit der Funktion der Abgrenzung von der ‚Normalität des Bürgers‘ stellt der ‚künstlerische Lebensstil‘ dar, wie er in der Bohème des 19. Jahrhunderts entwickelt und gepflegt wurde (vgl. Bourdieu 1999: 93 ff.). Was hier
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die genannten, eingehend zu thematisierenden Entwicklungen, insbesondere mit sozio-kulturellen Differenzierungsprozessen einhergehende Individualisierungsprozesse, implizieren die Generalisierung und Differenzierung von Stilwissen, Stilbewusstsein und stilistischem Kontingenzbewusstsein sowie eine tendenzielle Erweiterung der Möglichkeiten, Freiheiten, Zwänge und Anregungen von individuellen und kollektiven Akteuren, sich Stile oder Stilelemente anzueignen und anzumessen. Stil wird auch und vor allem aus diesen Gründen zunehmend zum Thema, zum Bedürfnis, zum Interesse und damit zum Gegenstand von Entscheidungen und Gestaltungen; Stil wird m. a. W. immer mehr zur Stilfrage, zur Stiloption und zur (Selbst-)Stilisierung. Neben die eher implizite, unbewusste, (und daher) unwillkürliche Distinktion und Distinguiertheit des Individuums durch Habitus-Stile tritt also zunehmend eine neue, reflexive Qualität von Stil-Wirklichkeit und Stil-Praxis und damit eine neue Qualität von sozialer Distinguiertheit und Distinktion. ‚Persönliche‘ Stile von Individuen, aber auch Gruppen-Stile und Stile von großen Organisationen, müssen, sollen und wollen zunehmend etwas oder auch etwas sein, das man nicht einfach oder gar immer schon ‚hat‘, sondern entwickelt, sich aussucht und sich gibt. Stile oder Stilelemente fungieren dann nicht oder nicht nur als Symptome oder Indikatoren von Identität, in die man sozusagen hineingewachsen ist, sondern eher als Generatoren und Ressourcen von Identität – durch explizite und bewusste Distinktion, die auf Aktion verweist, nämlich auf eine Theatralität, die praktische und wissenschaftliche Theatralitätsbegriffe wie Bühne, Inszenierung, Korporalität oder Performance aufruft (s. u.). Mit Elias kann man in diesem Zusammenhang (figurationssoziologisch) im Blick auf die ‚Gegenwartsgesellschaft‘ und die historische Entwicklung eine durch ‚Sickerprozesse‘ (s. o.) und Individualisierungsprozesse bedingte und bewirkte Generalisierung von Distinktionsbedürfnissen, Distinktionssymboliken und Distinktionsaktivitäten mittels (Selbst-)Stilisierungen erwarten und konstatieren. Inhaltlich ähnlich ist die „sozialpsychologische“ Zeitdiagnose Gehlens, die sich hier prämiert und gegen den ‚Konformismus des Bürgers‘ gewendet wurde, waren Ausdrucksformen des individuellen, als Kunstwerk begriffenen Lebens, bis hin zu Überschreitungen und Waghalsigkeiten, die als Affront des gesunden Menschenverstands erscheinen mussten. Dennoch stand dieser unter den (Labor-)Bedingungen einer sich selbst exkludierenden Gruppe entwickelte Stil gleichsam Pate für die individuellen Selbststilisierungen jedermanns, die Simmel mit dem Begriff des Lebensstils bezeichnet hat. In der „bürgerlich-kapitalistischen Moderne“ des beginnenden 20. Jahrhunderts fungiert der Stil, so Simmel, „als generelle Formung des Individuellen“, errichtet er „eine Schranke und Distanzierung gegen den anderen“ (Simmel 1989: 695). Eine Reihe von Jahrzehnten später hat Bourdieu auf seine Weise im Sinne dieses ‚funktionalistischen‘ Stilverständnisses argumentiert. Für ihn ist Stil bzw. Stilisierung „das strategische Mittel zur Darstellung von Distinktion“ (Bourdieu 1982: 120).
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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spezifisch erkenntnisgewinnbringend heranziehen lässt. Vieles spricht dafür, dass Gehlen (1957: 65) Recht hat, wenn er im Streben nach Geltung, (d. h.) Distinktion und (d. h.) Überlegenheit, im Anspruch und in der Praxis des Geltenwollens und Mehrgeltenwollens geradezu eine Signatur unserer Epoche sieht.259 Dem gleichzeitigen oder gleichzeitig gesteigerten Streben nach Normalität260 steht demnach ein nicht minder intensiver und nicht minder generalisierter Anti-Normalismus gegenüber, der nicht nur die besagten Extreme, sondern auch die Normalen und Normalsten umfasst und sie motiviert, sich selbst und ihr Leben zu stilisieren. Das mit Normalismen gepaarte allgemeine, verallgemeinerte und verstärkte Geltungs- und Distinktionsstreben findet heute einmalig viele Anhaltspunkte, Haltepunkte und Erfüllungsgehilfen. Einer der wohl wichtigsten besteht in einer Art Allianz von Waren- und Konsumkultur einerseits und (insbesondere konsumistischer) Medienkultur (Werbung, Seifenopern, ‚Promi-Dinner‘ etc.) andererseits. Diese Allianz trägt den entsprechenden Publikumsbedürfnissen symptomatisch und zugleich verstärkend und (re-)generativ Rechnung – so z. B., wenn, wie es zunehmend der Fall ist, Serien- und Massenprodukte vom Fertighaus über die Kleidung bis zum Automobil mit Design- und Styling-Unterschieden versehen werden (vgl. Steinwachs 1986). Auf dieser Art von Grundlage kann, will und soll heute jedermann sich selbst, seine ‚Individualität‘ und seine Lebenswelt stilisieren, d. h. käufliche Versatzstücke (pseudo-)distinktiv orchestrieren (vgl. Sennett 1985: 110; Burkart 2006: 21). Stil wird auch in diesem Fall noch „zu einem Ausdrucksmittel und zu einer Darstellungsform sozialer Abgrenzung. Er veranschaulicht ‚Mitgliedschaft in …‘ und ‚Abgrenzung von …‘ durch bewußte Präsentation und Stilisierung seines Selbst für interpretierende andere“ (Soeffner 1995: 81). In Bezug auf die Angebote des „Konsumkapitalismus“ spricht Ulrich Oevermann im Sinne dieses Stilbegriffs von Lebensstilen „als Mustern der Selbstdarstellung und Lebensführung (…), die man sich, z. B. verkörpert in Kleidung oder Eßgewohnheiten und Urlaubsusancen als Exklusivität kauft, unter die man sich also subsumiert“ (Oevermann 2001: 49). Lebensstile sind, so gesehen, „standardisierte Formen der Herstellung von Individualität (…). Wer in diesem Sinne ‚up-to-date‘ sein will, muss sich ständig darüber (z. B. vermittels Zeitschriften) informieren, was jeweils ‚in‘ ist“ (ebd.). So verstanden – und Oevermann führt sie so vor – sind Lebensstile das Gegenteil von Habitusformationen, nämlich als 259 Gehlen konstatiert schon im Ausgang der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Tendenz, die sich seither noch deutlich verstärkt hat: „eine Allgegenwart, Stärke und zugleich Verunsicherung des Geltungsbedürfnisses, die historisch wohl ohne Vergleich sind (…)“ (1957: 65). In eine ähnliche Richtung geht die Zeitdiagnose Laschs (1986). 260 Oder auch der Sucht nach Normalität (Normalismus nach Jürgen Link).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Theatralität und Theatralisierung fassbare Strategien und Materialien der Distinktion, die aus Industrien und Märkten erwachsen und auf Märkten und (Medien-) Bühnen angeboten werden. Diese sozialen Figurationen und ihre Akteure beziehen sich allerdings notwendigerweise auf verschiedene Kapitalsorten261 und auf (Kauf-)Freiheiten der Publika, und d. h. auch auf deren habituelle Dispositionen. Hier gilt im Prinzip, was oben im Kontext von Ritualen über das kulturelle Forum der Massenmedien gesagt wurde: Märkte und Vermarkter aller Art müssen sich zuerst und zuletzt an den Habitus ihrer Publika, und d. h. an deren Stilen, orientieren, bevor sie in diesem Rahmen eventuell selbst Habitus- und Stilmomente bilden oder umbilden.
6.3
Massenmedien, Stile und Stilisierungen
Die bisher angedeuteten Stil-Realitäten der Gesellschaft und die Bedeutungen von Stilen und (Selbst-)Stilisierungen in der jüngeren Gesellschaftsgeschichte überhaupt hängen offensichtlich mit der Entwicklung und mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Massenmedien zusammen262, die nicht nur Stile, Lebensstile und Habitus voraussetzen und strategisch ansteuern (müssen), sondern als Stil-Räume (Stil-Bühnen/Stil-Foren) eigener Art auch Auswirkungen auf Habitus und (Verhaltens-, Lebens-)Stile haben. Die massenmedialen Performanzen, Performatoren und ‚Katalysatoren‘ von Stilen und Stilisierungen verlangen und verdienen daher in diesem Kontext besondere (figurations-)theoretische und analytische Aufmerksamkeit.
6.3.1
Medienfigurationen, Stile und Stilisierungen
In den, neben den und in gewisser Weise auch über den verschiedensten sozialen Figurationen (Feldern) – und d. h. auch den Produktfeldern und Konsumwelten als heutigen Hauptträgern von (Lebens-)Stilen, (Lebens-)Stilbildungen und (Lebens-)Stilisierungen – bilden die Massenmedien eine eigene Sphäre von Stilen, Stilverarbeitungen, Stilbildungen und Stilisierungen. Diese Sphäre ist einerseits relativ autonom, (zunehmend) differenziert und eigenkomplex (geworden), 261 Vor allem ökonomisches und kulturelles Kapital. 262 Von den entsprechenden Relevanzen und Besonderheiten des Internets sehe ich an dieser Stelle erst einmal ab. Vgl. dazu Willems (Hg.) (2008b).
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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hat aber auch eine kontinuierliche und gegenwartswirksame sozio-kulturelle Vorgeschichte/Vormediengeschichte und entwickelt sich seit jeher in Verhältnissen der Interdependenz und symbolischen Zirkulation mit Figurationen jenseits der Massenmedien. Wie in anderen Kulturhinsichten (Symbole, Skripts, Rituale usw.) fungieren die Massenmedien auch in stilistischen Hinsichten als ein Ensemble kultureller Foren, das bei aller Autonomie, Produktivität und Kreativität seiner Akteure auf vorgegebenes Wissen, nämlich Stilwissen des Publikums, referiert und referieren muss. Das Wissen bzw. Stilwissen des jeweiligen Publikums ist gerade unter den fortgeschrittenen Differenzierungs-, Konkurrenz- und Knappheitsbedingungen des heutigen Medienmarktes eine von den Medienakteuren nicht (mehr) einfach nur zu unterstellende, sondern bewusst, reflexiv und strategisch zu berücksichtigende, zu kontrollierende und zu instrumentierende Erfolgsbedingung. Demgemäß zutreffend und genau identifiziertes (etwa mit Hilfe von Sozialforschung rekonstruiertes) Publikums(stil)wissen ist z. B. die Voraussetzung dafür, dass Medienprodukte zum Zweck der Aufmerksamkeitserzeugung und/oder der Unterhaltung mit Stil- und Habitusirritationen (z. B. Stilbrüchen) arbeiten können.263 Insofern trifft es durchaus zu, auch wenn es nur die eine Seite der Medaille ist, dass die Massenmedien zur Reproduktion gegebener (Publikums-)Kultur/Wissensbestände tendieren. Dies gilt beispielsweise (und in besonderer Weise) für die Werbung, die als strategischer Handlungstyp und medialer Handlungsbereich ihrem Wesen nach in diesem Sinne ‚affirmativ‘ ist. Die Werbung kann hier aber auch als Beispiel dafür genommen werden, dass die verschiedenen massenmedialen Bereiche in ihren Publikumsbezügen verschiedene ‚Kultur-‘ oder ‚Wissenspolitiken‘ betreiben und betreiben müssen. Infolge ihrer operativen Stilisierungslogik, die die Funktionen der normativen Idealisierung einerseits und der kommunikationstechnischen Simplifikation, Pointierung und Beschleunigung der Kommunikation andererseits zur Deckung bringt, wie auch infolge ihrer Medialität bzw. Medienspezifität, stellt die Werbung alles andere als einen wirklichen Spiegel der (Lebens-)Wirklichkeit der Stile dar. Zwar wird in ihr tendenziell die ganze Bandbreite der ‚real existierenden‘ Stile aufgegriffen und performiert; diese und jede (Primär-)Wirklichkeit der Stile existiert in der Werbung aber nur insofern, als
263 Ebenso verweisen z. B. die Lebensstilzitate bzw. die Lebensstil-Stilisierungen, die im (fernseh-)medialen Inszenierungsangebot in Normalformen wie in Sonder- und Extremvarianten (‚feine Leute‘, Stars, Prominente etc., aber auch ‚Randgruppen‘, Punks, Sadomasochisten etc.) eine große Rolle spielen, auf entsprechendes Publikumswissen, das die Mediendramaturgien (etwa die Werbungsdramaturgie) in Form von Stereotypen, Skripts, Deutungsmustern usw. zum Tragen bringen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sie in die werblichen Medien- und Gattungsrahmen passt und d. h. in diesen Rahmen darstellbar und strategisch funktional performierbar ist. Medienerzeuger und Medienerzeugnisse generell referieren auf das entsprechend relevante Wissen bzw. Stilwissen ihres Publikums auf verschiedenen Selektions- und Transformationsebenen und in Verarbeitungsformen, die ihrerseits mit dem Stilbegriff fassbar sind. Die verschiedenen Medientypen, Programmbereiche (Unterhaltung, Nachrichten/Berichte, Werbung), medienkommunikativen Gattungen, Gattungsfamilien und Gattungsvarianten zeichnen sich jeweils durch eigene (kognitive, inszenatorische, performative) Stile und Meta-Stile aus, die auch die Referenz auf das Publikums(stil)wissen und dessen inszenatorischperformative Umsetzung im Medium strukturieren. So kultivieren die verschiedenen (Gattungs-)Varianten der Talk Show einen je eigenen und besonderen Stil der Selbst- und Fremdthematisierung. Und diese Art von Stil und Stilisierung steht – offensichtlich – in einem systematischen Zusammenhang mit Stileigenschaften (dem Denkstil, der Mentalität, dem Geschmack, dem Lebensstil) des Publikums oder eines bestimmten Publikums.264 Die Massenmedien bilden also, bedingt und vermittelt durch ihre eigenen ‚Infrastrukturen‘, ihre eigenen Organisationsformen und ihre jeweiligen kontingenten Praxen, Stilforen, auf denen im (Rück-)Bezug auf Publikums(stil)wissen Stile und Stilelemente der verschiedensten Art performiert werden. Als zentrale und grundlegende Bezugsrahmen der (medialen) Inszenierung und Performanz fungieren dabei praktisch gewusste Images lebensweltlich-traditioneller (Habitus-) Stile, z. B. rollenspezifischer Verhaltensstile (der Geschlechter, der Kinder, der Jugendlichen, der Alten, der Berufe usw.), milieuspezifischer Lebensstile (z. B. des ‚Niveaumilieus‘ oder des ‚Ökomilieus‘) oder sozialer Anlass-Stile (Geburtstagsfeier, Festrede etc.). Sie werden in den gattungsspezifischen Medieninszenierungen in einer Art Kopie zu speziellen Verständigungs-, Attraktions- und Beeinflussungszwecken aufbereitet und schließlich kommunikativ dargeboten. Auf diese Weise fungieren Massenmedien (auch jenseits der Motive und Intentionen ihrer Macher) als kulturelle/kosmologische Wissens-Einrichtungen, Gedächtnisse und ‚Spiegel‘, die die Grammatikalität der Sinnverständnisse und Weltanschauungen ihrer Publika nicht nur instrumentieren, sondern auch bestätigen, zuspitzen und demonstrieren. Diesbezüglich könnte man von Hyper-Stilisierungen der medialen 264 Unübersehbar gibt es hier wie anderswo einen engen Zusammenhang zwischen dem Stil der Sendung/des ‚Formats‘ (einschließlich ihrer dramatischen Protagonisten) und dem Stil bzw. dem Milieu/Habitus des Publikums, weswegen z. B. der ‚parasoziologischen‘ Rede Harald Schmidts vom „Unterschichtenfernsehen“ (vgl. Burkart 2006: 29) auch soziologisch nicht prinzipiell zu widersprechen ist.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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Performanzen sprechen, die Stile und (damit) Habitus des jeweiligen Publikums, d. h. Wirklichkeitsverständnisse, Geschmacks- und (Selbst-)Achtungsvorstellungen, gleichsam poetisch verdichten. Wie erwähnt, hat Goffman diese symbolische Funktion (interaktions-)ritualtheoretisch mit dem Begriff der „Hyper-Ritualisierung“ gefasst und empirisch-analytisch thematisiert und unter Beweis gestellt (vgl. Goffman 1981b; Willems/Kautt 2003: 127 ff.). Als Stil-Reproduzenten, die entsprechendes Publikumswissen (weiter-)verarbeiten und entsprechende (latente) Publikumserwartungen bedienen und benutzen, bilden die Massenmedien heute, ohne dabei aufzufallen, die wohl wichtigsten symbolischen Einrichtungen und ‚Stützkonstruktionen‘ der Gesellschaft. Gleichzeitig sind sie auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten die gesellschaftlich wichtigsten Stil-Informanten. Als solche stellen sie nicht zuletzt unverzichtbare Foren für die immer wieder neuen (lebens-)stilistischen Angebote des ‚Konsumkapitalismus‘ dar, speziell für (nicht nur Kleidungs-)Moden (vgl. Würtz/Eckert 1998; Ferchhoff 2002: 385 ff.). Sie berichten und visualisieren, was jeweils ‚in‘ und was ‚out‘ ist; informieren über Stilistisches aber auch eher indirekt oder implizit – z. B. in Fernseh-Shows wie dem „Promi-Dinner“, die relativ statushohe Lebensmilieus inszenieren und wo lebenspraktisch kopierbare (Lebens-) Stile, Stilelemente und Stilisierungen nicht nur vorgeführt sondern auch vorgelebt werden. Auf diese Weisen decken die Massenmedien einen vermutlich tendenziell wachsenden und sich vervielfältigenden symbolischen und praktisch-dramaturgischen Orientierungs- und Ressourcenbedarf. Gewisse (Stil-)Informationen ergeben sich mit anderen Vorzeichen und in anderer Weise auch aus stilistischen (Dauer-)Irritationen bzw. Erwartungsenttäuschungen der Massenmedien, z. B. aus Berichten über fremde und befremdliche Verhaltens- und Lebensstile (auch und gerade in der ‚eigenen‘ Gesellschaft) sowie aus dokumentierten und inszenierten Stil(rahmen)brüchen mehr oder weniger spektakulärer Art.265 Nicht zuletzt durch ihre fiktionalen Erzeugnisse im Unterhaltungsbereich wirken die Massenmedien in diesem Zusammenhang als Faktoren der Überraschung, der Befremdung, der Phantasiestimulation, der Entsicherung und Verunsicherung; auch darüber hinaus fungieren die Massenmedien gleichsam 265 Das mittlerweile schon klassische Beispiel aus dem Bereich der ‚provokatorischen Werbung‘ ist die ‚Benetton-Kampagne‘. Seit einiger Zeit gibt es in der Werbung eine regelrechte Tendenz, mit mehr oder weniger krassen Stil- und Ritualbrüchen zu arbeiten. Die Hauptfunktion dieser Strategie liegt natürlich in der Produktion von (knapper) Publikumsaufmerksamkeit. Aber auch die Adressierung von Lebensstilen und Habitus kann der Zweck dieser Übung sein. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Werbung auf Jugendliche und Jugendkulturen zielt, für die ‚Nonkonformität‘ und Provokation Identitätsideale sind (vgl. Willems/Kautt 2003: 175 ff.).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
als stilistische Kontingenzgeneratoren und Kontingenzbewusstseinsgeneratoren, als Stil-Labore und Räume stilistischer (verhaltens-, denk- oder lebensstilistischer) Experimente. Diese Seite der massenmedialen Stil-Realität dürfte also erheblich an der ‚Enttraditionalisierung‘ der Gesellschaft, an stilistischen Selbstverständlichkeits-, Geltungs- und Bindungsverlusten beteiligt gewesen sein und – noch verstärkt durch das Internet – beteiligt bleiben. Eingeschlossen sind dabei auch rituelle Formen und Ordnungen als Stil- oder Lebensstilmomente (s. o.). Als (Lebens-)Stilforen/(Lebens-)Stilbühnen sind die Massenmedien (massenmedialen Bereiche und Gattungen) also mindestens in einem bivalenten oder ambivalenten Sinne sozial und (stil-)sozialisatorisch bedeutungs- und wirkungsvoll. Einerseits tragen sie in einer sozusagen habituskonservativen (habituskonservierenden), aber auch habituskomplementierenden Weise zur stilistischen Selbstreproduktion und Selbstverständigung (in) der Gesellschaft bei und fungieren als ‚Instanz‘ der stilistischen (Selbst-)Bestätigung, Orientierung, Definition, Vergewisserung und Sozialisation266, die auch gewisse Stiltraditionen beinhaltet, begünstigt und begründet. Andererseits leisten die massenmedialen (Stil-)Performanzen stilistischen ‚Dekonstruktionen‘, Wandlungen, Destabilisierungen, Informalisierungen und Anomisierungen Vorschub und rufen damit die Subjektivität des stilistischen (Selbst-)Gestalters und der stilistischen (Selbst-)Gestaltung als Möglichkeit und Erfordernis auf den Plan. Insoweit sie in ihren verschiedenen Bereichen und Gattungen (Lebens-)Stile und (Lebens-) Stilmomente implizieren, inszenieren, visualisieren oder thematisieren, sind die Massenmedien in jedem Fall auch sinngeladen bzw. sogar Vertreter und Verkünder von (Welt-)Deutungen und (Welt-)Deutungsmustern, seien sie ästhetischer, geschmacklicher, kognitiver oder moralischer Art. Zwar kann man diesbezüglich (gerade vor dem Hintergrund des Gesagten) nicht von einer generellen Stimmigkeit oder Einheitlichkeit etwa im Sinne eines (massenmedialen) ‚Weltbilds‘ oder einer Ideologie sprechen267, gleichwohl sind in den differentiellen Stil-Räumen der Massenmedien mehr oder weniger ausgeprägte semantische (Sinn-)Regelmäßigkeiten, Formen, Muster, Schwerpunkte und Tendenzen zu erkennen. In bestimmten Medienbereichen und Mediengattungen, aber auch über
266 Besonders nachgefragt wird diese Instanz ‚naturgemäß‘ vom jugendlichen Publikum und von allen Gruppen und Individuen, die einen besonderen stilistischen Orientierungsbedarf bzw. ein besonderes Interesse daran haben, stilistisch ‚up to date‘ zu sein. 267 Auch hier gilt im Prinzip, dass sich in den Massenmedien die heterogene Komplexität, Entwicklung und Wandlung der Sinnkonstruktionen ihrer Publika spiegelt und bricht. Nicht Stimmigkeit sondern Vielstimmigkeit ist die normale kulturelle Realität der Massenmedien.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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deren Diversität hinweg, werden mit wiederkehrenden (Lebens-)Stil-Images auch Sinnkonstruktionen und Deutungen bzw. kosmologische ‚Botschaften‘ verbreitet. So findet man im heutigen Kommunikationsraum der Massenmedien beinahe überall eine ‚Image-Theorie‘ des Daseins, die sich auf Stile und Stilisierungen bezieht und mit diesbezüglichen Relevanzstrukturen und Handlungsempfehlungen einhergeht bzw. zur effektvollen Selbststilisierung aufruft. Über diverse Mediengattungen hinweg wird immer wieder die kosmologische ‚Botschaft‘ verkündet und buchstäblich verkörpert, dass es wichtig für das Image, die soziale Geltung und auch die persönliche Identität sei, sich richtig, d. h. up-to-date, aber auch individuell (typ-)angemessen und originell, zu stilisieren und grundsätzlich auf den eigenen Stil wie auf den anderer zu achten.268 Die Massenmedien indizieren, fordern und fördern mit solchen ‚Botschaften‘ einen „expressiven Individualismus“ (Burkart 2006: 34)269, eine ‚stilistische‘ Mentalität, die den sozialen Erfolgsweg in entsprechenden Oberflächen sieht, und auch eine ‚Bastel-Praxis‘ des Individuums, das kontinuierlich damit beschäftigt ist (und wird), aus symbolischen Materiallieferungen bzw. Symbol- und Ideenlieferungen (gerade auch der Massenmedien) eine individuelle, passende und originelle Gestalt(ung) zu bilden. Die Werbung ist vermutlich dasjenige medienkulturelle (Stil-)Forum bzw. die (Stil-)Bühne, das die hier gemeinte (Lebens-)‚Philosophie‘ tendenziell am reinsten, ausdrücklichsten und nachdrücklichsten vertritt, ja geradezu propagiert und zelebriert. Gleichzeitig und entsprechend ist sie ein – auf das (jeweilige) Publikum gerichteter – permanenter, vielstimmiger und lauter Daueraufruf zur Stilisierung, zur Lebens- und (als) Selbststilisierung, zu der sie auch die Materialien (Produkte als Requisiten), Wege und Methoden empfiehlt. Der strategischen Handlungsund d. h. Idealisierungslogik der Werbung, ihr Publikum für ein Produkt (oder allgemeiner: ein Objekt) „einzunehmen, und das heißt, dieses von seiner vorteilhaften Seite, im Kontext strahlender Ereignisse zu zeigen“ (Goffman 1981b: 114), korrespondiert ihr allgemeines soziales Erfolgs- und Lebensrezept, demzufolge es ratsam ist, sich im Handeln ausschließlich an sozialen – äußeren – Erfolgsbedingungen zu orientieren und daher je nach Handlungsziel nicht etwa auf Wahrheit, sondern auf (Publikums-)Wahrnehmung, auf ‚Wirkung‘, auf ‚schönen Schein‘ und ‚guten Eindruck‘ (des Publikums) zu setzen.270 Ein Stilisierungsimperativ oder eine 268 Die entsprechenden Botschaften sind natürlich vielfältig kontextiert. Sie reichen von der Werbung über bestimmte Ratgeberdiskurse bis hin zu dem Diskurs über ‚Frau Merkels‘ Kleidung oder Frisur. 269 Burkart (2006: 34) spricht von einem „Zeitalter des expressiven Individualismus“ und bewegt sich damit ganz in der Nähe der Begriffe Theatralität und Theatralisierung (s. u.). 270 Die Werbung berät damit ähnlich wie die diversen Klugheitslehren (insbesondere seit der ‚höfischen Gesellschaft‘). Stilisierung bzw. Selbststilisierung ist auch ein allgemeines Klugheitsprinzip,
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Stilisierungsempfehlung liegt aber in gewissem Sinne schon in der Werbungsperformanz als solcher, in ihrer Eigenlogik als kommunikative Gattung. Die Werbung bildet als solche, je mehr sie sich im sozialen Raum ausdehnt und subtil durchdringend selbstverständlich wird umso mehr, ein generalisiertes Modell für die Handlungs- und Lebensführung jedermanns. Auch insofern ist sie stilbildend.
6.3.2
(Medien-)Figurationssoziologie und Cultural Studies
Im Blick auf massenmediale Figurationen/Felder wie die Werbung oder die Unterhaltung zeigt sich aus der hier vertretenen Perspektive nicht nur eine – immer auch zivilisatorische oder zivilisatorisch signifikante – Wirklichkeit von Stilen (Stilisierungen, Stil-Semantiken, Stil-Entwicklungen usw.), die auf Publika ebenso rekurrieren wie wirken, sondern es zeigt sich zugleich auch die relative Eigenwirklichkeit, der relative Eigensinn und die relative ‚Eigensinnigkeit‘ des Publikums (der Publika) als Akteur, d. h. des Publikums in seinem aktiven Bezug und Bezugnehmen auf die potentiellen und aktuellen Performanzen/Kommunikationen der Massenmedien. Auch auf dieser Ebene erweist sich der Stilbegriff in verschiedenen Fassungen und Hinsichten als brauchbar und nützlich. Wenn es z. B. darum geht, die sozialen Praktiken und ‚Kontexte‘ des Umgangs mit Medien und Medienerzeugnissen, ihre Rezeption, ihren Gebrauch, ihre Nutzung usw. zu untersuchen, dann helfen die in der beschriebenen Weise gerahmten und vernetzten Begriffe Lebensstil und kognitiver Stil weiter. So zeigt sich, dass – und lässt sich die Frage bearbeiten wie – Massenmedien in den Lebensstil (oder die Lebensstile) von Gruppen und Individuen eingebettet sind bzw. diesen Lebensstil ausmachen.271 Eine figurationstheoretische Stilbegrifflichkeit ist also auf alle Seiten und Ebenen der ‚Realität der Massenmedien‘ zu beziehen und erlaubt eine entsprechende (synthetische) Betrachtung dieser Realität im und als Gesamtzusammenhang. Eine in diesem thematischen Kontext in mancher Hinsicht – und vor allem
das die Werbung ihren Rezipienten (jedermann) implizit und explizit nahelegt und das sie gleichsam ausbuchstabiert. Weiter oben befasse ich mich etwas ausführlicher mit diesem gerade auch unter figurations- und zivilisationssoziologischen Gesichtspunkten interessanten Thema. 271 Und natürlich sind auch etwa differentielle soziale/sozial differenzierte (gruppenspezifische, milieuspezifische, generationsspezifische, individuumspezifische usw.) Stile der Rezeption von Medienerzeugnissen anzusteuern und aufzudecken.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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auch in der Grundausrichtung – ähnliche Betrachtungsweise postulieren die Cultural Studies.272 So stellt z. B. Rainer Winter fest: „(…) Formen mediatisierter Kommunikation (sind, H. W.) immer in soziale Kontexte eingebettet, die auf unterschiedliche Weise strukturiert sind und einen strukturierenden Einfluss auf die sich ereignende Kommunikation haben. Eine kulturtheoretisch orientierte mediensoziologische Betrachtungsweise zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die sozialen Bedingungen der Produktion, Zirkulation, Rezeption und Aneignung medialer Botschaften zum Thema macht und ihre Bedeutungsdimension angemessen analysiert. (…) Darüber hinaus zeigt sie, wie mediatisierte Formen der Kommunikation integraler Bestandteil sozialen Lebens sind und nur in diesem umfassenderen kommunikativen und kulturellen Kontext angemessen verstanden werden können.“ (Winter 2005: 152)
Die Verwandtschaft zwischen der Sicht der Cultural Studies und der der Figurationssoziologie ist an dieser Stelle wie an anderen unübersehbar. Beide Theorieund Forschungsrichtungen fokussieren und entwerfen ‚umfassendere kommunikative und kulturelle Kontexte‘ (Figurationen), und zwar als variabel strukturiert und Praxis strukturierend gedachte soziale Kontexte, die immer auch – als soziale Beziehungen verstandene – Machtverhältnisse und subjektiv tangierbare ‚Machtbalancen‘ einschließen.273 Beiden Richtungen geht es unter diesen Vorzeichen um den tatsächlichen Zusammenhang und die innere Logik der sozialen Praxis, was den Begriff des Lebensstils nahelegt. Beide Richtungen haben (also) mit den sozialen (Figurations-)Kontexten und Praxen zugleich den (aktiven) Akteur sozusagen als die andere Seite der Medaille im Sinn und im Blick. Damit wird auch in beiden Fällen der Perspektivität und ‚Raffinesse‘ (‚Kunst‘) des Handelns und des Handelnden systematische Bedeutsamkeit beigemessen und Aufmerksamkeit geschenkt. Die differentiellen und differenzierten ‚Lesarten‘ (kognitiven Stile) und die ‚Eigen-‘ und ‚Gegenmacht‘ des Akteurs bzw. des Medien(publikums)akteurs sind Aspekte oder Dimensionen, die in den Cultural Studies betont werden, die aber auch in der
272 Der Stilbegriff spielte gerade für die Mitglieder des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham in den 1960er und 70er Jahren eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Hebdige 1979; zur Übersicht über die Stil-Theoretiker des CCCS vgl. Jacke 2009). 273 Kultur wird in nicht wenigen Untersuchungen der Cultural Studies als eine geradezu konfliktive Praxis verstanden, in der die Akteure im Rahmen unterschiedlicher Machtverhältnisse, Machtasymmetrien und Machtbalancen um Identität und Anerkennung ringen (vgl. z. B. Hieber 2005).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
figurationssoziologischen Version von Praxis und Wirklichkeit eine systematisch wichtige Rolle spielen. Ein eingehender Vergleich und ein Austausch zwischen diesen Ansätzen erscheinen also machbar und vielversprechend. Ich behaupte, dass auch eine Synthese unter den allgemeinen Theorievorzeichen der Figurationssoziologie – als Prozesssoziologie, Feldsoziologie, Praxissoziologie, Habitussoziologie, Zivilisationssoziologie, Wissenssoziologie, Symbolsoziologie – möglich und gewinnbringend sein könnte. Gerade als – zu entwickelnder – Ansatz der Medienforschung kann die Figurationssoziologie dabei von den Cultural Studies wie von anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen und Forschungskontexten profitieren. Begriffe und Konzepte wie Theatralität, Visualität/visuelle Kommunikation, Piktorialität (vgl. Boehm/Bredekamp (Hg.) 2009; Boehm/Brandstetter/von Müller (Hg.) 2007) oder Image (vgl. Kautt 2008) sind diesbezüglich zentral und weisen die Richtung möglicher und nötiger Anschlüsse, wobei der dargelegten Begrifflichkeit des Stils, die immer auch Spielräume des Handelns indiziert, eine zentrale Rolle zukommt.274 Umgekehrt verspricht die Figurationssoziologie aber eben auch in diesem Zusammenhang als theoretisches ‚Haus‘ und gleichsam als theoretischer Generalschlüssel fungieren zu können, der z. B. eher vagen Begriffen wie sozialer Kontext oder Kultur ein höheres Maß an theoretischer und analytisch-praktischer Bedeutung, Differenziertheit, Präzision und Erklärungskraft verleiht.275 Die Figurationssoziologie dürfte sich in Bezug auf die Cultural Studies und ähnlich konstruktivistische oder zum Konstruktivismus neigende Ansätze (wie den Symbolischen Interaktionismus) auch insofern als instruktiv erweisen, als sie zwar wie diese die Spielräume, Freiheiten und (konstruktiven) Kompetenzen der Akteure
274 Das ‚mediensoziologische‘ Begriffsrepertoire der Figurationssoziologie, und damit ihr Vermögen, Medien-Figurationen überhaupt oder hinlänglich differenziert zu erfassen, ist aus verschiedenen Gründen auf- und nachrüstungsbedürftig, die oben bereits angesprochen wurden. Dazu gehört auch ein werk- und theoriegeschichtlich bedingter ‚Interaktionismus‘. 275 Hier ist an die obigen (programmatischen) Überlegungen zum Kulturbegriff und speziell an Elias’ Kritik an diesem Begriff zu erinnern, die er zuletzt in seiner ‚Symboltheorie‘ auf den Punkt gebracht hat. Dort heißt es in Bezug auf die begriffliche „Antithese Natur – Kultur“: „Beiden Begriffen mangelt es an Präzision. Man mag noch nicht auf diese Begriffe verzichten können; sie stellen eine Synthese auf sehr hoher Ebene dar und sind deshalb schwer zu handhaben. Viele dieser Begriffe sind keine Repräsentationen von Tatsachen, sondern vielmehr von Spekulationen über Tatsachen oder von Mischungen aus Fakten und Phantasien. (…) Der Begriff ‚Kultur‘ ist oft nicht mehr als ein Oberbegriff für alles, was nicht Produkt der Natur im physikalischen Sinn des Wortes ist“ (Elias 2001: 72 f.). Die Distanz, Ablehnung oder Skepsis, die sich aus dieser Sicht der Dinge gegenüber Titeln wie ‚Cultural Studies‘ oder ‚cultural turn‘ ergibt, versteht sich von selbst.
Stile, Lebensstile und Stilisierungen
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(ihre Flexibilität, Kreativität, Produktivität, Widerständigkeit usw.) betont276, aber zugleich den sozialen und soziogenetischen Voraussetzungsreichtum und auch die systematischen Grenzen des Handelns und Handelnkönnens ins Auge und in die Theorie fasst. Den Begriffen Stil und (damit) Habitus kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, weil sie sozusagen synthetische Begriffe sind, die sowohl die eine Seite (Spielräume, Kreativitäten, Virtuositäten, ‚Handlungskünste‘) als auch die andere Seite (deren Bedingungen, Bestimmungen und Limitationen) im Sinn haben.
276 Ein neuerer Ansatz der Cultural Studies entwickelt aus dem Befund der Widerständigkeit und der Kreativität des Akteurs und der darauf gerichteten methodologischen Reflexion Konsequenzen für die Forschungspraxis, so z. B. im Rahmen einer „performativen Sozialwissenschaft“ (vgl. Denzin/ Henning/Winter 2008).
7
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
„Die ganze Welt ist wie eine Bühne, wir stolzieren und ärgern uns ja ein Stündchen auf ihr herum, und dann ist unsere Zeit um. Doch was hat es mit der Bühne auf sich und mit den Gestalten, die sie bevölkern ?“ Erving Goffman, Rahmen-Analyse
Einen weiteren Schwerpunkt meiner Arbeit bilden das am Modell des Theaters orientierte Konzept der „Theatralität“277 und die ihm entsprechenden Realitäten sowie die prozesstheoretische/zeitdiagnostische These der „Theatralisierung der Gesellschaft“278. Es wird zu zeigen sein, dass und inwiefern das Theatralitätskonzept gerade auch in seiner prozesstheoretischen/zeitdiagnostischen Wendung und Anwendung anschlussfähig, aber auch anschlussbedürftig ist. In diesem Zusammenhang geht es wiederum um begrifflich-theoretische Synthesen bzw. höhere Syntheseniveaus, die Vernetzungen mit bereits entfaltetem und noch zu entfaltendem Begriffs- und Theoriegut implizieren. Neben und mit den figurationssoziologischen Schlüsselbegriffen (Figuration, Feld, Habitus, Kapital usw.) spielen dabei nicht zuletzt die behandelten begrifflich-theoretischen Komplexe (Kultur, Wissen, Ritual, Stil/Lebensstil usw.) sowie die in diesem Buch abschließend thematisierte Theorie strategischen Handelns eine größere Rolle. Zu denken ist hier auch an die Vergleichbarkeit und (wechselseitige) Anschlussfähigkeit einer ganzen Reihe von eher mikrosoziologischen Ansätzen und Konzepten wie Rolle, Rahmen, kommunikative Gattung, Skript, Deutungsmuster, Image und kulturelles Forum. In Verbindung mit diesen und anderen Konzepten gleicher und anderer Ordnung kann das Theatralitätskonzept in den Rahmen der Figurationssoziologie gestellt werden und so nicht nur deren konzeptuell-theoretischer
277 In den im Kontext des entsprechend titulierten DFG-Schwerpunktprogramms (1997–2003) erschienen Sammelbänden, die Erika Fischer-Lichte u. a. herausgegeben haben, spiegeln sich neben differentiellen Begriffsgeschichten von Theatralität auch die interdisziplinären Diskurse, die in diesem und mit diesem Begriffsrahmen geführt wurden und werden (vgl. Fischer-Lichte/Horn/Umathum/Warstat (Hg.) 2001; 2003a, b; 2004; 2005; Fischer-Lichte/Horn/Warstat (Hg.) 2001). 278 In dem von mir herausgegebenen Sammelwerk „Theatralisierung der Gesellschaft“ werden diese Entwicklungen und Trends ausschnitthaft, aber sachlich breit und divers thematisiert. Vor diesem Hintergrund glaube ich von einer Theatralisierung der Gesellschaft bzw. ihrer verschiedenen Felder sprechen zu können (vgl. Willems (Hg.) 2009a, b).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Weiterentwicklung dienen, sondern auch am besten dazu beitragen, den sozialen Realitäten der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung (s. u.) gerecht zu werden. Ich verstehe den Theatralitätsbegriff also als einen ebenso orientierenden und instruktiven wie orientierungs- und instruktionsbedürftigen Schlüssel- und Leitbegriff, der sowohl sachlich einschlägig relevante Begriffe wie Skript oder Performanz in sich aufzunehmen und zu verknüpfen vermag als auch neben komplexere (weitreichendere) und figurationssoziologisch zentrale Konzepte wie Stil oder Habitus zu stellen ist und in ein wechselseitiges Spezifikationsverhältnis mit diesen Begriffen gebracht werden kann. Der Theatralitätsbegriff bildet damit so etwas wie einen grundbegrifflichen und perspektivischen Rahmen mittlerer Reichweite, der sich, wie gezeigt werden soll, nicht nur im Rahmen der Figurationssoziologie aufheben lässt, sondern dort auch am besten ‚aufgehoben‘ ist. Die zu entfaltenden sachlichen Kern- und Eckpunkte dieses Rahmens – Bühne, Skript, Inszenierung, Performanz/Performance, Körper/Korporalität, Publikum usw. – stehen auch für Schwerpunkte und Verschiebungen in der (neueren) Sozialund Kulturforschung (nicht nur der Soziologie) und sind auch insofern von besonderer Bedeutung. In diesem Rahmen spiegelt sich die zunehmende Relevanz, die den Themen soziale Interaktion, symbolische Ordnung (Rituale), (Alltags-)Ästhetik, strategisches Handeln (‚Rational Choice‘), Materialität/Korporalität, Visualität, Raum und Zeit speziell in der Soziologie beigemessen wird, sowie die interdisziplinäre Fokussierung von Medien und Rezipienten von Medienkultur. Das Theatralitätskonzept thematisiert und entwirft diese Aspekte, Relevanzen und Ansätze (Relevanz- und Ansatzverschiebungen) im Rahmen einer Perspektive, die damit auch die im Folgenden zu untersuchenden sozio-kulturellen Entwicklungen und Transformationen (Figurationsprozesse) zu treffen verspricht. Jenseits seiner und mit seiner besonderen ‚diagnostischen‘ Adäquanz ist dieses Konzept auch theoretisch vielversprechend, weil es eine Perspektive bietet, die verschiedene, oft isolierte Seiten von Praxis (Kontext, Raum, Strategie, symbolische Ordnung, Text/Textualität‚ Akteur, Körper, (Performanz-)Rezeption/Nutzung usw.) gleichermaßen akzentuiert und als Zusammenhang entwirft.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
7.1
Theatralität: Realität, Begriff und Modell
7.1.1
Soziologische Rollentheorie und Goffmans Theatermodell
Die Sprache des Theaters und die Ideen der Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit oder sogar der Übereinstimmung von Theater und sozialer (Alltags-)‚Welt‘ sind bekanntlich tief in das Soziale und schließlich auch in die Sozialwissenschaften bzw. in die Soziologie eingedrungen (vgl. Rapp 1973; Soeffner 2004). Die Theatermetaphorik und das Theatermodell gehören zweifellos zu den traditionsreichsten und erfolgreichsten Perspektiven und Deutungsmitteln der Soziologie. Einen Höhepunkt erreichte der Erfolg dieser ‚Semantik‘ mit der sogenannten Rollentheorie in den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Rollentheorie stagniert zwar seit geraumer Zeit, hat aber bis heute einen festen Platz im begrifflichen Repertoire der Soziologie und im Denken und Reden ihres allgemeinen Publikums. In die genannte Blütezeit der Rollentheorie und den entsprechenden theoretischen Diskurskontext fällt auch Erving Goffmans ebenso vorgebahntes wie bahnbrechendes Erstlingswerk „The Presentation of Self in Everyday Life“, das Ende der 1940er Jahre entstand, 1959 veröffentlicht wurde und 1969 unter dem (nicht ganz geglückten) Titel „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“ in deutscher Übersetzung erschien. Mit diesem Buch hat Goffman die Theatermetaphorik und das Theatermodell in einem radikalen und systematischen Sinne soziologisch ausbuchstabiert und damit nicht nur so etwas wie das programmatische Fundament seines späteren Werks gelegt, sondern auch eine bis heute brauchbare Basis für die empirisch-soziologische Forschung wie auch für die Ausarbeitung einer soziologischen Theatralitätstheorie geschaffen.279 Im Anschluss an Goffman von Theatralität zu sprechen heißt zunächst, so etwas wie eine anthropologische Konstante anzunehmen. Als Sozial- und Kultur279 Mehr als 25 Jahre nach Goffmans Tod sind seine Unterscheidungen und Konzepte auch in diesem Zusammenhang immer noch als grundlegend, wegweisend und durchaus systematisch anzusehen. Goffman ist damit nicht nur theoretisch aktueller denn je, sondern auch eine erste Adresse, wenn es darum geht, Begriffsmittel zu finden, die der ‚Gegenwartskultur‘ und ihren Entwicklungstendenzen angemessen sind. Die Untersuchung dieser Tendenzen macht aber auch Grenzen jeder Mikrosoziologie (und ‚Dramatologie‘) der Gegenwartskultur sichtbar. Goffman hat solche Grenzen – und die vor allem im Zuge der medialen Kulturrevolution zunehmende Begrenztheit – der Mikrosoziologie weder verkannt noch geleugnet und doch an seinem entschieden mikrosoziologischen Forschungsprogramm (der ‚Interaktionsordnung‘) bis zum Schluss konsequent festgehalten. Goffman hat aber auch Fundamente einer umfassenderen Kulturanalyse bzw. Medienkulturanalyse gelegt.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
321
wesen unterliegt der Mensch für Goffman einem grundlegenden Zwang zur Darstellung und zur Selbstdarstellung, der mit einem entsprechenden Potential und einem (Performanz-)Bedürfnis gepaart ist. Der Mensch ist m. a. W. seinem (Kultur-)Wesen nach immer auch ein (Selbst-)Darstellungs- und Performanzsubjekt. Insofern ist die Möglichkeit und Notwendigkeit von Theatralität von ihm selbst und von denen gesetzt, die mit ihm erleben und handeln. Fischer-Lichte formuliert den ‚interaktionistischen‘ Kern der anthropologischen Konstruktion, um die es hier geht, so: „Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt bzw. in den Augen eines anderen reflektiert sieht“ (Fischer-Lichte 2000: 21). Soeffner (2004) spricht in diesem Zusammenhang von der „Wirklichkeit der Theatralität“ und meint damit zum einen deren besagte anthropologische Seite, nämlich die „Anlage des Menschen, den eigenen Ausdruck zu kontrollieren“ (ebd.: 236), und zum anderen „die von der Theatralität erzeugte Wirklichkeit“ (ebd.). Genau um diese Wirklichkeit bzw. deren Konstruktion und Reproduktion in einem (vor-)geordneten Handeln geht es auch Goffman, der die Soziologie der Theatralität insofern als Wissenssoziologie ansetzt und betreibt. Der reale Hintergrund der sozialen und soziologischen Metaphorik des Theaters liegt für Goffman also nicht nur auf der anthropologischen Ebene, sondern auch auf der Ebene des historischen Sozialsystems, letztlich auf der Ebene der Gesellschaft.280 Das Soziale, insbesondere die unmittelbare Interaktion, funktioniert Goffman zufolge sehr weitgehend in Analogie zur Logik des Theaters. Die sozialen Praxen und ihre strukturellen ‚Rahmungen‘ erscheinen als theaterähnlich oder sogar als ‚theaterhaft‘. Goffman hegt in diesem Sinne, wie Dahrendorf formuliert, einen „totalen Rollenverdacht“ (Dahrendorf 1969), und er sieht Akteure am Werk der Wirklichkeitskonstruktion, die sich gleichsam dramaturgischer Strategien und Techniken bedienen. Soziale Wirklichkeit ist demnach eine durch Darstellungen und Vorstellungen hergestellte und normalerweise immer wieder neu hergestellte Wirklichkeit von ‚Eindrücken‘. Diese Sicht der Dinge verleitet Goffman aber nicht dazu, die Theatermetaphorik oder das Theatermodell als den Königsweg der Sozialforschung zu propagieren. Vielmehr sieht er in diesen Beschreibungs- und Deutungsmitteln nur eine soziologische Perspektive und ein begrenzt weitreichendes soziologisches Hilfsmittel, ein 280 In diesem Sinne meint Uri Rapp, dessen Buch über die „Theatersoziologie“ zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten ist: „Es muß etwas in der Konstitution der Gesellschaft selbst stecken, das diesen Vergleich immer wieder hervorruft“ (Rapp 1973: 29).
322
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
„Gerüst“ (Goffman 1969: 232), um jener Realität der Theatralität analytisch habhaft zu werden. Dieses Gerüst, mit dem er sich ausdrücklich auf der Ebene der Mikrosoziologie bewegt281, dient Goffman in der Tradition Simmels vor allem als Ansatz einer formalen Soziologie, die analytische Informationen hauptsächlich aus dem Vergleich zieht (vgl. Rapp 1973: 30; Willems 1996). Goffman verwendet die Metaphorik des Theaters also nicht im Sinne einer Generalisierung ‚dramatologischer‘ Kategorien nach dem Motto „Wir alle spielen Theater“. Eher operiert er mit einer „Strategie der Analogien“ (Lenz 1991: 57), die – wie schon bei Simmel – wesentlich darauf zielt, „durch die Anwendung ‚fremder‘ Modelle auf das Selbstverständliche und Alltägliche, sichtbar zu machen, was unter dieser wohlvertrauten Oberfläche vor sich geht, und aufzuzeigen, wie sich unser Eindruck des Selbstverständlichen und Alltäglichen immer wieder herstellt“ (ebd.). Modelle wie das des Theaters, aber auch z. B. das des Spiels oder der Zeremonie, verfremden also in analytisch instruktiver Weise, und sie begünstigen, weil sie ‚realistisch‘ sind, Entdeckungen im Alltäglichen und die Erzeugung analytischer Informationen. Darüber hinaus bilden sie eine Art Ordnungssystem, einen Bezugsrahmen, der die Verarbeitung und Einordnung der gewonnenen analytischen Informationen gestattet. Goffman hütet sich also im Ansatz und in der Anwendung des Theatermodells vor kruden Analogien. Für ihn ist dieses Modell eben nur ein Modell, auch wenn er von der Realität der Theatralität ausgeht und sie sogar für sozial wesentlich hält. Aus der Einsicht, dass das Theater nur ein Modell und nur ein Modell mit eigenem Licht und eigenem Schatten ist, zieht Goffman die forschungsstrategische Konsequenz, mit einer Mehrzahl von Modellen zu arbeiten. Neben und nach dem Theatermodell greift er z. B. auf die Modelle des Spiels (vgl. Goffman 1973b), der Zeremonie (vgl. 1971a; 1974b) und des Territoriums (vgl. 1974b) zurück. Weil für ihn ein soziologischer (Modell-)‚Spiegel‘ nicht ausreicht, um der Heterogenität und Vielschichtigkeit seines Gegenstandsbereichs gerecht zu werden, benutzt er eine Vielfalt sich perspektivisch ergänzender „Spiegel, die es ihm ermöglichen, ein kaleidoskopartiges Bild der sozialen Welt zu erzeugen, um Ecken zu blicken oder doppelte Böden zu erkennen“ (Bergmann 1991: 324). Goffmans Ansatz ist insofern weniger ein ‚dramaturgischer Ansatz‘, sondern eher ein modellpluralistischer (weil modellrelativistischer) Ansatz.
281 Auf dieser Ebene sieht Goffman allerdings eine überlegene Passung des Theatermodells. In der Kontinuität von Georg Simmel, Helmuth Plessner, Kenneth Burke und George H. Mead geht er davon aus, dass das Theater „in sich selbst ein Abbild und Symbol menschlicher Interaktion ist“ (Rapp 1973: 30 f.).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung 7.1.2
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Der Theatralitätsansatz
Knapp 40 Jahre nach Goffmans ‚Theaterbuch‘ hat die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte Theatralität als allgemeinen kulturwissenschaftlichen (Leit-) Begriff entwickelt und im Kern an der Logik der Bühnenaufführung bzw. deren struktureller ‚Polung‘ orientiert.282 Fischer-Lichte definiert Theatralität in diesem Sinne durch den Zusammenhang von vier „Aspekten“, nämlich 1. den Aspekt der Performance, die als „Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern gefaßt wird und das ambivalente Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren beinhaltet“; 2. den Aspekt der Inszenierung, die als Produktionsprozess mit dem Endergebnis einer Performance verstanden wird; 3. den Aspekt der Korporalität, der sich aus dem Faktor der körperlichen „Darstellung bzw. des Materials ergibt, und 4. den Aspekt der Wahrnehmung, der sich auf den Zuschauer, seine Beobachterfunktion und -perspektive bezieht“ (FischerLichte 1998: 86). In dieser Fassung ist der Theatralitätsbegriff ein universell anwendbarer deskriptiver Begriff, der verschiedenste sozio-kulturelle Kontexte oder Realitätsaspekte anzusteuern erlaubt, vor allem aber eine variantenreiche – und immer variantenreicher werdende – sozio-kulturelle Grundfiguration von Praxis trifft: die Relation von auf realen Bühnen oder in bühnenanalogen Kontexten befindlichen Akteuren/(Schau-)‚Spielern‘/Darstellern einerseits und Rezipienten/Zuschauern/ Publika andererseits. Dieser Theatralitätsbegriff scheint gerade im Hinblick auf bestimmte Strukturen und (Theatralisierungs-)Prozesse der jüngeren Gesellschaftsgeschichte naheliegend und geeignet zu sein. Man denke etwa an die theaterähnlichen Figurationen der Medien, insbesondere der Massenmedien/des Internets (‚Medientheatralitäten‘, s. u.), oder an die Theaterähnlichkeiten anderer sozialer Felder (Politik, Wirtschaft, Kunst, Journalismus etc.), deren Akteure ihre relevanten sozialen ‚Umwelten‘ als Publika konstruieren und (via Medien bzw. Medieninszenierungen) adressieren.
282 In den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften hat das Theatralitätskonzept sowie die ‚Theatralitätsforschung‘ durch das von Fischer-Lichte geleitete DFG-Schwerpunktprogramm „Theatralität“ (1997–2003) starken Auftrieb erhalten. Im Rahmen dieses Programms bildeten so unterschiedliche Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Ägyptologie, Theologie, Musikwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft, Medienwissenschaft und Soziologie einen gemeinsamen Diskurs- und Forschungskontext. Der Fischer-Lichte’sche Theatralitätsbegriff spielt in einschlägigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen bis heute eine zentrale Rolle.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Ähnlich wie die (sozial-, kultur-)wissenschaftlichen Begrifflichkeiten des Rituals und des Stils283 – und in zu bestimmenden Zusammenhängen und Komplementärverhältnissen mit ihnen – ist das Theatralitätskonzept in dem hier zugrunde liegenden programmatischen Kontext sowohl von allgemeiner theoretischer/ theoriestrategischer als auch von spezieller gegenstandstheoretischer Bedeutung. Es zeichnet sich in beiden Richtungen durch spezifische Anschlussfähigkeiten, Passungen und Nützlichkeiten aus. In allgemein theoretischer Hinsicht liegen sie zunächst darin, dass dieses Konzept in den Rahmen der Figurationssoziologie komplementär passt und zugleich auf der Ebene der Mikrosoziologie als eine Art Paradigma fungieren kann, das nicht nur (in Gestalt seiner ‚Aspekte‘) in sich differenziert ist, sondern auch weiter differenziert werden kann – durch den Import benachbarter Konzepte wie Behavior Setting, Skript oder Interaktionsritual (s. o.). Damit kann das Theatralitätskonzept auch gleichsam ein Verbindungs- und Gelenkstück zu dem hier als besonders bedeutsam angesehenen Gesamtwerk Goffmans darstellen.284 Mit ihm kommen – in Verbindung mit einem komplexen Konzeptapparat – auch wichtige gesellschaftlich und historisch relationale Tatsachen und Aspekte des Handelns ins Spiel, die auf Begriffe wie den der Theatralität verweisen, nämlich Formen von Aufführungshandeln, von Demonstration, ‚Show‘, Spiel, Image und Image-Arbeit, von strategischer Eindrucksmanipulation, Täuschung, Lüge, Geheimhaltung usw. Hier kann zentral die Rede von Theatralität(en) sein, und hier geht es im Sinne des Begriffs der Theatralisierung darum zu zeigen, dass und wie sie sich entwickelt und gewandelt hat. Fragt man in diesem Sinne nach Theatralität, dann bietet allerdings weder der Fischer-Lichte’sche Theatralitätsansatz noch das Goffman’sche Theatermodell eine Aussicht auf Antworten. Theatralität wird zwar in beiden Fällen fokussiert, und 283 Es ist offensichtlich, dass in jeder Form von Theatralität, die immer auch Gestalt und Gestaltung ist, ein Stil oder Stilaspekt steckt und dass bestimmte Stile und vor allem Stilisierungen mit Theatralität einhergehen. Die hier gemeinten Stile und Stilisierungen müssen inszeniert und – speziell im ‚Medium‘ des Körpers/der Korporalität – performiert werden. Und sie zielen auf (mindestens) ein Publikum, das sie wahrnehmen und normalerweise schätzen soll. 284 Das Theatralitätskonzept legt die Assoziation nicht nur mit dem Goffman’schen Theatermodell, sondern auch mit dem von Hitzler (1992) als „Goffmensch“ bezeichneten Goffman’schen ‚Menschen‘ (Akteur, Subjekt, Habitustyp) nahe, der sozusagen auf Bühnen und in Rollen, vor ‚Spiegeln‘ und in ‚Masken‘ zu Hause ist (vgl. Goffman 1969; 1981b, d). Dieses ‚Menschenbild‘ zieht sich wie andere Vorstellungen durch das ganze Goffman’sche Werk. Zwar ist es falsch, Goffman auf seinen (frühen) ‚dramaturgischen Ansatz‘ zu reduzieren, aber dieser Ansatz ist zweifellos einer der wichtigsten Schlüssel im und zum Goffman’schen Gesamtwerk. Er enthält viele, wenn nicht alle ‚Aspekte‘, die Goffman in späteren Arbeiten vertieft und ausgearbeitet hat: Ritual, Strategie, Setting, Wissen, Sinn/Rahmen, Stigma usw. Allerdings hat Goffman die Forschungsperspektive des Theatermodells in seinen späteren Arbeiten nicht mehr systematisch weiterverfolgt.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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im Falle von Fischer-Lichte wird – im Unterschied zu Goffman – auch Theatralisierung diagnostiziert, aber das jeweilige begriffliche und theoretische Instrumentarium ist in seiner Anlage nicht dazu gedacht und nicht dazu geeignet, die Beschreibung und Konzeptualisierung von Theatralität mit einer Erklärung der entsprechenden Realitäten, insbesondere mit einer Erklärung ihrer Entwicklung, zu verbinden. Vielmehr handelt es sich um einen rein deskriptiven Absatz, der die ‚gesamtgesellschaftliche‘ Realität der Theatralität ganz analog zur Theatralität des Theaters konstruiert. Dementsprechend passt dieser Begriff offensichtlich am besten auf soziale Situationen und Kontexte, die dem ‚Ordnungsformat‘ des Bühnengeschehens entsprechen. Diese Passung macht den Theatralitätsbegriff einerseits auch soziologisch, insbesondere interaktions- und mediensoziologisch, brauchbar. Andererseits greift dieser Theatralitätsbegriff soziologisch gleichzeitig zu weit und zu kurz, wenn es darum geht, die diversen sozio-kulturellen Realitäten, auf die er sich bezieht oder beziehen lässt, in ihrer historischen Gewordenheit, Bedingtheit, Komplexität und Bedeutung zu erfassen, geschweige denn zu erklären. Zu weit greift der Theatralitätsbegriff insofern, als er die symbolische Praxis und Ordnung (Kultur) ‚unterhalb‘ von eigentlichen – theatralen – Inszenierungen und Performances verfehlt. Jedermanns alltägliches Verhalten, das, wie gerade Goffmans Arbeiten zeigen, viel mit symbolischen Performanzen, z. B. rituellen (Selbst-)Darstellungen (s. u.), zu tun hat, folgt einer anderen Logik und bedarf einer anderen Begrifflichkeit bzw. auch einer anderen Begrifflichkeit als der der Theatralität. Zu kurz greift der Theatralitätsbegriff, insofern er sich zunächst und im Grunde auf Situationen physischer Kopräsenz (Anwesenheit von Personen) bezieht und damit weder die sozio-kulturellen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Ebene von Theatralität noch Formen und Bedingungen von Theatralität jenseits dieser Ebene – etwa in den Kontexten von ‚sozialer Ungleichheit‘ (Schichten, Klassen, Milieus), Massenmedien, Subkulturen oder formalen (Groß-)Organisationen – erfasst. In der empirisch-analytischen Untersuchung der Realitäten der Theatralität zeigt sich, dass diese nicht nur universell und auf allen sozio-kulturellen Ordnungsebenen vielfältig, sondern auch von entsprechenden historischen ‚Kontextbedingungen‘ abhängig und bestimmt sind. Dementsprechend komplex muss die theoretische Konstruktion und die Analyse von Theatralität angelegt sein. Sie darf sich gerade nicht, wozu vor allem die an Fischer-Lichtes Begrifflichkeit anschließende Forschung tendiert, auf das Theatrale an der Theatralität beschränken und versuchen, dieses Theatrale von seiner sozio-kulturellen und (d. h.) historischen ‚Kontextualität‘ abzulösen. Vielmehr muss genau diese Kontextualität das
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Hauptziel der Konzeptualisierung und Analyse von Theatralität sein, wenn deren Wirklichkeit nicht systematisch verfehlt werden soll. Aus diesen Überlegungen ergibt sich wiederum die Nützlichkeit und Notwendigkeit der oben entfalteten und weiterhin zu entfaltenden figurationssoziologischen Perspektive und der mit ihr zusammenhängenden oder verknüpfbaren Konzepte (Feld, Netzwerk, Habitus, Mentalität, Kapital, Stil/Lebensstil, Distinktion, Zivilisation usw.). Ihrer Systematik sind die ‚Aspekte‘ des Theatralitätsansatzes ebenso wie dazu benachbarte Konzepte, die diesen Ansatz erweitern und differenzieren können285, zwanglos anzugliedern. Die Figurationssoziologie widmet aber auch den Realitäten der Theatralität im Zuge theoretisch-empirischen Arbeitens Aufmerksamkeit, und zwar größte Aufmerksamkeit. Man denke (auch) hier nur an Elias’ Beschreibung und Analyse der ‚höfischen Gesellschaft‘, die er in vielerlei Hinsicht (in puncto Raum/Architektur, Ritualität/Etiquette, Geselligkeit/Spiel, Feiern/‚Events‘, strategisches Handeln usw.) als eine durch und durch theatrale und theatralisierte ‚Gesellschaft‘ vorstellt – gerade auch als eine (individuelle und kollektive) Image- und Selbstdarstellungsgesellschaft. Entscheidend ist dabei wiederum, dass solche Realitäten (der Theatralität) im Rahmen der Figurationssoziologie nicht für sich zu nehmen oder nur als ein Musterbeispiel oder Vergleichsfall im Blick auf andere Sozialkontexte/Figurationen heranzuziehen sind286, sondern sozusagen im Gang des theoretisch-empirischen (Groß-)Unternehmens thematisiert und erklärt oder miterklärt werden. Die Realität der Theatralität hat also in der Figurationssoziologie – und auch bei Bourdieu287 – einen zwar hohen und systematischen, aber auch einen relativen, sekundären und funktionalen (weil relationalen) Stellenwert; sie versteht und erklärt sich dort erst aus sozialen Figurationen (Feldern) und Figurationsprozessen. Hier gilt im Prinzip, was oben in den Kontexten von Ritualen und Stilen gesagt wurde.
285 Wie z. B.: Rolle/Rollendistanz, Spiel, Spektakel, Event, Ritual/Zeremonie, Strategie, Image (Marke, Star), Aura/Charisma/Autorität, Rahmen, parasoziale Interaktion, Identität, Selbstthematisierung, Alltagstheorie/Deutungsmuster/Mythos, Stigma oder Normalität/Normalismus. 286 Man kann hier z. B. durchaus an die Hierarchien moderner Großorganisationen denken, die in puncto symbolischer, ritueller und strategischer Theatralität, einschließlich der entsprechenden Zivilisiertheit der Akteure, tatsächlich an die ‚höfische Gesellschaft‘ erinnern. Aus der Perspektive der Figurationssoziologie geht es aber nicht nur oder überhaupt nicht um solche, zunächst vordergründigen Ähnlichkeiten, sondern eher um die teils feinen, teils großen Unterschiede, deren Hintergründe in den Differenzen der Figurationen und in den Differenzierungen des historischen Figurationsprozesses bestehen. 287 Bei Bourdieu taucht das hier Gemeinte nicht nur sachlich immer wieder auf, sondern wird auch spezifisch begrifflich gefasst: mit dem Begriff des symbolischen Kapitals, der allerdings einerseits nicht nur Theatralität und andererseits nicht alle Formen von Theatralität erfasst.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Dementsprechend bietet es sich auch in diesem Zusammenhang an, die Figurationssoziologie als einen soziologischen (und soziologisierenden) ‚Rahmen‘ einzusetzen und die (Universal-)Perspektive und die (Modell-)Kategorien der Theatralität figurationssoziologisch einzubetten und einzustellen. Theoretischen und empirisch-analytischen Vorrang haben dann immer die Figurationen (Felder) und Figurationsprozesse – als Figurationen (Felder) und Figurationsprozesse von Theatralität bzw. Theatralisierung. Theatralität wird mit dieser Um- und Einstellung als eine sozusagen figurierte Realität aller sozialen Figurationen (auch jenseits des ‚Bühnenformats‘) verstanden und untersuchbar. Nur so sind die strukturellen und prozessualen ‚Kontexte‘ (Felder, Schichten, Milieus, Lebensstile, Habitus etc.) zu erfassen, die den Realitäten der Theatralität (Inszenierungen, Performances, Korporalität, Publikumswahrnehmung) immanent sind und/oder sich als deren Hintergrund ‚abspielen‘; nur so erschließen sich auch jene sozial und (wissens-)soziologisch zentralen Sinn- und Wissenstatsachen, die mit Theatralität und Theatralisierung zusammenhängen oder Momente davon sind: Formen von Selbst- und Weltbewusstsein, Mentalitäten, Semantiken, (‚dramatologische‘) Lebensphilosophien, (Theatralitäts-)Diskurse usw. Umgekehrt geht es hier und im Folgenden darum, den figurationssoziologischen Blick und das figurationssoziologische Instrumentarium durch die zu entfaltenden und (weiter) zu entwickelnden Mittel des Theatralitätsansatzes zu ergänzen, zu erweitern und zu vertiefen.
7.2
(Figurations-)Soziologische ‚Aspekte‘ von Theatralität
Die Wahrnehmung und Umsetzung der hier intendierten begrifflich-theoretischen und theoriestrategischen Option – eine Synthese von Figurationssoziologie und Theatralitätsansatz – erfordert zunächst einige grundlegende kategoriale Unterscheidungen und Spezifikationen auf der Ebene des Theatralitätsbegriffs bzw. der genannten ‚Aspekte‘ von Theatralität. Eine erste Präzisierung und Umstellung des Theatralitätsbegriffs ergibt sich, vor allem Überlegungen Fischer-Lichtes und Goffmans zusammenführend, aus der Bestimmung von Grenzen, Ebenen und Formen von Theatralität. Diesbezüglich schlage ich vor, Ausdruck, Darstellung, Inszenierung, Performanz/Performance und Präsentation voneinander zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen.
328 7.2.1
7.2.1.1
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Ausdruck, Darstellung, Inszenierung, Performanz/Performance und Präsentation Ausdruck
Theatralität (Inszenierung, Performance) lässt sich zunächst von bloßem Ausdruck oder Ausdruckselementen abgrenzen. Als Ausdruck können mit Goffman alle in irgendeiner Weise materiellen, speziell körperlichen „Spuren und Hinweise“ (Goffman 1981d: 14) bezeichnet werden, die ein Lebewesen bzw. ein Mensch sozusagen als „bloße Nebenwirkung“ (ebd.) seines Verhaltens und Erscheinens zeigt oder hinterlässt. Elemente des Ausdrucks, wie z. B. äußere ‚Kennzeichen‘ des Körpers288 oder expressive Kontrollverluste, zeichnen sich m. a. W. wesentlich dadurch aus, dass sie unwillkürlich289 sind bzw. unwillkürlich zustande gekommen sind. Als sozial bedeutungsvolle „natürliche Rahmen“ (Goffman 1977b) stellen Ausdruckselemente aber auch potentielle Interpretationsobjekte und soziale Informationen dar, die zu Objekten der Selbst- und Fremdkontrolle werden können. Aufgrund entsprechender Sinnstrukturen (‚Alltagstheorien‘) interpretiert man sie und sieht sie von anderen interpretiert, und man kann aufgrunddessen versuchen, sie zu vermeiden, zu verheimlichen, vorzutäuschen, zu kaschieren usw. Damit erreicht man dann schon die Ebene der Darstellung oder sogar die der Inszenierung oder der Performance (s. u.) im Sinne eines absichtsvollen Agierens in Bezug auf ein Publikum oder vor einem Publikum. Mit dem Begriff des Ausdrucks (Ausdruckselements) sind also nicht nur (aber gerade auch) das Jenseits und die Grenzen inszenatorischer und performativer (Selbst-)Kontrolle gemeint und gefasst, jene Sichtbarkeiten und Wahrnehmbarkeiten, die ‚sozial informieren‘ und sich nicht oder nur begrenzt beherrschen bzw. manipulieren lassen, sondern auch ein Wahrnehmungsthema und eine sinnhafte Wahrnehmungsweise (Rahmen), die unter Umständen Theatralität auf den Plan ruft. Formen des Ausdrucks, Ausdrucksdeutungen und Ausdrucksmanipulationen spielen nicht zuletzt in strategischen Handlungskontexten eine wichtige Rolle (s. u.) und sind auch ein beliebtes Thema (theater-, medien-)fiktionaler Reflexionen des sozialen Lebens.
288 Geschlecht, Alter, Rasse, Behinderung etc. 289 Goffman hat dem Thema der Unwillkürlichkeit von Verhalten, einer lebensweltlichen Relevanzstruktur und ‚Weltanschauung‘ folgend und sie aufgreifend, große Aufmerksamkeit gewidmet. Er behandelt unwillkürliche Verhaltensweisen als reale Inszenierungsgrenzen und im Zusammenhang damit als lebensweltliche Basen der Authentisierung von wahrgenommenem Verhalten.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung 7.2.1.2
329
Darstellung
Zwischen der basalen, noch nicht theatralen Ebene des Ausdrucks und der sozusagen ultimativ theatralen Ebene der Performance (Aufführung/Vorführung) im Sinne Fischer-Lichtes ist eine eigene Zeichen- und Handlungsebene anzusiedeln, für die der Begriff der Darstellung passend erscheint. Unter Darstellungen – im Unterschied zu bloßen Ausdruckselementen einerseits und Performances andererseits – sind all jene strukturierten und prozessierten Zeichengebilde bzw. symbolischen Formen zu verstehen, die im (alltags-)praktisch-habituellen Lebensvollzug soziale Kundgabefunktionen erfüllen. Beispiele dafür sind die gewohnheitsmäßig reproduzierte „persönliche Fassade“ (Goffman 1969) oder Ritualisierungen der Interaktion, etwa zwischen den Geschlechtern oder zwischen Erwachsenen und Kindern. Im Anschluss an verschiedene Modellvorstellungen (nicht zuletzt ethologische) liefert Goffman eine soziologische Definition der hier gemeinten Kundgabeformen: „Angenommen, die Gesamtheit von Verhalten und Erscheinungen eines Individuums informiere diejenigen, die es beobachten, ein wenig über seine soziale Identität, über seine Stimmung, seine Absicht und seine Erwartungen, über den Stand seiner Beziehungen zu ihnen. In jeder Kultur wird ein bestimmtes Spektrum dieses Zeige-Verhaltens und Aussehens spezialisiert, damit es regelmäßiger und vielleicht effektiver diese informierende Funktion erfüllen kann, wobei das Informieren schließlich, wenn auch nicht immer eingestandenermaßen, die Kontrollaufgabe bei der Ausführung übernimmt. Diese indikativen Ereignisse kann man Darstellungen (‚displays‘, H. W.) nennen. Wie wir sagten, legen sie provisorisch die Bedingungen des Kontakts, den Modus, den Stil oder die Formel fest für den Verkehr, der sich zwischen den Personen entwickeln soll, vorausgesetzt, daß die Darstellung erfolgt ist und die Personen sie wahrgenommen haben.“ (Goffman 1981a: 9 f.)
So verstanden – als aktiv bzw. interaktiv (re-)produzierte standardisierte Symbolgebilde mit sozialer und sozialisierender Kundgabefunktion – sind Darstellungen zunächst und primär mit Gewohnheiten bzw. fungierenden Habitus als korporalen Erscheinungsformen und Verhaltens(stil)generatoren in Verbindung zu bringen.290 Darstellungen können demnach einerseits gänzlich spontan, unbewusst, ‚natürlich‘ erhandelt und erlebt werden. Und tatsächlich ist dieser Funktionsmodus 290 Dies gilt speziell für die (Interaktions-)Rituale/Ritualisierungen, die im Mittelpunkt des Goffman’schen Werks stehen (s. u.).
330
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
als Normalfall zu erwarten, was wesentlich die (praktische wie theoretische) Rede von Alltag, Lebenswelt, Lebenspraxis oder Normalität begründet. Andererseits werden Darstellungen gerade unter modernen Bedingungen immer wieder und zunehmend zum Gegenstand der Irritation, der Reflexion und der reflexiven und reflektierten Darstellung. Auf dieser Ebene sind die Begriffe Inszenierung und Performance (Aufführung/Vorführung) angebracht. Sie verweisen – und markieren damit einen Unterschied zur ‚primären‘ Darstellung – auf ein Heraustreten aus dem spontanen und routinierten Lebensvollzug. Dies kann in außeralltäglichen Kontexten wie dem Theater oder der Therapie der Fall sein oder auch im Alltagsleben, z. B. dann, wenn es darum geht, anderen etwas vorzuspielen oder ‚vorzumachen‘. In solchen Situationen ist heute häufig (und offensichtlich zunehmend) auch praktisch die Rede von Performance. Deren Varianten können wie die der Darstellung und der Präsentation (s. u.) unter dem Begriff der Performanz zusammengefasst werden, der seinerseits wiederum von der Unterscheidung von Darstellung, Performance und Präsentation einerseits und Inszenierung andererseits Genauigkeit profitiert.
7.2.1.3
Inszenierung
Inszenierungen sind heute weniger denn je auf ihren klassischen Ort, das Theater, begrenzt, sondern sind eine Art von Praxis, die in zunehmender Zahl und Vielfalt auf allen sozialen Feldern vorkommt, weshalb ich an anderer Stelle von „Inszenierungsgesellschaft“ gesprochen habe (vgl. Willems/Jurga (Hg.) 1998; Willems 1998b). Man kann die verschiedenen Inszenierungsvarianten jenseits des Theaters aber im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners grundsätzlich analog zum Modell des auf einer Theaterbühne eine fiktionale Realität ‚In-Szene-Setzens‘ definieren: Inszenierungen liegen demnach dann vor, wenn „Handlungen oder Zusammenhänge absichtsvoll und mit einer bestimmten Wirkungsabsicht zur Erscheinung gebracht werden“ sollen (Ontrup/Schicha 1999: 7), wenn man sich um ein „kalkuliertes Auswählen, Organisieren und Strukturieren von Darstellungsmitteln (bemüht, H. W.), das in besonderer Weise strategisch auf Publikumswirkung berechnet ist“ (ebd.). Der so verstandene Inszenierungsbegriff trifft sehr unterschiedliche Typen von sozialer Praxis, sozialen Sinnkontexten und Handlungsprozessen, die letztendlich auf die Herstellung (mindestens) einer Performance zielen. Eine Performance bildet sozusagen das autonome Endstück und Endergebnis einer Inszenierung, die normalerweise Planungen, die Entwicklung von Skripts, (Selbst-)Besprechungen zwischen ‚Regisseur‘ und performativen
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Akteuren (Performern), Absprachen/Koordinationen und eventuell Proben impliziert. Die Schwindelmanöver des Hochstaplers oder des Spions, die politische Demonstration, der Werbespot, der ‚Probevortrag‘, der Heiratsantrag, die Kunstausstellung oder die ‚Love Parade‘ sind zumindest idealtypisch gesehen Beispiele für Performances, die aus Inszenierungen hervorgehen. Als Handlungs- bzw. Produktionszusammenhänge sind diese in bestimmte soziale Figurationen (Felder, Institutionen, Organisationen, persönliche Beziehungen usw.) eingebettet, die sie bedingen und bestimmen, ermöglichen, nahe legen oder erfordern. So inszenieren z. B. politische Parteien ihre Parteitage, Kirchen ihre Kirchentage, Museen ihre Ausstellungen usw. jeweils unter bestimmten Funktions- und Zweck-Vorzeichen und unter den Vorzeichen eines bestimmten ‚Geistes‘, der sich letztlich in der Performance manifestiert oder manifestieren soll. Die ‚Inszenierungsgesellschaft‘ steht heute vor allem im Kontext der Eigengesetzlichkeit sozialer Felder, wie z. B. der Werbung oder der Politik, die in gewisser Weise selbst eigene und besondere ‚Inszenierungsgesellschaften‘ mit besonderen Möglichkeiten, Zwecken, Formen und Grenzen bilden. In, mit und neben Inszenierungen und Performances spielen natürlich immer auch Darstellungen und Ausdruckselemente eine Rolle. Der Körper bzw. Korporalität steht hier als fungierender Habitus und (damit) auch als Grenze und Problem inszenatorischer und performativer (Selbst-)Kontrolle im Mittelpunkt. Unwillkürliche (spontane) Körperreaktionen und mehr oder weniger unverfügbare Körperaspekte, wie z. B. das Geschlecht oder das Alter des Körpers, limitieren die Potentialität der Inszenierung und die ‚Virtualität‘ und auch die Virtuosität der Performance. Selbst um maximale Eindruckskontrolle bemühte ‚Performancekünstler‘ reproduzieren immer auch die „Basiskontinuität“ (Goffman, s. o.) ihres Körpers, bringen spontane Ausdrucksweisen und ihnen selbst ganz unbewusste Darstellungen hervor.
7.2.1.4
Performance
In ihrer definitorischen Fassung von Theatralität führt Fischer-Lichte den ‚Aspekt‘ der Performance gleichrangig neben und mit dem der Inszenierung ein. Während sie unter Inszenierung den gesamten theatralen Produktionsprozess versteht, versteht sie unter Performance das ‚lebendige‘ Produkt, das Ereignis und Geschehen auf der Bühne. Diese Unterscheidung (zwischen Inszenierung und Performance) entspricht also (wiederum) ganz dem Modell und der Realität des Theaters, darüber hinaus aber auch prinzipiellen Differenzen zwischen sozialen
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Ordnungs- (‚System-‘) und Wirklichkeitsebenen sowie sozialen Raum- und Rollen-Differenzen. Die Performance bildet oder aktualisiert sozusagen eine eigene Art von Praxis und Wirklichkeit; und sie hat auch eine eigene Art von Örtlichkeit: die ‚Vorderbühne‘ im Gegensatz zur ‚Hinterbühne‘, auf der sich die inszenatorischen Aktivitäten der Planung, Vorbereitung, Ausrüstung und Herstellung der Performance entfalten. Diese Differenz der Räume und Bühnen reflektiert Goffman auch mit seiner Unterscheidung zwischen der Funktion (Rolle) der „Regiedominanz“ und der Funktion (Rolle) der „dramatischen Dominanz“ (vgl. Goffman 1969). Der ‚Performer‘ (als Funktion, Rolle) hat dramatische Dominanz; er beherrscht sozusagen die Vorderbühne und die Szene, jedoch nicht zwangsläufig die Inszenierung, die der Regisseur (als Funktion, Rolle) dominiert und über die der Regisseur dominieren kann, nämlich den Performer und die Performance. Die Unterscheidung zwischen Regiedominanz und dramatischer/performativer Dominanz und die grundlegendere Unterscheidung zwischen Inszenierung und Performance sind nicht nur von prinzipieller Bedeutung, sondern treffen auch empirische Entwicklungen auf sozialen Feldern. Die ‚Aspekte‘ der Inszenierung und der Performance haben sich in vielen Handlungsbereichen verselbstständigt und – auch im Welt- und Selbstbewusstsein der Akteure – an Relevanz gewonnen. Gleichzeitig haben sich entsprechende Funktionen, soziale Anlässe, Situationen291 und Rollen ausdifferenziert und vermehrt. Jenseits solcher (‚historisch-zeitdiagnostischen‘) Feststellungen bietet Goffman ein formales, nämlich rahmentheoretisches, Kriterium an, um Varianten der Aufführung („performance“, Goffman 1974a: 124 ff.) zu unterscheiden: die „Reinheit der Aufführung“. In diesem Bezugsrahmen zeigen sich auf Figurationen verweisende Form- und Strukturdifferenzen, die die übliche Rede von Performance gerade verschleiert. Goffman präsentiert demgegenüber ein Spektrum der ‚Reinheit der Aufführung‘, das auch einem intuitiven Wissen (und einer intuitiven Urteilsfähigkeit) jedermanns entspricht: „Dramaturgische ‚Drehbücher‘, Nachtklub-Auftritte, persönliche Auftritte verschiedener Art, das Ballett und ein großer Teil der Orchestermusik sind in diesem Sinne rein. Kein Publikum, keine Aufführung. Die Grenzfälle sind hier ad-hoc-Aufführungen, wie sie im häuslichen Kreis vorkommen, wenn ein Gast etwas auf dem Klavier oder der Gitarre spielt. (…) Das nächste ist die öffentliche Austragung von Wettkämpfen oder 291 Zum Beispiel ‚Pressekonferenzen‘, auf denen sich ‚Pressesprecher‘ oder etwa Fußballspieler als Selbst- und Fremddarsteller bewähren müssen.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Wettspielen. Zwar ist die soziale Situation entscheidend, in der der Wettkampf stattfindet, und dahinter das Eintrittsgeld, das am Eingang kassiert wird, doch hängt alles davon ab, daß sich die Wettkämpfer so verhalten, als wäre der Ausgang des Wettkampfes ihr Beweggrund. (…) Etwas weniger rein sind persönliche Feiern wie Hochzeiten und Bestattungen. Bei diesen Anlässen sind gewöhnlich Zuschauer anwesend, jedoch in der Rolle von Zeugen und von Gästen, und gewöhnlich werden sie eingeladen und zahlen kein Eintrittsgeld. (…) Vorlesungen und Vorträge sind eine recht gemischte Klasse hinsichtlich der Reinheit der Aufführung, kurz, verschiedenartige Mischungen von Belehrung (die durchaus als Sache des Zuhörers betrachtet werden kann) und Unterhaltung. (…) Am wenigsten rein scheinen mir Arbeits-Aufführungen zu sein, etwa auf Bauplätzen oder bei Proben, wo die Zuschauer ganz offen Leute bei der Arbeit beobachten, die sich ganz deutlich nicht um die dramatische Seite ihrer Arbeit kümmern.“ (Goffman 1977b: 144 f.)
Diese rahmenanalytische Differenzierung impliziert auch eine Differenzierung des Publikumsbegriffs (s. u.). Der differentiellen ‚Reinheit der Aufführung‘ korrespondiert eine differentielle ‚Reinheit der Publika‘.
7.2.1.5
Präsentation
In der Fassung von Fischer-Lichte wie auch in der von Goffman bzw. von Goffmans „Rahmen-Analyse“ (1977b) meint der Begriff der Performance transitorische Aktions- und Interaktionsprozesse – flüchtige Prozesse, die an die situierten Körper von (Inter-)Akteuren (‚hier und jetzt‘) gebunden sind. Die Performance lebt sozusagen in und von ihrer (theatralen) Augenblicklichkeit, mit der sie auch wieder vergeht. Von dieser Ebene vergänglicher Performanz sind all jene inszenierten und situativ vorgeführten Zeichen, Zeichenklassen und Zeichengebilde zu unterscheiden, die, wie im Falle von Architektur oder Kleidung, mehr oder weniger dauerhaft präsent sind, d. h. in gewisser Weise entzeitlicht oder relativ entzeitlicht sind. Hier geht es um die ganz oder tendenziell bewusst, absichtlich und willkürlich präsentierte „Materialität der Kommunikation“ (Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.) 1988), z. B. Fassaden, Bühnenbilder, Kulissen, Requisiten usw., die für sich und für anderes stehen und in diesem Sinne stellvertretend etwas ‚kundgeben‘. Ein Beispiel dafür ist die als symbolischer/ritueller Überlegenheitsausdruck fungierende relative Größe von Objekten – etwa im Verhältnis von benachbarten Bankzentralen oder von Männer- und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Frauenkörpern in Werbeanzeigen292. Diesbezüglich macht es m. E. Sinn, nicht von Darstellungen, sondern von Präsentationen zu sprechen, um deren Korrespondenz zu Performances – als deren fixe Gegenseite – herauszustellen. So verstandene Präsentationen können also in gewisser Weise selbstständig, situationsunabhängig und als symbolische Repräsentationen fungieren; sie bilden aber natürlich auch Hintergründe und Mittel ‚lebendiger‘ Performances, mit denen sie entsprechend abgestimmt werden müssen oder die sich entsprechend auf Präsentationen abstimmen müssen. Die Theatralisierung der Gesellschaft besteht auch in dem zunehmenden, mit Investitionen (Kosten) einhergehenden Wert, der von immer mehr Akteuren (nicht nur ‚Menschen‘) auf insbesondere käufliche Präsentationen und Ressourcen der Präsentation gelegt wird (gelegt werden kann und muss), während gleichzeitig diverse Performances und ‚Performancekünstler‘ soziales Gewicht gewinnen und Konjunktur haben.
7.2.2
Materialität und Korporalität
Wie immer man Theatralität bzw. die ‚Aspekte‘ von Theatralität fasst, die Dimension der Materialität und damit der Visibilität/Visibilisierung spielt mit, sei es, dass ‚etwas‘ sichtbar oder unsichtbar ist, zur Erscheinung gebracht, simuliert oder verhüllt werden soll.293 Im Zentrum der Materialität der Theatralität steht einerseits der Raum bzw. das ‚Setting‘ und andererseits der (immer verortete) menschliche Körper und die an ihm haftenden und hängenden Materialitäten – von der Kleidung über den Schmuck bis zum (manipulierten) Geruch (vgl. Barlösius 1991; Koppetsch (Hg.) 2000; Lautmann 2000). Wenn man Theatralität als Interaktionstheatralität bzw. Performance versteht, dann muss der (menschliche) Körper als Zeichenträger und Zeichengeber ins
292 Goffman hat sich diesem Thema in seinem Buch „Geschlecht und Werbung“ (1981b) gewidmet und in der relativen Größe ein zentrales rituelles Muster der (symbolischen) Qualifikation und Strukturierung sozialer Beziehungen gesehen. 293 Die Materialität der Theatralität (oder allgemeiner: die ‚Materialität der Kommunikation‘) besteht natürlich in vielen Formen, die an den verschiedensten Zeichen- bzw. Symbolsystemen partizipieren und diese wahrnehmbar machen. Beispielsweise sind diverse Materialien geeignet, dem rituellen Geschlechterkode Ausdruck zu verleihen. Goffman bemerkt dazu: “I have suggested that every physical surround, every room, every box for social gatherings, necessarily provides materials that can be used in the display of gender and the affirmation of gender identity. But, of course, the social interaction occurring in these places can be read as supplying these materials also” (Goffman 1977a: 324).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Zentrum der soziologischen Aufmerksamkeit rücken.294 Wählt man eine allgemeinere Perspektive auf Theatralität, wie dies Goffman getan hat, dann relativiert sich die Relevanz des Körpers im Prinzip als eine Form von Materialität neben anderen Formen. Dazu gehören körpernahe Materialitäten wie Kleidung oder Schminke ebenso wie körperferne(re) Objekte wie Fahrzeuge, Einrichtungsgegenstände oder Gebäude, die ebenso wie der Körper und zusammen mit dem Körper Bedeutungen tragen und mit Bedeutungen versehen werden können. Goffman spricht in diesem Zusammenhang im Blick auf Interaktionen von Elementen der „Fassade“ als einem „standardisierten Ausdrucksrepertoire“ (Goffman 1969: 23). Ein Hauptbestandteil dieses Repertoires ist das situative „‚Bühnenbild‘, das Möbelstücke, Dekorationselemente, Versatzstücke, die ganze räumliche Anordnung umfaßt – die Requisiten und Kulissen für menschliches Handeln, das sich vor, zwischen und auf ihnen abspielt“ (ebd.). Von diesen „szenischen Komponenten des Ausdrucksrepertoires“ unterscheidet Goffman die (menschlich-)körperlichen oder körperbezogenen Ausdrucksmittel der „persönlichen Fassade“, die man sozusagen mit sich herumträgt (vgl. ebd.: 25). „Zur persönlichen Fassade sind Amtsabzeichen oder Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, Alter, Rasse, Größe, physische Erscheinung, Haltung, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik und dergleichen zu rechnen. Einige dieser Ausdrucksträger, zum Beispiel die rassischen Merkmale, sind in starkem Maße fixiert und verändern sich bei dem Einzelnen nicht von Situation zu Situation. Andere Ausdrucksträger, wie etwa die Mimik, sind dagegen verhältnismäßig flüchtig und können sich während der Darstellung von einem Augenblick zum anderen verändern.“ (ebd.)
Ähnlich wie Goffman in seinem Verständnis der Interaktionsordnung fasst Fischer-Lichte den Körper als performativ unhintergehbaren und zentralen Aspekt von Theatralität und spricht von Korporalität als „historisch und kulturell bedingter Art der Körperverwendung in kommunikativen Prozessen“ (Fischer-Lichte 1995a: 9). Gemeint ist damit insbesondere der „Körper als Darstellungsmittel und Ausstellungsobjekt“ sowie „die Inszenierung von Körpern zum Zweck der Mimesis, der Maskerade, des Rollenspiels und der Zur-Schau-Stellung (zum Beispiel am 294 Der Körper muss heute zwar schon längst nicht mehr als Thema der Soziologie entdeckt werden, aber er scheint immer noch weit von einer befriedigenden soziologischen Konzeptualisierung entfernt zu sein. So klagt die ‚Körpersoziologin‘ Cornelia Koppetsch: „Nach wie vor fehlt es an Untersuchungen, die den Körper als Bedeutungsdarsteller und Sinnträger ausbuchstabieren und ein Begriffsinstrumentarium für die Typisierung von Körperausdruck und Körpersymbolik bereitstellen“ (Koppetsch 2000: 9).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Pranger, auf dem Jahrmarkt, auf Völkerausstellungen, bei Modeschauen, in Striptease-Lokalen, auf der Bühne etc.). Die Inszenierung erfolgt einerseits durch eine besondere Art von Kleidung, Schminke, Coiffure, andererseits durch bestimmte Techniken und Praktiken der Körperverwendung“ (ebd.: 10). Die Figurationssoziologie kann und muss diese – für sie theoretisch und empirisch zentrale – Theatralität in ihrem Sinne kontextualisieren, d. h. in ihrer Bedeutung und Bedeutsamkeit relationieren und relativieren. Darüber hinaus greift die Figurationssoziologie über diese ‚Seite‘ des Körpers theoretisch und analytisch systematisch hinaus. Neben und mit den Aspekten der sozialen Zeichenhaftigkeit des Körpers und seiner darauf basierenden Verwendbarkeit und Verwendung muss ein figurationssoziologischer Körperbegriff die entsprechende körperliche Durchformung und Überformung, insbesondere im Sinne von Zivilisation, mitreflektieren. In diesem Sinne von Korporalität geht es um die Inkorporation und Verkörperung sozialer Sinntatsachen (Werte, Ideale, Ansprüche, Alters- und Geschlechterkonzepte usw.) sowie um entsprechende ‚Kräfte‘ des Körpers, die in ihm „Gestalt angenommen haben als Gewohnheiten, Bewegungskompetenzen, Selbstdeutungen, Empfindungsweisen und Wahrnehmungsstile“ (Hahn 1988: 666). Korporalität hat es, so gesehen, hauptsächlich mit der Gestaltwerdung und Gestaltung sozialen Sinns zu tun, der sich auf dem Wege des Lernens (der Erfahrung) im und am Körper, in körperlicher ‚Verfassung‘, Zeichenhaftigkeit, Spontaneität und Subjektivität niederschlägt. Der Körper ist in diesem Verständnis innerlich und äußerlich ein sozialer Sinn-Körper, ein von sozialem Sinn durchdrungener und durch sozialen Sinn sozial durchdringender Körper und Wissensspeicher.295 Die Theatralität des Körpers (Korporalität) ist also immer auch mit sozialen Normen, Kontrollen und Selbstkontrollen, Steuerungen und Selbststeuerungen verbunden. Mit dem hier angedeuteten figurationssoziologischen Begriff von Korporalität, der den Körper nicht nur in seiner (theatralen) ‚Äußerlichkeit‘, sozusagen mit Haut und Haaren296, sondern als ‚Gesamtkörper‘ fasst, wird der Habitusbegriff wie295 Das heißt natürlich nicht, den Körper für voll sozialisierbar bzw. theatralisierbar zu halten. Die „völlige Beherrschung des Körpers durch das Bewußtsein oder die Gesellschaft ist allemal Utopie“ (Hahn 1988: 669). Das Dasein des Körpers als Körper ist eine primäre Tatsache, die sozialen Sinn und Kommunikation zugleich fundiert und unterläuft. Kein Zivilisierungsprozess hat und wird den Körper je ganz unterwerfen oder durchformen können. Er war und bleibt eine Bedingung und Grenze von Macht und sozialer Kontrolle – auch der Selbstkontrolle des Individuums. Bei allem, was die Kulturen und Epochen unterscheidet, Zeugung, Altern und Tod, Krankheit, Geschlecht, Rasse, Verdauung oder sexuelle Potenz sind universelle Tatsachen – gewiss in der Kultur, kultiviert und mit Kultur variierend, aber nicht durch Kultur aus der Welt zu schaffen. 296 Günther Burkart (2000) hat sich ausführlich mit der Kultur- und Statusbedeutung der menschlichen Behaarung (nicht nur des Kopfes) beschäftigt.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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derum zu einem zentralen theoretischen und analytischen Schlüssel. Er verschafft soziologischen Zugang zur identifizierenden Gestalt des Körpers (äußerer Habitus), zu seiner stilistischen Produktivität im expressiven Verhalten und Handeln (s. u.), seinen Möglichkeiten, als Medium der Gestaltung zu fungieren, sowie zu seinen (Selbst-)Wahrnehmungen und zu seinem Wahrgenommenwerden. Worum es damit geht, ist nicht nur die Körpergebundenheit (Korporalität) der Wahrnehmung selbst, sondern auch der Körper als (Selbst-)Wahrnehmungsgegenstand, der aufgrund kognitiv-habitueller (Sinn-)Dispositionen so oder so aufgefasst, verstanden und interpretiert wird. In diesem Zusammenhang spielen naive und weniger naive ‚Theorien‘ des Körperausdrucks, die die Interpretation des Charakters, der Ehrlichkeit, der Gemütsverfassung, der Leistungsfähigkeit usw. anleiten, eine zentrale Rolle. Sie spezifizieren den Körper als Projektionsfläche von (inneren) Wesenseigenschaften, Werten, Kompetenzen, Neigungen usw.297 Auf dieser Ebene wie auf allen anderen, die mit dem Körper zusammenhängen, geht es im Rahmen der Figurationssoziologie natürlich immer auch um Zivilisiertheit und Zivilisierung, um zivilisierte Habitus, die die körperliche ‚Expressivität‘ ebenso wie ihre (Selbst-)Wahrnehmung, ihr Verständnis und ihre Deutung regulieren. Ein figurations-(wissens-)soziologischer Körperbegriff bzw. Korporalitätsbegriff muss (also) auch über die Ebene der Körper und ihrer Interaktionen hinausgehen und auf der sozialen Figurationsebene (Feldebene, ‚Systemebene‘) nach den differentiellen Sinnbedingungen und Konstruktionslogiken der sozialen Wirklichkeit(en) des Körpers fragen. Bezüglich der und jenseits der Materialität und materiellen Theatralität des kopräsenten Körpers gilt es aus dieser Sicht, der Logik der sozio-kulturellen (Figurations-)Differenzierung zu folgen und den Körper in allen seinen ‚Aspekten‘ auf die differentiellen und differenzierenden Sinn-, Beziehungs- und Kommunikationssphären der Figurationen (Felder/Subsysteme, Netzwerke, Szenen usw.) zu beziehen, in denen er auftaucht und (ir-)relevant wird, Bedeutungen annimmt oder überhaupt von Bedeutung ist. Es kommt m. a. W. darauf an, den (historischen) Figurationskörper zu entdecken und zu rekonstruieren. Als Ausgangspunkt einer derart figurationstheoretisch (und d. h. differenzierungstheoretisch) orientierten Körper- bzw. Korporalitätsbegriffsbildung bietet sich, insbesondere im Anschluss an Goffman, die unmittelbare Interaktion an, die Situation physischer Kopräsenz. Sie ist in gewisser Weise der soziale Urort und – immer noch – der soziale Hauptort des Körpers und der Korporalität. Der Kör297 So werden einem trainiert wirkenden Körper eher als einem untrainiert wirkenden Attribute wie hoher Status oder ‚sexuelles Glück‘, aber auch Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein, Zuverlässigkeit und Ausdauer zugeschrieben (vgl. Wedemeyer 1996: 410 f.).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
per ist Grund und Grundlage von sozialen Interaktionen, deren Ordnung, die Interaktionsordnung, mit der Kopräsenz von Körpern sozusagen in Kraft tritt und durch (ihre) Rahmen mit Normen verbundene „Sprachen individueller Erscheinungen und Gesten“ festlegt (Goffman 1971b: 41). In jeder Situation kann ein Mensch aufhören zu sprechen, aber er kann nicht aufhören, sich mit seinem Körper auszudrücken; „er muß damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen, aber er kann nicht gar nichts sagen“ (ebd.: 43).298 Ob der Körper ‚spricht‘ und was er sagt ist aber eben eine soziale Sinnfrage, eine Rahmen- und Rahmungsfrage, die für die Figurationssoziologie auf sozio-kulturelle (Feld-)Differenzierungsprozesse verweist. Sie bringen auch eine Differenzierung von Interaktionsordnungen und Interaktionsrahmensystemen mit sich, die eine Pluralisierung von Körper-Symboliken, Körper-Bedeutungen, Körper-Wirklichkeiten und auch Körper-Theatralitäten (Korporalitäten) implizieren. Im Zuge dieser Prozesse der Differenzierung von Figurationen, Feldern (Subsystemen), Diskursen hat sich die Wirklichkeit des Körpers natürlich nicht nur auf der Ebene der Interaktionsordnung, sondern auch jenseits dieser Ebene differenziert. Heutzutage gibt es nicht nur eine historisch einmalige Vielfalt von interaktionsbezogenen und interaktionellen Körperrelevanzen‚ Körperbedeutungen, ‚Körpersprachen‘, sondern auch und gerade jenseits der Interaktionsebene eine höchst differenzierte und sich immer weiter differenzierende Wirklichkeit von Körper-Wirklichkeiten. Alle sozialen Figurationstypen/Felder haben ihre je besonderen Körperbezüge und ihre je besondere Korporalität. Man kann hier also wiederum eine ambivalente ‚Diagnose‘ stellen: In dem (auch Zivilisations-)Prozess, in dem das ‚Sagen‘ des Körpers zunehmend kodiert und reguliert wurde und wird, in dem der Körper auch tatsächlich zum Schweigen und in bestimmten Hinsichten sogar regelrecht zum Verschwinden gebracht wurde und wird, taucht er zugleich umso vielfältiger, vielsprachiger und beredter auf. Von zentraler Wichtigkeit – auch (aber längst nicht nur) als ‚Spiegel‘ der Korporalität der Interaktionsordnung – sind in diesem Zusammenhang die Massenmedien und das Internet geworden. Mit der Medientechnik- und der Medi-
298 Diese Feststellung erinnert an das berühmte kommunikationstheoretische „Axiom“ von Watzlawick/Beavin/Jackson (1969), dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren. Im Gegensatz zu Watzlawick u. a. vertritt Goffman allerdings einen engen Kommunikationsbegriff. Goffman unterscheidet Ausdruck von Kommunikation, unter der er den „Gebrauch der Sprache oder sprachähnlicher Zeichen zur Übermittlung von Informationen“ (Goffman 1981b: 14) versteht. Kommunikation in diesem Sinne hält Goffman für durchaus vermeidbar, ja sie ist für ihn durch Vermeidbarkeit definiert. Dagegen hält er sowohl Ausdruck als auch Ausdrucksdeutung in Anwesenheit anderer für unvermeidbar.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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enkulturevolution, der Entwicklung und Differenzierung immer neuer (bild-) medienkommunikativer Gattungen und Diskurse entsteht und wandelt sich auch die Wirklichkeit des Körpers bzw. der Korporalität. Sie bleibt aber, das lehrt z. B. Goffmans (Korporalitäts-)Analyse der massenmedialen Geschlechterdarstellung (vgl. Goffman 1981b), zumindest bis zu einem gewissen Grad im lebensweltlichhabituellen Alltagswissen der Interaktionsordnung verwurzelt, das allerdings seinerseits von den medialen Körper-Performanzen berührt und beeinflusst wird. Als Teilkonzept von Theatralität im Sinne Fischer-Lichtes ist das Korporalitätskonzept aus der hier vertretenen Sicht also einerseits einseitig und reduktionistisch: Weder lässt sich die mit Korporalität gemeinte ‚Außenseite‘ des Körpers und der körperlichen Performance von der ‚Innenseite‘ des Körpers bzw. den (zivilisierten) habituellen Dispositionen trennen (die auch korporale Expressivität und Kompetenz generieren) noch ist der Körper als Ganzes von der Gesellschaft und den konkreten Figurationen/Feldern und Praxen, in die er eingelassen und eingespannt ist, abzulösen. Korporalität ist insofern aus figurationssoziologischer Sicht ein beschränktes und gewissermaßen haltloses Konzept. Es bedarf der Verankerung in der figurationssoziologischen Gesamtvision – nicht nur des ‚Gesamtkörpers‘, sondern auch des Raumes, der Zeit, der symbolischen Ordnungen, der Lebensstile usw. Andererseits indiziert dieses Konzept und verweist es auf tatsächliche Entwicklungen und Wandlungen von (Körper-)Zivilisation, auf sozial und soziologisch höchst wichtige Komplexe von Prozess- und Strukturtatsachen, die Bedeutungen und Umdeutungen, Auf- und Umwertungen von Körper-Aspekten und Körper-Themen beinhalten. Man kann in diesem Zusammenhang von gewissen Korporalisierungstendenzen sprechen, von in verschiedenen Feldern und Diskursen wurzelnden Theatralisierungen des Körpers (vgl. Willems/Jurga (Hg.) 1998; Willems/Kautt 2003; Willems (Hg.) 2009a, b), die sicher auch von großer zivilisatorischer und zivilisationstheoretischer Relevanz und entsprechend zu behandeln sind.
7.2.3
Zeichenhaftigkeit, Prozessualität und Sequenzialität
Alle genannten ‚Aspekte‘ oder Ebenen von Theatralität haben mit bestimmten Zeichen, Zeichenklassen und (relationalen) Zeichenkonfigurationen zu tun, die sich in mehr oder weniger fixen (statischen) Arrangements und/oder in der Form von Prozessen bzw. Interaktionsprozessen manifestieren und entfalten. Im Unterschied zu der ‚objektiven‘ Zeichenhaftigkeit von Materialität und Korporalität geht es auf den Ebenen von Darstellungen, Inszenierungen und Perfor-
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
mances immer und wesentlich auch um Prozesse und sozusagen um Schrittfolgen im Handeln und Interagieren, die von situierten Akteuren ausgehen und auf Akteure bezogen sind. Mindestens drei soziologische Ansätze bieten sich auf dieser Ebene an, um die Prozessualität und damit die Sequenzialität und sequenzielle (Abfolge-)Ordnung von Theatralität zu beschreiben und zu analysieren: a) die dem Theatermodell benachbarten und mit ihm assoziierten Skriptansätze (vgl. Kaminski (Hg.) 1986; Abelson 1976; 1981); b) Ritualmodelle bzw. Interaktionsritualmodelle (vgl. Belliger/Krieger (Hg.) 1998; Goffman 1971a, b; 1974b; 1981b); c) spieltheoretisch orientierte Modelle der strategischen Interaktion (vgl. insbesondere Goffman 1981d, s. u.). Als methodologische Orientierung/Methode kann den Konzepten und Modellen der (theatralen) Prozessualität und Sequenzialität die in der qualitativen Sozialforschung zentrale „Sequenzanalyse“ (vgl. Oevermann 1993; Bergmann 1985; 1991) an die Seite gestellt werden, die sich ebenso auf ‚natürliche‘ Interaktionen, z. B. Alltagsgespräche, wie auf ‚unnatürliche‘ (Interaktions-)Prozesse, z. B. mediale Performanzen, anwenden lässt. Da es sich (soweit es sich) bei den Prozessen der Theatralität um faktisch vorstrukturierte oder, wie im Fall von Medien(fiktions)inszenierungen, sogar vollständig und minutiös durchkomponierte Prozesse handelt, ist der Versuch gerechtfertigt, analytisch Zug um Zug eine sequenzielle „Fallstrukturgesetzlichkeit“ (Oevermann 1993: 183) zu identifizieren. Was sich damit zeigt oder andeutet ist nicht nur eine zentrale Gemeinsamkeit oder Konvergenz zwischen den Ansätzen der Theatralität, der qualitativen Sozialforschung und der Figurationssoziologie, sondern auch Anschlussfähigkeit und Komplementarität zwischen diesen Ansätzen. Vor allem als Symbol- und Prozesstheorie, als die sie sich ja versteht, kann die Figurationssoziologie in diesen Hinsichten wiederum eine instruktive ‚Metarolle‘ spielen und zugleich von jenen Ansätzen profitieren, indem sie sie integriert.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung 7.2.4 7.2.4.1
341
Medientheatralität Interaktionstheatralität und Medientheatralität
Mit Goffman kann man davon ausgehen, dass unmittelbare Interaktionen zwar in viele verschiedene soziale Kontexte/Figurationen (Felder) eingebettet sind, aber auch eine eigene soziale ‚Seinsordnung‘, eine eigene Sphäre sozialer Wirklichkeit und sozialen Handelns mit einer eigenlogischen Theatralität darstellen.299 Die Theatralität der Massenmedien300 bzw. der verschiedenen massenmedialen/televisionalen Programmbereiche301 liegt auf einer anderen Ebene. Die Massenmedien operieren zwar aufgrund ihrer Publikumsabhängigkeit mit lebensweltlichen Wissensbeständen bzw. mit Wissensbeständen der lebensweltlichen Interaktionsordnung(en), aber sie tun dies unter neuartigen und besonderen, Rahmung und Reichweite der Kommunikation ändernden Bedingungen in besonders voraussetzungsvollen und besonders strukturierten Inszenierungen und Performanzen.302 Ich möchte daher von medienspezifischer Theatralität oder Medientheatralität 299 Unmittelbarkeit heißt hier natürlich nicht Unvermitteltheit, Authentizität, Natürlichkeit oder gar soziale Unschuld. Vielmehr sind Menschen auch in unmittelbarer Interaktion nur vermittelt, nämlich durch Theatralität vermittelt, füreinander ‚da‘, gegeben und zugänglich. Sie sind, wie Soeffner (2004: 240) ganz im Sinne der Goffman’schen Soziologie formuliert, immer schon füreinander „fiktiv“: „Sie zeigen sich einander in Bildern und Typen, die ständig hergestellt, ratifiziert und variiert werden müssen: Das Wesen des Sozialen besteht im Schein (…) So bewegen wir uns in unseren Handlungen und Orientierungen durch eine Textur sozialer Typen, durch semantische Felder menschlicher Erscheinungen, an die sich die Syntax unserer Handlungsentwürfe anpasst“ (ebd.). Unmittelbare Interaktion heißt also immer auch und immer schon unmittelbare Interaktionstheatralität und impliziert eine dieser Theatralität korrespondierende Fiktivität, die der ‚der Medien‘ bzw. ihrer Theatralität grundsätzlich entspricht. 300 Mit dem Begriff der Massenmedien sollen hier, einer Definition Luhmanns folgend, „alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. Vor allem ist an Bücher, Zeitschriften, Zeitungen zu denken, die durch die Druckpresse hergestellt werden; aber auch an photographische oder elektronische Kopierverfahren jeder Art, sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen. Auch die Verbreitung der Kommunikation über Funk fällt unter den Begriff (…)“ (Luhmann 1996: 10). 301 Ich schließe mich hierbei wiederum Luhmann an, der die erwähnte Differenzierung der massenmedialen bzw. televisionalen Programmbereiche (Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung) „als wichtigste interne Struktur der Massenmedien“ (Luhmann 1996: 52) versteht. Allerdings gibt es Grenzfälle, hybride Fälle und Sonderfälle, die nicht oder nicht ohne weiteres in das Luhmann’sche ‚System‘ passen, z. B. religiöse Erbauungssendungen. 302 Mit Soeffner formuliert: „Mittel, Stile, Formen, Reaktionsweisen und Einflussmöglichkeiten wechseln, wenn sich Rahmung und Reichweite der Kommunikation ändern (…)“ (2004: 241).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sprechen und diese grundsätzlich von Interaktionstheatralität unterscheiden.303 Einige Differenzen sind im Hinblick auf das Spektrum der Massenmedien mehr oder weniger offensichtlich und zentral: 1. Die massenmediale Performanz ist im Gegensatz zu der des Theaters oder des interaktionellen Alltags kein „Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern“ (Fischer-Lichte, s. o.). Vielmehr wird einerseits das wechselseitige Verhältnis von Performanz/Korporalität und Wahrnehmung unterbrochen und mittelbar. Die „Wahrnehmung der über das Medium ‚vermittelten‘ Person (findet, H. W.) nicht mehr in unmittelbarer, sondern in mittelbarer Reichweite statt; nicht mehr in der Wirkwelt von unmittelbaren Wechselbeziehungen, sondern in medialer Durchtrennung der wechselseitigen Steuerung von Aktion und Reaktion“ (Soeffner 2004: 239). Gleichwohl ist die „mediale Welt (…) nicht von vorneherein ‚unwirklich‘: Zunächst einmal wirkt sie nur anders“ (ebd.). Mit dem Medium und in ihm entsteht m. a. W. eine neuartige soziale Figuration, die Akteure/Personen/Körper und andere ‚Wirklichkeiten‘ in eine eigentümlich distanzierte Beziehung zu anderen Akteuren/Personen/Körpern setzt und neue soziale und auch „para-soziale“ (Horton/Wohl 1956; 2001) Beziehungen mit sich bringt und hervorbringt. Gleichzeitig überbrückt das Medium die Distanz zwischen abwesenden und anwesenden Akteuren und erzeugt damit sowohl anonyme Wahrnehmungskollektive prinzipiell unbegrenzter Quantität als auch eine neue Art von Ko-Präsenz: Die ‚Live-Übertragung‘ macht eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von (abwesenden) Zuschauern zu Quasi-Anwesenden und d. h. auch zu entsprechend Erlebenden (z. B. Mitengagierten oder Mitfühlenden bei Sportveranstaltungen, Beerdigungsfeiern, Papstbesuchen u. a. m.). 2. Auf der Grundlage der medial ermöglichten ‚wahrnehmenden Teilnahmen‘ haben sich neue, vom Interaktions- bzw. Theater-Publikum mehr oder weniger weit entfernte Publikumstypen und Publikumsaktivitäten, d. h. auch soziale Fi-
303 In einem ‚theatrologischen‘ bzw. theaterwissenschaftlichen Verständnis ist Theatralität, wie gesagt, im Grunde Interaktionstheatralität. Die Theatralität des Theaters wird als Modell genommen und auf die verschiedensten sozialen/kulturellen Kontexte übertragen, so dass z. B. Wettkämpfe, Konzerte oder Parlamentsdebatten den Realitäten des Theaters analog gesehen und unter diesem Blickwinkel untersucht werden können. Die unmittelbare Interaktion ‚von Angesicht zu Angesicht‘ (Anwesenheit) stellt dann also eine Art kleinster gemeinsamer Nenner verschiedener Kontexte von Theatralität dar.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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gurationen, entwickelt, die vom einsamen oder gemeinsamen Fernsehabend bis zum ‚Public Viewing‘ reichen. Massenmediale Theatralität impliziert also im Unterschied zu Interaktionstheatralität auf der Ebene der Wahrnehmung (Nutzung) ebenso die Möglichkeit vollkommener Anonymität und ‚Asozialität‘ wie neue Formen von (Interaktions-)Sozialität bis hin zu der gesteigerten (Euphorie-)Gemeinschaftlichkeit und Intimität von ‚Events‘. 3. Die verschiedenen (Massen-)Medientypen (Presse, Fernsehen, Radio usw.) und die entsprechenden Modi ihres Gebrauchs stellen eigenständige und eigenlogisch strukturierte und strukturierende (konstitutive, limitierende) Rahmen und (d. h.) Faktoren der Performanz und der Inszenierung dar. So wie die Theaterbühne die Inszenierung und die Performance mitsamt der entsprechenden Korporalität spezifisch ‚formatiert‘, so wirkt sich auch der jeweilige Medientyp bedingend und bestimmend aus. Das Medium selbst ist durch seine spezifischen Möglichkeiten und Möglichkeitsgrenzen ein Zeichen- und Sinngenerator und zugleich ein Zeichenund Sinnlimitator und -degenerator. 4. Systematisch different ist auch die Logik der ‚Rückkopplung‘ zwischen (Bühnen-)Akteuren und Publika. Auf der Ebene der massenmedialen Theatralität gibt es natürlich kein kopräsentes Publikum, das re-agiert, z. B. Applaus spendet, aber es gibt unmittelbare Reaktions- bzw. Applausanaloga und funktionale Äquivalente wie Einschaltquoten oder Ergebnisse von Markt- und Meinungsforschungen (Befragungen), die sogar genauer und strategisch zielführender sein können als das Applausgeräusch von Anwesenden. Die ‚Meinungsforschung‘ ist ein sehr genauer (weil wissenschaftlich fundierter) „Applausmesser“ (Soeffner 2004: 245), der den diversen auf Medienfeldern operierenden Strategen die Richtung weist. Diese zunehmend elaborierte und ihrerseits inszenierbare und inszenierte Art der ‚Rückkopplung‘ (und ‚Vorkopplung‘) gestattet auch gegenüber sehr großen und sehr differenzierten Publika schnelle und präzise Lern- und Erkundungsprozesse. Die Subjekte der Medientheatralität werden damit unter den Bedingungen von Knappheit (z. B. Aufmerksamkeitsknappheit) und Konkurrenz tendenziell enger und bewusster an ihre Publika und deren Vorstellungen und Bedürfnisse gebunden. So hat sich eine (zwanglose) „Herrschaft des Publikums“ (ebd.) etabliert und verstärkt, die alle sozialen Felder umfasst. 5. Auch der ‚Aspekt‘ der Korporalität spielt im Kontext der Massenmedien eine systematisch andere Rolle als im Rahmen von Interaktionstheatralität. Während diese unmittelbar an die Realität der Körper gebunden und durch diese konstituiert und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
limitiert ist304, können oder müssen die verschiedenen Massenmedientypen Korporalität spezifisch manipulieren, exkludieren oder verknappen. Man denke an das Radio, das Korporalität auf die Stimme beschränkt, die Presse, in der Korporalität potentiell ganz durch Schrift ersetzt wird, oder das Internet, in dessen Kommunikation der Körper gleichfalls gänzlich verschwinden kann (vgl. Sandbothe 1998: 588; Pranz 2008: 322).305 Gleichzeitig implizieren Medien wie die Fotografie, das Fernsehen und das Internet – auch im Rückgriff auf traditionell-lebensweltliche Körperbilder – neue und je besondere Möglichkeiten der Körperinszenierung und Körperaufführung, der Kontrolle, Instrumentalisierung, Stilisierung und Fiktionalisierung von Korporalität. Die Theatralisierung der massenmedialen und der internetbasierten Kommunikation (s. u.) besteht entsprechend in bestimmten ‚Korporalisierungen‘, in Vorführungen und Aufführungen, Thematisierungen und Visualisierungen des Körpers, die sich von den Grenzen seiner materiellen Realität mehr oder weniger freimachen können (vgl. Pranz 2009a, b). 6. Unmittelbare Interaktionen (und ihre Theatralität) sind ihrem Wesen nach „transitorisch“: vorübergehend, flüchtig, momentan. Fischer-Lichte betont diesen Aspekt und betrachtet ihn als fundamentales Merkmal der Theatralität des Theaters: „Das materielle Artefakt des Theaters hat nicht – wie etwa ein Bild oder der Text eines Gedichts – eine von seinem Produzenten abgehobene, fixierbare autonome Existenz, sondern existiert nur im Prozeß seiner Herstellung“ (FischerLichte 1994: 15). Und: „Das Transitorische des Theaters (…) hat sein Eigenes nicht nur darin, daß es sich in der Zeit realisiert, sondern daß diese seine Realisation an ihre Urheber gebunden bleibt, keine übertragbare, wiederholbare, eigenständige Existenz besitzt“ (ebd.).
304 Sozusagen primäre und allseitige Korporalität ist im unmittelbaren Interaktionsprozess unvermeidlich und unverzichtbar; sie ist das ‚Medium‘ der Theateraufführung wie der lebensweltlichen Darstellung und Performance. 305 Für das Internet stellt Mike Sandbothe fest, dass dessen „‚virtuelle Realität‘ (…) nicht zuletzt deshalb als ‚virtuell‘ bezeichnet wird, weil es sich bei ihr um eine Realitätsform handelt, deren Konstruktion sich in einem künstlichen digitalen Raum vollzieht, in dem die Nutzerinnen und Nutzer losgelöst von den raum-zeitlichen Zwängen ihrer physischen Körperlichkeit virtuelle Körper mit imaginären Eigenzeiten und Eigenräumen erfinden können“ (Sandbothe 1998: 587). Die (internet-) mediale Entbindung von der primären Korporalität des Lebens führt also zu einer spezifischen Expansion und Modulation von Theatralität: „… im Netz ist infolge der medialen Entkörperlichung seiner Akteure die Kommunikation von den psychosozialen Aspekten einer raum-zeitlich fixierbaren Körperidentität entlastet, die dem theatralen Spiel mit Identitäten im ‚wirklichen‘ Leben physische Grenzen setzt“ (ebd.: 588).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Georg Lukács hat die hier gemeinte Gegenwärtigkeit306, Ereignishaftigkeit und Einmaligkeit als distinktes, produktives und funktionales Charakteristikum der Bühnenaufführung und der „Bühnenwirkung“ beschrieben. Bezüglich der Meinung, das Theater ließe sich durch den Film effektiv ersetzen oder sogar überbieten, stellt er fest: „Dieser schöne Traum ist aber ein großer Irrtum. Er übersieht die Grundbedingung aller Bühnenwirkung: die Wirkung des tatsächlichen Menschen. Denn nicht in den Worten und Gebärden der Schauspieler oder in den Geschehnissen des Dramas liegt die Wurzel der Theatereffekte, sondern in der Macht, mit der ein Mensch, der lebendige Wille eines lebendigen Menschen, unvermittelt und ohne hemmende Leitung auf eine geradeso lebendige Menge ausströmt. Die Bühne ist absolute Gegenwart. Die Vergänglichkeit ihrer Leistung ist keine beklagenswerte Schwäche, sie ist vielmehr eine produktive Grenze: sie ist das notwendige Korrelat und der sinnfällige Ausdruck des Schicksalhaften im Drama. Denn das Schicksal ist das Gegenwärtige an sich (…). Die ‚Gegenwart‘, das Dasein des Schauspielers ist der sinnfälligste und darum tiefste Ausdruck für das vom Schicksal Geweihte der Menschen des Dramas. Denn gegenwärtig sein, das heißt wirklich, ausschließlich und aufs intensivste leben, ist schon an und für sich ein Schicksal – nur erreicht das sogenannte ‚Leben‘ nie eine solche Lebensintensität, die alles in die Sphäre des Schicksals heraufheben könnte.“ (Lukács, zit. n. Rapp 1973: 35; Hervorheb. im Orig.)
In der Performance des (Real-)Theaters verdichtet sich sozusagen, was für Interaktionstheatralität überhaupt gilt: dass sie sich „in unmittelbarer Tätigkeit von Darstellenden und Zuschauenden raumzeitlich entfaltet und verzehrt“ (Fiebach 1978: 127) und dass darin eines ihrer konstitutiven, generativen und funktionalen Merkmale besteht. Dass die Erzeugnisse der Massenmedien, die „massenmedialen Zeitkonserven“ (Sandbothe 1998: 584), nicht-transitorisch, sondern mittelbar und „im Prinzip beliebig reproduzierbar“ sind (ebd.: 585), impliziert demnach (auch) einen gewissen Verlust, den man auf den Begriff der Enttheatralisierung (s. u.) bringen könnte.307
306 Im Blick auf das Theater spricht Rapp von der „Gegenwärtigkeit des Zuschauers (…) Nur vor der Wahrnehmung von Zuschauern, nur in der Beziehung zu dieser Wahrnehmung ist die Bühne absolute Gegenwart“ (Rapp 1973: 36; Hervorheb. im Orig.). 307 Transitorisch, im Sinne von ‚absolut gegenwärtig‘, bleibt natürlich die konkrete Wahrnehmung der medialen Konserven mit der Implikation, dass jeder Wahrnehmungsmoment auch im wiederholten Bezug auf ein und dasselbe Medienerzeugnis besonders und einmalig ist.
346 7.2.4.2
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie (Medien-)Bühnen, Akteure und Symbolverkäufer
Der Begriff der Theatralität impliziert auch und hauptsächlich den der Bühne, der allerdings entsprechend der Differenzierung von Interaktions- und Medientheatralität, aber auch darüber hinaus, zu differenzieren und zu spezifizieren ist. Unter Bühnen verstehe ich hier zunächst alle – immer in irgendeiner Weise materiell/technisch voraussetzungsvollen – sozialen Gegebenheiten und Gelegenheiten, die es einem Akteur direkt oder indirekt (stellvertretend) gestatten, performativ aktiv zu werden. Das impliziert nicht zwangsläufig die Anwesenheit oder Daueranwesenheit von Menschen. ‚Schaufenster‘ z. B. sind Bühnen, die als solche ohne Menschen auskommen, wenngleich Menschen daran beteiligt sein müssen, wenn auf ihnen etwas vor- oder aufgeführt wird. Entscheidend ist, dass Bühnen nicht nur performative Möglichkeiten darstellen, sondern auch von Akteuren so verstanden und genutzt werden. In diesem Sinne ist die heutige (Öffentlichkeits-) ‚Lebenswelt‘ jedermanns mehr denn je von Bühnen durchsetzt und mit Bühnen auszustatten. Die Realitäten und die Entwicklungen der Bühnen folgen aber (wiederum) auch der Logik der sozialen Felder-Differenzierung. Die heutigen Bühnen der Wissenschaft z. B. sind andere, anders ‚kontextierte‘, anders gewordene, anders sich wandelnde als die der Politik, der Kunst, des Rechts oder der Religion. Es liegt auf der Hand, dass die Medienentwicklung mit besonderen und gesellschaftlich besonders wichtigen Bühnenentwicklungen einhergeht und unter dem Blickwinkel der Bühne verstanden und beschrieben werden kann. (Massen-)Medien wie das Fernsehen bilden besondere Bühnen und Konfigurationen von Bühnen, die immer auch Kultur sind und auf denen immer auch Kultur (Ideen, Deutungsmuster, Meinungen, Weltanschauungen, Images etc.) performiert, reproduziert und erzeugt wird. Man kann in diesem Zusammenhang also von Medien-Bühnen sprechen, die die Grundlagen von medialen (Kultur-)Performanzen darstellen. Einen hier maßgeblichen Ausgangspunkt für das Verständnis der Strukturen, Operationsweisen und Funktionen dieser Bühnen und ihrer sozio-kulturellen Bedeutungen bieten die fernsehtheoretischen Überlegungen von Newcomb und Hirsch, die das Konzept des „kulturellen Forums“ (Newcomb/Hirsch 1986: 177 ff.) entwickelt haben. Es beinhaltet und unterstreicht sozusagen zwei Kultur-Seiten des (Massen-)Mediums: zum einen die kulturelle Abhängigkeit, Bezogenheit und Reflexivität der medialen Performanzen, deren Produzenten auf vorhandene Sinnund Wissensbestände des jeweiligen Publikums zurückgreifen und zurückgreifen müssen, um ihre Zwecke verfolgen zu können. Zum anderen fasst dieser konzeptuelle Rahmen die Massenmedien gleichsam als eigensinnige und eigengesetzliche Plattformen, Schau- und Marktplätze, auf denen jene ,real existierende‘ Kultur
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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nicht oder nicht nur reproduziert, sondern auch in immer neuen Variationen, die das Publikum adressieren, transformiert und abgewandelt wird.308 In diesem zweiten Sinn meint ‚Forum‘ also auch besondere Spielräume und Freiräume, mit Kultur umzugehen, Kultur zu verarbeiten und kulturelle Innovationen zu produzieren. Die prinzipielle Analogie zum Theater liegt hierbei auf der Hand. Folgt man den Überlegungen von Newcomb und Hirsch, dann bilden Massenmedien wie das Fernsehen einen theateranalogen Spielraum – und: SpielRaum – der Sinnverarbeitung und Sinnerarbeitung, der Sinnumwandlung und Sinnproduktion.309 Dieser Spielraum, genauer gesagt: dieser Spielraum von Spielräumen, ist allerdings systematisch limitiert – zum einen, wie erwähnt, durch die Kultur des jeweils relevanten Publikums, an der sich die Verständlichkeit, die Akzeptabilität und die Attraktivität des jeweiligen Medienprodukts entscheidet, und zum anderen durch den entsprechenden Markt, dessen Verhältnisse die (produk308 Wie andere Beobachter betrachten Newcomb und Hirsch das ‚Leitmedium‘ Fernsehen als das gesellschaftszentrale kulturelle Forum. 309 Medientheatralität ist natürlich zunächst eine Funktion von – immer technologiespezifischer – Medialität. Es kommt hier also auch darauf an, den Zusammenhang von Medialität und Theatralität zu betrachten, d. h., die Formen und die Eigenlogiken der verschiedenen Medientypen und Medientypvarianten als Rahmen und Basen von Theatralität im Blick zu behalten und in den Blick zu bekommen (vgl. Sutter 2008: 65; Pranz 2009b). Im Falle der Massenmedien liegt dieser Zusammenhang mehr oder weniger deutlich auf der Hand. Fernsehwirklichkeit z. B. ist offensichtlich medial und medienentsprechend „inszenierte, oftmals sogar eigens erzeugte Wirklichkeit“ (Sutter 2008: 60), deren medientypspezifische Bedingungen bzw. Erzeugungsbedingungen der Grundkonfiguration des Theaters durchaus ähnlich sind. Zwar gibt es verglichen mit Interaktionstheatralität (oder Theatertheatralität) eine neue Rahmung, eine neue kommunikative Reichweite und (weil) eine ‚Kontaktunterbrechung‘‚ die die eigentlich theatrale Konfiguration (des Theaters) – den unmittelbaren Zusammenhang von Performance und Publikumswahrnehmung – sozusagen auseinanderzieht, aber die zweiseitige Struktur der ‚ursprünglichen Theatralität‘ bleibt ansonsten bestehen: hier die Bühne und die (inszenierte) Aufführung, dort das ‚wahrnehmende‘ Publikum. Mit ihm ist dann, wie oben schon betont wurde, eine oder die entscheidende ‚soziale Dimension‘ im Spiel, die sich sozusagen der Medialität (und d. h. medialen Theatralität) bedient und durch sie zur Geltung kommt. Dementsprechend (relativ) passend erscheinen in diesem Zusammenhang das Theatermodell und ähnliche Ansätze wie das Konzept des „kulturellen Forums“ oder auch die von Siegfried J. Schmidt vorgeschlagene Metapher des „Resonanzkörpers“. Massenmedien machen demnach „wie große Resonanzkörper gesellschaftliche Phänomene überdeutlich ‚hörbar‘ und verhelfen ebenso den Reaktionen auf diese neue Hörbarkeit durch Publizität zu allgemeiner Hörbarkeit“ (Schmidt 2000: 279). Solche metaphorischen Vorstellungen, Modellvorstellungen und Deutungsmittel helfen hier soziologisch ein Stück weiter, weil sie die Medialität und die Sozialität der Massenmedien inkludieren; sie treffen damit deren Realität und die Realitätsbedeutung der Massenmedien als Sensoren, Plattformen und Schauplätzen, auf denen (Gattungs-)Performanzen an Publika adressiert werden, die zwar vor dem Medium im Wesentlichen nur die Wahl haben, ein-, aus- oder umzuschalten, die aber aufgrund der beschriebenen medialen Bühnen- und Produktionslogik gleichwohl eine maßgebliche Rolle in der und für die ‚Realität der Massenmedien‘ spielen.
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tions-)praktische Bedeutung, die Relevanz und die konkrete Nutzung eben jener Kultur bestimmen oder mitbestimmen. Medienakteure, z. B. Werber oder Journalisten, müssen unter sich generalisierenden und verschärfenden Marktbedingungen als Markt- und Vermarktungssubjekte operieren, d. h. mit Blick auf das ‚Ankommen‘ und den Absatz ihrer Produkte nach Erfolgsbedingungen fragen und sich im Handeln daran ausrichten. Die Produkte, die es im Medienfeld zu vermarkten gilt, sind stilistisch und symbolisch (sinn-)gehaltvolle Performanzen besonderer Art. Sie verweisen also auf spezielle und spezialisierte Akteure bzw. Produzenten. Im Anschluss an Sahlins (1976: 217) sprechen Newcomb und Hirsch von diesen Medienakteuren als „Symbolverkäufern“ und (als) „Sinnvermittlern“, die im ‚kulturellen Haushalt‘ der (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft eine zentrale und vielseitige Rolle spielen: „Sie (die medialen ‚Symbolverkäufer‘, H. W.) sind kulturelle Sinnproduzenten (‚bricoleurs‘), die durch die Kombination von sehr unterschiedlichen, bedeutungsgeladenen Kulturelementen neue Sinngehalte aufspüren und schaffen. Sie reagieren mit hoher Sensibilität auf konkrete Ereignisse, auf den Wandel gesellschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen oder auf Veränderungen in Einstellungen und Wertvorstellungen. Auch technologische Innovationen wie die Einführung von Kabelkommunikation oder die Nutzung von Videorecordern sind für sie wichtige Anstöße. Wir schließen Fernsehproduzenten in Sahlins Katalog von ‚Symbolverkäufern‘ ein, denn auch sie verfahren nach demselben Grundrezept, übrigens genauso wie Fernsehautoren und, in geringerem Maße, Regisseure bzw. Schauspieler. Gleiches gilt für Programmplaner und Anstaltsleitungen, die über den Ankauf, die Herstellung und die Ausstrahlung von Programmen zu entscheiden haben. Sie alle fungieren in den verschiedenen Phasen dieses komplexen Prozesses als Sinnvermittler.“ (Newcomb/Hirsch 1986: 180)310
Die medialen Symbolverkäufer sind demnach in gewisser Weise selbst Medien. Sie fungieren gleichsam als Empfänger, Transformatoren und Sender, indem sie Elemente der Publikumskultur (selektiv) beobachten, aufgreifen, verarbeiten und in immer neuen Synthesen dem Publikum (zurück-)offerieren. Symbolverkäufer brauchen und gebrauchen in ihrer beruflichen Praxis also immer auch, ja primär ihre ‚Jedermanns-Habitus‘ als Generatoren von Wahrnehmungs- und Urteilsfähig-
310 Ähnliche – kulturtheoretische/kultursoziologische – Überlegungen finden sich (bereits) bei Friedrich Tenbruck (1989). Er spricht von „Kulturproduzenten“ (ebd.: 53) bzw. von „Kulturintelligenz“ (ebd.: 17) und verweist auf einen durch die „berufsmäßige Vermehrung der Kulturintelligenz und deren Allgegenwart in den Massenmedien“ forcierten „Ideenpluralismus“ (ebd.: 56).
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keiten. In Verbindung mit dieser ‚Innenausstattung‘ verfügen sie natürlich gleichzeitig über professionelle (Spezial-)Kenntnisse und Fähigkeiten, insbesondere eine berufspraktisch geschulte Sensibilität in Sachen Publikumsverstehen und performative Kreativität, z. B. im Produzieren von Texten.311 Der Kreislauf des Wissens, in dem diese ‚Verkäufer‘ stecken und den sie kognitiv wie performativ mitkonstituieren, hat seine zentrale Polung also in der Wahrnehmung des jeweiligen Publikums, die wahrgenommen, verstanden und gedeutet werden muss, um kontrolliert, bedient und manipuliert werden zu können. Ob es den Medienakteuren hauptsächlich darum geht zu unterhalten, berichtend zu interessieren oder zu werben, die adressierten Publika sind unter den gegebenen Feld- und (d. h.) Marktbedingungen in jedem Fall die maßgebliche ‚Autorität‘, der sie sich im inhaltlichen und stilistischen Design und im Absatz ihrer Produkte zu unterwerfen haben und normalerweise unterwerfen wollen (vgl. Fiske/Hartley 1978: 86). Die medialen Sinnvermittler müssen also gleichsam und buchstäblich die Sprache des jeweiligen Publikums sprechen, dessen Wissen (Kenntnisse, Meinungen, Überzeugungen, Ideologien, Symboliken usw.) zur Generierungsgrundlage ihrer Zeichen-, Bild- und Sinnangebote machen.312 Man kann daher mit Ruth Ayaß in Analogie zum ‚recipient design‘ der Face-toface-Konversation von einem „medialen recipient design“ (Ayaß 2002) sprechen, das Medienakteure bzw. Medienmarktakteure in einem strategischen Sinne zu leisten haben. Medienakteure müssen sich natürlich im Unterschied zur Face-toface-Konversation im Wesentlichen ohne die Orientierung und Kontrolle direkter Wahrnehmung und ‚Rückkopplung‘ auf ihr Publikum einstellen. Das ‚recipient design‘ in medialer Kommunikation ist damit zunächst ungleich vager als in der Alltagsinteraktion und in hohem Maße von Spekulationen geleitet, was durch die Größe und Unbekanntheit des Publikums noch potenziert wird (vgl. ebd.). Es
311 Die medialen Symbolverkäufer werden zudem in ihrer Ausbildung wie in ihrer beruflichen Praxis permanent zu spezifisch ‚bildenden‘ Selbstreflexionen und Selbstevaluationen veranlasst, sind also in einschlägiger Hinsicht typischerweise nicht nur intuitiv (habituell) sondern auch reflexiv und ‚artikulativ‘ besonders kompetent. So müssen etwa Werbeproduzenten bei der Konzeption von Werbekampagnen und bei der Gestaltung der konkreten Werbemittel ihr Vorgehen reflektieren, Problemlösungen vorschlagen und diskutieren sowie ihr Konzept schließlich dem Auftraggeber präsentieren, der genaue Auskunft über die vorgeschlagene Konzeption erhalten möchte. Und Journalisten richten ihren Blick auch reflexiv und lernwillig auf die Aktivitäten, Erfolge und Misserfolge ihrer (Markt-)Konkurrenten, die sie aus strategischen Gründen ‚evaluieren‘ (vgl. Bourdieu 1998: 32). 312 Fiske und Hartley konstruieren daher die kulturelle Funktion des Fernsehens analog zu der Rolle des Barden in mittelalterlichen Gesellschaften. “The real authority for both bardic and television messages is the audiences in whose language they are encoded” (Fiske/Hartley 1978: 86).
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kommt daher einerseits in besonderem Maße auf ein spezialisiertes habituelles ‚Gespür‘ der Medienakteure an – ein Gespür, das sich vor allem in berufspraktischen Bildungsprozessen entwickelt und steigert. Andererseits bedarf es der besagten speziellen (Spezialisten-)Leistungen professioneller Beobachtung und Interpretation, die man bei Bedarf und Kompetenz selbst erbringen oder sich auf Märkten besorgen kann. ‚Medien-Theater‘ und Medien-Theatralitäten bilden also keine Freiräume, in denen mit Kultur mehr oder weniger beliebig gespielt oder experimentiert werden könnte, sondern eher Arbeitsräume, in denen kulturelle Materialien und Rohstoffe genutzt und weiterverarbeitet werden (müssen). Zwar muss in diesen Räumen mit Kultur immer auch in gewisser Weise gespielt werden – um das Publikum zu überraschen, zu informieren, zu vergnügen. Aber dieses Spielen und jegliches Operieren muss im Rahmen gegebener Marktlagen und (d. h.) adressierter Publikumskulturen stattfinden und letztlich den Zwecken einer Art von (kultur-)industrieller Produktion dienen. So performieren Unterhaltungsformate zwar gern das „Außergewöhnliche“, aber sie tun es, wie Bourdieu konstatiert, gewöhnlich „in seiner gewöhnlichsten Definition“, indem sie z. B. „den gewohnten Rahmen sprengende Situationen und Personen“ beschreiben, aber „nach der Logik des gewöhnlichen Menschenverstandes und in der alltäglichen Sprache, die sie vertraut erscheinen läßt“ (Bourdieu 1999: 160 f.). Ebenso ist die Realität der Werbung in diesem prinzipiellen Sinne vorbedingt und vorbestimmt, ja sie zelebriert geradezu existierende symbolische und kosmologische (Grund-)Ordnungen, die sie als Unterbau und bewegenden Inhalt ihrer Performanzen benötigt und verarbeitet.313 Neben dem großen und stetig expandierenden Bereich der auf Verbreitung und Absatz zielenden medialen Performanz-Konserven (vor allem der Unterhaltung und der Nachrichten/Berichte) steht der große und sich gleichfalls ausweitende Bereich des ‚lebendigen‘ symbolischen Selbst- und Fremd-Marketings, der Image-Arbeit, der ‚Promotion‘ von Politikern, Sportlern, ‚Kirchenführern‘, Künstlern usw. Auch diese Akteure, die häufig als Stellvertreter von (Groß-)Organisationen oder auch sozialen Bewegungen fungieren, suchen und nutzen die Medien (offiziell und inoffiziell, offen und verdeckt) als Bühnen, jedoch ist die Performanz 313 Werber (für Produkte) müssen sich natürlich vorrangig für all jene Komponenten des Publikumswissens interessieren, die das intendierte (Kauf-)Verhalten zu beeinflussen versprechen. Das können etwa Glücks- oder Moralvorstellungen oder Vorstellungen von Glaubwürdigkeit sein, die dann entsprechend inszeniert und performiert werden. Unterhaltungsproduzenten müssen demgegenüber vor allem jene kulturellen Publikumseigenschaften im Sinn und im Auge haben, die unterhaltsame Erlebnisse zeitigen. Komik z. B. kann nur vor dem Hintergrund entsprechender Normalitätsvorstellungen erzeugt werden.
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(bzw. Performance) in diesem Fall nicht selbst das zu vermarktende Objekt, sondern sie ist Mittel zum Zweck, der in einem zu (re-)produzierenden symbolischen (Image-)Kapital besteht. Die Logik des kulturellen Forums herrscht aber auch hier, insofern die Publikumskultur die entscheidende Erfolgsbedingung des jeweiligen Akteurs ist. Auch er muss sich der ‚Autorität‘ des Publikums, d. h. dessen Wahrnehmungsbedingungen, unterordnen, wenn er ‚ankommen‘ und Erfolg haben will; auch er muss zuallererst die richtige Bühne und einen Zugang zu ihr sowie eine Position auf ihr finden. Der Ansatz und das Konzept der Theatralität erweisen sich also gerade auch mit dem Begriff der Bühne als durchaus geeignet, nicht nur (wie ursprünglich ausgelegt) die Sphäre der physischen Kopräsenz und der unmittelbaren Interaktion, sondern auch die Realität(en) der Kommunikationsmedien aufzuklären. In ihnen kann man schon lange die wichtigsten und immer wichtiger werdenden Formen von Theatralität (Bühnen) erkennen und darin wiederum eine Realität und eine Erzeugungslogik von Realität, deren sozio-kulturelle Bedeutsamkeit weit über die Mediensphäre selbst hinausreicht.314 314 Natürlich spielt in diesem Zusammenhang heutzutage auch das Internet – die ‚Netzpraxis‘ und ‚Netzwirklichkeit‘ – eine eigene und immer größere Rolle, die zunächst eine Funktion von formspezifischer Medialität ist. Sie gestattet, erfordert und begünstigt eine eigentümlich theatrale Praxis, ja eine spezifisch und potenziert theatrale, theatralisierte und theatralisierende Praxis und Wirklichkeit. Mike Sandbothe beschreibt sie als eine „grundlegende Tiefentheatralisierung der symbolischen Formen menschlicher Kommunikation“, bei der „Theatralität in den Fundamenten unseres Zeichengebrauchs selbst verankert wird“ (Sandbothe 1998: 589). Die entscheidenden Punkte sind hier natürlich die neuen (z. B. spielerischen) Handlungsbereiche, kommunikativen Gattungen und Handlungsoptionen, die das ‚Netzmedium‘ eröffnet, die neuen Kontingenzspielräume und ihre strukturellen Bahnungen sowie – damit zusammenhängend – die (im Vergleich zu den Massenmedien) grundsätzlich umgestellte ‚Nutzerrolle‘, die nun analog zur unmittelbaren Interaktion eine Doppelrolle von Publikum und Akteur ist. Der ‚Netzakteur‘ handelt ja nicht nur wie der massenmediale ‚Publikumsakteur‘ am Medium und vor dem Medium, sondern mit ihm, in ihm und durch es (vgl. Thiedeke 2005: 75), nämlich durch die Theatralität(en), die es sozusagen strukturell bereithält und im Handeln der Akteure zu entfalten gestattet. Das ‚Netz‘ ist also – und darin liegt eine spezifische, geradezu evolutionäre Dimension von Theatralisierung – ein eigentümliches theatrales Handlungsfeld. Es hat, bildet und erweitert seinen eigenen (theatralen) Raum und in sich immer neue (theatrale) Räume. Aber es verweist auch weit über sich hinaus auf die ganze (Welt-)Gesellschaft und alle ihre sozialen Felder. Die Etablierung und Entwicklung des Internets ist ein „Mediatisierungsprozess“ (vgl. Krotz 2007: 37 ff.) „mit gesamtgesellschaftlichen Folgen, in dessen Rahmen nicht nur neue kommunikative Haushalte und spezifische Wissenstypen, sondern auch veränderte Nutzungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten entstehen“ (Pranz 2008: 325). Es kommt also auch darauf an, dass die Aktivität und die Interaktivität der Online-Kommunikation „im Zusammenhang mit sozialen Prozessen in Offline-Bereichen gesehen werden“ (Sutter 2008: 58). Unübersehbar ist ein mit der Medientechnik- und Medienkulturevolution fortschreitender und sich im Internet zuspitzender theatraler Differenzierungs-, Flexibilisierungs-, Effektivierungs- und Subjektivierungsprozess, der die symbolische Praxis, die Image-Arbeit, die Selbstdarstellung und
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Gleichzeitig ist aber auch klar, dass die oben angesprochenen Begriffsmittel nur begrenzt weit reichen und angesichts der rasanten Entwicklungen der verschiedenen Medientypen, Medienfelder und Medienpraxen immer unzureichender, ergänzungs- und fundierungsbedürftiger werden, ja vom Ansatz her systematisch zu kurz greifen. Insbesondere gilt dies natürlich im Hinblick auf die Entwicklung des Internets. Wenn die Realitäten (der Theatralitäten) der Medien gerade in dem hyperkomplexen und hyperdynamischen Feld des Internets die Anforderungen der „Kontextsensitivität und Differenziertheit der Medienforschung“ stellen, wenn „Kontexteinbettungen und Umgangsweisen mit neuen Medien“ (wie auch mit alten) zentral zu beachten sind (Sutter 2008: 62 f.) und auch die „Einbettung der Netzkommunikation in soziale Beziehungsgefüge außerhalb des Netzes“ (ebd.: 71) von größter Wichtigkeit ist und immer mehr wird, dann liegt gerade hier die Brauchbarkeit und Nützlichkeit speziell von Netzwerkansätzen und – allgemeiner – der Figurationssoziologie auf der Hand. In diesem Rahmen sind Beziehungen, Interdependenzen, Verflechtungen, Synthesen und ‚Wechselwirkungen‘ zwischen den verschiedenen Medientypen, Medienfeldern und Medienpraxen ebenso im Sinn und im Blick wie deren Bezogenheiten auf die historische Verfassung der Gesellschaft im Ganzen, d. h. auf Felder, Organisationen, Publika, Lebensstile, Habitus usw.
7.2.5 7.2.5.1
Wahrnehmungen Wahrnehmungen, Beobachtungen, Publika
Der ‚theatrologische‘ Theatralitätsbegriff Fischer-Lichtes beschreibt eine Struktur mit zwei Seiten (Polen), die (idealtypisch im Theater) systematisch und unmittelbar zusammenhängen. Die eine Seite bilden die ‚Aspekte‘ der Inszenierung, der die Selbsterfindung (Selbstfiktion) von Akteuren aller Art (Individuen/Personen, Gruppen, soziale Bewegungen, Organisationen) ‚aufrüstet‘, potenziert und (damit) individualisiert. Alle sozialen Akteurstypen haben ja im Prinzip (und zunehmend auch faktisch) Zugang zu den neuen medientheatralen Optionen, können mit geringem Aufwand, immer vielfältiger und selbstbestimmter theatral aktiv und immer wieder neu aktiv werden und ihre Optionen individuell nutzen. Im gleichen Zusammenhang, in dem die neuen (medien-)theatralen Optionen eröffnet und sozial generalisiert werden, werden die entsprechenden Handlungsmotive sowie die Möglichkeiten gesteigert, die Adressierungen und Gestaltungen von Kommunikationen zu differenzieren – und damit das ‚recipient design‘ zu optimieren. Gleichzeitig hat jedermann (und jeder andere soziale Akteur) nunmehr (immer mehr) Möglichkeiten, (sich) gegenüber unbestimmten Massenpublika zu präsentieren und zu performieren.
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Performance und (damit) der Korporalität. Auf der anderen Seite steht der ‚Aspekt‘, den Fischer-Lichte mit dem Begriff der Wahrnehmung belegt und „der sich auf den Zuschauer, seine Beobachterfunktion und -perspektive bezieht“ (FischerLichte 1998: 86).315 Wie bereits im Kontext von Medientheatralität deutlich wurde, bedarf dieser Begriff verschiedener (figurations-)soziologischer Ergänzungen und Präzisierungen und auch einer grundlegenden Umstellung. Wichtig ist zunächst die bereits getroffene Feststellung, dass Wahrnehmung nicht nur auf der Seite des Zuschauers oder Publikums, sondern auf allen Seiten von Theatralität eine Rolle spielt und dass es diesbezüglich systematische Interdependenzen, Wechselbeziehungen und ‚Wechselwirkungen‘ gibt316. Wichtig ist aber auch die Spezifikation des sehr (zu) unspezifischen Begriffs der Wahrnehmung selbst317. Als ein erster Schritt in diese Richtung bieten sich die Begriffe Beobachtung und Beobachter an. Die entsprechende, sozialwissenschaftlich sehr voraussetzungsvolle Arbeitsperspektive kann hier allerdings nur anhand einiger definitorischer Unterscheidungen kurz angedeutet werden. Unter Beobachtung kann in erster Annäherung eine bestimmte Form der Wahrnehmung bzw. ein bestimmtes Wahrnehmen verstanden werden, nämlich Wahrnehmung/Wahrnehmen als sinngeleitetes und fokussiertes Handeln. Ein Beobachter ist demzufolge ein (Wahrnehmungs-)Akteur; er ist spezifisch wahrnehmungsmotiviert und hat eine auf einen bestimmten Gegenstand, ein Thema, eine Frage gerichtete Aufmerksamkeit, die ihm auch als solche bewusst ist. Theateroder Fernsehzuschauer z. B. sind insofern eher Beobachter als nur Wahrnehmende, was sie allerdings immer auch sind. Ein besonderer und besonders relevanter Fall, der sich auch in besonderer Weise auf ‚Aspekte‘ von Theatralität beziehen lässt, ist der strategische – d. h. sich rationalerweise selbst verhüllende, der Wahrnehmung/Beobachtung entziehende –
315 Dieser Theatralitätsbegriff entspricht damit im Grunde einem Sender/Empfänger-Modell der Kommunikation. 316 Zwischen Wahrnehmungen, Wahrnehmungen von Wahrnehmungen, Wahrnehmungen und Strategien, Wahrnehmungen und Performanzen usw. 317 Der Wahrnehmungsbegriff ist ja denkbar allgemein und umfassend. Er macht in Bezug auf die betreffenden (perzeptiven, kognitiven) Vorgänge keinen Unterschied zwischen Absichtlichkeit und Unabsichtlichtkeit, Verhalten und Handeln, Spontaneität und Reflexivität, Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit usw. Der Wahrnehmungsbegriff bleibt auch diffus im Hinblick auf die differentiellen Positionen bzw. (Teilnehmer-)Status eines Wahrnehmenden (Rezipienten). (Wahrnehmender kann man natürlich in den verschiedensten ‚Positionen‘ sein: legitimer- oder illegitimerweise, als verstehender Adressat einer Mitteilung, als zufälliger Rezipient von Mitteilungen, ‚Reizen‘ und ‚Eindrücken‘ der verschiedensten Art, als verhüllt oder unverhüllt nachforschender Beobachter usw.)
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Beobachter, der sich im Sinne seiner Zielsetzungen gerade nicht an dem orientiert, was ein Beobachteter ihm ‚vormacht‘, sondern nach möglichst unmanipulierbaren (unwillkürlichen) Haltepunkten und Aufschlüssen über Vorgegebenes und Vorgeführtes sucht. Hier liegt also – im Gegensatz zum Theater und zu normaler alltäglicher Interaktionstheatralität – ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden ‚Seiten‘ von Theatralität vor. So wie ein ‚Performer‘ – und in besonderer Weise ein strategischer Performer – Eindruck machen will, so will ein strategischer Beobachter, sei er selbst Publikum oder nicht, Eindrücke unterlaufen oder zerstören und Wahrheiten aufdecken, wenn auch nur solche, die ihn zu seinem Ziel führen. Ein strategischer Beobachter ist also auch ein spezifischer Informationssammler und zugleich ein Informationsbewerter und Informationsverwerter. Wahrnehmung/ Beobachtung ist in diesem Fall mit bewusster, gezielter und reflexiver Einschätzung, mit Beurteilung und damit auch mit der Voraussetzung einer (habituellen) Urteilsfähigkeit verbunden. Demgegenüber ist die nicht-strategische Wahrnehmung bzw. Beobachtung, z. B. als Zuschauer eines Theaterstücks oder eines Medienerzeugnisses, zwar auch spezifisch interessiert und fokussiert, aber weder ist sie darauf aus, etwas Verdecktes herauszufinden, noch ist sie darauf angewiesen, sich selbst zu verdecken. Vielmehr richtet sich das kognitive Handeln in diesem Fall offen darauf, die Partizipation an einem sozialen Anlass, Geschehen oder Ereignis zu realisieren bzw. zu optimieren. Mit den Begriffen der Wahrnehmung und der Beobachtung/des Beobachters gerät auch der hier – im Kontext von Theatralität/Theatralisierung – naheliegende und gängige Begriff des Publikums in den Blick, und zwar als ein nützlicher, aber auch klärungs- und differenzierungsbedürftiger Begriff. Dieser ist im Rahmen einer allgemeinen soziologischen Fassung und Beobachtung von Theatralität keineswegs befriedigend definiert, wenn man ihn eng an das Theatermodell anlehnt und dann unter Publikum den aktuell oder zukünftig wahrnehmenden/beobachtenden oder für Wahrnehmungen/Beobachtungen vorgesehenen Adressaten einer Inszenierung und Performanz/Performance versteht. Denn jenseits des Theaters gibt es ja jedenfalls heute noch viele andere Publika, Publikumstypen318, Publikumsbegriffe und Publikumsverständnisse, die sich mehr oder weniger weit vom
318 Alltägliche Interaktionspublika, Organisationspublika, Medienpublika, Publika von Marktanbietern der verschiedensten Art usw. Hier ist auch an die Differenz zwischen Publikum im Medium und Publikum vor dem Medium zu denken. Man beachte im Hinblick auf Publika in Medien etwa Talk Shows, in denen Publikum als Kommentator eingespielt wird, oder musikalische ‚cultural performances‘‚ wie die eines gewissen André Rieu, die das Publikum (die ‚Publikumsrolle‘) partiell umdefinieren, nämlich dramatisch aktivieren und zu einer Art Ko-Performer machen.
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Theater(-publikum) im engeren Sinne entfernen. So richtet sich die professionelle Werbung nicht nur an ein (abwesendes) Medienpublikum (und nicht, wie die Theateraufführung, an eine ‚natürliche‘ Ansammlung von Menschen bzw. eine Gruppe, die die Aufführung beobachten soll und beobachten will), sondern sie produziert und publiziert auch vielfach zweckgerichtete Performanzen für ein erst durch entsprechende Beobachtungen und Beurteilungen konstruiertes und definiertes ‚künstliches‘ Publikum, das sich über das Ob und Was seiner ‚Rolle‘ durchaus nicht immer im Klaren ist und sein soll. Im Falle der Werbung gibt es also auch keineswegs zwangsläufig ein ‚Publikumsbewusstsein‘ seitens des Publikums, oder es wird in diesem Fall sogar versucht, dem Publikum das Selbstbewusstsein als Werbungspublikum vorzuenthalten oder zu nehmen. Oder man nehme das Beispiel der heutigen politischen Parteien, die ihre potentielle Wählerschaft als Publikum bzw. als ein Ensemble von Publika identifizieren, (mehrfach-)adressieren und behandeln, z. B. über die Performanz politischer Entscheidungen. In diesem Fall sind die adressierten Publika vielfach bloß Wahrnehmende, aber nicht Wahrnehmende dessen, was ‚eigentlich vorgeht‘. Umgekehrt kommt es jenseits des Theaters natürlich systematisch und permanent vor, dass (mediale) Performanzen Wahrnehmende oder Beobachter erreichen, für die sie nicht bestimmt waren und die den theatralen Akteuren u. U. auch nicht gar bewusst werden. Einen Schlüssel zum Begriff und zum Verständnis der offensichtlich komplexer, vielfältiger und unübersichtlicher werdenden Realität(en) des Publikums verspricht die Synthese von Theatralitätsansatz und Figurationssoziologie, insofern diese Synthese den Publikumsbegriff – und den Wahrnehmungsbegriff überhaupt – an den Begriff der Figuration bindet und die Publika/Wahrnehmenden/Beobachter aus den Perspektiven der entsprechenden (figurationalen) Akteure (re-)konstruiert.
7.2.5.2
Wahrnehmungen und Lesarten, Figurationen und Rahmen
Der Begriff der Wahrnehmung und in seinem Umfeld Begriffe wie ‚Rezeption‘ und ‚Verstehen‘ sollten sich in diesem weiteren und komplexeren Rahmen noch in anderen Hinsichten klären und präzisieren lassen. Es erscheint dann umso mehr als systematisch verfehlt oder zu kurz gegriffen, Wahrnehmung ‚theatrologisch‘ zu fassen und an den Begriff des Zuschauers (Publikums) zu binden, und es erscheint umgekehrt als zentral, alle kognitiven Operations- und Prozesstypen von Praxis als Zusammenhang und im Zusammenhang zu sehen, nämlich im Zusammenhang von Figurationen, Feldern, figurationalen (Feld-)Positionen, (Inter-)Aktionen und (Inter-)Akteuren.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Heutige (Massen-)Medienpublika sind wiederum ein (wichtiges) Beispiel für die diesbezüglichen Grenzen und Anschlussbedürfnisse, aber auch Anschlusschancen des Theatralitätsansatzes: (Massen-)Medienpublika sind ja zunächst, wie oben gezeigt wurde, das Ziel von professionellen Symbolverkäufern, die sich auf der Grundlage von strategischen Beobachtungen von (Publikums-)Wahrnehmungen (und Wahrnehmungswahrscheinlichkeiten) mit entsprechenden medientheatralen Produkten an sie richten, so dass diese Produkte in ihren (symbolischen) Sinngehalten systematisch viel mit dem Sinn des jeweils anvisierten Publikums zu tun haben. Aus der theoretischen Perspektive der Figurationssoziologie, speziell aus ihrer (feld-)differenzierungs-, akteurs- und habitustheoretischen Perspektive, heißt das aber andererseits nicht, dass Medien(theatralitäts)produkte von ‚ihrem‘ Publikum – und erst recht von nicht-intendierten Wahrnehmenden/Beobachtern – ebenso oder auch nur tendenziell so ‚dekodiert‘ werden, wie sie für dieses Publikum ‚enkodiert‘ worden sind. Vielmehr ist aus dieser Perspektive denjenigen Sozial- und Kulturwissenschaftlern prinzipiell zuzustimmen, die den Rezipienten (Zuschauer, Publikum) als relativ eigenständig, eigensinnig und eigenwillig ‚lesenden‘ (wahrnehmenden, verstehenden) Akteur verstehen, der sich in seinem Verhalten und Handeln durch eine zwar vielseitig begrenzte und abhängige, aber auch systematische und maßgebliche Autonomie auszeichnet. So kann man etwa Werner Holly Recht geben, wenn er im Hinblick auf „Fernsehtexte“ grundsätzlich feststellt: „Die Rezipienten und Rezipientinnen sind alles andere als Sklaven eines Fernsehtextes mit einer einzigen Lesart“ (Holly 1995: 121). Holly hat aber auch (und immer noch) Recht, wenn er weiter feststellt: „Wie genau diese eigenständigen Rezeptionsweisen und Deutungen verlaufen, mit welchen Faktoren des situationellen und subkulturellen Kontextes sie zusammenhängen, davon wissen wir allerdings kaum etwas“ (ebd.). Den theoretischmethodologischen Gründen dieses bis heute, trotz mittlerweile zahlreicher Forschungsaktivitäten, immer noch sehr weitreichenden Unwissens kann man m. E. dadurch am besten systematisch abhelfen, dass man die Figurationssoziologie als Rahmen einer synthetischen Soziologie ansetzt und mit Ansätzen verbindet, die im obigen Sinne ausgerichtet sind, d. h. nach (differentiellen) ‚Lesarten‘, nach (situationellen, subkulturellen) ‚Kontexten‘ und nach Spielräumen sowie nach Akteuren und Aktivitäten der (Medien-)Wahrnehmung und des (Medien-)Gebrauchs fragen. Damit ist hier neben dem Theatralitätsansatz und neben den breiten Forschungstraditionen des Symbolischen Interaktionismus und der Cultural Studies (vgl. Hepp 1999; Hepp/Winter (Hg.) 2003) wiederum an Goffmans Rahmen-Analyse (Goffman 1977b) zu denken (s. o.). Diese hat in der Medien- bzw. Medienkul-
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turforschung zwar schon häufig Anwendung gefunden, ihre systematische Bedeutung und Anschlussfähigkeit ist aber in dem hier thematischen Kontext – und erst recht im Hinblick auf die Figurationssoziologie – noch nicht differenziert herausgearbeitet worden. Der sinn- und wissenssoziologische Ansatz der Rahmen-Analyse erscheint hier, im Zusammenhang mit dem ‚Aspekt‘ der Wahrnehmung, zunächst insofern besonders brauchbar, als er eine theoretische und analytische Lesart von praktischen Lesarten319 sowohl auf der Ebene der ‚Enkodierung‘ (Medienproduktion) als auch auf der der ‚Dekodierung‘ (Medienrezeption) darstellt. Die Rahmen-Analyse erlaubt es z. B., Darstellungen (s. o.) wie die lebensweltlichen Ritualisierungen der Geschlechterinteraktion als Sinnstrukturtyp (Modul) und als Gegenstand von (z. B. medialen/medienspezifischen) Sinntransformationen zu bestimmen und solche Sinntransformationen unter anderem anhand des Kriteriums ihrer Komplexität („Rahmenkomplexität“) zu differenzieren. Goffman liefert also nicht nur einen ‚dramatologischen‘, sondern auch einen sinntypologischen und sinnstrukturanalytischen Zugang zu Theatralität: zu deren objektiver und subjektiver Sinnhaftigkeit (als Spiel, Zeremonie, Demonstration, Wettkampf usw.), Sinnkontextualität und Sinnkontextierbarkeit. Die Realitäten der Theatralität erschließen sich soziologisch nicht nur, aber auch immer erst aus einem Verständnis der sozialen Sinnkontexte, die in der Rahmen-Analyse sowohl als Sinnstrukturen wie als performative Sinnkonstruktionen wie als praktische Sinndeutungen320 thematisiert werden. Allerdings steht bei Goffman generell die sinnstrukturelle Grammatikalität der Wahrnehmung und (d. h.) der Interpretation im Vordergrund seines rahmenanalytischen Erkenntnisinteresses und seines Gegenstandsverständnisses. Die Praxis der Wahrnehmung und der Interpretation (nicht nur von ‚Medientexten‘, sondern auch von vergleichbaren lebenspraktischen Verhaltenselementen oder Verhaltensfiguren) ist für ihn zunächst eine Frage der jeweils gegebenen und anwendbaren gruppen- oder subkulturspezifischen Rahmen oder Rahmensysteme, aus denen sich je besondere Interpretationspotentiale und damit Wirklichkeitsverständnisse oder sogar Weltbilder ergeben. Forschungsprogrammatisch heißt das, vor allem versuchen zu müssen, sich „ein Bild von dem oder den Rahmen einer Gruppe, ihrem System von Vorstellungen, ihrer Kosmologie zu machen (…), obwohl das
319 Rahmen genannt. 320 Goffman übersetzt sozusagen die jeweilige Rahmung (das praktische Sinnverständnis), z. B. das Verständnis eines bestimmten Täuschungs- oder Spieltyps, und macht sie so als Perspektive des Verstehens und Handelns transparent.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
ein Gebiet ist, das auch genaue Analytiker gewöhnlich gern an andere weitergereicht haben“ (Goffman 1977b: 37).321 Neben der Ebene der Rahmen, Rahmenschätze und Rahmenordnungen, d. h. der objektiven sozialen Sinn(struktur)tatsachen, geht es Goffman – und das markiert die Metapher des Rahmens vor allem dadurch, dass sie gleichzeitig Geschlossenheit und Offenheit signalisiert – um die Praxis der Umsetzung, Anwendung und Verwendung von Rahmen, um die Rahmung (framing), und zwar in der Wahrnehmung (der Beobachtung, dem Verstehen) einerseits und im performativen Handeln andererseits. Für Goffman ist die Rahmung sozusagen eine eigenständige Ebene der Wirklichkeit und der Wirklichkeitskonstruktion, die als Ebene von Praxis und (d. h.) von Spielräumen im Unterschied zur Sinnstrukturebene (Rahmenebene) mit typischen Anpassungs- und Konkretionserfordernissen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguitäten, Unsicherheiten und Störungen verbunden ist. Die Rahmungsebene verweist damit auf (gruppen-)kulturspezifisches Rahmen-Wissen und auf Rahmungs-Können von (Inter-)Akteuren, die in verschieden gerahmten ‚Kontexten‘ stehen und unter den jeweils gegebenen (Rahmen- und Rahmungs-)Bedingungen kognitiv und performativ zu handeln haben. Innerhalb der (Sinn-)Bestimmungen und Spielräume der äußeren (sozial/situativ geltenden) und inneren (habituellen) Rahmenordnungen und der situativen Rahmungsbedingungen entfaltet sich aus Goffmans Sicht auch eine gewisse Rahmungsautonomie des Wahrnehmenden/Beobachters, der in der Wahrnehmung und im Umgang mit dem Wahrgenommenen durchaus als aktiver und konstruktiver oder auch ‚dekonstruktiver‘ Akteur erscheint. Dies zeigt sich bereits und speziell auf der Ebene der unmittelbaren (interpersonalen) Interaktion, wo der ‚informationellen Selbstbestimmung‘ des Wahrgenommenen nicht nur durch die objektiven Rahmen/Rahmenordnungen, sondern auch durch die Rahmungen bzw. die ‚Rahmungspolitik‘ des Wahrnehmenden Grenzen gesetzt sind. In der Kontinuität seiner am Theatermodell orientierten Unterscheidung zwischen dem Eindruck, den jemand zu ‚machen‘ versucht, und dem Ausdruck, den er ‚ausstrahlt‘, kommt Goffman in der „Rahmen-Analyse des Gesprächs“ zu dem Ergebnis: „(…) bei der – wenn auch noch so genauen – Wahrnehmung dessen, was der Sprecher hervorrufen möchte, kann sich der Zuhörer dem Berührtsein entziehen und statt dessen das Gehörte hinaufmodulieren, es in ein Ganzes auflösen, er kann die Aussage al-
321 Hier gibt es natürlich die erwähnten wissenssoziologischen Parallelen und Anschlussfähigkeiten. Zu denken ist etwa an mehr oder weniger benachbarte Ansätze wie die, die unter den Begriffstiteln Deutungsmuster, Skript, Semantik, Habitus, Mentalität und kognitiver Stil laufen.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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lein von der Seite nehmen, daß sie lediglich eine versteckte Selbsterhöhung ist, oder ein müder Versuch der Schmeichelei, oder die x-te Wiederholung einer Geschichte, die man von dem Sprecher schon oft gehört hat, oder ein interessanter Versuch, sich einen vornehmen Akzent zuzulegen. (…) So kann den rasch wechselnden Rahmen in jemandes Rede ein weiteres System von Rahmenwechseln überlagert sein, die der Zuhörer hereinbringt – manchmal auch nur für sich selbst. Was der Polymorphie die Perversion hinzufügt.“ (Goffman 1977b: 588)
Diese Möglichkeit der ‚Perversion‘, die Goffman für den Zuhörer im unmittelbaren Interaktionsprozess feststellt, ist eine sehr grundsätzliche und komplexe Möglichkeit, die durchaus soziologisch generalisiert und auch auf alle anderen sozialen (Figurations-)Ebenen und Akteurtypen übertragen werden kann, z. B. auch auf die Ebene der Medienwahrnehmung/Medienrezeption. Auch Medienrezipienten beziehen sich auf Ströme ‚rasch wechselnder Rahmen‘, denen sie innerhalb ihrer je eigenen Rahmenhaushalte (Rahmungspotentiale) und unter ihren jeweiligen Rahmungsbedingungen ihr eigenes ‚System von Rahmenwechseln‘ überlagern können oder müssen – mit der Implikation oder Folge von systematischen Be- oder Umdeutungen und signifikanten Bedeutungs-, Deutungs- und Wirklichkeitsunterschieden. Die hier gemeinten Rahmungssubjekte sind im Prinzip überall, jederzeit und an jeder Stelle in der Lage, ‚hinauf-‘ oder ‚herunterzumodulieren‘; sie sind, immer unter der Voraussetzung der ihnen verfügbaren Rahmen, aktiv und beweglich; sie sind auch durchaus dazu fähig, subversiv oder sogar als „semiologische Guerilla“ (Eco) zu operieren, die sich mehr oder weniger weit von gemeinten oder normierten Lesarten entfernen oder diese Lesarten konterkarieren (unterwandern, durchkreuzen) kann.322 Die aktorielle oder individuelle Autonomie und die Freiheit der Rahmung sind aus rahmentheoretischer Sicht aber eben nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sind sie in puncto Sinn und Wissen immer spezifisch voraussetzungsvoll, und sie sind (damit) auch systematisch begrenzt, relativ und sekundär. Primär sind die objektiven Rahmenordnungen, die als ‚soziale Tatsachen‘ Rahmungsspielräume vorstrukturieren, also auch einschränken. Primär ist auch das den Rahmenordnungen korrespondierende Rahmenwissen, das sozial zum einen Teil generalisiert und zum anderen differenziert ist und sich in Sozialisationspro322 Ein bemerkenswertes Beispiel für eine subversive Form von ‚Rahmungsperversion‘ jenseits der von Goffman fokussierten Interaktionsebene findet sich in der Sadomasochismus-Studie von Wetzstein u. a. Sie berichten von einem pornographieinteressierten Sadomasochisten, der „regelmäßig den neuesten Report der ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdete Schriften‘ liest, um sich so über attraktive Angebote auf dem laufenden zu halten“ (Wetzstein u. a. 1993: 120).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
zessen teilweise habituell verfestigt. Heute (in einer sozio-kulturell höchst differenzierten Gesellschaft) gibt es natürlich eine historisch einmalig komplexe Pluralität von Rahmen, Rahmenordnungen und Rahmenwissensbeständen, die als mehr oder weniger stabile „Optiken“ (Bourdieu 1998)323 Wahrnehmungen und daran gebundenes oder anschließendes Handeln bedingen und steuern. Die ‚Pragmatik‘ der Rahmung, die tatsächliche Rahmungspraxis und damit auch die entsprechende Rahmungs(de)konstruktivität, Rahmungskreativität und Rahmungsflexibilität sind also präkonditioniert, prälimitiert und präformiert. Am geringsten sind die Spielräume und am größten sind die sozialen Konsenserfordernisse der Rahmung auf der Ebene der alltäglichen Lebensführung/ Interaktion, deren Rahmenordnungen – als Rahmenordnungen von sozialen Figurationen – zwar in vielen Bereichen tendenziell komplexer, in sich kontingenter und ich-leistungsfordernder geworden sind und werden, die aber in bestimmten Teilen auch ‚feststehen‘, ‚feststehen‘ müssen und sich immer wieder als ‚feststehend‘ erweisen. Auf dieser Ebene ist eine gewisse Gemeinsamkeit des Rahmenwissens und eine gewisse Übereinstimmung der ‚Situationsdefinitionen‘ schon aus elementaren praktischen Verständigungs- und Koordinationsgründen unverzichtbar. Wer etwa den (und die) Rahmen des Straßenverkehrs verkennt oder wer den Rahmen der Werbung nicht von dem der Nachrichten unterscheiden kann (und normalerweise tatsächlich richtig unterscheidet), dürfte heute kaum (medien-)‚gesellschaftsfähig‘ oder überhaupt lebensfähig sein. Gleichzeitig, neben diesen ‚pragmatischen‘ oder (z. B. institutionell) ‚gesetzten‘ Rahmen und Rahmungen, an denen sozusagen kaum ein Weg oder gar kein Weg vorbei führt, expandieren aber überall auch (Kontingenz-)Spielräume, Offenheiten, Mehrdeutigkeiten, Risiken, Chancen und Freiheiten der Rahmung, die das Rahmungssubjekt, den rahmungskompetenten Akteur auf den Plan der Gesellschaft rufen. Er wird auch von den teilweise ganz neuen Sinn- und (Sinn-)Handlungsräumen, Rahmen- und Rahmungswelten angefordert und angereizt, die sich im Zuge von Mediatisierungen und (medien-) spezialkulturellen Differenzierungen der Gesellschaft etabliert haben, sich differenzieren und expandieren. Jedermann kann, muss und will sich heutzutage z. B. im Umgang mit (und im Gebrauch von) fiktionalen Rahmenkomplexitäten – vom therapeutischen Psychodrama bis zum Computerspiel – betätigen und bewähren. Auch in diesen Zusammenhängen, deren Zahl, Vielfalt und Komplexität dynamisch zunimmt324, kommt es allerdings darauf an, dass die Akteure die jeweils 323 Goffman (1977b) spricht ebenso metaphorisch wie Bourdieu von „Kameras“. 324 Im weitesten Sinne geht es hier um Phantasie und Phantasieformen. Die Entwicklung der ‚westlichen Gesellschaft‘/‚Zivilisation‘ geht bei und neben aller ‚Rationalität‘ und ‚Rationalisierung‘
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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geltenden sozialen Rahmenordnungen beherrschen und im wachen Bewusstsein und in sensibler Beachtung objektiver „Rahmenränder“ (Goffman 1977b) handeln. Die Rahmen-Analyse liefert also vor allem einen formalen und daher generalisierbaren, aber auch (figurations-)soziologisch instruierbaren und instruktionsbedürftigen Zugang zu sozialen Sinnkontexten und Sinnstrukturen, zur sinnstrukturierten und sinnstrukturierbaren Praxis und zur Praxis der Sinnstrukturierung (Sinnidentifikation, Sinnapplikation, Sinntransformation). Sie liefert (damit) auch einen Zugang zur Wahrnehmungs- und Erfahrungsorganisation des (nicht nur personalen) (Inter-)Akteurs, zum (habituellen) ‚Apparat‘ seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen und zu den vielfältigen (Ich-)Leistungen, die damit – speziell auf der Ebene der Interaktion – verbunden sind. Die Figurationssoziologie bietet der – hier natürlich nur angedeuteten – wissenssoziologischen Perspektive und Ausrüstung der Rahmen-Analyse ein Fundament und einen übergeordneten Bezugsrahmen. Vor allem die sozialen Figurations- und Feldbezogenheiten (‚Feldaspekte‘, Feldbedeutungen) und die Sozio- und Psychogenese der Gegenstände der Rahmen-Analyse (Rahmenordnungen, Rahmungspotentiale, Rahmungsautonomien, Rahmungsaktivitäten, Rahmungsprobleme usw.) fallen in den Qualifikations- und Leistungsbereich der Figurationssoziologie, die z. B. der Frage nachgehen kann, wie und warum sich die Ordnungen und die Formen der Rahmen entwickeln und wandeln.
7.2.6
Habitualität und Theatralität
Der Habitusbegriff hat sich bereits in den bisherigen Überlegungen zu verschiedenen Kontexten von Theatralität als besonders brauchbar, aufschlussreich und notwendig erwiesen. Darüber hinaus kommt es hier grundsätzlich darauf an, den Zusammenhang zwischen Theatralität und Habitus, Theatralitätsansatz und Habitustheorie zu klären. In theoretischer Hinsicht ist der Ausgangspunkt dabei klar: Mit dem figurationssoziologischen Schlüsselbegriff Habitus sind auch die Paral-
auch in gewisser Weise in die Richtung der Phantasie, der Phantasienbildung, des Phantasierens und des „Phantasiewissens“ (Elias). Die diesbezüglichen Anregungen sind, eigentümliche Rahmen und Rahmungen implizierend, voraussetzend und nach sich ziehend, vor allem medialer Art, und sie sind vielfältig und intensiv und werden immer vielfältiger und intensiver. Neben und mit den inflationierenden klassischen Massenmedienfiktionen sind es heute zunehmend die Optionen des Computers bzw. des Internets (z. B. Computerspiele), die die Phantasie und das Phantasieren in Anspruch nehmen, stimulieren und mit (phantastischen) Vorstellungen ausstatten, die aber auch spezielle und komplexe praktische Rahmungskompetenzen erfordern.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
lel- und Komplementärbegriffe Figuration und Feld aufgerufen, denen der Theatralitätsbegriff mit systematischem Bezug auf den Habitusbegriff gleichsam zu unterstellen ist. Man könnte also von Figurationstheatralität oder Feldtheatralität (z. B. Medientheatralität, Werbungstheatralität, Organisationstheatralität usw.) sprechen, die in ihrer jeweiligen Ausprägung auf eine entsprechend (feld-)spezifische Habitualität der Akteure verweist. Der empirische Zusammenhang von Theatralität und Habitualität hat zunächst und offensichtlich mit der Rolle des Akteurs zu tun. Theatralität ist, wenn man den Begriff soziologisch allgemein fasst, zwar nicht immer direkt an menschliche Akteure gebunden. Sie steckt z. B. auch in Gebäuden, musikalischen Aktivitäten oder Texten. Direkt oder indirekt sind jedoch immer menschliche Akteure bzw. Interakteure und damit Habitus/Habitusformen im Spiel, wenn es um ‚Aspekte‘ von Theatralität geht. Es lässt sich leicht zeigen, dass alle genannten ‚Aspekte‘ von Theatralität in je besonderen Verhältnissen zu Habitus bzw. Habitusformen und Habitusfunktionen stehen. Verschiedene Ausdruckselemente, wie etwa der persönliche Stil der Handschrift oder die unwillkürliche mimische Verlegenheitsreaktion, sind mindestens teilweise Habituseffekte. Viele Darstellungen, z. B. die alltäglichen Interaktionsrituale, Formen des Grüßens, des Lächelns usw., sind Habitusprodukte oder Habitusmomente. Inszenierungen stehen insofern in einem besonderen Verhältnis zu Habitus, als sie spezifische Kompetenzen implizieren bzw. eine Urteilskraft erfordern, die habituell voraussetzungsvoll ist. Bestimmte Habitusformen sind auch für die Performance von Bedeutung. Der äußere Habitus und das innere Habitusensemble des Performers sind sozusagen Medien seiner Performance. Die verschiedenen Performancetypen verweisen auf spezifische Habitusformen, an deren Fungieren sich die Erfolgswahrscheinlichkeit der jeweiligen Performance entscheidet. Nicht zuletzt braucht der Akteur auf jedweder Bühne bestimmte (habituelle) ‚Charaktereigenschaften‘ und Haltungen. Habitus sind schließlich auch in den Kontexten der Wahrnehmung bzw. Beobachtung relevant, bedingend und bestimmend. Als mentale Strukturen und kognitive Stile des (theatralen) Akteurs (‚Regisseurs‘, Performers) wie seines Adressaten (Beobachters, Publikums) bilden sie zentrale Bedingungen wie auch Halte- und Ankerpunkte von Inszenierungen und Performanzen. Deren Erfolg ist wesentlich durch die habituelle Wahrnehmungs- und Beobachtungskompetenz des Akteurs und zugleich durch die habituellen Wahrnehmungsbedingungen des adressierten Beobachters/Publikums bestimmt. Dessen Wahrnehmung, z. B. die des MedienPublikums, hängt primär von seinen habituellen „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien (…) ab, so daß in einer hochdifferenzierten Gesellschaft
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
363
eine enge Beziehung zwischen der Natur und Qualität der ausgesandten Information und der Struktur des Publikums besteht. Ihre Lesbarkeit und Durchschlagskraft sind umso größer, je direkter sie auf implizite oder explizite Erwartungen antworten, die die Rezipienten prinzipiell ihrer Erziehung durch das Elternhaus und ihren sozialen Bindungen (…) verdanken“ (Bourdieu 1998: 169).325 Erfolgsentscheidend ist also die (habituelle) Fähigkeit des Akteurs, konkrete, spezifische und für die Gestaltung der Performanz/Performance spezifisch relevante (Publikums-) Wahrnehmungen wahrzunehmen bzw. die Habituslogik dieser Wahrnehmungen wahrzunehmen. Theatralität und Habitualität stehen in einem komplexen inneren Zusammenhang; sie stehen aber auch in gewissen Divergenz-, Spannungs- und Gegensatzverhältnissen zueinander. Die genannten ‚Aspekte‘ von Theatralität, Inszenierung, Korporalität und Performance, aber gerade auch Wahrnehmung, haben jedenfalls systematisch viel mit ‚Bewusstsein‘, Aufmerksamkeit, Überlegung, Planung und Kalkulation zu tun; sie sind insbesondere von bloßen (unbewussten) Gewohnheiten/Automatismen mehr oder weniger weit entfernt. Die heutige ‚Inszenierungsgesellschaft‘ ist auch eine Gesellschaft der Kontingenz, der Offenheit, der Ungewissheit, der Reflexivität und des Reflektierens326; nicht zuletzt ist sie eine Gesellschaft der Irritation, der Belastung und des Abbaus von Traditionen und (d. h.) Habitusformen/Gewohnheiten, die teilweise durch Formen von Theatralität (Inszenierung, Korporalität, Performance) ersetzt werden können oder müssen.
7.3
Figuration und Theatralität, Figurationen der Theatralität
Meine bisherigen Überlegungen im Kontext von Theatralität bewegten sich in der Absicht soziologisch notwendiger und weiterführender Differenzierungen zwar noch im Wesentlichen innerhalb der Grundfigur des Fischer-Lichte’schen Theatralitätsbegriffs bzw. der entsprechenden ‚Aspekte‘. Ich habe aber bereits klar gemacht, 325 Im Medienbereich spielt die literarisch-künstlerische Produktion (auch) in diesem Zusammenhang eine Sonderrolle. Die habituellen Dispositionen, die die Wahrnehmung und Bewertung von Literatur, der man ‚Kunstwerkcharakter‘ zuschreibt, anleiten, werden in hohem Maße durch das Bildungssystem vermittelt. Dagegen ist die Rezeption vieler anderer medialer Gattungen (z. B. des Unterhaltungsbereichs oder der Werbung) vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig (vgl. Bourdieu 1999: 237). Für die Produzenten ‚hoher Literatur‘ gilt entsprechend, dass sie besonders stark vom Bildungssystem abhängen – wenn sie auch vielfach nicht müde werden, sich von ihm zu distanzieren. Ihm verdanken sie nicht nur ihre Rezipienten, sondern auch zum großen Teil die eigenen habituellen Dispositionen, die sie zu einem erfolgversprechenden Handeln befähigen. 326 Speziell in der Herstellung von Darstellungen.
364
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
dass dieser Begriff über die Grenzen jedes ‚Mikro-(soziologischen-)Ansatzes‘ hinaus weiterzuentwickeln ist und weiterentwickelt werden sollte. Auch die Richtung dieser Entwicklung wurde schon in Umrissen angegeben: Die Figurationssoziologie und damit der figurationssoziologisch lesbare Feld/Habitus-Ansatz Bourdieus bieten in diesem Zusammenhang die besten Perspektiven, aus dem Theatralitätsbegriff einen soziologisch tragfähigen und nützlichen Begriff zu machen. Diesen programmatisch zentralen Gedanken möchte ich nun weiter ausführen. Die Figurationssoziologie empfiehlt sich hier im Wesentlichen aus zwei prinzipiellen Gründen als eine Art Rahmen und Schlüssel: Zum einen besitzt sie bezüglich der diversen Realitäten der Theatralität und ihrer Entwicklung (auch und gerade: Theatralisierung/Enttheatralisierung, s. u.) eine spezifische und besonders weitreichende Aufklärungskraft. Zum anderen – und damit zusammenhängend – kann sie das Theatralitätskonzept und benachbarte Ansätze, insbesondere den Goffmans327, mit einem doppelten theoretischen Gewinn integrieren: Eine derart angereicherte Figurationssoziologie entwickelt die integrierten Deutungsmittel und zugleich sich selbst weiter. Und damit wiederum verspricht sie das qualifizierteste Instrumentarium für die Erforschung der Realitäten der Theatralität. Vor allem mit ihren historisch-differenzierungstheoretischen und praxistheoretischen Verständnissen des Zusammenhangs von Figurationen (Feldern) und Habitus weist die Figurationssoziologie über den Theatralitätsansatz als Zugang zu den – hauptsächlich symbolischen – Realitäten der Theatralität systematisch hinaus. Die sich daraus ergebende theorieperspektivische und theoriestrategische Bedeutung der Figurationssoziologie, ihre Komplementarität als eine Art Theo-
327 Von den vielen hier gemeinten theoretisch-empirischen bzw. konzeptuellen Komponenten des Goffman’schen Werks seien die vielleicht wichtigsten genannt: 1. Die (Sozial-)Raumsoziologie. In Bezug auf Theatralität sind Goffmans klassische Konzepte der Region/Regionalisierung, der (Vorder-, Hinter-)Bühne (Goffman 1969) und des Territoriums (Goffman 1974b) von besonderer Bedeutung. Goffman liefert in diesem Zusammenhang auch eine auf Mikro- wie Makroräume beziehbare Ritualtheorie des Raumes (vgl. Willems/Eichholz 2008). 2. Goffmans Soziologie sozialer Anlässe (vgl. Goffman 1971a, b). Sie ergänzt einerseits seinen ‚dramaturgischen Ansatz‘ und seine Raumsoziologie und fundiert andererseits kulturwissenschaftliche Konzepte wie das der Cultural Performance (Singer 1972) und das des Events (vgl. Gebhardt/ Hitzler/Pfadenhauer (Hg.) 2000). 3. Goffmans ritualtheoretisch ausgerichtete Version des Imagebegriffs (vgl. Goffman 1971a). Sie steht neben anderen Varianten des Imagebegriffs, die sich auch auf (theatrale) ‚Aspekte‘ wie Publikumswahrnehmung, Korporalität, Performance, Aura und Charisma beziehen. 4. Goffmans Konzept des strategischen Handelns bzw. der strategischen Interaktion (vgl. Goffman 1981d). Im Hinblick auf symbolische Handlungs- und Ordnungsaspekte überschneidet es sich mit dem ‚dramaturgischen Ansatz‘ und dem Imagebegriff.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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rierahmen oder Rahmentheorie wird durch ihre gedankliche Parallelität unterstützt – dadurch, dass sie in wesentlichen Punkten strukturelle Gemeinsamkeiten oder jedenfalls Ähnlichkeiten mit dem Begriff und der Perspektive der Theatralität aufweist. Eine offensichtliche Ähnlichkeit zwischen dem (Denk-)Ansatz der Figurationssoziologie und dem der Theatralität besteht in Fokussierungen und Verständnissen von symbolischer Ordnung, (Sozial-)Räumlichkeit, Körperlichkeit/Korporalität, Aktorialität und (Handlungs-)Prozessualität. Zentral ist die, wenn auch begrenzte, Analogie zwischen Theatermodell (‚Schauspiel‘) und Spielmodell. Ebenso wie (schon) Elias bringt auch Bourdieu die (feldspezifische) Logik sozialer Praxis teilweise ganz in der Nähe des Theatermodells auf den metaphorischen Begriff des Spiels (vgl. Bourdieu 1998; 1989). In einem grundsätzlichen perspektivischen Sinn entfalten Bourdieu und Elias die Vorstellung von sozialen Spielfeldern, auf denen mit der Implikation ebenso von Kooperation und Solidarität wie von Konkurrenz und Kampf bestimmte Spiele (mit bestimmten Spielregeln, Spielern, Ausrüstungen, Einsätzen, Trümpfen, schicksalhaften Spielverläufen usw.) gespielt werden. Der Akteur wird dementsprechend hier wie dort fokussiert und nicht isoliert (‚homo clausus‘) oder exkludiert, sondern jeweils als ein Akteur im Spiel betrachtet – in einem Spiel, das in seiner Regel- und Prozesshaftigkeit zwar gegenüber dem Akteur eine „relative Autonomie“ besitzt, in dem dieser aber auch Chancen hat, den Spielverlauf (im Laufe des Spiels) in seinem Sinne zu beeinflussen. Auch FischerLichte und Goffman328 sehen im Spiel eine aufschlussreiche Modellvorstellung, unterstellen nicht nur im wörtlichen sondern auch im übertragenen Sinne Spiele, auf den verschiedensten Feldern zu spielende und gespielte Spiele329, und Spieler, die im Zusammen- und Gegenspiel mit anderen Spielern den Verlauf und den Ausgang des jeweiligen Spiels mehr oder weniger entscheidend beeinflussen. Die Theatralitätsverständnisse Fischer-Lichtes und (mehr noch) Goffmans sind insofern mit der ‚Sozialphilosophie‘ der Figurationssoziologie (Bourdieu eingeschlossen) einerseits in relevanten Punkten durchaus vergleichbar. Vor allem verbindet alle diese Ansätze das Denken in materiellen, symbolischen, (inter-) aktionalen und prozessualen Kategorien. Andererseits befindet sich die Figurationssoziologie in einem grundsätzlichen und weitreichenden Gegensatz zur ‚Phi328 Goffman hat sich immer wieder dem Spiel (wie dem Theater) als solchem zugewandt und insbesondere dessen Logik als Rahmentyp analysiert. Daneben hat er das Spiel (wie das Theater) als soziologische Metapher (Modellvorstellung) verwendet sowie die Spieltheorie als Bezugsrahmen einer soziologischen Praxistheorie herangezogen. 329 Im Sinne der Goffman’schen Differenzierung zwischen Rahmen und Rahmung kann man zwischen Spiel als Struktur (Regelsystem) und Spiel als Prozess (Spielverlauf) unterscheiden.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
losophie‘ des Theatralitätsansatzes. Im Zentrum der sozialen Spiele (oder: der Spiele des Sozialen) stehen aus Elias’ wie aus Bourdieus Sicht nicht, wie es sich aus einer ‚theatrologischen‘/‚dramatologischen‘ Perspektive ergibt, die (wie immer gerahmten) sozialen ‚Schauspiele‘ als solche bzw. die (schau-)‚spielerischen‘ ‚Aspekte‘ der Inszenierung und der Aufführung/Korporalität. Vielmehr geht es eher gleichsam um Kampfspiele, um soziale Auseinandersetzungen, Konkurrenzen und (Konkurrenz-)Kämpfe unter der differenzierten und variablen Voraussetzung und mit dem Ergebnis objektiver und ‚spielbestimmender‘ Kapital- und d. h. Machtverhältnisse im jeweiligen (Spiel-)Feld. Die entsprechenden (Elias’schen und Bourdieu’schen) Spieler/Akteure befinden sich m. a. W. in einem (vor-)strukturierten und vor diesem Hintergrund dynamischen und von ihren eigenen (Bemächtigungs-)Aktivitäten dynamisierten „Spannungsgefüge“ (Elias) von Kapital- und Machtbeziehungen, die im Prinzip alles Erleben, Handeln und Sein bis hin zu den besagten ‚Aspekten‘ von Theatralität betreffen, bedingen und durchdringen. In diesem Sinne definiert Bourdieu die Logik der Felder als „Kräftefelder“, wobei er den gerade auch im Hinblick auf Theatralität instruktiven Begriff der Arena330 verwendet: „Ein Feld ist (…) auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein“ (Bourdieu 1998: 57). Macht, Kraft, Spannung, Konkurrenz, Kampf und Strategie sind in diesem Verständnis soziologische Schlüsselbegriffe und soziale Schlüsseltatsachen, die dem Akteur seine (ernsten) Spiele und seine ‚Rollen‘ und Spielräume in seinen Spielen zuweisen. Auch das zentrale Terrain der Theatralität, die symbolische Ordnung und Praxis, ist also, figurations- oder feldsoziologisch gesehen, umfassend und komplex zu relationieren und zu relativieren. Es steht in diversen figurationalen (Feld-)‚Kontexten‘ und bezieht sich auf figurationale (Feld-)‚Kontexte‘, die bestimmen, was gespielt wird, wer wo mitspielen und wer womit spielen darf, was für wen wo auf dem Spiel steht. Schon Elias zeichnet das Bild einer in diesem Sinne sekundären, aber auch totalen und komplexen, sich auf die ganze Gesellschaft erstreckenden Theatralität, einer auf ‚sozialen (Kapital-, Macht-)Ungleichheiten‘ beruhenden und ‚soziale Ungleichheiten‘ (re-)produzierenden symbolischen Ökonomie und Konkurrenzgesellschaft, in der es wesentlich um soziale Distinktionen geht. Bourdieu gebraucht diesbezüglich ganz in der Nähe von Elias’schen Gedanken und Be330 Der Begriff der Arena trifft eine hier und im Folgenden relevante Zweiseitigkeit des sozialen Lebens: Die Arena ist gleichzeitig ein Schauplatz bzw. eine Bühne und ein Kampfplatz bzw. ein Wettkampfplatz.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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griffen331 die Metapher des „Gravitationsfelds“, in dem „die Akteure (…) durch unüberwindliche Kräfte in eine fortwährende, notwendige Bewegung gezogen werden, um den Rang, den Abstand, die Kluft gegenüber den anderen aufrechtzuhalten“ (Bourdieu 1989: 35). Es geht hier also um ein in vielfachen Theatralitätsbezügen stehendes und variantenreiches soziales ‚Symbol-‘ und ‚Machtspiel‘ (oder um das ganze ‚Spiel des Sozialen‘), das als solches nicht in der Macht der Spieler liegt, die zwar in Machtverhältnisssen (Machtbalancen) und mit Macht und Machteffekten agieren, kämpfen, Strategien verfolgen332, die aber auch immer schon ‚im Spiel‘ sind – in einem Spiel, das sie nicht erfunden haben und dessen innere/innerste Logik sie normalerweise weder durchschauen noch aus eigener Kraft ändern können. Das wiederum geradezu prototypische historische Beispiel dafür, und damit auch dafür, dass und inwiefern jede ‚Theatrologie‘ in Bezug auf Theatralität zu kurz greift, liefert die Elias’sche Figurationsanalyse der ‚höfischen Gesellschaft‘. Deren Theatralität besteht und bewegt sich für Elias zwar auch und hauptsächlich, aber längst nicht nur auf der Ebene der Interaktion (Interaktionstheatralität). Vielmehr erscheint die ganze ‚höfische Gesellschaft‘ als eine Art Theater333, dessen Akteure/Spieler zwar auch in gewisser Weise virtuose und gewiefte Schauspieler sind, in dem aber nicht nur die genannten ‚Aspekte‘ (Inszenierung, Performance, Korporalität, Wahrnehmung) die Realität der Theatralität ausmachen. So erkennt Elias in der „praktizierten Etikette“ nicht nur ‚Selbstdarstellungen‘ Einzelner (oder von höfischen ‚Ensembles‘), sondern zugleich und darüber hinaus eine „Selbstdarstellung der höfischen Gesellschaft“ (Elias 1983: 154) im Ganzen und im Bezugsrahmen der ganzen Gesellschaft (‚Gesamtgesellschaft‘). In der und durch die Etikette stellt sich „die höfische Gesellschaft für sich selber dar, jeder einzelne abgehoben von jedem anderen, alle zusammen sich abhebend gegenüber den Nicht-Zugehörigen und so jeder einzelne und alle zusammen ihr Dasein als Selbstwert bewährend“ (ebd.: 158). Die Realität der Theatralität(en) liegt hier also sozusagen in einer sozialen Feld-Figuration (der ‚höfischen Gesellschaft‘), die – eingebettet in den historischen Figurationsprozess und die gegebene Figuration der Gesellschaft – ein
331 Man denke etwa an den der „Valenz“ (vgl. Elias 1972). 332 An dieser Stelle ist auch wiederum an Goffman zu denken, dem es mit seinem ‚dramaturgischen Ansatz‘ (Goffman 1969) und insbesondere mit seiner ritualtheoretisch gerahmten Imagekonzeption (1971a) auch um symbolische Distinktionsbedürfnisse und Handlungsstrategien geht, die er allerdings im Gegensatz zu Elias und Bourdieu auf die Interaktionsebene (‚Interaktionsordnung‘) projiziert. 333 Ja als eine Art Mega- und Dauer-Performance.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
komplexes Spiel innerhalb und jenseits von einzelnen Schauplätzen, Bühnen und Interaktionen umfasst, definiert und zu spielen zwingt.334 Aus der Sicht der Figurationssoziologie ist es also ein systematischer Irrtum und Irrweg, in der Untersuchung von Theatralität den primären Fokus auf sie selbst (bzw. die Inszenierung, die Performance, die Korporalität, die Wahrnehmung) zu richten. Statt Theatralität in dieser Weise zu entkontextualisieren und zu theatralisieren, kommt es figurationsanalytisch/feldanalytisch darauf an, alle ihre ‚Aspekte‘ so zu rekonstruieren, dass es möglich wird, an ihnen „Aufbau und Funktionsweise“ der betreffenden (Feld-)Figuration und damit zugleich „die Charaktere und die Attitüden der Menschen“ (Habitusformen), die sie bilden und durch sie geprägt werden, verständlich zu machen (vgl. Elias 1983: 126). Erst vor diesem Hintergrund, dem Hintergrund der (Feld-)Figuration, lässt sich die konkrete historische Realität, und d. h. auch die soziale Sinnhaftigkeit und Funktionalität sowie die (Handlungs-)Motiviertheit, von Theatralität jeglicher Art erschließen. Wenn man diesem Ansatz und Gedankengang folgt, dann heißt das immer auch und vor allem, die Machtaspekte bzw. den Machtsinn, die Machtladungen, die Machtfunktionen und Machteffekte von Theatralität (symbolischen/theatralen Formen, Praxen, Akteuren) zu erkennen und überhaupt erst erkennen zu können. Für Elias (ähnlich wie für Bourdieu) gibt es Theatralität vor allem als machtbedingte und machtdurchdrungene Figurationstheatralität, als Figurationstheatralität der Macht und als Macht der und durch Figurationstheatralität. So zeigt z. B. die Figurationsanalyse der ‚höfischen Gesellschaft‘, dass die (theatrale) Zeremonie des königlichen „lever“ (das morgendliche Aufstehen des Königs) nicht nur ein figurationsspezifisch eingebettetes Element der komplexen Theatralität des Hofes war, sondern auch vom König als strategisches Herrschaftsinstrument im Rahmen der figurationsspezifischen Machtbalance des Hofes genutzt wurde (vgl. ebd.: 126 ff.). In diesem Sinne instrumentierte der König auf der – habituell voraussetzungsvollen – Basis von Distinktionsbedürfnissen, Aufstiegswünschen und Abstiegsängsten der Höflinge durch eine persönliche Abstufung des Zugangs zu sich seine „privatesten Verrichtungen, um Rangunterschiede herzustellen, und Auszeichnungen, Gnadenbeweise oder entsprechend auch Mißfallensbeweise zu erteilen. (…) die Etiquette hatte im Aufbau dieser Gesellschaft und dieser Regierungsform eine symbolische Funktion von großer Bedeutung“ (ebd.: 129).335 Ohne 334 Das ‚Spielfeld‘ ist dabei also auch, aber nicht bloß, die Bühne, auf der (theatrale und theatralisierte) Interaktionen stattfinden, und der Akteur ist auch, aber nicht bloß, das Individuum auf, vor oder hinter der Bühne. 335 Elias schildert ausführlich die verschiedenen „Züge“ der königlichen Aufstehenszeremonie als Rahmen eines macht- und disziplinierungstechnischen ‚Privilegiensystems‘ (vgl. 1983: 126 ff.). Des-
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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ein Verständnis dieser Funktion und ihrer figurationalen (Macht-/Strategie-)Hintergründe sowie ihrer historisch-zivilisatorischen Voraussetzungen bleibt auch die entsprechende Theatralität mitsamt den (Inter-)Aktionen und (Inter-)Akteuren, die sie bewerkstelligen, im Grunde unverstanden. Die Figurationssoziologie bzw. der Feld/Habitus-Ansatz erweitert in allen diesen sachlichen Hinsichten den explorativen, deskriptiven und explanativen Horizont auch dadurch, dass sie sich nicht nur auf die Binnenverhältnisse einzelner sozialer Figurationen/Felder („Verflechtungssphären“) und auf Figurationsprozesse als ‚Kontexte‘ richtet, sondern auch auf Zusammenhänge (Verflechtungen, Konstellationen) zwischen sozialen Figurationen/Feldern und zwischen Figurationsprozessen zielt. Es geht hier, im Kontext von Theatralität, insbesondere um Figurationen von interdependenten Feldern, deren Innen- und Außenverhältnisse sich mit symbolischen (Theatralitäts-)Implikationen ständig weiterentwickeln und konstellativ ändern – im Sinne von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Anziehung und Abstoßung, Über- und Unterordnung. So konstatiert Bourdieu im Hinblick auf die (seine) ‚Gegenwartsgesellschaft‘ eine zunehmend dominante und penetrante Rolle des Feldes der Wirtschaft, etwa im Verhältnis zum journalistischen Feld und mit Folgen für die Theatralität und (Ent-)Theatralisierung dieses Feldes und seiner (Medien-)Erzeugnisse (Kommerzialisierung, Eventisierung/ Spektakularisierung u. a. m.). Unter den Gesichtspunkten von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung besonders interessant, weil sozusagen gegenständlich besonders relevant, ist in diesem Zusammenhang natürlich das seinerseits vielfältig voraussetzungsvolle und abhängige, aber heute auch in verschiedenen Feld-Richtungen zunehmend dominierende Feld der Massenmedien (s. u.). Es lässt sich als Inbegriff moderner und modernisierter Theatralität und als ein sich dynamisch entwickelndes und wandelndes Feld von Theatralitäten336 beschreiben, die nicht nur Funktionen von FeldBedingungen337 bzw. Feld-Beziehungen sind, sondern auch Wirkungen auf Felder haben. Von den Theatralitäten der Massenmedien, ihren theatralen Formaten, Bühnen, Inszenierungen und Performanzen geht gleichsam ein mehr oder weniger starker Sog auf andere, ja auf alle anderen Felder aus. In diesen Sog bzw. in den Sog dieser Theatralitäten sind offensichtlich z. B. die Felder der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Religion, des Sports, der Kunst oder der Intimität geraten,
sen Logik ist heutzutage keineswegs überkommen, sondern überall da zu beobachten, wo asymmetrische Figurationen bestehen (entstanden sind), die der höfischen ähneln. 336 Zum Beispiel in Gestalt bestimmter kommunikativer Gattungen und Gattungsfamilien. 337 Zum Beispiel feldinternen Konkurrenzen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und zwar mit bedeutsamen Folgen, insbesondere Theatralitäts- und (Ent-)Theatralisierungsfolgen, für diese Felder und ihre Kultur (kulturelle Entwicklung und Produktivität).338
7.4
Theatralisierung und Enttheatralisierung
7.4.1
Theatralisierung
Eine figurationssoziologische Konstruktion und Rekonstruktion von Theatralität muss ihren Gegenstand auf jeder Ebene, vor allem aber in historischer Hinsicht, als Prozess verstehen.339 Ein solches Verständnis liegt auch schon aus mehr oder weniger offensichtlichen empirischen Gründen nahe, da die diesbezügliche Realität (der Theatralität) sich nicht nur, wie jede soziale Realität, historisch entwickelt hat, sondern sich auch immer rapider und massiver wandelt und in gewisser Weise, speziell in den Formen von Medientheatralität, an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnt (vgl. Willems (Hg.) 2009a, b). Diese empirischen Tatsachen bestätigen und erfordern eine (figurations-)prozesssoziologische Perspektive auf Figurationstheatralitäten, die es in ihrem historischen „Gewordensein“ (Elias) und in ihren Entwicklungstendenzen aufzuklären gilt. In diesem Zusammenhang schlage ich in der Logik der Ausarbeitung eines figurationssoziologischen Theatralitätsbegriffs die Ausarbeitung des Begriffs Theatrali338 Ein von Schwier und Schauerte gegebenes Beispiel aus dem Bereich des Sports mag dies illustrieren: „Die enge Verbindung des Fernsehens mit einzelnen Sportarten sowie die sukzessive Herausbildung eines Medien-Sport-Komplexes begünstigen in letzter Konsequenz die Entwicklung neuartiger Formen von Sportereignissen, die sich als Aufführung weniger an die Aktiven und Zuschauer vor Ort, sondern primär an das TV-Publikum wenden und vorgeben, jedes Mal ein noch nie zuvor gesehenes Spektakel zu erzeugen. Die Prozesse der Anpassung des Sports an mediale Bedingungen dienen dabei vor allem dem Ziel, neben den Sportfans auch einen möglichst großen Teil jenes Fernsehpublikums zum Einschalten zu bewegen, das sich eigentlich nicht oder nur schwach für sportliche Wettkämpfe interessiert. Die Massenmedien stehen in einer solchen Perspektive grundsätzlich vor der Aufgabe, das ‚Design ihrer Theatralität auf die habituellen Rahmen ihrer Publika abzustimmen‘ (Willems 1998[b]: 75). Zur Steigerung der Quoten erscheinen dabei vorwiegend zwei Vorgehensweisen erfolgversprechend zu sein. Medienunternehmen können entweder die Rechte an schon bestehenden Wettkampfserien bzw. -events erwerben und diese dann zielgruppengerecht umgestalten oder gleich eigene Sportereignisse und Bewegungspraktiken erfinden, deren Dramaturgie, Handlungsraum und -struktur von vorneherein dem Blick der Kamera entgegenkommen.“ (Schwier/Schauerte 2009: 432) 339 Das gilt, wenn man von Fischer-Lichtes Theatralitätsbegriff ausgeht, zunächst auf den Ebenen der ‚Aspekte‘ von Theatralität selbst. Also: Inszenierung, Performance, Korporalität und Wahrnehmung sind jeweils Prozesse, und zwar Prozesse, die empirisch zusammenhängen.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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sierung340 vor – nicht nur, um damit ein spezifisches zeitdiagnostisches Verständnis von (Gesellschafts-)Figurationen zu entwickeln und zu formulieren, sondern auch, um ein ganzes Bündel zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch signifikanter Entwicklungen und Wandlungen auf den Begriff zu bringen und zu bestimmen. Ich vertrete mit diesem gegenwärtig noch soziologisch unterentwickelten (anschlussund spezifikationsbedürftigen) Begriff die These, dass alle sozialen Felder und Daseinsaspekte341 der (modernen) Gesellschaft bestimmten (Figurations-)Prozessen (der Theatralisierung) unterworfen waren und sind – Prozessen, denen gegenläufige Prozesse – der Enttheatralisierung – gleichsam als andere Seite der Medaille entsprechen. Die damit gemeinten Tendenzen, Bivalenzen und Ambivalenzen sollen mit anderen sozio- und psychogenetischen (Zivilisations-)Entwicklungen (z. B. Differenzierungsprozessen) in Zusammenhang gebracht werden (s. u.). Die geplanten Untersuchungen zielen damit wiederum aus einer figurationssoziologischen Metaperspektive nicht nur auf empirische Phänomene, sondern auch auf die Verarbeitung sozial- und kulturwissenschaftlicher Diskurse, die auf diese Phänomene mit Begriffen wie Inszenierung342, Performanz/Performance/Performativität, Image, Event oder visual culture bezogen sind. Der seit einer Reihe von Jahren geradezu inflatorischen Verwendung derart ‚theatraler‘ oder dem Theatermodell nahestehender Begriffe entsprechen empirisch-analytische Untersuchungen bzw. ‚Diagnosen‘, deren Bandbreite von der Feststellung einer „Erlebnis- und
340 Wer diesen Begriff erfunden und in Umlauf gebracht hat, ist unklar. Der Gedanke einer „Theatralisierung der Lebenswelt“ wurde seit den 1990er Jahren insbesondere von Fischer-Lichte propagiert (vgl. Fischer-Lichte 1995a, b; 1997; 1998; Fischer-Lichte (Hg.) 2001; 2004; 2005a, b, c; 2007). Von Theatralisierung – kaum jedoch von Enttheatralisierung – ist mittlerweile in den verschiedensten Disziplinen in Bezug auf die verschiedensten Bereiche bzw. Felder (Politik, Musik, Therapie, Recht usw.) die Rede. Festgestellt wird sogar eine Theatralisierung des Theaters (vgl. Lautmann 2009). 341 Mit Daseinsaspekten sind hier die grundlegenden ‚anthropologisch konstanten‘ Tatsachen gemeint, die wie Geburt, Krankheit, Tod, Geschlecht, Reifung, Alter(n) oder ‚Instinktresiduen‘ konstitutiv zur menschlichen Existenz gehören, aber sozial, kulturell und historisch differentiell überformt, ‚verwirklicht‘ und behandelt werden. 342 Die zunehmende Häufigkeit der Verwendung dieses Begriffs kann man für eine Art Symptom realer sozio-kultureller Entwicklungen halten. Der Inszenierungsbegriff und verwandte oder komplementäre Begriffe wie Performance, Bühne, Skript oder Image kumulieren jedenfalls schon seit längerer Zeit in wissenschaftlichen wie auch in alltäglichen Diskursen. Ontrup und Schicha sprechen zu Recht von einem „Festival des Inszenierungsbegriffs“ (Ontrup/Schicha 1999: 7), und Fischer-Lichte konstatiert 1998, zu Beginn des eine große Fülle einschlägiger Arbeiten nach sich ziehenden DFG-Schwerpunktprogramms ‚Theatralität‘: „Der Begriff der Inszenierung scheint gegenwärtig Hochkonjunktur zu haben. Seit den letzten fünf bis zehn Jahren überflutet eine Fülle von Publikationen den deutschen Buchmarkt, die den Terminus ‚Inszenierung‘ bzw. ‚Inszenieren‘ im Titel führen“ (Fischer-Lichte 1998: 81). Diese (geradezu dramatische) Diskurspräsenz des Inszenierungsbegriffs (und verwandter Begriffe) hält bis heute an.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Spektakelkultur“343 über die Deutung von Politik als „Theatrokratie“ (Tänzler 2005) oder von „Terrorismus als Performanz“ (vgl. Giesen 2009) bis zur Behauptung einer „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems 1998b) reicht. Mit dem Begriff bzw. Ober- und Leitbegriff der Theatralisierung möchte ich diesbezüglich einen integrativen Blickwinkel markieren und auf der Grundlage der Figurationssoziologie hypothetisch so etwas wie eine sozio-kulturelle Entwicklungstendenz behaupten, d. h. einen zwar komplexen und heterogenen, aber auch spezifisch gerichteten sozio-kulturellen Wandel.344 Das mit Theatralisierung Gemeinte (und nicht Gemeinte) kann am Beispiel des Politischen bzw. des politischen Feldes345 genauer bestimmt und veranschaulicht werden: In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass es keinen Nullpunkt und kein Jenseits von Theatralität gibt, wenn überhaupt von Politischem die Rede sein soll. Ebenso klar ist, dass die Theatralität des Politischen (politische Theatralität, Theatralität der Politik) durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung und speziell durch die Entwicklung des politischen Feldes bedingt, geprägt und spezifiziert ist. Damit stellt sich hier die Frage nach Theatralität zunächst nicht als Frage nach einem Mehr oder Weniger, sondern vor allem als Frage nach 343 Fischer-Lichte z. B. spricht davon und meint damit bestimmte Formen von Theatralisierung: In allen gesellschaftlichen Bereichen „wetteifern einzelne und gesellschaftliche Gruppen in der ‚Kunst‘, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen. Stadtplanung, Architektur und Design inszenieren unsere Umwelt als kulissenartige ‚Environments‘, in denen mit wechselnden ‚Outfits‘ kostümierte Individuen und Gruppen sich selbst und ihren eigenen ‚Lifestyle‘ mit Effekt zur Schau stellen. (…) Eine schier endlose Abfolge von inszenierten Ereignissen weist darauf hin, daß sich eine ‚Erlebnis- und Spektakelkultur‘ gebildet hat, die sich mit der Inszenierung von Ereignissen selbst hervorbringt und reproduziert. In ihr wird Wirklichkeit mehr und mehr als Darstellung und Inszenierung erlebt“ (Fischer-Lichte 1998: 88 f.). ‚Spektakularität‘ ist demnach eine zentrale Bedeutung von Theatralität und Theatralisierung. Und generell kann man mit FischerLichte feststellen, dass die ‚gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ sich zunehmend als eine theatrale Konstruktion darstellt. 344 Der logische und soziologische Status dieses Begriffs ist vielleicht insofern mit dem Status des (allerdings viel komplexeren) Elias’schen Zivilisationsbegriffs vergleichbar, als dieser eine ‚Wandlungsordnung‘ im Sinn hat und verschiedene Komponenten bzw. Teilprozesse dieser Ordnung subsumiert: Pazifizierung, Vorrücken von Schamgrenzen, Psychologisierung usw. Eine – zu behandelnde – (schwierige) Frage ist die nach dem Verhältnis von Theatralisierung/Enttheatralisierung einerseits und Zivilisierung andererseits. Dazu gehören auch die obigen Überlegungen zum Verhältnis von Stil/Lebensstil/Stilisierung und Zivilisierung. 345 Die Theatralitätsaspekte und die Theatralisierungen dieses Feldes sind besonders offensichtlich und wurden von Sozialwissenschaftlern, insbesondere von Politikwissenschaftlern (vgl. z. B. Sarcinelli 2002; Dörner 2001; Schatz/Nieland 2004; Meyer/Ontrup/Schicha 2000; Schicha 2004) und Soziologen (vgl. Hitzler 1998; 2002; Soeffner 1998; Soeffner/Tänzler (Hg.) 2002), gerade in der jüngeren Vergangenheit – wohl bedingt durch einen einschlägigen Theatralisierungsschub – vielfach thematisiert.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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historischen Entwicklungs- und Strukturbedingungen. Sie waren und sind etwa in totalitären oder faschistischen Regimes346 systematisch andere als in westlichen Demokratien. Blickt man auf deren Nachkriegsgeschichte, dann fällt vor allem ihre Medientheatralisierung auf. Politik wurde und wird in diesen Gesellschaften offensichtlich zunehmend als symbolische Medieninszenierung bzw. als Performanz/ Performance im Rahmen medialer oder medienbezogener Anlässe ‚gemacht‘ und erfahrbar. Die (relevanten) Politiker selbst scheinen heute mehr denn je auf Medienpublika bezogene (und diesbezüglich von den Fortschritten der Demoskopie unterstützte) Informationspolitiker, Imagearbeiter und ‚Performancekünstler‘ zu sein, die sich und ihre Ensembles mindestens ebenso gern in Talk-Shows347 wie im Parlament ‚aufführen‘. Politik ist zur „Dauerwerbesendung“ (Vogt 2002) geworden, weil politische Macht immer massiver, unmittelbarer und differenzierter zur Funktion von medialen Image-Entwicklungen, Publikumseindrücken und (d. h.) Zustimmungsquantitäten geworden ist. Politische Parteitage z. B. lassen sich mittlerweile nicht mehr nur mit Theatermetaphern beschreiben, sondern sie haben als ‚Medienevents‘ offensichtlich ganz und gar den Charakter von strategisch inszenierten und hoch- oder höchstgradig ritualisierten Image-Aufführungen, die expliziten Drehbüchern mit klarer Medien- und Publikumsausrichtung folgen (vgl. z. B. Brosda 1999: 199 ff.).348 Natürlich denkt man hier auch an (jedenfalls im politischen Feld Deutschlands) relativ neue Einrichtungen, wie das ‚TV-Duell der Kanzlerkandidaten‘349. In ihm spitzt sich der Zusammenhang von Inszenierung, Performance und Korporalität einerseits und Publikum/Wahrnehmung andererseits dramatisch zu – als substantielle Machtfrage. Worum es in diesem Fall geht, ist im strukturellen Zusammenhang und ereignishaften Aufeinandertreffen verschiedener Felder und Akteurtypen ein sozialer Anlass, eine ‚Cultural Performance‘, die zugleich Merkmale eines Spektakels, einer Werbeveranstaltung, eines Rituals/einer Zeremonie, eines Spiels und eines (Wett-)Kampfs hat. In diesem medialen Theater-Rahmen (und Rahmen-Theater), aber auch in seinen figurationalen (Feld-)Kontexten, manifestieren sich spezifische Habitus, Mentalitäten, Verhaltensstile, korporale Zeichen und Strategien, die auf ein Publikum zielen, das sich offenbar zuneh346 Solche Regimes (Nationalsozialismus, Stalinismus etc.) zeichnen sich ja, ihrer Herrschaftslogik entsprechend, durch eine spezielle und besonders theatralische Theatralität aus (Paraden, Aufmärsche, Schauprozesse, ‚Parteitage‘, Führer- und Opferkulte etc.). Die Theatermetapher liegt hier natürlich besonders nahe. 347 Sicher zu Recht ist die Rede von ‚Talkshowisierung‘ (vgl. Tenscher 2002). 348 Insofern ähneln sie ‚Parteitagen‘ totalitärer Regimes. 349 Ein theatrales Format, das sich schnell auch auf unteren Feld-Ebenen verbreitet hat.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
mend als eine Art Theater-Publikum versteht und eine Zuschauermentalität an den Tag legt – politischen Akteuren korrespondierend, die sich entsprechend als strategisch-dramaturgische Akteure verstehen, verhalten und ausrüsten (müssen). Das ‚TV-Duell‘ ist also ein Beispiel nicht nur für eine feld-generell gewachsene Bedeutung von (Medien-)Inszenierung und Performance (inklusive Korporalität) im politischen ‚Spiel‘, sondern auch für eine entsprechende Ein- und Umstellung der Mentalität und Handlungsführung, die sich nicht zuletzt in einer Professionalisierung der Beratung und Betreuung der zwangsläufig immer medien- und imageversierter werdenden Akteure zeigt und niederschlägt. In zunehmend reiner, weitreichender und tiefgreifender Form herrscht damit eine Art Gesetz der Theatralität: Die im Feld des Politischen (wie in anderen Feldern) tätigen Werber und andere Berater sind ja Inszenierungsvirtuosen, Performancekünstler und Publikumsspezialisten, die nichts anderes im Sinn haben, haben sollen und haben müssen, als das jeweilige ‚Theater‘. Unübersehbar ist auch eine reflexive (Medien-)Theatralisierung von politischen Diskursen, Politik-Diskursen und Diskurs-Politiken, und zwar in mindestens zwei Hinsichten mit je eigenen Theatralitäts- und Theatralisierungsimplikationen oder -folgen. Zum einen werden (und sehen sich) politische Akteure offenbar zunehmend mit insbesondere journalistischen Diskursen und Publika konfrontiert, die sie mit der Metaphorik des Theaters als Schauspieler, Imagearbeiter, zynische Strategen usw. (dis-)qualifizieren350 und zugleich – in Reaktion darauf – strategisch-dramaturgisch herausfordern. Auch und gerade jedermanns Politikbild (und ‚Politikverdrossenheit‘) scheint heute mehr denn je – und durchaus zu Recht – durch eine negative Theatermetaphorik geprägt zu sein, was eine Konditionierung und eine Programmierung des politischen Handelns und des Politikerhandelns in dem besagten Sinne impliziert. Zum anderen neigen offenbar auch die Politiker selbst zunehmend dazu, sich, ihresgleichen und die Welt in Varianten des Theatermodells zu verstehen, zu deuten und zu behandeln (vgl. Schatz/Nieland 2004: 173 ff.).351 So haben der Theaterbegriff und ähnliche Begriffe wie Show 350 Der Rückgriff auf die Theatermetapher in Bezug auf Politik und Politiker hat zwar eine gewisse elementare Plausibilität und auch eine lange Tradition, aber gerade im Blick auf journalistische Politik- und Politikerbeschreibungen gewinnt man den Eindruck, dass die Konjunktur dieser Deutung und dieses Deutungsmusters erst in der jüngeren Vergangenheit ihren Höhepunkt erreicht hat. Der ‚Spiegel‘ liefert dafür die besten Beispiele. 351 Sie ziehen das Theatermodell sogar zur Legitimation für ihre strategisch-dramaturgische Praxis heran, z. B. im Falle aufgedeckter Täuschungen (vgl. Schicha 2009), die eben jenes (Diskurs-)Image der Politiker bei ihrem Publikum bestätigen und verstärken. Natürlich tragen auch solche ‚theatrologischen‘ (Selbst-)Rechtfertigungsversuche von Politikern nicht unbedingt zur Verbesserung ihres Glaubwürdigkeitsimages bei.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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oder Image in den öffentlichen Diskursen der Politik und der Politiker auch als Kampfbegriffe beständige Konjunktur. Auch in ihren strategischen Imagearbeiten und aggressiven Imagekämpfen verwenden Politiker schon seit langem gern die Theatermetaphorik, um den jeweiligen Gegner zu diskreditieren und sich selbst entsprechend aufzuwerten (als authentisch, ehrlich, seriös usw.). In dieser Praxis steckt natürlich ein Wissen von der Wahrnehmung und vom Meinen des Publikums sowie auch ein Wissen von der Realität der Theatralität der politischen Praxis – ein Wissen und ‚Bewusstsein‘, das ebenso Ausdruck wie Faktor von Theatralisierungen ist.352 Und selbstverständlich sind Politiker immer schon auch intuitiv und reflexiv Wissende von den strategisch-dramaturgischen Erfolgsbedingungen ihres Feldes und ihres Handelns gewesen und geworden. Diesbezüglich sind sie und werden sie allerdings heutzutage mehr und besser denn je informiert und (publikums-)zielgenau instruiert, ja sogar trainiert (‚gecoacht‘). Was im Blick auf das politische Feld erkennbar oder nur allzu offensichtlich ist, scheint im Prinzip auch für andere Felder zu gelten: Sport353, Religion, Recht, Erziehung, Medizin/Psychotherapie (vgl. Warstat 2009), Kunst/Theater (vgl. Fischer-Lichte 2009; Lautmann 2009), Journalismus (vgl. Willems 2007), Werbung (vgl. Willems/Kautt 2003), Wirtschaft (vgl. Langenohl/Schmidt-Beck 2009) und (sogar) Wissenschaft (vgl. Münch 2009; Suchanek 2009) sind diagnostizierte Fälle. Auch auf diesen Feldern lassen sich Prozesse und Tendenzen ausmachen, die als Theatralisierung(en) gefasst und zusammengefasst werden können. Allerdings sind die diesbezüglichen Formen, Bedingungen, Ursachen und Folgen sehr unterschiedlich und mehr oder weniger feldspezifisch354, d. h. abhängig von der 352 Heutige Politiker müssen sich mit ihrer Theatralität auf Publika einstellen, die zwar eben jene Politiker unter Hinweis auf Theatralitätsaspekte relativieren und abqualifizieren, die aber auch mehr denn je disponiert zu sein scheinen, sich durch Inszenierungen und Performanzen/Performances gewinnen zu lassen. Zu den diesbezüglich bedeutsamen Faktoren der Theatralisierung, die gerade der Medientheatralisierung der Politik Vorschub leisten, gehören die Entideologisierung bzw. ideologische Entpolarisierung der politischen Publika und ihre ‚Entbettung‘ aus profilierten Kulturen und ‚Lagern‘. In den Offenheiten und Spielräumen, die mit solchen Entwicklungen entstehen, kann und muss sich Theatralität entfalten, z. B. in der Form von Imagearbeit. Besonders gefragt und besonders bearbeitet ist heute natürlich das Image der ‚persönlichen Glaubwürdigkeit‘. 353 Wie gesagt spielen die Massenmedien auch in diesem Kontext eine zentrale Rolle als Generatoren und Verstärker von Theatralisierungsprozessen. Gerade das Fernsehen zielt notwendigerweise darauf ab und immer stärker darauf ab, den jeweiligen Ereignissen/Wettkämpfen eine dramatische Gestalt zu geben und ihnen damit einen möglichst intensiven Eventcharakter mit möglichst hohen Erlebnis- bzw. Unterhaltungswerten zu verleihen. In der Logik der Entwicklung des Mediensports liegt ein „Dramatisierungs-Boom“ (Schwier/Schauerte 2009). 354 Vermutlich sind auch unterschiedliche Theatralisierungsdynamiken der verschiedenen Felder festzustellen. Die Theatralisierung der Wissenschaften z. B., speziell der Sozialwissenschaften/Kulturwissenschaften, scheint gegenwärtig besonders dynamisch voranzuschreiten – bedingt durch
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Eigenlogik des jeweiligen Feldes und seinen figurationalen ‚Einbettungen‘/Interdependenzen. So hat die Theatralisierung des Sinnmarktes bzw. der Religion355 mit historisch-feldspezifischen Bedingungen wie einer sich verschärfenden (Sinn-) Anbieterkonkurrenz, einer Publikumsverknappung, einem Mentalitätswandel des (potentiellen) Publikums und zu Hilfe gerufenen Beratungs- und Werbungsexperten zu tun (vgl. Reichertz 2002). Demgegenüber hängt etwa die Theatralisierung des Sports eher mit Prozessen der Mediatisierung, der (Erlebnis-)Eventisierung und der Ökonomisierung/Kommerzialisierung zusammen.356 (Figurations-)Prozesse der Bürokratisierung, der Ökonomisierung, der Vermarktlichung, der Mediatisierung und der (Bildungs-)Politisierung. 355 Im (Teil-)Bereich der katholischen Kirche z. B. sind viele und vielfältige (Re-)Theatralisierungen zu beobachten. Sie reichen von der gegenwärtigen Renaissance der alten Liturgie(-Theatralität) über Eventisierungsprozesse der kirchlichen Veranstaltungskultur (vgl. Hepp/Krönert/Vogelgesang 2009; Ebertz 2000; Gebhardt 2007) und den Einzug regelrechter Bühnenaufführungen (Kinderkrippenspiele, Musicals etc.) in den Kirchenraum bis hin zu einer impliziten Umdefinition der Rolle des Papstes zu einer Art Imagepfleger im Dienste der Corporate Identity des Unternehmens Kirche. Von differentiellen Theatralitäten, Theatralisierungen und Theatralisierungsniveaus der Religion kann im interkulturellen bzw. internationalen Feld-Vergleich gesprochen werden. Die Theatralisierung der Religion ist in den USA jedenfalls in einem bestimmten Sinne sicher am weitesten fortgeschritten. Ich zitiere zur Illustration einen (kritischen) Beobachter, der in einem Vergleich von USA und Großbritannien feststellt: „Die Leute hier in Großbritannien gehen einmal im Jahr, an Weihnachten, in die Kirche; sie gehen zu Hochzeiten und Beerdigungen, und das war’s. Amerika dagegen ist so ziemlich das einzige westliche Land, das Kirche und Staat rigoros getrennt hat. Deshalb sind die Kirchen zu freien Unternehmen geworden. Es gibt aggressive Werbung, Verkäufer, die Religion verhökern wie Marktschreier ihr Seifenpulver. Und Konkurrenzkirchen gieren nach Kunden: Komm in meine Kirche, nicht in die anderen ! Gib mir dein Geld, nicht den anderen. (…) Da gibt es Musik, blinkende Scheinwerfer, kreischende Mikrofone, Kinderbetreuung, Restaurants, Amüsement jeder Art. Das ist der Ort, an dem man seine Sonntage verbringt, Leute trifft. In Europa bekommt man hübsches farbiges Glas und manchmal schöne Choräle. Aber die Kirche ist kaum der Ort, wo man hingeht, um mal so richtig Spaß zu haben ! So ein amerikanischer Gottesdienst gleicht einem Rockkonzert – oder einem Reichsparteitag“ (Dawkins 2007: 160). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das aus den USA stammende Fernsehpredigertum, der „Televangelism“. Auch wenn ihre Bedeutung zeitweilig abgenommen hat, gelingt es Fernsehpredigern in den USA auch heute noch, ganze Footballstadien mit ihren Performances in der beschriebenen Weise zu füllen. Im Televangelism wird die Verschränkung von (religiöser) Mediennutzung, Kommerzialisierung und Theatralität/Theatralisierung besonders deutlich. Vgl. dazu Hadden/Swan (1981) und Bruce (1990). 356 Theatralisierung kann in Kontexten wie dem Sport, der Religion oder der Politik auch bestimmte Prinzipien von Realitäts(de)konstruktion und prinzipielle Realitäts- und Mentalitätsumstellungen meinen oder damit einhergehen. Von spezifischer und genereller Bedeutung mag hier ein tendenzieller Verlust von Realität sein, der Theatralität auf sich selbst reduziert und sozusagen zum Realitäts(ersatz)prinzip macht. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sich die für das religiöse Publikum maßgeblichen Erlebnisse primär oder nur noch aus dem ‚Theater‘ der Religion ergeben. Wenn deren ‚Inhalte‘ ganz oder tendenziell an Bedeutung verlieren oder diffundieren und es stattdessen
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Theatralität und Theatralisierung spielen sich bereichsspezifisch natürlich auch in Figurationen ‚kleineren Formats‘ ab, insbesondere auf der (Mikro-)Ebene von speziellen Gruppen bzw. Spezialkulturen357 und Szenen, deren gesellschaftliche Ausbreitung, Ausdifferenzierung und Pluralisierung im Zusammenhang mit Medientechnologien als eine besondere Bedingung und Seite von Theatralisierung anzusehen sind. Dies ist auch deshalb der Fall, weil Interaktion bzw. Interaktionstheatralität eine Dimension oder ein Kern der betreffenden Figurationen bleibt, aber dynamisch diversifiziert und mit Medientheatralität verknüpft wird. So entwickelt sich ein breites und immer weiter auffächerndes Spektrum spezieller Figurationen und Figurationskulturen, die jeweils ihre eigene Theatralität kultivieren/ dramatisieren und in gewisser Weise in dieser oder durch diese Theatralität bestehen. Zu einem großen und größer werdenden Teil handelt es sich dabei um stark und spezifisch theatralische (Figurations-)Kulturen, speziell Musik-, Tanz-, Event- und (andere) Körperkulturen.358 Aber auch das (Wieder-)Aufleben traditioneller Varianten, die um Rituale (Zeremonien) organisiert sind, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung.359 Mit dem Begriff und mit der These der Theatralisierung (erst recht in Verbindung mit dem Begriff der Gesellschaft) geht es hier schließlich um die Lebenspraxis, die Lebensform und die Lebensformgebung prinzipiell aller personalen Akteure. Die hier gemeinte Theatralisierung alltäglicher und außeralltäglicher ‚Lebenswelten‘ jedermanns reicht von der (kommerz-)‚produktiv‘ unterstützten und forcierten ‚Körperpflege‘ und der Kleidung über das erotische Hofieren und die persönliche ‚Beziehungsarbeit‘ bis zur Performanz des Trauerns360. Auch in diesen
357 358 359 360
hauptsächlich oder ausschließlich auf die ‚Form‘, auf die Atmosphäre, die liturgische Performance als solche ankommt, dann hat jedenfalls eine gewisse Theatralisierung stattgefunden. In diesem Fall müssen die religiösen Akteure im Kampf um ihr (Rest-)Publikum natürlich besonders und immer mehr in (ihre) Theatralität investieren – in eine Theatralität, die im Verhältnis zu einem Publikum ‚passt‘. Theatralisierung in diesem Sinne ist vermutlich auch in einer Reihe anderer (Feld-) Kontexte als verbreitete Möglichkeit oder sogar als generelle Entwicklungstendenz festzustellen. So mag die politische ‚Erinnerungskultur‘ Deutschlands nicht nur eine eigene Art von Theatralität aufweisen (Theatralität in Form von dramatischen Monumenten, Museen, medialen Performanzen usw.), sondern sich auch zunehmend auf diese Theatralität beschränken. Vgl. zum Begriff Spezialkultur und zu seiner Anwendung z. B. Wetzstein u. a. (1993). Vgl. dazu z. B. Diaz-Bone (2009), Hitzler/Pfadenhauer (2009), Bullerjahn/Heipcke (2009), Schwier/ Schauerte (2009) und Gumbrecht (2009). Vgl. dazu Schorch (2009) und Diaz-Bone (2009). Zu den ‚Basisprozessen‘ der modernen Sozio- und Psychogenese, die Theatralisierungen Vorschub leisten und Form wie Inhalt geben, gehört natürlich auch der facettenreiche Prozess der Individualisierung und (d. h.) des Aufstiegs individualistischer (Selbst-)Wertorientierungen und (Selbst-) Deutungsmuster. Als ein Beispiel kann hier die Stil- und Diskurswandlung der Trauerkommunikation dienen, wie man sie in Todesanzeigen findet. Diese bilden offenbar zunehmend – und über
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zusammenhängen gibt es natürlich sozusagen Kopplungen und Rückkopplungen mit bestimmten sozialen Feldern, wobei wiederum den Massenmedien, aber auch – im Zusammenspiel mit diesen – dem ökonomischen Feld eine ‚(ver-)führende Rolle‘ zukommt. Theatralisierung auf der Ebene der Lebenspraxis jedermanns hat offensichtlich viel mit medienkulturellen Modellen, mit der gewachsenen Relevanz von Werbung, mit Konsum(-kultur) und Konsumismus (Bolz 2002) bzw. dem stetig expandierenden Angebot von Requisiten zu tun, die als Waren jedermann verfügbar (geworden) sind und aufgedrängt werden. Dabei und darüber hinaus geht es auf dieser Ebene um lebenspraktische Fragen des Images und (damit) des Stils/ der (Selbst-)Stilisierung – um Fragen, die Individuen und Gruppen als Konkurrenten um Aufmerksamkeit, Geltung und Anerkennung stellen (müssen) und mit Formen von Theatralität (Inszenierungen, Präsentationen, Performances, Korporalität) zu beantworten suchen.
7.4.2
Theatralisierung und Enttheatralisierung
Die Begriffe Theatralität und Theatralisierung dürften gerade im Blick auf die jüngere Gesellschaftsgeschichte einerseits unmittelbar einleuchten. Andererseits sind auch sozio-kulturelle Entwicklungen unübersehbar, die eher (Gegen-)Begriffe wie Enttheatralisierung nahelegen oder nahezulegen scheinen. Es gibt, jedenfalls oberflächlich betrachtet, gewisse Wandlungen und Trends, Bewegungen oder Gegenbewegungen, in denen besagte Realitäten der Theatralität und der Theatralisierung (Einrichtungen, Veranstaltungen, Zeichen, Werte, Praktiken etc.) sich auflösen, umformen oder umkehren, verschwinden oder an Bedeutung verlieren. Wie die (Prozess-)Tatsachen der Theatralität und der Theatralisierung sind die hier gemeinten (Prozess-)Tatsachen sachlich sehr unterschiedlicher Art, und sie scheinen im Ganzen weder hinreichend soziologisch aufgeklärt noch leicht aufklärbar zu sein. Als Beispiel für eine Art von Enttheatralisierung kann hier wiederum das Feld des Politischen dienen. Hier gibt es neben der und parallel zu der sich ausdifferenzierenden und verstärkenden Schau-Seite bzw. Symbol-Politik mit Symbolverkäu-
die Verschiedenheit der sozialen Milieus hinweg – Bühnen, auf denen sich vor allem ‚Hinterbliebene‘ in den charakteristischen und charakterisierenden Formen eines theatralischen Individualismus dramatisch aufführen. Oder man nehme in diesem Zusammenhang die Begräbniszeremonie selbst, die immer öfter auch schon vor dem Todesfall als eine Art individualistischer Kult in regelrechten Drehbüchern antizipiert und bis ins Detail dramatisch gestaltet wird (vgl. Möller 2008).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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fern, Schau-Spielern, Schau-Kämpfen, Schau-Diskursen, Schau-Entscheidungen usw. offenbar einen Bedeutungsgewinn von Räumen und Aktionen außerhalb der (Medien-)Öffentlichkeit, in denen von eben dieser Öffentlichkeit entlastete entscheidungsrelevante Kommunikationen stattfinden (können) und jenseits öffentlichen (Beobachtungs-, Theatralitäts-)Drucks anders oder ‚offener‘ gesprochen, gehandelt und verhandelt werden kann (vgl. Schatz/Nieland 2004: 176 f.). Natürlich hat es solche Räume auch früher schon gegeben, und natürlich sind auch solche Räume ihrerseits in gewisser Weise Theatralität, Räume von Theatralität und auf Aspekte von Theatralität bezogen, aber sie haben sich mit dem Zweck weiterentwickelt, ausgedehnt, geformt und umgeformt, jedenfalls ‚nach außen‘ gerade nicht „etwas zur Erscheinung zu bringen“ (Fischer-Lichte 1998: 87) bzw. etwas nicht zur Erscheinung zu bringen, sondern zu verhüllen, zu verbergen, geheim zu halten. Das ‚Theater‘, die Bühne oder die Konfiguration der Bühnen hat sich in diesem Fall (wie in anderen Fällen) mindestens sozusagen verschoben oder verlagert. Offensichtlich geht es hierbei – wiederum – um zwei Seiten einer Medaille bzw. um die Entwicklung einer systematischen Parallelität: Im Zuge der besagten Theatralisierung des politischen Lebens bzw. der politischen Öffentlichkeit entwickelt oder wandelt sich zugleich eine Rück- und Gegenseite, verschieben und verändern sich Bühnen sowie Relevanzen und Funktionen von Bühnen, Inszenierungen und Aufführungen bis hin zum Verfallen und Verschwinden und/oder zur Genese ganz neuer Formen von Theatralität. Worum es mir hier – im Kontext einer eingestandenermaßen noch fragwürdigen Konstruktion des Verhältnisses von Theatralisierung und Enttheatralisierung – insbesondere geht, sind zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch signifikante Tatsachen, die einer soziologischen Einordnung, Aufklärung und Erklärung bedürfen, die die rein deskriptive Begrifflichkeit der Theatralität/(Ent-)Theatralisierung nicht leisten kann. Dazu gehören auch Verhaltensweisen, Semantiken, Diskurse und Praktiken, die gemessen an einem gegebenen oder gewesenen symbolischen/theatralen (zivilisatorischen) Ordnungsniveau in dieser oder jener Weise negativ sind, deren Bedeutung sich aber erst im Rahmen einer entsprechend organisierten (komplexen) Soziologie erschließen kann. Ich denke damit natürlich an den Rahmen der Figurationssoziologie (der ‚historischen Gesellschaftspsychologie‘), der von jenen Tatsachen angefordert und auch zu Gunsten seiner eigenen (Theorie-)Entwicklung herausgefordert wird. Die ‚Negativität‘, um die es hier geht, ist nicht nur eine Seite einer Medaille, sondern hat ihrerseits verschiedene Seiten. Einführend bzw. zur einführenden Illustration (auch der Problematik und der Schwierigkeit der betreffenden Gegenstände und Begriffe) möchte ich mich kurz mit zwei kulturellen Seiten befassen,
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
womit auch schon eine relevante sachlich-analytische Differenzierung angedeutet wird. Bei der einen Seite handelt es sich um historische Transformationen symbolischer bzw. symbolisch-moralischer Ordnungen, die einen spezifischen zivilisatorischen Charakter und (Eigen-)Wert besitzen. Ein naheliegendes Beispiel für eine solche Enttheatralisierung und für Zusammenhänge zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung ist der (Zivilisations-, Modernisierungs-)Prozess der Humanisierung bzw. der historische Aufstieg des Humanismus, der sich mit Schwankungen bis in die Gegenwart entfaltet (vgl. Berger/Berger/Kellner 1975: 79 ff.): Mit dem zu Ungunsten der (alten) Moral der Ehre verlaufenden Aufstieg der humanistischen Würdemoral verbindet sich eine tendenzielle Auflösung der (Selbst-) Identifizierung des Individuums mit seinen sozialen ‚Rollen‘ bei gleichzeitiger Aufwertung der „Menschlichkeit hinter und unterhalb der von der Gesellschaft auferlegten Rollen und Normen“ (ebd.: 79). Gehlen spricht vom „nackten Charakter“, der zur Zeit Molières „als komisch bühnenreif war“ (Gehlen 1957: 58). Der (moderne) Aufstieg der „Welt der Würde“ bedeutet also eine umfassende und grundlegende kulturelle Umwertung und Umstellung, die auch und gerade Realitäten der Theatralität betrifft. Das heißt vor allem: „In einer Welt der Würde im modernen Sinn ist die soziale Symbolik, die die Interaktion der Menschen beherrscht, eine Verkleidung“ (Berger/Berger/Kellner 1975: 80), die als Uneigentlichkeit, Oberfläche/Oberflächlichkeit oder gar Verstellung moralisch relativiert oder abgewertet ist und wird.361 Mit der historischen Würdigung des Menschen verlieren die ‚Wappenschilder‘, die sozialen ‚Rollen‘ jedenfalls ihre exklusive oder primäre Identitätsbedeutung, und insofern kann man auch von Enttheatralisierung sprechen362. 361 Die so verstandene Würdemoral hatte in Deutschland (und anderen ‚westlichen‘ Gesellschaften) in gewisser Weise wohl in der Zeit der ‚68er‘ ihre gesellschaftlich weitreichendste Blüte oder Konjunktur. Nicht ‚Status‘ oder ‚Äußerlichkeiten‘, sondern der ‚bloße Mensch‘ und das ‚bloß Menschliche‘ zählten jedenfalls als Modell in der dominanten Jugendsubkultur mehr als je zuvor und mehr als je danach – mit der Implikation einer eigenen Theatralität (der Kleidung, der Sprache usw.) und gewisser Theatralitätsnihilierungen. Was dann folgte, war und ist bekanntlich auch unter Jugendlichen eher eine Renaissance traditionellen ‚Statusdenkens‘ und traditioneller Statustheatralität – gepaart mit teils neuen und teils modulierten Statusverständnissen und Statussymboliken, wie sie etwa im Bereich der Korporalität Platz gegriffen haben und Platz greifen (vgl. Koppetsch (Hg.) 2000). Die Mentalität der ‚68er‘ hat sich aber in bestimmten Linien auch durchaus bis heute fortgesetzt und lebt auch in bestimmten Milieus (‚Öko-Milieu‘ etc.) fort. Diesbezüglich könnte man von einem Schub der Informalisierung und Humanisierung sprechen. 362 In dem Sinne und für den Fall also, dass ‚Rollen‘ als solche (als ‚Theater‘) dequalifiziert oder disqualifiziert werden, während gleichzeitig der ‚bloße Mensch‘ und das ‚bloß Menschliche‘ (das scheinbar von jeglicher Theatralität abgezogene ‚Menschsein‘) in einem moralischen Sinne hochqualifiziert wird.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Allerdings hat diese Entwicklung (wie Prozesse vergleichbarer Art) nicht nur einen zivilisatorischen und (d. h.) symbolisch-moralischen Charakter, sondern ist auch (und deswegen) in puncto Theatralität keineswegs nur negativ. Es gibt auch eine (gewordene und sich wandelnde) Theatralität der Würde, eine Theatralität der (Selbst-)Achtung und der Würdigung sowie eine systematische Theatralisierung der Würde in bestimmten alltäglichen und außeralltäglichen Kontexten. Man denke etwa an die psychologisch-therapeutische und die massenmediale Bekenntnis- und (Person-)Spiegelungskultur mit ihren (psycho-)dramatischen Ritualen und Praktiken (vgl. Yalom 1974; Willems/Hahn (Hg.) 1999).363 Neben und mit dem Aufstieg der (Zivilisations-)Moral und der Praxis der Würde, der systematisch viel mit Zivilisierungsprozessen und (als) Individualisierungsprozessen zu tun hat, ist hier noch ein ganzer Komplex anderer – damit zusammenhängender oder verwandter – kultureller Entwicklungen und Dispositionen von Bedeutung. Kosmologische Orientierungen/Semantiken, Werte, Lebensphilosophien und Handlungsmodelle wie Natürlichkeit, Ehrlichkeit, Spontaneität und Authentizität oder Sachlichkeit implizieren – auch – Disqualifikationen, Umwertungen, Abwertungen und Blockaden von Theatralität oder ziehen sie nach sich. In diesen Rahmen gibt es auch und gerade in der ‚Inszenierungsgesellschaft‘ – und in gewissen Spannungsverhältnissen zu ihr – Inszenierungs- und Performance-Verbote (oder entsprechende Verpöntheiten) und Sanktionen gegen diejenigen, die sie tatsächlich oder scheinbar missachten. Alle diese Kultur(prozess)bedingungen bringen aber immer auch neue und besondere Formen von Theatralität und Theatralisierung mit sich: etwa eine Theatralität der Sachlichkeit oder die Kunst sich zu ‚stylen‘ und dabei ‚natürlich‘ zu wirken und sich ‚natürlich‘ zu fühlen. ‚Theater‘ und Theatralität haben also unter modernen (Kultur-)Bedingungen und gerade in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ keineswegs überall, immer und bei allen einen guten Ruf oder auch nur die mindeste soziale Grundlage und müs363 Mit dieser oder jener Enttheatralisierung sind natürlich weder die Moral der Ehre noch die theatrale (Status-)Symbolik des ‚Wappenschilds‘ abgeschafft. Vielmehr leben sie nicht nur in alten, sondern auch in neuen Formen fort (vgl. Vogt 1997) und werden in diesen teilweise forciert. Wenn sich auch im Großen und Ganzen die symbolischen und (damit) theatralen Kontraste zwischen den ‚Menschen‘ und insbesondere zwischen den sozialen Schichten/Klassen verringert haben, wie (schon) Elias behauptet hat, so haben sich doch auch neue (status-)symbolische Unterschiede und Ausdrucksformen der Unterscheidung (Distinktion) entwickelt und etabliert, die mit entsprechender Theatralität und Theatralisierung einhergehen. Die gerade in der jüngeren Vergangenheit inflationierenden (Medien-)Ehrungen, (medialen) Ehrungszeremonien und Ehrenzeichen, die von immer mehr Ehrungssubjekten an immer mehr Ehrungsobjekte vergeben werden, sind ein Beispiel und ein Beleg dafür sowie auch für eine gewisse Renaissance und (Re-)Theatralisierung von Ehre in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sen sich, was wiederum eigentümliche Formen von Theatralität auf den Plan ruft, vielfach verbergen, um akzeptabel oder erfolgreich sein zu können.364 Es gibt eine Kultur der Theatralität, Kultur als Theatralität und Kulturentwicklung als Theatralisierung, aber es gibt zugleich (und aufgrund dessen) auch kulturelle Traditionen und (d. h.) Bewegungen der Anti-Theatralität und Anti-Theatralisierung. Nicht zuletzt sind es die gerade vom Mediatisierungsprozess forcierten Theatralisierungsdynamiken selbst, die entsprechende Abwehr- und Gegenreaktionen hervorrufen, z. B. (mediale) Diskurse der Anti-Theatralität, die als Faktoren der Enttheatralisierung wirken mögen. Traditionsreich und heute weit (noch weit oder weiter denn je) verbreitet sind jedenfalls – auch aus den besagten kulturellen Traditionsgründen erwachsende – ‚Kritiken‘ am (schönen) ‚Schein‘, an ‚Oberflächlichkeiten‘, am ‚Körperkult‘, an ‚Modediktaten‘, an der Reklame, an ‚Showpolitikern‘ usw. – mitsamt Theatralitäten der Antitheatralität, wie etwa (auch milieuspezifischen) Kultivierungen von Schlichtheit.365 Bemerkenswert sind hier auch Traditionen der medialen Entlarvung (und Theatralitäten der medialen Entlarvung), die gerade die dramatischsten und oft die symbolisch gehaltvollsten Formen von Theatralität konterkarieren und unterminieren. Eine andere Seite der ‚Negativität‘, von der oben die Rede war, bilden symbolische (Norm-)Verletzungen und Desorganisationen bzw. Anomisierungen, speziell die – wiederum zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch signifikanten – Verhaltens- und Handlungsweisen, die Johannes Weiß im Zusammenhang einer kulturkritischen Zeitdiagnose mit den Begriffen „Gewöhnlichkeit“ und „Vergewöhnlichung“ belegt hat (Weiß 2003: 224 f.).366 Demnach machen sich im öf-
364 Dies gilt natürlich speziell für die Bereiche, in denen ‚persönliche Glaubwürdigkeit‘ zentral ist und auf dem Spiel steht: persönliche Beziehungen und Intimität, aber auch die Felder der Religion, der Kunst oder der Politik. ‚Schauspieler‘ sind hier vermutlich besonders verbreitet, jedoch ist das Image des Schauspielers nicht beliebt (oder besonders unbeliebt). Das Etikett der Schauspielerei kann sich hier sogar zu einer Art Stigma verdichten. Bekannte Beispiele dafür sind die Politiker Möllemann und Schröder, deren Gegenspieler eine entsprechend negative Image-Arbeit betrieben haben, also eine strategische Theatralität der Erzeugung von ‚Minuspunkten‘. Umgekehrt gab und gibt es aber auch eine Tradition der Disqualifikation von Politikern durch die Zuschreibung (und eine Theatralität der Zuschreibung) von (theatraler) ‚Blödigkeit‘. Kohl, Scharping oder Beck sind Beispiele dafür, wie sich negative Image-Arbeit gegen Politiker an Aspekten von angeblich defizienter (negativer) Theatralität festmachen kann. In diesem wie in jenem Zusammenhang haben sich regelrechte Diskurse entfaltet, hinter denen natürlich auch Strategien in (Macht-)Kämpfen standen und stehen. 365 Ganz abgesehen von extremen Subkulturen wie den Punks (s. o.). Vgl. dazu im Kontext der Werbungskopie solcher Modelle Willems/Kautt (2003: 197 ff.). 366 Weiß spricht von „sozial-moralischer Verwahrlosung“ und sieht im „Schwein“ eine Art neues kulturelles Paradigma für weite Teile der Bevölkerung (vgl. Weiß 2003: 224 ff.).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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fentlichen Leben zunehmend nicht bloß ‚informelle‘ und „nicht bloß distanzlose, sondern rüd-primitive Umgangsformen breit“. Vor allem im Fernsehen, lasse sich ein Prozess der „Entsublimierung und Entintimisierung, der hemmungslosen Selbstenthüllung und Selbsttrivialisierung beobachten. ‚Gewöhnlichkeit‘ im Sinne zivilisatorischer und moralischer, aber auch rein intellektueller Anspruchslosigkeit“ (ebd.: 224) präge immer mehr alltagsweltliche bzw. massenmediale Sinn- und Handlungsorientierungen. Wie immer man zu dieser Diagnose und zu ihrer Fundierung im Einzelnen und im Ganzen steht, tatsächlich sind vor allem medien-kommerziell induzierte und ‚gepflegte‘ Formen der Abweichung von symbolischen (Interaktions-)Ordnungsnormen und von entsprechenden Standards der ‚Performance‘ kaum zu übersehen und mindestens als ein aktueller (Medien-)Trend einzustufen. Die Massenmedien bzw. das ‚Leitmedium‘ Fernsehen liefern gerade mit neueren Unterhaltungsformaten offenbar nicht nur immer zahlreichere, sondern auch in der Tendenz immer krassere Beispiele für symbolische Rahmenbrüche und (ernste) Spiele mit symbolischen Grenzen, die zwar nicht immer schon, aber doch immerhin einmal verbindlich oder sogar geheiligt waren. Was sich damit zeigt, ist allerdings nicht nur ein Formenkreis von symbolischen Verletzungen und Ordnungswidrigkeiten, ist nicht nur Abweichung, Desorganisation oder Anomie und insofern ein gewisses Spektrum der Enttheatralisierung, sondern auch und wiederum ein neues ‚Theater‘ und eine neue Theatralisierung, die mit einem vorausgehenden und folgenden Mentalitätswandel bzw. einer kosmologischen Normalisierung bestimmter Denk- und Handlungsweisen einhergehen mag. Es geht ja in diesem Zusammenhang jedenfalls hauptsächlich um strategisch inszenierte Überschreitungen, Verletzungen und Zerstörungen ritueller Ordnungsformen: die von Goffman (1977b) so genannten „negativen Erfahrungen“, die bezeichnenderweise in verschiedenen televisionalen ‚Shows‘367 systematisch generiert werden. Das Selbst, das ‚Image‘ von Menschen, wird in diesem Rahmen zu Zwecken der (Medien-)Publikumsunterhaltung aufs Spiel gesetzt, heruntermoduliert oder destruiert (durch Beleidigung, Beschmutzung, Verspottung
367 Man denke etwa an ältere ‚Reality-Shows‘ wie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus !“ (RTL) oder an neuere ‚Casting-Shows‘ wie „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL). Die Inszenierungslogiken und (d. h.) symbolischen Themen dieser Show-Formate ähneln sich, sind aber auch gewissermaßen komplementär. Während man in der Casting-Show beobachten kann, wie ‚Alltagsmenschen‘, die ‚Stars‘ werden wollen, regelmäßig mehr oder weniger ‚negative‘ Erfahrungen machen und unter ein symbolisches Normalitätsniveau absinken, sieht man im ‚Dschungel-Camp‘, wie (gewesene) ‚Stars‘ degradiert werden und ihr Image gegen rituelle Verletzungen zu verteidigen und wiederaufzubauen versuchen.
384
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
usw.). Auch in diesem Fall kann (oder sollte) also von Theatralität und Theatralisierung die Rede sein, auch wenn damit sozusagen die Theatralität des Selbstes geopfert und auf diese Weise ein bestimmtes zivilisatorisches (Norm-)Niveau unterschritten wird, nämlich das Niveau der Würde. Die Massenmedien (und gerade auch das Internet) erscheinen in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur als soziale (Haupt-)Bühnen und Schauplätze (von ‚negativer Theatralität‘ und Enttheatralisierung), sondern auch, wie im Falle der beschriebenen Theatralisierungen, als ein Feld, das in Verbindung mit anderen Feldern und durch die spezifischen Figurationen, die Medien mit Akteuren/Publika bilden, als zivilisatorischer Faktor, Generator oder Degenerator wirken kann. Hier zeigt sich zunächst ein fundamentaler, zivilisatorisch hoch relevanter Aspekt und Effekt von (Massen-)Medientheatralität auf der Ebene der ‚Wahrnehmung‘ (des Publikums): Indem die Medien und die medialen Performanzen die ‚Interaktionsordnung‘ mit ihren (habitualisierten) Normen und Ritualen gewissermaßen überspringen, schaffen sie eine Art psycho-sozialen Freiraum, einen ‚rituellen Grenzbereich‘, der von der spezifischen symbolisch-moralischen (zivilisierten) Restriktivität der unmittelbaren Interaktion im Prinzip frei ist. Mit dieser medienimmanenten „Herabsetzung von Schamschwellen“ (Weiß 2003: 225) wirken die Gesetze des (Medien-)Marktes, und d. h. auch die Empfänglichkeiten und Nachfragen von Publika, in derselben Richtung zusammen. Der Markt bedient im Prinzip alle Publikumsemotionen/Publikumswünsche (ökonomisch naheliegenderweise am liebsten massenhafte), so dass sich hier ein (auch) am Begriff der Enttheatralisierung festzumachender (de-)zivilisatorischer Zusammmenhang zwischen Medium und Markt, Medien und Märkten ergibt. Ähnlich wie Bourdieu (1998) stellt Weiß vor diesem Hintergrund für das „auf Massenbedürfnisse abstellende“ Fernsehen fest, dass es „den einen (wenigen) ganz unerhörte Profitchancen bietet, den anderen (vielen) unerhörte Möglichkeiten des leicht erreichbaren und in jeder Hinsicht billigen Vergnügens, aber auch der Identifikation, der Selbstversicherung und sogar der Selbsterhebung“ (Weiß 2003: 225 f.).368 In der hier gemeinten – negativen – Theatralität steckt also auch ein durchaus positiver Sinn für ein Publikum (oder bestimmte Publika), dem sozusagen mit Vorliebe verführerische (Sinn-)Angebote gemacht werden. Diese Theatralität fungiert damit gleichsam als (selektiver) Geschmacks- und Bedürfnisspiegel und zugleich als Organ der Befriedigung sowie in gewisser Weise als (selektiver) Geschmacks- und Bedürfnisverstärker.
368 Weiß konstatiert (also) eine mit Prozessen der Medienkommerzialisierung und Medientheatralisierung zusammenhängende und in solchen Prozessen implizierte kulturelle ‚Abwärtsspirale‘.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
385
Bereits diese wenigen und kurzen, der Einführung und Veranschaulichung dienenden Bemerkungen zeigen ein recht komplexes, vielseitiges und ambivalentes Bild von den zu untersuchenden und zu konzeptualisierenden Tatsachen. Nicht nur gibt es demnach eine prinzipielle Ambivalenz im Verhältnis von Theatralisierungs- und Enttheatralisierungsprozessen, sondern diese Prozesse sind auch in sich uneinheitlich, heterogen und verweisen immer wieder auf ihr Gegenteil. Die damit verbundenen Schwierigkeiten der Deutung, Einschätzung und Beurteilung verstärken sich noch, wenn man bedenkt, dass die hier thematischen (Entwicklungs-)Tatsachen, z. B. Informalisierungen des Benehmens oder aber auch entgegengesetzte formalistische/normalistische Grenzziehungen, auch eine Frage des mehr oder weniger kurzfristigen und flüchtigen ‚Zeitgeistes‘ oder der Mode sind. Die Konzepte der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung erweisen sich dementsprechend zwar auf der deskriptiven Ebene als durchaus hilfreich, aber sie reichen schon auf dieser Ebene nicht hin und führen erst recht nicht zu einem darüber hinausgehenden Verständnis oder gar zu einer Erklärung der von ihnen gefassten Phänomene. Um aus der Unterscheidung von Theatralisierung und Enttheatralisierung eine soziologisch haltbare und leistungsfähige Unterscheidung zu machen, bedarf es eines entsprechend komplex strukturierten theoretischen Unterbaus, wie ihn der skizzierte und noch (weiter) zu entwickelnde Ansatz der Figurationssoziologie darstellt. In diesem Rahmen, im Licht der figurationssoziologischen Perspektive, Begriffsapparatur und Gesamtvision, kann dann sozusagen eine Gesamtschau und auch eine Synthese oder Gesamterklärung jener (Entwicklungs-)Realitäten angestrebt werden, die im Folgenden eher in einem Vorstadium figurationssoziologischer Reflexion, in einer katalogartigen Skizze zusammen- und vorgestellt werden. Worauf es in der (Gegenstands-)Theoriebildung schließlich ankommt, ist der Zusammenhang nicht nur bestimmter historischer Entwicklungen und Trends, sondern auch der Zusammenhang ihrer sozio-kulturellen Bedingungen und Faktoren, Gründe und Hintergründe.
7.5
Sozio-kulturelle Bedingungen und Faktoren von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
Die Figurationssoziologie und speziell die (figurationssoziologische) Zivilisationstheorie liefern in diesem Zusammenhang also nicht nur einen allgemeinen Ansatz (Rahmen), sondern auch konkrete theoretische Hinweise und Deutungen, die eine soziologische Theorie der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung anleiten und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
bilden oder zu ihrer Bildung beitragen können. Hypothetisch als zentral zu veranschlagen sind einige miteinander verknüpfte und voneinander abhängige Prozesse (und damit Strukturgenesen), die in Elias’ ‚historischer Gesellschaftspsychologie‘ als Faktoren oder ‚Motoren‘ der modernen Sozio- und Psychogenese erscheinen oder die sich in diesem Rahmen verorten lassen. Einige dieser Prozesse werden im Folgenden genannt und in aller hier gebotenen Kürze ausgeführt. Damit werden auch systematische Abhängigkeiten, Konditioniertheiten und Generiertheiten von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung bzw. von Ambivalenzen zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung deutlich. Deutlich zu machen ist aber auch, dass (Ent-)Theatralisierungsprozesse nicht nur anderen Prozessen (Differenzierung, Vermarktlichung, Enttraditionalisierung, Verwerblichung, Individualisierung etc.) gleichsam aufsitzen, innewohnen oder anhängen, sondern auch eine eigene sozio-kulturell generative und bestimmende Bedeutung und Kraft besitzen. Mit Theatralisierung meine ich – und deswegen ist dieser Begriff hier der Schlüsselbegriff – wesentlich diesen Punkt: im Zuge der modernen Gesellschaftsentwicklung vollzogene und sich vollziehende Umstellungen von Mustern sozialer Praxis oder sogar der Konstruktionslogik der sozialen Wirklichkeit durch und auf (z. B. Medien-)Theatralität. Sie erlangt in vielen Formen und Bereichen sozusagen ein funktionales, praxis- und ordnungsbestimmendes Eigengewicht und wird zumindest zu einem maßgeblichen Faktor von Praxen und Ordnungen, auch von Identitäten. Wie gezeigt wurde, ist sie auch einer Reihe von Enttheatralisierungsprozessen über- oder zumindest nebengeordnet. Im Folgenden (und Geplanten) konzentriere ich mich also auf die jüngere – moderne – Gesellschaftsgeschichte und auf bestimmte länger- oder langfristig zu verzeichnende Entwicklungstendenzen. In der Rekonstruktion dieser Tendenzen zeigt sich neben ihrer empirischen Wichtigkeit und der damit gegebenen Wichtigkeit entsprechender Beschreibungsmittel schließlich auch, dass die Figurationssoziologie zwar theoretisch-empirische Fundierungen und Orientierungen einschlägiger soziologischer Untersuchungen bietet, dass sie aber auch selbst davon profitieren kann, wenn sie sich mit ihren Möglichkeiten den von jenen Beschreibungsmitteln gefassten sozio-kulturellen Phänomenen und den darauf bezogenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen stellt. Dann zeigen sich nicht zuletzt weitere begrifflich-theoretische Parallelen, Komplementaritäten und Anregungspotentiale, z. B. solche differenzierungs- oder medientheoretischer Art, die von größerer Bedeutsamkeit für die Entwicklung einer von der Figurationssoziologie ausgehenden synthetischen Soziologie sein könnten. In erster Linie geht es im Folgenden aber um theoretisch-empirische Fassungen von Bedingungen und Faktoren der (Ent-)Theatralisierung.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung 7.5.1
387
Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft
Einer der systematischen Zusammenhänge, die es hier zu beachten und zu untersuchen gilt, ist der Zusammenhang zwischen (Ent-)Theatralisierungsprozessen und der (Sozio-)Genese und Wandlung der modernen Gesellschaftsstrukturen. Mit ihren Differenzierungsformen und Differenzierungsfolgen, insbesondere mit ihrem Primat der funktionalen Differenzierung und ihrer strukturellen Komplexität, bedingt und erzeugt die moderne Gesellschaft sozio-kulturelle Verhältnisse, Anforderungs- und Problemlagen, die für die Realitäten der Theatralität spezifisch implikations- und folgenreich sind. Von offensichtlicher Wichtigkeit sind in diesem Zusammenhang die Formen und Inhalte der Rollen und Rollenhaushalte der Akteure sowie deren Einbettung in spezifische Handlungszusammenhänge. Die hier gemeinten sozio-kulturellen Differenzierungs- und Verflechtungsprozesse bedeuten zumindest tendenziell eine Komplexitätssteigerung, Diversifizierung, Dynamisierung und Mobilisierung der individuellen Rollenhaushalte mit Implikationen von und für Theatralität und Theatralisierung. Solche Implikationen liegen z. B. in der strategisch-dramaturgischen Handhabung von systematisch wahrscheinlich gewordenen Rollenkonflikten oder in den differenzierungs- und mediatisierungsbedingten Netzwerken, die eine eigene Art von (Netzwerk-)Theatralität mit sich bringen. ‚Networking‘ impliziert wesentlich die Theatralität der Image-Arbeit, die heute natürlich weitgehend über (Verständigungs-)Medien läuft und der mit dem Internet eine ganz neue Dimension von Möglichkeiten (Chancen, Risiken) und Zwängen zugewachsen ist. Ein strukturbedingter und strukturerzeugter Faktor von Theatralität und Theatralisierung besteht auch in der „generalisierten Fremdheit“ (Hahn 2000: 54). Sie impliziert einen mit Differenzierungsprozessen wachsenden (Spiel-)Raum der (Des-)Informierbarkeit und Informationsbedürftigkeit sowie einen Zwang zur (Des-)Information durch Präsentation, Performanz und Inszenierung. Zu unterscheiden sind hier zwei Formen von Fremdheit, nämlich einerseits Fremdheit in der Form des einfachen Nichtwissens, der bloßen Abgeschnittenheit von (z. B. biographischen) Informationen, die man prinzipiell verstehen kann, und andererseits Fremdheit in der Form des Nichtverstehens bzw. Nichtverstehenkönnens aufgrund von z. B. spezialisierungsbedingten Wissensasymmetrien bzw. Inkompetenzen. Beide Fremdheitsformen gewinnen im Modernisierungsprozess systematisch an Bedeutung – mit der Implikation von Erfordernissen, Zwängen und Spielräumen, wahre und unwahre Eindrücke zu erzeugen, andere zu ‚entfremden‘, sie ‚ins Bild zu
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
setzen‘ und/oder ihnen etwas vorzumachen, sie mit Wahrheiten, Halbwahrheiten oder Unwahrheiten (für sich) ‚einzunehmen‘.369 Es entsteht und besteht damit auch ein systematischer Zusammenhang zwischen Theatralisierung und Fiktionalisierung (inklusive Illusionierung). Die ‚Konstruktion von Wirklichkeit‘ ist heute mehr und vielfältiger denn je eine theatrale Erzeugung von Fiktionen, die Fremdheiten, und d. h. Realitätsverluste, funktional kompensieren und (aus-)nutzen.370 Entsprechend stark, gezielt und bewusst muss die Publikumsorientierung der Akteure werden, die ihre Publika mit zunehmender Differenzierung und Diversifizierung immer weniger einfach voraussetzen können und immer mehr dazu gezwungen sind, sie bzw. ihre relevanten Perspektiven zu ‚recherchieren‘, um das Design der eigenen Theatralität angemessen einzustellen. Umgekehrt muss es denjenigen, die auf diese Weise adressiert werden, naheliegen, sich gegenüber der ihnen dar- oder angebotenen Theatralität bewusst, reflexiv, relativierend und u. U. vorsichtig zu verhalten. Dieselben Strukturbedingungen, die den genannten Theatralisierungen zugrunde liegen, haben gleichzeitig ein Bewusstsein von und für Theatralität zur Folge. Man versteht seine soziale Welt umso mehr in theatralen Kategorien oder als eine Art Theater, je mehr man gezwungen ist, sich in immer mehr, immer diversere, immer schneller aufeinander folgende ‚Kontexte‘ (Anlässe, Settings, Rahmen) ‚einzuspielen‘ und zugleich geradezu aufgerufen ist, ‚aufzuspielen‘ und ‚sich aufzuspielen‘. Theatralität wird dann im Einzelnen unselbstverständlicher, (kontingenz-)bewusster und reflektierter – unter anderem mit der Konsequenz, dass das Deutungsmuster Theatralität (das kosmologische Theatermodell) an Plausibilität und Resonanz gewinnt. Hinzukommt, dass mit der sozialen Differenzierung zugleich die kulturelle Differenzierung der – insbesondere medialen – Sinnwelten fortschreitet, in die man sich ‚hineinsteigern‘ muss oder will. Auch dieser realen Theatralisierung des Lebens, der Pluralisierung der gespielten, zu erlebenden und zu spielenden ‚Stücke‘, korrespondiert ein forciertes Theatralitätsbewusstsein und ‚theatrologisches‘ Denken der Akteure. Die Entwicklung des Internets hat den hier 369 Dies ist auch einer der (wissens-)strukturellen Voraussetzungen und Hintergründe der insbesondere von Goffman fokussierten Tendenz des (Inter-)Akteurs, sich selbst in das (sozial) ‚beste Licht‘ zu rücken (vgl. z. B. Goffman 1969). 370 Eine systematische Rolle spielt hier die professionelle Werbung. Sie kann und soll neben Aufmerksamkeit Image erzeugen und Produkte „individualisieren“ (Schmidt 1995a: 31), ihnen eine „Persönlichkeit“ (Kroeber-Riel 1988; 1993) geben. Werbung ist also auch ein symbolischer Sinngenerator, der mit der entsprechenden Aufladung des beworbenen Objekts bzw. mit „ideellem Mehrwert“ (S. J. Schmidt) Konsummotive und Konsumerlebnisse erzeugt. Das Vermögen, in diesem Sinne zu fungieren und ganz allgemein Image-Arbeit zu leisten, macht Werbung zu einer der wichtigsten Stützen, ‚Betriebssysteme‘ und Kriseninterventionsressourcen der Wirtschaft.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
389
gemeinten Prozessen zweifellos einen starken Schub gegeben und sie punktuell in qualitativen Sprüngen fortgeführt (vgl. Willems (Hg.) 2008b). Die andere Seite der Medaille besteht in gegenläufigen Entwicklungen: Enttheatralisierungen. Sie liegen z. B. in strukturbedingt erweiterten Möglichkeiten, sich der Teilnahme an bestimmten ‚Theatern‘, Inszenierungen, Präsentationen und Performances zu entziehen, ‚Theater‘ oder Bühnen zu relativieren oder zu meiden oder ‚Hinterbühnen‘ (die allerdings auch Bühnen sind) zu organisieren. Es gibt insbesondere auch strukturbedingte Relevanzverluste einzelner Formen von Theatralität, Indifferenzen gegenüber eigener und fremder Theatralität, z. B. auf der Ebene der rituellen Interaktionsordnung, sowie ein systematisches Scheitern von Theatralität an strukturbedingten oder strukturerzeugten Wahrnehmungsverhältnissen. Insbesondere die allgemeinen und speziellen Reiz- und Informationsüberflutungen reduzieren die Aussichten, z. B. von Werbungsperformanzen, in der Wahrnehmung eines adressierten Publikums überhaupt oder so wie beabsichtigt ‚anzukommen‘. Auch in dieser Hinsicht kann man von strukturbedingter oder strukturerzeugter Enttheatralisierung sprechen.
7.5.2
Funktionale (Aus-)Differenzierungen und Spezialisierungen von Theatralität
Eine besondere und besonders wichtige Rolle spielt hier – im Zusammenhang mit den genannten Differenzierungsprozessen – die funktionale Ausdifferenzierung und zugleich die kontinuierliche Expansion von sozialen Figurationen/Feldern, Branchen, Organisationen, Betrieben, Rollen und Professionen, die mehr oder weniger hauptsächlich Aspekte oder ganze Komplexe von Theatralität darstellen, produzieren und/oder bedienen. Heute gibt es mehr denn je Bereiche, Berufe und Aktivitäten, die direkt oder indirekt mit Theatralität bzw. diesbezüglichen Aspekten zu tun haben. Man denke nur an die massive und fortschreitende Expansion der Massenmedien und des Internets (Werbung, Journalismus, Unterhaltung), die mit einer immer weiter anschwellenden Flut von immer spezialisierteren Professionen und Leistungen einhergeht. Nie zuvor gab es so viele und so verschiedenartige Schauspieler, Moderatoren, Drehbuchautoren, Fotographen, Filmer, Reporter, ‚Comedians‘, ‚Talkmaster‘ usw. Von besonderer Bedeutung sind hier natürlich die selbstständigen Spezialanbieter von Theatralität bzw. von theatralen Ressourcen und ‚Infrastrukturen‘. Die heute bereits gigantischen und zumindest teilweise immer noch wachsenden
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Bereiche der Werbung, der Marktforschung, des (speziell Event-)Marketings, der Beratung, der „Wartung“ (Goffman 1969), des ‚Trainings‘ und ‚Coachings‘ sind Faktoren diverser Theatralitäten, Theatralitätsaspekte und Theatralisierungen. Alle hier gemeinten Anbieter haben unter Marktbedingungen eine Tendenz dazu, den Bedarf anzuheizen und zu produzieren, zu dessen Deckung sie sich empfehlen und dienen wollen. Theatralität wird damit zu einem Dienst, der als spezialisierte Leistung zur Expansion wie auch zur Perfektion und zur Virtuosität tendiert. Darin liegt auch – wiederum mit Theatralisierungseffekten – eine Orientierung, Motivation und Stimulation für jedermann, der sich z. B. an den Idealvorgaben und Stilisierungen der Werbung ausrichten kann. Des Weiteren und damit einhergehend zeigt sich eine über die verschiedenen sozialen Figurationstypen/Felder hinweg generalisierte Tendenz zur Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Intensivierung theatraler Funktionen. Sie beginnen heute bei jedermanns Homepage und enden bei den entsprechenden Abteilungen und Rollengefügen großer Organisationen, die heute mehr denn je auf der Basis interner und externer Ressourcen und Spezialisten (‚Pressesprecher‘ usw.) Wert auf außen- und innenorientierte Image-Arbeit legen und legen müssen. In diesem Zusammenhang beachtenswert ist auch, dass sich bei beinahe jedem Beruf eine spezielle dramaturgische Seite ausprägt und/oder verstärkt – nicht zuletzt im obligatorischen Dienst irgendeiner ‚Corporate Identity‘, in deren Rahmen man sich zu stellen und die man buchstäblich zu verkörpern hat. Dementsprechend muss sich ein praktisches Theatralitätsbewusstsein der Akteure (weiter) generalisieren, schärfen und inhaltlich pluralisieren.
7.5.3
Desorganisationen, Kontingenzen und Anomisierungen
Nicht nur bestimmte soziale Strukturbildungen, (Aus-)Differenzierungen und Verflechtungen, sondern auch gegenteilige und gegenläufige Prozesse der sozialen bzw. kulturellen Desorganisation und Öffnung, der Entstrukturierung, Entdifferenzierung, Entflechtung fordern und fördern Formen von Theatralität und Theatralisierung. In dem Maße wie Kontingenz und Anomie, wie Unbestimmtheit, Offenheit, Veränderlichkeit, Orientierungslosigkeit zur modernen ‚Zeitsignatur‘ geworden sind und werden, wie sich institutionelle, traditionale und habituelle Ordnungen und Bindungen lockern oder auflösen, entstehen auch theatrale Handlungsspielräume, Handlungserfordernisse und Handlungszwänge für kollektive und individuelle Akteure. Sie haben es nicht nur bezüglich aller Aspekte von Theatralität in den verschiedensten Daseins- und Handlungsbereichen mit Optionen,
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Unsicherheiten, Entscheidungs- und Gestaltungszwängen zu tun, sondern sie werden auch, indem sie überhaupt zunehmend freigesetzt werden, verstärkt unter den Zwang und den Druck gesetzt, ihre Spielräume und Freiheiten mit Theatralitätsmitteln371 sinnvoll zu gebrauchen und in den sich erweiternden Spielräumen auch tatsächlich zu ‚spielen‘. Mit der Implikation einer entsprechenden Bewusstheit, Reflexivität und Motiviertheit wird Theatralität heute also auch von dieser Seite mehr denn je angefordert, herausgefordert und zur Disposition von Akteuren gestellt, die bestimmte Erfolge bei bestimmten Publika erzielen wollen, sollen oder müssen. Theatralität ist im Zusammenhang der hier gemeinten Entwicklungen und Wandlungen also ein sozial generiertes und kodiertes Potential von Akteuren und auch so etwas wie eine systematische, soziale Problemlösung – ein sozialer Ordnungsersatz und ein Unordnungskompensativ. Eine Schlüsselrolle spielen in diesem (Doppel-)Sinne Formen strategischer Theatralität, die zumindest teilweise an die Funktionsstelle von sozialen (institutionellen, traditionellen) Strukturen treten und ‚Kontingenzen reduzieren‘ können. So kann und muss es in vielen Handlungsbereichen mittels strategischer Theatralität darum gehen, mehr oder weniger entbundene und ungebundene (freie) andere zu einem bestimmten gewünschten Verhalten zu veranlassen bzw. für etwas (Angebote, Absichten, Ideen, Programme usw.) zu gewinnen. Im Spiel ist damit und auf dem Spiel steht damit auch Macht. Sie war und ist immer eine Bedingung, aber sie wird auch zunehmend zu einer Funktion und einem Effekt von Theatralität. Im Bereich des Politischen z. B. ist offensichtlich, dass mit Entwicklungen wie der Differenzierung und Individualisierung von Lebensstilen, der Verflüssigung von Weltanschauungen/Ideologien oder der tendenziellen Erosion gewachsener Partei- und Lagerbindungen eine Theatralisierung und insbesondere eine strategische Theatralisierung des Denkens und Handelns der politischen Akteure einhergeht und einhergehen muss. Geltung, Zustimmung und Anschluss kann und muss heute mehr und kontinuierlicher denn je (nicht nur zur Wahlzeit) gegenüber dem (jeweils) relevanten Publikum und von diesem durch Theatralität erworben werden. Sie nutzt und reduziert sozusagen Kontingenz und fungiert (damit) auch als ein sozialer Sinn- und Realitätsgenerator, dessen Erzeugnisse eine (wenn auch eher fragile) Machtladung haben. Ähnlich stellt sich die Lage im religiösen Bereich dar. Auch hier ist ja die Zeit traditioneller, verbindlicher, allgemein ‚überzeugender‘ und (ver-)bindender Glaubenssysteme und entsprechend selbstverständlicher Identifikationen und Verankerungen im sozialen (Kirchen-)Raum längst vorbei. Auch auf diesem Feld kann 371 Also: mit Inszenierungen, Performanzen/Performances, Präsentationen, Korporalität.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
auf der Seite des Publikums immer weniger vorausgesetzt und muss auf Seiten der Akteure immer mehr durch Darstellung (Inszenierung, Performanz) hergestellt werden. Ähnlich wie in den politischen müssen in den religiösen Sinnvermittlungen und Sinnvermarktungen Publika zunehmend flexibel adressiert, affiziert und impressioniert werden: durch ‚ansprechende‘ Gestaltung (Formulierung) der ‚Botschaften‘372 und der Zeremonien, durch (deren) Eventisierung, durch besondere Freundlichkeit und Zuwendung des Personals, auch (und zunehmend) durch Inanspruchnahme professioneller Werbungsdienstleister, die bekanntlich dazu tendieren, vor keinem theatralen Aspekt Halt zu machen und jeden solchen Aspekt nutzen zu wollen. Ein anderes hier exemplarisches und besonders interessantes Feld sind jedermanns ‚persönliche Beziehungen‘, einschließlich Intimbeziehungen, die heute bekanntlich mehr denn je frei sind, unter Markt- und d. h. auch Knappheitsbedingungen (Konkurrenzbedingungen) zustande kommen und sich unter diesen Bedingungen bewähren müssen. Sie müssen, genauer gesagt, generiert und permanent (bewusst) ‚gepflegt‘ werden – auch weil sie heute tendenziell unter besonders hohem (symbolischem) Anspruchsdruck stehen und zugleich im Prinzip permanent zur Disposition stehen, weil sie für immer mehr Menschen immer leichter wählbar und abwählbar (geworden) sind.373 Entsprechend muss man in diesem Feld Theatralität und in Theatralität investieren, insbesondere in symbolische/rituelle Theatralität, in Performance, rituelle Bedürfnisbefriedigung, Imagepflege, Korporalität usw.374
372 Zum Beispiel in den Varianten, die im „Wort zum Sonntag“ verkündet werden. 373 Ein interessanter Sonderfall sind Eltern-Kind-Beziehungen. Auch sie leben im heutigen (Mittelschichts-)Normalfall zunehmend von persönlicher Zustimmung und Anerkennung (auch ‚Autorität‘), die durch gewisse Formen von Theatralität – vor allem seitens der Eltern – zu ‚erwerben‘ ist. Mit der Symmetrisierung und Verfreundschaftung der Eltern-Kind-Beziehungen geht ihre oder eine Theatralisierung einher. 374 Oder man nehme das heutige Feld der ‚posttraditionalen Gemeinschaften‘ (Freizeitgemeinschaften) als Beispiel. Auch hier ist Freiheit, Wählbarkeit und Abwählbarkeit, ist Kontingenz ein systematisches (‚System-‘, Bestands-) Problem (geworden) und Theatralität eine unverzichtbare Strategie, es zu bearbeiten, nämlich Anschluss, Bindung und Integration von Mitgliedern zu fördern und zu stabilisieren. Denn diese (neue oder erneuerte) Art von Gemeinschaft kann ihre Mitglieder „nicht über das hinaus verpflichten, was diese sich je individuell als Verpflichtung selber auferlegen. Sie kann Mitgliedschaft nicht erzwingen, sondern lediglich zur Mitgliedschaft verführen (…). Sie besitzt nur Autorität, weil und solange ihr Autorität zugestanden wird“ (Hitzler 1998: 5). Mitgliedschaft und Partizipation müssen in diesem Kontext also permanent erworben, unterstützt und gestützt werden; sie sind immer auch und immer mehr eine Funktion von Inszenierungen und Performanzen/Performances und damit von Akteuren, die sie veranlassen oder mitveranlassen müssen und wissen, dass sie das und wie sie das tun müssen.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Generell kann man feststellen, dass Theatralität (theatrale Formen, Handlungsbeiträge und ‚Handlungskünste‘) in einer Gesellschaft, die wesentlich und zunehmend von Unbestimmtheiten (Kontingenzen, Unsicherheiten, Anomien) bestimmt wird und ihre Felder und Akteure/Mitglieder wesentlich und zunehmend durch Unbestimmtheiten bestimmt, als Strukturierungs- und Ordnungsfaktor sowie als Sinn- und Handlungsressource375 ersten Ranges fungiert. Theatralisierung ist – auch – insofern eine direkte Funktion gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse bzw. eine Funktion von deren ‚Negativität‘.
7.5.4
Ressourcenverknappungen
Die Entwicklung der modernen Gesellschaft bzw. bestimmter gesellschaftlicher Felder und Handlungsbezirke geht mit systematischen Knappheiten und Verknappungen von Ressourcen einher, die Aspekte von Theatralität betreffen und auf den Plan rufen. Einige dieser knappen und sich verknappenden Ressourcen seien in ihrem Zusammenhang mit Theatralitäts- und Theatralisierungsaspekten kurz angesprochen: Aufmerksamkeit, Image, Glaubwürdigkeit und Gedächtnis. Aufmerksamkeitsknappheit ist geradezu ein Charakteristikum zentraler (Kommunikations-)Bereiche der ‚Gegenwartsgesellschaft‘, ja dieser Gesellschaft im Ganzen. Als Einschränkung und Grenze der Erfolgswahrscheinlichkeit von Handlungen und Handlungsstrategien stellt diese Knappheit ein Problem dar und wird von den Akteuren als Problem und Aufgabe wahrgenommen und bearbeitet. Vielfache und berechtigte Rede ist heute von Aufmerksamkeit als knappem Gut, von Ökonomien der Aufmerksamkeit und von (Konkurrenz-)Kämpfen um Aufmerksamkeit. Dass diese Rede auf Realitäten verweist, nämlich z. B. auf informationelle Überkomplexitäten, Überlastungen und diversifizierte Resonanzbedingungen (Ansprechbarkeiten) von Publika, und dass diese Realitäten Theatralitäten verschiedener Art als Problemlösungen oder Problemlösungsversuche auf- oder hervorrufen, liegt mehr oder weniger auf der Hand. Wer als individueller oder kollektiver Akteur nicht ins soziale Nichts der Unauffälligkeit, des Nichtbemerktwerdens oder Nichtgemerktwerdens geraten will oder etwas geraten lassen will, der muss aktiv und d. h. performativ (auf sich und/oder etwas) aufmerksam machen. Alle Akteure, die für sich selbst oder stellvertretend für andere etwas durch Image
375 Auch: rituelle oder quasi-rituelle Ressource und „Kriseninterventionsressource“ (Roland Eckert).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und Meinung zu gewinnen und/oder zu verlieren haben376, haben also auch Motive und neigen dazu, als Kämpfer um Aufmerksamkeit und als Arbeiter an Aufmerksamkeit aktiv zu werden und d. h., sich eines Repertoires von Strategien und Methoden der Theatralität zu bedienen. Von diesen wird natürlich umso häufiger, variantenreicher, intensiver und bewusster Gebrauch gemacht, je mehr sich das Problem der Aufmerksamkeit generalisiert, verschärft, pluralisiert und als entscheidende soziale Erfolgsfrage praktisch aufdrängt. Die Problematik der Aufmerksamkeitsknappheit wird heute mit teils naiven, teils reflexiven und professionellen Strategien und Methoden bearbeitet, die als Formen oder in Bezug auf Formen von Theatralität zu ganzen, in einigen Grundformen felderübergreifenden Arsenalen gehören. Neuheit bzw. (Über-)Dramatisierung von Neuheit ist ein Beispiel für eine felderübergreifende Strategie der Aufmerksamkeitsgenerierung. Sie stellt ein probates Aufmerksamkeitsmittel der professionellen Wirtschaftswerbung dar, aber sie ist auch etwa in der Wissenschaft, in der Politik, in der Kunst und in allen massenmedialen Programmbereichen zu finden. Eine andere spezifisch theatrale/theatralische Methode der Aufmerksamkeitsgenerierung, die als Grundform ähnlich übergreifend und verbreitet ist wie jene, ist die Provokation. Auch sie spielt in der heutigen Wirtschaftswerbung, auf das sich dort dramatisch verschärfende Problem knapper Publikumsaufmerksamkeit reagierend, eine große Rolle (vgl. Jäckel/Reinhardt 2002; Willems/Kautt 2003). Und natürlich kennt man diese Methode auch aus den anderen genannten Bereichen und aus dem Alltagsleben jedermanns. In den sich vermehrenden, vervielfältigenden und verschärfenden Wettbewerben um die Erreichung, Bindung und Beeindruckung von Publika muss es also in erster Linie und permanent darum gehen, Aufmerksamkeit zu erheischen. Diese ist heute zwar vielfach keine hinreichende, aber normalerweise eine notwendige soziale Erfolgsbedingung. Das (kognitive) Aufmerksamkeitsproblem ist in gewisser Weise systematisch primär377, und es schiebt sich, durch die empirischen Entwicklungen der (Publikums-)Wahrnehmungskonditionen bedingt, immer mehr in den Vordergrund der praktischen Handlungsproblematik und auch des Problembewusstseins der Akteure (etwa in der Werbung, im Journalismus, in der Politik, in der Literaturproduktion). Die entsprechenden Kommunikationen bzw. Produkte, z. B. Medienprodukte, müssen also zunehmend aufmerksamkeitsökonomisch ge-
376 Politiker, Wissenschaftler, Künstler, Sprecher von ‚Randgruppen‘ etc., aber natürlich auch jedermann. 377 Ohne vorgängige Aufmerksamkeit des Publikums gibt es kein Verstehen, keinen ‚Eindruck‘ und damit keine Wirkungsmöglichkeit.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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staltet werden, d. h. von dem Bemühen geprägt sein, in der Wahrnehmung eines Publikums überhaupt und möglichst zielgenau ‚anzukommen‘.378 Auffallen und Gefallen fallen dabei als ‚Wahrnehmungsdimensionen‘ allerdings prinzipiell auseinander und bedürfen normalerweise einer – herzustellenden – Abstimmung oder funktionalen Zusammenführung. Mit dem Problem der Aufmerksamkeitsknappheit (und mit allen weiteren genannten Ressourcen und Knappheiten) mehr oder weniger eng verbunden oder jedenfalls mit ihm einhergehend ist die sich gleichfalls systematisch verschärfende Knappheitsproblematik des Verstehens, des Verstandenwerdens und (damit) der Verständlichkeit. Bedingungen wie die Differenzierung/Diversifikation der Kulturen (Subkulturen, Milieus, Spezialkulturen, Habitusformen, sprachlichen Kodes usw.), Individualisierungsprozesse und die Generalisierung von Fremdheiten bringen für alle sozialen Akteurtypen eigene Unwahrscheinlichkeiten, Schwierigkeiten und Probleme des Verstehens, des Verstandenwerdens und des Sich-Verständlichmachens mit sich. Umso mehr muss es jedenfalls in entsprechenden (vielen) Rollen darauf ankommen (und sich als Problem und Aufgabe aufdrängen), handlungsrelevante Fremdverständnisse herbeizuführen und zu kontrollieren und sich (oder andere) gegenüber relevanten Publika effektiv verständlich zu machen. Mit allen diesen Fällen kommen Formen und Aktivitäten von Theatralität ins Spiel und sind Theatralisierungseffekte verbunden – nicht zuletzt ein sich verbreitendes und schärfendes Bewusstsein von der Notwendigkeit, Verstehen und Verständlichkeit durch Formen von Theatralität (Ausdruckskontrolle, Inszenierung, Performance, Korporalität) zu generieren und (also) diesbezügliche (dramaturgische) Handlungskompetenzen zu bilden und anzuwenden. Eine weitere sich in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ in mancher Hinsicht zuspitzende Grundknappheit, die Theatralität und Theatralisierung ebenso betrifft wie hervorruft, besteht auf der Ebene spezifischer Images, nämlich von Images, die positiv symbolisch geladen bzw. moralgeladen sind. Solche Images sind sowohl Zweck und Selbstzweck als auch – unter Umständen strategisches – Mittel zum
378 Diese Praxis der Problembearbeitung trägt natürlich in einer Art von Spirale dazu bei, das bearbeitete Problem (der Aufmerksamkeitsknappheit) selbst zu verschärfen und damit wiederum Aktivitäten der Problemlösung anzuregen usw. Besonders deutlich zeigt sich das auf dem Feld der Massenmedien, wo die Erzeugung von Aufmerksamkeit von immer mehr Interessenten an Aufmerksamkeit und Nutzern/Verbrauchern von Aufmerksamkeit immer massiver, gezielter und methodischer betrieben wird – mit der Folge von immer knapper werdender Aufmerksamkeit und immer intensiver und innovativer werdenden Bemühungen um Aufmerksamkeit. Dass diese (Problem-)Spirale eine Produktivität und Dynamik von Theatralität, d. h. Theatralisierung, impliziert, ist offensichtlich.
396
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zweck. An den damit gemeinten Attributionen, Bewertungs- und Achtungstypen, die mit Begriffen wie Prestige, Ansehen, (guter) Ruf, Reputation, Autorität, Beliebtheit, Sympathie oder Charisma belegt sind, gibt es heute scheinbar auf allen sozialen (Feld-)Ebenen besonderes Interesse und besonderen objektiven und subjektiven Bedarf 379 – mit der Konsequenz von entsprechender Konkurrenz und von Arbeit mit dem Ziel, das jeweils knappe (Image-)‚Gut‘ zu erhalten und zu behalten. Auf einer grundlegenden sozialen Ebene geht es hier um – fremdheitsbedingt – zu füllende ‚Image-Informationslöcher‘, einen elementaren ‚Zwang zur Selbstdarstellung‘ (Goffman) und zur (Aus- und Um-)Definition, mit dem ein Zwang und ein naheliegender Wille jedermanns (und jedes anderen sozialen Akteurs) verbunden ist, ‚gute Eindrücke‘ zu machen, genauer gesagt, möglichst ‚gute‘ und (d. h.) bei bestimmten Publika zielführende ‚Eindrücke‘. Versucht wird dies in diverser und diversifizierter Theatralität im Prinzip mit allen erfolgversprechenden Mitteln für sich selbst und/oder andere (vgl. Weiß 1998). Es gilt, sozial relevante, und d. h. bewertungs- oder achtungsrelevante, Informationen je nach positivem oder negativem Effekt sichtbar oder unsichtbar zu machen, (demonstrativ) zu zeigen oder zu verhüllen, im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne Bilder von sich und anderen (Objekten) zu erzeugen und als bleibende und weiter wirkende ‚Eindrücke‘ zu hinterlassen. Image wird damit zum praktischen Schlüsselbegriff der Handlungsund Lebensführung, der, wie der der Performance380, eine Bewusstheit und Reflexivität anzeigt, für die wiederum die Begriffe Theatralität und Theatralisierung angemessen erscheinen. Und Image-Arbeit wird zu einer generalisierten und figurational spezialisierten Arbeit und Handlungskunst, auf die ‚man‘ spezialisiert ist und die auch immer häufiger von Spezialisten kontextspezifisch begleitet, unterstützt und elaboriert wird. In der Tat leben wir schon lange und zunehmend im „Zeitalter der Images“ (Boorstin 1987), der Image-Arbeiter und der Image-Theatralität, die auf entsprechende Knappheitsbedingungen reagiert und von ihnen angetrieben und angeleitet wird. Es liegt auf der Hand, dass diese Theatralität und diese Theatralisierung mit (Massen-)Medien und Mediatisierungen (Internetisierung), d. h. mit dem Aufkommen neuer Bühnen, Inszenierungs-, Performanz- und Publikumsformen, unter neue und spezifische aufmerksamkeits(knappheits)ökonomische Bedingungen geraten ist und (somit) insgesamt einen Schub erhalten hat. Was für Aufmerksamkeit, Verstehen/Verständlichkeit und Image gilt, gilt in
379 Auf der subjektiven Ebene ist dieser Bedarf gleichbedeutend mit einem Bedürfnis bzw. Geltungsbedürfnis. 380 Wie der Imagebegriff ist der Begriff der Performance bezeichnenderweise mittlerweile schon ein Jedermanns-, ja ein Kinderbegriff.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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ähnlicher Weise auch für Glaubwürdigkeit (Glaubwürdigkeitseindrücke). Sie – die Zuschreibung von Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit – ist zwar einerseits in vielen Bereichen und Hinsichten der modernen Gesellschaft mehr oder weniger überflüssig geworden, z. B. durch Geld, formalisierte Mitgliedschaft oder Verfahren. Sie ist aber andererseits in anderen Bereichen und Hinsichten immer noch, wieder oder sogar verstärkt erforderlich und eine systematisch knappe Ressource.381 Diesen Status hat Glaubwürdigkeit natürlich vor allem auf personalisierten, moralisierten und/oder charismatisierten Handlungsfeldern wie der Politik, der Religion, der Wissenschaft, der Kunst oder der Intimität. Der gesteigerte Bedarf an Glaubwürdigkeit und ihre Verknappung haben aber auch mit gesellschaftlichen Differenzierungs- und Komplexitätsimplikationen zu tun, insbesondere mit generalisierten Realitätsverlusten, Intransparenzen und Vertrauenszwängen, sowie mit entsprechenden (modernen) Mentalitätsmomenten wie einer generalisierten Neigung zum Verdacht, zum Misstrauen, zum Risikobewusstsein und zur Unterstellung von Eigennutz. Glaubwürdigkeit ist, gerade unter diesen Voraussetzungen, auch deswegen eine knappe Ressource, weil in vielen (und immer mehr) heutigen Handlungsbezirken mehr denn je Geltungen behauptet und Geltungsansprüche erhoben werden können, während gleichzeitig die Möglichkeiten, sie zu überprüfen, strukturell beschränkt sind und eher abnehmen. Vor allem die durch funktionale Differenzierungsprozesse (Spezialisierungen) bedingten und bewirkten Wissensasymmetrien, Verstehens-, Einsichts- und Urteilsgrenzen, die gewachsenen und wachsenden Unmöglichkeiten zu beurteilen, was andere Akteure tun, können, wollen und sind, bringen bei gleichzeitiger Vermehrung (Inflation) von Geltungssubjekten, Geltungsbedürfnissen und Geltungsbehauptungen einen erhöhten Bedarf mit sich, Glaubwürdigkeit zu (re-)produzieren und zu kontrollieren. Auch Verschiebungen im gesellschaftlichen Rollenhaushalt (z. B. die Expansion von Dienstleistungsberufen) und die Entwicklung neuer Handlungskontexte (wie im Internet) schaffen Bedarf an Glaubwürdigkeit und an entsprechenden Theatralitätsformen, um sie (wieder)herzustellen und zu stabilisieren, aber auch, um sie zu prüfen. Glaubwürdigkeit ist also unter den gegebenen Gesellschafts- und Feldbedingungen systematisch und systematisch unterschiedlich knapp und ruft daher (wie die anderen Knappheitsprobleme) feld-, akteur- und themenspezifische Problemlösungsversuche auf den Plan. So haben Marktteilnehmer, die Intransparentes, 381 Unter Konkurrenz- oder Kampfbedingungen ist natürlich auch Unglaubwürdigkeit, nämlich die des Gegners, ein knappes Gut, das etwa durch politische Werbung/Propaganda oder durch (glaubwürdige) ‚Entlarvungen‘ zu beschaffen ist.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Heikles oder Fragwürdiges anzubieten haben (Dienstleister, Banken, bestimmte Industrien usw.), Glaubwürdigkeits(bestands)probleme und einen gesteigerten Bedarf an Glaubwürdigkeit, den sie entsprechend (mit einem entsprechenden Strategien- und Methodenarsenal) zu decken versuchen. Eine zentral relevante Rolle spielen in diesem Zusammenhang (Medien-)Einrichtungen wie die Werbung und der Journalismus. Sie fungieren in je besonderer Weise und Potentialität als theatrale Glaubwürdigkeits(re)generatoren, verknappen aber auch ihrerseits Glaubwürdigkeit. So produzieren Journalisten einerseits Glaubwürdigkeitseindrücke und lassen sich auch direkt oder indirekt für glaubwürdigkeitsgenerative ImageArbeiten instrumentalisieren. Andererseits hat der Journalismus eine gerade heute naheliegende, mit Aufmerksamkeitsfunktionen und Aufmerksamkeitsknappheiten zusammenhängende Tendenz zur moralischen und moralisierenden Image-Destruktion, zur Skandalisierung und damit zur Verknappung von Glaubwürdigkeiten, die wiederum entsprechende – theatrale – Reaktions- und Beschaffungsstrategien (Glaubwürdigkeitsgeneratoren) auf den Plan ruft. Zu den in der ‚Gegenwart‘ chronisch knappen Ressourcen, die in einem direkten Zusammenhang mit der Genese und dem Gebrauch von Formen von Theatralität und d. h. mit Theatralisierung stehen, gehört auch Gedächtnis bzw. die ‚Nachhaltigkeit‘ von ‚Eindrücken‘/Wissen und (In-)Erinnerung(-Bleiben). Neben dem Nichtwahrnehmen/Nichtwahrgenommenwerden (Ignoranz) und neben der Flachheit/Oberflächlichkeit der Wahrnehmung ist das Vergessen/Vergessenwerden (von Wahrgenommenem) eine charakteristische gesellschaftliche und figurationsspezifische (Entwicklungs-)Tendenz, die, wenn sie als Problem erscheint382, Lösungsversuche und d. h. wesentlich bestimmte Theatralität(en) herausfordert und hervorruft. Die hier gemeinte ‚Vergesslichkeit‘ ist vor allem für diejenigen Akteure ein Problem und zugleich ein theatraler Handlungsauftrag, die, in welchen Punkten und bei welchem Publikum auch immer, danach streben, in ‚gute Erinnerung‘ zu kommen und in ‚guter Erinnerung‘ zu bleiben oder andere oder anderes in solcher Erinnerung zu halten. Diese Akteure müssen mittels (medien-) theatraler Informationsmanagements versuchen, nachhaltig zu beeindrucken und/ oder gezielt Gedächtnis- oder Erinnerungsarbeit zu bewerkstelligen – sei es selbst (z. B. biographisch) oder durch Beauftragung professioneller Gedächtnisgeneratoren, z. B. durch Künstler, die Denkmäler schaffen, oder Werbungsexperten, die mit
382 Im Vergessen, Vergessenwerden und Vergessenmachen kann, wie in kognitiver Oberflächlichkeit und Ignoranz, natürlich auch eine Problemlösung liegen.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
399
Hilfe immer raffinierterer Strategien383, ‚gute Eindrücke‘ wecken, einprägen und wach halten.
7.5.5
Vermarktlichung, Verwettbewerblichung und Verwerblichung
Die sich gegenwärtig zuspitzende Vermarktlichung und damit Verwettbewerblichung und Verwerblichung384 aller Bereiche der (Welt-)Gesellschaft ist ein Schlüsselfaktor diverser Theatralitäten und (Ent-)Theatralisierungen, insbesondere einer Verbreitung und Forcierung von strategischen bzw. ‚informationspolitischen‘ Handlungsformen, Habitus- und Mentalitätsaspekten385. Vermarktlichung, verstanden als die tendenziell gesamtgesellschaftliche Expansion und Generalisierung der Logik und der Gesetzmäßigkeiten des Marktes (auch auf Felder und in Feldern jenseits der Wirtschaft), impliziert zunächst insofern Theatralität und Theatralisierung, als sich Marktteilnehmer als Konkurrenten, Tauschakteure, Anbieter und Nachfrager strategisch, d. h. beobachtend (einschätzend) und eindrucksmanipulatorisch, gegenübertreten. So sind die verschiedensten Interessenten und Nachfrager (nicht nur Kaufinteressenten) normalerweise gut beraten, ihr wahres Interesse zu verschleiern, so wie die verschiedensten Verkäufer, auch Symbolverkäufer/Moralverkäufer, gut beraten sind, ihr Objekt/Thema und u. U. sich selbst möglichst ‚schön zu machen‘386 oder auch ihre Identität als Verkäufer zu verhüllen. Mehr ‚Ensembles‘ denn je und solche verschiedenster Art müssen heute auch jenseits des Feldes der Wirtschaft unter Markt-, Konkurrenz- und Knappheitsbedingungen wirtschaften, erfolgsökonomisch und (d. h.) strategisch agieren. Auf allen heutigen Feldern (Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Erotik usw.) treten Akteure als (Selbst-)Anbieter, (Selbst-)Verkäufer und Konkurrenten um bereichsspezifisch knappe Güter und (Markt-)Anteile auf. Bewertungen, Werte, Preise und (d. h.) Erfolge hängen dabei immer auch und tendenziell immer mehr von 383 Vgl. dazu in Bezug auf die Gedächtnisimprägnierungstechnologie der Werbung Willems/Kautt (2003: 116 f.). 384 Dem Thema und der These der Verwerblichung aller gesellschaftlichen Felder ist der Sammelband „Die Gesellschaft der Werbung“ gewidmet (Willems (Hg.) 2002). Darin wird der Versuch unternommen, nicht nur die Entwicklung des ausdifferenzierten Feldes/‚Systems‘ der Werbung, sondern auch des darüber hinaus generalisierten und differenzierten Handlungstyps des Werbens mit Blick auf Gegenwart und Zukunft zu rekonstruieren. 385 Dieser Prozess bzw. dieser Zusammenhang von Prozessen ist natürlich auch zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch signifikant. 386 Im Bereich der heutigen Immobilienvermarktung spricht man in Bezug darauf von ‚staging‘.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Theatralitätsaspekten ab, von mit Erwartungen, Hoff nungen und Kalkülen verbundenen Wahrnehmungen (Aufmerksamkeiten), Einschätzungen und (guten) ‚Eindrücken‘, die, z. B. durch Selbststilisierung, gemacht werden müssen. Auf Märkten auftretende Anbieter jedweder Art müssen ihre Angebote bzw. ‚sich selbst‘ jedenfalls – qua Theatralität – möglichst bekannt und attraktiv machen; Nachfragen müssen motiviert und angeheizt, Bedürfnisse geweckt und für das jeweilige Angebot in Anspruch genommen werden. Die Denk- und Handlungsprinzipien des Marketings und der Werbung, und damit korrespondierende Formen von Theatralität, werden damit zentral und sozusagen sozio-kulturell raumgreifend. Marktgesellschaft und Werbegesellschaft fallen tendenziell in eins und bestimmen zunehmend, was in sozialer Praxis (und damit auch mental) eigentlich vorgeht. Die Logik und Dynamik der theatralisierenden Vermarktlichung bzw. Verwerblichung reicht heute von den großen Feldern (‚Subsystemen‘) und Organisationen bis hinunter auf die Ebene der Personen und der persönlichen Beziehungen. Auch heutige ‚Privatmenschen‘, insbesondere jüngere, müssen mehr denn je im Streben nach allerlei ‚Gütern‘ (Geselligkeit, Freundschaft, Erotik usw.) auf Märkten, nämlich Märkten für persönliche Beziehungen, auftreten und versuchen, durch entsprechendes Sich-Aufführen „eine Person (zu sein, H. W.), die anderen auffällt“ (Sennett 1985: 111). Es gilt auf diesen Märkten, sich als ‚Mensch‘ interessant und gefällig zu machen, d. h., sich zu distinguieren und zu idealisieren, das ‚Outfit‘ zu stilisieren, Individualität zu dramatisieren und anderes mehr für ‚gute Eindrücke‘ und zielführende Images zu tun. Aber auch auf allen anderen Feldern werden immer mehr Rollen dramaturgisch immer anspruchsvoller und verlangen immer größere Investitionen in außenwirksame ‚Äußerlichkeiten‘ ab – von der Korporalität bis zur biographischen Imagepflege. Auf allen Feldern sind die Spieler (der Rollen) entsprechend – mit Konsequenzen für ihren Lebensstil, ihren Habitus und ihre Mentalität – gezwungen, imagedramaturgisch (hyper-)aktiv zu sein. Selbst in der scheinbar theatralitätsfernen (weil sach- und wahrheitsorientierten) Wissenschaft geht es heute offenbar mehr als je zuvor und mehr als je zuvor sozial erfolgsbestimmend um das, was „in der Selbstwahrnehmung der Wissenschaft eigentlich nicht vorkommen darf: die in ihr verbreiteten Formen des ‚imagemanagement‘“ (Schwanitz 1998: 273).387 387 Oder man nehme das Feld der christlichen Religionen in den ‚westlichen‘ Gesellschaften. Hier hat sich im Zuge von Prozessen der Säkularisierung und Protestantisierung zwar einerseits ein gewisser Theatralitätsverlust ergeben. Andererseits haben sich teilweise im gleichen Zusammenhang neue oder erneuerte religiöse Theatralitätsformen etabliert, die stark markt- und (damit) medienorientiert sind. Religion wird heute – unter den Bedingungen der medientechnischen Infrastrukturen, des Sinn-Marktes/der Sinn-Vermarktlichung und eines entsprechend disponierten (konsumis-
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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Je nach sozialer Positionierung, Handlungsfeld und (d. h.) Marktsituation stehen heutige Akteure (Individuen, Ensembles) also sowohl ‚freizeitlich‘ als auch (oder gerade auch) beruflich unter spezifischem und tendenziell zunehmendem strategisch-theatralen Handlungsdruck. Vor allem in den sich mehrenden Berufen, Berufskontexten und Karrieretypen, in denen Zulassungen und Überlebensund Aufstiegserfolge mehr oder weniger von Images und persönlichen (Gunst-) Beziehungen abhängen, muss entsprechend agiert werden, wird der strategischtheatrale Handlungstyp des Werbens und der Akteurtyp des Werbers (in eigener Sache) praktisch wichtiger oder dominant. Werbung, werbungsnahe und werbungsähnliche Handlungsformen spielen ihre also systematisch relevanten und immer relevanter werdenden ‚Rollen‘ mit der Implikation einer gewissen Theatralisierung der Wirklichkeit, nämlich einer Gestaltung, Manipulation und Fiktionalisierung von Wirklichkeit. Die Image-Arbeiten des Werbens und der Werbung sind eine beeindruckende Arbeit an der und mit der Wirklichkeit ihres jeweiligen Objekts und zugleich an der und mit der Wirklichkeit des jeweiligen Publikums, dem es möglichst gute, starke und nachhaltige ‚Eindrücke‘ im Sinne eines (Gesamt-)‚Bildes‘ von dem beworbenen Objekt zu vermitteln gilt. In der reinsten und effizientesten Form wird diese Arbeit natürlich von der professionellen (Medien-)Werbung geleistet, die in vom Recht und von der Opportunität gesetzten Grenzen immer fiktiv, (auto-)‚poetisch‘ und in gewissem Maße rücksichtslos gegenüber Wahrheiten sein kann und muss (vgl. Zurstiege 1998: 97). Ihre strategischen Image-Konstruktionen sind – zwar nicht nur, aber immer auch – Ergebnisse von informationellen Selektionen, Erfindungen, Lügen, Stilisierungen, Schönungen, Ausblendungen, Über- und Untertreibungen und überhaupt jeder zielführenden Art von ‚Unwahrhaftigkeit‘.388 Eingeschlossen tischen, individualistischen) Publikums – normalerweise konsumiert und muss sich entsprechend anbieten und darbieten. Die religiösen Akteure (z. B. Priester) müssen heute (in Umkehrung früherer Verhältnisse) mehr denn je publikumsorientierte Werber und Performancekünstler im Dienste der Symbol- und Sinnvermarktung sein. Vgl. Hepp/Krönert/Vogelgesang (2009). Diese Entwicklung hat vermutlich auch Implikationen für die beruflichen Karrieren und Karrierechancen im religiösen Feld. 388 Dies ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Andererseits ist die Werbung mit den realen und metaphorischen Bildern, die sie macht, normalerweise auch wahr und informativ. Nicht nur, weil sie aus rechtlichen Gründen in mancher Hinsicht zur Wahrheit bzw. zum Täuschungsverzicht gezwungen ist, sondern auch, weil sie selbst sachliche Kommunikationsinteressen hat und solchen Interessen Genüge tun muss. Werbung macht immer auch sichtbar und wahrnehmbar, was sonst nicht gesehen würde, und Werbung muss ihr Publikum auch sachlich richtig informieren, z. B. über den Preis oder andere Eigenschaften des beworbenen Objekts. Es hätte in diesem Punkt wie in anderen wenig Sinn zu lügen oder nur zu lügen. Werbung muss vielmehr immer auch relevante, zutreffende Aussagen machen, weil ohne sie die gewünschten Anschlusshandlungen, z. B. Kaufakte,
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
ist dabei eine Logik der schönen Form und des schönen Inhalts bzw. eines schönen Weltbilds. Mit dem Repertoire ihrer Theatralität bringen heutige Werbeaktivitäten aber längst nicht mehr nur beworbene Objekte zum Strahlen. Vielmehr dringen sie zunehmend, das vorhandene Wissen und Unwissen (z. B. Image-Reservoir) des jeweiligen Publikums nutzend, konstruktiv in einen relativ offenen und in vielen Bereichen immer offener werdenden gesellschaftlichen Wirklichkeits- und Definitionsraum vor, und zwar strategisch mit konstruierten Wirklichkeitsbildern (Images), die bestimmten Kalkülen dienen. So zielt die neuere Pharma-Werbung neben der ‚offiziellen‘ Image-Arbeit für einzelne Anbieter und Präparate/Medikamente darauf, das Feld ihres Absatzes durch die Erfindung oder Dramatisierung von Krankheitsbildern zu bereiten.389 Auf der anderen – der sozusagen negativen – Seite der Medaille stehen Marktverhältnisse, Marktprinzipien und Vermarktlichungen als Faktoren, die Theatralität nicht spezifisch anfordern und formieren, sondern vielmehr erübrigen und unterminieren, weil und insoweit sie von der (Tausch-)Rationalität des Marktes abweicht. In dem Maße wie es in sozialen Beziehungen zu einer (im Extremfall
nicht zustande kämen. Darüber hinaus gibt es (Image-)Fiktionalisierungs- bzw. Täuschungsgrenzen, die in der praktischen Realisierung des beworbenen Objekts durch das Publikum liegen. Zwar will (und mag) die werbliche Image-Arbeit auch dessen Objekterfahrung beeinflussen, so dass die inszenierte Werbungswirklichkeit auf die subjektive Wirklichkeit des Rezipienten (Konsumenten) ausstrahlt oder übergeht, aber eben diese Wirklichkeit stellt auch eine Art Verifikationsinstanz dar, die zu ignorieren strategisch irrational wäre. Enttäuschungen des durch Werbung erfolgreich motivierten Publikums (des Käufers, des Wählers usw.) sind schädlich für das Image des beworbenen Objekts. Werbung bildet also systematische Synthesen aus (Image-)‚Dichtung‘ und Wahrheit, wobei auch in der ‚Dichtung‘ schon insofern Wahrheit liegt, als sie tatsächlichen Wertvorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen des Publikums und des Auftraggebers entspricht und auf die realen Symbol- und Image-Welten des Publikums zurückgreift. 389 Ein Beispiel für die Operativität und Effektivität dieser verdeckten Werbung ist die Generierung der so genannten Sozialphobiker. Das British Medical Journal prägte in diesem Zusammenhang „den Begriff ‚Krankheitshändler‘ oder ‚Disease-Monger‘ (Bd. 324: 886, 2002). Damit ist gemeint, dass Pharmafirmen nicht bloß Pillen für existierende Krankheiten verkaufen, sondern der Welt neue, vermeintlich behandlungsbedürftige Krankheiten präsentieren – zusammen mit den soeben entwickelten Medikamenten“ (Meichsner 2002: 47; vgl. Moynihan/Heath/Henry 2002). Ein anderes Beispiel für werbestrategisches Wirklichkeitsmanagement ist das „viral marketing“, bei dem Firmen Arbeitskräfte dafür bezahlen, dass sie in verschiedenen Räumen des Internets (Chat-Foren, Newsgroups, Homepages usw.) als vermeintlich unabhängige und (daher) authentische Privatpersonen aussagekräftige (empfehlende) Hinweise auf Produkte des jeweils zahlenden Unternehmens geben. Theatralität dieser und ähnlicher Art ist heutzutage schon normaler Bestandteil (werbe-) professioneller Realitäts-Managements. Der strategische Kampf um ‚Wirklichkeit‘ mit dem Ziel bestimmter strategischer Wirkungen ist vielfältig und wird in effektiver und d. h. letztlich professioneller Weise mittlerweile überall (längst nicht nur auf dem ökonomischen Feld) gekämpft – immer mit der Implikation von Theatralität (Inszenierung, Performance, Korporalität, Wahrnehmung).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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exklusiven) Orientierung an „Tauschgrößen“ (Max Weber) kommt, wird auch Theatrales im Prinzip überflüssig. Ähnlich wie die Mitgliedschaftsbedingungen von Organisationen beschreiben Marktbedingungen, die Erfolgsbedingungen des Marktes und die faktischen (Markt-)Verhältnisse von Angebot und Nachfrage390 einen Raum der Relevanz und der Irrelevanz von Theatralität. In den Prozessen der Vermarktlichung liegt damit und darüber hinaus auch eine erhebliche und wachsende Negations-, Auflösungs- und Sprengkraft auf der Ebene symbolischer/ theatraler Ordnungen. Man kann also sagen, dass Marktverhältnisse, Marktprinzipien und Vermarktlichungen mit einem ambivalenten Verhältnis bzw. einem Spannungsverhältnis zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung einhergehen. An Märkten und Vermarktlichungen entwickelt, formiert und wandelt sich, steigert, reduziert und erübrigt sich, bewährt sich und scheitert Theatralität.
7.5.6
Vergeldlichung und Konsumisierung
Aspekte von Theatralität, Theatralisierungen und Enttheatralisierungen implizieren auch die mit Vermarktlichungsprozessen überschnittenen oder verknüpften Prozesse der Vergeldlichung und der Konsumisierung, d. h. der Entwicklung und Wandlung der ‚Konsumgesellschaft‘ bzw. des ‚Konsumismus‘ als entsprechender Mentalität (vgl. Bauman 2010).
7.5.6.1
Vergeldlichung
Die Entwicklung des modernen Geldmediums ist in diesen Zusammenhängen natürlich von mannigfaltiger Bedeutung: 1. Geld formalisiert und demokratisiert die sozialen Verhältnisse prinzipiell, insofern es jenseits aller sozialen/symbolischen Unterschiede und gegen sie inklusiv, symmetrisierend und spezifisch rationalisierend wirkt und (d. h.) soziale Zugänge
390 So wie fehlende oder relativ geringe Nachfrage den Theatralitätsdruck auf den Anbieter erhöhen kann, so kann (starkes) Nachgefragtsein das Gegenteil davon bewirken. Der Anbieter hat es dann nicht mehr oder weniger nötig, ‚gute Eindrücke‘ zu machen.
404
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
und Handlungsmöglichkeiten der verschiedensten Art zu einer bloßen Preisfrage macht.391 2. Damit erweitert und verengt sich zugleich der Raum möglicher und nötiger Theatralität. Zahlung, Zahlungsfähigkeit und (zu bezahlende) Konsumobjekte konstituieren bestimmte Theatralitäten und theatrale Spielräume und Subjektivitäten, substituieren aber auch theatrale Handlungsfähigkeiten bzw. kompensieren entsprechende Grenzen, Differenzen und Inkompetenzen. 3. Geld ermöglicht und erschließt nicht nur den dynamisch expandierenden Raum käuflicher Theatralität, sondern ist auch selbst von theatraler Bedeutung, und ist (damit) an den symbolischen und dramaturgischen (Distinktions-)Bedeutungen jener käuflichen (Konsum-)Theatralität beteiligt – Bedeutungen, die sich wesentlich an differentiellen Geldwerten bilden und bemessen. 4. Geld und alle in Geld übersetzbaren Objekte sind damit auch (explizit oder implizit) Themen und Inhalte von Theatralität (Präsentation, Inszenierung, Performance, Korporalität, Wahrnehmung), die als Theatralität des kommerziellen (Waren-, Leistungs-)Angebots und des Konsums im Vordergrund der ‚Gegenwartskultur‘ steht. Man könnte hier und generell von theatralem oder performativem Konsum sprechen und muss natürlich außer an Simmel, Bourdieu und Goffman an Veblens „Theorie der feinen Leute“ (1959) und damit an die Möglichkeiten des ‚demonstrativen Konsums‘ und Konsumverzichts denken. 5. Geld entdifferenziert und generalisiert einerseits den sozialen Zugang zu den symbolischen und damit theatralen Objekten (Dingen) und Handlungsbereichen der Gesellschaft. Die tendenziell stark gestiegene Geldverfügung ‚breiter Schichten‘ erschließt diesen Schichten mit einem immer breiter werdenden und immer innovativer und schneller abwechselnden Spektrum von symbolisch signifikanten ‚Gütern‘ auch inszenierbare Symbolträger und symbolische Ressourcen (Statussymbole, Fassaden, Requisiten). Sie sind heute für eine historisch einmalig große Zahl von Menschen (jedermann) tatsächlich in einem historisch einmalig hohen Maße verfügbar und zu handhaben.392 391 In seiner „Philosophie des Geldes“ sieht Georg Simmel den modernen „Stil des Lebens“ durch dessen Vergeldlichung überhaupt versachlicht, symbolisch entleert und qualitativ eingeebnet. Das Geld erscheint ihm als der „fürchterlichste Nivellierer“ der Moderne (Simmel 1989). 392 Die prinzipielle Verfügbarkeit bedeutet natürlich noch keine faktische Verfügbarkeit, die außer am Geld auch an kulturellen (Kompetenz-)Grenzen (‚kulturelles Kapital‘) scheitern kann.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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6. Die sich gleichzeitig fortsetzende und verstärkende ökonomische Kapital-Ungleichheit (ungleiche Einkommensentwicklung, ‚Kaufkraft‘) impliziert andererseits eine Differenzierung und Asymmetrisierung der symbolischen bzw. konsumtheatralen Ausstattungen und Handlungsmöglichkeiten. Der Konsumkapitalismus entwickelt damit und mit den damit einhergehenden sozio-kulturellen Differenzierungsprozessen auch unterschiedliche und unterscheidende Symbolsysteme/ theatrale Zeichensysteme bzw. Erkennungszeichensysteme sozialer Status. 7. Vergeldlichung meint hier schließlich nicht nur Funktionsgewinne und soziale Raumgewinne des Geldes, sondern auch einen gesellschaftskulturellen Aufstieg des Geldes zu einem oder zu dem Modell (Paradigma) für soziale Beziehungen und sozialen Austausch überhaupt. Das überall und als Schlüssel zu Allem funktionierende Geld bzw. seine elementare Funktionsweise (die Zahlung) wird sozusagen als kosmologisches Modell genommen und generalisiert. Dem entspricht eine ‚Rational-Choice-Mentalität‘, die nach ‚harten‘ Werten und kalkulierbaren KostenNutzen-Verhältnissen bzw. Gewinnen fragt und ‚die Dinge‘ entsprechend relativiert. Dieser strategischen Einstellung korrespondiert wiederum eine strategische Theatralität bzw. eine lebenspraktische Unterscheidung zwischen theatraler Relevanz und Irrelevanz.
7.5.6.2
Konsumisierung
Mit dem Prozess der Vergeldlichung – auch in seinen sozio-kulturellen Effekten – eng verknüpft ist also der Prozess der Konsumisierung, der anhaltende und dynamische Aufstieg (und Wandel) der ‚Konsumgesellschaft‘, der hier bzw. im Folgenden als entscheidend anzusehen und zu untersuchen ist. Denn: 1. Diese ‚Gesellschaft‘ verweist auf alle bereits behandelten und noch zu behandelnden sachlichen und konzeptuellen Schlüssel von Theatralität und jenseits von Theatralität: den Prozess der Zivilisation/Zivilisierung, Felder, Kapitalien und Habitusformen, symbolische/rituelle Ordnungen und Distinktionen (Bourdieu), Lebensstile und (Lebens-, Selbst-)Stilisierungen, strategisches Handeln usw. 2. Die ‚Konsumgesellschaft‘ bildet heutzutage sozusagen das Herzstück nicht nur der Materialität der Theatralität, sondern der Realität der Theatralität überhaupt, die hauptsächlich eine Theatralität des Konsums, des Konsumierten und Konsumierbaren sowie der Märkte und Vermarktungen von Konsumobjekten geworden
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
ist, zu denen gerade auch die Erzeugnisse der (Medien-)‚Kulturindustrie‘ gehören. Mit der ökonomisch fundierten kulturellen Produktivität des Konsumkapitalismus auf der Ebene der Waren (‚Warenästhetik‘) und Dienstleistungen hat sich auch der Raum der Theatralität stark und spezifisch erweitert und differenziert. 3. Die konsumierten und zu konsumierenden Objekte und Leistungen393 stellen je nach ihrer ökonomischen und/oder symbolischen ‚Ladung‘ Ressourcen und Repertoires von Theatralität dar und machen den Akteur – heute mehr Akteure denn je – sowohl zum Objekt und Subjekt einer bestimmten Wahrnehmung und einer Art von Beschreibung, die sich an den sozialen Bedeutungen des jeweiligen (Fremd-)Konsums festmacht, als auch zum Subjekt einer Art Selbstbeschreibung. Letztere steckt in den individuellen Handhabungen, den Wahlen und Kompositionen (Inszenierungen) der Bedeutungen der konsumierten Objekte für den Akteur im Hinblick auf Wahrnehmende bzw. Publika. Es ist klar, wenn auch längst nicht soziologisch hinreichend geklärt, dass diese Selbstbeschreibung durch Konsum wie die entsprechende Art der Wahrnehmung und Beschreibung in einem systematischen Zusammenhang mit sozio-kulturellen (Schicht-, Klassen-, Milieu-, Szene-)Differenzierungsprozessen, Identitäten und Identitätsbildungen steht (s. o.). 4. Mit der Hebung und Differenzierung des ökonomischen ‚Wohlstands‘ und der gleichzeitigen Entwicklung (Expansion, Differenzierung) der Konsumkultur, des Konsumangebots und der Konsumneigung geht also auch eine (zivilisatorische) Subjektivierung und Individualisierung des korrespondierenden Symbol- bzw. theatralen Zeichengebrauchs einher.394 Jedermann wird schon und gerade durch seine ‚Einkaufspolitik‘ und die damit verbundenen Möglichkeiten, sich und seine Lebenswelten ‚einzurichten‘ und zu gestalten, zum Regisseur, Requisiteur und Bühnenbildner der Theatralität seines Lebens – zu einem Regisseur, der bei sozialem Erfolgsinteresse Wahrnehmungen und Urteile von Publika nicht nur zu gewärtigen, sondern auch zu beachten hat. Mit der Theatralität und Theatralisierung des Konsums und durch Konsum ist also auch ein praktisches Theatralitätsbewusstsein, wenn nicht ein konsumistisch-theatralistisches Denken verbunden, ein Sinn jedenfalls für die Möglichkeiten und scheinbaren Erfordernisse immer wieder Neues, Anderes, Besseres ‚anzuschaffen‘ und für die Aufgaben und Pro-
393 Von der Kleidung bis zur Frisur, vom Computer bis zum Urlaub, von der Immobilie bis zum Automobil, von der Bildung bis zur Therapie. 394 Diese Entwicklung ist natürlich wie der ganze thematische Komplex auch zivilisationstheoretisch signifikant und interessant.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
407
bleme, die entsprechenden (theatralen) Zeichentypen und Zeichenmengen zu kombinieren, zu arrangieren, zu orchestrieren, zu erweitern und zu steigern.
7.5.7
Eventisierung und ‚Erlebnisgesellschaft‘
Von eigener und besonderer Bedeutung und Wichtigkeit sind hier sozio-kulturelle Entwicklungen und Trends, die mit Begriffen wie Event/Eventisierung oder Erlebnisgesellschaft/Erlebniskonsum/Erlebnismarkt (s. o.) belegt worden sind und in denen zumindest teilweise Wandlungen und Weiterentwicklungen bereits traditionsreicher (und vielfach diagnostizierter) ‚Gesellschaften‘ wie der ‚Konsumgesellschaft‘ gesehen werden können.395 Theatralität und Theatralisierung sind dabei zunächst insofern involviert, als Theatralität – bis hin zur Theatralik – sozusagen eine Wesenseigenschaft von Events und der ganzen Erlebnisgesellschaft ist. Im Kontext von Events und in der Erlebnisgesellschaft überhaupt geht es um außergewöhnliche soziale Ereignisse oder Anlässe und um die Herstellung von solchen Ereignissen oder Anlässen, die als solche inszeniert und performiert werden, um zu außergewöhnlichen – und außergewöhnlich gratifizierenden oder sogar beglückenden – Erlebnissen zu führen. Es geht hier also auch um ein eigenes, z. B. auf (Hyper-)Ästhetik, Dramatik/Dramatisierung oder Spektakularität hinauslaufendes Spektrum von Theatralitätsformen, das sich aus Erlebnisfunktionen (Euphoriefunktionen) und Erlebnisnachfragen ergibt und definiert. Events werden durch entsprechend publikumsorientierte Inszenierungen und Performanzen/Performances erzeugt; sie werden als lebensweltlich-interaktive und/oder mediale Inszenierungen und Performanzen/Performances erst durch den (Theatralitäts-)‚Aspekt‘ der Wahrnehmung zu Ereignissen und Erlebnissen jener besonderen Art. Der offensichtlich weitreichende und vielseitige Prozess der Eventisierung bzw. die Generierung von Events hat gesellschaftliche/gesellschaftskulturelle und feldspezifische Gründe und Hintergründe. Zwar spielen wirtschaftliche/kommerzielle Bedingungen und Veranlassungen eine eigene, besonders große und immer größere Rolle – Erlebnisse bzw. Events werden vermarktet und dienen der Vermarktung (Eventmarketing, Kultmarketing) –, aber von Events und von Eventisierung im Sinne eines Trends zum Angebot und zur Nachfrage von Events und darüber hinaus im Sinne eines Trends zur Veraußergewöhnlichung sozialer Anlässe und 395 Die obigen Überlegungen zu Vergeldlichung und Konsumisierung behalten also auch in diesem Zusammenhang prinzipiell ihre Gültigkeit.
408
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Daseinsaspekte kann im Prinzip hinsichtlich aller gesellschaftlichen Felder die Rede sein. Allerdings hat und bildet jedes Feld aufgrund seiner eigenen Bedingungen und Identität eigene Events und Eventisierungen.396 Dementsprechend sind feldspezifische ‚Erlebnis-Theater‘, Erlebnistheatralitäten und Erlebnistheatralisierungen entstanden und zu beobachten, die teilweise auch das Alltagsleben jedermanns prägen und zunehmend prägen. Aus dem dem Wirtschaftsfeld zuzurechnenden Einkaufen z. B. hat sich mit Unterstützung der entsprechenden Anbieter und Verkäufer für eine immer größer werdende Anzahl von Menschen das ‚Shopping‘ entwickelt, das sich z. B. in den zu ‚Erlebnis-Theatern‘ entwickelten Kaufhäusern ‚abspielt‘ (vgl. Hellmann 2009). Hier, aber natürlich auch woanders (vom Gasthaus bis zum Gotteshaus), wird bewusst, planvoll und strategisch mit theatralen/performativen Methoden und Endergebnissen daran gearbeitet, dass bestimmte Publika ‚etwas erleben‘ können, und zwar etwas Besonderes und besonders Beeindruckendes, das von bestimmten (unterschiedlichen) Zwecken bestimmt wird. Jenseits der Art von Event, die einen Selbstzweck darstellt, sollen Publika durch Events nicht nur bewegt, sondern zu etwas bewegt werden: zur Teilnahme, zum Kauf, zur Zustimmung, zum Anschluss, zur Mitgliedschaft usw. Events, Eventisierungen und die ganze Erlebnisgesellschaft verweisen mit den sich vermehrenden und vervielfältigenden Erlebnisfeldern also immer auch auf Erlebende (Wahrnehmende) und Erlebnisakteure und damit auf die Ebene der Mentalität und des Habitus. Auch auf dieser Ebene kann hier von Theatralisierung gesprochen werden, insofern sich (schicht-, klassen-, milieu-, szenespezifische) Varianten eines ‚Erlebnistiers‘ (‚sensation seekers‘) konstruieren und rekonstruieren lassen – Varianten, die außergewöhnliche Erlebnisse dieser oder jener Art suchen und konsumieren, die aber auch aus eigener Kraft und planvoll (‚erlebnisrational‘) an der Wahrnehmung und Herstellung solcher Erlebnisse partizipieren können. Dazu gehört z. B. das (in medialer Rahmung oder mit medialer Unterstützung) theatral/theatralisch eventisierte Essen (‚Dinner‘) oder die ebenso inspirierte (theatralische) Liebeserklärung oder Hochzeit. Der entsprechende Typus von (Erlebnis-)Akteur (jedermann) ist ‚Performer‘ und zugleich gewissermaßen Drehbuchschreiber oder Regisseur seines jeweiligen Erlebnislebens, dem sich immer wieder die Aufgabe und das Problem stellt, die Skripts seiner Lebensführung in eine erlebnisträchtige Abfolge und Synthese zu bringen und so zu realisieren. Eventisierung/Erlebnisgesellschaft und Theatralisierung hängen also immanent und spezifisch zusammen. Die Feld-Seite der Erlebnisproduktionen und Er396 Sie stellen sich natürlich im Feld der Religion anders dar als im Feld des Sports, im Feld der Wissenschaft anders als im Feld der Kunst usw.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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lebnisangebote und die Habitus-Seite der Nachfrage und Nutzung dieser Angebote verweisen jeweils auf Aspekte von Theatralität und Theatralisierung. Auf beiden Seiten geht es um die Herstellung, Gestaltung und Steuerung von Events und um Eventisierungen, um Formen von Intensität, Reiz, Spannung, ‚Action‘ (vgl. Goffman 1971a). Die Begriffe Theatralität und Theatralisierung sind dabei auch und vor allem deswegen gerechtfertigt, weil auf beiden Seiten reflexiv und strategisch gehandelt wird. Das typische ‚Erlebnistier‘ folgt keineswegs einem primitiven ‚Lustprinzip‘, sondern ist durchaus oder sogar besonders hoch reflexiv und reflektiert – zivilisiert (vgl. Schulze 1997). Und die Erlebnisgesellschaft ist durch und durch eine – auch durch Reflexivität und Kontrolliertheit definierte – Inszenierungsgesellschaft. Sie ist damit auch eine spezifisch zivilisierte, Zivilisierung in Anspruch nehmende und zivilisierende Gesellschaft, die gerade im reflexiven und kontrollierten Vergnügen ihrer Mitglieder auf das verweist, was vor ihr, mit ihr und durch sie zivilisiert worden ist.
7.5.8
Formale Organisationen und ‚Organisationsgesellschaft‘
In der Entwicklung der heutigen ‚Organisationsgesellschaft‘, in der die internen und externen Beziehungen formaler (Groß-)Organisationen das gesellschaftliche Leben im Ganzen prägen397, kann ein weiterer und wesentlicher Komplex von Theatralitäten und Theatralisierungsfaktoren gesehen werden, aber auch eine Reihe von Theatralitätsgrenzen und Faktoren der Enttheatralisierung. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Ebenen und Aspekte zu unterscheiden, die ich kurz ansprechen und veranschaulichen möchte: 1. Organisationen und bestimmte Teile von Organisationen (Abteilungen, Gremien, kollegiale Ensembles etc.) sind als handelnde Einheiten oder Akteure zu betrachten, die in figurationalen (Feld-)Kontexten stehen und handeln. Im Hinblick auf Theatralität aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Luhmann398,
397 Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass Elias diese Ebene der Figurationsbildung relativ vernachlässigt. 398 Luhmann kann nicht nur als einer der prominentesten soziologischen Theoretiker sondern auch als ein hervorragender praktischer Kenner formaler Organisationen gelten. Er war lange im Verwaltungsdienst tätig, bevor seine Universitätskarriere in der Soziologie begann. In Luhmanns Werk und in seinem Bild von der modernen Gesellschaft spielen formale Organisationen eine Schlüsselrolle. In ihnen sieht er einen eigenen und für die moderne Gesellschaft insgesamt ebenso charakteristischen wie zentralen sozialen „Systemtyp“, der sich in vielen Bereichen
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
der in seiner frühen – in mancher Hinsicht nicht allzu weit von der Perspektive der Figurationssoziologie entfernten – Organisationsanalyse (1964) betont, dass sich formale Organisationen bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Varianten (von der psychiatrischen Klinik bis zur Universität) durch eine eigene, für diesen sozialen „Systemtyp“ charakteristische „Selbstdarstellung“ auszeichnen, die allerdings in vielen Punkten der Selbstdarstellung von Personen ähnelt. Luhmann fasst die „Selbstdarstellung“ von formalen Organisationen bezeichnenderweise in enger Anlehnung an die Kategorien des Goffman’schen Theatermodells399 und stellt fest: „Bei ihrer Selbstdarstellung verwickelt sich eine Organisation – wie übrigens jeder Handelnde – notwendig in gewisse Schwierigkeiten und Paradoxien, die nur dadurch lösbar sind, daß man die Darstellung auf einen Teil der Wirklichkeit beschränkt, daß man nur einige Räume seines Hauses zugänglich macht. Wie für die internen Funktionen der formalen Systeme Symbole und Erwartungen generalisiert werden müssen, so sind im externen Verkehr Idealisierungen erforderlich. (…) Jeder Mensch muß seine Persönlichkeit als eine Art ideale, sozial gefällige Identität entwickeln und anderen ausschnittweise kommunizieren, oder er bekommt Anpassungsschwierigkeiten. Und so benötigt auch ein soziales System eine wirksame Selbstdarstellung der eigenen Bedeutung. Sie ist nicht einfach vorhanden, sondern muß konstituiert, ausgebaut, laufend gepflegt und verbessert werden. Und dieser Prozeß setzt, weil mehrere daran mitwirken, mehr Bewußtheit voraus als beim Einzelmenschen. Alle sichtbaren Fakten müssen dazu vorbereitet, von Mängeln und Unzulänglichkeiten befreit und in Richtung auf akzeptierbare Werte überhöht werden. (…) Ferner werden alle Zeichen interner Meinungsverschiedenheiten und derjenigen Operationen, die zu ihrer Überwindung notwendig waren, den Zuschauern vorenthalten. Denn eine richtige Entscheidung darf keine Hinweise auf andere Möglichkeiten enthalten. Aus diesem Grunde hält man auch mit der vorzeitigen Bekanntgabe von Änderungsplänen zurück: Änderungen in der Organisation, in den Arbeitsmaximen, den Ansichten, den wichtigen Verbindungen oder im Personal werden heimlich vorbereitet, um die Darstellung der laufenden Geschäfte bis zum Tage X nicht zu untergraben. Auch die Formulierung der Entscheidung selbst tritt in den Dienst der Sortierung des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Zuweilen muß eine Entscheidung individuell stilisiert werden, um ihre Routiniertheit und Gedankenlosig-
„gesellschaftlichen Lebens sozusagen zwischen das Gesellschaftssystem und die einzelnen Interaktionssysteme schiebt“ (Luhmann 1975b: 12). Der Formalismus dieser kategorialen Konstruktion verrät allerdings auch die systematische Differenz zur Figurationssoziologie. 399 Luhmann macht diese systematische Quelle und Grundlage seiner Überlegungen allerdings nicht allzu stark kenntlich.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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keit zu verbergen, zuweilen muß gerade umgekehrt der Charakter einer gleichen Regelung herausgestellt werden, um die Unterschiedlichkeit der Fälle zu eliminieren. (…) Schließlich muß die Tatsache des Verbergens ihrerseits verborgen werden, denn sie paßt nicht in die Schau. (…) Überzeugende Gestaltung ist nur in begrenztem Raum möglich. Sie setzt unzugängliche Bereiche voraus, in denen sie unter Ausschluß von Zuschauern produziert wird. Dazu sind dicht gesetzte Schranken der Kommunikation und der Informationsmöglichkeit erforderlich, vor allem eine ausreichende persönliche Kontrolle über den eigenen Arbeitsplatz, zuweilen auch eine Trennung verschiedener Zuschauerkreise. Die Grenzen der einsehbaren Szene haben ihren Sinn als Grenzen der Konsistenzanforderung: Auf der Bühne des formalen Verhaltens herrscht eine besondere Ausdrucksdisziplin. Dort muß eine einheitlich-geschlossene Darstellung gegeben werden. Jedes Aus-der-Rolle-Fallen diskreditiert den Gesamteindruck, kann der bisher geltenden Situationsdefinition den Boden entziehen und peinliche Verwirrung schaffen. Hinter den Kulissen sind andere Erscheinungen, ist ein freieres Verhalten möglich.“ (Luhmann 1964: 112–116)
Mit der Entwicklung und dem gesellschaftlichen Aufstieg formaler (Groß-)Organisationen ist also auch die Genese und die Verbreitung einer (system-, figurations-) spezifischen Außen- und Innen-Theatralität verbunden – eine eigentümliche Theatralisierung, die dem Goffman’schen Theatermodell, das ja die Interaktionsebene und das personale Selbst fokussiert (s. o.), uneingeschränkt zugänglich ist. So taucht das ganze Repertoire der Goffman’schen Theatermetaphorik auch in Luhmanns Organisationsanalyse auf: Bühne (Vorderbühne, Hinterbühne), (Selbst-) Darstellung, Fassade, Kulissen (hinter Kulissen), Schau, Eindruck, Region, Ensemble, Täuschung, destruktive Information, Verbergen, Geheimnis/Geheimhaltung, Visibilität/Invisibilität, Idealisierung, Mystifikation, Lüge, Stilisierung, Imagepflege, Informationskontrolle/Informationspolitik, Ausdrucksdisziplin, Konsistenzzwang, Fiktionsschutz, dramaturgische Loyalität, Insider/Outsider, Doppelstrategie, Rollenbewusstsein, Kreditierung/Diskreditierung, Aus-der-Rolle-Fallen, Peinlichkeit, Anomie/negative Erfahrung, Zuschauer/Zuschauerkreis, Publikumssegregation, Verschwörung und viele andere Konstrukte und Verständnisse, die Goffman im Rahmen seiner (Theater-)Modell-Systematik ausgearbeitet hat, appliziert oder entwickelt Luhmann in Bezug auf Organisationen bzw. deren ‚Selbstdarstellung‘. Man kann sogar sagen, dass Organisationen in gewisser Weise als Musterbeispiel für die Anwendbarkeit und Passung dieser Goffman’schen Perspektive und Begriffsapparatur gelten können. Die Theatralität und die Theatralisierung von Organisationen sind aber, und auch das erhellt aus den obigen Ausführungen Luhmanns, auf die speziellen (Kontext-)Bedingungen des ‚sozialen Systems‘ bezogen und durch diese
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Bedingungen geformt und mit Inhalt gefüllt.400 Das impliziert auch insofern Theatralisierung, als Theatralität tendenziell komplexer, bewusster, reflexiver, systematischer, effizienter und (weil) professioneller wird. Theatralisierung hat in diesem Zusammenhang auch damit zu tun, dass Organisationen als handelnde Einheiten/Akteure zunehmend (heute mehr denn je) mit und gegen andere Organisationen und andere Akteurtypen auf und zwischen Feldern und in Netzwerken operieren (müssen). Organisationen bilden damit nicht nur einen eigenen (Binnen-)Raum von Theatralität und entwickeln nicht nur eine eigene (theatrale) ‚Selbstdarstellung‘ (mit den besagten Strategien und Formen von ‚impression management‘), sondern unterliegen auch und zunehmend äußeren Theatralitätsbedingungen und Theatralitätszwängen, in die sie z. B. im Zuge von Mediatisierungs- und (Welt-)Vermarktlichungsprozessen hineingezogen werden. Offensichtlich stehen Organisationen heute – wiederum wie Personen – unter einem erhöhten und sich verschärfenden ‚exogenen‘ Theatralitäts- und Theatralisierungsdruck. Vor allem hat sich der strategisch-symbolische Leistungsdruck von (jedenfalls diversen) Organisationen (politischen Parteien, Unternehmen, Kirchen, Verbänden etc.) und der strategisch-symbolische Konkurrenzkampf zwischen Organisationen verschärft, und gleichzeitig (und damit) ist der Zwang tendenziell stärker und bewusster geworden, nach Außen und nach Innen Informationspolitiken und Image-Arbeiten zu betreiben. Diese werden daher auch von und in Organisationen zunehmend funktional aufgewertet, ausdifferenziert, (rollen-)spezialisiert und komplex betrieben, wie man beispielsweise an dem Organisationstyp der Universität401 sehen kann. 2. Organisationen bilden aufgrund ihrer (je) besonderen Strukturbedingungen und aufgrund ihrer (je) besonderen Handlungszwänge und Handlungsspielräume natürlich auch eigene und eigentümliche Sozial- und Praxis-Räume. Nicht unabhängig von der Ebene ihrer Außen-Beziehungen bzw. ihrer (Außen-)‚Selbstdarstellung‘ sind Organisationen als soziale Figurationen und Felder eigener und vielgestaltiger Art zu betrachten, nämlich als Rahmen und Kontexte für (inter-)
400 In formalen Organisationen geht es eben um Instanzen, Zuständigkeiten, Verfahren, Entscheidungen, Personalangelegenheiten usw. 401 Diese Theatralisierung der Universität ist, wie gesagt, nur ein spezieller Bereich der umfassenden und komplexen Theatralisierung der Universität und der Wissenschaften überhaupt. Die (selbstreflexive) wissenschaftliche Untersuchung dieser Prozesse steht, von einzelnen Ansätzen abgesehen (vgl. z. B. Suchanek 2009; Münch 2009), noch aus. Stattdessen stellen sich Wissenschaftler bisweilen lieber in den Dienst der weiteren Theatralisierung ihres Feldes, z. B. durch Wettbewerbe unter Titeln wie ‚Performing Science‘.
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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agierende Akteure, Ensembles und Netzwerke von Ensembles, die jeweils gegebene Spielräume für eigenes ‚Spielen‘ und für eigene ‚Spiele‘ nutzen. Mit und in diesen Figurationen entwickeln und entfalten sich auch besondere Formen von Theatralität, z. B. eine symbolische/rituelle Theatralität, eine Status-Theatralität, eine Raum-Theatralität, eine Theatralität sozialer Anlässe (Zeremonien, Feste, Events) und eine Theatralität strategischer Aktionen und Interaktionen, die für die Akteure, ihren (Organisations-)Lebensstil und die jeweilige Organisation selbst von mehr oder weniger großer und spezieller Bedeutung sind. Die Realität der Organisations-Theatralität im Ganzen ist also eine Realität der Theatralität sowohl von Organisationen als auch und gerade in Organisationen von wie immer aggregierten oder vernetzten Akteuren, die unter den jeweils gegebenen (figurations-) positionsspezifischen Bedingungen, die ihre Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven bestimmen, existieren und agieren. Man kann die hier gemeinte Realität (der Theatralität) und deren soziale Basis jedenfalls teilweise durchaus (und nicht nur in den oberen Bereichen der Organisationshierarchien) mit höfischen Gesellschaften vergleichen (vgl. Kuzmicz 1986). Hier wie dort gibt es – mit vielfältigen Theatralitätsbezügen – ‚soziale Ungleichheiten‘, labile Machtbalancen, symbolische Ordnungen und Praxen, Kämpfe um alle Kapitaltypen; hier wie dort hängt viel von Inszenierungen und Performanzen, ‚Eindrücken‘ und ‚Eindrucksmanipulationen‘ ab, deren Erfolg zivilisierte Habitus voraussetzt; hier wie dort ist die Gefälligkeit, das Gefallen und (damit) das Raffinement des strategischen Handelns für den Gang der Ereignisse und damit auch für die Erfolge und Karrieren der Beteiligten regelmäßig von größter Bedeutung. Netzwerke, Cliquen, Images und Imagearbeiten, Täuschungen jedweder Art, ‚Unterleben‘ und Gegenwelten, Intrigen und Intriganten, Gunst und Günstlinge sind nicht nur für die höfische Gesellschaft sondern auch und gerade für moderne Organisationen charakteristisch, und es spricht viel dafür, dass sich alle diese Realitäten (der Theatralität) historisch eher verstärkt als abgeschwächt haben (s. u.). 3. Allerdings darf diese Parallelität und Analogie nicht übertrieben, sondern muss vielmehr an der Eigentümlichkeit des Figurationstyps, die jedoch so oder so immer mit Theatralität zu tun hat, relativiert werden. Vor allem ist hier an die ambivalente Bedeutung und Wirkung von formellen Mitgliedschaftsregeln402 zu denken. 402 Luhmann setzt hier seinen Organisationsbegriff an und bezeichnet Sozialsysteme als organisiert, die „die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen, also Eintritt und Austritt von Bedingungen abhängig machen. (…) Mit Hilfe solcher Mitgliedschaftsregeln – etwa Autoritätsunterwerfung gegen Gehalt – wird es möglich, trotz frei gewählter, variabler Mitgliedschaft hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren“ (Luhmann 1975b: 12).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Sie bilden mit einer mehr oder weniger klar definierten Erwartungs-, Anspruchs-, Verpflichtungs- und Handlungsbasis einerseits auch Grenzen der Relevanz und Akzeptabilität von Theatralität.403 Für das Organisationsmitglied ergibt sich aus den Regeln seiner Mitgliedschaft andererseits ein bestimmter Raum der Theatralität, der Theatralitätszumutung, des Theatralitätspotentials und der Theatralitätsfreiheit – speziell im Kontext von ‚Corporate Identity‘. 4. Einen besonderen und systematischen Zusammenhang zwischen Organisationen und Organisationsentwicklungen/‚Organisationsgesellschaft‘ einerseits und Theatralität und Theatralisierung andererseits kann man schließlich darin sehen, dass die Zahl, die Vielfalt und die Produktivität der Organisationen bzw. Betriebe zunimmt, deren Zweck (Produkt, Leistung) entweder im Angebot von Theatralitätsformen (Konsumgüter vor allem symbolisch gehaltvoller Art, Medienprodukte, Kunst, unterhaltungsindustrielle Erzeugnisse/Events etc.) oder in der Ermöglichung, Ausstattung und Betreuung von Theatralität (z. B. durch Beschaffung von entsprechender Infrastruktur, durch Beratung, Marktforschung, ‚Wartung‘ usw.) – gerade auch für Organisationen – besteht. Eine lange und länger werdende Reihe von (spezialisierten) Organisationen (und entsprechenden Rollen) wirkt in dieser oder jener Hinsicht als Faktor der Theatralisierung – auch dadurch, dass diese Organisationen Theatralität nicht nur ‚ausstoßen‘ (z. B. als Medienerzeugnisse), sondern auch ‚anstoßen‘ und andere Akteure bzw. andere Organisationen dazu befähigen und motivieren, eigene und fremde Theatralitätsaspekte zu beobachten, zu reflektieren und zu bearbeiten. Man kann insofern sagen, dass Theatralität zunehmend ‚organisiert‘ bzw. zur ‚organisierten Theatralität‘ wird und darin eine Form von Theatralisierung erkennen.
7.5.9
Soziale Kontrollen
Die Realitäten der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung stehen auch in systematischen Zusammenhängen mit Strukturen und Prozessen der sozialen Kontrolle, die diese Realitäten bedingen und begrenzen, aber auch erzwingen, hervorrufen, motivieren, herausfordern und formen. Die (historische) Soziogenese bzw. die
403 Indem formale Organisationen entsprechende Funktionen gleichsam absorbieren und Praxis vorstrukturieren, wirken sie überhaupt in gewisser Weise antitheatral oder enttheatralisierend. In dem Maße, wie soziale Sinnkontexte und (Inter-)Aktionsprozesse durch Formalisierungen strukturiert sind, kann oder muss Theatralität sozusagen entfallen. Formalität ersetzt dann Theatralität.
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Entwicklung der modernen Gesellschaft zeichnet sich – auch – in dieser Hinsicht durch eigentümliche Bivalenzen und Ambivalenzen aus. Der Innovation, Ausweitung, Verdichtung, Verschärfung und Intensivierung/Effektivierung von sozialen Kontrollen steht deren Abbau, Einschränkung, Abschwächung, Auflösung und Lockerung gegenüber – jeweils (auf jeder Seite) mit der Implikation bestimmter Theatralitätsaspekte, Theatralisierungen und Enttheatralisierungen. Hinsichtlich der jüngeren Gesellschaftsgeschichte ist in diesem Zusammenhang einerseits an einen zivilisatorisch voraussetzungs- und wirkungsvollen Fortschritt, ja Schub sozialer Kontrollverfahren und Kontrollprozesse im Sinne diverser Überwachungen und ‚Panoptismen‘ (Foucault)404 zu denken. Mit fortschreitenden sozialen (Figurations-, Feld-)Differenzierungs- und Verflechtungsprozessen, mit speziellen (Kontroll-)Organisationsbildungen, mit der Genese entsprechender (Kontroll-)Beobachter, Beobachtungen und (Sozial-)Gedächtnisse und – damit zusammenhängend – mit technischen Innovationen und Applikationen in den Bereichen der Überwachung, Datenaufzeichnung, Datenverarbeitung und Datenübermittlung hängen teils neuartige, teils verfeinerte und massierte soziale Kontrollen zusammen, von denen Disziplinierungs- und (damit) auch Theatralisierungseffekte ausgehen.405 Jedermann ist heute jedenfalls mehr denn je potentielles und faktisches Objekt vielfältiger, offener und verdeckter, klarer und unklarer Beobachtungen und Überwachungen, die ihn an Kriterien und Er-
404 Historisches Musterbeispiel ist hier aus figurationssoziologischer Sicht wiederum die ‚höfische Gesellschaft‘, deren ‚Panoptismus‘ von Elias ja als spezifischer Disziplingenerator und auch als Generator von Theatralitäten und Theatralisierungen (theatralen Selbst- und Fremdkontrollen) beschrieben wird. 405 Exemplarisch ist die zunehmende Kameraüberwachung öffentlicher Räume, die dazu beitragen soll und dazu beiträgt oder dazu führt, dass man nicht nur wahrgenommen wird, sondern sich auch wahrgenommen vorkommt und normalerweise entsprechend (im Sinne bestimmter Normen und Normalitäten selbstkontrolliert) verhält. Oder man denke an die mit quasi-panoptistischen Effekten einhergehenden Fortschritte medialer Aufzeichnungs- und Übermittlungstechniken, z. B. die Tatsache, dass inzwischen nahezu alle Mobilfunkgeräte mit Kameras und den verschiedensten Netzwerkanschlüssen ausgestattet sind. Im Internet zeugen zahlreiche Foto- und Videoplattformen (youtube.com und flickr.com sind nur die bekanntesten Beispiele) von der offenbar gängigen Praxis, (heimlich) gefilmte (Alltags-)Gespräche einer (totalen) Medienöffentlichkeit zu präsentieren. (Den aufgenommenen Personen, die sich selbst und das Erlebte unerwartet in einen ‚anderen Rahmen‘ gestellt sehen, mag es dann gehen wie den Versuchspersonen in Garfinkels Krisenexperimenten mit versteckten Tonbandgeräten.) Generell erzeugen der Fortschritt und die fortschreitende Verbreitung von Aufnahme- und Überwachungstechniken ebenso wie die alten und neuen Medien-Pranger (von der massenmedialen Reportage bis zur Internet-Plattform) Gründe und Motive für (theatrale) Selbstkontrollen – natürlich abhängig davon, wie viel und was man zu verbergen und zu verlieren hat. Vor allem bestimmte Akteurklassen, wie z. B. Prominente, befinden, sehen und fühlen sich in einer gleichsam oder tatsächlich panoptischen Situation.
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wartungen messen, identifizieren, konstruieren und sozial auf das festlegen oder festlegen könnten, was er willentlich oder unwillentlich von sich zu erkennen gegeben hat. Dementsprechend gilt es, sein (theatrales) Handeln einzustellen bzw. sein Handeln theatral einzustellen, einzuschränken und effektiv zuzuspitzen: auf bekannte Kontrolleure und Kontrollen und auf die Möglichkeit unbekannter, unerkannter oder verdeckter Kontrolleure und Kontrollen. Generell wirkt die Erwartung, Gegenstand von intransparenter Beobachtung oder Überwachung zu sein, im Sinne der Logik des Panoptismus: Man muss sich selbst kontrollieren, um nicht kontrolliert und sanktioniert zu werden (s. o.). Es ist also (und wird also) in bestimmten Hinsichten zunehmend objektiv wichtig – und erscheint zunehmend auch subjektiv wichtig –, sozial folgenreiche Informationen über sich, Informationen, die in irgendeinem eigenen Ausdruck liegen oder sich daran festmachen können, generell (diffus) oder in spezifischen Publikumsbezügen zu kontrollieren. Soziale Kontrollen/Überwachungen wie die genannten motivieren und evozieren daher auf der Seite des Kontrollierten auch darauf abgestimmte Theatralität406, sie schränken aber auch immer schon die subjektiven Spielräume von Theatralität ein. Diese schwinden sowohl durch das soziale Transparentwerden des Kontrollierten als auch durch Intransparenzen der sozialen Kontrolle für den Kontrollierten. In dem Maße und in der Weise, wie man sozial transparent ist und wie man in den entsprechenden sozialen Gedächtnissen aufgehoben, und d. h. spezifisch ‚detektiert‘, klassifiziert und gespeichert ist, ist man auch ‚informationell bestimmt‘ und in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, sich ‚informationell selbst zu bestimmen‘. Man liegt dann jedenfalls zunächst und vorläufig in den fremden Beobachtungen (Blicken) und Gedächtnissen fest und wird in ihren Rahmen entsprechend ver- und entwirklicht. Es ist aber eben nicht nur das Wissen, das andere (Beobachter) von ihm haben, sondern auch das eigene Unwissen, das er von anderen (Beobachtern) bzw. ihren Beobachtungen und ‚Datenverarbeitungen‘ hat, das den Akteur als (Schau-)‚Spieler‘ limitiert. Die differentiellen Panoptismen, die verdeckten Überwachungen und die Überwachungskontingenzen sowie die wie immer gewonnenen und sich entwickelnden Informationen, die andere zu Deutungskonstruktionen und Schlüssen, Einschätzungen und Erwartungen veranlassen, reduzieren das (Möglichkeits-)Maß der ‚informationellen Selbstbestimmung‘ dessen, der ihr Objekt und ihnen ausgesetzt ist. Heutzutage ist man schon regelmäßig und immer öfter kontrollierenden sozialen Beobachtungen, Informationsgeneratoren 406 Also: Ausdrucks-Informationskontrollen, (Selbst-)Darstellungen, Inszenierungen, Performanzen, Präsentationen, ‚Eindrucksmanipulationen‘, Bühnenarrangements.
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und Informationsspeichern ausgesetzt und ausgeliefert, die eine für die Betreffenden (und Betroffenen) teilweise oder völlig intransparente und (weil) spezialisierte Eigenlogik besitzen und jeweils gleichsam ein Eigenleben führen, das ‚Außenstehende‘ nicht oder nur sehr begrenzt durchschauen und beeinflussen können. Alois Hahn betont diesen Aspekt der informationellen Enteignung, Objektivierung und damit auch (theatralen) Entsubjektivierung im Blick auf die Gedächtnisse der modernen Bekenntnisinstitutionen und stellt schon vor drei Jahrzehnten prinzipiell fest (was heute und in Zukunft umso mehr gilt): „Charakteristisch für die Gegenwart ist (…), daß eine Fülle von Informationen, die ich über mich liefere, sei es bei der Ausfüllung eines Fragebogens, bei einem Verhör, in der Sprechstunde, im ‚Curriculum vitae‘ oder ‚Lebenslauf ‘ nicht Bekenntnisse sind, die ich in einer bestimmten Situation ablege und die dann vergessen werden. Vielmehr gibt es zahlreiche Methoden, diese Bekenntnisse zu speichern und sie nach von mir selbst nicht steuerbaren Kriterien neu zu ordnen, sie auf geheime Strukturen hin zu analysieren, um meine Gesundheit, meine Verläßlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit daraus abzuleiten. Diese Speicherung von Bekenntnissen, wie sie mit den modernen Techniken der Datenverarbeitung in vorher unglaublichem Ausmaß möglich wird, stellt wahrscheinlich (…) eine in ihren Folgen schwer abschätzbare Neuheit dar. Der mit allen Bekenntnissen immer auch schon gegebene Aspekt der Kontrolle, der Steuerung und der Überwachung erhält jedenfalls eine ganz neue Qualität.“ (Hahn 1982: 428)
Die Kontroll-, Klassifikations- und ‚Analyse‘-Verfahren und die entsprechenden (Sozial-)Gedächtnisse der sich dynamisch entwickelnden (modernen) ‚Überwachungsgesellschaft‘ sind also einerseits bestimmende und forcierende Faktoren und Generatoren und andererseits sozusagen natürliche Feinde von Theatralität und Theatralisierung bzw. theatraler Subjektivität und Subjektivierung. Es drängt sich damit wiederum der Eindruck einer ambivalenten historischen Entwicklungstendenz auf, die sich in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ zuspitzt: Ob und wie man von anderen (Publika) identifiziert und beurteilt wird, scheint man in bestimmten Figurationen und Hinsichten über ‚Eindrücke‘, die man (performativ) ‚macht‘, immer mehr selbst zu bestimmen, bestimmen zu können und bestimmen zu müssen, in anderen hingegen immer weniger.407 407 Wie, als was und mit welchen Folgen man wo ‚ankommt‘, wird auch jenseits sozialer Kontrollen zunehmend eine Frage von Wahrnehmungen, Beobachtungen, Informationsflüssen und Informationsverarbeitungen, die sich der eigenen Wahrnehmung, Beobachtung und Kontrolle entziehen, so dass man auch – jedenfalls teilweise – gar nicht (mehr) wissen kann, wie man sich selbst kontrollieren müsste, um einen bestimmten ‚Eindruck zu machen‘ und zu einem bestimmten Ziel zu
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Soziale Kontrolle interessiert hier allerdings nicht nur (und in gewisser Weise sogar weniger) in den klassischen und neuen oder modernisierten Formen der sich dynamisch entwickelnden ‚Überwachungsgesellschaft‘. Besonders interessant sind vielmehr gerade und zunehmend auch bestimmte Formen von Theatralität, und zwar insbesondere Formen von Medientheatralität, die – immer unter der Voraussetzung von Zivilisation (zivilisierten Habitus) – schließlich auch Zivilisierungsprozesse und (damit) gewisse Theatralisierungen nach sich ziehen können oder müssen. Eine Variante der hier gemeinten Kontrolle (und Zivilisierung) durch Theatralität besteht in der idealistisch-normalistischen Medientheatralität der massenmedialen Werbung, die über ihre performierten Skripts und Modelle Ideale, Normen und Normalitätsgrenzen definiert und mittels entsprechender kognitiver und emotionaler Beeindruckungsarbeit (‚Indoktrinationen‘, Affektualisierungen, Evokationen von Angst, Scham, Ekel, Stolz, Lust, Begehren usw.) Anpassungen des Publikums in diese Richtungen lenkt.408 Als eine weitere Variante und Entwicklung von sozialer Kontrolle durch Theatralität (und damit auch von Theatralisierung) ist hier die Medientheatralisierung von Formen ‚abweichenden Verhaltens‘ (Sucht, ‚Übergewicht‘, Kriminalität, Aggressivität usw.) und entsprechend spezialisierter sozialer Kontrollen, Kontrollobjekte und Kontrollsubjekte bemerkenswert (und perspektivisch untersuchenswert). Sie findet insbesondere in Form neuer medienkommunikativer Gattungen statt, die ‚abweichendes Verhalten‘ bzw. als abweichend markiertes Verhalten (von der ‚Überschuldung‘ bis zur ‚Essstörung‘) sowohl – dramatisch und dramatisierend – zeigen und thematisieren als auch zum Gegenstand normierender und normalisierender Reaktionen, Reflexionen und Instruktionen machen. Ein Beispiel dafür (ein unter zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten besonders interessantes und wichtiges Beispiel) sind Sendungen, die Erziehungsprobleme und spezialisierte Erziehungsmaßnahmen inszenieren.409 Auf diese und verwandte Weise wird gelangen. Dass feldspezifische formale (Groß-)Organisationen bzw. Organisationsstrukturen mit ihren speziellen Perspektiven, Informationsinteressen und Methoden der Informationssammlung und Informationsverarbeitung in diesem Zusammenhang – der theatralen Desinformation – von zentraler Bedeutung sind, liegt auf der Hand (s. o.). Auch Individualisierungsprozesse spielen hier eine Rolle, weil sie den anderen (und dessen Wahrnehmung) zunächst fremd und unkontrollierbar machen. 408 Zu den Theatralisierungsfolgen mögen in diesem Zusammenhang auf der Seite des Werbungspublikums gewisse Ästhetisierungen und Stilisierungen gehören, die sich im Alltagsleben z. B. auf der Ebene von jedermanns Korporalität bemerkbar machen. Die Werbung ist jedenfalls in puncto Korporalität quantitativ und qualitativ besonders aktiv. 409 Eine längere Tradition haben medial geführte psychologische und psychologisch-therapeutische Diskurse, Thematisierungen und Selbsthematisierungen. Kommunikative Gattungen und eduka-
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heute mehr denn je ‚weiche‘, aber möglicherweise umso intensivere und vor allem massenwirksamere Sozialkontrolle ausgeübt, die Ideale, Normen und Normalitätsgrenzen bewusst macht, definiert und einprägt – nicht zuletzt über ein Lernen am Modell bzw. ein Lernen am Gegenmodell (zu vorausgesetzten oder formulierten Normen, Normalitäts- und Idealvorstellungen).410 Die sich also in verschiedenen Dimensionen und Varianten fortentwickelnde ‚Überwachungsgesellschaft‘ und die sich zunehmend (parallel-)etablierende medientheatrale Kontrollgesellschaft bilden aber nur die eine Seite der Medaille, um die es hier geht. Der sich verstärkenden und wandelnden, elaborierenden und intensivierenden Kontrollseite der Gesellschaft steht unübersehbar eine Gegenseite bzw. eine komplexe Gegenentwicklung gegenüber, die gleichfalls höchst bedeutsam und folgenreich für Aspekte von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung ist. Während sich einerseits die besagten norm- und normalitätsbezogenen Kontrollen generalisieren, verstärken, differenzieren und intensivieren, finden andererseits gegenläufige Prozesse der Normzersetzung, Grenzverschiebung und ‚Entwachung‘ statt, etablieren und weiten sich auch soziale Kontrollfreiräume, Toleranzen, Anonymitäten, Dunkelfelder, Indifferenzen und damit wiederum soziale (auch informationelle und theatrale) Bestimmungs- und Selbstbestimmungschancen von Akteuren. Immer mehr Daseins- und Handlungsbereiche sind und werden in zunehmendem Maße dem individuellen oder interpersonalen Belieben bzw. der Aushandlung unterstellt. Hier kann man im Prinzip ‚machen, was man will‘, muss es aber unter Umständen auch – auch in Form von Wahlen, Entscheidungen, Gestaltungen von Theatralität, die nicht zuletzt als Theatralität der Aushandlung ein spezielles Gewicht gewinnt. Theatralität/Theatralisierung ist hier schließlich (und damit) nicht nur als eine Funktion und Form sozialer Kontrolle, sondern auch als ein negativ bestimmender und restringierender Faktor sozialer Kontrollverhältnisse und Kontrollaktivitäten anzusprechen. Die Gegenseite der historischen Entwicklung der (modernen) Kontrollgesellschaft impliziert neben und mit sich erweiternden sozialen Kontrollfreiräumen/Kontrollverlusten und Toleranzen (Entstigmatisierungen) auch einen sich ausdehnenden strategisch-dramaturgischen Manövrierspielraum und Manövriertorische Diskurse wie ‚Supernanny‘ (RTL), die allerdings auch eine mehr oder weniger starke psychologisch-therapeutische Komponente haben, sind dagegen relativ neu. Das gilt auch z. B. für mediale ‚Schuldnerberatungen‘, die sich dadurch auszeichnen, dass sich Psychologisierungen und Moralisierungen in etwa die Waage halten. 410 Diese Art der sozialen Kontrolle setzt natürlich ein gewisses zivilisatorisches/habituelles Niveau voraus, an das angeschlossen und appelliert werden kann, das sozusagen einen Resonanzboden darstellt.
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zwang für das Individuum, das heute in vielen Bereichen mehr denn je Chancen, Gründe und Motive hat, sich sozialen Kontrollen zu entziehen und z. B. ‚Doppelleben‘ oder noch komplexere ‚Parallelleben‘ (mit dazu gehöriger Multiplizität von Identitäten/Selbsten) zu führen. Nicht zuletzt sind theatrale Handlungsstrategien, nämlich das individuelle Management von imagerelevanten Informationen und Informationsbezirken (Vorder- und Hinterbühnen), eine systematische, zunehmend strukturell begünstigte Möglichkeit des Individuums, soziale Kontrollen zu Gunsten eigener Interessen und eigener (Ich-)Autonomie zu konterkarieren, zu hintergehen und zu unterlaufen. Der individuelle Stratege und der strategische ‚Performancekünstler‘ sind hier die sozusagen prototypischen, prototypisch gewordenen Figuren411. Deren Theatralität und ihre (strategische) Handhabung bilden eigene und an Bedeutung gewinnende soziale Kontrollgrenzen und eine Basis der ‚Gegenmacht‘ bzw. Gegenkontrollmacht des Individuums gegenüber der (und eventuell gegen die) Gesellschaft, ihren (An-)Forderungen und Kontrollen.
7.5.10 Individualisierungen
Zu den Bedingungen und Faktoren von (Ent-)Theatralisierungen gehören auch, wie bereits in verschiedenen Kontexten der bisherigen Überlegungen deutlich wurde, Prozesse und Strukturen der Individualisierung. Folgende Aspekte, die auch in der Elias’schen Individualisierungstheorie eine Rolle spielen, sind hier offensichtlich von zentraler Bedeutung.
7.5.10.1 Individualisierung als moralische, praktische und funktionale Aufwertung des Individuums
In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die obigen Überlegungen zur historischen Rolle der Würde und Würdigung des ‚Menschen‘ zurückzuverweisen. Dass damit, mit dieser moralischen Aufwertung des Individuums als ‚Mensch‘, eine Art (Prozess-)Dialektik zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung verbunden ist, wurde gezeigt. Gleichzeitig vollzieht sich, sozusagen als Parallelprozess zur ‚Humanisierung‘ (als Individualisierung), eine wesentlich strukturell bedingte (strukturierungs411 Sie sind heute in und zwischen allen ‚Lebenswelten‘, gerade auch in den Lebenswelten der großen Organisationen, zu finden.
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bedingte) praktische und funktionale Aufwertung des Individuums. Im Zuge sozialer (Feld-)Differenzierungs- und Verflechtungsprozesse, die komplexer und dynamischer werdende Rollenhaushalte mit sich bringen, spezifizieren und erhöhen sich die auf das Individuum (und an es) gerichteten sozialen Kompetenz- und Leistungsanforderungen, entwickelt es sich zu einer Art Knotenpunkt sozialer (Rollen-)Beziehungen und Praxen, dessen Anforderungs- und Leistungsprofil auch und gerade theatrale (expressive, dramaturgische) Qualifikationen einschließt. Das Individuum wird heute mehr denn je gleichsam als Verwaltungsund Steuerungszentrum in Netzwerken bzw. in seinen Netzwerken wie auch als ein relativ autonomes, starkes und dynamisches Ich (Subjekt) gebraucht und gebildet412, das theatral vielseitig kompetent, beweglich, erfinderisch und auch in einem strategischen Sinne urteilsfähig ist413. Mit diesen Eigenschaften ausgestattet und in dieser Weise sozial (normativ) definiert, bildet das Individuum – im Idealfall (und vielfältig theatral idealisierten Fall) als souveräne „Persönlichkeit“ (Gehlen 1957) – eine Grundlage und Ressource in der Bewältigung seiner tendenziell schwieriger und problematischer werdenden Verarbeitungs- und Handlungsaufgaben, von Rollen, Rollenbeziehungen und Rollenhaushalten414. Generell stellt es in dieser Verfassung sozusagen ein dienliches Potential dar, eine Qualifikationsund Leistungsressource, die in den verschiedensten figurationalen Kontexten aktualisiert, abgerufen und angefordert werden kann. Nicht zuletzt Berufe und (d. h.) Organisationen sind Kontexte der Nachfrage und Abnahme des hier gemeinten Spektrums von Kompetenzen, Attitüden und Handlungsbeiträgen.
412 In der Perspektive der Goffman’schen Identitätstheorie geht es hier um die Ebene der „Ich-Identität“. Dieser Begriff meint wesentlich die in einem Individuum verkörperte Funktion eines Steuerungszentrums in Bezug zum einen auf das individuelle Rollenensemble („soziale Identität“) und zum anderen auf die „persönliche Identität“ als der Individualität des Individuums aus der Sicht anderer (vgl. Goffman 1967). Das von Goffman gemeinte Ich („Ich-Identität“) muss sich beiden Identitätsseiten gegenüber verselbstständigen und diese Seiten ineinander und miteinander balancieren. Allerdings ist das so begriffene Ich als ein historisch relatives und gewordenes zu verstehen, das entsprechend – figurationssoziologisch – rekonstruiert werden muss. 413 Das angeforderte Kompetenzenensemble schließt Darstellungsfähigkeiten und Selbstkontrollen, wie z. B. „Bühnensicherheit“ (Goffman 1969), ebenso ein wie die Fähigkeit zum schnellen Rollenwechsel, zur Rollendistanz und zur strategisch-dramaturgischen Balancierung von (Rollen-)Erwartungen und Ansprüchen anderer und an andere. 414 Von – heute mehr denn je wahrscheinlichen – Rollenkonflikten aller Art, Rollenüberforderungen, Rollenstress usw.
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7.5.10.2 Individualisierung als Steigerung von Anerkennungs- und Geltungsbedürfnissen des Individuums
Ein weiterer Aspekt des hier (unter dem Titel Individualisierung und im Hinblick auf Theatralisierung) Gemeinten sind – mit dem erstgenannten Punkt zusammenhängende – gesteigerte individuelle und individualistische Anerkennungs- und Geltungsbedürfnisse bzw. Geltungsansprüche, wie sie sich z. B. in heute generalisierten Selbstthematisierungs-, Bekenntnis- und Autobiographisierungsaktivitäten manifestieren (vgl. Sennett 1983; Burkart 2006)415. Diese Aktivitäten zeugen von einem in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ beinahe schon überall zu findenden individualisierten und individualistischen Individuum416, das bei tendenzieller „Dynamisierung“ (Hahn 1982) seiner moralischen und biographischen Selbstdefinitionen (‚Über-Ich‘) soziale ‚Spiegelungen‘ und Geltungen/Anerkennungen braucht, fordert und – in Formen von Theatralität – betreibt. Verstärkt durch Medienentwicklungen wie das Internet und die dadurch möglich gewordenen Rollenspiele scheint man zunehmend darauf aus zu sein, nicht nur (oder überhaupt nicht) ‚sich selbst‘ in einer (Publikums-)Anerkennung (Applaus) versprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen, sondern sucht insbesondere nach Möglichkeiten individualistischer Distinktion – nach Möglichkeiten, eigene Distinguiertheiten als Individuum sozial zur Geltung zu bringen oder sich als distinguiertes Individuum in Szene zu setzen. Man kann in diesem Zusammenhang daher von einem „expressiven Individualismus“ (Burkart 2006) oder auch von einem individualistischen Expressionismus sprechen, dessen fortgeschritttenere Varianten zu ‚Sujets‘ führen oder in ‚Sujets‘ bestehen, die in theatralen (und oft theatralischen) Bemühungen tendenziell immer wieder neu konstruiert und definiert werden können und müssen. Das Subjekt dieses Individualismus sucht und findet heute einmalig viele und zum Teil ganz neuartige Bühnen expressiver Distinktion und distinktiver Expression, auf denen es jeweils die Anerkennung eines Publikums bzw. Beifall finden kann. Das Zeitalter des Individuums, der Individualität und des Individualismus ist also auch das „Zeitalter des Narzißmus“ (Lasch 1986) und zugleich das Zeitalter einer in-
415 Bei diesen ‚Selbstdarstellungen‘ handelt es sich um ein Spektrum von kommunikativen Gattungen (Subgattungen) und Veranstaltungen, die nicht nur quantitativ expandieren, sondern sich auch über die verschiedenen Gesellschaftsschichten hinweg ausbreiten und gesellschaftlich absickern (im Sinne des Elias’schen ‚Sickermodells‘, s. o.). In vielen Formen steckt ein entsprechendes ‚Selbstbewusstsein‘ und ‚Selbstwertgefühl‘ und der Wunsch, ihm zu sozialer Bestätigung zu verhelfen oder es durch soziale Bestätigung noch zu verstärken, weswegen diese ‚Selbstdarstellungen‘ regelmäßig Werbeveranstaltungen ähneln (vgl. z. B. Schulz-Buschhaus 2001; Hettlage 2003). 416 Allerdings ist dies zugegeben ein sehr abstrakter Idealtyp.
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dividualistisch-narzisstischen Theatralität/Expressivität417, die in einer zunehmenden Zahl von Formen immer weniger Rücksicht auf ‚Realitäten‘ nehmen muss. In diesem Zeitalter gibt es mit dem Phänomen, das Elias Massenindividualisierung nennt, auch eine Massenindividualisierung von Geltungsbedürfnissen und Geltungsansprüchen sowie eine Massenindividualisierung oder jedenfalls eine Massierung von – theatralen – Aktivitäten, sie zu verwirklichen.
7.5.10.3 Individualisierung als Freisetzung des Individuums
Der im direkten Zusammenhang mit der moralischen, praktischen und funktionalen Aufwertung des Individuums stehende Aspekt seiner Freisetzung aus diversen sozialen (strukturellen, institutionellen, moralischen/normativen) ‚Kontexten‘, aus Zwängen, Einbindungen, Bindungen und Kontrollen, und die damit einhergehende Steigerung von Spielräumen, Handlungsfreiheiten/Gestaltungsfreiheiten und Handlungszwängen/Gestaltungszwängen rufen Formen von Theatralität, theatraler Kompetenz, Kreativität und Leistung auf den Plan. Das freigesetzte, mit Spielräumen und Freiheiten, aber auch gleichsam mit Arbeitsaufträgen der Kontingenzreduktion und Kontingenzproduktion ausgestattete Individuum kann und muss – je nach Art und Maß seiner Möglichkeiten (Freisetzung, ‚Entbettung‘, Entselbstverständlichung) – (‚sich‘) darstellen, inszenieren, performieren und auch seinen Körper ‚sprechen‘ lassen, wobei es heute zwar in vielen Bereichen unbestimmter und freier denn je ist, aber natürlich keineswegs völlig frei und auch neuen Zwängen unterworfen. Es unterliegt nicht nur grundsätzlich dem ‚Zwang der Freiheit‘, sondern es sieht sich auch vermehrten konkreten Problemen418 und Erfordernissen sowie Formen von sozialem (Erwartungs-)Druck gegenüber, z. B. einer stärkeren Abhängigkeit (stärker als unter der Bedingung von tendenzieller ‚Einbettung‘) von pluralisierten und wechselnden Kontextbedingungen, Publikums(geschmacks)urteilen und einem generellen (Selbst-)Stilisierungsimperativ in der eigenen ‚Selbstdarstellung‘. Nicht zuletzt geht es hier um eine gewisse (gewordene und sich tendenziell verstärkende) gesamtexistenzielle Alleinstellung und Sonderstellung des Individuums, insbesondere um die Freiheit und den Zwang (der Freiheit), sein synchrones und diachrones Leben im Ganzen, und d. h. seine
417 Sie entfaltet sich mit besonderer Vorliebe auf massenmedialen Bühnen, die einen besonderen narzisstischen Gratifikationswert besitzen, weil sie mit einem (mehr oder weniger) großen Publikum große Wichtigkeit, Erkennung und Anerkennung suggerieren. 418 Zum Beispiel Orientierungs- und Distanzierungsproblemen (vgl. Dreitzel 1980).
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diversen Rollen und ‚Binnenzustände‘, individuell organisieren, orchestrieren und managen zu können, zu sollen und zu müssen. Auch dies verlangt und bewirkt Theatralität, theatrale Handlungskompetenzen und theatralen Handlungsaufwand – eine aktive Lebens- und Biographiepolitik – der Rollenverwaltung, der Rollensegregation, der Simulation und Dissimulation, der Selbst- und Lebensstilisierung bis hin zur biographischen Selbst(immer wieder)erfindung.
7.5.10.4 Individualisierung als Korporalisierung
Individualisierung steht (damit) weiterhin in einem komplexen Zusammenhang mit einem zentralen und vielseitigen Aspekt und Verweisungshorizont von Theatralität und Theatralisierung, nämlich dem Körper bzw. der Korporalität (s. o.). Auf einer sehr elementaren, fundamentalen Ebene kann man diesbezüglich mit Johannes Weiß feststellen – und damit auch schon eine Seite von Theatralisierung bzw. der Theatralisierung des Körpers fassen –, „dass Individualisierung, radikal vollzogen, auch den Rückgang bzw. das Zurückgeworfensein auf die je eigene Leiblichkeit und Sinnlichkeit bedeutet, in der, viel mehr als in der Teilhabe an irgendwelchen Sinn- und Wertordnungen, die Unvertretbarkeit der individuellen Existenz wurzelt. Das erklärt, warum die leiblichen resp. leibnahen Zustände und Verrichtungen eine so hervorstechende Rolle bei der Selbst-Präsentation von Individualität spielen“ (Weiß 2003: 226).419 In ähnlicher Richtung kann mit Elias die vielseitige Aufwertung des Körpers/der Korporalität nicht nur auf Zivilisationsprozesse, sondern auch auf mit Zivilisationsprozessen überschnittene oder parallellaufende Individualisierungsprozesse zurückgeführt werden, nämlich auf eine historische Verschiebung der ‚Wir-Ich-Balance‘ zum ‚Ich‘ (s. o.). Mit dieser Verschiebung hängt auch eine entsprechende Eigenwertung, Umwertung und Umdeutung des Körpers als ‚Selbst‘, Moment des ‚Selbst‘ oder „Träger des Selbst“ (Field 1978) zusammen. Es kommt m. a. W. im Zuge dieser Verschiebung dazu, dass der Körper ‚mehr Wert‘ oder überhaupt erst ‚wert‘ oder zum ‚Wert‘ wird, dass ‚neuer Wert‘ im Körper gesehen und ‚mehr Wert‘ auf den Körper gelegt wird – auf einen Körper, der zugleich (im Zivilisationsprozess) zunehmend überformt, durchgeformt und (selbst-)be419 In diesem Zusammenhang setzt Weiß Individualisierung auch als Ursache einer „Vergewöhnlichung“ an, die vor allem den Körper erfasst. Individualisierung erklärt für Weiß, warum man sich bei dem Bemühen, auf körperliche (leibliche) „Weise ganz authentisch, also ganz bei sich selbst zu sein, so leicht im Allerallgemeinsten des Allgemeinmenschlichen (…) wiederfindet resp. verliert, warum also solches Streben gerade nicht beim ganz Eigenen, sondern beim Allergewöhnlichsten endet“ (Weiß 2003: 226).
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herrscht wird, der in diesem Prozess und wegen ihm auch überhaupt erst ‚bewusst‘ und damit zum (theatralen) Thematisierungs- und Expressivitätsanlass wird. Zivilisierung und Individualisierung gehen demnach mit umfassenden und grundlegenden Wandlungen der Körperbedeutungen, Körperrelevanzen und sozialen Körperfunktionen einher, die zwar längst nicht nur, aber auch und gerade die Bedeutung und Relevanz des Körperausdrucks, der Körperdarstellung und überhaupt jeglicher Form von Korporalität betreffen (vgl. Koppetsch (Hg.) 2000). Das auf seinen Körper zurückgeführte und zurückgeworfene (individualisierte) Individuum ist und wird auch durch die Zeichenhaftigkeit und theatrale Instrumentalität des (seines) Körpers individualisiert. Im Zuge von Zivilisierungen und Individualisierungen ist der Körper jenseits seiner – bekanntlich nur in Grenzen, allerdings in sich erweiternden Grenzen, gestaltbaren – ‚naturalen‘ Individualität/ Gestalt420 zu einem der wichtigsten symbolischen Ausdrucks-, Darstellungs- und Performanz-/Performance-Medien des Individuums und seiner ‚Selbstdarstellung‘ geworden. Auch insofern kann man sagen, dass der Körper theatral geworden und theatralisiert worden ist. Neben dem und im Zusammenhang mit dem entsprechenden ‚OberflächenKörper‘, dem zeichenhaften, zeichenseienden, expressiven, präsentativen und performativen Körper421, wird in den genannten Prozessen auch der ‚Tiefen-Körper‘, der gefühlte und fühlende Körper, der Erlebnis-Körper geprägt, semantisch aufgeladen und mit dem ‚Oberflächen-Körper‘ als einer Dimension des Selbstseins und der Selbst-Bestimmung verknüpft. Je mehr das zivilisierte und individualisierte Individuum – gerade auch im Zuge von (Selbst-)Theatralisierungsprozessen – auf sich und – als realer ‚homo clausus‘ – in sich gestellt und auf sich reduziert wird, desto mehr tritt der (sein) Körper in einer Doppelung von Außen und Innen (homo clausus) ins Zentrum seines Selbstbewusstseins, seiner Selbsterfahrung und seines sozialen Selbstseins. Diesem (zivilisierungs- und individualisierungsbedingten) ‚Körperbewusstsein‘ korrespondiert eine bivalente oder ambivalente Semantisierung und Theatralisie420 Der ‚natürliche‘ Körper, der natürlich vom Anfang seiner Entwicklung an nie nur natürlich ist, ist in seiner Besonderheit und Unverwechselbarkeit auch der einfachste und ursprünglichste Bezugsrahmen der sozialen Individualität des Individuums bzw. der ‚Aufhänger‘ seiner ‚persönlichen Identität‘ (vgl. Goffman 1967). Vor allem an der Einzigartigkeit des Körpers wird das Individuum als solches erkannt und auf sie wird es unter Fremdheitsbedingungen reduziert. 421 Hierzu gehört auch der soziale ‚Attraktivitätskörper‘, der nicht nur (aber auch) generelle soziale Zuschreibungs- bzw. Kompetenzzuschreibungs- und Sympathievorteile bringt, sondern in der weitestgehend (sexual-)liberalisierten ‚Gegenwartsgesellschaft‘ bekanntlich auch Zugänge zu anderen Körpern erschließt, die als Quellen von Genuss und Glück ihrerseits attrahieren (sollen) bzw. durch ‚Attraktivität‘ attrahieren müssen, um zu solchen Quellen zu werden.
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rung: Während dem körperlichen Ausdruck und der Korporalität zunehmend ein Eigenwert und eine Eigenwichtigkeit zuwächst – als Medium der ‚Selbstdarstellung‘ und auch der ‚Selbstverwirklichung‘ – entwickelt und verstärkt sich gleichzeitig das Verständnis des Körpers als Inbegriff von Natur, Natürlichkeit und Authentizität, als vermeintliche Nicht-, Gegen- oder Anti-Theatralität und als Authentisierungsbasis, die im Extremfall die Transzendenz des Sozialen/Zivilisierten hin zur Natur und damit zur Authentizität verspricht. Auch dieser Körpersinn bzw. Korporalitätssinn hat allerdings eine vielgestaltige theatrale bzw. inszenatorische und performative Seite.
7.5.11 Mediatisierung und Medientheatralisierung
Die Relevanz der Medienentwicklung, insbesondere der Entwicklung der Massenmedien und des Internets, liegt in allen hier fokussierten Zusammenhängen mehr oder weniger auf der Hand. Jedoch wäre es verfehlt, die Prozesse der (Ent-) Theatralisierung mit den unter Titeln wie ‚Mediengesellschaft‘ diskutierten Entwicklungen der Medien ganz oder im Wesentlichen gleichzusetzen. Die bisherigen Überlegungen haben es auch bereits gezeigt: Weder beschränkt sich (Ent-)Theatralisierung auf Medien noch sind diese ohne weiteres als notwendige Bedingungen, Ursachen oder Hauptursachen von (Ent-)Theatralisierungen anzusetzen. Allerdings kann man im Kontext von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung von einer herausgehoben und zunehmend wichtigen Rolle der Massenmedien und des Internets sprechen – vor allem deswegen, weil es sich hierbei sowohl um in mancher Hinsicht theateranaloge als auch um relativ (hochgradig) eigenständige und dynamisch wachsende sozio-kulturelle Gebilde handelt, die im Bezugsrahmen nicht nur einzelner Felder sondern der ganzen Gesellschaft einen theatralen Charakter haben und in immer stärkerer und differenzierterer Weise Theatralität entfalten, anstoßen, bedingen und auch hervorbringen. Die folgenden Aspekte oder Seiten von Medientheatralisierung erscheinen in diesem Zusammenhang zentral und sind schließlich auch als Zusammenhang zu betrachten.
7.5.11.1 Medientechnologische Theatralisierung
Die technologischen Medienentwicklungen, insbesondere die Entwicklungen der Massenmedien und des Internets, können als solche als eine Form oder Ebene von Theatralisierung betrachtet werden, und zwar zunächst insofern, als die betref-
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fenden Medien(technik)typen in gewissen, je eigenen Analogieverhältnissen zum Theater stehen und dieses zugleich in bestimmten Punkten qualitativ überbieten. Mit der Mediatisierung der Kommunikation, insbesondere mit der Bild-Mediatisierung, wird jedenfalls die lokal-materielle Theatralität des Theaters transzendiert; Theatralität dringt in und mit neuen Formen und Inhalten, die sich historisch auch immer wieder selbst überbieten, in alle Räume der Gesellschaft vor. Die medientechnologische Entwicklung und die mit ihr einhergehende Entwicklung medialer ‚kultureller Foren‘ und sozialer (Handlungs-)Felder implizieren eine immer massivere Expansion, Differenzierung und Penetranz von Theatralität, eine immer größere Zahl und Vielfalt von Bühnen, dramaturgischen Ausstattungen/Requisiten, Skripts, Inszenierungen, Performances, Akteuren, Publika, (Publikums-)Wahrnehmungen. Mit dem Internet hat es diesbezüglich natürlich einen weiteren quantitativen und qualitativen Sprung und Schub gegeben (vgl. Willems (Hg.) 2008b). Wiederum ist mit einem neuen Medium eine neue strukturelle Ebene und komplexe Potentialität von Theatralität im Gesamtzusammenhang fortschreitender sozialer Figurations- und Theatralisierungsprozesse entstanden, ein ganzer Kosmos mehr oder weniger neuer Formen von Theatralität, der in vielfältiger Interdependenz, Interaktion und ‚Wechselwirkung‘ mit schon bestehenden (Medien-) Kulturen und mit sozialen (Figurations-)Praxisformen steht. Homecams (vgl. Neumann-Braun 2002), Homepages oder Weblogs (vgl. Schmidt/Guenther 2008) z. B. bedeuten auch – bei allem, was sie sonst noch bedeuten – neue und zugleich soziokulturell (traditions-)verwurzelte Bühnen, Skripts, Fassaden, symbolische/rituelle und strategische ‚Spiele‘ (z. B. des Werbens) und nicht zuletzt Wirklichkeiten und mentale Orientierungen von (Inter-)Akteuren. Die Theatralitäten und die Realitäten, die sich mit den neuen medialen Kommunikationsformen entfalten, werden immer differenzierter, komplexer, massiver, individualisierter und perfekter, aber auch in mancher Hinsicht fragiler, fragwürdiger, zweifelhafter und verdächtiger. Mit neuen Intransparenzen, Komplexitäten, Kontingenzen und Manipulationsmöglichkeiten entstehen auch neue Formen der Unsicherheit, des Zweifels, des (Manipulations-)Verdachts und neue Zwänge und Probleme, Handlungen und Situationen einzuschätzen, (Deutungs-)Sicherheiten zu steigern, Glaubwürdigkeiten zu prüfen und – theatral – zu erzeugen. Zentral bedeutsam – auch unter zivilisatorischen und zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten – ist in diesen Zusammenhängen die Tatsache, dass die medientechnologischen Entwicklungen mit neuen sozialen Figurationen, Akteuren, Interaktionsformen, Handlungs-, Erlebnis- und Erfahrungsoptionen und damit auch mit spezifischen Wissens-, Kompetenz- und Attitüdenbildungen der Mediennut-
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zer einhergehen, sei es, dass sie sie anfordern und/oder hervorbringen. Jedermann ist zunehmend von Medien und ‚Medientheatern‘ umstellt und lebt in einer medialen/medientheatralen ‚Multizwangsgesellschaft‘ und ‚Multioptionsgesellschaft‘. Zunehmend mehr Wahl-, Kompositions- und Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit und im Einsatz von Medien bedeuten auch, dass man dadurch auf vielfältige Weise sozusagen theatral subjektiviert und individualisiert wird. Man wird zum Subjekt bzw. zum individualisierten Subjekt von Theatralität und Theatralisierung. Technikverdankt ist jedermann heute mehr denn je Regisseur und Sujet medialer Inszenierungen und Performanzen, z. B. fotografischer und filmischer ‚Biographie-‘ und ‚Autobiographiegenerator‘.422 Und jedermann ist auch Nutzer diverser ‚Medientheater‘ oder medientheatraler Optionen, die es ihm im Prinzip überall und jederzeit gestatten, sein Bewusstsein, seine Gedanken- und Gefühlswelt performativ, durch die Einschaltung von Performanzen, zu beeinflussen und zu steuern. Ein bemerkens- und untersuchenswertes Beispiel dafür ist die Musik bzw. die Musikalisierung des täglichen Lebens423, die man jenseits allseitiger Berieselungen (in Kaufhäusern, U-Bahnen usw.) heute mehr als je zuvor selbst bestimmt424 – aufgrund individueller, individualisierter und individualistischer Vorlieben, die in dem Prozess ihrer Verwirklichung forciert und weiterentwickelt werden. Die medientechnologische Entwicklung ist also Grundlage und sozio- und psychogenetisch kontextierter Grund tiefgreifender und weitreichender Wandlungen und Prägungen sozialer Praxis (Alltag, Lebenswelt) und zugleich habitueller/ mentaler Dispositionen, die als Theatralitäten und Theatralisierungen gefasst werden können und zu differenzieren sind.
422 Diese Entwicklung ist auch zunehmend in professionellen Bereichen wie der Pädagogik und der Therapie zu beobachten. So werden heute z. B. filmische Biographiegeneratoren im Kontext von ‚Biographiearbeit‘ in der Jugendpädagogik ebenso wie in der stationären Pflege von Demenzkranken eingesetzt (vgl. Medebach 2011). 423 Dabei handelt es sich um eine besondere, besonders wichtige und unter den hier propagierten soziologischen Vorzeichen besonders vernachlässigte Form von Theatralisierung. 424 Das bedeutet auch ein erhöhtes Maß an Emotionalisierung und zugleich ein erhöhtes Maß an emotionaler Selbstkontrolle. Die musikalischen Konserven sind sozusagen Emotionsgeneratoren, auf die man je nach Bedarf (Lust und Laune) zurückgreift, um sich in bestimmte emotionale Verfassungen zu versetzen bzw. ‚hineinzusteigern‘. Musikalische Theatralität bietet sich heute jedermann als eine geradezu strategische Option der Emotionspflege und des individuellen Emotionsmanagements an. Die zivilisationstheoretischen Implikationen dieser Tatsachen sind, soweit ich sehe, bisher kaum reflektiert worden.
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7.5.11.2 Medientheatralisierung der Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion
Die Massenmedien und neben und mit ihnen das Internet gewinnen gleichsam als gesellschaftliche(s) Super-Theater (Welt-Theater) im Verhältnis zu allen sozialen Bereichen (Felder, Organisationen, Spezialkulturen, Szenen usw.), auf die sie sich beziehen und die sich auf sie beziehen, immer größere Bedeutung, soziale Wirkmacht und (weil) Wirklichkeitsmacht. Von Theatralisierung kann hier auch deswegen die Rede sein, weil und insofern die sich entwickelnden medialen Theatralitäten Realitäten implizieren und hervorbringen und damit relevant(er) und bestimmend(er) für soziale Praxen, Beziehungen und Identitäten jenseits der Medien werden. Ja man kann sagen, dass es sich bei diesem ‚Theater‘ (Ensemble von ‚Theatern‘) heute um die gesellschaftlich wichtigste und durchschlagendste Wirklichkeitsmacht handelt. Fischer-Lichte jedenfalls sieht in diesem Zusammenhang eine Art Kolonialisierung der alltäglichen Lebenswelt und der Lebenswirklichkeit im Ganzen. In ihrem Rahmentext zu dem DFG-Schwerpunktprogramm „Theatralität“ (s. o.) konstatiert sie einen gravierenden Wandel der gesellschaftlichen Realitätsverfassung und der Grundordnung der Realitätskonstruktion durch mediale Theatralitäten, insbesondere der ‚neuen Medien‘: Das mediale „Simulakrum wird zum Erfahrungsraum, und der mediale Schein erweist sich als eine der vielen Stufen von Scheinbarkeit, in die sich die traditionell als Gegensatz zum Schein erfahrene und definierte Wirklichkeit aufgelöst hat. Die neuen Medien tragen so wesentlich zur Theatralisierung unserer Alltagswelt bei, indem sie nur noch den Zugang zu einer inszenierten Wirklichkeit offen halten“ (Fischer-Lichte 2002: 293). Wie immer man diese Deutung und ihren Gegenstand im Einzelnen einschätzt: Es ist unübersehbar und von besonderer und genereller Wichtigkeit, dass sich im Zuge von Mediatisierungen und Medientheatralisierungen sozusagen die architektonischen Verhältnisse, ja die ganze Anlage der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion überhaupt gewandelt haben und weiter wandeln. Die Ordnung der Rahmen (im Goffman’schen Sinne) wird in diesem Entwicklungszusammenhang mindestens für die medial partizipierenden, produktiven und rezeptiven Akteure erheblich vielschichtiger, komplexer, unsicherer, offener und beweglicher. Nicht zuletzt gibt es ganz neue Sinn-, Erlebnis- und Erfahrungswelten, an denen auch (der entsprechend ‚gebildete‘) jedermann teilnehmen kann.425 Sicherlich ist die 425 Ein Beispiel sind Videospiele und speziell die Darstellung von Räumen im Videospiel, die sich im Rahmen einer formatspezifischen Theatralisierung grundlegend geändert hat: Statt um ‚funktionale‘ Spielfelder, in denen ausschließlich ‚spieldienliche‘ Handlungen möglich sind, geht es dabei mehr und mehr um die Inszenierung komplex gerahmter Erlebniswelten mit zunehmend kontingentem Charakter (vgl. Pranz 2009a, b).
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Frage der Wirklichkeit und der Wirklichkeitskonstruktion aber noch viel tiefgreifender und weitreichender zu stellen: als Frage, die alle Aspekte des sozialen Seins und Daseins von den ‚persönlichen (Intim-)Beziehungen‘ bis zur Politik im Innersten betrifft. Eine besondere und besonders wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Wirklichkeit (Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsmacht) des Bildes bzw. die gesteigerte und diversifizierte Bedeutung, Kontrollierbarkeit und Manipulierbarkeit des Bildes im Verhältnis zu anderen Zeichenebenen und Zeichensystemen, insbesondere im Verhältnis zu Sprache, Wort und Schrift. Mediatisierung und Medientheatralisierung sind Theatralisierung wesentlich im Sinne einer Visualisierung, die eine eigene und komplexe Realisierung impliziert. Dabei geht es einerseits um das Bild und den Aufstieg des Bildes als Entsprechung der primären Theatralität der (Bühnen-)Anwesenheit mit dem symbolischen Körperausdruck/Korporalität im Zentrum. Dem Körper und seiner kommunikativ-expressiven ‚Medialität‘ wird im Zuge der Mediatisierung ein neuer (Groß-)Raum jenseits der unmittelbaren Interaktion (Anwesenheit) und der ‚Interaktionsordnung‘ gegeben. Andererseits wird der Körper/Korporalität im Rahmen und mit den Möglichkeiten medialer Theatralität in immer komplexerer Weise sozusagen denaturiert und virtualisiert. Theatralisierung liegt hier auch in der technischen Steigerung und gesteigerten Nutzung der Möglichkeiten bildlicher Virtualität und (d. h.) Fiktionalität.
7.5.11.3 Medientheatralisierung der sozialen Felder
Die hier ins Auge gefassten (Medien-)Theatralitäten und Theatralisierungen implizieren nicht nur eine grundlegende, generelle und starke Differenzierung, Pluralisierung und (Um-)‚Polung‘ von Wirklichkeiten und Wirklichkeitskonstruktionen im Verhältnis zu diversen Publika/Nutzern, sondern sie bilden auch die Wirklichkeiten aller sozialen (Groß-)Felder sozusagen in sich ab und stehen in konstruktiven und praktisch relevanten Interdependenzverhältnissen zu ihnen. In Bezug auf die Felder der Politik, des Sports, des Rechts, der Wissenschaft, der Religion, der Kunst, der Bildung, der Erziehung, der ‚persönlichen Beziehungen‘ usw. fungieren verschiedene Medien und Medienkomplexe (z. B. Fernsehen und Internet) zum einen als ‚kulturelle Foren‘, die die Realitäten dieser Felder immer differenzierter in sich ‚spiegeln‘, und zum anderen als Bühnen von Performanzen, die jene Felder immer maßgeblicher beeinflussen und bestimmen. Selbst die besonders ‚substantiell‘ und ‚hart‘ scheinenden Praxen und Realitäten der Wissenschaft, der Wirt-
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schaft426 oder des Rechts spielen sich immer mehr in Formen, als Formen und durch Formen von Medientheatralität oder in Abhängigkeit von Medientheatralitäten ab. Offensichtlich geraten alle sozialen Felder und damit Feld-Akteure zunehmend in die medialen Kraftfelder, in die Anziehung und unter den Druck von Medientheatralitäten, die heute schon tendenziell ganze Feld-Praxen und FeldRealitäten bestimmen, die den Feld-Akteuren dabei aber immer auch (theatrale) Handlungsorte und Handlungsoptionen (an-)bieten, denen entsprechend sie agieren und eigene Theatralität einstellen können, um (ihre) Realität mitzubestimmen. Mit der Vermehrung und Differenzierung der Medienformen und der medialen Anbieter und (Format-)Angebote vermehren und differenzieren sich auch die Medienbühnen bzw. die Potentiale der Medienkommunikation, als sozusagen feldpolitische Bühnen zu fungieren. Dementsprechend werden die Medien mit eigentümlichen Theatralisierungsimplikationen und -effekten auf allen Ebenen von Akteuren symbolischen, rituellen und strategischen Handelns (Wirtschaftens) erschlossen, die sich je nach Feld, Angelegenheit, Bedarf und Opportunität der besonderen medialen Verbreitungs-, Inszenierungs- und Performanzpotentiale bedienen (s. u.). Immer mehr, immer differenzierter und zielgenauer spielt sich in diesem Rahmen und in diesen Formen die Image-Praxis der diversen sozialen Felder und Feld-Akteure ab. Ihnen bietet sich mit einem dynamisch wachsenden Kosmos medialer Plätze und Arenen heute mehr denn je die Möglichkeit – stellt sich aber auch die Aufgabe und das Problem – die passenden Bühnen zu finden, zu betreten und zu nutzen. Hier pflegen Politiker ihr Image und das ihrer Partei; hier versuchen Fußballtrainer ihr ‚Charisma‘ zu steigern, ihren Preis zu erhöhen oder ihre Spieler zu motivieren; hier werben Unternehmer oder Gewerkschaftler für sich oder machen in Tarifauseinandersetzungen ‚Druck‘; hier versuchen Kleriker Image- und Überzeugungsarbeit zu leisten; hier verschafft sich häufig auch schon jedermann öffentliche Aufmerksamkeit für sich oder seine Anliegen usw. Und weil es prinzipiell keine Stelle in den Medien gibt, die nicht dazu genutzt werden könnte, in diesem Sinne symbolisch, strategisch oder rituell zu agieren, wird der (multi-)mediale Raum tatsächlich mit derartiger Theatralität ausgefüllt. Wie dies geschieht, ist dann eine pragmatische Frage des jeweiligen Verhältnisses von Situationsbedingungen, Optionen und Kalkülen. So können sich Politiker je nach Medienzugängen, Image-Lagen und Image-Zielen der verschiedensten Medientypen und Medienplätze bedienen.427 Vernünftigerweise wird dann diejenige 426 Vgl. für das Feld der Wirtschaft z. B. Langenohl/Schmidt-Beck (2009). 427 Sie können in den ‚Nachrichten‘ auftreten oder über sich berichten lassen; sie können in „Wetten dass ?“, in Talkshows oder in den Container von „Big Brother“ gehen usw. Mittlerweile ist natürlich
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Bühne oder dasjenige ‚Theater‘ gewählt (oder eben ausgeblendet oder abgewählt), von dem sich der jeweilige Akteur unter den gegebenen Bedingungen den größten Nutzen verspricht.
7.5.11.4 Theatralisierung der Medienkulturen
Die Massenmedien und das Internet bilden auch selbst ausdifferenzierte und relativ autonome Felder, die bzw. deren Kulturen Prozesse der Theatralisierung durchlaufen haben und durchlaufen. Blickt man etwa auch nur oberflächlich auf die Angebote des (immer noch) ‚Leitmediums‘ Fernsehen, dann zeigt sich, dass in verschiedenen Hinsichten eine geradezu dramatische Theatralisierung aller Programmbereiche (Werbung, Unterhaltung, Nachrichten/Berichte) stattgefunden hat und weiter fortschreitet. Einige Aspekte der hier gemeinten Entwicklung(en) seien kurz und andeutungsweise angesprochen:
7.5.11.4.1 Theatralisierung als Wandel traditioneller medialer Kommunikationsformen und Formate/Gattungen
Es gibt einen im (medien-)historischen Rückblick kaum zu übersehenden strukturellen (Theatralitäts-/Theatralisierungs-)Wandel aller klassischen massenmedialen bzw. televisionalen Formate/Gattungen. Man denke etwa an „Das Wort zum Sonntag“, die „Tagesschau“, die Wettervorhersage/„Wetterkarte“, „Aktenzeichen XY“, die „Sportschau“ oder Werbespots. In der Kontrastierung ältester und neuester Varianten dieser Formate sieht man z. B., dass und wie die „Wetterkarte“ zu einer regelrechten Wetter-Show oder „Aktenzeichen XY“ von einer betulichen Berichtssendung zu einer Art Reality-Kriminalfilm-Show mutiert ist. Ebenso unübersehbar wie die allgemeine Entwicklungsrichtung (Theatralisierung) sind die Methoden oder Strategien, die in dieser Entwicklung impliziert sind oder mit ihr einhergehen: Dramatisierung, Entertainisierung, Emotionalisierung, Ästhetisierung, Visualisierung, technische Virtualisierung, Dynamisierung/Beschleunigung und Psychologisierung sind Schlagworte, mit denen sie charakterisiert werden können.
auch (und zunehmend) das Internet ein strategisch-dramaturgischer (Image-)Handlungsraum des Politischen und der Politiker bzw. ihrer Stellvertreter und Helfer.
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7.5.11.4.2 Theatralisierung als quantitative Verschiebung im medialen (Format-)Programmangebot
Dieser ‚formalen‘ und ‚inhaltlichen‘ Theatralisierung mehr oder weniger alter (traditioneller) Formate korrespondieren mit qualitativen Innovationen einhergehende quantitative Verschiebungen im Programmangebot gewisser älterer und neuerer Formate, die gleichfalls im Sinne des hier gemeinten Prozesses gewertet werden können. So haben sich die spezifisch theatralen oder auch dramatischen/dramatisierten Talkshows (vgl. Mikos 2009), die sich in Deutschland (erst) in den 1970er Jahren etabliert haben, nicht nur im Sinne einer (weiteren) Theatralisierung gewandelt, sondern auch zu so zentralen und verbreiteten Formaten des (Fernseh-)Unterhaltungssektors entwickelt428, dass von einer ‚Talkshowisierung‘ des Programmangebots im Ganzen die Rede sein kann. Oder man denke an das gleichfalls relativ junge und in der jüngeren Vergangenheit stark expandierte und diversifizierte Format der ‚Seifenoper‘ (vgl. Jurga (Hg.) 1995; Göttlich/ Nieland 2009), das sich wie andere relativ neue Formate durch die (Theatralisierungs-)Tendenz auszeichnet, Alltäglichkeiten/Alltagsthemen zu privilegieren und zu dramatisieren. Diese Tendenz zur Expansion von Formaten, die sich durch die Thematisierung und Dramatisierung von Alltäglichem oder auch „Gewöhnlichem“ (J. Weiß, s. o.) oder Banalem auszeichnen, steht neben – und verbindet sich teilweise mit – quantitativen und qualitativen (Theatralisierungs-)Tendenzen zum Außergewöhnlichen, Erstaunlichen, Spektakulären und Sensationellen, sei es im Rahmen von ‚pragmatischen‘ Formaten (etwa im Kontext journalistischer Berichterstattung) oder von Fiktionen verschiedenster Art.
7.5.11.4.3 Medientheatralisierung als Verspielung
Zu den traditionellen Bereichen und Formaten, die sich in Form und Inhalt im Sinne einer Theatralisierung gewandelt und in diesem Sinne auch quantitativ verschoben haben, gehören auch und hauptsächlich die medialen Spiele, insbesondere die als Shows gerahmten Spiele (Spielshows). Man denke im Hinblick auf das Fernsehen gegenwärtig etwa an Günter Jauchs „Wer wird Millionär ?“ – ein Beispiel, an dem man auch zentrale Theatralisierungsmuster dieses Spielshow-Formats erkennen kann: nämlich Dramatisierungen der Spielsituation (z. B. durch stark erhöhte Gewinne und Verluste), Dramatisierungen der beteiligten Personen (als Indivi428 Dabei geht die quantitative Zunahme mit ihrer qualitativen Vervielfältigung einher.
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dualitäten) und Dramatisierungen der Interaktionen/Beziehungen zwischen den Kandidaten und dem ‚Spielleiter‘/Moderator.429 Spiele und Spielelemente haben im massenmedialen (vor allem Fernseh-) Programmangebot wie im Computer-Kontext in immer mehr Varianten einen zentralen Stellenwert erlangt. Neben eher traditionellen Formen wie „Wer wird Millionär ?“ gibt es aktuelle Spielshows neuartigen Zuschnitts, z. B. solche, in denen aus ‚Nobodies‘ ‚Stars‘ gemacht werden („Deutschland sucht den Superstar“, „Big Brother“) oder sich umgekehrt ‚Stars‘ heruntermodulieren oder sogar degradieren lassen müssen („Ich bin ein Star – Holt mich hier raus !“). Zu denken ist hier neben eigentlichen Spielshows auch an Formate mit mehr oder weniger ausgeprägten spielerischen Komponenten oder Elementen, z. B. immer verspielter werdende Polit-Talkshows oder auch das strukturell verspielte „TV-Duell der Kanzlerkandidaten“, das den sozialen Rahmen des Spiels mit anderen Rahmen (Theater, Ritual, Wettkampf) synthetisiert. Darüber hinaus spielen heute natürlich auch virtuelle (Computer-)Spielwelten430 eine zunehmend wichtige Rolle in dem speziellen (Medien-)Theatralisierungsprozess der ‚Verspielung‘, mit dem sich auch der Raum der Phantasie und des Phantasierens erheblich erweitert und zugleich spezifisch formiert. Dieser Komplex von Prozessen verweist vermutlich auf einen fundamentalen Lebenstil- und Mentalitätswandel und eine im Ganzen – auch jenseits von Spielen im engeren Sinn – ‚verspielter‘ gewordene und werdende Gesellschaft.431 Schon Gehlen (vgl. 1957) hat auf solche Tendenzen als Charakteristika einer ganzen Epoche hingewiesen – Tendenzen, die sich heute jenseits eigentlicher Spiele vielleicht am deutlichsten im zunehmend (internet-)medial gestützten und geprägten Bereich der persönlichen Intim-Beziehungen abzeichnen.
429 Zum Vergleich aktueller Varianten mit historischen erinnere man, wenn man kann, z. B. „Was bin ich ?, das heitere Beruferaten“ mit Robert Lembke, „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal oder „Einer wird gewinnen“ mit Hans-Joachim Kulenkampff. 430 Zum Beispiel: „Second Life“ oder „World of Warcraft“. 431 Die natürlich auch auf die Entwicklung der ‚Erlebnisgesellschaft‘ zu beziehende historisch-soziologische und zeitdiagnostische Rekonstruktion der Bedeutungen (Erscheinungsformen, Funktionen, Folgen) des Spiels, des Spielens und der ‚Verspieltheit‘ steckt allerdings erst in den Anfängen und hinkt zunehmend der empirischen Dynamik der ‚Verspielung‘ hinterher.
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7.5.11.4.4 Medientheatralisierung als Verwerblichung
Neben einer und mit einer als generelle Entwicklungstendenz fortschreitenden ‚Verspieltheit‘ und ‚Verspielung‘ ist hier, im Zusammenhang von Medientheatralisierungen, die zunehmende Verwerblichung der Massenmedien sowie in ihrem direkten Gefolge die Verwerblichung des Internets von eigener Wichtigkeit.432 Die besondere Bedeutsamkeit dieses komplexen Prozesses (Prozesskomplexes) liegt zunächst (ähnlich wie im Falle der ‚Verspielung‘) darin, dass es dabei nicht nur um ein einzelnes Format oder einzelne Formate und nicht nur um einen ganzen medialen Bereich bzw. Programmbereich geht, sondern um einen tiefgreifenden Wandel aller Medienfelder im Sinne einer Durchdringung mit und Abhängigkeit von Werbung. Man kann in diesem Zusammenhang in verschiedenen Hinsichten von einer „Gesellschaft der Werbung“ (Willems (Hg.) 2002) sprechen: – weil der Bereich der Werbung auf allen Medienebenen quantitativ enorm expandiert ist und weiter expandiert und somit immer mehr gesellschaftliche Sphären und Identitätsaspekte immer stärker erfasst und belegt, – weil sich Werbung im Zuge ihrer Expansion zugleich diversifiziert und raffiniert (subtilisiert) und damit wirkmächtiger wird433, – weil Werbung mittlerweile auch im globalen Maßstab zu einer ökonomischen und sozio-kulturellen Supermacht geworden ist, die die Felder der Medien mit Konsequenzen für deren Angebote (Kultur) immer mehr in Abhängigkeit von sich gebracht hat und bringt, – weil Werbung als Medienkommunikation in der Flut ihrer textlichen und bildlichen Performanzen immer auch Deutungen und ganze (Image-)Versionen von der Gesellschaft (Welt) entwickelt, verbreitet und sozial verwirklicht, – weil sich Werbung im Zuge ihres medienkulturellen Aufstiegs sozusagen zu einer gesamtgesellschaftlich wirksamen Sozialisationsinstanz und zu einer Art Leitkultur entwickelt hat, an deren Sinn- und Funktionsprinzipien (Erfolgs-
432 Vgl. dazu in Bezug auf die Massenmedien Derra/Jäckel (2009); Eck/Jäckel (2009) sowie Vollbrecht (2009); in Bezug auf das Internet Thimm (2009) und Wyss (2009). Zu dem Methodenbestand der Werbung gehören natürlich seit jeher auch Formen und Modulationen des Spiels (z. B. ‚Gewinnspiele‘). Vermutlich kann man auch sagen, dass ‚Verspieltheit‘ oder ‚Verspielung‘ zu den Entwicklungstendenzen/Trends der Werbung gehört – wie man auch sagen kann, dass die Verwerblichung als solche der ‚Verspielung‘ Vorschub leistet. 433 Mittlerweile handelt es sich ja um eine Art Kriegsführung mit den technisch elaboriertesten (erfolgversprechendsten) Mitteln nicht nur der Psychologie, sondern auch der Sozialwissenschaften.
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prinzipien) ‚man‘ sich lebenspraktisch orientieren kann und tatsächlich orientiert434, – weil die Werbung selbst ein Feld und gleichsam eine Gesellschaft (der Werber) mit wachsendem Gewicht in der Figuration der sozialen Felder (der ‚Realgesellschaft‘) geworden ist.435
7.5.11.4.5 Medientheatralisierung als Formatverschwinden, Formatinnnovation und polarisierter Formatkulturwandel
Die hier thematischen Wandlungen – Theatralisierungen – medialer Produktkulturen sind in allen (Programm-)Bereichen auch im Verschwinden alter Formate und damit einhergehend im Auftauchen neuer Formate436 zu erkennen, die mit zunehmender Geschwindigkeit und Abwechslung erfunden werden und jeweils eine innovative, stilistisch und/oder symbolisch spezifisch akzentuierte Theatralität bzw. Dramatik entfalten. Zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen treten im Blick auf diese Erzeugnisse – manchmal innerhalb ein und desselben Formats – hervor: Auf der einen Seite vermehren, vervielfältigen und verschärfen sich jene bereits oben thematisierten Performanzen von „negativen Erfahrungen“, ‚Vergewöhnlichungen‘, Ritual-, Stil- und Rahmenbrüchen, die heute ganze Gattungen und eine sich verlängernde Reihe solcher Gattungen charakterisieren. Hier ist an sich ihrerseits wandelnde, nämlich sich spezifisch theatralisierende, Fernsehformate wie „Big Brother“437, (andere) ‚Campshows‘ oder ‚Casting Shows‘ zu erinnern, die 434 Wenn eine solche Wortschöpfung erlaubt wäre, könnte man in diesem Zusammenhang vielleicht von einer Verworbenheit des Denkens und Handelns sprechen. 435 Diese ‚Gesellschaft‘ hat und entwickelt auch für sich selbst eine eigene Theatralität. 436 Beispiele für jüngere (Komplett-)Neuerfindungen sind im Bereich des deutschen Fernsehens „Deutschland sucht den Superstar“, „Goodbye Deutschland – die Auswanderer“, „Das perfekte Promi Dinner“ oder „Bauer sucht Frau“. 437 Grundidee der ‚Realtainment‘-Fernsehserie „Big Brother“ ist natürlich die Orwell’sche Überwachungsutopie, die in ein lagerähnliches Gebäude und Reglement umgesetzt wurde. In diesem Rahmen geht es allerdings weniger um ‚Reality‘ im Sinne ‚natürlicher Lebenswelt‘ als um inszenierte Image-Arbeit und Image-Konkurrenz vor laufenden Kameras und im Bewusstsein dieser Kameras. Die Anlage des Big-Brother-Spiels und das entsprechende an das Publikum adressierte Unterhaltungsversprechen sind also paradox: Auf der einen Seite soll es um die Veröffentlichung privaten und intimen Daseins, um die Wahrheit hinter den Kulissen, Fassaden und gepflegten Images gehen. Auf der anderen Seite wird in Big Brother nicht etwa zwanglose Intimität zelebriert, sondern ein interpersonaler Image-Kampf, in dem Erfolge von bestimmten ‚guten (Publikums-)Eindrücken‘ abhängen. Insofern handelt sich bei Big Brother weniger um ein Segment des „Bekenntnismarktes“, den Sennett im Auge hatte, als er von der „Tyrannei der Intimität“ sprach, als um eine Arena, in der Intimität, scheinbar ‚bloß Menschliches‘, strategisch instrumentiert, inszeniert
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wesentlich aus mehr oder weniger krassen und spektakulären ‚Spielen‘ mit symbolischen Identitätsthemen und Ordnungsformen (Ritualen/Ritualisierungen) bestehen. Nicht zuletzt geht es dabei um eine spezifisch negative interaktionsrituelle Theatralität: Zu Unterhaltungszwecken werden image-riskante und image-schädigende Interaktionen bzw. ‚Selbstdarstellungen‘ inszeniert, wobei das mehr oder weniger dramatische Scheitern von Images gewissermaßen als Regelfall eingebaut ist. Auch (andere) extreme oder extremistische Momente und Situationen der Komik, wie z. B. den Auftritt eines gewissen ‚Furzers‘ bei der Sendung „Das Supertalent“438, sowie neue, gleichfalls verschärfte mediale Gattungsvarianten der Komik (samt zugehöriger ‚Comedians‘) verdienen in diesem Zusammenhang (nicht zuletzt unter zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten) besondere Beachtung. Auf der anderen Seite sind Medienerzeugnisse und medienkulturelle Tendenzen scheinbar ganz anderer Art mit ganz anderen, umgekehrten Stil-, Symbol- und (moralischen) Wertvorzeichen zu sehen, die sich ihrerseits als Theatralisierungen bzw. Dramatisierungen werten lassen. Zum Beispiel: – neben stilistischen Heruntermodulationen und (‚gewöhnlichen‘) Stilbrüchen stilistische Hinaufmodulationen, Stilisierungen und Hyper-Stilisierungen, speziell Selbst- und Lebensstilisierungen, wie etwa im Falle des „perfekten Promi Dinners“; – neben Image-Verletzungen, Image-Zerstörungen und Stigmatisierungen Image-Kultivierungen, Idealisierungen sowie (Normal-)Personen- und Starkulte, z. B. im Rahmen – inflationierender – Ehrungs- und Preisverleihungszeremonien; und performiert wird. Dabei geht es analog zu den ernsten Spielen des ‚wirklichen Lebens‘ um ein Im-Spiel-Bleiben – dadurch, dass man An- und Abwesenden kontinuierlich gefällt und besser gefällt als andere, so dass man gewählt oder nicht abgewählt wird. Es geht insbesondere um die Gewinnung und Bewahrung von Sympathien (symbolischen Pluspunkten) einerseits und die Vermeidung von Antipathien (symbolischen Minuspunkten) andererseits. Als Unterhaltungsangebot ist Big Brother damit auch ein symbolisches (rituelles) Sinnangebot. Es wiederholt, formuliert und dramatisiert Strukturmomente von jedermanns Existenz und eine Art Weltbild. Der Zuschauer dieses Medienprodukts ist demnach nicht nur ein ‚Voyeur‘ (von anderen), sondern auch ein Beobachter seiner selbst und seiner Dramen, die er am dramatischen Tun anderer wiedererkennen kann. Was er an diesem Tun und an den Bedingungen dieses Tuns erkennt, ist auch oder vor allem seine eigene Image-Realität. Die ‚soziale Tatsächlichkeit‘ und Schicksalhaftigkeit von Images, die Unmöglichkeit der Macht und Gewalt von Images (im ‚Zeitalter der Images‘) zu entgehen, der soziale (potentielle Geld-, Status-) Wert von Images, die Bedeutung von ‚imagepolitischer‘ Klugheit – alle diese ‚Inhalte‘ sind Momente eines mehr oder weniger intuitiven Image-Wissens, das Big Brother performiert, also in gewisser Weise reflexiv macht. 438 Dort konnte man auch einen ‚Maler‘ am Werk sehen, dessen ‚Pinsel‘ aus seinem Penis bestand.
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– neben Tendenzen zur Veroberflächlichung, Verkürzung und ‚Verdinglichung‘ von Personen (dramatische) Psychologisierungen und (psychologische) Biographisierungen. Gerade auch neuere Talkshow-Formate zeichnen sich durch einen Sensibilität und Empfindsamkeit kultivierenden psychologisch-moralischen Stil der Selbst- und Fremdthematisierung aus. In den Vordergrund rücken hier typischerweise mehr oder weniger komplexe (Selbst-)Beschreibungen und analytische oder quasi-analytische Reflexionen von Dramen und Dramatiken der menschlichen Existenz.439
7.5.11.4.6 Medientheatralisierung als Differenzierung/Spezialisierung der medialen (Programm-)Anbieter- und (Programm-)Angebotsstruktur
Zu den hier bemerkenswerten Entwicklungen gehören auch die fundamentalen Wandlungen auf der Ebene der medialen Anbieter (z. B. Sender). Bezüglich des Fernsehens ist neben und mit der strukturellen Dualisierung des Anbieterfeldes (öffentlich-rechtlich/privat), die mit kommerzialisierungsbedingten Theatralisierungen und Enttheattralisierungen verbunden war und ist440, die sachliche Differenzierung und Spezialisierung von Programmanbietern von zentraler Bedeutung. Mit der Entstehung/Ausdifferenzierung von Nachrichtensendern, Musiksendern, Sportsendern usw. haben sich sozusagen neue Anbieterformate und zugleich neue (Medien-)Kulturformate gebildet – mit Implikationen und Konsequenzen im Sinne der hier in Frage stehenden Entwicklungen. Es geht in diesem Zusammenhang also nicht nur um sachliche/thematische Differenzierungen und Spezialisierungen, um ‚Sparten‘ und entsprechend spezielle Interessentenkreise und ‚Zielgruppen‘, sondern auch um die Ausformung ganzer und mehr oder weniger komplexer (Handlungs-)Sphären von Theatralität, um Inszenierungs- und Performanzuniversen, die sich sozusagen um thematische Kerne entwickeln und
439 Hinter diesen wie jenen (Medien-)Theatralisierungen stehen neben sozialen Feldbedingungen (funktionale Differenzierungsprozesse, spezielle Unternehmensbildungen/Ideenfabriken, sich verschärfende Konkurrenzkämpfe um Publika/Marktanteile usw.) natürlich auch publikumsspezifische (schichtspezifische, milieuspezifische) Habitus und Habitusdifferenzierungen. Die jeweiligen medienkulturellen Manifestationen mögen dann ihrerseits im Sinne lebenspraktischer/habitueller Theatralisierungen oder Enttheatralisierungen folgenreich sein, nämlich als kopierbare Modelle, Impulse, Verstärker oder Degeneratoren von Normen, Normalitäten, Stilen oder Moden. 440 Entsprechend der (Markt-)Logik der Publikumsresonanz bzw. Publikumsnachfrage (Einschaltquote).
Theatralität und (Ent-)Theatralisierung
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so etwas wie einen kognitiven (mentalen) Stil und eine symbolisch-kosmologische Ordnung implizieren. Als Beispiel kann der aktuelle ‚Kinderkanal‘ „KiKa“ dienen, mit dem eine neue Art von Kinder-Medien-Theatralität (nicht nur Kinder-Unterhaltungs-Theatralität) in die Welt gekommen ist. Sie besteht in einem durchaus komplexen, vielfältigen Programmangebot mit einer Reihe kinderspezifischer Formate (Gattungen)441, bildet aber auch eine im Ganzen tendenziell konsistente Sinnwelt – Semantiken und Diskurse eingeschlossen. Diese Sinnwelt geht wie die vergleichbaren Sinnwelten anderer medialer Spezialanbieter (z. B. ‚Nachrichtensender‘ wie „n-tv“) aus feldfundierten strategischen Inszenierungen von Spezialisten (spezialisierten Symbolverkäufern, s. o.) hervor, die auf allen Ebenen Publika möglichst effektiv ‚ansprechen‘ und bedienen wollen und deswegen auch im performativen Ergebnis zu ‚inhaltlicher‘ Konsistenz tendieren. Im Falle von „KiKa“ führt das kontinuierlich zu einer Kinder-(Ideal-)Weltversion, die ihrerseits viel mit Theatralität zu tun hat. Die inszenierte ‚KiKa-Welt‘ ist eine durch und durch theatrale und theatralische Image-Welt, in der es thematisch hauptsächlich um Tanzen, Musik/Gesang, Spiel, Spaß, Events, Konsum und auch schon um das (biographisch spätere) Glück geht, ‚Superstar‘ zu sein. Generell kann man feststellen, dass die sachliche Anbieterspezialisierung mit einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung medialer bzw. medientheatraler Spezialkulturen einhergeht, die sich am jeweiligen thematischen Bereich (Musik, Sport etc.) festmachen und diesem Bereich Formen und Inhalte geben. Die Entwicklung und die Ausgestaltung dieser Spezialkulturen müssen sich natürlich an den Bedingungen ihres sozialen (Um-)Feldes (Markt, Konkurrenz), an den kulturellen/ symbolischen Implikationen und Kontexten ihrer Themen (Sport, Religion etc.) und an den kulturellen/mentalen Dispositionen, Interessen und (Aufmerksamkeits-)Affizierbarkeiten der jeweiligen Medienpublika ausrichten. Als ein Beispiel dafür, dass das mit thematischer Konzentration und Expansion nicht unbedingt eine Steigerung kultureller (theatraler) Komplexität und Subtilität impliziert, sondern eher die Umkehrung davon, mag man die Erzeugnisse des Nachrichtensenders „n-tv“ betrachten.442 441 Unterhaltungsformate für Kinder, insbesondere Spiele und Wettbewerbe, Werbung für Kinder, Nachrichten/Berichte für Kinder, (moralische) Belehrungen von Kindern und für Kinder, Beratungen von Kindern etc. 442 Der thematischen Konzentration/Spezialisierung und Expansion (Nachrichten und Berichte rund um die Uhr) entspricht in diesem Fall sozusagen die McDonaldisierung, die strategische Verflachung und Vereinseitigung der ‚Benachrichtigung‘ und ‚Berichterstattung‘ in einer Art FernsehBildzeitung.
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Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
„… ‚Also er will auch keine öffentliche Rehabilitation mit Tamtam und Rummel und Entschuldigungen und Selbsterniedrigungen des Vizepräsidenten ?‘ ‚Nein.‘ ‚Hm.‘ Der Präsident dachte nach. ‚Stellt er Bedingungen ?‘ ‚Ja.‘ ‚Aha. Dachte ich mir doch, daß er berechenbar ist. Und was will er ?‘ ‚Er will, daß der Vizepräsident die ganze Geschichte – wie man ihn gejagt und reingelegt hat, wer da mitgemacht hat und aus welchen Motiven – daß er das alles bis aufs kleinste Detail seiner Tochter Sarah erzählt.‘ Da sprang der Präsident auf und jubelte: ‚Mehr nicht ?‘ ‚Und wenn er fertig ist, soll er es aufschreiben und ihm den Bericht aushändigen.‘ ‚Wir machen aber eine Kopie‘, befahl der Präsident. Und so geschah es.“ Schlusssätze aus: Dietrich Schwanitz, „Der Campus“ (1995). (Der ‚Kontext‘ ist dort nachzulesen.)
Ein weiterer systematischer Arbeitsschwerpunkt im Sinne des hier entfalteten Programms einer synthetischen (Figurations-)Soziologie ist dem weiten und empirisch wie theoretisch verweisungsreichen Feld des strategischen Handelns gewidmet, das auch schon in den bisherigen Überlegungen regelmäßig thematisiert wurde.443 Es erscheint – nicht nur, aber gerade – unter den Vorzeichen der Figurationssoziologie in engem Zusammenhang mit den ‚Aspekten‘ des Kampfes/der Konkurrenz und vor allem der Macht, denen Elias ja – in der Tradition von Marx, Weber und Simmel – die Rolle eines ‚Motors‘ der sozialen Praxis und eines „Motors der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Breuer 1996: 305) zuspricht. Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht sind aus seiner (figurationssoziologischen) Sicht als empirisch untrennbare ‚Aspekte‘ oder Seiten sozialer Praxis zu verstehen, die im Gesamtzusammenhang von (historischer) Sozio- und Psycho443 Unter Titeln wie Theatralität, Bühne, Selbstdarstellung, Eindrucksmanipulation, Imagearbeit, Symbolverkäufer oder Werbung.
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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genese wahrgenommen und rekonstruiert werden müssen. Dementsprechend kann es hier nicht nur um Überlegungen zu einer Theorie strategischen Handelns gehen, sondern mit einer solchen Theorie, die in der anvisierten (synthetischen) Soziologie allerdings einen systematischen Platz hat, ist immer auch diese Soziologie im Ganzen und insbesondere eine Theorie der Macht und des Kampfes/der Konkurrenz als Bezugsrahmen und Arbeitsauftrag auf den Plan gerufen. Von dieser Perspektive ausgehend und auf diese Perspektive hin denkend und argumentierend, gehe ich auf der Basis bereits erfolgter figurationssoziologischer Bestimmungen grundlegender Begriffe (Figuration/Feld444, Habitus, Macht, Konkurrenz usw.) den Fragen des strategischen Handelns zunächst begrifflich-theoretisch nach und komme aus diesem sachlichen Blickwinkel wieder auf jenen Zusammenhang von Begriffen zurück, und zwar mit der Aussicht auf entsprechende Spezifikationen, die die Figurationssoziologie sozusagen immanent in Anspruch nehmen und zugleich weiterführen sollen. Dies ist auch und schon deshalb sinnvoll, weil diese Soziologie auf der Ebene der strategischen Handlungstheorie relativ unbestimmt und unterentwickelt ist, obwohl sie der Empirie des strategischen Handelns größte Wichtigkeit beimisst und auch immer wieder Aufmerksamkeit widmet. Entscheidend ist, dass die Figurationssoziologie sozusagen das Gerüst für die Bildung einer Theorie strategischen Handelns zwar nur teilweise ausdrücklich bereitstellt, aber im Ganzen aufzubauen erlaubt und damit auch die Mittel für eine vielversprechende, weil weiterführende theoretische Integration auf einem höchst wichtigen (und prominenten) soziologischen Theorienfeld445 bereithält. Es geht mir daher schwerpunktmäßig darum, jenes Gerüst – eine figurationssoziologische Konzeptualisierung strategischen Handelns – zu erarbeiten und gleichsam in Stellung zu bringen. Besondere Gewinne versprechen unter dieser Voraussetzung herzustellende begrifflich-theoretische Synthesen mit einschlägigen und benachbarten Ansätzen 444 In den Vordergrund der theoretischen (Re-)Konstruktion rückt hier wiederum der mit dem Habitusbegriff gepaarte Leitbegriff der Figuration, der bereits im ersten Schritt des hier programmierten Unternehmens auch als Macht- und (Konkurrenz-)Kampfbegriff entwickelt wird. Als Moment von Praxis verweist alles Strategische (Denken, Handeln, Planen, Können oder Nichtkönnen usw.) auf Figurationen von interdependenten Akteuren und auf (labile) ‚Machtbalancen‘ zwischen Akteuren, auf (Handlungs-)Zwänge, (Handlungs-)Spielräume und (Handlungs-)Freiheiten von Akteuren/‚Spielern‘, die nicht nur, aber auch als strategische Akteure habituell spezifisch disponiert (ausgestattet, motiviert, orientiert) sind bzw. sein müssen, um Erfolge haben zu können. Damit stellen sich in diesem Zusammenhang auch immer wieder Fragen, die die Figuration/HabitusTheorie bzw. die Feld/Habitus-Theorie sowie (damit) die Zivilisationstheorie und die Wissenssoziologie (s. o.) aufrufen. 445 Man denke nur an die Debatten im Zusammenhang von ‚Rational Choice‘.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
oder Paradigmen wie der Geheimnissoziologie Simmels, dem strategischen Interaktionsansatz Goffmans, dem Theatralitätsmodell, Rational-Choice-Ansätzen und – vielleicht am naheliegendsten und weiterführendsten – den Ansätzen von Foucault446 und Bourdieu. Mit diesem eher grundlagen(figurations)theoretischen Interesse gehen im Folgenden (und Geplanten) theoretisch-empirische bzw. empirisch-soziologische Aufklärungsaspirationen einher, die sich auf möglicherweise immer wichtiger werdende Seiten der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ und entsprechende ‚Gegenwartsdiagnosen‘ beziehen. ‚Marktgesellschaft‘, ‚Organisationsgesellschaft‘, ‚Mediengesellschaft‘‚ ‚Werbegesellschaft‘, ‚Inszenierungsgesellschaft‘, ‚Lügengesellschaft‘, ‚Konkurrenzgesellschaft‘ oder ‚Ellenbogengesellschaft‘ lauten einige der zeitdiagnostischen Titel und Schlagworte, die auf einen einschlägigen theoretischempirischen Forschungsbedarf und insbesondere auf die Notwendigkeit der besagten Theorieentwicklung hindeuten. Mit ihr verbindet sich allerdings auch von Anfang an ein vielseitig relativierender Blick auf das Strategische und seine Rationalität: Es geht (auch) in diesem Zusammenhang immer mit darum, ein Gewordensein und Sich-ändern zu sehen und einzuschätzen, den Voraussetzungsreichtum, die Abhängigkeiten und die Grenzen einer vielgestaltigen Rationalität und Praxis, ihr Geprägtsein von historischen Existenz- und Handlungsbedingungen. Dazu gehört auch die Einsicht in die Bedingtheit und Relativität von Reflexionen und Entscheidungen sowie in die Tatsache, dass es nicht nur Grenzen strategischer Rationalität bzw. ‚rationaler Wahl‘ gibt, sondern auch vielfältige Verbindungen mit anderen Rationalitäten und mit Irrationalitäten und – eventuell – Irrationalisierungen, die Verhalten und Handeln maßgeblich bestimmen können. Auch mit ihnen ist im Rahmen der hier propagierten soziologischen Gesamtvision soziologisch zu rechnen und fertig zu werden.
446 Auf die macht-, kampf- und zivilisationstheoretische Parallelität zwischen Foucault und Elias wurde oben bereits hingewiesen und muss auch über das Folgende hinaus noch ausführlicher eingegangen werden. Von besonderem Interesse ist hier Foucaults Machttheorie, die wesentliche Ähnlichkeiten mit der Elias’schen aufweist und dementsprechend auch den Strategiebegriff bzw. bestimmte Verständnisse von Strategie und strategischem Handeln auf den Plan ruft. Wie der Elias’sche ist auch der Foucault’sche Machtbegriff relational und prozesstheoretisch angelegt. Die Entwicklung der Foucault’schen Machttheorie wird von Honneth (1985: 168 ff.) differenziert nachgezeichnet und in den Kontext machttheoretischer Diskurse gestellt. Die Bedeutung bzw. das einschlägige Potential von Elias wird von ihm jedoch verkannt.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht 8.1
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Annäherungen an Gegenstände, Begriffe und Theorien
Aus – oben schon erläuterten und noch weiter auszuführenden – Gründen seiner figurationssoziologischen Fassung, Rekonstruktion und Differenzierung verzichte ich hier zunächst auf eine ‚Definition‘ strategischen Handelns. Als ein erster, vorläufiger und sehr abstrakter Orientierungspunkt, von dessen innerer Logik es sich allerdings abzusetzen gilt, mag in diesem Zusammenhang aber Habermas’447 Handlungsbegrifflichkeit dienen bzw. sein Begriff des strategischen Handelns und sein in diesem Rahmen gegebener Hinweis auf den traditionsreichen Begriff des „teleologischen Handelns (…). Der Aktor verwirklicht einen Zweck bzw. bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes, indem er die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die auf die Realisierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsalternativen. Das teleologische wird zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entschei-
447 Im intellektuellen Kräftefeld der damaligen Soziologie – und im Grunde noch der heutigen – stand Elias in ähnlicher Weise gegen Habermas wie gegen Luhmann (und Parsons). Beiden attestierte er mehr oder weniger offen eine philosophische oder „philosophoide“ (1978) ‚Mentalität‘ und verdeckte ideologische Fixierungen im Hintergrund und Untergrund ihres jeweiligen Großunternehmens. In einem Interview mit Wolfgang Engler formuliert Elias die Distanz zu Luhmann (s. o.) und zu Habermas wie zur soziologischen (Theorien-)‚Szene‘ überhaupt, und zugleich bringt er die Einschätzung zum Ausdruck, dass seine eigene Soziologie als solche weder im soziologischen (Theorien-)Feld durchgedrungen noch wirklich verstanden worden ist. Im Hinblick auf die Beziehung zu Habermas sagt er: „ … er ist mir viel zu philosophisch. Ich erinnere mich, dass ich ihm sagte: Herr Habermas, Sie müssen einmal eine empirische Untersuchung machen. Und er hat gesagt: Ja, ja, ich weiß. Ich wollte nur sagen, so viel ist, was die Soziologie angeht, in der Bundesrepublik gar nicht zu haben. Und auch amerikanische Importe, die vielleicht noch zu Parsons’ Zeit ihre Wirkung hatten, haben sich theoretisch erschöpft. Heute braucht man nicht mehr nach Amerika zu gucken. Es gibt so viel zu tun, und von mir kann ich nur sagen: Wirkliches Verständnis von dem, was ich mache, haben nur ganz wenige Menschen“ (Engler 2005: 387). Allerdings sollte nicht übersehen sondern vielmehr genauer betrachtet werden, dass es auch relevante Schnittmengen, ‚Anschlussfähigkeiten‘, Komplementaritäten und produktive Irritationspotentiale nicht nur im Verhältnis zwischen Elias (der Figurationssoziologie/Zivilisationstheorie) und Luhmann (s. o.), sondern auch zwischen Elias und Habermas (der Diskurstheorie/Philosophie der Verständigung) gibt. Ich meine damit natürlich vor allem die Elias’sche Zivilisationstheorie bzw. seine Vorstellung vom Zivilisationsprozess, die auf eine Art von ‚Zivilität‘ hinausläuft, die der (anders gewonnenen und anders begründeten) Habermas’schen Vision durchaus in vielen Punkten nahekommt.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
dungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann“ (Habermas 1981: 126 f.)448. Habermas’ Verständnis von strategischem Handeln ist nicht nur sehr abstrakt (empiriefern, kontextfern, praxisfern), sondern entfernt sich auch systematisch von der Möglichkeit einer Theorie strategischen Handelns als Teil einer allgemeinen (Prozess-)Theorie historischer Praxis, wie die Figurationssoziologie sie ermöglicht und wie sie im Folgenden intendiert ist. Eine Schnittmenge der hier thematischen strategischen Handlungsbegriffe besteht immerhin in einem gewissen allgemeinen Grundverständnis strategischen Handelns, im prinzipiellen Einschluss verschiedener Formen, Inhalte und Subjekte strategischen Handelns und in dessen Abhebung von den Ebenen der Normativität und (d. h.) der (Akteur-) Motivation und sozialen ‚Evaluation‘. Mit dieser begrifflichen Fassung bleibt oder wird das strategische Handlungsmodell also von normativen Prämissen bzw. einer utilitaristischen Anthropologie frei, wie sie für Rational-Choice-Ansätze charakteristisch war und teilweise noch ist.449 Sachlich eingeschlossen sind ‚egoistische‘ und ‚altruistische‘, aber auch intuitive (eher spontane) und reflexive, naive und professionelle, offene (ehrliche) und verdeckte (täuschende, betrügerische)450 Varianten des Handelns von und zwi448 Habermas grenzt den „Begriff des strategischen Handelns“ von anderen Handlungsbegriffen ab, nämlich von den Begriffen des „normengeleiteten Handelns“, des „dramaturgischen Handelns“ und des „kommunikativen Handelns“ (vgl. Habermas 1981: 114 ff.). Mit dieser sozusagen virtuellen Handlungsbegrifflichkeit steht Habermas im grundsätzlichen Widerspruch zur Figurationssoziologie, mit der er sich andererseits im Hinblick auf bestimmte historische Phänomene berührt oder überschneidet, wenn er mit dem Begriff des strategischen Handelns von spezifisch rationalen, zielgerichtet handelnden Akteuren ausgeht, „die ihre Zwecke auf dem Wege der Orientierung an, und der Einflußnahme auf Entscheidungen anderer Aktoren verwirklichen. Der Handlungserfolg ist auch von anderen Aktoren abhängig, die an ihrem jeweils eigenen Erfolg orientiert sind (…)“ (ebd.: 131). 449 Dabei haben schon Simmel und Goffman klar erkannt, dass die Eigenlogik und die historische Realität des strategischen Handelns nicht einseitig auf (negativen) moralischen/normativen Kategorien abzubilden ist. Man kann im eigenen und/oder fremden Interesse strategisch handeln, in ‚gut gemeinter‘ oder schädigender Absicht. Die RC-Theorie nähert sich allerdings (schon seit einiger Zeit) diesem alten soziologischen Denken an, wie Helmut Wiesenthal feststellt: „Die neuere, aufgrund einer reflexiven Wendung als ‚akteuranalytisch‘ zu bezeichnende RC-Theorie ist gegenüber ihren mit präskriptiven Ansprüchen überfrachteten Vorläufern drastisch abgemagert. Sie verzichtet auf normative Prämissen. Es werden weder Nutzenmaximierung noch ein utilitaristisches Akteurbild unterstellt. Was Maßstab des Handlungserfolgs ist, sei es Eigennutzen oder Nächstenliebe, ist innerhalb der theoretischen Grundausstattung offengelassen.“ (Wiesenthal 1987: 443) 450 Strategisches Handeln ist auch dann nicht notwendigerweise verdeckt oder ‚verlogen‘, wenn es um die gezielte und kalkulierte Beeinflussung von Menschen geht. Die übliche Werbung z. B. ist eine durchaus offene Form strategischen Handelns. Sie operiert jedenfalls zum großen oder größten Teil unter der (bzw. trotz der) Voraussetzung, dass das Publikum weiß, dass es beeinflusst oder mani-
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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schen Akteuren. Darüber hinaus, und auch das ist hier von zentraler Bedeutung, wird jede Art von Akteur in den theoretischen Rahmen inkludiert – individuelle und kollektive Akteure, „Ensembles“451, Dyaden, Gruppen, formale Organisationen. Damit kann sich auch der analytische Blick auf eine empirische Tatsache bzw. Entwicklung richten, die von allergrößter Bedeutung ist, die Tatsache nämlich, dass strategisches Handeln historisch zunehmend nicht oder nicht nur von Individuen/Personen, sondern von kollektiven Akteuren ausgeht und sich auch zwischen kollektiven Akteuren, insbesondere Organisationen, abspielt. Diesbezüglich stellt sich z. B. die Frage des Nutzens (oder die der Restriktionen oder der Ressourcen strategischen Handelns) ganz anders als auf der Ebene von Personen. Strategisches Handeln lässt sich damit auch in allen Aspekten ohne weiteres auf den Figurationsbegriff, alle sozialen Figurationstypen und figurationalen Praxen beziehen, die, insoweit Personen als Individuen oder Mitglieder von Kollek-
puliert werden soll. Auch kann, ja muss strategisches Handeln jedermann, sei es offen oder verdeckt, dazu dienen, sich verständlich zu machen oder zu verständigen (vgl. Hahn 1989). 451 Von der Logik einer eigentlichen sozialen Gruppe ist die des sozialen Akteurtyps zu unterscheiden, den Goffman primär in Bezug auf Interaktionsprozesse ein dramaturgisches „Ensemble“ („team“) nennt (Goffman 1969). Ein Ensemble ist durch die Funktion definiert, einen sozialen (Außen-)Eindruck, eine Darstellung und Vorstellung (z. B. ein Image) aufzubauen und/oder aufrechtzuerhalten. Bei einem Ensemble handelt es sich um „eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muss, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll. Ein Ensemble ist zwar eine Gruppe, aber nicht in bezug auf eine soziale Struktur oder eine soziale Organisation, sondern eher in bezug auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in denen es um die relevante Definition der Situation geht“ (ebd.: 96). Typischerweise – nicht notwendigerweise – wird diese ‚Definition‘ als Eindrucksarbeit von (Inter-)Akteuren unter der Voraussetzung und mit dem Resultat von Geheimnissen geleistet, die deswegen zu Geheimnissen werden, weil die betreffenden Informationen den jeweils bezweckten Eindruck stören oder zerstören würden. Ein Ensemble hat insofern „etwas vom Charakter einer Geheimorganisation“ (ebd.), auch wenn sich das Publikum der Tatsache bewusst ist, dass die Mitglieder des Teams von etwas zusammengehalten werden, woran kein „Zuschauer teilhat“ (ebd.). Aus der Sicht der als Ensemble Agierenden und aus der Sicht der Zuschauer des Ensembles können dessen Mitglieder also „eine Art Exklusivgesellschaft“ bilden (ebd.: 97); sie stellen aber eben keine Gruppe im engeren soziologischen Wortsinne dar. Die Begriffe Gruppe und Ensemble sind vielmehr soziologisch systematisch zu trennen, auch wenn die Mitglieder von Ensembles vielfach aus ein und derselben Gruppe stammen und deren Interessen vertreten. Das heißt, Teams können „von Einzelnen gegründet werden, um der Gruppe zu helfen, deren Mitglieder sie sind, aber indem sie sich selbst und ihrer Gruppe in dieser dramaturgischen Weise helfen, handeln sie als Ensemble, nicht als Gruppe“ (ebd.). In diesem Zusammenhang scheint es allerdings sinnvoll und notwendig, den Ensemblebegriff über die Interaktionsebene hinaus zu generalisieren. ‚Ensemblespiele‘ finden heute offenbar mehr denn je auf allen Figurationsebenen statt – auch zwischen sozialen Großakteuren (z. B. Organisationen) und ihren Repräsentanten (etwa im Rahmen der Corporate Identity), und sie sind auf allen sozialen Feldern zunehmend von strategischen Reflexionen, Planungen, Spezialisten und Handlungsanweisungen bedingt oder gesteuert.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
tiven involviert sind, auf bestimmte bio-psychische (Verhaltens-)Dispositionen (Gewohnheiten, Kompetenzen, Selbstkontrollen, mentale Strukturen usw.) sowie entsprechende Sozialisations- und (historisch-langfristige) Zivilisationsprozesse verweisen. Von hier aus liegt es nahe, den Begriff des strategischen Handelns zum einen mit dem Stilbegriff (s. o.) und zum anderen mit dem Habitusbegriff (s. o.) zu assoziieren, woraus sich ein entsprechend eingestellter und komplexer Blick auf strategisches Handeln ergibt. Es geht dann in diesem Zusammenhang weniger (aber auch) um einzelne Entscheidungen, Handlungen oder Interaktionen und mehr um eigensinnige Kognitions- und (Inter-)Aktionsstile von Akteuren und Praxen, ja (wie im Falle des Höflings) um ganze Lebensstile, in denen jeweils eine eigene (macht-)‚politische‘ Logik steckt (vgl. Höffe 1975: 77 f.; Habermas 1981: 131), die auf andere (macht-)‚politische‘ Logiken (Strategien) bezogen ist. Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Verständnis strategischen Handelns zumindest auf der Ebene der Kommunikation (nicht nur der interpersonalen Kommunikation) schwerpunktmäßig Formen von Theatralität sowie Prozesse der (strategischen) Theatralisierung ins Spiel kommen, so dass sich eine enge und differenzierte Verbindung mit den obigen Überlegungen ergibt – alle ‚Aspekte‘ des Fischer-Lichte’schen Theatralitätsbegriffs eingeschlossen452. Die Modellvorstellung und die Begrifflichkeit der Theatralität hat sozusagen eine strategische Seite und umgekehrt. Es gibt so etwas wie eine strategische Theatralität: der Klugheit, der ‚Informationspolitik‘, der Selbststilisierung, des eindrucksmanipulatorischen Ensemblespiels, des Raumes/der Regionalisierung usw. ***
452 So gehen ‚zwischenmenschliche‘ Täuschungsmanöver oder strategische (Selbst-)Stilisierungen mit Inszenierungen und/oder Performances einher, die wiederum auf Wahrnehmungen und Publika verweisen. Und natürlich ist der Körper/Korporalität in sozialen Situationen ein wesentliches Medium strategischen Handelns (z. B. von Täuschungen) wie auch ein Bezugspunkt seiner (Ehrlichkeits-)Kontrolle und Vereitelung. Theatralisierung spielt hier z. B. in der Variante der Verwerblichung der Gesellschaft eine Rolle (vgl. Willems (Hg.) 2002). Indem dieser Prozess immer massiver fortschreitet, expandieren auch strategische Handlungsformen und alles, was damit an Theatralität zusammenhängt. In dieser Hinsicht – wie in anderen Hinsichten – kann man also von einer strategischen Theatralisierung der Gesellschaft sprechen.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
447
Exkurs: Ehrlichkeit und Täuschung im Kontext der (wissens-)soziologischen Denktraditionen Simmels und Goffmans
Strategisches Handeln ist also nach dem hier zugrunde liegenden und weiterzuentwickelnden Verständnis – und so wird es auch bereits von Simmel453 und Goffman454 verstanden – nicht per se ‚verlogenes‘, ‚unaufrichtiges‘ Handeln, sondern zunächst nicht mehr und nicht weniger als teleologisch rationales, zweckmäßiges, zielführendes, planvolles Handeln. Es kann in diesem Rahmen durchaus rational (klug) sein, auf Lügen zu verzichten oder sogar (teil-)ehrliche Bekenntnisse abzulegen. Allerdings sind Täuschungen, Lügen, Geheimnisse und Formen des ‚kreativen‘ (schönenden, stilisierenden, verdrehenden) Umgangs mit Wahrheiten in diesem Zusammenhang (im wie immer motivierten Umgang mit Anderen) normal und naheliegend, insofern sie den strategischen Akteuren als zweckrational oder zielführend erscheinen, was sie auch häufig tatsächlich sind. Man kann – bekanntlich – über von Anderen geglaubte ‚Eindrücke‘ in den verschiedensten Bereichen seit jeher viel gewinnen, und dies scheint unter modernen Bedingungen (erst recht heute) mehr denn je der Fall und leichter denn je möglich zu sein. Auch diese Einsichten finden sich schon bei jenen Klassikern klar formuliert, deren diesbezügliches Wissen überhaupt alles andere als ‚veraltet‘, sondern vielmehr in dem perspektivischen Sinne dieser Arbeit höchst wertvoll und verwertbar ist. Mit den Praxen, Begriffen und „Künsten“ (Goffman 1981d: 21), um die es hier geht, haben sich Simmel und Goffman immer wieder und in verschiedenen Zusammenhängen bzw. Modellrahmen befasst. Dabei waren sie sich der Tatsache bewusst, dass Ehrlichkeit (Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit) und Täuschung (Lüge) keineswegs metasoziale oder überhistorische Praxis-Tatsachen sind, sondern dass das Gegenteil der Fall ist. Simmel betont, dass die Moral der Ehrlichkeit (erst) im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungs- bzw. Differenzierungsprozesse, und d. h. 453 Simmel kann auf diesem Gebiet als der bedeutendste soziologische Klassiker der ‚ersten Generation‘ angesehen werden. Sein Aufsatz über das „Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ (Simmel 1922a) hat bis heute kaum an Gültigkeit und auch nichts an Inspirationskraft im Hinblick auf aktuelle Gegebenheiten verloren. Vgl. im Anschluss an Simmel Goffman (1969; 1981d; 1967) und im Anschluss an Simmel und Goffman Hahn, der dem Thema eine Reihe auch begrifflich aufschlussreicher Arbeiten gewidmet hat (vgl. Hahn 1983; 1989; 1997a; 2000). 454 Man denke etwa an Goffmans Rahmen-Analysen der Täuschung (vgl. 1977b: 98 ff.), seine spieltheoretisch orientierten Untersuchungen strategischer Interaktionen (vgl. 1981d), sein Theatermodell (vgl. 1969), das auch ein Modell strategischer Interaktion ist, und seine Image- und StigmaStudien, in denen es wesentlich um Formen von Informationskontrolle und ‚Informationspolitik‘ geht. Daran schließen auch neuere, eher mikrosoziologische Betrachtungen strategischen Handelns an, z. B. Betrachtungen des breiten Spektrums der Lüge (vgl. z. B. Hettlage (Hg.) 2003).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
einer „generalisierten Fremdheit“ (Hahn/Bohn 1999: 251), eine geradezu gesellschaftskonstitutive Bedeutung gewinnt und sozusagen Moment einer Mentalität wird, die in diesem Punkt einmal ganz anders gewesen ist: „In viel weiterem Umfange, als man sich klar zu machen pflegte, ruht unsre moderne Existenz – von der Wirtschaft, die immer mehr Kreditwirtschaft wird, bis zum Wissenschaftsbetrieb, in dem die Mehrheit der Forscher unzählige, ihnen gar nicht nachprüfbare Resultate anderer verwenden muß – auf dem Glauben an die Ehrlichkeit des anderen. Wir bauen unsere wichtigsten Entschlüsse auf ein kompliziertes System von Vorstellungen, deren Mehrzahl das Vertrauen, daß wir nicht betrogen sind, voraussetzt. Dadurch wird die Lüge in modernen Verhältnissen zu etwas viel Verheerenderem, die Grundlagen des Lebens viel mehr in Frage Stellendem, als es früher der Fall war. Wenn die Lüge noch heute bei uns als eine so läßliche Sünde erschiene, wie bei den griechischen Göttern, den jüdischen Erzvätern oder den Südseeinsulanern, wenn nicht die äußerste Strenge des Moralgebotes davon abschreckte, so wäre der Aufbau des modernen Lebens schlechthin unmöglich, das in einem viel weiteren als dem ökonomischen Sinne ‚Kreditwirtschaft‘ ist.“ (Simmel 1922a: 260)
Auch Goffman geht im Blick auf die moderne (seine ‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft davon aus, dass Ehrlichkeit eine historisch geprägte soziale Norm ist455 und dass entsprechendes Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit fundamentale soziale Tatsachen sind, die selbst noch und gerade unter den Vorzeichen strategischer Beziehungen und Interaktionen unverzichtbar sind (vgl. Goffman 1981d). Allerdings geht er gleichzeitig davon aus, dass solche Beziehungen und Interaktionen und damit Geheimnisse, Lügen, Simulationen usw. ebenfalls unverzichtbar und auch unvermeidlich und – unter entsprechenden sozialen Bedingungen – normal sind. In der „Rahmen-Analyse“ (Goffman 1977b) gilt Goffmans Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang einem besonderen Thema: der Rekonstruktion einer variablen und historisch vielfach gesteigerten Rahmen- und Rahmungskomplexität, die auf verschiedene soziale Felder und ein entsprechendes praktisches Urteilsvermögen verweist. Mit dem von ihm differenzierten Leitbegriff der Täuschung456 455 Er spricht von einer „Moral der Eindrucksmanipulation“ und von einem Verbot von Mitteilungen, an die man selbst nicht glaubt (Goffman 1981d: 42 ff.). 456 Er umfasst die ganze – von der Rahmen-Analyse in ihrer Systematik ‚bewusst‘ gemachte – Vielfalt „nicht-gradliniger“ (Goffman 1977b) Handlungsweisen, seien sie böswilliger oder gut gemeinter, verbaler oder nonverbaler, aktiver oder passiver Art. Der Begriff der Täuschung ist umfassender und auch weniger moralgeladen als der der Lüge und daher den hier gemeinten Tatsachen angemessener (vgl. Lenz 2003: 66).
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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unternimmt Goffman den bis heute bedeutendsten soziologischen Versuch eines systematischen Nachvollzugs praktischer Kategoriensysteme und Kategorisierungen der Täuschung, die er auch in einer Art Feld-Ethnographie reflektiert. Als ein Beispiel dafür kann das Feld der amerikanischen Wirtschaft dienen – ein strategisches Handlungsfeld par excellence, zu dessen komplexer Realität von Täuschungen, Täuschungsgrenzen und -grenzziehungen Goffman bemerkt: „Manches, was das Better Business Bureau bekämpft, wird auch von der Federal Trade Commission bekämpft, anderes nicht. Manche Handlungsweisen, die nicht gebilligt werden, werden trotzdem nicht aktiv verfolgt. Zum Beispiel sind für das Inkassogeschäft, bei dem Anschrift, Arbeitsplatz oder Bankverbindung von wenig kommunikationsfreudigen Schuldnern ermittelt werden soll, Kontakt-Täuschungsmanöver notwendig: man tritt vielleicht an den Schuldner mit einem Fragebogen heran, der einem Brief von einer scheinbaren Regierungsstelle beiliegt, der ein Staatswappen und eine Anschrift aus der Hauptstadt trägt, alles darauf berechnet, daß es der Empfänger fälschlich für ein amtliches Dokument hält. Wird Beschwerde erhoben, so kann eine solche Irreführung ohne Weiteres Anlaß zu juristischen Schritten und einer Anklage geben. Ebenso begeht der Inkassovertreter, der telefonisch etwas zu erfahren versucht, indem er sich als Regierungsbeamter ausgibt, eine Gesetzwidrigkeit. Doch wenn er am Fernsprecher behauptet, er bemühe sich um Teilnehmer für einen Fernsehwettbewerb oder treibe Marktforschung oder nehme Nachprüfungen im Zusammenhang mit Versicherungspolicen vor, so kann er wahrscheinlich für sich in Anspruch nehmen, daß das harmlose Tricks seien, die ja schließlich der gerechten Sache der Schuldeintreibung dienten.“ (Goffman 1977b: 121)
Es geht Goffman hier und überhaupt in der Rahmen-Analyse der Täuschung also nicht wie an anderen Stellen (1969; 1981d) um die Sozio- bzw. Sozio-Psycho-Logik der strategischen Interaktion, sondern um ein spezifisch wissenssoziologisches Ziel: um die Komplexität von Rahmen und Rahmungen (s. o.), um objektive und praktisch gewusste Sinn-Grenzen, Sinn-Schichtungen und Sinn-Unterscheidungen mit moralischen und auch rechtlichen Wirklichkeits-Implikationen. In systematischer Absicht setzt Goffman den Täuschungsbegriff als eine Art Ober- und Letztbegriff für die verschiedensten Formen ‚nicht-gradlinigen‘ Handelns an und beschreibt sie, ausgehend von jedermanns (Sinn-)Verständnis, als eine entsprechend komplexe Grundform der sozialen Rahmen-Organisation und Rahmung, nämlich als das „bewußte Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, daß einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht“ (Goffman 1977b: 98). Täuschungen etablieren also, rah-
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
mentheoretisch gesehen, einen falschen „Rahmenrand“ (ebd.: 99) und fabrizieren somit eine im Ganzen falsche und entsprechend anfällige, insbesondere für Handlungsfehler, Entdeckungen und Entlarvungen anfällige, Wirklichkeit. „Wenn die getäuschte Seite herausfindet, was los ist, dann erkennt sie das, was einen Augenblick vorher für sie noch Wirklichkeit war, als Täuschung, und damit ist es völlig zerstört“ (ebd.). Goffman differenziert die Konstruktionen der Täuschung im Anschluss an den lebenspraktischen ‚Rahmenanalytiker‘, dessen Grundverständnis und Grunddistinktion sich am – zu unterstellenden – moralischen Täuschungsmotiv orientiert. In der Rahmen-Analyse werden dementsprechend „Täuschungen in guter Absicht, die im Interesse eines Getäuschten liegen sollen oder (…) doch wenigstens nicht im Gegensatz zu seinem Interesse“ (ebd.: 102), von absichtlich „schädigenden“ Täuschungen unterschieden, wobei die „Interessen (…) im Sinne der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft definiert seien“ (ebd.: 120). Zur Rahmen-Klasse der Täuschungen gehören damit z. B. auch scherzhafte Täuschungsmanöver wie das Bärenaufbinden, hinter denen kein anderes ‚Nutzenkalkül‘ oder keine andere ‚Strategie‘ steht, als die, Spaß zu haben und eventuell zu machen (vgl. ebd.: 102 ff.). Die Rahmen-Analyse der Täuschung inkludiert, wiederum lebenspraktischer Täuschungssystematik folgend, nicht nur Täuschungen im Sinne von Fremdtäuschungen, sondern auch Selbsttäuschungen. Hierbei handelt es sich erneut um einen komplexen Formenkreis, der auch in anderen Arbeiten Goffmans wie schon bei Simmel genauere Beachtung findet. Bereits im Rahmen von Goffmans ‚dramaturgischem Ansatz‘ erscheint das Selbst als eine Art Informationspolitiker und Darsteller, der nicht nur andere, sondern auch sich selbst als Publikum behandeln kann und für den es notwendig werden kann, „in seiner Zuschauerrolle die diskreditierenden Tatsachen, die er über die Darstellung in Erfahrung bringen mußte, vor sich selbst zu verbergen“ (Goffman 1969: 76). Das „komplizierte Manöver der Selbsttäuschung geht“, so Goffman, „ständig vor sich; die Psychoanalytiker haben uns die besten Beispiele dafür unter den Termini Verdrängung und Dissoziation geliefert“ (ebd.). Auch Simmel behauptet und betont einen psychischen Mechanismus des Nichtwissenwollens, z. B. im Dienst der „Lebenslüge des Individuums, das so oft der Täuschung über sein Können, ja, über sein Fühlen bedarf, des Aberglaubens in Hinsicht der Götter wie der Menschen, um sich in seinem Sein und seinen Leistungsmöglichkeiten zu erhalten“ (Simmel 1922a: 258). Simmel und Goffman sehen in diesem Zusammenhang auch einen wirklichkeitswirksamen und wirklichkeitsmächtigen ‚Willen zum Glauben‘, der mit Täuschungen und Selbsttäuschungen effektiv zusammenspielen und zur (Re-)Produktion gerade der moralisch-symbolisch anspruchsvolleren Wirklichkeiten führen kann. Simmel
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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spricht von einem „Idealisierungstrieb“ (ebd.: 274) des Publikums; Goffman (1969) von Strategen und Strategien der „Idealisierung“ und der „Mystifikation“, die mit sozialen Geltungs- und damit Machteffekten an solche (Transzendenz-)‚Triebe‘ anknüpfen können. Goffman stellt und behandelt all diese Fragen – letztlich wissenssoziologische Grundfragen der sozialen Wirklichkeitskonstruktion – nicht nur auf der Ebene der ‚Pragmatik‘ des (Alltags-)Lebens (von der Praxis der Organisationen bis zu der der persönlichen Beziehungen)457, sondern auch auf den eigensinnig-reflexiven Ebenen des Theaters und der Massenmedien. Die komplexeren und komplexesten Täuschungskonstruktionen (Rahmenschichtungen der Täuschung) entdeckt er hier, in den realen Welten der Performanz von Fiktionen, und nicht im allzu relativen und (weil) allzu menschlichen Alltagsleben (vgl. Goffman 1977b: 207 f.). Die entsprechenden Inszenierungen vielfach höchst rahmenkomplexer Skripts stehen freilich, und das hebt Goffman als „große Lektion“ (ebd.: 208) hervor, bei aller Fiktionalität, Übertreibung und Unwahrscheinlichkeit in realen Korrespondenzverhältnissen sowohl zur alltäglichen Lebenswelt als auch zum Alltagswissen des Publikums. Die Produktion und die Rezeption solcher Fiktionen braucht und indiziert Kompetenzen, Motive und Bedürfnisse des Publikums, insbesondere die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ eines angemessenen Interpretationsvermögens (vgl. Goffman 1977b: 208; vgl. Burns 1992: 268 f.). Jedermann kann demnach in weit höherem Maße strategisch verstehen, denken, interpretieren und schließen, als er tatsächlich praktisch zu handeln in der Lage ist. *** Strategisches Handeln ist eine grundlegende, weitreichende, vielfältige und vielschichtige Seite des sozialen Lebens, der menschlichen (Sozial-)Existenz und des Menschen selbst – eine Seite, die nicht nur einen durch und durch historischen Charakter hat, sondern auch schon seit langem, ja von ihren jeweiligen Anfängen an Thema aller ‚Menschenwissenschaften‘ bis hin zur Philosophie458 ist.
457 Wo es z. B. gilt, die Wirklichkeiten von Geltungen, Ansprüchen, Beziehungen usw. durch strategisches ‚impression management‘ zu schützen und zu stützen. 458 Hier sind als Klassiker insbesondere Nietzsche und Simmel zu nennen, die ‚den Menschen‘ nicht nur als „kluges Tier“ (Nietzsche) verstanden haben, sondern in den diversen Formen des ‚Als ob‘ auch eine wesentliche oder die wesentliche Basis des menschlichen Lebens und Zusammenlebens überhaupt bzw. unter den Bedingungen der Moderne sahen. In „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ schreibt Nietzsche, späteren soziologischen Denkern wie Simmel, Goffman oder Bourdieu vorausdenkend: „Der Intellekt als Mittel zur Erhaltung des Individuums
452
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
In der Soziologie ist die Bandbreite der Themen459, Fragestellungen, Betrachtungs- und Herangehensweisen im Kontext der hier ins Auge gefassten sozialen/kulturellen Tatsachen heute größer denn je. Entsprechend unterschiedlich und teilweise gegensätzlich sind die soziologischen Bedeutungen bzw. Bedeutsamkeiten, die diesen Tatsachen beigemessen werden. Spielt strategisches Handeln in den (Theorie-)Werken der einen, wie etwa bei Luhmann, keine wesentliche oder nur eine marginale Rolle, so spielt es bei anderen, wie etwa Goffman oder Bourdieu, eine mehr oder weniger wichtige und fundamentale oder, wie beim Rational-Choice-Ansatz460, die wichtigste Rolle – im sozialen Leben und in den entsprechenden theoretischen Überlegungen und Untersuchungen. Je nach (Theorie-) Blick werden (auch) in diesem Sachzusammenhang ganz unterschiedliche Phänomene vorrangig oder nachrangig beobachtet oder nicht beobachtet, fokussiert oder ignoriert, so oder so ‚gerahmt‘ und gedeutet. So beschränkt sich Goffman auf
entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht ‚Formen‘, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen. Dazu läßt sich der Mensch nachts ein Leben hindurch im Traume belügen, ohne daß sein moralisches Gefühl dies je zu verhindern suchte: während es Menschen geben soll, die durch starken Willen das Schnarchen beseitigt haben“ (Nietzsche 1980: 310). Auch in neueren philosophischen Diskursen taucht das Themenfeld immer wieder auf (vgl. z. B. Dietz 2003) – wiederum (und immer noch) oft mit moralischen oder moralisierenden Akzenten und mit wenig Sinn für die sozialen und historischen Bedingungen und Zusammenhänge. 459 Sie reichen von der ‚ökonomischen Handlungsführung‘ (der ‚rationalen Wahl‘) über Formen von praktischem Wissen bis zu den Sphären und Praktiken der Lüge, des Betrugs, der interaktionsrituellen ‚Image-Arbeit‘, des „Stigmamanagements“ (Goffman 1967), des ‚organisierten Verbrechens‘ oder der (professionellen) Werbung – mit so unterschiedlichen Fragen wie der, was Verhalten/Handeln überhaupt steuert, oder inwiefern wir – heute ? – in einer „Lügengesellschaft“ (Hettlage (Hg.) 2003) leben, also in einer Gesellschaft, die in den verschiedensten, ja allen Bereichen durch strategisch motivierte „unwahre Darstellungen“ (Goffman 1969) geprägt ist. 460 Der Rational-Choice-Ansatz stellt bekanntlich eine Theorie strategischen Handelns als allgemeine Handlungs- und Sozialtheorie dar. Im Rahmen dieses Ansatzes ist das Strategische eng mit den Prinzipien der Nutzenmaximierung/Kostenminimierung und dem Bewusst-Kalkulatorischen verbunden. In diesem Sinne erscheint es bei aller Kontextrelativierung des Handelns bzw. Entscheidungshandelns, die in den Diskursen des ‚RC‘ mittlerweile stattgefunden hat, gewissermaßen als das Zentrum des Sozialen schlechthin.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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soziale (Mikro-)Situationen ‚face-to-face‘ und sieht auf dieser Ebene individuelle Strategen und Strategien am Werk461, während etwa Bourdieu diesen ‚Blick‘ zwar durchaus inkludiert, aber vor allem auf den (Makro-)Niveaus gesellschaftlicher Felder und Großgruppen bzw. Schichten/Klassen/Geschlechtsklassen Strategien und Strategen erkennt. Von auch nur tendenzieller Einheitlichkeit/Stimmigkeit in der diesbezüglichen Gegenstandsfassung oder gar in der Begriffs- und Theoriebildung kann in der Soziologie überhaupt (geschweige denn in den Sozial- und Kulturwissenschaften im Ganzen) keine Rede sein. Allerdings gibt es in diesen sachlichen Zusammenhängen nicht nur Heterogenitäten, Widersprüche, Inkonsistenzen, Gegensätze, Diffusionen, Intransparenzen und Konflikte, sondern auch gewisse gemeinsame Denkstile und Denktraditionen (etwa von Simmel zu Goffman oder von Elias zu Bourdieu), gemeinsame Argumentationskerne und theoretische Konvergenzen. Mit der Spieltheorie oder jedenfalls der Modellierung (Metaphorik) des Spiels existiert sogar eine Art kleinster gemeinsamer Nenner zwischen verschiedenen profilierten Paradigmen, nämlich zwischen dem Rational-Choice-Ansatz und den Soziologievarianten, für die die Namen Elias, Bourdieu und Goffman stehen.462 Im Hinblick auf die hier zugrunde liegende Programmatik (einer synthetischen Soziologie) ist diese Tatsache, die Vergleichbarkeit, Gemeinsamkeit und Anschlussfähigkeit erwarten lässt, ebenso relevant wie die empirisch-sachlichen Komplementaritäten der mit strategischem Handeln befassten Ansätze. Eine solche Komplementarität zeichnet sich wiederum 461 In „Strategische Interaktion“ kommt Goffman zu dem bemerkenswerten Schluss: „In jeder sozialen Situation ist in irgendeinem Sinne ein Beteiligter Beobachter, der etwas zu gewinnen hat, indem er Ausdrucksverhalten beurteilt, und ein anderer ist Beobachteter, der etwas zu gewinnen hat, wenn er es manipuliert. Hier findet man ein und dieselbe Unsicherheitsstruktur, die den Agenten ein wenig uns gleichen läßt und uns alle ein wenig dem Agenten“ (Goffman 1981d: 74). 462 Selbst an die Luhmann’sche Systemtheorie mag hier gedacht werden. Im Hinblick auf Luhmanns Versuch einer „Klärung der Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens sozialer Systeme“ konstatiert jedenfalls Stichweh: „Die Verwandtschaft zur Spieltheorie ist auffällig“ (Stichweh 1999: 215). Im Rahmen der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie ist auch durchaus bedacht, dass mit „der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft, die Sprache benutzt und Zeichen verwendet“, nicht nur das kommunikationstechnische Problem des Missverstehens, sondern auch der „absichtliche Mißbrauch der Zeichen“ und die (absichtliche) Täuschung zu einer „Art Universalproblem“ wird, das „jederzeit passieren kann, jederzeit präsent ist“ (Luhmann 1997: 225; Hervorheb. im Orig.). Und eben deshalb, so Luhmann ähnlich wie Simmel und Goffman, sei die Gesellschaft auf die moralische Prämierung von „Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und dergleichen“ sowie auf „Vertrauen“ im Kommunikationsprozess besonders angewiesen (ebd.). Trotz solcher Hinweise ist allerdings nicht zu übersehen, dass Luhmann die von ihm fokussierten sozialen Sachverhalte – von den ‚gepflegten Semantiken‘ über die ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ bis hin zu den sozialen ‚Funktionssystemen‘ – kaum mit Interessen und Motivlagen von Individuen und Gruppen und einem darauf eingestellten strategischen Handeln in Verbindung bringt.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
insbesondere zwischen Elias, Bourdieu und Goffman463 und auch dem RationalChoice-Ansatz464 ab. Alle diese Ansätze haben jedenfalls – auf spieltheoretischer oder spielmetaphorischer Basis – explizite soziologische Strategieverständnisse, strategische Handlungs- und Praxisverständnisse, eine Strategiebegrifflichkeit und einen entsprechenden empirisch-analytischen Fokus, und sie sind diesbezüglich mindestens punktuell vergleichbar, analog, überschnitten und auch verknüpfbar. Vor allem vor diesem Hintergrund und in dieser Richtung soll die Figurationssoziologie (samt Zivilisationstheorie) in den folgenden Untersuchungen gleichsam als allgemeinster Rahmen und als Matrix intra- und interdisziplinärer Begriffsund Theoriebildung fungieren. Die Figurationssoziologie soll aber auch darüber hinaus eine sachlich und paradigmatisch/diskursiv übergreifende und syntheti463 Goffman ist (auch) in diesem Zusammenhang ein in verschiedener Hinsicht besonderer und besonders wichtiger Autor. Er kann einerseits – immer noch – als einer der bedeutsamsten und inspirierendsten Theoretiker und Analytiker des strategischen Handelns gelten. In allen seinen Arbeiten geht es mindestens auch, wenn nicht hauptsächlich, darum. Andererseits konzentriert sich Goffman als erklärter und konsequent agierender ‚Mikrosoziologe‘ auf strategische Interaktionen und abstrahiert im Rahmen spieltheoretischer Formalisierungen im Prinzip von den figurationalen ‚Kontexten‘, auf die es aus figurationssoziologischer Sicht gerade ankommt. Dementsprechend kritisch ist der Blick von Elias und Bourdieu auf Soziologien wie die Goffman’sche. Gleichwohl liefert Goffman auch in diesem Kontext wesentliche grundbegriffliche Differenzierungen (z. B. bezüglich strategischer Wissenstypen/Täuschungen/Geheimnisse) und auch über die Interaktionsebene hinaus generalisierbare Untersuchungsperspektiven, z. B. das Verhältnis von Beobachter und Beobachtetem betreffend. Sein spieltheoretisch orientierter Ansatz kann durchaus der begriff lichen Spezifikation von Elias und Bourdieu dienen und bildet auch eine Art Brücke zu Rational-ChoiceAnsätzen. Goffman ist diesbezüglich und darüber hinaus speziell insofern informativ, als er die Grenzen und Hindernisse strategischer Rationalität und strategischen Handelns fokussiert, zu denen nicht zuletzt der Mensch selbst gehört. Der strategische ‚Goffmensch‘ (Hitzler 1992) ist m. a. W. nicht nur ein virtuoser und (d. h.) zivilisierter ‚Spieler‘, sondern auch allzumenschlich, und er hat es mit Menschen zu tun, die in diesem Sinne so sind wie er, also nur begrenzt ‚rational kalkulierend‘ und (damit) ‚kalkulierbar‘. Damit wiederum konvergiert Goffman deutlich mit Elias, der wie Goffman auch und schwerpunktmäßig die ‚irrationalen‘ Seiten und Verhaltensweisen sieht und systematisch einbezieht. 464 Hartmut Esser als einer der (soziologischen) Hauptvertreter dieses Ansatzes hat, wie gesagt, schon vor Jahrzehnten auch eine sehr weitreichende begrifflich-perspektivisch-theoretische Verwandtschaft zwischen ‚RC‘ und Figurationssoziologie gesehen und differenziert beschrieben (vgl. Esser 1984). Dem kann man durchaus bis zu einem gewissen Grad (in einer Reihe von Punkten) folgen und zustimmen. Allerdings wäre es aus der hier vertretenen Perspektive grundfalsch, die Figurationssoziologie im RC-Ansatz ‚aufheben‘ zu wollen, wie Esser es intendiert. Soziologischen Sinn macht m. E. eher die umgekehrt organisierte Synthese – vor allem deswegen, weil sie ‚RC‘ nicht nur inkludiert, sondern auch vielfältig relationiert, relativiert und komplementiert. Hier gilt im Prinzip, was oben über das Verhältnis von Figurationssoziologie und Theatralitätsansatz gesagt wurde. Der Blick der Figurationssoziologie richtet sich zwar auch auf die wichtigen oder sogar zentralen Realitäten des strategischen Handelns (‚Rational Choice‘), geht aber, z. B. in seinen systematischen Bezügen auf Raum und Zeit, weit darüber hinaus und ist damit viel komplexer und realistischer.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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sche Modellierung und Theorie strategischen Handelns ermöglichen, indem sie die empirischen Aspekte und Zusammenhänge (Felder, Machtbalancen, Konkurrenzmechanismen etc.) dieses Handelns ebenso wie die diversen diesbezüglichen Forschungs- und Theorietraditionen in dem besagten Sinne einer soziologischen Gesamtvision relationiert und relativiert.465
8.2
Eine figurationssoziologische Konzeptualisierung strategischen Handelns
Die zu unternehmenden begrifflich-theoretischen Arbeiten können, wie auch im Fall der genannten anderen Arbeitsschwerpunkte (Materialität, Wissen, Stil, Ritual, Theatralität etc.), von der Struktur der Figurationstheorie, des figurationssoziologischen Gegenstandsverständnisses und Konzeptapparats ausgehen, und sie sollen sozusagen auf diese Struktur zurückkommen. Es geht also nicht darum, auf den Begriff des strategischen Handelns (oder einen ähnlichen Begriff ) eine allgemeine Sozialtheorie zu gründen, sondern umgekehrt, eine solche Sozialtheorie – die Figurationstheorie – zur Grundlage der Bildung eines strategischen Handlungsbegriffs oder sogar einer strategischen Handlungstheorie zu machen. Einige diesbezüglich wichtige (vielleicht die wichtigsten) Ankerpunkte, Eckpunkte und Komponenten, die einen bestimmten begrifflich-theoretischen Rahmen beschreiben, versuche ich nun thesenartig und gegenstandsbezogen zu skizzieren.
8.2.1
Sozio- und Psychogenese
Strategisches Handeln versteht und erklärt sich prinzipiell in allen seinen Aspekten im Zusammenhang und als Zusammenhang von Sozio- und Psychogenese, wie er oben dargelegt wurde. Es hat also keinen irgendwie gearteten anthropologischen oder soziologischen Vor- oder Zentralrang, sondern verweist in seinen konkreten empirischen Ausprägungen gleichzeitig auf historische Figurationen bzw. (Handlungs-, Spiel-)Felder466 und auf entsprechende (historische) Akteure, die figuratio465 Es geht also auch in diesem Themenfeld nicht um eine ‚Bindestrich-Soziologie‘, eine ‚Soziologie strategischen Handelns‘ oder dergleichen. 466 Die Bandbreite der strategische Praxen bedingenden und prägenden Figurationstypen reicht heute weiter denn je – von interaktionellen oder interaktionsbezogenen Varianten wie den Büro-Welten der formalen Organisationen bis hin zu den rein medialen oder hybriden Figurationen/Netzwerken, die das Internet möglich gemacht hat. Heutzutage ist das Bilden und Unterhalten von Fi-
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
nal spezifisch verankert und habituell spezifisch ausgestattet/disponiert/zivilisiert sind. Strategisches Handeln kann also zwar formal modelliert werden467; es ist aber weder empirisch noch analytisch von der Strukturalität und Prozessualität seiner figurationalen und habituellen ‚Kontexte‘ zu trennen, sondern wohnt ihnen inne und geht aus ihnen hervor – durch vermittelnde Akteure vermittelt, die auch noch anders als strategisch handeln, handeln können und müssen468. Indem diese – nicht nur ‚menschlichen‘/personalen – Akteure strategisch handeln, nehmen sie soziale Figurationsbedingungen in Anspruch, die es ihnen überhaupt erst ermöglichen, so zu handeln. So bilden (im Prozess der Zivilisation) befriedete Handlungsräume und Menschen (staatliche Gewaltmonopolisierung, soziale Kontrolle, s. u.) Voraussetzungen, Hintergründe und Bestimmungsgründe bestimmter Formen strategischen Handelns bzw. strategischer Handlungskomplexität.469
8.2.2
Psycho-physische Ursprünge und Hintergründe strategischen Handelns: Aggressivität/Gewalt, Sexualität/Lust/Begehren und Angst
Die Figurationsoziologie vermeidet und überwindet eine unhistorische und (daher) kognitivistische Fassung strategischen Handelns. Mit ihrer Konstruktion des Zusammenhangs von Sozio- und Psychogenese verweist sie auf der Seite der Psychogenese auch darauf, dass die strategischen Rationalitätsformen und Praxen moderner (Zivil-)Akteure einen wesentlichen Ursprung und bleibenden Hintergrund in bestimmten psycho-physischen bzw. (residual-)instinktiven ‚Innenausstattungen‘ haben, insbesondere in der menschlichen Aggressivität und Sexualität und folglich auch in den psycho-physischen (Ur-)Formen der Gewalt, des Kampfes und des kriegerischen Handelns. Neben der Gewalt, der Lust und dem Begehren470 gurationen (Netzwerken) natürlich auch eine wesentlich auf Medienbasis verfolgte strategische Unternehmung (bzw. Resultat strategischen Handelns), die von strategischen Spezialisten ebenso wie von jedermann ausgehen und betrieben werden kann. 467 Zum Beispiel im Rahmen der Spieltheorie, wie etwa bei Goffman (vgl. 1981d). 468 Nämlich z. B.: rituell, spielerisch, gewohnheitsmäßig stilistisch. 469 Unfriedliche oder kriegerische Verhältnisse verunmöglichen entsprechend bestimmte Strategien oder machen andere Verhaltensweisen/Handlungsweisen strategisch rational, und sie ‚züchten‘ damit auch habituelle/mentale Dispositionen (der Gewalttätigkeit, Gewaltbereitschaft, ‚Gefasstheit‘ auf Gewalt usw). 470 Man kann hier natürlich gerade mit Blick auf das Macht- und Gewinnstreben des zivilisierteren ‚Strategen‘ an sexuelle Triebhaftigkeit und sexuelles Begehren denken – als eine der irrationalen oder arationalen Quellen bestimmter praktischer Motivationen, Energien und Verhaltensweisen.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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ist hier auch an die Angst zu denken – Affektfelder, denen Elias, Freud folgend, größte Bedeutung als Objekte, ‚Medien‘ und Resultate von Zivilisierungsprozessen beigemessen hat. Mit ihnen, in ihnen und aus ihnen haben sich auch sozusagen sublime oder sublimere (Beziehungs-)Formen der Macht, der Beherrschung, der symbolischen Gewalt und der Konkurrenz (um knappe Güter) entwickelt, in deren Rahmen strategisch (rational, zivilisiert) gehandelt wird, werden muss und werden kann. Das soziologische Verständnis dieser (relativen) Zivilisiertheit (und damit auch strategischen Handelns) erfordert also den – und gewinnt durch den – langfristigen historischen Rückblick auf ihr Herkommen und Gewordensein und damit auch auf ihre psycho-physisch-instinktiv-triebhaften Wurzeln und Quellen, die späterhin nur zivilisatorisch ‚moduliert‘ wurden und werden. Strategische Rationalität/Rationalisierung und Praxis eliminieren diese Wurzeln und Quellen nicht, sondern bleiben mit ihnen verbunden und durch sie bedingt. Das impliziert nicht nur eine systematische Limitierung strategischer Rationalität, sondern auch ihre Fundierung und Durchdringung. Jene Wurzeln und Quellen können alles strategische Handeln (z. B. mit Energie) ‚speisen‘ und Synthesen mit ihm bilden. Es ist also zu erwarten, dass die Realitäten des strategischen Handelns auch mehr oder weniger, wenn nicht allzu, ‚menschlich‘ sind, nur begrenzt zivilisiert bzw. immer wieder ‚unzivilisiert‘, trieb- und affektgeladen.
8.2.3
Figurationale Rahmenbedingungen strategischen Handelns: Grenzen, Zwänge und Spielräume
Als strategische Handlungsfelder stellen historisch entwickelte Figurationen für die betreffenden (und betroffenen) Akteure je besondere Einheiten und Komplexe von (strategischen) Handlungs- und ‚Spiel-Bedingungen‘ dar und bringen damit auch je besondere Handlungsgrenzen, Handlungszwänge und Handlungsspielräume mit sich. Figurationen/Felder haben insofern gegenüber den Akteuren (und für sie) einen objektiven, übergeordneten und primären Status, der Ausgangspunkt sowohl des Handelns selbst als auch seiner (figurations-)soziologischen Rekonstruktion sein muss. In der praktisch-strategischen Wahrnehmung/Beobachtung und in der (figurations-)soziologischen Untersuchung konkreter strategischer Praxis kommt es also in erster Linie darauf an, die gegebenen (Figurations-)Handlungs- und ‚Spiel-Bedingungen‘ (‚Spieler‘/Akteure, Normen, Einsätze, Akteurkonstellationen, Gewinne/ Verluste, Qualifikationen, Stärken und Schwächen von Gegnern und Verbündeten
458
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
etc.) zu identifizieren. Sie bilden dem Handeln vorgegebene und vor dem und im Handeln zu berücksichtigende Restriktionen und Ressourcen471 der Akteure, und sie sind – als strukturelle Feldbedingungen – auch an der einschlägigen Bildung der Akteure selbst, nämlich an der Bildung von deren Disziplin, Mentalität, Rationalität und Spielfähigkeit, beteiligt. Dementsprechend müssen die soziologische Theoriekonstruktion und Analyse (nicht nur) in diesem Zusammenhang nicht beim individuellen Akteur, sondern bei den Figurationen ansetzen, die von Akteuren gebildet werden und die Akteure bilden.472
8.2.4
Strategische Handlungsmächtigkeit
In und durch Figurationen sind Akteure nie nur ‚fremdgezwungen‘, sondern im Rahmen ihrer jeweiligen figurationalen Spielräume – und vor dem Hintergrund ihrer Wahrnehmungen dieser Spielräume – immer auch systematisch strategisch handlungsmächtig. Sie verfügen je nach Figuration und je nach ihrer figurationalen Positionierung und der entsprechenden Bedeutung ihrer Habitusausstattung immer über gewisse (strategische) Entscheidungs-, Gestaltungs- und (Gegen-)Kontrollspielräume, über figurationsspezifische Eigenmacht(en) und Gegenmacht(en). Damit und überhaupt als agierende Momente von Figurationen sind Akteure auch figurational wirksam und wirkmächtig: Ihr (strategisches) Handeln kann Änderungen der Figurationen bezwecken und bewirken, neben und mit geplanten aber auch ungeplante Figurationsfolgen haben; es kann Figurationen figurieren oder refigurieren, mehr oder weniger nachhaltige Effekte auf die ‚Gestalt‘ der Figuration(en) haben. Totaler sozialer Fremdzwang und totale soziale Fremdkontrolle (‚Panoptismus‘), Entmachtung und Machtlosigkeit (Ohnmacht einer Seite) sind also praktisch unmöglich (fiktiv). Vielmehr implizieren und forcieren die Prozesse der (individuellen) Zivilisierung und – damit einhergehend – der Individualisierung eine doppelte und ambivalente Subjektivierung: Individuen/personale Akteure 471 Ressourcen aller Art werden durch ihren strategischen Wert und je nach ihrer strategischen Wertigkeit zu einem Kapital oder einer Art Kapital. 472 Jeder ‚methodologische Individualismus‘ (natürlich auch und gerade der der Psychologie) erscheint daher figurationssoziologisch als systematisch verfehlt. In dieser Sicht der Dinge stimmt Elias mit Bourdieu, aber auch mit Goffman überein. Auch für Goffman bilden Beziehungen zwischen Menschen – und nicht die Menschen selbst – den primären Ansatzpunkt des Gegenstandsverständnisses und damit auch des theoretisch-empirischen Vorgehens (vgl. z. B. 1971a).
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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zeichnen sich im Maße ihrer Zivilisierung (Selbstbeherrrschung, Kompetenz) und Individualisierung durch Fähigkeiten und Neigungen aus, die sozialen (Verflechtungs-)Ordnungen nicht nur (mit ‚Leistungen‘) zu ‚bedienen‘, sondern auch – strategisch – zu nutzen und auszunutzen, zu unterlaufen, zu hintergehen usw. Individuen können aufgrund dieser praktischen Eigen- und Gegenmacht Distanz und (Ich-)Autonomie wahren und eine (strategische) ‚Politik der Selbstsorge‘ betreiben.
8.2.5
Macht und Kapitalien als Bedingungen, Ziele und Resultate strategischen Handelns
Soziale Figurationen/Felder implizieren Macht- und Kapitalverhältnisse473, die strategisches Handeln sowohl bedingen, limitieren und strukturieren als auch von ihm – abhängig von der strategischen Virtuosität (Handlungskunst) des Akteurs – beeinflusst und verändert werden können.474 Strategisches Handeln kann m. a. W. als Macht- und Kapitalfaktor bzw. als Macht- und Kapitalgenerator fungieren, wenn auch immer nur unter der Voraussetzung bestimmter Figurationen/Felder und figurationaler Konstellationen mit bestimmten ‚Macht-‘ und ‚Kapitalladungen‘. Mit entsprechenden, mehr oder weniger asymmetrischen (und immer wieder neu asymmetrisierten) Macht- und Kapitalverhältnissen sind soziale Spannungsverhältnisse, Konkurrenzen und (zivilisierte) Kämpfe zwischen (Inter-)Akteuren verbunden, die unter den jeweils gegebenen Figurations-/Situationsbedingungen Strategien abrufen, wählen oder entwickeln und im Handeln verfolgen (müssen). Die Figurationstheorie und Figurationsanalyse strategischen Handelns referiert dementsprechend auf macht- und kapitalbedingte und macht- und kapitaleffektive strategische Praxen, Handlungs- und Interaktionsprozesse zwischen strategisch aktiven, handlungsfähigen und handlungswilligen Akteuren. Diese sind zwar nicht zwangsläufig, nicht permanent und nicht nur, aber durchaus (figurations-) typischerweise mit- und gegeneinander strategisch aktiv, um Macht- und Kapitalverhältnisse zu ihren Gunsten zu ändern. 473 Die Kapitaltypen und Kapitalverhältnisse, die Bourdieu explizit unterscheidet und benennt (ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital, s. o.), sind schon von Elias gemeint gewesen, gedanklich gefasst und auch beschrieben worden. 474 Die strategische Handlungstheorie ist hier also eng mit der figurationssoziologischen Macht- und Machtbalancentheorie sowie mit der (bei Elias eher impliziten) Kapitalientheorie verbunden. Verschiedene Habitusformen werden dabei als (kultureller) Kapitaltyp und (damit) als strategische Ressource verstanden.
460 8.2.6
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie Habitus als Voraussetzungen, Grenzen und Generatoren strategischen Handelns
Die Figurationstheorie strategischen Handelns ist als Akteurtheorie zugleich und schwerpunktmäßig Habitustheorie, die es damit zu tun hat, dass strategisches Handeln nicht nur figurational, sondern (damit) auch habituell vielseitig voraussetzungsvoll, abhängig und (re-)produktiv ist. Es setzt bestimmte – figurationsbestimmte – Handlungskompetenzen, Attitüden und Handlungsneigungen (Risikobewusstsein, Risikobereitschaft, Gelassenheit etc.) voraus, die den jeweiligen figurationalen Zwangs-, Anforderungs- und Kontingenzlagen entsprechen müssen. Strategische Rationalität und strategische Aktivitäten (z. B. Planungen, Antizipationen oder Performances im Rahmen von Täuschungsmanövern) beruhen m. a. W. auf einem komplexen und spezifischen habituellen Unterbau, dessen strategische Bedeutungen und Wertigkeiten sich an den differentiellen und wechselnden Figurationen relevanter Praxis bestimmen.475 475 Damit geht es – und darin stimmen Elias, Bourdieu und Goffman in ähnlicher spieltheoretischer Ausrichtung überein – hauptsächlich um emotionale, kognitive und performative Kompetenzen, Orientierungen und Verhaltenstendenzen, deren strategische Bedeutungen von der Art und vom Verlauf des gespielten oder zu spielenden Spiels abhängen. Goffman lenkt diesbezüglich den Blick auf den „Spielstil“ (Goffman 1981d: 85) und die „Spielerkompetenz“, die er als die „wichtigste Eigenschaft der Spieler“ (ebd.: 86) betrachtet. Darunter versteht er ein basales und universelles Ensemble von Kompetenzen wie Empathie, Affektkontrolle, „Charakterstärke“ und Täuschungsfähigkeit, die er in besonderen Ausprägungen in Handlungsfeldern wie der Diplomatie oder der Spionage entdeckt (vgl. ebd.). Im Blick auf die konkreten strategischen Spiele und „Züge“ im interaktionellen Spielverlauf widmet Goffman den Bedingungen und Einschränkungen des strategischen Spiels bzw. der strategischen Performance besondere Aufmerksamkeit. „Emotionale Selbstbeherrschung“ (also eine zivilisatorische ‚Errungenschaft‘ par excellence) spielt für ihn in diesem Zusammenhang – gerade auch als Bedingung körperlicher (korporaler) Ausdrucksbeherrschung – sozusagen eine (praktische) Schlüsselrolle. So verrate ein „verstohlener Seitenblick, ein verlegenes Zögern (…) nicht gerade die Tatsachen selbst, aber die Tatsache, dass er (der Beobachtete, H. W.) die Tatsachen kennt. Ekman spricht von ‚Hinweisen auf Täuschung‘ im Unterschied zum ‚Durchsickern‘ der eigentlichen Information“ (Goffman 1981d: 33). Habitus, die entsprechende Selbstkontrollen hervorbringen, besitzen also unter strategischen (Spiel-)Umständen eine besondere Bedeutung. Sie sind aber als ‚zweite Natur‘ nicht nur strategisch relevante Selbstkontrollgeneratoren, sondern auch Informationsfelder und Informationsgeneratoren, die sich der Selbstkontrolle systematisch entziehen und damit für strategische Beobachter brauchbar und nützlich sein können. Goffman weist in diesem Zusammenhang – nah an der Elias’schen Zivilisationstheorie – auf die ‚Symptomatik‘ internalisierter (zivilisierter) Normen hin. Deren Verletzung führe „leicht zu unkontrollierbaren kleinen Schuld-, Scham- oder Verlegenheitsreaktionen, und zwar auch dann noch, wenn sich der Betreffende schon lange nicht mehr in entscheidenden Situationen an die Norm gebunden fühlt. So sind viele bereit, eine glatte Lüge zu versuchen, aber nur wenigen gelingt das, ohne irgendwie zu erkennen zu geben, dass sie nicht die Wahrheit sagen“ (ebd.: 43). Zivilisierte Habitus bilden also einerseits strategische Ressourcen und stellen wegen ihres ‚Eigenlebens‘ andererseits systematische
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Dieser Unterbau schließt bestimmte Verkörperungen von Strategien oder Strategienensembles mit ein, die zum Teil für bestimmte (strategische) Akteure bzw. Akteurtypen, wie etwa die Geschlechter, charakteristisch, ja geradezu charakterimmanent sind476. Die hier gemeinten (Habitus-)Strategien sind tendenziell unbewusste (implizite, vorreflexive) Strategien, strategische Verhaltensmuster, Verhaltensstile oder auch Lebensstile, hinter denen jeweils477 ein figurationsbestimmter strategischer Sinn, eine strategische Rationalität und damit auch eine Mentalität steckt. Habitus sind in dieser Form und darüber hinaus auch eine maßgebliche und wirksame Voraussetzung bewusster strategischer Kalküle, Entscheidungen (‚rationaler Wahlen‘) und Aktionen/Performanzen: indem sie Vorstellungen und Vorstellbarkeiten, Wahrnehmungen und Interpretationen bedingen und bestimmen, affektive Reaktionstendenzen programmieren, performative Handlungsoptionen vorgeben oder ausschließen usw.478 Es bietet sich in diesem Zusammenhang also vielleicht an, nicht nur zwischen habituell-unbewusstem (intuitivem) und bewusstem (reflexivem) strategischen Handeln zu unterscheiden, sondern dieses bewusste strategische Handeln auch im Verhältnis zur Gesamtheit habitueller (unbewusster) Verhaltensstile überhaupt zu relativieren.
8.2.7
Wissen, strategisches Handeln und strategisches Erfahrungs- und Handlungswissen
Die figurationssoziologische Theorie strategischen Handelns wird mit der und auch jenseits der (Figurations-)Habitustheorie eng an Aspekte des Wissens und Grenzen und Einschränkungen strategischen Handelns (strategisch rationaler Wahl) dar. Mit Elias ist diese Ambivalenz – die zivilisatorisch gleichzeitig gesteigerte Fähigkeit und Unfähigkeit zum strategischen Handeln – für den modernen Normalfall zu halten. 476 In der Annahme und Beschreibung dieser Habitualität konvergieren Elias, Bourdieu und Goffman weitgehend. 477 Wie etwa im Falle der Geschlechter(-Habitus-Strategien). Andere Beispiele sind: soziale Schichten/ Klassen, Altersklassen, bestimmte lokal ‚Etablierte‘ oder auch ‚Außenseiter‘ verschiedener Art (vgl. Elias/Scotson 1990; Goffman 1967). 478 Hier sollte auch die allerdings habitustheoretisch klärungsbedürftige Möglichkeit der ‚Rationalisierung‘ (im Freud’schen Sinne) bedacht werden. Hinter scheinbar bewussten Entscheidungen und rationalen Kalkülen und (Strategie-)Begründungen mögen in der Tat regelmäßig habituelle Mechanismen stecken, die als solche unbewusst sind, z. B. Ängste und ‚regressive‘ (Gewohnheits-) Tendenzen. Dies ist vielleicht einer der Punkte, an denen sich Möglichkeiten eines sinnvollen Austauschs zwischen Habitustheorie (und ihrer Vorstellung von Unbewusstem) und psychoanalytischer Theorie eröffnen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
damit an Wissenssoziologie geknüpft. Wissen (und Wissenssoziologie) spielt in diesen Zusammenhängen in verschiedenen Formen und Dimensionen eine zentrale Rolle. Es geht hierbei insbesondere um ein ganzes Spektrum von mit Interpretationskompetenzen verbundenen kosmologischen Wissenstypen, zum Beispiel naive Theorien (Deutungsmuster) über ‚Charaktereigenschaften‘ (vgl. Goffman 1971a), ‚Symptomatologien‘ der Lüge (vgl. Goffman 1981d) oder Rahmungswissen über Täuschung – ein Wissen, das nicht nur durchaus komplexe Typisierungen, sondern auch ein einschlägiges kognitives Können, nämlich eine praktische Urteilskraft in entsprechenden Handlungskontexten, einschließt. Zu den wichtigsten Gegenständen einer Figurationswissenssoziologie strategischer Praxis gehört Klugheitswissen (vgl. Hahn 1989). Bei den damit gemeinten Wissensformen handelt es sich einerseits um unbewusstes, implizites, sozusagen gelebtes Wissen, ein in fungierenden Habitus gespeichertes und manifest werdendes Wissen, das sich in Praxis zeigt und als habituelle Disposition Praxis voraus- und zugrundeliegt. Andererseits geht es um ein bewusstes, explizites und reflexives Praxis-Wissen von Akteuren, das Distanz zu entsprechender Praxis voraussetzt und das sozusagen kultiviert wird (z. B. literarisch). Dieses ‚gepflegte‘ und teilweise auch kanonisierte Wissen wurzelt in jenem primär habituell gespeicherten praktischen Praxis-Wissen, das natürlich immer nur selektiv zum Gegenstand der (Selbst-)Reflexion und (Selbst-)Beschreibung werden kann. ‚Aktivisten‘ dieser Art von ‚parasoziologischer‘ Tätigkeit sind seit jeher insbesondere jene (strategischen) Akteure, denen Klugheit in besonderer Weise oder in besonders hohem Maße abverlangt und nahegelegt wird: Fürsten, Höflinge, Diplomaten, Spione, Politiker, moderne Dienstleister, Chefs, Werber, Verkäufer und einschlägige ‚Berater‘ verschiedenster Art. Das hier gemeinte Klugheitswissen dieser Akteurtypen ist einerseits immer auch und hauptsächlich ein reflektiertes Erfahrungs- und Handlungswissen, das von den jeweiligen Figurationen bzw. Feldern geprägt ist. Andererseits spiegelt sich in diesem Wissen so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner verschiedener oder aller strategischen Figurations-Praxen – ein Nenner, der (spiel-)theoretischen und analytischen Konstruktionen strategischer Rationalität durchaus parallelgeführt werden kann. Goffmans Untersuchungen der strategischen Interaktion, die systematisch mit diesem Wissenstyp arbeiten, zeigen dies und (damit) die Möglichkeit, das reflexive Wissen der Klugheit in die Matrix einer formalen Theorie der strategischen Interaktion zu übersetzen. Auch diesbezüglich sind die höfischen Akteure (Machiavelli, Gracián, Castiglione etc.) historische Vorreiter einer Tradition, die sich über eine Reihe von ‚bürgerlichen‘ Nachfolgern (Knigge u. a. m.) bis heute fortgesetzt und massiv aus-
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geweitet hat. Besonders bemerkenswert (und untersuchenswert) sind in diesem Zusammenhang Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen höfischen und modernen/modernsten (längst nicht mehr nur, aber immer auch noch literarischen) Klugheitslehren bzw. Klugheits-Ratgebern, insbesondere einschlägigen medialen Beratungsdiskursen, die in den verschiedensten Lebensbereichen zu (strategisch) rationalem Handeln anleiten und führen wollen. *** Exkurs: Über Klugheit
Wesentliche Aspekte und selbst die Grundfigur der strategischen Handlungs- bzw. Interaktionsrationalität, die sozialwissenschaftliche/soziologische Modellierungen, wie z. B. die spieltheoretisch orientierte Goffmans, im Sinn haben, finden sich auch in den Beständen des Klugheitswissens, die seit den Zeiten der ‚höfischen Gesellschaft‘ bis heute zirkulieren und anwachsen. Zwei Seiten dieser Rationalität und des entsprechenden Klugheitswissens sind zu unterscheiden: zum einen (1.) die kognitive Seite (der Beobachtung, Einschätzung, Kalkulation) und zum anderen (2.) die performative Seite. Beide Seiten zeichnen sich ihrerseits durch eine gewisse Zweiseitigkeit aus. 1. Die kognitive Seite strategischer Handlungsrationalität Auf dieser Seite bzw. Doppelseite geht es einerseits um die soziologisch wie praktisch gewusste Bedeutung strategisch gezielter Fremdbeobachtung, Fremdeinschätzung und ‚Empathie‘, aus deren Ergebnissen die strategisch richtigen performativen Handlungskonsequenzen zu ziehen sind. Dass es unter strategischen Handlungsgesichtspunkten für den beobachtenden Akteur darauf ankommt, die Dinge mit den anderen Augen des relevanten Anderen (Beobachteten) zu sehen, dass dessen eigensinnige und eigenperspektivische ‚Lesart‘ strategisch (erfolgs-) maßgebend ist und daher erkannt und ‚gelesen‘ werden muss, weiß z. B. ein praktischer Experte, den Goffman deswegen ausführlich zitiert: „Stellen Sie sich vor, Sie seien ein englischer Geheimdienstler; sie haben einen Gegenspieler im feindlichen Geheimdienst, etwa – wie im letzten Krieg – in Berlin; und über ihm steht die deutsche Wehrmachtsführung. Was Sie als Engländer mit englischem Hintergrund aus einem Dokument ablesen zu können glauben, ist völlig gleichgültig. Es kommt darauf an, was Ihr Gegenspieler mit seinen deutschen Kenntnissen und seinem deutschen Hintergrund für wesentlich hält – welche Deutungskonstruktionen er auf
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie dem Dokument errichten wird. Wenn Sie also wollen, daß er das und das denkt, müssen Sie ihm etwas in die Hand geben, was ihn (und nicht Sie) veranlaßt, das zu denken. Er könnte aber mißtrauisch sein und Bestätigung suchen; Sie müssen sich vorzustellen versuchen, was er für Nachforschungen anstellen wird (und nicht, welche Sie anstellen würden), und ihm die Antworten liefern, die ihn zufriedenstellen. Mit anderen Worten, Sie müssen daran denken, daß ein Deutscher nicht so denkt und reagiert wie ein Engländer; deshalb müssen Sie sich in ihn hineinversetzen.“ (Montagu, zit. n. Goffman 1981d: 66 f.)
Dieses praktische (Praktiker-)Wissen findet sich, mit anderem ‚Hintergrund‘, aber im Grunde ähnlich, auch schon in alten Klugheitslehren wie Balthasar Graciáns „Hand-Orakel“, seiner (Höflings-)„Kunst der Weltklugheit“ (1647). In einer ihrer ‚Regeln‘ heißt es durchaus im Sinne der Theorie des strategischen Perspektivenwechsels, die der obige Spionageexperte formuliert: „Nicht sich zuhören. Sich selber gefallen hilft wenig, wenn man den andern nicht gefällt. Wer sich selber so sehr genügt, wird es nie den andern. Reden und zugleich sich selbst zuhören wollen, geht nicht wohl: und wenn mit sich allein zu reden eine Narrheit ist, so ist es eine doppelte, sich noch vor andern zuhören zu wollen.“ (Gracián 1986: 66)
Und eine andere ‚Regel‘ Graciáns postuliert in eben dieser Richtung: „Den fremden Geschmack nicht verfehlen: sonst macht man ihm, statt eines Vergnügens, einen Verdruß. Manches ist dem einen eine Schmeichelei, dem andern eine Kränkung; und manches, was eine Artigkeit sein sollte, war eine Beleidigung. Oft hat es mehr gekostet, jemandem Mißvergnügen zu bereiten, als es gekostet haben würde, ihm Vergnügen zu machen. Wer den Sinn des andern nicht kennt, wird ihn schwerlich befriedigen.“ (Gracián 1986: 105)
Dieser Seite der kognitiven Seite strategischer Handlungsrationalität entspricht andererseits, sozusagen spiegelbildlich, die der strategischen Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis und Selbstberechnung, die wiederum sowohl sozialwissenschaftlich/soziologisch modelliert als auch praktisch (klugheits-)reflektiert wird. So ist es aus der Sicht der strategischen Interaktionstheorie (spiel-)relevant oder (spiel-) entscheidend, dass der strategische Spieler seine diesbezüglichen Eigenschaften richtig beurteilt. Vor allem wird gesehen, dass zur strategischen Rationalisierung des eigenen Handelns eine gewisse Wahrhaftigkeit, Schonungslosigkeit und Kon-
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sequenz im Blick auf sich selbst erforderlich ist.479 Unter dieser Voraussetzung kann der Akteur, wie Goffman feststellt, auch „auf seine eigenen Schwächen strategisch eingehen und sie sogar zur Verbesserung seines Spiels ausnützen. Er kann seine eigenen Grenzen einschätzen und sich danach richten, etwa wenn jemand von sich weiß, daß er nicht überzeugend bluffen kann, und es deshalb nicht versucht“ (Goffman 1981d: 40). Auch diese Art von Einsicht in die Notwendigkeit von Selbsterkenntnis als Voraussetzung von Selbstkontrolle und – dadurch – Fremdkontrolle gehört zu den klassischen Beständen des Klugheitswissens. Man nehme wieder eine ‚Regel‘ Graciáns zum Beispiel: „Kenntnis seiner selbst: Keiner kann Herr über sich sein, wenn er sich nicht zuvor begriffen hat. Man lerne die Kräfte seines Verstandes und seine Feinheit zu Unternehmungen kennen: man untersuche seine Tapferkeit, zum Einlassen in Händel: man ergründe seine ganze Tiefe und wäge seine sämtlichen Fähigkeiten zu allem.“ (Gracián 1986: 46)480
Auch Machiavelli betrachtet Selbsterkenntnis als ein Schlüsselelement und eine Schlüsselbedingung von Klugheit und empfiehlt daher dem Fürsten, „Schmeichler zu fliehen“ (Machiavelli 1990: 112) und ‚kritische Wahrhaftigkeit‘ (wenn auch nur die ausgesuchter „weiser Männer“) zu ermutigen. „Denn es gibt kein anderes Mittel, um sich gegen die Schmeichelei zu sichern, als die Menschen erkennen zu lassen, daß sie dir die Wahrheit sagen können, ohne dich zu verletzen; (…) Mit
479 Hier liegt, wie Alois Hahn verschiedentlich herausgestellt hat (vgl. 1982; 1984a), eine der zivilisatorisch und zivilisationstheoretisch wichtigen Parallelen zum Kontext der Religion bzw. der Beichte. 480 Oder wiederum Gracián: „Seine Lieblingsfehler kennen. Auch der vollkommenste Mensch wird dergleichen haben, und entweder ist er mit ihnen vermählt oder in geheimer Liebschaft. (…) Nicht, daß der Inhaber sie nicht kennen sollte, sondern er liebt sie: ein doppeltes Übel: leidenschaftliche Neigung, und für Fehler. (…) Hier nun gilt es eine kühne Selbstüberwindung, um seine übrigen Vorzüge von solchem Makel zu befreien. Denn darauf stoßen alle: und wann sie das übrige Gute, welches sie bewundern, zu loben haben, halten sie bei diesem Anstoß still und schwärzen ihn möglichst an, zur Verunglimpfung der sonstigen Talente“ (Gracián 1986: 75 f.). Oder: „Seinen Hauptfehler kennen. Keiner lebt, der nicht das Gegengewicht seines glänzendesten Vorzugs in sich trüge: wird nun dasselbe noch von der Neigung begünstigt, so erlangt es eine tyrannische Gewalt. Man eröffne den Krieg dawider durch Aufrufen der Sorgfalt dagegen, und der erste Schritt sei, seinen Hauptfehler sich offenbar zu machen. Um Herr über sich zu sein, muß man sich gründlich kennen. Hat man erst jenen Anführer seiner Unvollkommenheiten zur Unterwerfung gebracht, werden alle übrigen nachfolgen“ (Gracián 1986: 102). Oder: „Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben; zumal beim Antritt des Lebens. Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. (…) Die beste Universalmedizin gegen alle Torheiten ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Tätigkeit und seines Standes: dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen“ (Gracián 1986: 89 f.).
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diesen Ratgebern muß er (der Fürst, H. W.) es so halten, daß jeder von ihnen weiß, daß er ihm desto lieber ist, je freimütiger er spricht“ (ebd.: 113).481 2. Die performative Seite strategischer Handlungsrationalität Wie die kognitive Seite der strategischen Handlungsrationalität, so hat auch die Seite der strategischen Performanz ihrerseits zwei Seiten, die sowohl die KlugheitsPraktiker als auch die strategischen Handlungstheoretiker kennen und reflektieren. Zum einen geht es um die Seite des aktiven ‚Eindruckmachens‘, um die demonstrative „Schauseite“ (Dreitzel 1980: 125), die Seite des „betonten Zeigens“ (Goffman 1981d) bzw. der symbolischen (Selbst-)Idealisierung, die Goffman immer wieder herausgestellt hat (vgl. Goffman 1981d; 1969; 1971a)482. Auf dieser Ebene der strategischen Handlungsführung kommt es, so der Konsens einschlägiger Praktiker und Theoretiker, darauf an, vor dem Hintergrund der richtigen Situations- und (d. h.) Publikumseinschätzungen die richtigen bzw. die besten Eindrücke zu machen. Ganz in Übereinstimmung mit Goffmans (Theatermodell-)Sicht postulieren (Klugheits-)‚Regeln‘ Graciáns: „Tun und sehn lassen. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Wert haben und ihn zu zeigen verstehn, heißt zweimal Wert haben. Was nicht gesehn wird, ist, als ob es nicht wäre. Das Recht selbst kann seine Achtung nicht erhalten, wenn es nicht auch als Recht erscheint. Der Betrug herrscht vor, und man beurteilt die Dinge von außen: viele aber sind weit verschieden von dem, was sie scheinen. Eine gute Außenseite ist die beste Empfehlung der inneren Vollkommenheit.“ (Gracián 1986: 62) „Seine Sachen herauszustreichen verstehn. Der innere Wert derselben reicht nicht aus: denn nicht alle dringen bis auf den Kern oder schauen ins Innere: vielmehr laufen die meisten dahin, wo schon ein Zusammenlauf ist, und gehn, weil sie andre gehen sehn. Ein großer Teil der Kunst besteht darin, seine Sache in Ansehn zu bringen, bald durch Anpreisen, denn Lob erregt Begierde, bald durch eine vortreffliche Benennung, welche
481 Und weiter stellt Machiavelli, mit Graciáns lebenspraktischer Anthropologie übereinstimmend, fest: „… die Menschen sind so selbstgefällig und geben sich so leicht der Selbsttäuschung hin, dass sie sich dieser Ansteckung nur schwer entziehen …“ (Machiavelli 1990: 112). Diese Neigung und überhaupt der Mangel an praktischer Selbsterkenntnis bieten natürlich seit jeher Ansatzpunkte entsprechender strategischer Behandlung. 482 Und mit der er immer wieder hauptsächlich in Verbindung gebracht wird. Wenn von Goffmans sozialer Realitätsversion die Rede ist, dann wird meist die demonstrative ‚Show‘ oder ‚Eindrucksmanipulation‘ assoziiert.
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einer hohen Meinung sehr förderlich ist; wobei jedoch alle Affektationen zu vermeiden. Ferner ist ein allgemeines Anregungsmittel, sie bloß für die Einsichtigen zu bestimmen, da alle sich für solche halten. Hingegen muß man nie seinen Gegenstand als leicht oder gewöhnlich empfehlen, wodurch er mehr herabgesetzt als erleichtert wird: nach dem Ungewöhnlichen haschen alle, weil es für den Geschmack wie für den Verstand anziehender ist.“ (Gracián 1986: 70 f.)
Auch diese ‚praktische Philosophie‘ teilt Gracián mit dem „Spin-Doctor“ Machiavelli (Westerbarkey 2003: 200), der z. B. den scheinbar ewig – jedenfalls auch heute noch – guten Rat gibt, den guten Eindruck des Guten zu machen: „Ein Fürst braucht also nicht alle (…) Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich.“ (Machiavelli 1990: 88)
Der ‚positiven‘ Performanzseite der strategischen Handlungsrationalität und klugen Handlungsführung korrespondiert – also – die Kehrseite der gezielten Selbstverhüllung, der Dissimulation, der Geheimhaltung und Verheimlichung. Es geht dabei nicht nur darum, ‚(image-)destruktive Informationen‘ über sich zu verbergen, sondern auch das eigene strategische Wissen über andere; und zugleich geht es darum, strategisches Wissen anderer von diesen unbemerkt aufzudecken und in die eigene strategische Kalkulation einzubeziehen. Auch diese Logik der Informationskontrolle findet im strategischen Handlungsmodell Goffmans Berücksichtigung und wird dort wiederum mit einschlägigem Klugheitswissen belegt. Goffman zitiert einen Autor, der über Militär- und Wirtschaftsspionage schreibt: „Im Großen und Ganzen muß Wissen, das Macht sein soll, geheim sein. … Unser Geschäftsmann, zu dessen Habenposten seine Kenntnisse über die Konkurrenz gehören, hat auch Minusposten, nämlich die Kenntnisse der Konkurrenz über ihn. Doch wenn er weiß, daß man es weiß, dann ist es für ihn kein Minusposten; davon kann er ausgehen, wenn er seine Konkurrenz einschätzt und ihr entgegenzutreten versucht. Doch alles Wissen der Konkurrenz über seine Möglichkeiten und Pläne, das ihm als solches nicht bekannt ist, kann dazu ausgenützt werden, ihn auszutricksen und auszumanövrieren.“ (Felix, zit. n. Goffman 1981d: 51)
Auch für die alten Klugheitslehren und für neuere, die wie z. B. Robert Greenes „48 Gesetze der Macht“ (1999) in der Tradition höfischer Klugheitslehren (beson-
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ders der Graciáns) stehen (und sich ausdrücklich stellen), gehören bestimmte informationelle Selbstverdeckungen zur strategischen Handlungsrationalität. So formuliert Greene ganz im Sinne Gracián’scher und Goffman’scher Semantik als ein „Gesetz“: „Halte deine Absichten stets geheim. Verunsichern Sie die Leute und lassen Sie sie im Dunkeln tappen. Enthüllen Sie niemals den Zweck Ihres Handelns. Wenn die anderen keine Ahnung haben, was Sie vorhaben, können sie sich nicht auf die Verteidigung vorbereiten. Bringen Sie sie auf falsche Fährten, vernebeln Sie ihnen den Blick. Wenn die anderen Ihre wahren Absichten erkennen, wird es zu spät sein.“ (Greene 1999: 7)
Greenes Klugheitslehre liefert aber auch Beispiele für die figurationale Relationalität und Relativität von Klugheit, Klugheitsvorstellungen und Klugheitsreflexionen. So bezieht sie sich mit ihrem ersten ‚Gesetz‘ auf die moderne Berufswelt (in Organisationen) und empfiehlt sozusagen vorgesetztenpsychologisch und karrierestrategisch: „Stelle nie den Meister in den Schatten. Ihre Vorgesetzten müssen sich Ihnen immer überlegen fühlen können. Wenn Sie beeindrucken wollen, dürfen Sie Ihre eigenen Talente nicht zu sehr zur Schau stellen, sonst erreichen Sie das Gegenteil: Sie wecken Angst und Unsicherheit. Sorgen Sie dafür, daß die da oben brillianter erscheinen, als sie sind, und Sie werden den Gipfel der Macht erklimmen.“ (Greene 1999: 7)
Das thematisierte Klugheitswissen ist hier (figurationswissens-)soziologisch besonders interessant – nicht nur weil es ein praktisches (Strategie-)Wissen eigener Art ist und sich auf sozialwissenschaftliche/soziologische Modellbildungen strategischer Rationalität und strategischer Praxis projizieren lässt, sondern auch deshalb, weil in ihm eine Art Vorläufer (und Nebenläufer) prominenter ‚Sozialphilosophien‘ und sozialwissenschaftlicher / soziologischer Theoriefiguren gesehen werden kann. In dem besagten Klugheitswissen steckt jedenfalls so etwas wie eine praktische Anthropologie und eine praktische Spieltheorie des Handelns, die durchaus bestimmten sozialwissenschaftlichen Konstruktionen, etwa denen des Rational-Choice-Ansatzes, ähneln483 und Verbindungen mit diesen eingehen können. (Figurations-)Soziologisch ist zudem die Frage von Bedeutung (oder von grö483 Man kann auch mutmaßen, dass diese Konstruktionen und ihre Resonanz eine Wurzel in jenem Wissen haben.
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ßerer Bedeutung), ob und inwiefern dieses Wissen (lebens-)praktisch verstehensund handlungsrelevant oder sogar wirklichkeits- und handlungsstiftend ist. Man kann jedenfalls vermuten, dass es nicht nur praktische Erfahrungshintergründe oder Erfahrungsquellen hat, sondern auch Erfahrungshintergründe bildet, d. h. Erfahrungen, Intentionen und (strategische) Handlungen fundiert, strukturiert und herbeiführt. Damit besteht oder eröffnet sich in diesem Sachzusammenhang auch eine relevante theoretisch-empirische Forschungsperspektive, die angesichts der historischen Expansion, Differenzierung und sozialen Penetranz von Klugheitswissensbeständen gerade in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ vielversprechend erscheint. Es stellt sich insbesondere die Frage, welchen Anteil Formen von Klugheitswissen bzw. der Glaube an ökonomistische/utilitaristische Deutungsmuster und Erfolgsrezepte, welcher Art und Herkunft auch immer, an entsprechenden praktischen Handlungsmotivationen, Erfahrungen, Deutungen und Handlungsführungen haben.484 *** 8.2.8
Figurationale Macht und (soziale) Kontrolle: Strategisches Handeln von Kontrolleuren und Kontrollierten
Die Figurationssoziologie entwirft und rekonstruiert Formen, Spielräume, Grenzen und Zwänge strategischen Handelns wesentlich vor dem Hintergrund der Gegebenheit und Entwicklung figurationaler (sozialer) Kontrollbedingungen/Kontrollformen, (In-)Transparenzverhältnisse und Überwachungen, die Ausdruck, Grenzen, Faktoren und Strategien von Macht sind (s. o.). Entscheidend ist dabei nicht nur dieser Fokus, sondern auch die Multipolarität bzw. Zweiseitigkeit der Perspektive: Die figurationalen (sozialen) Kontrollbedingungen/Kontrollformen werden als (z. B. institutionelle) Macht-Strategien und Basen entsprechenden (macht-)strategischen Handelns verstanden und zugleich nicht nur auf die Kontrolleure, sondern auch auf die jeweiligen potentiell oder tatsächlich Kontrollierten bezogen: als Restriktionen, Erschwernisse und Entmutigungen, aber auch als Ressourcen, Motive und Ermutigungen ihres strategischen Handelns. Dabei erscheinen auch diejenigen als Kontrollierte oder Kontrollierbare, die in irgendeiner relativ überlegenen ‚Machtposition‘ Kontrollen ausüben. Wie die Macht selbst gilt 484 Naheliegend ist etwa die Vermutung einer Logik der ‚selbsterfüllenden Prophezeiung‘: Man verhält sich ‚utilitaristisch‘, weil man glaubt, dass es ‚normal‘ ist, sich ‚utilitaristisch‘ zu verhalten, dass Andere sich ‚utilitaristisch‘ verhalten usw.
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also auch die soziale Kontrolle als eine relationale und nie einseitige Realität: Die Kontrolleure können immer auch kontrolliert werden, und die Kontrollierten können immer auch zu Kontrollierenden werden, wobei in jedem Fall strategisches Handeln im Spiel ist. Auch in diesem Zusammenhang ist die ‚höfische Gesellschaft‘ ein historisches Schlüsselphänomen und Musterbeispiel. Es steht für das mit einem entsprechenden Machtfeld verbundene Extrem tendenziell totaler sozialer Kontrolle im Sinne jener sozialen Kontroll- und Disziplinierungslogik, die Foucault „Panoptismus“ genannt hat (s. o.). Der höfische ‚Panoptismus‘ schränkt die (strategischen) Handlungsspielräume der kontrollierten Akteure einerseits ein und setzt diese unter einen direkten und alternativlosen Konformitäts- und (d. h.) (Selbst-) Disziplinierungsdruck. Andererseits erzwingt und formiert er gerade durch die (relative) Verknappung von Intransparenzen und ‚informationspolitischen‘ Spielräumen strategisches bzw. strategisch-dramaturgisches Handeln und fordert dazu heraus, die eingeschränkten und verknappten Handlungsspielräume effektiv, d. h. strategisch rational, zu nutzen. Auch darin besteht gleichsam ein Programm der (strategischen) Handlungs- und Lebensführung, ein eigentümlicher Zwang zur Selbststeuerung und Habitusbildung485 bzw. Selbstdisziplinierung. Das höfische ‚Panopticon‘ macht den Höfling also nicht nur zum Objekt figurationaler und individueller Strategien, sondern auch zum strategischen Akteur und Aktivisten, zum Super-(Selbst-)Beobachter und Super-(Selbst-)Performator mit einem entsprechenden Selbst- und Weltbewusstsein. Man kann mit Elias von diesem Fall als einer Art historischer Spitze ausgehen und ihn sowohl in seiner Rolle als Zivilisationsfaktor betrachten als auch als Vergleichsfall im Hinblick auf moderne und aktuelle Verhältnisse heranziehen. In diesem Bezugsrahmen lässt sich der weitere historische Figurationsprozess – der gesellschaftlichen Modernisierung – als mehrseitig ambivalente Entwicklung sozialer Kontrollbedingungen beschreiben. Einerseits impliziert er, wie schon gesagt, eine gewisse Gegenbewegung zur Kontroll-Logik des ‚Panoptismus‘, nämlich eine tendenzielle Zunahme, Pluralisierung und Individualisierung sozialer Kontrollfreiräume und Freiheiten von sozialen Kontrollen (Intransparenzen, Fremdheiten, informationelle Unbestimmtheiten), die allerdings auch Spielräume, Chancen und Zwänge strategischen (‚informationspolitischen‘) Handelns mit sich
485 Hier ist insbesondere an die oben erwähnte Logik der strategisch rationalen Selbsterforschung zu erinnern. Der ‚Stratege‘ muss sich ziel- und situationsgerichtet selbst erforschen und damit ‚bilden‘, um strategisch rational handeln zu können. Die strategische Rationalität/Rationalisierung hat also – ähnlich wie die religiöse – spezifische Zivilisierungsimplikationen (vgl. Hahn 1984a).
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bringen. Andererseits und gleichzeitig ergeben sich ganz neuartige, teilweise sehr ausgedehnte und verfeinerte soziale Kontrollen, Figurationskontrollen und Kontrollfigurationen mit einem strategischen Charakter, die durchaus im prinzipiellen Sinne des höfischen Panoptismus sowohl die strategische Optionalität und Subjektivität des von ihnen erfassten Akteurs einschränken und bedingen als auch den betroffenen ‚Strategen‘ und seine strategische Zivilisierung anfordern, herausfordern und anregen. War es in der höfischen Gesellschaft vor allem die Permanenz der kommunikativen Situation, so sind es unter modernen (modernisierten) Bedingungen eher feldspezifische bzw. organisationale Kontrollen und technische Überwachungsformen486, die in diesem Sinne wirken.
486 Schon Goffman hat auf diesen Punkt und auf mögliche strategische Handlungs- und Zivilisierungsfolgen hingewiesen: „Bei den jüngsten raschen Fortschritten der Überwachungstechnik muß man mit deren Einsatz in wesentlich mehr sozialen Situationen rechnen; und damit dürfte eine sorgfältigere Kontrolle bestimmter Ausdruckselemente einhergehen sowie eine zunehmende Bereitschaft, andere aufdecken zu lassen“ (Goffman 1981d: 319). Zu beachten ist hier natürlich auch, dass mit dem Internet ganz neue Informations-(kontroll-)voraussetzungen entstanden sind und sich entwickeln. Die Karten der verschiedensten strategischen ‚Spiele‘ wurden und werden damit neu gemischt. So haben es Ärzte heute zunehmend mit internet-informierten und -informationsfähigen Patienten zu tun, die z. B. über alternative Behandlungsmethoden Bescheid wissen und die aufgrund ihres Wissens – mit Folgen für das (strategische) (Be-)Handelnkönnen und (Be-) Handelnmüssen der Ärzte – ganz neue (strategische) (Be-)Handlungsoptionen besitzen (vgl. von Kardorff 2008). Das Wissen, das man (Wahrnehmende, Beobachter) gewinnen, verarbeiten und verwenden kann, spielt natürlich auf allen Seiten der ‚Netz-Wirklichkeit‘ eine zentrale und ambivalente Rolle. Indem es der Computer erlaubt, Informationen zu gewinnen, zu speichern, zu verarbeiten und zu kommunizieren, macht er ein und denselben Akteur gleichzeitig zum Subjekt und zum Objekt des Wissens und der mit Wissen verbundenen Macht (Ermächtigung oder Entmachtung). Diesbezüglich geht es auf der Ebene der Internet-Kommunikation bekanntlich nicht zuletzt um (Welt-)Öffentlichkeiten, um Publizitäten und Publikationen, die eben in der eigenen Macht wie in der der anderen stehen, woraus Möglichkeiten sozialer Kontrolle und Manipulation erwachsen. Sie erwachsen auch – und im Zusammenhang damit – aus neuen Möglichkeiten und Formen der Beobachtung und Überwachung, die sich an (Informations-)Spuren festmachen und Spuren verarbeiten können, die im Netz hinterlassen oder hinterlegt werden. Daneben und damit spielen hier neue Formen und Potentiale von Gedächtnis eine Rolle, die sich hinter dem Rücken ihrer Objekte entwickeln und zur (Fremd-)Steuerung dieser Objekte führen können. Die neuen Formen von Gedächtnis und entsprechender Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung bedeuten ebenso wie die neuen Formen intransparenter und unberechenbarer Beobachtung/Überwachung durch nicht oder kaum identifizierbare andere einen neuen „Panoptismus“ (Foucault 1977b), der im Rahmen der (internet-)medialen Infrastruktur von den verschiedensten Akteuren bzw. von jedermann ausgehen und jedermann betreffen kann. Und damit greift mit Theatralitäts- und Theatralisierungsfolgen im neuen Kontext die alte Logik der (Selbst-)Disziplinierung, die Elias, Foucault und Goffman als Moment totaler Institutionen beschrieben haben: Man muss sich im Blick auf die eigene ‚Informativität‘ informationell kontrollieren, um nicht kontrolliert zu werden, und d. h. auch: Man muss im sachlichen Bezugsrahmen der medialen Theatralität die eigene Theatralität permanent im Auge haben und ‚informationspolitisch‘ steuern.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Für die Figurationstheorie strategischen Handelns ist hier also wiederum ein mindestens ambivalenter oder dialektischer Zusammenhang von grundlegender Bedeutung: Mit den alten und den neuen Möglichkeiten der sozialen Kontrolle (Überwachung, Einschätzung, Bewertung, Steuerung) verbinden sich zum einen neue Formen und Dimensionen von (Kontroll-)Macht, alte und neue Strategien und Möglichkeiten strategischen (Be-)Handelns. Zum anderen ruft eben diese Tatsache wiederum (Gegen-)Strategien und strategisches (Gegen-)Handeln derer auf den Plan, die solcher Behandlung oder der Möglichkeit solcher Behandlung ausgesetzt sind bzw. sich ausgesetzt sehen. Hier und darüber hinaus zeigt sich auch eine im Hinblick auf strategisches Handeln implikationsreiche Generalisierungs-, Dezentralisierungs- und Diversifizierungstendenz sozialer Kontrolle. Jeder Akteurtyp (auch jedermann) wird – gerade via Internet – nicht nur zunehmend zum Objekt, sondern auch zum Subjekt sozialer Kontrollen – ausgestattet mit eigenen Möglichkeiten sozialer Kontrolle/Überwachung/‚Intervention‘ und insofern – parallel zu seiner sozialen Kontroll-Freisetzung – strategisch subjektiviert und individualisiert. *** Exkurs: Verbergen, Geheimnis und Geheimhaltung bei Simmel und Goffman
Mit diesen Überlegungen zu den Bedeutungen von (Entwicklungs-, Funktions-) Logiken sozialer Kontrolle in Kontexten strategischen Handelns, aber auch mit einer grundsätzlicheren Perspektive der strategischen Handlungstheorie, verbinden sich immer auch Fragen nach den strategischen Handlungsoptionen der tatsächlich oder potentiell Kontrollierten bzw. ihren Möglichkeiten, sich sozialen Kontrollen zu entziehen, unter (Fremd-)Kontrollbedingungen zu operieren, Fremd- und Selbstkontrollen oder sogar Gegenmacht und Gegenkontrolle auszuüben. Diese Fragen referieren schwerpunktmäßig sozusagen auf negative Seiten praktischen Wissens: auf Intransparenzen, informationelle (Selbst-)Abschirmungen, Heimlichkeiten, Verheimlichungen, ‚Hinterbühnen‘, ‚Unterleben‘ usw. Damit kommen auch die bereits angesprochenen Traditionen der Wissenssoziologie bzw. Soziologien des praktischen Nichtwissens487 und des Managements von Wissen und Nichtwissen wieder ins Spiel. Von besonderem Nutzen, der sich allerdings erst in einer figurationssoziolo487 Man könnte vielleicht mit einem gewissen Recht von Nichtwissenssoziologien sprechen. Allerdings gibt es diesen Begriff meines Wissens noch nicht.
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gischen Synthese voll entfaltet, sind (auch) diesbezüglich Überlegungen, insbesondere bestimmte grundbegriffliche Perspektiven und Differenzierungen, von Simmel und Goffman488. Die in gewissen Hinsichten grundlegende Bedeutung beider Klassiker liegt dabei zunächst darin, dass sie in den hier thematischen Phänomenen nicht (oder nicht nur) Abarten, Abweichungen, Krankheits- oder Entfremdungsphänomene sondern Grund- und Normalformen des sozialen Handelns sehen, die – historische – Sozialität konstituieren und durch solche Sozialität konstituiert werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass Simmel und Goffman diese Themen nicht als Randthemen, sondern als Schlüsselthemen der Soziologie betrachten und in ihren Werken entsprechend ausführlich behandeln – mit strategischen Rahmen- und Handlungsbegriffen, die versprechen, sich im Kontext einer figurationssoziologischen Theorie strategischen Handelns als anschlussfähig und nützlich zu erweisen. Zu den wichtigsten soziologischen Begriffsentwicklungen bzw. Begriffsfassungen gehört in diesem Zusammenhang das Begriffsfeld Geheimnis (Geheimhaltung, Verheimlichung, Dissimulation, Diskretion, Privatheit usw.). Simmel war einer der ersten, der dieser Begrifflichkeit und dieser Seite des sozialen Lebens und (strategischen) Handelns systematische soziologische Aufmerksamkeit gewidmet hat und damit (auch) in diesem Punkt als wichtigster Vorläufer einerseits der Goffman’schen Soziologie und andererseits der einschlägig interessierten Figurationssoziologie gelten kann.489 1. Simmel Ausgangspunkt der Simmel’schen Überlegungen zum Geheimnis (zu Geheimhaltung, Diskretion, ‚geheimer Gesellschaft‘ usw.) ist die Unzugänglichkeit/Intransparenz des fremden Bewusstseins, die ein systematisches Nichtwissen (von Seiten Anderer) impliziert und (strategische) Informationskontrollen490 überhaupt erst ermöglicht, aber auch – als ‚Selbstdarstellung‘ von Innenwelt – erzwingt. Simmel geht vor diesem Hintergrund von einer spontanen, unvermeidlichen und unverzichtbaren Selbstverhüllung im Rahmen einer gewohnheitsmäßigen Selbststilisierung aus und stellt fest:
488 Goffman (als ‚Klassiker der zweiten Generation‘) bezieht sich dabei immer wieder auf Simmel. 489 Sein Aufsatz über das „Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ (Simmel 1922a) ist bis heute ein Schlüsseltext zum Themenfeld – auch deswegen, weil er sich um grundsätzliche terminologische Differenzierungen und zugleich um eine theoretisch-empirische Perspektive auf den Gegenstandsbereich bemüht. 490 Verbergen, Stilisieren, Lügen usw.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie „Was wir auch sagen mögen, das über die Interjektion und das Mitteilungsminimum hinausgeht: wir stellen damit niemals unmittelbar und getreu dar, was nun wirklich in diesem Zeitabschnitt in uns vorgeht, sondern eine teleologisch gelenkte, aussparende und wieder zusammensetzende Umformung der inneren Wirklichkeit. Mit einem Instinkt, der das Gegenteil automatisch ausschließt, zeigen wir niemandem den rein kausal wirklichen, vom Standpunkt der Logik, der Sachlichkeit, des Sinnes aus ganz inkohärenten und unvernünftigen Verlauf unserer Seelenvorgänge, sondern immer nur einen durch Selektion und Anordnung stilisierten Ausschnitt aus diesen; und es ist überhaupt kein andrer Verkehr und keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den andern beruht.“ (Simmel 1922a: 259)
Was Simmel hier formuliert, ist in gewisser Weise eine habitustheoretische These491, die die Möglichkeit von ‚Authentizität‘492 ausschließt und den sozialisierten Menschen zum konstitutionellen und (sozialitäts-)konstitutiven (Selbst-) Stilisten bzw. (Selbst-)Stilisierungsautomaten erklärt. Von diesem fundamentalen Punkt einer habituellen (also primär unbewussten) Innen/Außen-Differenzierung aus entwickelt Simmel das Geheimnis als intentionale bzw. strategische Form der (Selbst-)Verhüllung. Er nennt es „bewußt gewolltes Verbergen“ (Simmel 1922a: 262). Entscheidend ist hier, dass Simmel im Geheimnis eine „Form des Handelns“ (ebd.: 273) sieht, und zwar eine vielgestaltige „allgemeine soziologische Form, die völlig neutral über den Wertbedeutungen ihrer Inhalte steht“ (ebd.). Ähnlich wie für eine Reihe späterer Soziologen493 ist das Geheimnis für Simmel eine vielseitig leistungsfähige Handlungs- und (damit) Wissensform, die sich aus sozialen Beziehungen ergibt, in sozialen Beziehungen steckt und soziale Beziehungen prägt. Dabei heißt Leistungsfähigkeit nicht ‚Funktionalität‘ in allen sozialen Bezugsrahmen (‚Systemreferenzen‘). Das Geheimnis/Geheimhalten kann z. B. soziale Kontrollen unterlaufen und die verschiedensten moralisch disqualifizierten oder schädigenden Formen ‚abweichenden Verhaltens‘ ermöglichen und begünstigen (vgl. ebd.: 273 ff.). Andererseits ermöglicht es aber auch soziale Kontrollen494, und es erscheint auch als Grundbedingung von sozialer Ordnung, gerade von mo-
491 Simmels metaphorische Rede von „Instinkt“ steht für die Operations- und Funktionslogik, die der Habitusbegriff im Sinn hat (s. o.). 492 Wie sie etwa Habermas mit seiner Handlungsbegrifflichkeit im Sinn hat (s. o.). 493 Von Goffman oder Popitz (vgl. 1968) bis Hahn (vgl. 1983; 1989). 494 Wie im Falle (geheim-)polizeilicher Ermittlungen oder psychotherapeutischer (psychoanalytischer) Behandlungen.
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derner sozialer Ordnung, sowie von (moderner) Kultur und Kultivierung495. In der Tradition Nietzsches und im Vorlauf einer breiten Strömung der modernen (Wissens-)Soziologie lobt Simmel das Geheimnis als „eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können. Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener auf das stärkste beeinflußt“ (ebd.: 272).496 Die (Form-)Genese, die Leistungsfähigkeit und die ‚Funktionalität‘ oder ‚Dysfunktionalität‘ von Geheimnissen/Geheimhaltungen betrachtet Simmel im Rahmen eines sozialen Ordnungs- und Praxisverständnisses, das in seiner Doppelseitigkeit durchaus (schon) an das von Elias und Bourdieu erinnert (s. o.). Die historisch gewordenen und sich wandelnden sozialen Beziehungen (Figurationen, Felder) sind demnach einerseits der wirklichkeits- und wirkungsbestimmende Hinter- und Untergrund dieses Wissens und Handelns, das andererseits die Kraft besitzt, soziale Beziehungen und Wirklichkeiten zu (re-)produzieren und kontingent zu beeinflussen. Ein (wichtiges) Beispiel dafür ist die moderne Freundschaft, die sich als ein sozialer Figurationstyp mit einer typischen Geheimnislogik, mit typischen Geheimnissen und Geheimhaltungen beschreiben lässt (vgl. Lenz 2003). Aus Simmels Sicht haben die ‚Subjekte‘ der Freundschaft unter den modernen Differenzierungs- und (d. h.) Individualisierungsbedingungen selbst unter den günstigsten Bedingungen zuviel nicht gemeinsam und (d. h.) zuviel zu verbergen, um eine Freundschaft im antiken Sinne unterhalten und aufrechterhalten zu können. Das 495 Mit Elias im Sinne von Simmel gesprochen: von Zivilität und Zivilisierung. 496 In diesem Zusammenhang ist natürlich an zentrale zivilisatorische ‚Errungenschaften‘ und moderne Kulturbegriffe/Semantiken zu denken: Privatheit, Intimität, Würde, Individualität, Selbstverwirklichung, Autonomie. Im Anschluss an Simmel und Goffman betont (auch) Hahn die grundlegende soziale Produktivität, Protektivität und Funktionalität des Verbergens in sozialen Figurationen und für sie: „Die Aufführung auf der Bühne lebt davon, daß die Zuhörer nicht hören können, was hinter den Kulissen gesprochen wird. Und doch ist das Üben die notwendige Vorphase des Erfolgs. Die Krankenschwester, die dem Patienten mitteilt, daß der Arzt an ihm zum ersten Mal seine Fähigkeiten zu operieren erweisen wird, tut auch dem Kranken keinen Gefallen. Nach glänzend gelungener Operation ginge es schon eher. Ein Finanzminister, der die bevorstehende Änderung des Wechselkurses ausplauderte, würde den Erfolg der Maßnahme sabotieren. (…) Die geschickte Wahl des Zeitpunkts, zu dem man ein Geheimnis enthüllen darf, dient also nicht nur dem eigenen ‚Impression Management‘ und dem Schutz des ‚Teams‘, das die Aufführung zu verantworten hat (…). Der Zusammenhang von Kommunikationsverbot und Strukturschutz (im Sinne der Erhaltung von Erwartungen) liegt auf der Hand“ (Hahn 1997a: 1116 f.).
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Geheimnis/die Praxis des Geheimhaltens ist in diesem Fall also Funktion und funktionales Moment einer Figuration, die es verlangt oder nahelegt, die aber auch von individuellen (Inter-)Akteuren durch ein entsprechendes strategisch-praktisches Informationsmanagement (Geheimnismanagement) gebildet und gestaltet wird. Simmel bemerkt dazu: „Es scheint, daß deshalb die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigte, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten haben und in die die übrigen nicht hineinspielen. Damit kommt ein ganz besonderer Typus der Freundschaft auf, der für unser Problem: das Maß des Eindringens oder der Reserve innerhalb des Freundschaftsverhältnisses – von größter Bedeutung ist. Diese differenzierten Freundschaften, die uns mit einem Menschen von der Seite des Gemütes, mit einem andren von der der geistigen Gemeinsamkeit her, mit einem Dritten um religiöser Impulse willen, mit einem vierten durch gemeinsame Erlebnisse verbinden – diese stellen in Hinsicht der Diskretionsfrage, des Sich-Offenbarens und Sich-Verschweigens eine völlig eigenartige Synthese dar; sie fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde.“ (Simmel 1922a: 269)
Simmels historisch-(figurations-)soziologischer Blick auf das Geheimnis (und verwandte Formen des Wissens und des handelnden Umgangs mit Wissen/Information) ist also in der Tendenz und in wesentlichen Punkten durchaus mit dem von Elias zu vergleichen, zumal auch dessen zivilisierungs- und individualisierungstheoretische Ausrichtungen in diesem (Wissens-)Zusammenhang ansatzweise schon bei Simmel zu finden sind. Wie für Simmel, so sind auch für Elias Strategien und strategische Handlungskünste wie die mit Geheimhaltungen und Geheimnissen verbundene ‚Beziehungspolitik‘ des modernen Freundes primär Ausdruck sozialer Figurationen und von Verhältnissen zwischen sozialen Figurationen und (zivilisierten, individualisierten) Habitus. 2. Goffman Seine vielleicht umfassendste und in manchen Punkten direkteste Fortsetzung findet der hier thematische Ansatz Simmels bei Goffman, der dem Geheimnis/ der Geheimhaltung wie auch den verschiedensten anderen Formen der Informationskontrolle und ‚Informationspolitik‘ die allergrößte soziale und soziologische Bedeutung beimisst. Bereits in seinem ersten Buch – im Rahmen seines Theatermodells (vgl. 1969) – legt Goffman eine regelrechte Geheimnissoziologie vor, die
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er dann in „Strategische Interaktion“ unter spieltheoretischen und in Kapiteln der „Rahmen-Analyse“ unter wissens- bzw. sinnsoziologischen Leitgesichtspunkten fortsetzt. In der Tradition Simmels entwickelt er verschiedene Geheimnis-Typen „aus der Funktion des Geheimnisses und seiner Beziehung zu der Vorstellung, die andere von dem Menschen haben, der es besitzt; ich gehe davon aus, dass jedes Geheimnis für sich mehr als einen dieser Typen verkörpern kann“ (ebd.: 129). „Gruppengeheimnisse“ sind nach Goffman „die Geheimnisse, die den, der sie besitzt, als Mitglied einer Gruppe charakterisieren und die es der Gruppe ermöglichen, sich als anders und getrennt von denen zu fühlen, die ‚nicht Bescheid wissen‘. Die Gruppengeheimnisse geben einem subjektiv empfundenen sozialen Abstand objektiven geistigen Gehalt. Fast alle Informationen in einer gesellschaftlichen Institution besitzen zu einem gewissen Grade diese ausschließende Funktion und können als etwas betrachtet werden, was irgend jemand anderen ‚nichts angeht‘“ (ebd.: 130). Neben „Gruppengeheimnissen“, denen Individualgeheimnisse gegenüberzustellen wären497, differenziert Goffman „dunkle Geheimnisse“ und „strategische Geheimnisse“. Mit dunklen Geheimnissen sind bestimmte „destruktive Informationen“ (Goffman 1969: 129; vgl. auch 1967) gemeint, „nämlich Tatsachen über ein Ensemble, die ihm bekannt sind und die es verheimlicht, weil sie mit seinem ‚Image‘ unvereinbar sind“ (Goffman 1969: 129). Dunkle Geheimnisse498 sind also letztlich die praktische Konsequenz einer symbolischen und d. h. moralischen Ordnung, die für den betreffenden ‚Geheimnisträger‘ normativ verbindlich ist, der er sich normalerweise verbunden fühlt und auf die er mit seiner ‚Informationspolitik‘ bestätigend reagiert. ‚Strategische Geheimnisse‘ beziehen sich demgegenüber „auf Absichten und Fähigkeiten eines Ensembles, die es vor einem Publikum geheimhält, um es daran zu hindern, sich erfolgreich der Sachlage anzupassen, die das Ensemble herbeiführen will. Strategische Geheimnisse werden von kommerziellen Institutionen und Armeen angewandt, wenn sie Aktionen gegen den Gegner planen“ (ebd.: 129 f.).499 Von Geheimnissen dieses Typs und des genannten anderen Typs unterscheidet Goffman zwei weitere, nämlich „anvertraute Geheimnisse“ und „freie Geheimnisse“. Anvertraute Geheimnisse sind solche, die der „Besitzer erwerben muß, weil er zu dem Ensemble, zu dem das Geheimnis gehört, in Beziehung steht“ (ebd.: 131). „Freie Geheimnisse“ nennt Goffman Geheimnisse, die man enthüllen kann, „ohne sich selbst dabei zu diskreditieren. Man
497 Bei Goffman ist dies nur implizit der Fall. 498 Man könnte auch von Stigma-Geheimnissen sprechen (vgl. Goffman 1967). 499 Hier geht es also um einen Aspekt von Klugheit und Klugheitswissen.
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kann freier Geheimnisse durch Entdeckung, unbeabsichtigte Enthüllung, indiskrete Eingeständnisse, Weitergabe oder dergleichen“ teilhaftig werden (ebd.: 131). Goffman teilt zwar im Grunde Simmels (soziologische) ‚Philosophie‘ des Geheimnisses, reduziert sie aber interaktionssoziologisch und entwickelt sie in diesem Sinne systematisch (theater-, spiel-, rahmen-)modellorientiert und empirischanalytisch weiter. Im Bezugsrahmen der Spieltheorie bzw. der strategischen Interaktionstheorie liefert und appliziert Goffman einen spezifisch handlungs- und prozesstheoretischen/sequenztheoretischen Ansatz zum Verständnis und zur Untersuchung von Geheimnissen und Geheimhaltungen. Sie erscheinen in diesem Rahmen als (Handlungs-)„Züge“ in einer Art von Spiel und Spielverlauf. In diesem Zusammenhang (und vor diesem Hintergrund) macht Goffman die (geheimnis-) definitorisch grundlegende Unterscheidung zwischen „offenem“ und „verdecktem Verbergen“: Ein „verbergender Zug ist die offene Geheimhaltung und Absonderung, bei der der Betreffende mögliche Beobachter an der Wahrnehmung von etwas hindert, aber nicht zu verhindern sucht, dass diese Tatsache von ihnen wahrgenommen wird. Wohl noch häufiger ist das verdeckte Verbergen, etwa wenn die Mitglieder einer Gruppe mit Hilfe eines Geheimkodes miteinander kommunizieren“ (Goffman 1981d: 21). Auf der entsprechenden – reflexiven – Ebene siedelt Goffman dann den Geheimnisbegriff an – als Begriff für eine bestimmte Art von Information: „Die Information, die der Beobachter zu erlangen sucht, ist sehr oft dem Beobachteten schon gegeben und somit kein Geheimnis für ihn; ihm geht es darum, den Zugang zu dieser Information zu beschränken. Außerdem möchte der Beobachtete manchmal den Beobachter in Unkenntnis darüber halten, daß er diese Information hat und hütet. Das ist natürlich selbst wieder eine gehütete Information, hier aber eine Information über Information. Und diese könnte man als Geheimnis bezeichnen.“ (Goffman 1981d: 48)500
Die Assoziation mit der Figurationssoziologie und deren Einsatz als ‚Rahmen‘ (im Sinne einer synthetischen Soziologie) liegt in Bezug auf die Geheimnissoziologien Goffmans und Simmels nicht nur auf der Ebene der strategischen Handlungstheo500 Hahn (1997a) hat in diesem sachlichen Zusammenhang den Begriff des „reflexiven Geheimnisses“ geprägt und darauf hingewiesen, dass es nicht nur Geheimnisse gibt, aus denen ein Geheimnis gemacht wird, sondern auch Geheimnisse, aus denen eben dies gerade nicht gemacht wird. Für bestimmte soziale Funktionen von Geheimnissen ist es „notwendig, daß die Tatsache ihres Bestehens bekannt ist. So werden oft Rangdifferenzen durch Hierarchisierung von Wissen abgebildet. Wer aber selbst nicht eingeweiht ist, muß doch wissen oder glauben, daß andere am Geheimnis teilhaben“ (Hahn 1997a: 1110).
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rie nahe501. Die Figurationssoziologie kommt hier vielmehr auch – und zugleich – auf der Ebene der Zivilisationstheorie ins Spiel und ist mit Goffman’schen und Simmel’schen Überlegungen und Beobachtungen in Verbindung zu bringen. Elias stellt den Zivilisationsprozess ja nicht zuletzt als einen Prozess vor, in dem sich Verhältnisse und Verhaltensweisen des (sozialen) Wissens und der (sozialen) Information grundsätzlich verändern, in dem symbolische Ausdrucksformen, (Un-) Sichtbarkeiten, (Informations-)Distanzen, Selbst- und Fremdverhüllungen, Geheimnisse und Geheimhaltungen, z. B. Verlegungen bestimmter Verhaltensweisen „hinter Kulissen“502, eine zentrale Rolle spielen. Und schließlich bedeutet Zivilisation ja auch eine mit wachsender allseitiger Selbstbeherrschung wachsende Fähigkeit, sich nicht nur im obigen Sinne Simmels ‚teleologisch stilisiert‘ zu offenbaren, sondern auch ‚Politiken‘ des Wissens und Nichtwissens, der Selbstdarstellung und Selbstverhüllung, der Dissimulation und Simulation zu betreiben. Zivilisationstheorie und strategische Handlungstheorie sind an dieser Stelle also eng verquickt oder zu verquicken. Vor diesem Hintergrund fällt z. B. und gerade auf die Goffman’schen Beobachtungen und auf den (historisch späten) ‚Goffmenschen‘ selbst ein neues und spezifisch erhellendes Licht, das gerade auch den Begriff des strategischen Handelns umfasst und relativiert. *** 8.2.9
Soziogenese, Figurationen und Habitus
Die langfristige Soziogenese (bis hin zur ‚Gegenwartsgesellschaft‘) impliziert auf allen Ebenen Entwicklungen und Transformationen von Figurationen/Feldern, insbesondere sozio-kulturelle Differenzierungsprozesse verschiedener Art, die unter strategischen (Handlungs-)Gesichtspunkten spezifisch signifikant, implika501 Dass die geheimnis(wissens)soziologischen Unterscheidungen und Beschreibungen Goffmans und Simmels, auch wenn sie von Figurationen mehr oder weniger absehen, mit Gewinn auf den ‚Rahmen‘ einer figurationssoziologischen Theorie strategischen Handelns projizierbar sind (und umgekehrt), gilt auch auf der Ebene der Prozesssoziologie. Auf dieser Ebene ist vor allem Goffman relevant, der ja mit der Spieltheorie und mit komplementären Ansätzen wie der Rahmentheorie und dem Theatermodell zumindest Komponenten oder Elemente einer Prozess-(struktur-)theorie des strategischen Handelns und damit auch des Geheimnisses und der Geheimhaltung liefert. 502 Von sozialen (Praxis-)Bereichen ‚hinter Kulissen‘ ist bekanntlich auch bei Goffman (1969) die Rede („backstage“). Er widmet diesen Bereichen sogar allergrößte Aufmerksamkeit und stellt diesbezüglich in seinen Arbeiten zahlreiche zivilisationstheoretisch relevante Beobachtungen vor. Allerdings verharrt Goffman mit dem Begriff der ‚Hinterbühne‘ und korrespondierenden Begriffen auf der Ebene einer formal-‚dramatologischen‘ Betrachtungsweise.
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tions- und folgenreich sind. Eine Schlüsselrolle spielen diesbezüglich funktionale Differenzierungsprozesse und die damit verbunde Genese sozialer Felder. So bringt die (funktionale) Ausdifferenzierung und Wandlung sozialer Felder (Politik, Wirtschaft, Recht, Journalismus, Sport, Medienunterhaltung etc.) auch eine Differenzierung und (Um-)Strukturierung strategischer (Handlungs-)Konditionen, Praxen, Handlungsstile und Wissensbestände mit sich – Klugheit(en) und (andere) Habitusformen eingeschlossen. Als ein Beispiel dafür könnte die Entwicklung und Wandlung des Feldes der Intimität bzw. der intimen persönlichen Beziehungen503 genauer betrachtet werden, die sich Karl Lenz zufolge wesentlich durch die Ausprägung und Normalisierung eines eigentümlichen Spektrums von Strategien und strategischen Handlungsformen (Geheimnissen, Selbststilisierungen, Täuschungen usw.) auszeichnet – korrelativ zu dem umfassenden und komplexen Wandel des ganzen (Intimitäts-)Feldes und der Gesellschaft (vgl. 2003).504 Wie im Hinblick auf andere sozio-kulturelle Tatsachen oder Sphären (etwa rituelle, stilistische oder performative), so ist die gesellschaftliche (Felder-)Entwicklung auch in Hinsicht auf Aspekte strategischen Handelns als ein vielseitiger und mehrwertiger, gleichzeitig generativer (produktiver), transformativer und degenerativer Prozess zu verstehen. Verglichen etwa mit dem figurational rationalen (‚figu-rationalen‘) Repertoire der höfischen Strategen ist das strategische Handlungsvermögen, Können und Müssen der bürgerlichen Berufs- und Privatmenschen einerseits stark eingeschränkt und hat sich andererseits stark erweitert und umgestellt, ohne jemals aufzuhören, sich in wie immer zivilisierten Konkurrenzen und Kämpfen (weiter) zu entwickeln und zu wandeln.505 ‚Vormoderne‘
503 „Zweierbeziehungen“ nach Lenz 2003. 504 Dieser historisch gewordenen (und immer im Werden begriffenen) Sonderrealität strategischen Handelns korrespondiert auch ein Sonderwissen der Klugheit, das die (jeweils aktuelle) Besonderheit des Handlungsbereichs und die (jeweils aktuelle) Besonderheit seiner Aufgaben und Probleme, Chancen und Risiken reflektiert. So liefern heutige (mit Graciáns „Kunst der Weltklugheit“ durchaus vergleichbare) ‚Beziehungsratgeber‘ ebenso symptomatische (Probleme und Informationsbedürfnisse anzeigende) wie viel(hilfe)versprechende Ratschläge, z. B. bezüglich der strategischen ‚Handhabung‘ von Erotik (vgl. Lenz 2003: 79). Heutzutage gibt es solches Klugheitswissen natürlich auf allen Feldern und für alle Bereiche. Seine Ausdifferenzierung folgt prinzipiell der Ausdifferenzierung der Felder und Bereiche. 505 Vielen soziologischen Beobachtern der jüngeren Gesellschaftsgeschichte (von Lasch bis Luhmann) erscheint eine wachsende Zahl von sozialen Feldern auch als Schlachtfelder; „kriegsähnliche Zustände“ (Christopher Lasch) scheinen schon lange und zunehmend in vielen Bereichen des modernen Berufs- und Privatlebens zu herrschen. Und damit ist natürlich auch die Strategie, die ‚Kriegskunst‘ in ihrem eigentlichsten Sinne gefragt, wenngleich die Bedingungen häufig oder immer häufiger nicht so stabil oder überschaubar sind, dass sich Pläne realistisch schmieden, geschweige denn realisieren lassen.
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Bedingungen und Muster strategischen Handelns haben sich in neuen oder erneuerten Formen durchaus konserviert, und neue strategische Akteure, Akteurtypen und Aktionsfelder (z. B. Organisationen), Handlungsmedien (z. B. Massenmedien, Internet), Handlungsmotive, Handlungszwänge und Handlungsoptionen sind auf den Plan getreten. Für eine gewisse Kontinuierlichkeit und zugleich für qualitative Neuheiten der strategischen Lagen und Praxen können hier z. B. die teilweise quasi-höfischen Handlungs- und Karrierekontexte moderner (Formal-)Organisationen stehen.506 Es zeigt sich hier also (wiederum), dass es darauf ankommt, strategische Praxis (Handeln, Wissen, Mentalität usw.) nicht (formal) auf ‚Spiele‘, ‚Interaktionsspiele‘ oder Akteurkalküle zu reduzieren, sondern sie in Umkehrung aller Reduktionismen im historischen Gesamtzusammenhang zu betrachten – insbesondere im Zusammenhang von konkreten sozialen Figurationstypen/Feldern und langfristigen gesellschaftlichen Figurationsprozessen, die im Verhältnis zu einzelnen Aktionen, Interaktionen/Interaktionsketten und (Inter-)Akteuren primär, vor- und übergeordnet sind. Die Geschichte des strategischen Handelns, seiner Möglichkeiten, Unvermeidlichkeiten, Formen, Funktionen, Relevanzen usw., und auch die Geschichte seiner ‚Subjekte‘, ist vor allem die Geschichte der Gesellschafts- und Feldfigurationen.
506 Organisationen sind in der modernen ‚Organisationsgesellschaft‘, wie gesagt, sowohl selbst strategische Akteure in Figurationen als auch Figurationen/Felder eigener Art mit strategischen Binnenfigurationen eigener Art. Auf dieser wie auf jener Ebene wird unter Bedingungen und mit Mitteln operiert, die an die alte strategische Super-Figuration der höfischen Gesellschaft erinnern. In einem Vergleich der Werke von Elias und Goffman weist Helmut Kuzmics zu Recht darauf hin, dass in den modernen ‚Büro-Welten‘ und bürokratischen Karrierekontexten, nicht nur in den ‚obersten Etagen‘ der großen Bürokratien, Figurationen bestehen und entstehen, die wesentliche Ähnlichkeiten mit den höfischen Existenz- und Handlungsbedingungen aufweisen. Das heißt vor allem: Der „Kampf um die Verbesserung um einen Rang oder zwei Ränge in der pyramidenförmigen Hierarchie der privatkapitalistischen Bürokratie erinnert an den Hof von Versailles. Es ist ein relativ zivilisierter Kampf, denn Spontaneität des Gefühls würde den Erfolg vermutlich unmöglich machen, im Gegenteil, als Mangel an Selbstbeherrschung und Charakterfehler ausgelegt werden“ (Kuzmics 1986: 480 f.). In diesem Kampf zählen Images und Image-Arbeiten, und zwar wiederum (oder immer noch) in erheblichem Maße im Rahmen persönlicher, verpersönlichter oder quasipersönlicher (z. B. Gunst-)Beziehungen, die bei aller formalen Rationalisierung durchaus denen der höfischen Figuration ähneln. Vgl. auch Girtler (1991).
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8.2.10 Psychogenese/Habitusgenese: Rationalisierung, Psychologisierung und Individualisierung
Der Soziogenese von Figurationen/Feldern, die unter den hier fokussierten strategischen (Praxis-)Gesichtspunkten implikations- und folgenreich sind, korrespondiert die Psychogenese/Habitusgenese von (strategischen) Akteuren, Akteurtypen und Akteurdispositionen (Habitus). Deren ‚Bildung‘ erscheint nicht nur in Korrespondenz zu jeweils aktuellen Figurationen/Feldern und als (Habitus-)Niederschlag lebensgeschichtlicher Figurationsbezüge, sondern zugleich auch in den allgemeinen und historisch-langfristigen Prozess der Zivilisation eingebettet; ja sie erscheint als direkte Funktion dieses Zivilisationsprozesses, der mit bestimmten Selbstkontrollen (Triebkontrollen, Affektkontrollen, Expressivitätskontrollen507), generellen Kompetenzen und Attitüden auch zentrale Möglichkeitsbedingungen, Motivierungen und Ausrichtungen strategischen (strategisch rationalen) Handelns schafft. An dieser Stelle rücken bestimmte Teilprozesse der Zivilisation in den Mittelpunkt der (Figurations-)Theorie des strategischen Handelns, nämlich die Prozesse, die Elias (vgl. 1980a, b) als „Rationalisierung“ und „Psychologisierung“ bezeichnet und beschrieben hat. In ihren empirisch-praktischen Konkretionen verweisen alle Seiten der strategischen Handlungsrationalität auf diese zivilisatorischen Teilprozesse. Der strategische Akteur, der durch die figurationalen Bedingungen seines sozialen Erfolgs nicht nur gezwungen und geneigt ist, sondern – im ‚Medium‘ von Praxis – auch befähigt wird, erkennende und langfristig planende Vernunft walten zu lassen508, gegenüber sich selbst, seinen Möglichkeiten und Grenzen zielentsprechend wahrhaftig und ‚analytisch‘ zu sein, sich in soziale Lagen und Konstellationen zielgenau einzudenken, (dis-)simulatorisch effektives ‚Theater zu spielen‘ und, aufgrund von alledem, an sich zu halten, ist in gewisser Weise der Inbegriff von Zi507 Ein interessanter Spezialfall ist die (Ausdrucks-)Zivilisierung des Lachens, der Elias einen Essay gewidmet hat (vgl. Schörle 2005). Man sieht an diesem Beispiel, dass strategisches Handeln in Anwesenheit anderer auf allen Seiten bestimmte Selbstkontrollen – speziell solche korporaler Art – voraussetzt. Zivilisierung setzt damit und überhaupt zum strategischen Handeln frei, eröffnet diese Möglichkeit überhaupt erst und lässt sie auch zunehmend als Option oder Handlungszwang in den Horizont des Bewusstseins treten. 508 Elias spricht in diesem Zusammenhang von „Langsicht“ und meint damit auch die Fähigkeit und den Willen, im Dienst eines übergeordneten und langfristig verfolgten Ziels, von dem aus Übersicht zu gewinnen ist, von Anderem (Aktuellem) abzusehen und planvoll konzentriert zu operieren. Es geht hier also um eine gleichermaßen kognitive und ‚charakterliche‘ Einstellung und Leistungsfähigkeit des Individuums.
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vilisiertheit und Zivilisierung als Rationalität und Rationalisierung. Diesem Akteur, seiner (Kompetenz-)Potentialität und Mentalität, die in erster Linie auf Distanz im Verhältnis zu sich selbst und zu Anderen hinausläuft, gilt es – immer gleichzeitig auf den Spuren konkreter Figurationen und Figurationsprozesse – (figurations-) soziologisch nachzugehen. Den im zivilisatorischen Rationalisierungsprozess generierten strategischen oder strategisch relevanten Akteurdispositionen, insbesondere der zunehmenden Selbst- und Fremd-Distanz sowie der damit zugleich zunehmenden Fähigkeit und Geneigtheit, andere Akteure, Mit- und Gegenspieler, differenziert und konsequent unter bestimmten sachlichen (Relevanz-)Gesichtspunkten bzw. Nützlichkeitsgesichtspunkten zu beobachten und zu behandeln509, korrespondiert eine zivilisatorische Psychologisierung, die gleichfalls eine strategische Seite oder einen strategischen Charakter hat. Gemeint ist damit die wachsende Fähigkeit zu einem nicht zuletzt oder primär strategischen Perspektivenwechsel und Fremddeuten, die Genese und Generalisierung des Vermögens, andere Menschen und Menschentypen als solche (als Habitus, ‚Charaktere‘) und in ihren sozialen Beziehungen im Hinblick auf einschlägig relevante (‚Spiel-‘)Aspekte zu beobachten, einzuschätzen, zu entlarven, zu ‚evaluieren‘510. Die entsprechenden habituellen Dispositionen sind 509 Hier ist auch an die Perspektive der Rational-Choice-Ansätze zu denken, die im Hinblick auf die Zivilisationstheorie der Rationalisierung zu untersuchen und zu diskutieren ist. Im Rahmen der Figurationsoziologie geht es allerdings, wie gesagt, weder an dieser Stelle noch überhaupt um ein generalisiertes strategisches Handlungsmodell, sondern darum, die ‚historisch-gesellschaftspsychologische‘ Genese und damit auch die entsprechende Relationalität und Relativität der betreffenden (strategisch rationalen/rationalisierten) Verhaltensweisen, Kompetenzen, mentalen Dispositionen und Wissensbestände aufzuklären. 510 Folgt man Elias, aber auch der Spieltheorie – und speziell Goffmans spieltheoretisch orientierter Untersuchung strategischer Interaktionen –, dann ist strategisches Handeln immer auch und in erster Linie Beobachtungs-, Einschätzungs-, Planungs- und Entscheidungshandeln, also kognitives Handeln, in Bezug auf entsprechend kognitives Handeln Anderer. Goffman betont in diesem Zusammenhang im Anschluss an Mead die Funktion des „Perspektivenwechsels“, und zwar (im Unterschied zu Mead) eines sachlich eingeschränkten und teleologisch gelenkten Perspektivenwechsels. Man könnte von – zivilisierungsbedingter und zivilisierungserzeugter – strategischer Empathie sprechen, die also nicht den Versuch eines umfassenden/diffusen (Total-)Verstehens unternimmt, sondern ein praktisch zielführendes Verstehen bezweckt und betreibt, ein ‚einfühlendes Erfassen‘ der strategisch relevanten Informationen. Das heißt im Falle einer strategischen Interaktion, dass der Beobachtete zwar die Perspektive wechselt, er „‚versetzt (…) sich hinein‘ in den Beobachter, aber nur insoweit, als dieser ihn beobachtet und aufgrund davon Entscheidungen treffen wird, und nur so lange und so tief, daß er aus dieser Perspektive lernt, wie man am besten die Reaktion des Reagierenden steuern könnte“ (Goffman 1981d: 20). Die ‚Empathie‘ des Strategen erscheint hier also als ebenso zweckmäßig wie selektiv und sparsam, von einem tendenziell reinen Wirkungskalkül bestimmt und daher darauf ausgerichtet, Wirkungsbedingungen von (performativen) Handlungen aufzudecken. Für den Beobachteten ist es strategisch (erfolgs-)entscheidend, dass er
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wiederum solche figurationsspezifisch zivilisierter Art: praktisch erforderliche ‚Menschenkenntnisse‘ bzw. Kompetenzen/Künste der strategischen Menschenbeobachtung und Menschenbeziehungsbeurteilung – Kompetenzen, die ebenso wie die der (dis-)simulatorischen Selbstdarstellung und der Selbststilisierung habituelle Distanzen und Selbstkontrollen voraussetzen und der jeweiligen Figuration und ihren Menschentypen (Habitusformen) entsprechen müssen, um Erfolg zu versprechen. Die (Figurations-)Soziologie strategischen Handelns kann und muss in diesem Zusammenhang also eine spezielle Wissenssoziologie sein, sozusagen eine Soziologie praktischer (Sozial-)Psychologie und praktischer (Sozial-) Psychologen. Mit den (Zivilisierungs-)Prozessen der (strategischen) Rationalisierung und der Psychologisierung mehr oder weniger eng verknüpft und teilweise überschnitten sind Individualisierungsprozesse, die ihrerseits in verschiedenen Zusammenhängen mit strategischen Motivations-, Mentalitäts- und Handlungsaspekten stehen. Weiter unten werde ich darauf zurückkommen und ausführlicher eingehen. In allen diesen Zusammenhängen (Rationalisierung, Psychologisierung, Individualisierung) erscheint wiederum der Höfling (der ‚höfischen Gesellschaft‘) als eine Art historischer Wendepunkt und qualitativer Sprung hin zu einem in diesem Sinne gesellschaftlich generalisierten und zugleich differenzierten strategischen Akteurtyp, in dem sich Rationalisierung, Psychologisierung und auch schon Individualisierung sozusagen verkörpern. Der Höfling wird von Elias ja bereits als Inbegriff zivilisationsverdankter und zivilisationsgeprägter strategischer (Zweck-)Rationalität und ‚psychologischer‘ Kompetenz vorgestellt. Er erscheint als ein Menschentyp, in dem sich die ‚Natürlichkeit‘ der Affekte und Instinkte511 in entsprechenden, aber ‚höheren‘ Formen von (strategischer) Mentalität, Reflexivität und Handlungskunst sublimiert und raffiniert hat, und er erscheint auch als ein relativ alleingestellter, auf sich und in sich gestellter, zum Wählen und Planen gezwungener, vielfältig riskierter und risikobewusster und insofern individualisierter Akteur, der sich hauptsächlich in Formen symbolischer/ritueller und strategischer Theatralität sozial zur Geltung bringt und behauptet. Dieser Akteur (und seine ‚Gesellschaft‘) ist gleichsam das Musterbeispiel für spätere Habitus-Entwicklungen wie den ‚Goffmenschen‘ (Hitzler), den strategischen Image-Arbeiter und Eindrucksmanipulateur, der speziell in urbanen und (groß-)organisationalen Kondas Verstehen des relevanten Beobachters versteht bzw. versteht, wie dieser versteht und sich nicht „einfach an die Stelle des (anderen, H. W.) Beobachters versetzt und sein eigenes Reflexionsniveau als Orientierungspunkt für die Voraussage benutzt, wie der Beobachter reagieren wird (…)“ (Goffman 1981d: 66). 511 Auch und gerade Aggressivität und „Kampfeslust“ (Elias).
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texten darauf aus ist, seine symbolischen, sozialen und ökonomischen Kapitalien mittels Fassaden- und Bühnenmanagement, Informationskontrolle und Informationspolitik zu erhalten und zu steigern. Wie der Höfling ist auch der ‚Goffmensch‘ ein durch seine relevanten Figurationen angetriebener und zugleich gemeisterter Meister strategischer Theatralität512, der in einem eigenrationalen Spiel von und mit ‚Eindrücken‘ danach trachtet und trachten muss, strategisch relevantes Wissen über andere zu gewinnen und solches Wissen (Glauben) anderer über ihn zu kontrollieren. Dieser ‚Mensch‘ ist aber im Vergleich mit dem Höfling auch ein Beispiel dafür, dass durch soziale Macht- und Kapitalverhältnisse bestimmte Figurationen/ Felder spezifische strategische Zivilisationsprofile implizieren und gleichsam Zivilisationsprogramme darstellen, die sich im Zuge der Entwicklung der Gesellschaft, ihrer (Teil-)Figurationen und ihrer Habitusformen systematisch bilden und umbilden. Der ‚Mensch‘ der Goffman’schen Soziologie (mitsamt seinem strategischen Handlungsrepertoire) wird aus der hier propagierten historischen Perspektive überhaupt erst als ein kontingenter, gewordener Menschentyp bzw. als ein bestimmtes Habitusensemble erkennbar, an dem sich Figurationen und Transformationen von Figurationen (Transfigurationen) der Gesellschaft gleichsam ablesen lassen. Fortgeschrittene und generalisierte Individualisierungen, aber eben wesentlich auch Rationalisierungen und Psychologisierungen, gehören zu den Synthesen bildenden Tatsachen, die hier gemeint sind und von denen im Folgenden im Hinblick auf strategische Praxen noch ausführlicher die Rede ist und sein soll.
8.3
Figurationen und Figurationstheorie strategischen Handelns
Die Figurationssoziologie zeichnet sich auch in dem hier thematischen Sachzusammenhang zum einen durch eine universale Gegenstandserfassung und zum anderen durch eine besonders weitreichende theoretische Anschluss- und Verarbeitungsfähigkeit aus. Sie kann klassische soziologische Theorien strategischen Handelns (von Simmel über Goffman bis Bourdieu) ebenso anschließen, ‚aufheben‘ und weiterführen wie Rational-Choice-Ansätze oder die psychologische ‚Lügenforschung‘ (vgl. z. B. Ekman 1989). Damit bietet die Figurationssoziologie auch die Aussicht auf eine besonders vielseitige und (daher) leistungsfähige syntheti-
512 Mit allem, was bei Goffman dazugehört: Rollen-Management, Selbst-Idealisierungen, SelbstMystifikationen, Geheimhaltungen (image-)destruktiver Informationen, Bühnendifferenzierungen (‚Vorder-‘ und ‚Hinterbühnen‘), Selbststilisierungen, Täuschungsmanöver aller Art, Intrigen, verschwörerische Beziehungen usw. (vgl. Goffman 1969; 1971a; 1981d; 1977).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
sche (Gegenstands-)Theorie bzw. Konzeptapparatur, die der Gesellschaftsgeschichte des strategischen Handelns bis hin zu den gewandelten und sich wandelnden Bedeutungen dieses Handelns in der ‚Gegenwartsgesellschaft‘ gerecht zu werden verspricht. Vor diesem Hintergrund, mit dieser Zielsetzung und (d. h.) im Bezugsrahmen der oben punktuell aufgeschlüsselten Konzeptualisierung betrachte ich im Folgenden verschiedene Ebenen und Seiten der jüngeren Gesellschaftsgeschichte, die im Hinblick auf strategisches Handeln spezifisch implikations- und folgenreich sind. Ich argumentiere also im Sinne der dargelegten figurationssoziologischen Perspektive und ihrer ‚Kategorien‘, die ich nur über das bereits Gesagte hinaus mit einigen theoretisch-empirischen Hinweisen vertiefe, ergänze und ‚aktualisiere‘. Im Hinblick und Vorgriff auf die geplanten Untersuchungen soll das hier vorausgesetzte und ins Auge gefasste figurations(prozess)soziologische Grundverständnis strategischen Handelns weiter geklärt und damit auch ansatzweise die Aussicht auf eine Art Grundriss einer allgemeinen (Gegenstands-)Theorie strategischen Handelns eröffnet werden. Die figurationssoziologische/zivilisationstheoretische Perspektive auf strategisches Handeln und alles, was damit zusammenhängt513, führt also, wie im Falle jedes anderen Sach- und Theoriekontextes (etwa Rituale, Stile oder Theatralität), der bisher Thema war, letztlich zur Realität und zur Theorie der Moderne, der modernen Gesellschaft und der (gesellschaftlichen) Modernisierung. Auch strategisches Handeln lässt sich nur mit dieser Figuration und diesem Figurationsprozess der Gesellschaft, der es sozusagen ein-, um- und abstellt, verstehen, aufklären und erklären. Die hier nur skizzenartig herauszuarbeitenden empirischen Zusammenhänge deuten auch in diesem Sachkontext auf eine systematische und komplexe Ambivalenz bzw. eine Reihe von Ambivalenzen der Gesellschaftsfiguration und des historischen (Gesellschafts-)Figurationsprozesses hin.514 Im umfassenden und differenzierten Verständnis dieser Ambivalenz erweist sich die Figurationssoziologie als eine synthetische Soziologie und als Grundlage einer solchen Soziologie, die der Synthetizität des Sozialen (seiner Vielseitigkeit, Mehrschichtigkeit, ‚Dialektik‘, seinem Spannungsreichtum im historischen Entwicklungsgang) angemessen ist. Die figurationssoziologisch-analytische Rekonstruktion dieser Sythetizität fin513 Fragen von Klugheit, Ehrlichkeit, Wirklichkeit usw. 514 Systematische Ambivalenzen bzw. ambivalente Entwicklungen haben sich ja bereits in anderen Hinsichten und Begrifflichkeiten abgezeichnet – mit Paarungen wie Normalisierung/Individualisierung, Entritualisierung/Ritualisierung, Theatralisierung/Enttheatralisierung, Habitualisierung/ Enthabitualisierung oder Stilisierung/Entstilisierung.
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det ihren wichtigsten Ausgangs- und Haltepunkt im historischen Vergleich, wobei dem (Rück-)Blick auf die (Feld-)Figuration der ‚höfischen Gesellschaft‘ immer wieder eine Schlüsselrolle zufällt.
8.3.1
Die Figuration der modernen (‚Gegenwarts-‘)Gesellschaft
Die sozio-kulturellen Modernisierungsprozesse auf den Ebenen der Gesellschaft und ihrer Felder gehen – auch – mit systematischen Genesen, Transformationen, Verschiebungen und Auflösungen strategischer Handlungsbedingungen, Handlungs(un)möglichkeiten und Handlungszwänge einher. Die ‚negative‘ Seite dieses Entwicklungskomplexes liegt mehr oder weniger auf der Hand: Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse bezeichnende soziologische Begriffe wie funktionale Differenzierung (Spezialisierung, Verberuflichung), Formalisierung/formale Organisationsbildung (bis hin zu ‚Organisationsgesellschaft‘), Mediatisierung, Vermarktlichung, Vergeldlichung, Konsumisierung/Konsumismus oder auch Demokratisierung stehen diesbezüglich für grundlegende Entwicklungen und Wandlungen, die wesentlich auch Prozesse der Verunmöglichung, der Begrenzung und der Erübrigung strategischen Handelns bedeuten. Die Figuration der modernen Gesellschaft impliziert insbesondere nicht nur den Untergang der ‚höfischen Gesellschaft‘ als einer strategischen (Personen-)Beziehungs- und Interaktionsgesellschaft par excellence (s. o.), sondern auch überhaupt ein relatives Obsoletwerden (Obsoletgewordensein) einer strategischen Handlungslogik, die wie die höfische primär auf persönlichen Beziehungen und Interaktionen beruht515. Die Erreichung von (Handlungs-)Zielen und die Erfüllung von 515 Die ‚höfische Gesellschaft‘ war ja eine persönliche Beziehungs- und Interaktionswelt, in der strategisch gedacht und (inter-)agiert wurde und werden musste, in der strategisch implikations- und folgenreiche ‚Vernetzungen‘ stattfanden und Netzwerke besonderer Art bestanden und geknüpft wurden, werden konnten und mussten. Ein in den Memoiren des Herzogs von St.-Simon geschilderter Fall, den Alois Hahn referiert, mag dies illustrieren: „Der Marquis von Clermont-Claste, der über wenig Geld, dafür aber über ein gefälliges Äußeres verfügt, versucht mit Erfolg, die Princesse de Conti, eine illegitime Tochter des Königs, in sich verliebt zu machen. Gleichzeitig aber ist er sich bewußt, daß eine Hofdame der Fürstin, die Baronesse de Cloin, das volle Vertrauen des Thronfolgers (Monseigneur, der allerdings schließlich vor seinem Vater stirbt) besitzt. Also macht er ihr den Hof, gewinnt ihre Liebe und erweckt ihr gegenüber den Eindruck, sie heiraten zu wollen. Die Liebe Clermonts ist in beiden Fällen ein strategischer Schwindel, ihre Erwiderung offenbar nicht. Denn nur wenn die Damen ihn wirklich lieben, kann er hoffen, über sie an Einfluß und Macht zu gelangen. Dabei ist sein Plan wiederum abgestimmt mit dem Prince de Conti und dem Marechal de Luxembourg, die Clermont protegieren, um über ihn Einfluß auf Monseigneur zu gewinnen. Der König seinerseits bekommt Wind vom Doppelspiel Clermonts, fängt dessen Briefe ab und
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Zwecken läuft unter modernen/modernisierten Bedingungen primär und hauptsächlich über feld- oder bereichsspezifisch rationale ‚Medien‘ bzw. ‚harte‘ Kapitalien mehr oder weniger jenseits persönlicher Beziehungen und (strategischer) Aktionen und Interaktionen. Geld, Konsumobjekte, Recht/rechtliche Ansprüche, Anweisungsbefugnisse, berufliche (Aus-)Bildungsqualifikationen/Kompetenzen/ Titel, feld-(markt-)spezifisch knappe ‚Güter‘ usw. können oder müssen zwar unter Umständen auch Gegenstände strategischen Handelns sein, sie ersetzen oder überbieten aber auch dieses Handeln, indem sie persönliche Beziehungen und (strategische) Aktionen und Interaktionen überspringen und direkt zum Ziel führen oder Zwecke erfüllen. Generell kann man sagen, dass strategische Handlungsmuster und (Be-)Handlungsstile, wie sie die ‚höfische Gesellschaft‘ hervorgebracht hat, im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess tendenziell weg- und umrationalisiert bzw. sozial verschoben worden sind. Hinzu kommt auf dieser Ebene (der Gesellschaftsfiguration), dass mit zunehmender Geschwindigkeit bestimmte strukturelle Randbedingungen und Grundvoraussetzungen ‚teleologischen‘ Handelns überhaupt schwinden. Dynamisch fortschreitende Prozesse der sozialen Desintegration, der Kontingenzsteigerung, der Anomisierung, der (Hyper-)„Flexibilisierung“516, der Entprivatisierung/‚Veröffentlichung‘ und der Verkrisung der (Welt-)Gesellschaft limitieren, unterminieren oder verunmöglichen „Langsicht“ (Elias) und damit auch strategische Langsicht (Elias), Planungen, Kalküle und ‚rationale Wahlen‘. Ebenso hemmen und hindern allgemein fortschreitende Verknappungen von sozialer (figurationaler) kann ihn gegenüber der Princesse de Conti entlarven. Das Beispiel zeigt, wie größte politische und militärische Avancements von gekonnter Täuschung im Intimsten abhängen konnten. Gleichzeitig aber ist allen Beteiligten bewußt, daß noch der Vertrauteste möglicherweise ein falsches Spiel mit einem treibt, so daß man auf der Hut sein muß. Gerade der hohe Preis, der mittels unentdeckter Unehrlichkeit zu erringen war, zwang alle Mitspieler zu immer drastischerer Betonung der eigenen Ehrlichkeit, die aber, um glaubhaft zu sein, angesichts des allgegenwärtigen Mißtrauens sich nicht in bloßen Beteuerungen erschöpfen konnte, sondern virtuoser Darstellungskunst bedurfte.“ (Hahn 1984a: 233 f.) Auf der Ebene persönlicher Beziehungen und Interaktionen bildete die Figuration der ‚höfischen Gesellschaft‘ einen historischen Extremfall strategischer und (interaktions-)theatraler Komplexität und subtiler ‚Spielpraxis‘ mit entsprechenden Handlungskünsten und (d. h.) Zivilisierungen/ Habitusprofilierungen. Wenn auch Figurationen partiell ähnlicher Art durchaus bis heute bestehen und sich auch gerade im Zuge von (Internet-)Mediatisierungsprozessen immer wieder neue Figurationen solcher Art bilden (keine ‚Gesellschaften‘‚ kleine und kleinste ‚Gesellschaften‘, ‚gute Gesellschaften‘ und ‚schlechte Gesellschaften‘), ist klar, dass die ‚höfische Gesellschaft‘ im Bezugsrahmen der ‚Gesamtgesellschaft‘ gesehen historisch einmalig war – was die Höhe der zu erringenden ‚Preise‘, die Vielschichtigkeit der zu spielenden ‚Spiele‘, die strategisch-dramaturgische Virtuosität der Akteure u. a. m. betrifft. 516 Im Sinne von Sennetts „flexiblem Kapitalismus“ (vgl. 2000).
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Übersicht und Durchsicht (Transparenz), die z. B. durch informationelle Überkomplexitäten bedingt oder bewirkt sind, strategisches Handeln schon im Ansatz. Allerdings sind dies nur Aspekte einer Seite der Medaille. Andererseits ist strategisches Handeln unter modernen und erst recht unter heutigen Bedingungen (und aufgrund dieser Bedingungen) in gewisser Weise gesellschaftlich verstreuter, vielfältiger, massiver und intensiver denn je präsent, möglich, wahrscheinlich und notwendig. Der allgemeinste Kontext, um den es damit geht, ist wiederum die Figuration der (modernen) Gesellschaft als solche. Ihre Strukturbedingungen – Differenzierungsbedingungen, Komplexitätsbedingungen517, Kontingenzbedingungen, Mobilitätsbedingungen, Anonymitätsbedingungen usw. – ermöglichen erst und begünstigen auch für alle Akteurtypen bestimmte Formen strategischen Handelns, erlauben, erfordern und motivieren eigentümliche strategische Planungen, Entscheidungen und Handlungsführungen, eröffnen z. B. – auch für jedermann – nie dagewesene Spielräume, (sich) zu verbergen, zu stilisieren, zu idealisieren, ImageArbeit zu betreiben, zu (dis-)simulieren.518 Alle Akteurtypen sind unter den hier gemeinten (Gesellschafts-)Figurationsbedingungen also auch ganz grundsätzlich gleichsam als strategische Funktionäre oder Funktionszentren (Steuerungszentren, Planungszentren, Verarbeitungszentren usw.) gefragt, die Spielräume/Freiheiten nutzen und gesellschaftlichen Zwängen und Problemen, z. B. gesellschaftlich induzierten Distanz- und Orientierungsknappheiten, die Stirn bieten. In allen seinen Aspekten hängt strategisches Handeln von spezifischen gesellschaftlichen bzw. sozio-kulturellen Modernisierungsprozessen ab, die im Fol-
517 Mit Hettlage kann man einen systematischen Zusammenhang zwischen der Komplexität der Gesellschaft und der Notwendigkeit des individuellen Akteurs konstatieren, strategisch zu handeln, d. h. letztlich, Komplexität und Kontingenz im Sinne seiner Zwecke und Bedingungen zu verarbeiten und zu handhaben (vgl. Hettlage 2003: 19). 518 Für Individuen spielen in diesem Zusammenhang natürlich die Handlungsspielräume eine Schlüsselrolle, die sich aus den strukturellen (Nicht-)Wissens- und Informationsverhältnissen ergeben. Der moderne/heutige jedermann lebt und handelt immer auch unter der Bedingung (gesellschafts-)strukturverdankter (differenzierungs-, komplexitätsverdankter) Intransparenzen, Indifferenzen und „Realitätsverluste“ (Gehlen), die Spielräume für strategische Aktionen bzw. ‚Eindrucksmanipulationen‘ der verschiedensten Art darstellen. ‚Gesamtgesellschaftlich‘ entsprechend hoch ist die praktische und die moralische (Moralisierungs-)Bedeutung von Ehrlichkeit (s. o.). Diese hat dagegen da keinen hohen moralischen Stellenwert, „wo Unehrlichkeit kaum eine Chance hat, unentdeckt zu bleiben. Das ist der Fall, wenn man mit hoher Transparenz der sozialen Situation rechnen kann, z. B. wenn der Einblick in die Handlungsumstände von alter ego groß ist und die Reziprozität der Interaktionen hoch ist. Hier hätten Lügen kurze Beine. Moralisierung erübrigt sich da, wo ein Verhalten durch die normalen Prozesse der sozialen Kontrolle entweder leicht unterbunden werden kann oder aber leicht feststellbar und sicher sanktionierbar ist“ (Hahn 1985: 223).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
genden genauer aufgeschlüsselt, benannt und andeutungsweise skizziert werden sollen.
8.3.2
(Felder-)Differenzierungsprozesse, Organisationsbildungen und Spezialisierungen
Neben jedermanns strategischer Praxis, jedermanns Strategien und jedermanns Klugheit, Tatsachen, die sozusagen auf gesellschaftsalltägliche Existenz- und Erfolgsbedingungen verweisen, prägen sich im Zuge entsprechender Differenzierungsprozesse feld- und feldrollenspezifische Strategiekontexte und Strategien aus und – habituell – ein. Felder wie die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft oder die persönlichen (Intim-)Beziehungen sind heute spezifische und spezifisch differenzierte strategische Sinn-, Rationalitäts-, Wissens- und Handlungsfelder, die entsprechende Habitusformen wie auch spezifische reflexive Formen von Strategiewissen (Klugheitswissen, technologisches Wissen) voraussetzen und (re-)generieren. Im Blick auf die ‚Gegenwart‘ ist in diesem Zusammenhang vor allem an feldspezifische Organisationsbildungen zu denken bzw. an formale Organisationen als Momente von Feldern und als Felder eigener Art, auf denen, heute wohl mehr denn je, Akteure konkurrieren und (einander be-)kämpfen.519 Strategisches Handeln ist hier wie überhaupt eine feld- und feldpositionsspezifische Kunst, deren Gelingen auf systematische Passungsverhältnisse zwischen Habitus(-Kapital) und Handlungsfeld, ‚Spieler-Virtuosität‘ und ‚Spielbedingungen‘ verweist. Organisationen sind aber eben auch und gerade selbst strategische bzw. strategisch handelnde Akteure, die mit allen ihren besonderen Möglichkeiten (Ressourcen) entsprechend operieren. In diesem Zusammenhang spielt die fortschreitende Spezialisierung, Verwissenschaftlichung (Technisierung) und Professionalisierung strategischen Handelns eine Schlüsselrolle. Als strategisch orientierte und operierende Akteure stellen Organisationen zunehmend strategische Spezialisten in ihren Dienst, d. h. in den Dienst ihrer speziellen Ziele und Interessen. Besonders bedeutsam ist hier auch die Tatsache, dass sich besondere (Sub-)Felder, Organisationen und (Spezia519 Viele soziologische Beobachter (z. B.: Goffman, Elias, Bourdieu) beschreiben formale Organisationen (auch) als Kampffelder. Luhmann, der die diesbezügliche Praxis bestens kannte, sieht sogar einen entsprechenden Trend, nämlich eine „zunehmende Balkanisierung von Organisationen und die Annäherung an einen Zustand, in dem nicht mehr gearbeitet, sondern nur noch intrigiert und gekämpft wird“ (Luhmann 1975a: 138; vgl. auch 1964). In den letzten Jahrzehnten dürfte sich dieser Trend (auch z. B. an Universitäten) kaum abgeschwächt, sondern eher verstärkt haben. Der Vergleich mit der ‚höfischen Gesellschaft‘ liegt damit heute näher denn je (vgl. Kuzmics 1986).
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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listen-)Berufe gebildet und etabliert haben, die im Dienst oder in Stellvertretung Anderer (z. B. von Organisationen) strategisch handeln und das strategische Handeln Anderer (z. B. Politiker) mit Wissen, Instruktionen, Informationen und anderen Ressourcen versorgen (vgl. Westerbarkey 2003: 202 ff.). Ein hervorstechendes und zentrales Beispiel dafür, dass und wie sich strategisches (Handlungs-)Wissen, Können und Tun in diesem Sinne (weiter-)entwickelt hat, dass es sich insbesondere in Feldern, Rollen und Funktionen ausdifferenziert und d. h. technologisiert, spezialisiert und professionalisiert hat, ist der längst noch nicht abgeschlossene Aufstieg der ‚Werbungsgesellschaft‘ (s. u.). Die Genese des auf strategisches Handeln spezialisierten (Sub-)Feldes der Werbungswirtschaft und die damit zusammenhängende Verwerblichung aller sozialen Felder520 ist auch mit einem (sozialen) Aufstieg diverser ‚Kriegskünste‘ und ‚Kriegskünstler‘ (Strategen) verbunden (s. u.). Damit vielfach verknüpft ist eine andere im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess aufgestiegene ‚Gesellschaft‘, nämlich die ‚Beratungsgesellschaft‘, die in gewisser Weise alle gesellschaftlichen Felder und ‚Feld-Lagen‘ in sich abbildet. Auch viele moderne Berater (etwa in den Feldern der Politik, der Wirtschaft und des Rechts) fungieren als ‚Kriegskünstler‘ und beliefern informations- und instruktionsbedürftige oder dafür empfängliche Publika521 mit entsprechendem Wissen. In diesem Zusammenhang geht es allerdings nicht nur um (sich in vielen Bereichen verschärfende) soziale Konkurrenzen und Kämpfe, sondern auch um Strategien im Umgang mit sich selbst und – ‚in guter Absicht‘ – mit Anderen. Berater und Beratungsdiskurse (‚Ratgeber‘) stützen und formen auch zunehmend persönliche (individualisierte) Lebensführungen und sind Helfer bei der (Um-)Konstruktion und Aufrechterhaltung von Lebensstilen (s. o.). Wie die hier gemeinte Art des strategischen Handelns selbst so sind auch seine sozialen Stützen und Unterstützer, vor allem die Einrichtungen der Beratung und die Berater, von eigener und großer Bedeutung für eine allgemeine (Gegenstands-)Theorie strategischen Handelns.
8.3.3
Formalisierung und Verrechtlichung
Formale Organisationen bilden nur einen Kontext, wenn auch einen Schwerpunktkontext, in dem allgemeinen Prozess der Formalisierung und Verrechtlichung so520 Von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft, vom Sport bis zur Religion. 521 Gerade auch solche Publika, die wie die Politiker selbst Strategen sind und sich als Strategen sehen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
zialer Verhältnisse, der auch massive und vielfältige Implikationen und Folgen für strategisches Denken und Handeln hat. In diesem Prozess werden (strategische) Handlungsmöglichkeiten natürlich einerseits ausgeschlossen, erschwert und entmutigt. Andererseits begünstigen, erleichtern und ermutigen Formalisierungen und Verrechtlichungen strategische Denk- und Handlungsweisen, indem sie Berechenbarkeiten herstellen oder steigern, strategische Handlungshorizonte vorgeben und Ressourcen strategischen Handelns darstellen. Es wird unter diesen Bedingungen zudem sozusagen rational und normal, das Mögliche bzw. Beanspruchbare auch einzufordern und durchsetzen zu wollen, so dass sich dann praktisch nur noch die (Klugheits-)Frage stellt, mit welchen Mitteln dies am erfolgversprechendsten geschieht. Die entsprechende strategische Haltung (Mentalität, Habitus) wird nicht zuletzt dadurch sozial gestützt und verstärkt, dass man mit anderen, mit Mit- und Gegenspielern rechnen muss und kann, die mindestens prinzipiell ebenso denken und handeln wie man selbst. Damit be- und entstehen auch strategische Handlungsneigungen und Fixpunkte für strategische Kalküle und Kalkulationen. Auf der Grundlage von Formalisierungen und rechtlichen Ansprüchen weiß man in verschiedenen relevanten Hinsichten mehr oder weniger sicher, womit, mit welchen Handlungen, Handlungsabläufen, Handlungsskripts und Attitüden man zu rechnen hat und wie man also – strategisch – berechnen kann. Es fällt auf dieser Basis, ähnlich wie auf der des Geldes, auch leicht(er), Ansprüche zu formulieren und konsequent zu vertreten oder (durch Spezialisten bzw. Spezialisten strategischen Handelns) vertreten zu lassen. Formalisierungen und Rechtsansprüche enthemmen sozusagen den Strategen, befreien den ‚Kriegskünstler‘ oder ‚homo oeconomicus‘ zur vollen Performanz seiner Möglichkeiten.
8.3.4
Vernetzung und Vernetzwerkung
In Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Habitus-Entwicklungen522 bringt der dynamische Aufstieg der (medienfundierten) ‚Netzwerkgesellschaft‘ eine entsprechende Ein- und Umstellung strategischen Handelns, eine strategische Rationalisierung, neue oder erneuerte Formen strategischen Handelns, strategischer Beziehungen, Handlungsorientierungen usw. mit sich.523 Das aktive Knüpfen und Unterhalten von irgendwie nützlichen oder nutzenversprechenden 522 Insbesondere Individualisierungsprozessen. 523 Vgl. zu diesem Punkt die obigen einführenden Überlegungen zu dem thematischen Komplex ‚Figuration/Feld/Netzwerk‘.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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Beziehungen (Netzwerken) wird für alle sozialen Akteurtypen auf den verschiedensten Feldern zur normalen Praxis – nicht nur, aber auch und hauptsächlich zur strategischen Praxis. Zentral ist in diesem Zusammenhang das bestimmte und bestimmende Eingelassensein (und Einlassen) strategischen (Netzwerk-)Handelns/Verflechtungshandelns in Verflechtungsprozesse und sich ständig (weiter-) entwickelnde Verflechtungszusammenhänge/Figurationen, die zunehmend mediengestützt sind und primär der Logik der sozialen Felder-Differenzierung folgen. Der Aufstieg der ‚Netzwerkgesellschaft‘ impliziert entsprechend einen sozialen und subjektiven Bedeutungs- und Relevanzgewinn strategischer Praxis; er generiert und forciert strategische Beziehungen und strategisches Handeln vielfältigen Inhalts und vielfältiger Motivation – bei zunehmender Dynamik der Entwicklung dieser ‚Gesellschaft‘ nicht zuletzt eine Expansion, Differenzierung und Intensivierung persönlicher, quasi-persönlicher oder verpersönlichter Beziehungen: Abhängigkeits-, Interdependenz-, Gunst- und (wechselseitiger) Begünstigungsbeziehungen, einschließlich korrupter, semi-korrupter und quasi-korrupter Varianten auf allen sozialen Feldern524. Zentral ist hier das zunehmend generalisierte und intensivierte strategische Bewusst- und Reflexivwerden von sozialen Beziehungen, Erwartungen und Handlungen, die sich verbreitende Beobachtung und Definition von sozialen Beziehungen unter Nützlichkeits- und Kapitalgesichtspunkten, das (strategische) Management von sozialem und symbolischem (Image-)Kapital (‚Networking‘), das mittlerweile fast schon von jedermann betrieben wird, der seinen ‚Beziehungshaushalt‘ bzw. seine diversen ‚Beziehungshaushalte‘ heute mehr denn je und mehr denn je planvoll selbst steuern, verwalten und gestalten kann und muss. Die ‚Netzwerkgesellschaft‘ bringt also nicht nur eigene strategische Ausgangslagen, Praktiken und Praxen mit sich und hervor, sondern mit ihrer Rationalität ist auch eine entsprechende strategische (Strategen-)Mentalität (des ‚Netzwerkers‘) verbunden. Im Zusammenhang mit dem weltweiten Siegeszug der ‚Netzwerkgesellschaft‘ und des entsprechenden (Netzwerk-)Sozialkapitalismus sind somit auch gewisse globale Mentalitätskonvergenzen/Habituskonvergenzen sowie (Re-)Tribalisierungstendenzen bzw. Tendenzen zu besonderen strategischen Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen zu erwarten und zu erkennen – Entwicklungen, die 524 (Selbst) Die Wissenschaft nicht ausgeschlossen. Hier schlägt die neuere ‚Netzwerkgesellschaft‘ offensichtlich in besonderer Weise und in besonderem Maße durch, doch hat ihre Logik natürlich auch eine lange Tradition. So bemerkt (Prof.) Hettlage im Rückblick auf eine Tradition seines eigenen Erfahrungsbereichs (Wissenschaft): „Gutachten für Kollegen und Freunde sind normalerweise keine ‚Schlechtachten‘, sondern Hilfestellungen. Es ist nur die Frage, ob die Auftraggeber über die Verknüpfungen Bescheid wissen. Manchmal wissen sie es und wollen es so“ (2003: 26).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
wiederum an die persönliche Beziehungs- und Interaktionswelt der ‚höfischen Gesellschaft‘ und ihre spezifische strategische Praxis erinnern.525
8.3.5
Individualisierungen
Zivilisierungsprozesse – allgemein Prozesse der Bildung von Selbstkontrollen und insbesondere Prozesse der Rationalisierung und der Psychologisierung – sind, wie gesagt, zum Teil auch Individualisierungsprozesse sowie mit Individualisierungsprozessen überschnitten und verknüpft. Individualisierung ist also auch ein Effekt und eine Variante von Zivilisierung; sie vollzieht sich aber zugleich jenseits von Zivilisierung und kann sogar das Gegenteil von Zivilisierung bedeuten. Als soziale Desintegration, sozialer Bindungsverlust oder Verschiebung vom ‚Über-Ich‘ zum ‚Ich‘ ist Individualisierung jedenfalls nicht gleichbedeutend mit Zivilisierung. In allen Formen stehen Individualisierungsprozesse in systematischen Zusammenhängen mit strategischen Handlungs- und Mentalitätsaspekten. Einige dieser Zusammenhänge seien genannt und kurz skizziert: a) Mit wachsender struktureller Alleinstellung, Freisetzung, Besonderung und Selbstverantwortung kann und muss der (vereinzelte) Einzelne sein Leben (und damit auch seine Miterlebenden und Mithandelnden) zunehmend selbst steuern, handhaben und letztlich strategisch zu ‚führen‘ versuchen; er muss sich selbst in den von ihm permanent zu (re-)konstruierenden relevanten Hinsichten seines Lebens immer wieder neu ‚ins Bild setzen‘, entscheiden, planen, langsichtig Pläne verfolgen, diese und sich selbst permanent anpassen und versuchen, seine besonderen Interessen im Auge zu behalten. Jedermann steht angesichts individualisierter und sich individuell wandelnder Lebens- und Handlungsbedingungen (Krisen 525 Das Feld der Wissenschaft liefert hier wiederum (vielleicht besonders) gute und eindeutige Beispiele. Wohl unübersehbarer denn je operieren heute die wissenschaftlichen bzw. als Wissenschaftler geltenden Netzwerker und Netzwerke, die Seilschaften, Cliquen und (Selbst-) Versorgungs-Allianzen. Mafia-ähnliche Gebilde sind überall, wo etwas zu holen und zu verteilen ist, präsent und höchst wirksam – gelegentlich bekämpft von scheinbaren Moralisten, die sich allerdings nur selten weniger ‚mafiös‘ verhalten, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Die relative Intelligenz und dramaturgische Handlungskompetenz der betreffenden Akteure trägt natürlich zur (relativen) Verhüllung und zum Raffinement der entsprechenden Handlungsweisen und ‚Spiele‘ bei – etwa bei Berufungsverfahren. Nicht weniger wichtig (oder wichtiger) als diese mehr oder weniger offensichtlichen Tatsachen ist die ‚diskurs-‘ und ‚fachpolitische‘ Bedeutung der Netzwerke und der Formen des Netzwerkens, die auch hinter dem stehen, was als Wissenschaft zur Sprache und zur Geltung kommt oder nicht kommt.
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eingeschlossen) auch immer wieder neu vor der Aufgabe, eine (zweck-)rationale Haltung in Bezug auf diese Bedingungen zu finden und umzusetzen. In diesem Zusammenhang richtet sich strategisches Handeln also nicht oder nicht nur auf und gegen gegnerische/feindliche oder konkurrierende Andere. Vielmehr geht es darüber hinaus (und gleichzeitig) sozusagen um die Selbstorganisation des eigenen Lebens (der eigenen Leben) und in Bezug auf bestimmte sachliche (Existenz-)Bereiche (Geld, Gesundheit, Freizeitgestaltung, ‚Bildungen‘ verschiedenster Art) auch oder vor allem um das Finden und Verfolgen von Handlungslinien zur (Daseins-)Aufgabenbewältigung und zur (Daseins-)Problemlösung. Individualisierung fordert und fördert so oder so strategische Rationalität(en), (Ich-)Leistungen, Handlungskompetenzen und eine entsprechende Mentalität. b) Individualisierung als sozial-moralische Lockerung, Entbindung und Flexibilisierung im Sinne Sennetts (vgl. 2000) heißt auch Freisetzung zu strategischem Handeln, Reduktion auf strategisches Handeln und Entgrenzung von strategischen Handlungsmöglichkeiten für wie immer interessierte (erfolgs-, nutzen-, vorteilsinteressierte) Akteure. Mit der (auch) individualisierungsbedingten bzw. individualistischen Erweiterung oder Auflösung von Scham- und Schuldgrenzen schwinden auch (strategische) Handlungshemmungen, erweitert sich der Horizont der vorstellbaren und das Spektrum der sozial darstellbaren Handlungsmöglichkeiten. c) Individualisierung als (mit individualistischen Semantiken zusammenhängender) Steigerung von Bedürfnissen (Achtungsbedürfnissen, Geltungsbedürfnissen, Konsumbedürfnissen, Besitzbedürfnissen, Befriedigungsbedürfnissen, Glücksbedürfnissen) und Ansprüchen leistet entsprechenden strategischen Handlungsmotivationen und Handlungsneigungen Vorschub, macht sie komplexer und dringender. Indem immer vielfältiger und intensiver angeheizte Formen des Begehrens und der (Be-)Gier die ‚psychischen (Affekt-)Haushalte‘ dominieren, machen sie das Individuum/‚Ich‘ tendenziell sozusagen zu einem Erfüllungsgehilfen, der unter einem erhöhten Druck steht und sich darauf konzentrieren muss, effektive und effektivste Wege der Zielerreichung (Befriedigung) zu finden. d) Individualisierung als die unter a), b) und c) genannten Prozesse fordert und fördert nicht nur strategische Kognitions- und Performanzfunktionen (Beobachtungs-, Reflexions-, Planungs-, Steuerungs-, Inszenierungsfunktionen) und ein ‚Ich‘, das diese Funktionen gleichsam als Zentrum institutionalisiert, sondern begünstigt auch eine egozentrische/egoistische Mentalität (eine Mentalität der individualistischen ‚Selbstsorge‘ und ‚Selbstverwirklichung‘). Das heißt auch, mehr
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
(bis ausschließlich) ‚an sich denken‘, ‚für sich sorgen‘ und d. h. für sich (er-)leben und handeln zu wollen, zu dürfen und zu müssen. Dieser praktische und zunehmend legitime, praktizierte und legitimierte Egozentrismus und Egoismus ist eine Seite der Entwicklung, die Elias als Verschiebung der „Wir-Ich-Balance“ vom ‚Wir‘ zum ‚Ich‘ beschrieben hat (vgl. Elias 1999). Der Aufstieg dieses Ichs ist auch der Aufstieg eines Strategen und einer strategischen Mentalität, die sich am ‚Ich selbst‘ orientiert.
8.3.6
Privatisierungen und Intimisierungen
Die Prozesse der Zivilisierung und der Individualisierung inkludieren zusammenhängende und aufeinander reagierende Prozesse der Privatisierung, der Informalisierung und der Intimisierung, die besondere strategische Handlungsspielräume wie auch strategische Einstellungs-, Reflexions- und Handlungserfordernisse mit sich bringen. Privatisierung spielt hier in verschiedenen Bedeutungen eine Rolle: 1. Als Ausdehnung der ‚Privatsphäre‘ des Individuums impliziert sie zunächst Unbestimmtheit, Beliebigkeit, Freiheit und Unsicherheit, worauf ‚subjektiv‘ reagiert werden kann und muss. Der privatisierte Mensch, der ‚Privatmensch‘ kann und muss sein (Privat-)Leben selbst bestimmen, organisieren und ‚führen‘; er muss also auch und immer mehr in einem umfassenden und vielseitigen Sinne Stratege sein, die ‚Projekte‘ und Projektionen seines (Privat-)Lebens und (d. h.) seiner ‚Selbstverwirklichung‘ entsprechend betreiben und insbesondere seinen zunehmend von (Multi-)Optionalität, Struktur- und Stabilitätsverlusten geprägten persönlichen Beziehungshaushalt organisieren und (dauer-)kontrollieren. Strategisches Handeln, insbesondere kognitives, inszenatorisches und performatives Handeln, ist dabei sowohl im Bezug des Akteurs auf sich selbst als auch im sozialen Mit- und Gegeneinander vonnöten. 2. Privatisierung meint hier aber auch einen (Zivilisierungs-, Individualisierungs-) Prozess, in dem Personen symbolisch, moralisch und emotional intimisiert und sensibilisiert werden und zugleich zunehmende soziale Berechtigung erlangen, entsprechende Grenzen gegenüber (allen) anderen zu ziehen, Ansprüche auf Distanzen, Diskretion, sensible Behandlung usw. zu stellen und sozial umzusetzen. Auch diese (Entwicklungs-)Tatsachen rufen – gerade im Zusammenhang mit fortschreitenden Individualisierungs-, Informalisierungs- und Anomisierungs-
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prozessen – strategisches Handeln auf den Plan, z. B. wenn es darum geht, die persönlichen Grenzziehungen und Sensibilitäten anderer Individuen zu erkunden und zu beachten oder die eigenen Ansprüche auf entsprechende Behandlung umund durchzusetzen. Besondere strategische Handlungserfordernisse, Handlungsprobleme und Handlungsoptionen ergeben sich zudem aus Intimisierungsprozessen auf der Ebene sozialer (persönlicher) Beziehungen und Interaktionen – aus Prozessen, in denen sich Verluste sozialer Formen, Orientierungen und Distanzen mit Gewinnen bestimmter Werte, Erwartungen und Ansprüche verbinden. Wenn es zutrifft, dass der Prozess(-komplex) der Modernisierung (Zivilisierung/Individualisierung) wesentlich auch einen Prozess der sozialen (Verkehrs-)Intimisierung beinhaltet526, in dem sich Ideale und Praktiken der interpersonalen Entdistanzierung und Annäherung bis hin zur völligen Distanzlosigkeit oder ‚Verschmelzung‘ verbreiten, in dem symbolische Grenzen und Distanzen abgebaut werden, Ansprüche an emotionale Intensität persönlicher Beziehungen und zugleich an Verstehen und VerstandenWerden wachsen, dann sind auch in zunehmendem Maße Herausforderungen, Aufgaben und Probleme zu erwarten, die strategisches Handeln auf den Plan rufen. Intimität, intime oder intimisierte persönliche Beziehungen sind heute wohl mehr denn je ein Arbeits-, Aufgaben-, Problem- und Kampffeld, auf dem legitimer- oder illegitimerweise strategisch gehandelt (beobachtet, reflektiert, eingeschätzt, geplant, inszeniert, performiert) wird und werden muss – ein Feld auch, auf dem sozusagen kontranormativ Geheimnisse, Täuschungen aller Art, Stilisierungen und Selbststilisierungen, Lenkungs- und Ablenkungsmanöver, Doppelleben etc. eine Hauptrolle spielen. Intimisierte persönliche Beziehungen, erst recht eigentliche Intimbeziehungen wie Freundschaft (s. o.) und auch Liebe, scheinen jedenfalls unter heutigen Bedingungen527 einen systematischen und systematisch gesteigerten Bedarf an Nichtwissen528, an Wissensleerstellen, Verborgenheiten, Geheimnissen, blinden Flecken und Illusionen zu haben bzw. prozessual auszuprägen (vgl. Lenz 2003). Hahn kommt diesbezüglich in einer (noch nicht allzu alten) empirisch-analytischen Untersuchung über „Konsensfiktionen“ (Hahn 1983) junger Ehepaare zu 526 Das ist bekanntlich nicht nur von Elias behauptet und belegt worden. Vgl. auch Gehlen 1957; Berger/Berger/Kellner 1975; Sennett 1983; Lasch 1986. 527 Gerade auch unter den Bedingungen fortschreitender Individualisierungsprozesse, die mit gesteigerten Intimitätsansprüchen und Intimitätsanstrengungen einhergehen. 528 Vgl. zum Begriff des Nichtwissens Popitz’ bis heute ebenso grundlegende wie inspirierende Schrift „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz 1968).
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
dem auch die allgemeine Theorie des strategischen Handelns anregenden Schluss, dass das Fundament der dauernden Intimbeziehung (bzw. Ehe) jedenfalls nicht die Annäherung an das romantische Ideal der reziproken Totaltransparenz, sondern – auch – ein Geflecht von (wie immer generierten) Intransparenzen ist, ein Bereich des Nichtwissens, der informationellen Dunkelheiten, des Fehl- und Falschwissens. Die Produktion und Reproduktion solchen ‚Wissens‘ scheint heute im Feld der persönlichen Beziehungen überhaupt mehr und variantenreicher denn je auf einem strategisch-dramaturgischen Handeln zu beruhen, das gewissermaßen mit Methoden des Scheins das Sein von ‚Identitäten‘, Beziehungen und Beziehungswirklichkeiten (re-)generiert.529 Im Zuge von Mediatisierungsprozessen und entsprechenden Vernetzwerkungen (‚soziale Netzwerke‘) haben sich auch neue strategische Theatralitäten, neue Realitäten der Selbst- und (persönlichen) Beziehungs-Performanz und auch neue (Ir-)Realitäten von persönlicher Beziehung, ‚Freundschaft‘ und Intimität entwickelt, die ganz oder teilweise einen strategischen Charakter haben und strategisches Denken und Handeln erfordern und anfordern.530
8.3.7
Verwettbewerblichung und Vermarktlichung
Es liegt auf der Hand, dass die unmittelbar zusammenhängenden und sich dynamisch verstärkenden Tendenzen der Verwettbewerblichung und der Vermarktlichung der Gesellschaft oder jedenfalls vieler gesellschaftlicher Felder auch jenseits der Wirtschaft in dem hier thematischen Kontext (und auch darüber hinaus531) 529 In Bezug auf persönliche Intimbeziehungen, die ja (auch heute noch) unter besonders starken normativen Aufrichtigkeitsansprüchen stehen, gibt Hans Oswald ein Beispiel für die sozusagen systemische Notwendigkeit und für die Funktionalität strategischen Täuschungshandelns als Wirklichkeitsschutz. „Vermutlich“, so Oswald, „läßt sich keines der Gefühle, auf die wir unseren Freunden, Ehepartnern, Eltern und Kindern gegenüber verpflichtet sind, ohne Schwanken und ohne Augenblicke der gegenteiligen Empfindung durchhalten. Der kommunizierte Abscheu, Haß, Ekel des Augenblicks kann aber ein unauslöschliches Bild im Anderen entstehen lassen, das seinerseits wieder auf das Selbstbild zurückwirkt und den momentanen Abscheu erst gewichtig und dauerhaft werden läßt“ (Oswald 1984: 120). 530 Neben den traditionellen Formen strategischen Informationsmanagements, die als rituelle Interaktionsmanöver gewissermaßen im Dienste der Wirklichkeit und Wahrheit persönlicher Beziehungen stehen (siehe das obige Beispiel von Oswald), gibt es unter heutigen (Internet-) Medienbedingungen ja in diesem Zusammenhang ganz neue und ganz andere strategische ‚Wirklichkeitskonstruktionen‘, die vollkommen fiktiv und fingiert sein können. 531 Vgl. dazu beispielsweise die obigen Überlegungen zu Stil/Stilisierung oder Theatralität/Theatralisierung. Wie erwähnt, hat Elias (in der Tradition von Marx und als ‚Vorläufer‘ Bourdieus) Konkur-
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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von systematischer und systematisch großer Bedeutung sind. Konkurrenz- und Marktbedingungen fordern und fördern natürlich ihnen entsprechendes strategisches Handeln, Allein- und Zusammenhandeln, Mit- und Gegenhandeln, regen es an, setzen es frei und richten es aus. Sie sind der in gewisser Weise ideale soziale Bezugsrahmen des strategischen ‚Rationalisten‘ und ‚homo oeconomicus‘532, der sich in diesem Bezugsrahmen sozusagen bildet und (habitus-)qualifiziert und der im Bewusstsein jener Bedingungen ein entsprechendes Selbst- und Weltbewusstsein entwickelt. Jedermann und die verschiedensten speziellen Feld-(Markt-)Akteure haben heute aufgrund von sich generalisierenden, differenzierenden und zuspitzenden Markt- und Konkurrenzbedingungen, Verwettbewerblichungs- und Vermarktlichungsprozessen mehr denn je Veranlassungen, Motive und auch Modelle für strategisches Handeln, das sich inhaltlich an den Besonderheiten des jeweiligen Feldes bzw. an den diversen Feld-Märkten533 (im Wettbewerb um alle Arten von Kapital, Image, Kunden, berufliche Positionen, persönliche Beziehungen/‚Freunde‘, Intimität usw.) entwickelt und spezifisch ausprägt (vgl. z. B. Lasch 1986; Bauman 2010). So bilden sich je nach den Rahmen- und (Konkurrenz-)Erfolgsbedingungen der renzmechanismen als eine Art Motor des Sozialen/der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet und beschrieben. 532 Robert Hettlage zielt in diesem Zusammenhang auf die von ihm diagnostizierte „Lügengesellschaft“ und stellt fest: „Neben dem politischen System ist doch das Wirtschaftssystem derjenige Bereich, in dem systematisch das strategische, zweck- und erfolgsorientierte Handeln zum Zug kommt und sich sogar zur Ökonomisierung des Denkens verselbständigt. Alles steht unter dem Modus des Anbietens, Kaufens und Bezahlens. (…) Als homo oeconomicus rechnet sich jeder Marktteilnehmer in jeder Handlung seine Kosten (Sanktionen) und seinen Nutzen aus. So entscheidet er sich auch ‚ökonomisch rational‘, ob sich Steuerhinterziehung, Betrug, Fehlinformation, Ausbeutung etc. lohnen oder ob die Abschreckungswirkungen möglicher Strafen und Ansehensverluste höher einzuschätzen sind. Die Entscheidung für Wahrheit oder Lüge wird zu einem Rechenexempel. (…) Nun ist der homo oeconomicus ein ‚Modellmensch‘, der sich solchermaßen in der realen Welt nicht findet. Die Tendenz ist aber nicht zu übersehen, dass da, wo Beziehungen ‚rein‘ als Marktgeschehen definiert werden, auch das strategische, rein rechenhafte Handeln in der Gesellschaft zunimmt. Je weniger Anstand und Vertrauenswürdigkeit erwartet werden, je mehr das sanktionierende Pflichtethos absinkt und die ‚Unterbietungsmoral‘ (…) Platz gewinnen, desto mehr müssen Lüge, Korruption, Bilanzfälschung, Qualitätsminderung etc. zunehmen“ (Hettlage 2003: 27). Marktbedingungen, die einen ‚homo oeconomicus‘ voraussetzen, definieren und züchten, herrschen heute natürlich bereits tendenziell gesellschaftsweit, ja weltgesellschaftsweit; sie setzen sich mit zunehmender Dynamik global durch (z. B. auch und besonders in der Wissenschaft) und bestimmen was und wie – gerade auch strategisch – ‚gespielt‘ wird. 533 Mit dem Begriff des Feld-Marktes (dem der der Feld-Vermarktlichung an die Seite zu stellen wäre) soll hier zum Ausdruck gebracht werden, dass mit den Prozessen der Ausdifferenzierung und Binnendifferenzierung von Feldern (‚Subsystemen‘) Ausdifferenzierungen und Binnendifferenzierungen von Märkten einhergehen.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Felder und (Feld-)Märkte strategische Denk- und Handlungsstile, Strategien und strategische Akteurtypen (vgl. Hettlage 2003: 19 ff.), deren ‚Qualifikationsprofile‘ sich allerdings, wie gesagt, mindestens teilweise im Sinne eines ‚kleinsten gemeinsamen Nenners‘ ähneln. Viele dieser Akteurtypen, z. B. Handelsvertreter, (politische, religiöse, wissenschaftliche) Moralverkäufer oder symbolische Selbstverkäufer auf den persönlichen Beziehungsmärkten, benötigen jedenfalls – bei allem, was sie sonst noch benötigen – eine Reihe sehr verwandter ‚Qualitäten‘, die etwa auch schon den Höfling auszeichneten: strategische Empathie/Entlarvungsvermögen, ‚psychologisches‘ Feingefühl, Darstellungs- und Verstellungsfähigkeiten, Selbstbeherrschung, Langsicht, Übersicht über das relevante Beziehungsfeld etc. Die Verwettbewerblichungs- und Vermarktlichungstendenzen der jüngeren Gesellschaftsgeschichte haben darüber hinaus auch bestimmte und spezifisch folgenreiche moralische (Mentalitäts-)Implikationen, nämlich Lockerungs-, Auflösungs- und (Um-)Strukturierungsimplikationen, die die Spielräume des strategischen (Miss-)Handelns erweitern und auch strategisches Handeln motivieren können. Begünstigt und gesellschaftlich generalisiert wird eine Markt-, Vermarktungs- und Unternehmermoral (mit Werten wie Cleverness und Raffinesse) und der Typ (die Habitusform) des moralisch „flexiblen Menschen“ (Sennett 2000)534, aber auch der „starke Charakter“ (Goffman 1971a), der unter verschärftem (Risiko-, Angst-, Irritations-)Druck die ‚Nerven behält‘, ‚cool bleibt‘ und die richtige (strategisch rationale) Wahl trifft. Dieser praktische soziale ‚Erfolgstyp‘ wird offenbar zunehmend auch moralisch geschätzt, ja idealisiert, und bildet damit so etwas wie eine moralische Basis und Legitimation des strategischen Rationalisten/homo oeconomicus.
8.3.8
Kontingenzsteigerungen und Mobilisierungen
Indem sich – nicht zuletzt im Zuge der thematisierten soziogenetischen Prozesse (soziale Differenzierungsprozesse, Verflechtungsprozesse, Informalisierungsprozesse, Vermarktlichungsprozesse usw.) – in allen gesellschaft lichen Bereichen soziale Kontingenzspielräume535 erweitern, ändern sich auch die (Er-)Lebens-, Erfahrungs- und Handlungslagen der Akteure in dem hier fokussierten Sinne systematisch. Auf allen Ebenen nehmen die Spielräume und Zwänge der Akteure tendenziell zu, aktiv und produktiv mit Kontingenzen umzugehen, d. h. Hand534 Mitgemeint sind damit gewisse Amoralisierungen und Entmoralisierungen. 535 Unbestimmtheiten, Offenheiten, Veränderlichkeiten, Risiken, Chancen, Freiheiten.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
501
lungs- und Lebensentwürfe zu entwickeln, Entscheidungen von mehr oder weniger großer Tragweite zu treffen, ‚Leerstellen‘ sozialer Ordnung zu füllen, dem Einzelnen und dem Ganzen ihrer (Lebens-)Praxis Richtung und Form zu geben (s. o.). Die besagten Entwicklungen machen den involvierten Akteur entsprechend welt- und selbstbewusst, aufgaben- und problembewusst, und sie machen ihn damit letztlich auch zum selbstbewussten Strategen, zum strategischen Beobachter, Entscheider, Planer, Gestalter, Verwalter und Manager, der Kontingenzen nicht nur sozusagen als sozialer Ordner bewältigt oder kompensiert, sondern auch im jeweiligen eigenen Interesse (aus-)nutzt. Es geht hier also auch (wiederum) um die Genese bestimmter habitueller bzw. mentaler Dispositionen, um praktische und praxisbestimmte Qualifikationen des Akteurs. Zu den Figurationsbedingungen bzw. Figurationsprozessen, die in diesem Zusammenhang eine besondere und besonders wichtige Rolle spielen, gehören auch räumliche Mobilisierungen536 und vor allem soziale Mobilisierungen537. Sie rufen einen spezifisch kompetenten, aktiven und reflexiven Akteur auf den Plan (der Gesellschaft), weil sie jeweils Kontingenzen eigener Art mit sich bringen, eine Dynamisierung, Differenzierung und Flexibilisierung des (Er-)Lebens, die mit strategischen Handlungserfordernissen, Handlungszwängen und Handlungsoptionen einhergeht. Räumliche Mobilisierungen z. B. setzen den Akteur unter Unsicherheits-, Planungs- und (Selbst-)Steuerungsdruck, schaffen mit der sequentiellen/ seriellen Vielheit, Getrenntheit und Trennbarkeit von Handlungs- und Existenzbereichen Offenheiten und Freiheiten, erfordern aber auch so etwas wie eine (ständig anzupassende) Strategie oder strategische Praxis der Vereinbarung, der Koordination, Synchronisation und Diachronisation. Mobilisierungen aller Art schaffen natürlich auch einen besonderen und erhöhten Druck, (neue) Situationen (Personen, Konstellationen usw.) einzuschätzen, Handlungsziele zu definieren und umzudefinieren, aktuell passende Mittel zu finden, zu planen und Pläne flexibel auszuführen. Von vielleicht größter Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Einschränkung primärer Habitus- bzw. Gewohnheitsfunktionen. Indem Individuen mit fortschreitenden sozialen und räumlichen Mobilisierungen zunehmend in sozusagen (primär-)habitusfremde oder (primär-)habitusferne Handlungskontexte ‚versetzt‘ werden, büßen sie auch gewisse habituelle und damit ebenso bestimmende wie 536 Man denke speziell an die diversifizierten Formen des Reisens: berufliches ‚Verreisen‘, ‚Pendeln‘, Tourismus etc. Eine Soziologie des Reisens kann eine Facette im Gesamtprogramm der hier propagierten Figurationssoziologie bilden. 537 Das heißt auch: immer flexiblere und gegenüber den eigenen (Primär-)Habitusvoraussetzungen indifferentere Bewegungen im sozialen Raum.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
entlastende Automatismen des Verhaltens, Selbstverständlichkeiten und Vertrautheiten ein. Die in Mobilisierungsprozessen zunehmende soziale bzw. habituelle ‚Unbehaustheit‘ und ‚Vielhäusigkeit‘ macht das erlebte Soziale fremder, unsicherer und bewusster und fordert das Individuum gleichsam dazu heraus, diesem Sozialen reflexiv und strategisch zu begegnen. Die mobilisierten und in ihrer Mobilität zugleich individualisierten Individuen werden zu Strategen, die als solche (reflexiv, planvoll) operieren und sich als solche sehen. In dieser sozialen und zugleich ‚psychologischen‘/mentalen Verschiebung und Umstellung, die natürlich ihrerseits mit Habituseffekten/Gewohnheitsbildungen einhergeht, kann man auch einen wichtigen Aspekt oder eine Seite von Zivilisierung und Individualisierung (Subjektivierung) sehen.
8.3.9
Mediatisierungen
Von besonderer und besonders großer Bedeutung, auch weil sie mit allen genannten Prozessen zusammenspielen, sind hier Mediatisierungsprozesse, die mit neuen oder veränderten Formen von Theatralität, Macht und (symbolischem, sozialem, kulturellem) Kapital zugleich Entwicklungen (Expansionen, Innovationen, Steigerungen) von Aspekten strategischer Praxis nach sich gezogen haben und nach sich ziehen, und zwar für alle Felder und auf allen Feldern. Sie werden in Mediatisierungsprozessen verstärkt und spezifisch zu strategischen Spielfeldern, die diverse Spieler befähigen, motivieren oder zwingen in diverse Spiele zu kommen und Spiele zu spielen. Oder umgekehrt formuliert: Mediatisierungsprozesse schaffen neue oder erneuerte strategische Spielbedingungen, Spielräume (Bühnen), Spieler, Spiele, Spieleinsätze, Spielergebnisse/Spielfolgen usw. Zentral zu beachten ist hierbei – neben und mit diversifizierten Digitalitäten und Digitalisierungen, Diskursen und Diskursivierungen – die teils neue, teils veränderte Rolle des Bildes, der bildlichen Kommunikation und Theatralität. Indem die technischen Bildmedien (Fotografie, Film, Fernsehen) als Kommunikationstechniken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den verschiedensten Bereichen eine immer wichtigere Rolle spielen, ändert sich auch die Basis und Praxis der ‚Wirklichkeitskonstruktion‘, insbesondere auch des strategischen Handelns, aller Akteurtypen (von der Person bis zur Organisation). Die Identifizierung und Qualifizierung verschiedenster Objekte (Personen, Dinge, Kollektive) erfolgt unter diesen Bedingungen immer öfter und immer öfter primär entlang der „analogen Kommunikation“ (Watzlawick) von Bildern mit ihren spezifischen Formen der Schematisierung von Identität, die heute schon tendenziell mit Bildern/Ima-
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
503
ges (von ihr) gleichgesetzt wird. Die entsprechenden Strategen wissen heute auch mehr denn je die ‚Macht des Bildes (Images)‘ zu schätzen, einzuschätzen und für ihre Zwecke zu nutzen.538 Am offensichtlichsten und vermutlich stärksten trifft all dies für die Paradefelder des strategischen Denkens und Handelns überhaupt zu: Politik und Wirtschaft (vgl. Hettlage 2003: 26). Politik, jedenfalls das ‚Machen‘ von ‚Machtpolitik‘, besteht bekanntlich mittlerweile hauptsächlich in einem informations- und impressionspolitischen Umgang mit Medien und Medienbildern.539 Von ihnen erwarten und versprechen sich gerade heutige Politiker zu Recht die Images und Meinungen, die Machtchancen, Macht(chancen)effekte und Macht(um)verteilungen bedeuten – mit der Folge eines entsprechenden, nämlich strategischen, Medienverständnisses und ‚Medieneinsatzes‘. So gibt es eine deutliche „Verschiebung von spontanen oder routinierten politischen Handlungen, die von Medien berichtet, abgebildet und interpretiert werden, auf solche, die bereits im Schielen auf zu vermutende Reaktionen des Mediensystems inszeniert werden, und wiederum auf solche, die überhaupt nur deswegen stattfinden, damit sie im Mediensystem erscheinen“ (Leggewie 2000: 235). Man kann diesbezüglich und im Blick auf neuere Medienformate, wie etwa das ‚TV-Duell der Kanzlerkandidaten‘, von einer strategischen „Medientheatralisierung“ (Willems (Hg.) 2009b) des politischen Feldes sprechen. Medien (Massenmedien, Internet) sind in diesem Fall, aber in mannigfaltiger Weise auch in anderen Fällen und auf anderen Feldern, in jedem Wortsinne Medien strategischen Handelns540, durch die im Prinzip Publika aller Art und Quantität in verschiedener Hinsicht beeinflusst werden können – und zwar so, dass sich Verteilungen und Umverteilungen knapper ‚Güter‘ ergeben, dass solche ‚Güter‘ entstehen oder vermehrt werden, aber auch (wunschgemäß auf strategischen Gegenseiten) verknappen oder vergehen: neben Macht und Geld Charisma‚ ‚Ansehen‘, Reputation, Autorität, Sympathie, Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Hoffnung, Prominenz.
538 Vgl. Kautt (2008), der mit diesen Überlegungen „Image“ als einen historischen „Kommunikationscode“ rekonstruiert, der sich rezeptiv wie produktiv auf die neuen, bildbasierten Schematisierungen von Identität einstellt. 539 Es ist nur allzu offensichtlich, konstatiert Westerbarkey: ‚Die Medien‘ sind die „Mega-Bühnen unserer Zeit, die es planmäßig zu nutzen und zu instrumentalisieren gilt, wie die Erfolge von Goebbels oder Berlusconi eindrucksvoll belegen. Wer bestimmt, was dort gespielt wird, hat gewonnen, und wer zahlt, bestimmt bekanntlich die Musik“ (Westerbarkey 2003: 213; Hervorheb. im Orig.). 540 Man denke etwa an Tarifauseinandersetzungen, an ‚Abwicklungen‘ von großen Unternehmen oder auch an Vertragsverhandlungen von und mit Spitzensportlern, die in strategischen (Inter-)Aktionen wesentlich über und mit Medien geführt werden.
504
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Als Bedingungen und Potentiale strategischen Handelns verweisen (auch) Medien/Mediatisierungen auf bestimmte (Kompetenz-)Qualifikationen und Qualifizierungen von Akteuren, nicht zuletzt auf Formen von Wissen und Können, das man besitzen und/oder sich beschaffen kann. Von besonderer Bedeutung sind in diesen Zusammenhängen Spezialisierungen und Professionalisierungen strategischen Handelns und strategischer Leistungen541. Strategisches Medien-Handeln (oder medienstrategisches Handeln) erfolgt von immer mehr Akteuren immer öfter nicht mehr nur laienhaft, naiv oder intuitiv, sondern (auch) professionell oder mit professioneller Unterstützung, die immer spezialisierter, qualifizierter und massiver wird.542 Dem entspricht eine zunehmende strategische (Handlungs-) Bewusstheit, Versiertheit und Versierung (z. B. durch Coaching) nicht-medienprofessioneller Medien-Akteure. Profi-Sportler z. B. sind heute typischerweise einschlägig (medien-)bewusst und (medien-)kompetent. Sie kennen und nutzen die feldspezifischen Möglichkeiten der Medien; sie wissen sie zu schätzen und wissen sich auch in diesem ‚Rahmen‘ zu bewegen und in Bilder und Szenen zu setzen; sie können Risiken, Chancen und Kosten einschätzen und – strategisch – mit ihnen umgehen.
541 Das heißt: Werbung, Marktforschung, Zielgruppenforschung, Image-Beratung, Spin-Doctors, Wartungsspezialisten, Training, Coaching usw. 542 Das Handeln professioneller Medien-Strategen ähnelt natürlich im Prinzip dem des JedermannStrategen. Was betrieben wird ist im Grunde nichts anderes als jedermanns strategisches Imageund Informationsspiel – allerdings auf ‚rationalisiertem‘, ‚höherem‘, ‚technischerem‘, gezielterem und – medienverdankt – massiverem Niveau, das sich auch durch eine entsprechende reflexive (Erfolgs-)Kontrolle bzw. (Selbst-)‚Evaluation‘ auszeichnet. Auch in diesem Bereich – dem Bereich strategischen (Manipulations-)Handelns – dominiert letztlich die Logik der funktionalen Differenzierung (Spezialisierung, Experten). So sind für die „planmäßigen Versuche, Publika durch Verbreitung bestimmter Nachrichten und Zurückhaltung anderer zu beeinflussen, (…) in großen Organisationen eigens damit beauftragte und darauf spezialisierte Mitarbeiter zuständig, die in Pressestellen, Pressereferaten, Public Relations-Abteilungen oder eben Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit sitzen (…). Sie lenken durch ein möglichst attraktives Angebot betriebsfreundlicher Botschaften von problematischen Aspekten ihrer Organisation ab, betreiben also genau das, was der amerikanische Präsidentenberater Walter Lippmann einst Propaganda genannt hat (…). Dabei sind sie nachweislich umso erfolgreicher, je professioneller ihr Material zur Veröffentlichung präpariert ist, sie also die operativen Programme der Medien beherrschen und verwenden“ (Westerbarkey 2003: 211; Hervorheb. im Orig.).
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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8.3.10 Werbung 8.3.10.1 Werben und Verwerblichung
Die diversen Formen des Werbens – im allgemeinsten Wortsinne verstanden – bilden eine eigene Klasse strategischer Handlungsformen, die sich im Zuge verschiedener Figurationsprozesse543 auf allen Ebenen der (Welt-)Gesellschaft entwickelt, pluralisiert und verbreitet haben (s. o.). Auch wenn die Formen und Bedeutungen des Werbens, wie die jedes anderen Handelns, nicht ohne ihre historischen Figurationsbedingungen und praktischen Figurationskontexte zu verstehen und zu erklären sind, kann durchaus von einer Art, einem (Ideal-)Typ des strategischen Handelns gesprochen werden. Es ist also im Hinblick auf diesbezügliche gesellschaftliche Entwicklungen soziologisch sinnvoll, zunächst die innere Logik dieses Typs zu klären. Als ein fundamentaler strategischer Handlungstyp lässt sich Werben (nicht nur ‚Reklame‘ machen) grundsätzlich als offener oder verdeckter Versuch der zweckorientierten, auf bestimmte Verhaltensweisen zielenden und deswegen kalkulierten Beeinflussung von Menschen oder (Menschen-)Gruppen definieren, die in dem zu beeinflussenden Verhalten/Handeln (Teilnehmen, Kaufen, Wählen, ‚Verhüten‘ etc.) prinzipiell frei sind und daher bei entsprechenden Interessen für eine freiwillige (Um-)Disposition ihres Verhaltens gewonnen werden müssen. Das von Werbern jedweder Art gewünschte Ergebnis ist also nicht durch bloßen Zwang oder Gewalt direkt herbeizuführen. Die Mittel/Methoden des Werbens (und der Werbung) sind vielmehr die der beobachtungsbasierten, planvollen und berechneten Beeindruckung, der Überzeugung, des Über- und Einredens, der Suggestion, der Verführung, der Verlockung, der Anziehung, aber auch die der Abstoßung, der Ängstigung, der (z. B. sozialen Exklusions-)Drohung, des sozialen Drucks (Konformitätsdrucks) usw. Bei der heute üblichen Form der massenmedialen ‚Reklame‘ handelt es sich um offenes strategisches Handeln im Unterschied zu täuschenden Formen, etwa zur ‚Schleichwerbung‘, die sozusagen ihren Rahmen als Werbung verdeckt.544 Mit Verwerblichung ist hier im Hinblick auf die jüngere (moderne) Gesellschaftsgeschichte zunächst gemeint, dass sich der fundamentale strategische 543 Insbesondere Mediatisierungsprozesse, aber auch z. B. Prozesse der Vermarktlichung, der Verwettbewerblichung, der formalen Organisationsbildung und der Individualisierung (vgl. Willems (Hg.) 2009a). 544 Vgl. zur Rekonstruktion des Begriffsfeldes Werbung Felser (1997: 13 ff.), Geiger (1987), Zurstiege (1998: 78 ff.) und Kautt (2008).
506
Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Handlungstyp des Werbens, der historisch sehr weit zurückreicht, ja gewissermaßen einen anthropologischen Aspekt hat, in einer immer größer werdenden Zahl von Varianten mit immer größer werdendem Praxisgewicht auch jenseits der Wirtschaft und der Medien überall hin ausgebreitet hat und ausbreitet, so dass man heute geradezu von einer „Gesellschaft der Werbung“ sprechen kann (vgl. Willems (Hg.) 2002). In dieser ‚Gesellschaft‘ und im Sinne ihrer strategischen Rationalität agiert nicht nur ein allerdings immer größer und vielfältiger werdendes Heer von professionellen Werbern bzw. Werbe-Strategie-Spezialisten, die auf der Grundlage eines eigenen Feldes ein immer differenzierter, subtiler und zugleich massiver werdendes Spektrum von Leistungsangeboten verbreiten und umsetzen.545 Vielmehr sind hier die verschiedensten Felder, Feld-Akteure und jedermann involviert. Mehr denn je und in mehr sozialen Rollen und Situationen denn je bis hin zu der Rolle des ‚Menschen‘ gilt es heute, für sich und seine Sachen in dieser oder jener Form zu werben, also andere zweckrational und gezielt zu beeindrucken, für etwas ‚einzunehmen‘ und zu gewinnen, sei dies eine Ware, eine Person, ein Unternehmen, eine Handlungsweise, eine Idee oder ein anderes ‚Gut‘, das sozial zur Disposition steht. Begriffe wie Image, Corporate Identity oder Außendarstellung sind zu (lebens-)praktischen Schlüsselschlagworten geworden, die quasi symptomatisch ein generalisiertes Bewusstsein von Zwängen, Spielräumen und Motiven anzeigen zu werben.546 Angezeigt sind damit auch die bereits thematisierten Entwicklungen und Wandlungen auf allen Ebenen der Sozio- und Psychogenese, die Formen des Werbens erst möglich oder notwendig gemacht haben und machen: soziale Kontingenzsteigerungen, Anomisierungen, Vermarktlichungen, Verwettbewerblichungen, Individualisierungen usw.
545 Dass und wie die massenmediale Werbung den allgemeinen Handlungstyp des Werbens (im Sinne des Verführens, Überzeugens usw.) im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer bildbasierten Form der Image-Kommunikation ausdifferenziert, zeigt Kautt (2008). Werbung ist ihm zufolge kein Teilbereich (‚Subsystem‘) der Wirtschaft, sondern derjenige Bereich der Massenmedien, der auf die Herstellung positiver, bildbasierter Image-Identitäten für die verschiedensten Sinnanbieter spezialisiert ist (vgl. ebd.: 161–190). 546 Darauf wird man heute auch immer wieder ausdrücklich hingewiesen, und in dieser Richtung wird man zunehmend systematisch ‚gebildet‘, ‚weitergebildet‘ und zur ‚Selbstbildung‘ angehalten. Die höfische Klugheit, speziell die (Höflings-)„Kunst zu gefallen“, findet in den entsprechenden Anleitungen und Praxen ihre modernen Fortsetzungen, Abwandlungen und teilweise auch Überbietungen.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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8.3.10.2 Werbung als Feld und Kultur(-industrie)
Die gesellschaftliche Generalisierung und Differenzierung der strategischen Handlungslogik des Werbens, ihr Vordringen und Durchdringen auf alle Felder und in allen Feldern hat sich teils unabhängig, teils abhängig von der Ausdifferenzierung der Werbung als mediengestütztes Feld (‚Subsystem‘) entwickelt. Diesbezüglich sind hier verschiedene Ebenen von Bedeutung, zu unterscheiden und in ihrem Zusammenhang zu betrachten:
8.3.10.2.1 Strategische Rationalisierung und Dienstleistung
Eine Eigentümlichkeit des Werbungsfeldes (im Vergleich mit anderen Feldern) liegt darin, dass seine Akteure nicht nur wie im Prinzip alle Akteure im eigenen Interesse strategisch handeln, z. B. ihre Produkte vermarkten, sondern auch sozusagen strategische Spezialisten und Dienstleister sind. Die Akteure des Werbungsfeldes sind jedenfalls zu einem großen Teil professionelle, ausgebildete und ausgewiesene Strategen, die stellvertretend Produktionen und Umsetzungen strategischen Wissens, insbesondere in Form von (Medien-)Theatralität, bezwecken. Mit der Werbung ist also ein großes und kontinuierlich expandierendes Feld darauf spezialisiert, fremdes Handeln systematisch strategisch zu rationalisieren und strategisch relevante Ressourcen als (Dienst-)Leistungen auf- und anzubieten. Strategisches Handeln und Denken wird damit auf allen sozialen Feld-Ebenen (Gesellschaft) verbreitet, optimiert, angeregt und forciert – im Prinzip jenseits individueller Motive und Intentionen. Entscheidend ist hier, dass sich die Werbung zu einem Feld entwickelt hat, das einer rein strategischen Rationalität (Klugheit) folgt, eine solche Rationalität für andere (Auftraggeber) generiert und die praktische Umsetzung dieser Rationalität optimiert. Die Figurationen der Werbungswirtschaft sind diesbezüglich besonders leistungsfähig, weil sie auf allen relevanten Ebenen strategischen Handelns (s. o.) einschlägig spezialisierte Rollen ausdifferenzieren und sich entsprechende Ressourcen/Leistungen beschaffen können. So wird auf der Ebene der strategischen Fremdbeobachtung von den Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung Gebrauch gemacht und auch selbst ‚Zielgruppenforschung‘ betrieben, um herauszufinden, worin der einschlägig relevante ‚Sinn‘ des jeweiligen Publikums besteht und wonach ihm dieser ‚Sinn‘ gestellt werden kann.547 547 Das erfordert systematische Erfassungen und Abbildungen von Zielgruppen und Zielgruppenmerkmalen, so dass ein optimiertes strategisches ‚recipient design‘ möglich wird. Auf der Basis
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die ‚Subjekte‘ der Werbung adressieren und ‚bedienen‘ so alle Felder strategisch, um deren Akteure mit strategischen Informationen und anderen Strategiemitteln auszurüsten, die sie offensichtlich zunehmend gebrauchen können und nachfragen – auch nachfragen müssen, weil andere (Konkurrenten) sie nachfragen und in Anspruch nehmen. Im Aufstieg der ‚Werbungsgesellschaft‘ liegt also auch eine besondere Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik der strategischen Rationalisierung, die alle gesellschaftlichen Felder und Akteure umfasst und erfasst.
8.3.10.2.2 Werbung als strategische Kulturindustrie
Das Feld der Werbung ist – nicht nur, aber auch und insbesondere – ein Feld spezieller Kulturproduktion; es kann als eine strategische Kulturindustrie verstanden werden. Deren (medien-)performative Produkte, die strategischen Zwecken dienen und Ergebnisse strategischer Kalküle sind, zeichnen sich durch bestimmte strategische Operations- und Funktionsprinzipien aus: Dazu gehört, dass die hier gemeinten Werbungsperformanzen bestimmte Sichtbarkeiten (für sich, für Beworbenes und werbende Informationen) und zugleich Unsichtbarkeiten (von ‚destruktiven Informationen‘) herstellen, dass sie im Sinne des Werbungszwecks Publikumsaufmerksamkeit erzeugen und lenken und dass sie das Publikum vom Nutzen des Beworbenen überzeugen wollen. (Medien-)Werbung verspricht dem Rezipienten „immer einen ganz bestimmten Nutzen, verspricht Vorteile oder – dies jedoch deutlich seltener – weist auf eventuell anfallende Opportunitätskosten für den Fall eines Teilnahmeverzichts hin“ (Zurstiege 1998: 105). Die (Medien-)Werbung wendet sich also sozusagen an den praktischen ‚Utilitaristen‘, den ‚homo oeconomicus‘, und mag damit auch dazu beitragen, dessen Mentalität (als Vorteilssucher) zu beund verstärken. In der strategischen Funktions- und d. h. Performanz-Logik der (Medien-)Werbung liegt damit und darüber hinaus auch „das Moment einer positiven Bewertung“ des beworbenen Gegenstands. Er wird „immer auch in einen bestimmten Sinnkontext gestellt, innerhalb dessen er auf die eine oder andere Weise
„eines Rasters meßbarer soziodemographischer und psychographischer Kriterien versucht sich die Werbung ein Bild von ihren Zielgruppen zu machen, um so eine möglichst genaue Ansprache dieser Zielgruppen zu erreichen. (…) Werbung modelliert ihre Kommunikationsangebote im Hinblick auf das vermutete Kaufvolumen, spezifische Besitzmerkmale, die Markentreue oder das Preisverhalten der Rezipienten. Je nachdem, um welche Altersgruppen oder sozialen Schichten es sich handelt, welches Geschlecht die anvisierte Zielgruppe besitzt, welche Motive und Einstellungen, welches Involvement und welche Wertpräferenzen vermutet werden, wird eine andere Kommunikationsstrategie gewählt“ (Zurstiege 1998: 111 f.; Hervorheb. im Orig.).
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positiv bewertet werden kann“ (Krallmann/Scheerer/Strahl 1997: 208). Indem die Werbung versucht, im Dienste ihres Objektes ‚positive‘ Image-Arbeit zu leisten, ihr Objekt durch entsprechend inszenierte Sinnkontextierungen in das ‚beste Licht‘ zu rücken, und zwar in das beste Licht aus der Sicht derer, die beeinflusst werden sollen, bezweckt sie natürlich hauptsächlich eine strategische, zweckdienliche und zielführende Motivierung ihres Publikums. Motiviert werden soll die Annahme (Kauf, Wahl usw.) des beworbenen Objekts dadurch, dass dieses als Repräsentant oder Inbegriff des idealisierten Sinnkontextes oder als eine Art Zugang zu ihm erscheint.548 (Medien-)Werbung ist insofern eine strategisch angelegte ‚idealistische‘ (Fremd-)Objekt-Inszenierung, „aus der alle Vorgänge und Bedeutungen, in denen das Ideal nicht präsent ist, fortgelassen – gewissermaßen aus dem Sichtbargemachten herausredigiert – wurden“ (ebd.: 327). Diesen strategischen (Image-)‚Idealismus‘ hat die Werbung zwar nicht erfunden, sie bringt ihn aber in ihren (Medien-) Kulturprodukten in reinster Form zur Geltung, ja sie zelebriert ihn, und sie verstärkt und generalisiert ihn auch jenseits ihrer Sphäre. Geradezu paradigmatisch steht die Werbung für das traditionelle strategische Handlungsprinzip (Klugheitsprinzip) des Idealscheinens, in dem das Ideal selbst tatsächlich (immer wieder neu) zur Geltung gebracht und bestätigt wird.
8.3.10.2.3 Werbung als (Lebens-)‚Philosophie‘ und Mentalität strategischen Handelns
Mit allem, was sie darstellt, als Kultur ihres Feldes darstellt549 und an kulturindustriellen (Medien-)Produkten hervorbringt, repräsentiert und propagiert die Werbung auch ein (lebens-)praktisches Wissen, eine (Lebens-)‚Philosophie‘ und eine Mentalität des strategischen Handelns. Mehr und gesellschaftlich weiter denn je wirkt und fungiert sie heute in diesem Sinne als eine Art Deutungs- und Orientierungsmuster, auch als strategisches Handlungsmodell/Klugheitsmodell, an des-
548 Goffman beschreibt dieses strategische Operationsprinzip im Hinblick auf Reklamebilder so: „Die Aufgabe des Reklame-Designers besteht im großen und ganzen darin, den Betrachter für sein Produkt einzunehmen, und das heißt, dieses von seiner vorteilhaften Seite, im Kontext strahlender Ereignisse zu zeigen. Dabei wird unterstellt, daß wir, indem wir das eine kaufen, den anderen näher kommen – und daß wir dies wünschen sollen. Meist sehen wir eine junge Klasse-Frau im Bild, die dem Produkt Bewunderung zollt und ihm ihren eigenen, bewundernswerten Appeal verleiht – ganz gleich, ob es sich bei diesem Produkt um Bohnerbesen, Insektizide, Rollstühle, Dachplatten, Kreditkarten, Vakuumpumpen oder Jumbo-Jets handelt“ (Goffman 1981b: 114). 549 Zum Beispiel mit dem Image der Werbung oder des ‚Werbefachmanns‘.
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sen Prinzipien550 man sich orientieren kann und offenbar zunehmend glaubt, sich orientieren zu sollen oder zu müssen. Man erlebt, dass und wie Werbung überall operiert und funktioniert und kann sie als ein (Muster-)‚Beispiel‘ betrachten und sich an ihr ein Beispiel (oder Beispiele) nehmen. Werbung ist m. a. W. auch ein Titel für ein mehr oder weniger intuitives (Lebens-)‚Rezeptwissen‘ jedermanns geworden, das permanent medial (re-)generiert und gespiegelt wird. Sie hat sich nicht nur durch ihre ‚Botschaften‘, sondern auch als solche, durch die Prinzipien ihres Funktionierens, in das Zentrum der gesellschaftlichen Kosmologie, und d. h. in das ‚Weltbild‘ der verschiedensten Akteure und Akteurtypen, eingeschrieben. Von gesellschaftlich zentraler oder mittlerweile größter Bedeutung sind in diesem Zusammenhang neben und mit Individuen und Gruppen Organisationen, die heutzutage nicht nur die wichtigsten Nachfrager und Auftraggeber (und damit auch Impulsgeber) von Werbung sind, sondern sich auch selbst mit besonderer Konsequenz an (den) Prinzipien der Werbung ausrichten – mit Implikationen und Folgen sowohl für ihre Struktur und Kultur als auch für ihre individuellen Mitglieder und deren – nicht zuletzt strategisches – Handeln. Auch auf der Ebene der Organisationen ist Werbung längst nicht mehr nur ein Mittel der ‚Selbstdarstellung‘ und der Verfolgung konkreter (Organisations-)Ziele, sondern auch ein viel tiefer gehendes, ‚Identität‘ betreffendes und konstituierendes Wissen bzw. ein Glaubensprinzip und Handlungsprogramm. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Kontext die als ‚Philosophie‘ vertretene und als ‚Politik‘ verfolgte strategische Selbstthematisierung und Selbstinszenierung von Organisationen, die mit dem Begriff der Corporate Identity belegt ist. Sie hat im Grunde viel mit Werbung zu tun, und sie kann als strategisch geplante und operativ eingesetzte Image-Realität und ImageArbeit im Kern für eine Art Werbung gehalten werden. ‚Sein‘ und (strategischer) ‚Schein‘ gehen dabei auf allen Ebenen bis hin zur Produktion und Vermarktung von Produkten ineinander über.551 Weil Image (Corporate Identity) – auch – für Organisationen ein strategisches, strategisch entscheidendes (symbolisches) ‚Gut‘ geworden ist und als solches praktisch immer wichtiger wird, müssen die diesbezüglichen Bemühungen von Organisationen (Beobachtungen, Reflexionen, Konstruktionen, Inszenierungen, Performanzen) gerade unter den gegebenen sozialen Figurationsbedingungen (s. o.) immer massiver, intensiver und im Streben nach einschlägiger Rationalität effizienter werden. Das betrifft auch das Handeln und 550 Wie gesagt: Imagebildung, Inszenierung, Dramatisierung, Idealisierung, Ästhetisierung/‚schöner Schein‘, Verlockung usw. 551 So verkauft ein Unternehmen „nicht nur ein Produkt, sondern auch seinen Namen und sein Image, mit dem sich die Käufer identifizieren, aus der Anonymität herausheben und persönlich auszeichnen sollen“ (Keller 2000: 88 f.).
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die Handlungs- und Lebensführung von Organisationsmitgliedern, die damit unter einen spezifischen und verschärften (Selbst-)Disziplinierungsdruck/Zivilisierungsdruck geraten. Organisationsmitglieder bzw. deren Verhalten werden zunehmend zu Bedingungen, Ressourcen und Problemen der strategischen Images und Image-Arbeiten von Organisationen, die damit ihrerseits, mit ihrer Image-Logik, zu spezifischen Randbedingungen des eigensinnigen und eigennützigen strategischen Handelns ihrer Mitglieder werden. Image bzw. das (strategische) Werben um, für und gegen Images wurde und wird also auf allen sozialen Akteur- und Figurationsebenen in immer mehr Varianten zur sozialen und existentiellen Schlüsselfrage, zum entscheidenden und unterscheidenden Faktor in sich verschärfenden Konkurrenzen um knappe und knapper werdende Ressourcen, von denen viel oder alles abhängt: Aufmerksamkeit, Sympathie, Intimität, Gefolgschaft, Autorität, Macht etc. Images und (werbliche) Image-Arbeiten werden damit auch zu zentralen theoretisch-empirischen Themen der Figurationssoziologie strategischen Handelns.
8.3.11 Entwicklungen und Dispositionen des Wissens und der Mentalität
Schon die bisherigen Überlegungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Realitäten des strategischen Handelns auf allen Ebenen mit mannigfaltigen Formen des (sozialen) Wissens und damit des (sozialen) Sinns zu tun haben, die auf Wissens- und Sinn-(entwicklungs-)geschichten und zugleich auf ‚Sozial-(struktur-) geschichten‘ verweisen. In und ‚hinter‘ strategischer Praxis stecken auch gleichsam Wissens- und Sinnformen, mit deren Entwicklung und Wandlung sich alle Aspekte und das soziale Gewicht dieser Praxis verändern. In der Richtung dieser Feststellungen gilt es weiter zu gehen und in dem dargelegten programmatischen Sinn weiter zu arbeiten. Entscheidend ist dabei, dass die Figurations(wissens)soziologie zum einen das ganze Spektrum der einschlägig relevanten und (weil) zusammenhängenden Wissensformen erfasst – vom Habitus- oder Gewohnheitswissen (z. B. dem intuitiven Gespür der Klugheit) bis zum kanonisierten Diskurswissen (z. B. dem der Klugheitslehren oder der ‚Beratung‘) – und zum anderen diese Wissensformen als Momente von sozialer/strategischer Praxis und in ihren Zusammenhängen mit sozialen/strategischen Praxisformen, Figurationen und Figurationsprozessen entwirft. Es geht hier also um ein figurationssoziologisches Verständnis von strategischem Handeln als einem Wissens- und Sinngeschehen bzw. um Wissens- und Sinnbedingungen strategischen Handelns.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
Die Figurations(wissens)soziologie betrachtet entsprechend relevante Wissensgebilde/Sinngebilde (wie z. B. utilitaristische Deutungsmuster) im Rahmen ihrer prinzipiellen Theorieanlage als historisch gewordene und veränderliche, gesellschaftlichen Strukturentwicklungen korrespondierende, aber auch aktuell relativ autonome Tatsachen, die strategische Praxis und Praxis/Handeln überhaupt bedingen, konstituieren und einbetten, wie sie auch selbst bedingt, konstituiert und eingebettet sind. Strategische Praxis/Handeln wird in diesem Sinne und insofern als Funktion, Konstrukt und Konstruktion von Wissen und Sinn systematisch relationiert und relativiert. In ihrer Gebundenheit an und Bestimmtheit durch Wissen und Sinn wird diese Praxis/Handeln aber eben nicht (wie etwa bei Goffman) formalisiert oder auf einzelne Zusammenhänge zwischen Wissen/Sinn einerseits und Praxis/Handeln andererseits verkürzt, sondern im Gegenteil auf historischkonkrete Figurationen/Felder mit entsprechenden Habitusformen (rück-)bezogen. Damit geht es in einem strukturalen/synchronen und einem historisch-prozessualen/diachronen Sinne um Figurationen als Kontexte.
8.3.11.1 Figurationsformen, Wissensformen und strategisches Handeln
Figurationen bzw. Felder sozialer Praxis bilden immer auch (figurationale) Gesamtzusammenhänge von diversen Wissens- und Sinnformen, die alle Aspekte strategischer Handlungsrationalität und praktischer Handlungsführung betreffen. Exemplarisch ist diesbezüglich wiederum die als Feld zu betrachtende ‚höfische Gesellschaft‘, wie sie oben bereits ansatzweise vorgeführt wurde. Diese ‚Gesellschaft‘ erscheint ja gerade auch als ein spezifisch strategisch relevantes bzw. hauptsächlich strategisches Praxis-, Wissens- und Sinnfeld, in dem alle Aspekte entsprechender Praxis wurzeln und einen auch habituellen/mentalen Zusammenhang bilden. Man denke etwa an das spezifisch utilitaristische Welt- und Menschen-Bild des Höflings, seine moralisch-symbolischen Kapitalorientierungen, seine ‚psychologischen‘ Beobachtungskompetenzen552, seine Kenntnis des strategischen (Feld-)Terrains und überhaupt seine ganze durch und durch realistische, 552 Elias beschreibt den Höfling ja gleichsam als praktischen Psychologen oder Sozialpsychologen, der seine relevanten ‚Umwelten‘ und sich selbst den figurationsspezifischen Beziehungs- und Habitusbedingungen entsprechend zu lesen und zu behandeln gelernt hat. Diese Art von Lesefähigkeit, die sich gleichzeitig und gleichermaßen auf die soziale Beziehungsebene und auf die Ebene der Binnenzustände/Emotionen des Bewusstseins erstreckt, erscheint als eine fundamentale Voraussetzung und Ressource des – strategischen – Handelns. Sie bildet, erweist und bewährt sich sozusagen in der und an der Empirie der Praxis und d. h. in der Konkurrenz und im Kampf.
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den Beziehungs- und Habitus-Realitäten der höfischen Figuration entsprechende Haltung. Die Logik und Rationalität dieser Figuration bildete sich also gewissermaßen auf der (Habitus-)Logik und – auch strategischen – Rationalität des Höflings ab. Der Höfling (als idealtypische Figur) war im Rahmen und durch den Rahmen seiner Praxis-Figuration und Figurations-Praxis ein Stratege par excellence, aber er war dies eben (nur) im Rahmen seiner Figuration (seines Feldes), durch seine Figuration und nach Maßgabe seiner Figuration sowie durch seinen entsprechenden Habitus – durch einen historisch gewordenen sozialen (Wissens-, Sinn-)Tatsachenzusammenhang, der die strategischen Spiele, Spieler und Spielverläufe konkretisiert und spezifiziert hat. Das (Figurations-)Wissen des Hofes und des Höflings – im allgemeinsten wissenssoziologischen Sinne des Wortes – erscheint hier also als ein zweiseitiges figurationsspezifisches Wissen: zum einen als sozusagen entfaltetes, operatives und kursierendes (Praxis-, Prozess-)Wissen, das jeweils und immer wieder als ein Spektrum von Informationen und Informationstypen (z. B. Geheimnissen) auch strategisch auf dem Spiel stand, gespielt wurde und sich im Laufe der jeweiligen Spiele änderte, und zum anderen und zugleich als allgemeines ‚Hintergrundwissen‘ bzw. als Bedingung oder Ladung auch strategischen Handelns553 – ein Wissen, das sich, wenn auch relativ langsam, gleichfalls entwickelte und wandelte. Im Sinne dieses figurations(wissens)soziologischen ‚Musterbeispiels‘ sind im Prinzip alle historischen Realitäten des strategischen Handelns in ihren Wissensund Sinnaspekten radikal zu kontextualisieren, d. h. auf sozusagen natürliche (soziale) Figurationen/Felder und auf Zusammenhänge zwischen solchen Figurationen und Habitus zu projizieren, und in diesem Sinne sind sie auch konzeptuell und theoretisch zu fassen: Wissen/Sinn erscheint dabei zwar als aktuell relativ autonom und in dieser Form praxis- und handlungsrelevant (bzw. -konstitutiv), aber es erscheint auch als ein komplexer Zusammenhang (von Zusammenhängen) und systematisch von sozialen/sozialstrukturellen Kontexten abhängig, als figurations- (feld-) und habitusabhängig. Nicht nur auf der Ebene einzelner Figurationen bzw. Felder, sondern auch darüber hinaus auf der Ebene der Gesellschaft (Gesellschaftsfiguration) kommt es aus dieser Sicht und in diesem Sinne darauf an, strategisches Handeln und strategische Handlungsrationalität immer auch auf Wissen/Sinn zu beziehen und neben 553 Auf die zentrale, aber auch in jeder Hinsicht historisch und figurational relative Rolle, die die Wissensform der Klugheit in diesem Zusammenhang spielt, bin ich oben bereits ausführlicher eingegangen. Klugheit wurde sozusagen als praktische Theorie strategischen Handelns verstanden – als Theorie, die dieses Handeln nicht nur entwirft und ‚rationalisiert‘, sondern auch bedingt und hervorrufen kann.
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direkt einschlägigen Wissensformen (wie z. B. Klugheitswissen) Typen von Wissen einzubeziehen, die in diesem Zusammenhang scheinbar eher indirekt und im Hintergrund von Bedeutung sind: bestimmte ‚ideelle‘ Konstrukte, (Alltags-)Deutungsmuster, ‚Lebensphilosophien‘, Ideologien, ‚gepflegte Semantiken‘ und (also) mentale/habituelle Dispositionen, die ihrerseits in besonderer Weise strategisches Handeln bedingen, motivieren und strukturieren oder auch hemmen, einschränken oder ausschließen. Es gilt insbesondere, historische Anschauungen bis hin zu ‚Weltbildern‘ zu betrachten, die das (fremde und eigene) Handeln (und damit auch das ‚Selbst‘) in diesem Sinne unter spezifisch implikations- und folgenreiche SinnVorzeichen stellen, die die (strategische) Handlungsmotivation, die Handlungsführung und das wechselseitige (Sich-)Behandeln der (strategischen) Akteure betreffen oder rahmen. Blickt man unter diesen – figurations(wissens)soziologischen – Vorzeichen und mit diesem Fokus auf die moderne Gesellschaft bzw. die ‚Gegenwartsgesellschaft‘, dann zeigt sich ein breites Spektrum unterschiedlich profilierter und strukturierter Wissensformen, Wissenskomplexe und (damit) Sinnzusammenhänge, die von mehr oder weniger großer Bedeutung für die hier thematischen Realitäten und Theorie(bildungs)fragen sind. Als einen spezifisch bedeutsamen Komplex kann man z. B. und insbesondere ökonomistische/utilitaristische Deutungsmuster, Ideologien, ‚Welt-‘ und ‚Lebensphilosophien‘ betrachten, die sich in dieser (unserer) Gesellschaft offenbar besonders verbreitet und durchgesetzt haben. Die Bandbreite der hier gemeinten Ideen, Perspektiven und Interpretationsneigungen reicht von (alltags-)‚anthropologischen‘ Vorstellungen und Unterstellungen von Eigennützigkeit oder Egoismus über entsprechende (Selbst-)Rechtfertigungstheorien bis zu der generalisierten „Zumutung von bösen Absichten oder Motiven bei anderen“, die Gehlen (mit Bezug auf Huizinga) unter dem Titel „Puerilismus“ (Gehlen 1957: 66)554 abhandelt. Zu dem hier relevanten Wissens-/Sinnhintergrund gehören auch eine heutzutage offenbar weitestgehend generalisierte radikale (a-)soziale Erfolgsphilosophie/Erfolgsmentalität (vgl. Neckel 2008), eine ebenso verallgemeinerte hedonistische/konsumistische Vision des „schönen Lebens“ (vgl. Schulze
554 Man findet die damit gemeinte Art von Vorstellung, Einstellung und Unterstellung heutzutage überall, z. B. in alltäglichen und journalistischen Diskursen oder auch in der Politik und im Publikumsbezug auf Politiker. Ihnen unterstellt ‚man‘ besonders gern böse Absichten oder Motive, insbesondere Egoismus und Eigennutz im Mantel unaufrichtiger Selbstdarstellungen. Entsprechend beliebt sind diesbezügliche journalistische ‚Entlarvungen‘, die das eigentlich immer schon Gewusste in ein bestätigendes Erlebnis und das Erlebnis der Bestätigung überführen.
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1997)555 sowie (damit) individualistische oder „narzißtische“ (Lasch 1986) Deutungsmuster556. Alle diese Wissensformen, die für die ‚gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ heute wohl mehr denn je maßgeblich sind, plausibilisieren und legitimieren, begünstigen oder motivieren Formen oder Stile des Handelns, insbesondere auch des strategischen bzw. eigennützigen Handelns.557 Gleichzeitig (und auf einer anderen Ebene) vermehren und vervielfältigen sich unter modernen (‚Gegenwartsgesellschafts-‘)Bedingungen bestimmte Bestände reflexiven Spezialwissens und sind hier von – zunehmender – praktischer Bedeutung, indem sie in immer mehr Praxis- und Daseinsbereichen über (strategisch) erfolgsrelevante Handlungsumstände informieren und (strategisch) rationales Handeln nahelegen und anleiten. Wie gesagt, expandieren (und differenzieren sich) schon seit langem die Bereiche der Beratung/‚Ratgeber‘ und der Schulung (‚Coaching‘, ‚Training‘ etc.), die ihren Rezipienten/Nutzern nicht nur ‚praktische Informationen‘, sondern auch strategische Denk- und Handlungsmuster oder sogar Denk- und Handlungsstile mitgeben, empfehlen oder vermitteln. Alle diese Wissenseinrichtungen und Wissensgebilde, seien sie eher intuitiver oder eher reflexiver Art, generieren oder beeinflussen jeweils in systematischer Weise positive Verständnisse davon, wie man ‚vernünftigerweise‘ handeln bzw. sein Handeln oder sogar sein Leben ‚führen‘ sollte und wie man von Anderen (Mitund Gegenspielern) voraussichtlich erlebt und behandelt (werden) wird und sich also einstellen muss. So oder so können oder müssen diese Wissensgebilde für den derart instruierten (und glaubenden) Akteur schließlich darauf hinauslaufen, bestimmte strategische Standpunkte oder einen strategischen Standpunkt zu beziehen, das eigene Handeln/Leben unter entsprechenden (kosmologischen) SinnBlickwinkeln strategisch zu rationalisieren, bestimmte Handlungsstrategien zu wählen und zu verfolgen.
555 Diese Vision steht in gewisser Weise in der Tradition des Freud’schen ‚Lustprinzips‘. Das Prinzip des ‚schönen Lebens‘ ist gleichsam dessen zivilisatorisch sublimierte Form, die diverse ‚Lüste‘ kontrollieren, kultivieren und mit dem Endziel existenzumfassender Befriedigung und existenzumfassenden Glücks – als dem denkbar größten ‚Eigennutzen‘ – systematisch herbeiführen soll. Die dem entsprechende „Erlebnisrationalität“ (Schulze) hat auch eine strategische Seite bzw. einen strategischen Charakter. 556 Auf die einschlägige Bedeutung individualistischer Vorstellungen wie die Idee der ‚Selbstverwirklichung‘ hatte ich bereits hingewiesen. 557 Daneben gibt es natürlich auch Wissensformen mit umgekehrten Sinn- und Wertvorzeichen, die in diesem Zusammenhang auf entsprechende (umgekehrte) Weise direkt handlungswirksam sind oder sein können: z. B. religiöse, humanistische und psychologisch-therapeutische Deutungsmuster, Glaubenssätze, Weisheiten und Weisheitslehren, die statt Eigennutz Fremdnutz, statt strategischer Rationalität Emotionalität, statt Individualismus Kollektivismus postulieren.
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Dieser (positiven) Seite von Wissen und Wissensentwicklung korrespondiert – mit ähnlichen Implikationen und Folgen – eine negative, nämlich die Seite eines geschwundenen oder verschwundenen Wissens, Glaubens und ‚Bewusstseins‘. Das Schwinden religiöser (christlicher) Sinngebung, Sinn- und Sozialbindung und damit einhergehend das Schwinden traditionaler Gemeinschaftlichkeiten und Solidaritäten (von der Familie über den Verein bis zur Nation) dürfte in diesem Zusammenhang (jedenfalls im Bezugsrahmen der ‚westlichen Zivilisation‘) von größter Bedeutung sein. War es in der religiös geprägten Gesellschaft (der Vergangenheit) in gewisser Weise strategisch rational, sich nicht – in einem heutigen Sinne – strategisch rational, nämlich selbstorientiert, egoistisch, ‚selbstsüchtig‘, zu verhalten, so lässt der Religionsverlust am Ende tendenziell nur noch ein moralisch ‚emanzipiertes‘ (jedenfalls stark flexibilisiertes) ‚Ich‘ mit sich selbst und seinen Diesseits- und Ego-Paradiesvorstellungen zurück. Es ist strategisch handlungsfreier, z. B. in puncto Rücksicht (Rücksichtslosigkeit/Ellenbogenmentalität) und Lüge, als seine Vorgänger, aber es gerät auch stärker unter (strategischen) Handlungsdruck und wird handlungsgezwungener. Mit der Religion entfallen ja nicht nur das ‚göttliche Strafgericht‘ und der ‚göttliche Panoptismus‘, sondern auch die Hoffnung auf jenseitige Honorierung und Kompensation, so dass es auch deswegen naheliegt, im ‚Diesseits‘, hier und jetzt und in der ganzen Spanne des Lebens, möglichst – strategisch – rational zu handeln und im Sinne einer optimierten Glücks-/Erfolgsbilanz zu operieren, zu kalkulieren und zu wirtschaften. Wie der religiöse Sinn-, Orientierungs- und Bindungsverlust (und zusammen mit ihm) bedeutet auch der traditionale Gruppen- und Gemeinschaftsverlust (mitsamt dem Verlust von traditionaler Gemeinschaftssemantik – vom Familialismus bis zum Nationalismus) eine Befreiung des strategischen Denkens und Handelns und eine Verschiebung vom „Wir zum Ich“ (Elias, s. o.). Auch diese Entwicklung stattet das ‚Ich‘ mit erweiterten strategischen Handlungsfreiheiten aus und setzt es zugleich unter (einen) erhöhten strategischen Handlungsdruck ‚in eigener (individualisierter) Sache‘. Je weniger man ‚die anderen‘ braucht und zu fürchten braucht (oder glaubt, sie zu brauchen oder fürchten zu müssen), desto weniger muss man Rücksicht auf sie nehmen, desto weniger kann man aber auch mit ihrer Unterstützung und Solidarität rechnen, so dass sich auch in diesem Zusammenhang eine wachsende (strategische) Handlungsfreiheit mit einem wachsenden strategischen Handlungszwang (im Dienst von ‚Selbstsorge‘) verbindet. Zwar gibt es auch neue Formen von (Freizeit-)Gemeinschaft und (Freizeit-)Vergemeinschaftung, aber sofern sie denn überhaupt inkludieren, erwirken und erfordern die neuen ‚posttraditionalen (Freizeit-)Gemeinschaften‘ auch ein neues strategisches ‚Bewusstsein‘, Denken und Wissen. Man kann sich auf solche – mehr oder weniger ‚lockeren‘,
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relativ wenig integrierten – ‚Gemeinschaften‘ nicht (mehr) einfach (unreflektiert) einlassen, und erst recht kann man sich nicht mehr auf sie verlassen und sich ihnen einfach (unreflektiert) überlassen und dauerhaft in ihnen ‚aufgehen‘. Vielmehr gilt es in diesem Rahmen (mit habituellen/mentalen Implikationen und Folgen), eine relativ distanzierte (nur begrenzt engagierte) Position zu beziehen und primär nach Maßgabe eigener Interessen und im eigenen Interesse strategisch zu handeln: vor dem Hintergrund individueller und individualisierter Bedingungen (strategisch) zu beobachten, ein- und abzuschätzen, zu berechnen, zu planen, zu inszenieren, zu performieren.
8.3.11.2 Figurationsprozesse, Wissensprozesse und strategisches Handeln
Aus figurations(wissens)soziologischer Sicht kommt es also darauf an, das ‚praktische (Welt-, Selbst-)Bewusstsein‘ und die Wissens- und Sinnzusammenhänge, um die es hier geht, auf (Praxis-)Figurationen bzw. differentielle Figurationstypen zu beziehen und sie historisch-prozesssoziologisch zu rekonstruieren. Es geht damit letztlich wiederum um langfristige historische Figurationsprozesse im Sinne des Zusammenhangs von Soziogenese und Psychogenese, mit dem die ‚Dimension‘ des Wissens/Sinns in entsprechender, entsprechend relationierter und relativierter Weise ins Spiel kommt und damit auch Licht auf die Realitäten des strategischen Denkens (‚Bewusstseins‘) und Handelns wirft. (Auch) Auf der Ebene des gesellschaftlichen Figurationsprozesses (bis hin zur ‚Gegenwartsgesellschaft‘) sind damit hauptsächlich parallelläufige und gegenläufige (Figurations-)Strukturentwicklungen bzw. Strukturwandlungen gemeint, nämlich Prozesse sozialer Integration (Verflechtung, Verkettung, Vernetzung)558 einerseits und Prozesse sozialer Desintegration (Entbindung, Freisetzung, Entinstitutionalisierung)559 andererseits. Diese Prozesse erscheinen hier als doppelt zentral: zum einen sind sie als solche und jeder für sich implikations- und folgenreich für die Realitäten des strategischen Handelns, die in je besonderen Hinsichten und Weisen sowohl von Integrations- als auch von Desintegrationsprozessen angefordert, begünstigt und geprägt werden. Zum anderen und zugleich erscheint diese Prozess-Dialektik der 558 Sie stehen bei Elias vor allem in der frühen Zivilisationstheorie („Über den Prozeß der Zivilisation“/„Höfische Gesellschaft“) im Vordergrund. 559 Elias widmet sich diesen Prozessen vor allem in seiner über das Gesamtwerk entwickelten Version der Individualisierungstheorie (vgl. Elias 1999). Man kann in Teilen dieser Version auch eine gewisse Akzentverschiebung seiner Theorieentwicklung sehen – hin zu einer Theorie der Moderne bzw. der jüngeren Moderne.
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Soziogenese auch gleichsam als Hinter- und Untergrund der Entwicklung von Wissens- und Sinnformen bzw. mentalen Strukturen, die wiederum in dem hier thematischen Kontext des strategischen Denkens und Handelns von besonderer, ja größter Bedeutung sind. Die Figurations(wissens)soziologie kann diesbezüglich durch Überlegungen Gehlens komplementiert werden, die die Kulturbedeutungen gesellschaftlicher bzw. sozialstruktureller Desintegrationsprozesse ins Zentrum rücken – gerade auch mit (wissenssoziologischem) Gewinn im Blick auf die Fragen der Wissensund Sinnbezüge strategischen Handelns und strategischer Handlungsrationalität/ Handlungsrationalisierung. Gehlen klärt und erklärt mit seinen historisch-struktursoziologischen Mitteln z. B. den Hintergrund, den Mutter- und Resonanzboden eines hier relevanten, ja besonders relevanten Deutungsmusters. Er reflektiert nämlich den in gewisser Weise ökonomistischen „Fundamentalsatz nicht nur der Psychoanalyse, sondern der gesamten entlarvenden Psychologie (…), daß der Mensch letzten Endes so, wie er es tut, handelt, um Lust zu erreichen und Unlust zu vermeiden“ (1957: 100). Es ist signifikant und aufschlussreich, dass man die diesbezüglichen Überlegungen Gehlens, sowohl was die thematisierte anthropologische Semantik als auch was ihren gesellschaftlichen (gesellschaftsgeschichtlichen) Hintergrund und Effekt betrifft, im Prinzip ebenso für jene Psychologie wie für (alltags-)praktische und wissenschaftliche Deutungsmuster von der Art der ‚Rational-Choice-Theorien‘ gültig finden kann. Bezogen auf den besagten Fundamentalsatz des „Lustprinzips“ kommt Gehlen zu dem in diesen Hinsichten bedeutsamen Schluss: „Sobald die Desintegration der Gesellschaft so weit fortgeschritten ist, daß man das Verhalten der Menschen nicht mehr aus ihrer sozialen Funktion heraus selbstverständlich findet, man also den einzelnen nur aus Absichten in eigener Sache versteht, und sobald parallel mit der gleichen Desintegration das gegenseitige Misstrauen die Beobachtung schärft, muß man auf diese Auslegung geraten, nach der ein Zweck, und zwar ein egozentrischer Zweck, der letzte Sinn jedes Handelns ist“ (ebd.; Hervorheb. im Orig.).560 Und im selben Zu560 Die insofern gegebene deutungslogische und mentale Verwandtschaft von rationalistischen/ökonomistischen/utilitaristischen Handlungstheorien (‚Rational-Choice‘-Ansätzen) und Freud’scher Psychoanalyse (der Theorie der ‚irrationalen Wahl‘) ist meines Wissens bislang kaum gesehen und beachtet worden. Sie wird durch die oberflächliche Gegensätzlichkeit der Inhalte dieser Ansätze – die rationalistische (RC-)Behauptung, dass sich die Realisierung von Handlungszielen an egoistischen Interessenkalkülen orientiert, einerseits und die scheinbar gegenteilige (Psychoanalyse-)Behauptung einer praktischen Dominanz von ‚Irrationalität‘ andererseits – verdeckt. Man kann auch vermuten, dass die Psychoanalyse, die ja einen erheblichen Einfluss auf die Genese der Weltanschauung und Mentalität des ‚westlichen‘ jedermann gehabt hat und hat, nicht nur ein Korrelat und ein Verwandter, sondern auch ein Mutter- und Resonanzboden von lebensprakti-
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sammenhang heißt es weiter: „Die Beziehungen der Menschen versachlichen objektiv“, und zwar derart, dass die „rationale Einstellung gegeneinander freigesetzt (wird): die ganze Gesellschaft holt sozusagen geschichtlich die von wenigen einsamen Denkern schon lange vorgedachte experimentelle und distanzierte Einstellung zum Anderen ein“ (ebd.: 102). Mit diesen Überlegungen deutet sich – wiederum – eine spezifisch aufschlussreiche Verwandtschaft und Komplementarität zwischen den Ansätzen und (Zivilisations-)Theorien von Gehlen und Elias an. Es zeigt sich die systematische Möglichkeit, die Realitäten strategischen Handelns zugleich mit langfristigen gesellschaftlichen Strukturentwicklungen/Strukturwandlungen in Verbindung zu bringen und in übergeordnete, jenen Strukturentwicklungen korrespondierende oder mit ihnen verknüpfte ideen- und mentalitätsgeschichtliche Kontexte zu stellen – wobei oberflächlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungs- und Mentalitätsmuster als strukturähnlich und effektähnlich erkennbar werden. Gehlen direkt folgend und auf Elias blickend, könnte man hier den summarischen Schluss ziehen, dass die Mentalität und die Praxis des strategischen Handelns dem „Zeitalter“ unter- und eingeordnet ist, das er das „technische“ genannt hat. Das soziologische Verständnis und die Begrifflichkeit strategischer Rationalität und strategischen Handelns inkludieren mit dieser Deutung die Ebenen der utilitären ‚Selbstsorge‘, der strategischen Interaktion, der Konkurrrenz und des Kampfes (zwischen Personen, Gruppen, Organisationen etc.), gehen aber noch weit darüber hinaus. Diese Ebenen erscheinen nur noch als Bereiche oder Varianten gesamtschen wie sozialwissenschaftlichen Rationalismen/Ökonomismen (‚Rational-Choice-Ansätzen‘) war und ist. Nicht zuletzt mag in diesem Zusammenhang die psychoanalytische Anthropologie/ ‚Persönlichkeitstheorie‘ eine Rolle spielen, die das Selbstverhältnis des Individuums als eine Art strategische Interaktion, nämlich als eine letztlich ökonomisch – ‚triebökonomisch‘ – fundierte Selbsttäuschung, vorstellt. Diese psychologische Sinnkonstruktion bereitet einem ökonomistischutilitaristischen Denken insofern den Boden oder bricht ihm Bahn, als „man sich nicht selbst mit der Vorstellung von jenen Mechanismen und Komplexen identifizieren kann, sobald man verantwortlich handeln will. Denn man kann sich unmöglich, wenn man sich als Person konstituieren soll, selber als Opfer einer Selbsttäuschung verstehen, in dem ‚eigentlich‘ etwas ganz anderes vorgeht, wofür diese Selbsttäuschung zweckmäßig ist. Und endlich, diese Theorien werden nicht Leitbilder unseres unmittelbaren gesellschaftlichen Handelns werden können, von ihnen aus kann kein Bild der sozialen Ordnung entworfen werden und, wenn man dies für eine Überforderung hält, auch keine Vorstellung von menschlichen Zusammenhängen, wie sie sein sollten. Wer den Anderen nicht beobachten oder kurieren oder behandeln will, sondern ihn in irgendeinem Sinn für eine Sache gewinnen, findet keine brauchbare Denkhilfe“ (Gehlen 1957: 102 f.). Vor dem Hintergrund dieser Argumentationsfigur könnte man auch von einer gewissen sinnbedingten und sinninduzierten (oder semantikinduzierten) Ent-Wirklichung, Ent-Wertung und De-Moralisierung sprechen, die die besagten strategischen Orientierungen, Deutungsmuster und mentalen Dispositionen systematisch begünstigt.
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Soziologische Figurationstheorie als Kontext und im Kontext einer synthetischen Soziologie
gesellschaftlich generalisierter technischer – und d. h. zivilisatorischer – Prinzipien, die sich mit zunehmender Beschleunigung561 in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bis hin zu einem hegemonialen Status verstärkt haben. Man beachte diesbezüglich, was Gehlen schon vor gut 60 Jahren bemerkte: „So kann man heute geradezu technische Prinzipien benennen, die sich auch in den sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen vollständig durchgesetzt haben. Das ‚Prinzip der vollen Beanspruchung‘, der Ausschaltung des Leerlaufes, toter Gewichte und ungenutzter Energien ist zu einem Grundsatz geworden, nach dem in jedem arbeitsteiligen Betrieb Arbeitskräfte disponiert werden. (…) das Prinzip der ‚Konzentration auf den Effekt‘ hingegen hat vielleicht die allerbreiteste Anwendung, von der gezielten chemischen Therapie der Ärzte bis zur wohlüberlegten Propagandaformel. Denn über die Menschen des technischen Zeitalters hat der Gedanke des optimalen Effekts eine ganz zwingende Gewalt: wird mit den sparsamsten Mitteln eine genau umschriebene, aber durchschlagende Wirkung erreicht, so ist unsere Befriedigung groß; tritt aber eine solche Wirkung, nachdem man sie ‚angelassen‘ hat, von selbst ein, so ist sie endgültig. Eine in diesem Sinne gut gemachte Propaganda z. B. soll die Menschen automatisch beeinflussen, sie unterscheidet sich also (…) von anderen Formen des Zwanges dadurch, daß sie lenkt, ohne Widerstand auszulösen.“ (Gehlen 1957: 36 f.)
Mit solchen theoretisch-empirischen Argumenten erscheint Gehlen – und damit steht er im Grunde an der Seite von Elias – das „weitverbreitete Urteil zweifelhaft, das dieser unserer Kultur einen ‚Stil‘ abspricht“ (ebd.: 37). Auch und gerade die weitere historische Entwicklung seit Gehlens Ausführungen (aus der unmittelbaren Nachkriegszeit) spricht in vielen Punkten stark für seine Diagnose eines epochalen sozio-kulturellen Stils, der sich in vielen Seiten und Varianten zeigt und heutzutage mit Begriffen wie McDonaldisierung, Normalismus, Verwerblichung, Corporate Identity oder Imagearbeit thematisiert wird. Das ‚technische Zeitalter‘ erscheint damit auch in einem allgemeinen und vielfältigen Sinne als strategisches Zeitalter, das tendenziell alle Akteure, alle Figurationstypen und alle Sphären und (Daseins-)Belange562 umfasst. Allerdings geht es hier um eine dynamische Ent561 Nicht zuletzt im Zuge des soziale Integrations- und Desintegrationsprozesse verbindenden Aufstiegs der ‚Netzwerkgesellschaft‘ (s. o.), der technisches bzw. strategisches Handeln und die entsprechende Mentalität in eigener Weise forciert und dynamisiert hat. Mit der ‚Netzwerkgesellschaft‘ ist natürlich auch die Genese und Wandlung strategischer Wissensformen verbunden, die entsprechende Handlungsformen auf- und hervorrufen. 562 Körper/Gesundheit, Fitness, Ernährung, Intimität, Sexualität, Geselligkeit, Erlebniskonsum, Kindererziehung, berufliches Auftreten, ‚Selbstbewusstsein‘ etc.
Strategisches Handeln, (Konkurrenz-)Kampf und Macht
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wicklung: Das technische Zeitalter hat sich entwickelt und entwickelt sich, und auch die strategische Rationalisierung schreitet voran – auf allen Ebenen und nicht zuletzt im Feld der ‚zwischenmenschlichen‘ Beziehungen. Mit seinen historisch-zeitdiagnostischen (epochendiagnostischen) Beschreibungen, mit seiner Mentalitäts- und Rationalisierungstheorie, die wie die Elias’sche wesentlich eine Habitustheorie ist, und überhaupt mit seiner historischen ‚Anthropologie‘563 liefert Gehlen nicht nur in diesem Zusammenhang wichtige und daher in den geplanten Untersuchungen genauer zu betrachtende ‚Parallelaktionen‘ und zugleich Komplemente zur Figurationssoziologie und insbesondere zur Zivilisationstheorie. Wie diese Soziologie ist auch die von Gehlen auf Kultur/Wissen fokussiert, aber sie ist nicht kulturalistisch, kognitivistisch oder konstruktivistisch, sondern bemüht, systematische und langfristige Zusammenhänge zwischen Sozio- und Psychogenese, sozialer Struktur- und Kulturentwicklung, Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte aufzudecken. Im Lichte dieses Denkens und dieser Konvergenz von Theorieanlagen, deren Verhältnis, deren ‚Übersetzbarkeit‘ und deren synthetisches Potential weiter zu klären ist, werden auch die Realitäten des strategischen Handelns wie auch manche Realitäten ihrer sozialwissenschaftlichen Reflexion als sozio-kulturelle Realitäten verständlich und relativ. Das betrifft nicht zuletzt die sozialwissenschaftlichen ‚Rational-Choice-Ansätze‘, über die die hier angesprochenen Theoriemittel – gerade auf der Ebene der Wissenssoziologie – systematisch hinausführen, ohne den Realitäten, den Modellierungen und der Begrifflichkeit des strategischen Handelns weniger Bedeutung und Gewicht beizumessen als diese Ansätze.
563 Sie ist in ihrer, um es mit Elias’ programmatischer Selbstbeschreibung zu formulieren, ‚historisch-gesellschaftspsychologischen‘ Grundanlage und in ihrer in diesem Rahmen systematischen Verknüpfung von Natur/‚Leben‘ einerseits und Gesellschaft /Kultur andererseits mit der Elias’schen ‚Anthropologie‘ durchaus vergleichbar. Elias teilt das Gehlen’sche Menschen- und Kultur(entwicklungs)bild in wesentlichen oder den wesentlichen Punkten (‚Instinktresiduen‘, ‚Plastizität‘, ‚Weltoffenheit‘, Lernfähigkeit, Gewohnheits-/Habitusbildung etc.), aber er neigt, eher Freud folgend, dazu, der ‚animalischen‘ Triebhaftigkeit des Menschen ein größeres Gewicht beizumessen als Gehlen. Während dieser nur noch „Reste“ von (tierischen) Instinkten im Menschen sieht, bleibt der Mensch für Elias bei aller Zivilisation („Dämpfung der Triebe“) und Zivilisierbarkeit ein im Kern sexuelles und aggressives Wesen, ein Wesen, das vom ‚Begehren‘ und von mindestens latenter Gewaltbereitschaft und Gewaltimpulsen um- und angetrieben wird. Diese Position hat natürlich letztlich auch handlungs- und praxistheoretische Implikationen – bis hin zur Ebene des strategischen Handelns.
Schluss
Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
Das vorliegende Buch und die mit ihm geplanten nachfolgenden Untersuchungen (und Bände) gehen davon aus, dass die Soziologie eine sich entwickelnde und entwicklungsfähige, aber auch entwicklungsbedürftige Disziplin ist. Defizit-, Problem-, Stagnations- und Krisendiagnosen sind diesbezüglich verbreitet und gerade im Blick auf die jüngere Vergangenheit (‚Gegenwartssoziologie‘) durchaus angebracht, aber, wenn man die Soziologie selbst im und als historischen Prozess versteht, auch zu relativieren. Vor allem kann man aus heutiger Perspektive im Über- und Rückblick sagen, dass die speziell hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Identität, Identitätsbildung und Selbstentwicklung ungünstigen Wahrheiten der Soziologie (und der Sozialwissenschaften überhaupt) nicht die ganze Wahrheit sind und erst recht nicht das letzte Wort sein müssen. Sie sind vielmehr nur die eine Seite der Medaille. Zu Beginn dieses Buches habe ich auf einige Punkte und soziale Hintergründe dieser Seite hingewiesen.1 Auf der anderen Seite gab und gibt es auch kaum bestreitbare theoretische, methodologische und empirisch-analytische ‚Errungenschaften‘. Es gibt ‚große Gedanken‘, Pionierleistungen2, wegweisende Perspektiven und Entwicklungen von Metaphern, Konzepten, Theorien und Modellen (z. B. die Netzwerkmetapher, das Theatermodell oder die Spieltheorie), die sich nicht nur als substantiell und leistungsfähig sondern auch als komplementär, anschluss- und entwicklungsfähig erwiesen haben und noch weiter erweisen könnten, wenn man sich ihrer nur in einem entsprechenden Geist bewusst würde und bediente. In diesem Sinne beachtlich und zu beachten sind auch traditionsreiche Denk- und Forschungsrichtungen wie die Sozialisationsforschung, die Interaktionssoziologie, die (Alltags-)
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Mit Begriffen wie weltanschauliche/ideologische Befangenheit, Sektenbildung, Desintegration/Sektionalisierung, Orientierungslosigkeit, Theatralisierung, Mythenbildung, Mystifikation oder Identitätsdiffusion. Hier ist allerdings weniger an Vertreter der ‚Normalwissenschaft‘ als an inner- und außeruniversitäre Außenseiter (und z. T. auch Einzelgänger) wie Marx, Simmel, Freud, Elias, Foucault, Schütz oder Goffman zu denken. Solche Gestalten sind heute nicht nur nicht zu sehen, sondern auch nur noch schwer vorstellbar, was mit der Lage und der Entwicklung des Fachs zu tun hat. Es protegiert heute ganz besondere Habitusformen/Mentalitäten, die den oben angedeuteten Feld-Entwicklungen entsprechen (Theatralisierung, Mediatisierung, Vernetzwerkung, Sektenbildung, Ideologisierung, Ökonomisierung usw.).
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Schluss
Wissenssoziologie oder die interdisziplinäre Ritualforschung, die zwar zunehmend an ihre Grenzen stoßen und stagnieren, aber auch wertvolles Begriffs- und Theoriegut sowie Beobachtungs- und Beschreibungswissen produziert haben und produzieren. Zu denken ist hier auch und besonders an gleichsam versunkene (und ungehobene) Theorieschätze, soziologisches Wissen, in dem Potenziale für Theorie(weiter)bildungen liegen, das aber oft trotz (oder wegen) scheinbar allgemeiner Bekanntheit mehr oder weniger in ‚Vergessenheit‘3 geraten ist oder systematisch ignoriert, unterschätzt oder verschätzt wird. So kann man etwa die Gehlen’sche „Sozialpsychologie“ und (d. h.) Techniksoziologie, Riesmans „Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters“ („Einsame Masse“, 1958) oder auch Helmut Schelskys „Soziologie der Sexualität“ (1955) als zivilisationstheoretisch bedeutsame Werke bewerten und im Lichte der Zivilisationstheorie ‚auswerten‘ und verwerten bzw. diese Theorie zur Verarbeitung jener Werke gebrauchen. Oder man nehme die – bislang kaum aufeinander bezogenen – Habitustheorien dieser Autoren (Schelsky eingeschlossen), die sich, wie gesagt wurde und noch genauer zu zeigen ist, gewinnbringend miteinander, aber auch etwa mit den Habitustheorien anderer Autoren und ‚Schulen‘4 vergleichen und verknüpfen lassen. In solchen Zusammenhängen liegen also gewissermaßen natürliche begrifflich-theoretische Arbeitsaufträge, Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Soziologie, auch Möglichkeiten einer komplexeren und eventuell höherstufigen Theoriensynthese.5 Man kann zudem auch – und vor dem Hintergrund des oben Gesagten mit einem gewissen Erstaunen – feststellen, dass sich, wie Hartmut Esser im Hinblick
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Die (Selbst-)‚Vergesslichkeit‘ und (Selbst-)‚Vergessenheit‘ der Sozialwissenschaften/Soziologie hat einen systematischen Charakter und Hintergrund, der vor allem in ihrer Sozialität besteht. Deren Entwicklungen, aber auch deren Nichtentwicklungen (zur Selbstkonservierung neigende Strukturen) scheinen dazu beizutragen, dass sich die Soziologie selbst immer intransparenter wird, dass sie immer vergesslicher wird und insofern gleichsam vergreist. Auch dies mag für das Projekt einer synthetischen Soziologie sprechen. Max Weber, Norbert Elias, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Erving Goffman, Anthony Giddens, Hartmut Esser usw. Oder man denke diesbezüglich an die lange und breite Tradition der soziologischen Rollentheorie, die sich etwa in der Auslegung Dreitzels einer Verbindung mit der Figurationssoziologie aufdrängt. Es ist von daher gesehen auch kein Zufall, dass sich gerade Dreitzel der Elias’schen (Zivilisations-) Theorie bereits relativ früh und mit (auch ‚zeitdiagnostisch‘) interessanten Resultaten zugewandt hat (vgl. Dreitzel 1980; 1981). Die mittlerweile etwas stagnierend oder eingeschlafen erscheinende Rollentheorie gehört zu den relevanten soziologischen Theoriebeständen, die sich durch die Synthese mit der Figurationssoziologie gleichsam reanimieren lassen, die aber dieser Soziologie auch ihrerseits Anregungen geben können und etwas zu sagen haben. (Auch) Davon soll in den geplanten Bänden die Rede sein.
Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
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auf das Verhältnis zwischen „Figurationssoziologie und methodologischem Individualismus“ (1984) schon vor fast drei Jahrzehnten bemerkt hat, offenkundig so etwas wie „ein gemeinsames Paradigma“ (ebd.: 696) nicht nur in der Soziologie, sondern sogar innerhalb der Sozialwissenschaften überhaupt herauszubilden beginnt. Zwar gibt es gerade in der Soziologie bis heute immer noch und immer wieder neben gepflegten Ignoranzen ‚kommunikative‘ Handlungsweisen, Diskurse und kollektive Auseinandersetzungen, die an Glaubenskriege, Stammesfehden oder Grabenkämpfe erinnern; es gibt auch unleugbare und unleugbar substantielle theoretisch-methodologische Bruch- und Konfliktlinien, Inkompatibilitäten, Gegensätze und Kontroversen, aber ebenso zeigen sich faktische Konvergenzen im Denken und Arbeiten, insbesondere in einem theoretisch-empirisch eingestellten und insofern im Geist der Figurationssoziologie liegenden Denken und Arbeiten. Und es ist auch erkennbar, dass die besagten Differenzen und Konflikte vielfach eher oder bloß scheinbar oder mehr oder weniger stark übertrieben sind. Vor allem aber tritt eben mit zunehmender Deutlichkeit ein Spektrum von Denkund Theorietraditionen (begrifflich-theoretischen Ansätzen) hervor, die sich in wesentlichen Punkten oder Bereichen jedenfalls prinzipiell durchaus miteinander ‚vertragen‘, bestätigen und ergänzen können. Man kann im Hinblick auf die kontinuierlich anschwellenden sozialwissenschaftlichen/soziologischen Diskursfluten sogar von grundlegenden Konvergenzen oder Konsolidierungen des theoretischmethodologischen Bewusstseins sprechen, auch wenn diesbezügliche Entwicklungen gewiss (noch) nicht vorherrschen und seitens der ‚Fachwissenschaftler‘ aus verschiedenen Gründen (der Trägheit, der Konkurrenz, des Distinktions- und Originalitätsstrebens, der Informationsüberflutung, der terminologischen Intransparenz u. a. m.) häufig gar nicht interessieren, gar nicht bemerkt oder schnell wieder ‚vergessen‘ werden. Dass bestimmte Klassiker verschiedener Generationen in diesem Zusammenhang eine herausragende (aber auch in vielen Hinsichten noch herauszuarbeitende) Rolle spielen (können), wurde oben bereits ausführlicher thematisiert und wird Gegenstand folgender Untersuchungen sein. Hinsichtlich neuerer Diskurse liegt die diesbezüglich besondere Bedeutung von Bourdieu und Giddens auf der Hand. Daneben ist es aber auch z. B. bemerkenswert, wenn sich einer der prominentesten Vertreter des aktuellen (und aktuell sehr einflussreichen) Rational-Choice-Ansatzes überhaupt zur „Methodologie des Ansatzes von Norbert Elias“ (Esser 1984) äußert und auch detailliert auf strukturelle Übereinstimmungen mit dem eigenen Ansatz hinweist. Ein anderes aktuelles (oder noch aktuelleres) Beispiel sind die di-
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Schluss
versen Netzwerkansätze6, die in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Die Nähe dieser Ansätze zu dem Ansatz der Figurationssoziologie ist mehr oder weniger stark ausgeprägt. Das Unternehmen einer Synthese erscheint in diesem Fall, wie oben gezeigt wurde, besonders aussichtsreich und vielversprechend, auch wenn die systematische Bedeutung, die die Figurationssoziologie für die Entwicklung der Netzwerkforschung und im Zusammenspiel mit ihr haben kann, bis heute noch kaum wahrgenommen wird.7 Neben und mit einer gewissen faktischen Theoriekonvergenz oder jedenfalls einer theoretischen Denkmuster- oder Denkstilkonvergenz verbreitet sich in Teilen der Soziologie auch eine Art programmatische Konvergenztheorie oder Konvergenzvision, nämlich die Auffassung, dass ein gemeinsamer sozial- bzw. kulturtheoretischer Bezugsrahmen soziologisch nützlich oder notwendig ist. Ein integratives Paradigma (mindestens aber wesentlicher Integrationsfortschritt) erscheint heute vielen ‚Fachvertretern‘ nicht nur im Blick auf die theoretisch-methodologische (Selbst-)Entwicklung und (Wissenschafts-)Identität des Fachs Soziologie (oder der Sozialwissenschaften überhaupt), sondern auch und gerade im Blick auf seinen Gegenstandsbereich und die Entwicklung seines Gegenstandsbereichs notwendiger denn je. Und ein solches Paradigma wird mit dieser oder jener empiriebezogenen Begründung heute häufiger und dringlicher denn je von ganz unterschiedlich ausgerichteten Seiten (Kultursoziologie, Systemtheorie, Rational-Choice etc.) postuliert und angemahnt. Gerade die dynamische Entwicklung der (Welt-)Gesellschaft, die Komplexität des sozio-kulturellen Wandels, die Vielschichtigkeit, Interdependenz und ‚Wechselwirkung‘ zwischen teilweise ganz neuartigen, aber immer auch historisch verwurzelten Phänomenen (wie den Medienrealitäten) sprechen dafür, diverse soziologische/sozialwissenschaftliche Wissensbestände, vor allem vorhandene Beschreibungs- und Erklärungsmittel, auf einem höheren Synthese- und damit Komplexitätsniveau zusammen- und weiterzuführen. Ein solcher Bezugsrahmen mit einem entsprechend differenzierten und differenzierungsfähigen kon6
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Eine zu beachtende Variante ist die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (vgl. Peuker 2010). Eine Auseinandersetzung mit ihr erscheint hier sinnvoll, auch wenn grundsätzliche perspektivische Differenzen (z. B. den Akteurbegriff betreffend) unübersehbar sind und einer ihrer geistigen Väter feststellt: „the actor-network-theory (hence ANT) has very little to do with the study of social networks“ (Latour 1996: 369). Jedenfalls kann man auch in der Figurationssoziologie eine Art Akteur-NetzwerkTheorie erkennen (wie auch eine Netzwerk-Akteur-Theorie). Davon zeugt etwa das kürzlich erschienene „Handbuch Netzwerkforschung“ (vgl. Stegbauer/ Häußling (Hg.) 2010). Die dort dokumentierten theoretisch-empirischen Entwicklungen und Diskussionen lassen aber auch den Schluss zu, dass eine gewisse sachliche Vereinheitlichung und auch ein Wille zur Vereinheitlichung (neben einem Willen zur Distinktion) durchaus in der Soziologie – in ihrer Entwicklung – angelegt sind.
Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
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zeptuellen Instrumentarium erscheint als hilfreich oder unabdingbar, um die sich bei zunehmender Entwicklungs- und Wandlungsdynamik auch immer mehr als voraussetzungsvoll und zusammenhängend aufdrängenden sozialen und soziologischen Tatsachen (Problemkomplexe) angemessen, nämlich als Zusammenhänge und im Zusammenhang, bearbeiten zu können. Auf dieser Basis sollten auch besser begründete oder überhaupt erst begründete, systematische und kontrollierbare Zeitdiagnosen/Gegenwartsdiagnosen möglich sein und sich zu differenzierten Gesamtbildern oder einem differenzierten Gesamtbild der (jeweiligen Gegenwarts-)Gesellschaftsentwicklung fügen.8 Jedenfalls verbreitet und verdichtet sich in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass die historische Entwicklungs- bzw. Synthetisierungsdynamik des Sozialen, seine zunehmende Verflechtungs-Komplexität und die zunehmende Interdependenz und Interferenz zwischen verschiedenen sozialen (Verflechtungs-)Tatsachen und (Verflechtungs-)Ebenen9, eine entsprechende Anstrengung auf Seiten der Soziologie erfordern und begründen: eine synthetische Soziologie, die sich mit allen soziologischen (Aufklärungs-)Mitteln auf alle Sozialität/Kulturalität richten und zu ihrer Aufklärung beitragen kann, eine Soziologie auch, die insofern synthetisch ist, als sie nicht zuletzt zeitdiagnostisches Wissen auf einem höheren theoretischen Syntheseniveau einzuordnen, zu relationieren, zu gewichten und zu integrieren vermag. Mit Elias (2006a: 375) kann man in diesen Hinsichten von der „angewandten Soziologie“ des „theoretisch-empirisch eingestellten Wissenschaft lers“ sprechen und die Auffassung vertreten, dass diese (angewandte) Soziologie „auf die Dauer ohne die Arbeit an einer oder zwei soziologischen Zentraltheorien kaum fruchtbar sein“ kann (ebd.: 377). Mit einer solchen (Selbst-)Ausstattung könnte die Soziologie im höchsten Maße beanspruchen, was sie letztendlich beanspruchen muss, nämlich an der sozialen Wirklichkeit gewachsen zu sein und der sozialen Wirklichkeit – jedenfalls zunehmend – gewachsen zu sein und gewachsen bleiben zu können. Unter diesen Voraussetzungen und vor diesem Hintergrund habe ich hier für
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Das relative Elend der Soziologie ist ja, wie gesagt, kaum irgendwo offensichtlicher als auf dem Feld der Zeitdiagnosen. Sie liegen auf ganz unterschiedlichen Grundlagen in ganz unterschiedlichen Formen und noch unterschiedlicheren Inhalten vor, die sich in erheblichem Maße und teilweise vollständig widersprechen oder überhaupt nicht beurteilbar oder miteinander vergleichbar sind. Andererseits drängt sich gerade auf diesem Gebiet das Projekt einer Synthese auf und erscheint angesichts offensichtlicher sachlicher Kompatibilitäten und Komplementaritäten durchaus machbar und vielversprechend (s. o.). Zum Beispiel zwischen Medienkommunikation/Medienkultur einerseits und Sozialisation/Identitätsbildung oder Gruppenbildung/Vergemeinschaftung andererseits.
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die auf „Synthesen zielende“ (Rehberg 1996b: 17), Synthesen bildende und Synthesen ermöglichende Figurationssoziologie als soziologische Gesamtvision und als Rahmen und Basis einer daran anschließenden synthetischen Soziologie bzw. allgemeinen Begriffs- und Theoriebildung plädiert. In diesem Zusammenhang kam es zunächst darauf an und wird es weiter darauf ankommen, das theoretisch-methodologische Gebäude der Figurationssoziologie als solches – vor allem in seinen sozusagen tragenden (und weiterführenden) Teilen – zu rekonstruieren. Ein Hauptgrund für diese Arbeitsrichtung liegt darin, dass Elias zwar längst als ‚Klassiker‘ anerkannt ist und bestimmte Teile seines Werks sogar regelrecht kanonisiert sind, dass es sich bei ihm aber auch immer noch (oder schon wieder) um einen in weiten Werkteilen und zentralen inhaltlichen und theoriearchitektonischen Positionen relativ unbekannten, vor allem aber ungenutzten ‚Klassiker‘ handelt. Im Vordergrund der Elias-Rezeption und der diskursiven Repräsentation des Elias’schen Werks stand immer und steht nach wie vor die Zivilisationstheorie, und zwar als materiale Gegenstandstheorie und nicht als allgemeine soziologische Theorie oder als Grundlage einer allgemeinen soziologischen Theoriebildung. Andere Teile, Ebenen und Komponenten des Elias’schen Werks sind dagegen viel weniger rezipiert bzw. in ihrer systematischen Bedeutung für die Figurationssoziologie selbst und für soziologische Theorieentwicklung im allgemeinen erkannt, geschweige denn genutzt worden. Dazu gehören z. B. die „Studien über die Deutschen“, die Untersuchung über „Etablierte und Außenseiter“, die wissenssoziologische Arbeit „Über die Zeit“, die Individualisierungstheorie und die Symboltheorie. In diesen Kontexten wie auch bezüglich der frühen Schlüsseltexte ist von zentraler Bedeutung, dass weder die ausdrücklich theoretischen Fäden im Elias’schen Werk in ihrem Zusammenhang hinlänglich freigelegt und zur weiteren Verknüpfung bereit gemacht worden sind, noch die im empirisch-analytischen Werk von Elias steckende implizite Sozialtheorie herausgearbeitet wurde. Hier ist etwa und insbesondere an die „Höfische Gesellschaft“ und an die in vielerlei Hinsicht parallelisierbare Untersuchung über „Etablierte und Außenseiter“ zu denken. Die in diesen und anderen Arbeiten enthaltene oder angelegte Sozialtheorie (Differenzierungstheorie, Feldtheorie, Netzwerktheorie, Kapitaltheorie, Praxistheorie, Habitustheorie, Mentalitätstheorie, symbolische Ordnungstheorie, Staatstheorie, Globalisierungstheorie etc.) gilt es zunächst und immer wieder im Hinblick auf bestimmte theoretisch-empirische Arbeitszusammenhänge (Anschlussfähigkeiten) transparent zu machen und theoriegeschichtlich einzuordnen. Dabei ist zu zeigen, dass Elias zum großen Teil und in entscheidenden Punkten explizite ‚Großtheorien‘ wie die von Bourdieu und Giddens vorwegnimmt, und es darf mehr als vermutet werden, dass gerade diese prominenten Schlüsselautoren der ‚Gegen-
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wartssoziologie‘ dem Modell Elias entscheidende oder die entscheidenden ‚Inspirationen‘ verdanken.10 Allerdings kam und kommt es hier weniger darauf an, die manifesten und latenten Kontinuitäten des Elias’schen Werks und Denkens in den Werken und Argumentationen maßgeblicher ‚Nachfolger‘ herauszuarbeiten. Ebensowenig war und ist es mein zentrales Anliegen zu zeigen, dass Elias von diesen Nachfolgern zwar an wichtigen Stellen komplementiert wird, dass er aber an entscheidenden Stellen auch – immer noch und immer noch theoretisch und theorieprogrammatisch – über sie hinausgeht und hinausweist. Wichtiger ist mir, und das schließt diesen Punkt ein, die vorrangige theoretisch-methodologische Bedeutung, Fundamentalität und (d. h.) Potenzialität der Figurationssoziologie aufzuzeigen, zu unterstreichen und im Einzelnen zu bestimmen. Es war und bleibt dabei immer auch meine Absicht, diese Soziologie als bereits synthetische Soziologie sichtbar zu machen, die nicht irgendeine (auszulegende) ‚klassische‘ Position in der soziologischen Theorienlandschaft/Soziologiegeschichte darstellt, sondern insofern einen qualitativen Sprung in der soziologischen Theoriebildung bedeutet, als sie vormaliges, insbesondere bereits klassisches soziologisches Gedanken-, Theorie- und Begriffsgut ersten Ranges (von Marx, Simmel, Weber, Mannheim, Freud usw.) zusammen- und über die einzelnen Positionen hinaus zu einer neuen Einheit führt. Dies ist die Figurationssoziologie, die als solche – und als solche in ihrer Bedeutung für die allgemeine soziologische Begriffs- und Theoriebildung – bis heute nicht hinreichend erkannt und anerkannt wird. Dem kann und soll abgeholfen werden, wobei generell zu beachten ist, dass Elias selbst sowohl wesentliche Anschlüsse seiner eigenen Arbeiten (Soziologie) als auch deren Vergleichbarkeiten und Anschlussfähigkeiten in Bezug auf andere ‚Soziologien‘ stark bis völlig vernachlässigt hat. Vor diesem Hintergrund und auf dieser Basis wurde und wird von mir versucht, relevante Bestände soziologischen (Theorie-)Wissens diesseits und jenseits von Elias (und Elias-Schülern im engeren Sinne) zu ermitteln und im Sinne der entfalteten Programmatik zu verarbeiten. Theoretischer und arbeitsprogramma-
10 So sehr sich Bourdieu und Giddens in einem theoriestrategischen Sinne an Elias orientiert bzw. ihn programmatisch kopiert haben mögen, so sehr weichen sie in mindestens zwei entscheidenden Punkten vom Elias’schen Modell und Programm ab. Zum einen fokussieren sie ihr Denken und ihre Arbeit auf die Moderne bzw. die (ihre) ‚Gegenwartsgesellschaft‘. Zum anderen – und damit zusammenhängend – verstoßen sie sozusagen systematisch gegen die Elias’sche ‚Abstinenzregel‘. Beide sind politisch (und d. h. moralisch) ‚engagiert‘ (und ‚engagiert‘ worden), mischen oder mischten sich in aktuelle politische Auseinandersetzungen ein. Aus Elias’scher Sicht stehen beide (damit) auch unter dem Ideologieverdacht, von dem oben die Rede war.
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Schluss
tischer Ausgangspunkt war dabei die auch zukünftig immer wieder zu prüfende Annahme, dass die Figurationssoziologie die leistungs- und entwicklungsfähigste, weil umfassendste und vielseitigste Grundstruktur für eine allgemeine und integrative soziologische Begriffs- und Theoriebildung aufweist, dass sie insofern sozusagen als Leit- oder Metasoziologie fungieren kann. Es ging und geht mir also hauptsächlich um ein gewissermaßen strategisch angelegtes Theorie(weiter)bildungsprogramm, um Schwerpunkte und Eckpunkte einer Arbeit, die sich als „Weiterarbeit“ (Rehberg 1996a: 11) an einem ebenso traditionsreichen wie zukunftsträchtigen Projekt versteht: am Projekt einer allgemeinen Soziologie. Neben und mit der Architektur dieser Soziologie, neben und mit Bauplänen und Weiterbauplänen, waren und bleiben auch konzeptuelle Bausteine und das nötige Gerüst für den Weiterbau an einem Haus Thema, dessen Fundamente bereits gelegt worden sind (nicht nur von Elias) und an dem natürlich auch von anderen (weiter-)gebaut wird oder wurde11. Im dritten Teil dieses Buches werden einige der zusammenhängenden (Groß-)Baustellen markiert, die auf dieser Grundlage beruhen: Wissen, Materialität, Korporalität, Temporalität, Stil/Lebensstil, Ritualität, Theatralität, strategisches Handeln oder Identität sind solche Baustellen, genauer gesagt: Weiter-Baustellen. Sie gründen in der Figurationssoziologie und gehen aus ihr hervor. Einen Anspruch auf irgendeine Art von Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit habe ich hier natürlich in keiner Hinsicht erhoben und erheben können. Allerdings wollte ich eben auch nicht nur die Auffassung vertreten, dass (und inwiefern) es sich bei der Figurationssoziologie um die qualifizierteste und vielversprechendste Grundlage (oder ‚Philosophie‘) soziologischer Begriffs- und Theoriebildung handelt. Vielmehr ging es mir im Sinne der besagten Weiterarbeit schwerpunktmäßig darum, zentrale Ebenen, (Naht-)Stellen, Linien und Punkte zu benennen und zu beschreiben, an denen die Figurationssoziologie mit der Aussicht auf Erneuerung, Erweiterung und Vertiefung in synthetische Verhältnisse zu anderen soziologischen Wissensbeständen bzw. ganzen ‚Soziologien‘ treten kann. Als Ziel und Anspruch wurden mit und jenseits der Feststellung von soziologischen Gemeinsamkeiten, Anschlussfähigkeiten und Komplementaritäten soziologische Synthesen und eine Synthetisierung zentraler soziologischer Begriffsmittel und Theorien formuliert. Thema war und bleibt damit auch die Frage, wo, wie und inwieweit die hier propagierte (synthetische) Soziologie soziologische Wis-
11 Besonders intensiv und mehr als deutlich, wenn auch von ihm selbst nicht an jeder Stelle hinreichend deutlich gemacht, von Bourdieu, dessen Werk daher eine Schlüsselrolle spielte und weiterhin spielt. Interessant (und zum Teil aktueller) sind aber auch etwa Arbeiten von Jean-Claude Kaufmann (vgl. 1996; 2005), die in den folgenden Bänden ausführlicher aufgegriffen werden sollen.
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sensbestände (einschließlich diverser ‚Paradigmen‘) in einem instruktiven und produktiven Sinne aufhebt und damit einen systematisch-perspektivischen Entwicklungsweg für die Soziologie oder sogar die Sozial- und Kulturwissenschaften überhaupt darstellt (vgl. Quilley/Loyal 2005). Die (Weiter-)Erarbeitung einer entsprechenden theoretischen Gesamtvision mit einem um verschiedene begrifflich-theoretische Komplexe12 organisierten und auf verschiedenen Abstraktionsebenen integrierten Gefüge von Konzepten wurde und wird mit dem Versuch verbunden, eine empirisch-gegenstandstheoretische Gesamtvision zu entwerfen und ihr gemäß zu arbeiten. Das schließt nicht nur figurationstheoriegeleitete Zeitdiagnosen/Gegenwartsdiagnosen und eine Synthese von vorliegenden (mehr oder weniger empiriebezogenen) Zeitdiagnosen ein, sondern auch eine ihnen vorgreifende und über sie hinausgehende sachliche Gesamtvision, eine soziologische Gesamtfassung von Tatsachentypen, die das Soziale begründen und das Soziale (mit)ausmachen – Materialität/Dinge, Raum, Zeit, Bewusstsein, Körper/Leben, Bewegung, Emotion, Wissen, Symbol, Ausdruck/Sprache, Medialität/Bildlichkeit, Gedächtnis/Biographie etc. Es sollte deutlich geworden sein, dass die projektierte synthetische Soziologie damit keine neuen oder erneuerten Bindestrich-Soziologien bezweckt, sondern wiederum auf Zusammenhänge und Synthesen zielt, und dass sie ihre Ebenen und Stoßrichtungen zwar voneinander unterscheidet, aber auch systematisch miteinander verbindet.13 Vorteile und Gewinne kann man sich dabei nicht nur von dem Fundament und dem Dach jener allgemeinen Soziologie versprechen, sondern auch davon, dass unter dieser Voraussetzung verschiedene Gegenstandstheorien (des Raumes, der Zeit, des Körpers, der Bewegung etc.) wechselseitig aufeinander bezogen werden und voneinander profitieren können.14 Mit dem hier beschriebenen und betriebenen Projekt geht es also nicht nur um einen Theorietyp und Theoriezusammenhang, nicht bloß um Theorie oder 12 Neben den im zweiten und dritten Teil dieses Buches genannten und behandelten begrifflich-theoretischen Großkomplexen wäre etwa auch noch an das weite Feld der Identität(en) zu denken. Ich habe hier (noch) darauf verzichtet, es gesondert anzuvisieren bzw. zu bearbeiten, weil es in allen anderen Zusammenhängen angesprochen wird. Vielleicht erweist es sich in den folgenden Bänden aber als sinnvoll oder notwendig, sich ihm separat, systematisch und ausführlicher zuzuwenden. 13 Im Elias’schen Werk bedeutet das insbesondere den immanenten Zusammenhang von allgemeiner Figurationssoziologie und spezieller Zivilisationssoziologie/Zivilisationstheorie. 14 Bei aller programmatischen Ausrichtung wollte ich die entsprechenden Grundgedanken, Denklinien und Argumente schon in diesem Buch (abhängig vom Stand meiner eigenen Arbeit) möglichst konkret ausführen. Im Einzelnen kann das natürlich noch nicht befriedigen oder hinreichen; es hat auch gewisse Asymmetrien in der Extensität und Intensität meiner bisherigen Ausführungen mit sich gebracht, die in den folgenden Bänden auszugleichen sind.
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reine Theorie, nicht um soziologischen (Theorie-)Klassizismus und nicht um die alte (Soziologen-)Übung, eine bestimmte soziologische Perspektive (oder Schule) gegen andere Perspektiven auszuspielen. Und es geht auch nicht darum, einem neuen, alten oder erneuerten ‚System‘ das Wort zu reden. Im Gegenteil ! Das hier propagierte Denken und Arbeiten hat zwar so etwas wie eine Identität, richtet sich aber gegen jegliche Art von „Systemfixiertheit“ (Rehberg 1996b: 36). Weder soll ‚die Gesellschaft‘ in ein theoretisches System noch soll die Soziologie in ein System übersetzt werden. Vielmehr geht es in einem ganz anderen Geist darum, theoretische Systeme und Systemgrenzen überwindend, durch eine theoretisch-empirisch fundierte Strategie der Inklusion, der Integration und des Zusammenspiels zur Weiterentwicklung einer bereits vorgebahnten und sich von verschiedenen Richtungen her weiter anbahnenden synthetischen Soziologie beizutragen und damit die Möglichkeiten soziologischer (Selbst-)Verständigungen, Austausch- und Lernprozesse zu steigern.15 Elias’ frühes Forschungs-Modell ist dabei vor allem insofern Musterbeispiel (Paradigma), und definiert damit im Grunde auch den Begriff synthetische Soziologie, als es soziologische Einseitigkeiten und „dualistische Sackgassen“ (Rehberg 1996b: 35) transzendiert, (wissenschafts-)sozial eingespielte Schematisierungen, Grenzziehungen und Spaltungen überbrückt und systematische Verbindungen herstellt: – zwischen allen gegenständlichen Ebenen und Dimensionen16; – zwischen Theorie und Empirie, Theorie(bildungs)arbeit und Empirie(analyse)arbeit; – zwischen diversen Theorietypen, theoretischen Paradigmen und Ansätzen; – zwischen konventionell getrennten Themenfeldern, ‚Sektionen‘ und Arbeitsorientierungen; – zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung; – zwischen verschiedenen Ansätzen innerhalb der qualitativen Sozialforschung;
15 Am Rande (hier am Rande) sei bemerkt, dass die wissenschaftliche Lernleistung und Lernfähigkeit, um die es in diesem Zusammenhang geht, nach vielfach kommunizierter Erfahrung einhergeht mit einer besonderen Lehrfähigkeit und Lehrleistung. Wohl kaum eine Soziologie lässt sich besser lehren als die hier ins Auge gefasste. Das liegt auch daran, dass sich von ihr aus nicht nur jegliche Sozialität (auch die Sozialität der Soziologie), sondern auch jegliche Soziologie (und Sozialwissenschaft) in besonderer Weise erschließt und erschließen lässt. 16 Also: Natur und Kultur, Materialität und Symbolik, Individuum und Gesellschaft, Akteur und soziale Ordnung, Prozess und Struktur, Geschichte und Gegenwart, Feld und Situation/Interaktion etc.
Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
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– zwischen verschiedenen Disziplinen17; – zwischen fachlicher Gegenstands- und Selbstbeobachtung18. Die so veranlagte – synthetische – Soziologie stellt also nicht nur, aber auch und primär einen grundlegenden, sozusagen theoriepolitischen Ansatz dar. Dessen Sinn und Leistungsfähigkeit erweist sich zunächst im Rückbezug auf zentrale soziologische Theorie- und Konzeptbestände, ohne dass damit (mit dieser Form von Soziologie und Soziologieentwicklung) eine theoretische ‚Totalinklusion‘ postuliert, für möglich gehalten oder gar zu betreiben versucht würde. Vielmehr sind (offensichtliche und weniger offensichtliche) Grenzen der theoretischen Kompatibilität und auch durch die theoretische Identität der Figurationssoziologie gesetzte Grenzen der Vergleichbarkeit, der Anschlussfähigkeit und Verarbeitbarkeit von Theorien zu beachten und zu reflektieren.19 Es gibt aber eben in Bezug auf sehr weite und – mindestens scheinbar – diverse Teile der Soziologie auch unerkannte, vernachlässigte oder ungenutzte Möglichkeiten eines systematischen Zusammenführens und Zusammen-Wachsens begrifflich-theoretischer Wissensbestände. Das vorliegende Buch präsentiert solche Möglichkeiten als einen Zusammenhang in der Form eines bereits komplexen und integrierten Theorien- und Konzeptapparats20, der vorhandene soziologische Wissensbestände mit dem Ziel eines wechselseitigen Lernens und Sich-aneinander-Steigerns zusammenbringt, aufeinander 17 Gemeint sind damit teils direkte ‚Nachbardisziplinen‘ der Soziologie (Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Medienwissenschaft, Ethnologie etc.) und teils weiter von ihr entfernte Disziplinen und Forschungsfelder wie Psychologie, Medizin, ‚Lebenswissenschaften‘, Hirnforschung usw. 18 Es geht hier also auch um eine sich selbst objektivierende und reflektierende und überhaupt auf die Sozialität von (Sozial-)Wissenschaften gerichtete Soziologie, speziell eine Figurations(wissens)soziologie der Soziologie. Für eine solche Soziologiesoziologie gibt es nicht nur (aber auch) angesichts der besagten ‚Sozialisierung‘ der neueren Soziologie (und der Wissenschaften/Sozialwissenschaften überhaupt) Gründe oder besondere Gründe. Vielmehr impliziert die hier vertretene Perspektive, dass die Entwicklung der Wissenschaften insgesamt – und speziell der Sozialwissenschaften/ Soziologie – als ein komplexer historischer Prozess im Rahmen des allgemeinen Zusammenhangs von Sozio- und Psychogenese zu betrachten ist – also auch als ein Zivilisationsprozess. Elias vertritt, wie gesagt, die Auffassung, dass die Defizite und Probleme der Soziologie/Sozialwissenschaften bis in die Gegenwart wesentlich auch mit einem Mangel an zivilisatorischer Rationalisierung zu tun haben, nämlich mit mangelnden Distanzen der wissenschaftlichen Akteure, mit ideologisch gefärbten Affekten und affektuell-ideologischen Fixierungen (vgl. Elias 2006a: 379 ff.). 19 Das gilt, wie gesagt, insbesondere im Hinblick auf die diversen Systemtheorien, auch wenn die diesbezüglichen Aversionen von Elias (und Nachfolgern) zumindest in Bezug auf Luhmann in manchen Hinsichten (z. B. wissenssoziologischen) zu hinterfragen sind. 20 Von jedem einzelnen Konzept aus (z. B. Habitus, Figuration oder Feld) und je nach der mehr oder weniger zentralen Stellung dieses Konzepts im theoretischen Gesamtkontext entfalten und entwickeln sich begrifflich-theoretische Synthesen und Verweisungszusammenhänge.
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Schluss
bezieht und integriert. Das beschriebene Arbeitsprogramm, das in den geplanten Bänden Schritt für Schritt eingelöst werden muss, zielt also nicht, Differenzen verleugnend oder kaschierend, auf Einheitlichkeit (Vereinheitlichung) als Selbstzweck, sondern in erster Linie darauf, dass auf begrifflich-theoretischer Ebene ‚zusammenwächst, was zusammengehört‘, so dass eine überbietende Ganzheit auf einem höheren Syntheseniveau entsteht. Eine auch nur tendenzielle ‚Einheit‘ der Soziologie (vgl. Reckwitz 2005c) insgesamt mag auch auf lange Sicht unwahrscheinlich oder unmöglich sein, eine entwickelte, zentrale und fortschreitende begrifflich-theoretisch-methodologische Einheit in der Soziologie ist es nicht. So sehr der entsprechend ausgerichteten Arbeit21 beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Soziologie eine relative Autonomie, Absonderung und Konzentration zuzugestehen ist, so sehr muss und will sie in dem hier propagierten programmatischen Rahmen auf Empirie gepolt bleiben und werden. Wie die klassische Figurationssoziologie ist die auf der Grundlage dieser Soziologie (weiter-) entwickelte und zu entwickelnde synthetische Soziologie eben eine theoretischempirische Soziologie. Theoriearbeiten/Theoriebildungen einerseits und empirisch-analytische Arbeiten andererseits dürfen sich also (abhängig von fachlichen Entwicklungsbedingungen) höchstens begrenzt und vorläufig verselbstständigen und nicht gänzlich voneinander abkoppeln.22 Erste und letzte ‚Instanz‘ aller theoretisch-begrifflichen Bemühungen ist und bleibt vielmehr die empirische Wirklichkeit selbst, genauer gesagt: die soziologische Aufklärung sozialer Wirklichkeit, das Betreiben und Entwickeln der Soziologie als ‚Wirklichkeitswissenschaft‘23. Ihr 21 Vor allem: der begrifflich-theoretischen Aufdeckung, Entdeckung, Unterscheidung, Durchdringung, Systematisierung, Synthetisierung. 22 Allerdings gibt es auch in diesem Zusammenhang nur nachvollziehbare Prinzipien/Maximen und keine ‚Regeln‘. Elias selbst, gerade der späte Elias, ist nicht nur mit empirischen Materialien sehr unterschiedlich, variabel und souverän umgegangen, sondern hat sich auch immer wieder mehr oder weniger weit von ihnen entfernt, um gegenstandstheoretische oder auch grundlagentheoretische Zusammenhänge herzustellen. Auch die begrifflich-theoretische (Selbst-)Reflexion hat Elias, speziell im Rückblick auf Aspekte seines eigenen Werks, sehr eigenständig und häufig materialfern betrieben, wenn auch stets empiriebewusst und empirieorientiert. 23 Elias’ entschiedenes Plädoyer für eine systematische Empiriebezogenheit aller soziologischen Arbeit und für eine theoretisch-empirische „Doppelgleisigkeit“ (s. o.) geht mit einem starken Ideologie- und Mystifikationsverdacht gegenüber allen sich verselbstständigenden und „abgehobenen“ (Elias) Theoriekonstruktionen (seiner Zeit) einher. Er sieht in diesen Konstruktionen vor allem gewissermaßen politische Theorien und Theoriepolitiken besonderer Art. Sie verschleierten ihren ideologischen Hinter- und Urgrund „durch die Konstruktion von Gedankengebilden, die so hoch in die Luft gebaut (waren, H. W.), die ein so hohes Abstraktionsniveau besaßen, daß man den Bezug auf die Gegenwart und die Parteinahme in deren Konflikten durch die oft verdunkelnde Sprache hindurch häufig nur dann erkennen konnte, wenn man sie wie einen Geheimcode zu dechiffrieren vermochte“ (Elias 2006b: 391). Wie dem auch sei, ‚reine Theorie‘ jeder Art und Form
Schlussbemerkungen im Rück- und Ausblick
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soll das gebildete und zu bildende konzeptuell-theoretische Instrumentarium entsprechen, und ihr soll es vor allem dadurch dienen, dass es einen möglichst umfassenden, vielseitigen und komplexen Gegenstandszugang (auf Sozialität) eröffnet – einen Gegenstandszugang, der als historische Prozesssoziologie der Verfassung der empirischen Realität angemessen ist und zugleich perspektivisch-instruktiv von ihr distanziert. Man darf oder muss an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, weil dies das Wesen der hier gemeinten Soziologie betrifft, dass die theoretische (allgemeine) Figurationssoziologie – im Gegensatz zu anderen Theorieunternehmen vergleichbaren Formats (Luhmann, Habermas, Giddens etc.) – ihren Ausgangs- und bleibenden Bezugspunkt in empirischen Materialien hat und dass sie sich erst auf der Basis von diesbezüglichen Beobachtungen und Entdeckungen (Zivilisationsprozess) zu einer allgemeinen Soziologie mit entsprechenden – mehr oder weniger abstrakten – Grundbegriffen und methodologischen Orientierungen entwickelt hat.24 Bei dieser doppelten Empiriebezogenheit von Theorie, ihrer Bezogenheit aus Empirie und auf Empirie, muss es auch in jeder weiteren Entwicklung dieser Soziologie bleiben. Unter diesen Voraussetzungen und Vorzeichen haben sich empirisch-analytische Arbeiten zum einen entsprechend theoretisch zu fundieren, rückzukoppeln und theoretischer Mittel zu bedienen, und sie müssen zum anderen darauf zielen, an einem Theorieprozess zu partizipieren, Theorie zu bilden, weiter- und umzubilden, nämlich hauptsächlich Prozesstheorie, die ihrerseits wiederum in kontinuierlichem und unabschließbarem Empiriekontakt zu überprüfen und weiterzuentwickeln ist. Karl-Siegbert Rehberg sieht in diesem Zusammenhang überhaupt eine zentrale oder die zentrale Aufgabe der Soziologie, für deren Bewältigung die empirische Figurations(prozess)soziologie von Elias sozusagen das Musterbeispiel liefert: „(…) nämlich vom historischen (oder aktuellen) Material ausgehend und unter Einbeziehung einzelwissenschaftlicher Arbeitsergebnisse theoretische Modelle zu bilden, durch welche Zusammenhänge und Entwicklungseignet sich seit jeher und bis heute besonders gut für Mystifikationen, für Selbstverschleierungen und Selbstimmunisierungen, gegen die, wenn überhaupt ein Kraut, dann nur das Kraut der konsequenten Empiriekonfrontation gewachsen ist. Allerdings kann man umgekehrt auch in Formen des Empirismus die genannten strategischen Funktionen vermuten. 24 Im Anschluss an Bourdieu und in Anlehnung an die Psychoanalyse und ihre ‚Metapsychologie‘ könnte man vielleicht von der Figurationssoziologie als einer (allgemein-theoretischen) ‚Metasoziologie‘ sprechen, die mit einer empirischen ‚Sozioanalyse‘ verschwistert ist. Jedenfalls ist die Entstehungsgeschichte der allgemeinen Figurationssoziologie mit der der ‚Metapsychologie‘ insofern zu vergleichen, als jeweils am Anfang empirische Arbeitsprozesse und Entdeckungen standen. Auch auf der funktionalen/methodologischen Ebene ist die Analogie zwischen ‚Metapsychologie‘ und Figurationssoziologie/‚Metasoziologie‘ deutlich.
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Schluss
tendenzen sozialer Prozesse sichtbarer hervortreten als ohne diese Distanznahme vom Einzelfall. Synthesen sind dann eben nicht empirieferne (oder gar der Wirklichkeit sich überlegen dünkende) Abstraktionsprodukte, sondern am Material entwickelte, immer hypothetische Konstrukte (…)“ (Rehberg 1996a: 12). Die hier propagierte (synthetische) Soziologie ist also vor allem und in verschiedenem Sinne Prozesssoziologie; sie operiert als Theorie und Methodologie in Prozesskategorien, bezieht sich auf Prozesse verschiedener Art, sieht sich im Zusammenhang von (sozialen und soziologischen) Prozessen und versteht sich selbst als Prozess: als ein unabschließbarer theoretisch-empirischer und empirischtheoretischer Prozess, eine Art kontinuierliches „Wechselspiel“ (Elias 1978) oder Kreislauf zwischen theoriebezogenen empirisch-analytischen Arbeiten und empiriebezogenen (Prozess-)Theoriebildungen bis hin zu den allgemeinsten Abstraktionen der Figurationstheorie. Als sich so verstehende ‚Wirklichkeitswissenschaft‘, als Wissenschaft, die alle Wirklichkeit(en) als Wirklichkeit(en) von Prozessen versteht, muss sich diese Soziologie im Gegenstands- wie im fachlichen Fremd- und Selbstbezug permanent auch begrifflich-theoretisch reflektieren, entwickeln, anpassen und neu ‚einrichten‘. Diese Soziologie muss und kann letzten Endes auch immer der sozialen Aktualität/der Aktualität des Sozialen gerecht zu werden versuchen und sich bei zunehmender Beschleunigung des sozialen Wandels nicht zuletzt deswegen ständig selbst aktualisieren, bleibt dabei aber in einem umfassend historischen Sinne systematisch „rückwärts gewandt“. Und sie bleibt, weil sie in diesem Sinne („rückwärts gewandt“) „nach vorne blickend“25 ist und operiert, auch kontinuierlich mit bestimmten (figurations-, zivilisations-)theoretisch kontextierten Grundthemen und Grundfragen beschäftigt, die letztlich auf die Realität der Modernisierung und auf eine Theorie der Modernisierung, der modernen Gesellschafts- und Menschenentwicklung bis hin zu Gegenwart und Zukunft hinauslaufen. Man denke dabei nur an (immer noch und immer wieder) heutige Megathemen wie die Fragen/Diskurse der Globalisierung, der Demokratisierung, der ‚Menschenrechte‘, der ‚Umweltprobleme‘, der ‚Zivilgesellschaft‘, der ‚interkulturellen Beziehungen‘/Konflikte oder der ‚Integration‘/‚Zuwanderung‘ (bis hin zu Fragen wie die der ‚Leitkultur‘), oder man nehme zum Beispiel die Thematiken der Gewalt, der Kriege, der ‚sozialen Ungleichheiten‘, der ‚Exklusion‘ und ‚Inklusion‘, des Geschlechts und der Ge25 Diese Formulierung („Rückwärts gewandt, nach vorne blickend“) stammt von Jörg Bergmann (1991: 319 ff.), der damit allerdings das zentrale Prinzip der ethnomethodologischen Sequenzanalyse von Interaktionsprozessen meint. Dabei handelt es sich sozusagen um eine historische Rekonstruktion im Miniaturformat, die sich aber durchaus auf die methodologische Gesamtvision der Figurationssoziologie projizieren lässt.
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schlechterbeziehungen, der Emotionen und Affekte26, der Intimität/Intimisierung, der (personalen und kollektiven) Identität(en) oder der modernen Reproduktionstechnologien, mit denen die Grenzen von Natur und Kultur zu erodieren scheinen (vgl. Klinger 2002). Die Themen, um die es hier geht, sind direkt oder indirekt bereits (und immer wieder) Themen der Zivilisationstheorie/Zivilisationssoziologie, deren „Langfristsynthesen (…) durchaus nicht nur Probleme vergangener Gesellschaften schärfer umrissen ins Licht (rücken). Auch Gegenwartsprobleme treten mit ihrer Hilfe deutlicher ins Bewusstsein als zuvor und vor allem auch mögliche Zukünfte“ (Elias 2006b: 407). Die Zivilisationstheorie bildet allein aus diesem Grund27 – bei aller Ausbau-, Umbau- oder Korrekturbedürftigkeit im Einzelnen – nach wie vor (oder mehr denn je) einen sachlich, theoretisch und methodologisch passenden Schlüssel auch zu ganz aktuellen Tatsachen, Ereignissen, Entwicklungen und (zukünftigen) Entwicklungsmöglichkeiten. Angesichts der Rapidität und der Beschleunigung des sozio-kulturellen Wandels und speziell angesichts der gleichzeitigen Fortschritte medialer Technologien und Verdatungen bzw. medialer Konservierungen sozialer Prozesse muss man heute zwar nicht mehr nur (und zukünftig immer weniger) auf langfristige Prozesse rekurrieren, um entsprechend gravierende Differenzen und Verschiebungen konstatieren zu können28, aber der (langfristige) historische Prozess im Ganzen bleibt gleichwohl der letzte und soziologisch entscheidend instruktive Bezugsrahmen. Seine (Re-)Konstruktion bildet jedenfalls das Herzstück der hier propagierten Art von Sozial- und Kulturforschung.29
26 Ängste – von der Schamangst bis zur Todesangst, von der Infektions- oder Beschmutzungsangst bis zur sozialen Abstiegsangst oder Fremdenangst – sind hier ein wichtiger Spezialfall, der natürlich in enger und vielfältiger Verbindung mit der Realität und der Theorie der Zivilisation gesehen werden kann. 27 Von anderen Gründen war oben die Rede. 28 Vielmehr kann man schon im Rückblick auf relativ kurze Zeitspannen (wenige Jahrzehnte oder Jahre) signifikante Entwicklungs-Differenzen (und vor diesem Hintergrund häufig auch überraschende Entwicklungs-Indifferenzen/Kontinuitäten) beobachten. Wenn man etwa die heutige Fernsehwerbung mit der aus den 1950er oder 1960er Jahren vergleicht, dann stellt man schon bei oberflächlicher Betrachtung auf Anhieb massive und tiefgreifende (Kultur-)Wandlungen fest, Wandlungen von Ideen, Wertvorstellungen, Deutungsmustern, Rollenbildern, Habitus, Schamund Peinlichkeitsgrenzen usw. 29 Die Langfrist-(Prozess-)Perspektive ist immer soziologisch instruktiv – nicht nur, weil man aus diesem Blickwinkel auf Anhieb größere und große Differenzen erkennt, z. B. in puncto Gewalttätigkeit/Pazifizierung oder Formalität/Informalisierung des Verhaltens. Vor dem Hintergrund dieser Differenzen erhellen vielmehr auch oder gerade relativ kleine und feine Unterschiede, z. B. Formen zunächst weniger offensichtlicher symbolischer Gewalt. Wenn man sie als Abkömmlinge ihrer ‚primitiveren‘ Vorläufer (und Nebenläufer) betrachtet, erkennt man besser ihren Charakter
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Schluss
Es kann also nicht nur von der Art der Themen und Fragen von Elias, sondern auch und mehr noch von der (figurationssoziologischen) Art seines Blicks, von der Art seines Fragens und der Art seines Versuchs, soziologische Antworten zu geben, gesagt werden, dass sie immer noch und gerade heute aktuell sind, ja dass sie als eine Bahnung und Weichenstellung am Anfang des Weges der – insofern tatsächlich immer noch ‚jugendlichen‘ – Soziologie angesehen werden können. Synthetische Soziologie oder Menschenwissenschaft in diesem programmatischen Sinn bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Projektion und das Projekt einer allseitigen wissenschaftlichen Selbstentwicklung, die jedenfalls in Umrissen von einer Gesamtvision und einer Gesamtstrategie im empirischen Gegenstandsbezug wie im reflexiven Rekurs auf ein breites Spektrum soziologischer Wissensbestände und Wissensgeschichten ausgehen kann. Dass die damit anvisierten Expeditionen, Gratwanderungen, Grenzüberschreitungen und Brückenbildungen Sinn machen, sollte gezeigt werden, wie weit sie führen können, wird sich zeigen.
als Modulationen jener Vorläufer. Man erkennt m. a. W. die Relativität von Zivilisation und von Zivilisiertheit, die zugleich als relativ stark und relativ schwach erscheint.
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Barker, Roger 42, 212 Beck, Ulrich 42, 71, 85, 87, 134, 136, 146, 172, 174, 198 Berger, Brigitte 147, 258, 380, 497 Berger, Peter L. 107, 110, 118, 147, 192, 258, 270, 293, 380, 497 Bergmann, Jörg R. 49, 60, 192, 198, 322, 340, 538 Bourdieu, Pierre 17 ff., 38 ff., 68 ff., 135, 148 ff., 162 ff., 200 ff., 208 f., 215, 224, 230 ff., 241, 244, 249 ff., 279, 282, 288, 291 ff., 305 f., 326, 349 f., 360 ff., 384, 404 f., 442, 451 ff., 475, 485, 498, 526 f., 530 ff., 537 Burns, Tom 60, 62, 78, 451 Castells, Manuel 42 f., 103 ff. Castiglione, Baldassare 462 Claessens, Dieter 27, 42, 57, 93 f. Dahrendorf, Ralf 60, 321 Deutschmann, Christoph 29, 35 ff. Diaz-Bone, Rainer 202, 377 Dreitzel, Hans Peter 128 f., 257 ff., 423, 466, 526 van Dülmen, Richard 77, 101, 112, 131 f. Durkheim, Émile 42, 59, 60, 84, 107 f., 110, 224, 245, 253, 293 Eckert, Roland 136, 311, 393 Eichholz, Daniela 212, 364 Ekman, Paul 460, 485
Fischer-Lichte, Erika 20, 114, 216, 251, 265, 318, 321 ff., 331 ff., 339, 342, 344, 352 f., 363, 365, 370 ff., 379, 429, 446 Fiske, John 175, 349 Foucault, Michel 42, 54, 72 ff., 92, 96, 98, 107, 110, 114, 124 ff., 131, 150, 162, 165, 167, 176 ff., 182, 191 ff., 200 ff., 212, 215, 239, 415, 442, 470 f., 525 f. Freud, Sigmund 42, 47, 72 f., 93, 96, 119, 127, 136, 164 f., 457, 461, 515, 518, 521, 525, 531 Fröhlich, Gerhard 233, 283 Gebauer, Gunter 101, 108 f. Gehlen, Arnold 38, 42, 86, 92, 97, 107, 110, 134, 144, 164 ff., 173, 183, 196 f., 238, 258, 290, 293, 303, 306 f., 380, 421, 434, 489, 497, 514, 518 ff., 526 Giddens, Anthony 20, 28, 42 f., 78, 81, 111, 153, 169, 208, 526 f., 530 f., 537 Girtler, Roland 175, 305, 481 Glaser, Barney G. 49, 61 Goethals, Gregor T. 250, 254, 273 Goffman, Erving 26 ff., 38, 42, 44, 50 f., 54, 59 ff., 69, 73 ff., 84, 90, 92, 96, 107, 110, 114 f., 120, 125 ff., 141 ff., 149 ff., 167 ff., 174 f., 179, 191 ff., 199 ff., 212 ff., 224 ff., 231 ff., 244, 248 ff., 262 ff., 269, 272, 277, 279, 284, 287, 289, 293 f., 302, 311, 313, 318, 320 ff., 327 ff., 356 ff., 364 ff.,
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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383, 388, 390, 396, 404, 409 ff., 421, 425, 429, 442 ff., 456, 458, 460 ff., 471 ff., 481 ff., 490, 500, 509, 512, 525 f. Goudsblom, Johan 44, 50 Gracián, Balthasar 464 ff., 480 Greenblatt, Stephen 176 ff., 185 ff. Greene, Robert 467 f. Gumbrecht, Hans Ulrich 208, 264, 281, 333, 377 Habermas, Jürgen 443 ff., 474, 537 Hahn, Alois 34, 44, 76 f., 91 f., 125 f., 132, 137, 142, 153, 173, 179, 215, 260, 283, 286 f., 289, 293, 304, 336, 381, 387, 417, 422, 445 ff., 462, 465, 470, 474 f., 478, 487 ff., 497 Hepp, Andreas 174, 356, 401 Hitzler, Ronald 71, 75, 81, 88, 96, 135, 170, 192, 240, 245, 283, 294, 324, 364, 372, 377, 392, 454, 484 Hurrelmann, Klaus 101, 117, 120 Kaes, Anton 176 f., 181, 189 Kaesler, Dirk 27, 35, 45, 57, 64, 91 Kajetzke, Laura 75 f., 204 Kapp, Volker 76, 92, 125, 132 Kautt, York 20, 89, 133, 238, 241, 263, 270, 275, 302, 311, 316, 339, 375, 382, 394, 399, 503 ff. Keller, Reiner 75, 202, 510 Kellner, Hansfried 147, 258, 380, 497 Knoblauch, Hubert 75, 170, 192, 205, 293 Korte, Hermann 44, 56, 101 Krais, Beate 101, 108 f. Krappmann, Lothar 142
Personenregister
Krieger, David J. 245 f., 251, 256, 262, 264, 340 Kruse, Lenelis 192, 209 Kuzmics, Helmuth 44, 101, 134, 160, 481, 490 Latour, Bruno 198, 528 Lenz, Karl 59, 78, 322, 448, 475, 480, 497 Lichtblau, Klaus 160, 163, 166, 168, 190 Liebau, Eckart 125, 192 Link, Jürgen 76, 87 f., 92, 128, 137, 150, 202, 241, 307 Lipp, Wolfgang 166, 170 Loyal, Steven 44, 533 Luckmann, Thomas 42, 54, 107, 110, 114, 118, 191 f., 199, 224, 270, 283, 293 Luhmann, Niklas 19 f., 26 ff., 32, 40 ff., 55, 58, 64 f., 69 ff., 80, 89, 97, 103, 107 f., 114, 145, 167, 176 f., 183 ff., 191 ff., 200 ff., 208, 224, 252, 260, 264, 341, 409 ff., 443, 452 f., 480, 490, 535, 537 Machiavelli, Niccolo 462, 465 ff. Mannheim, Karl 42, 93, 96, 191, 531 Marx, Karl 25, 29, 33, 38, 41 ff., 69 f., 92 f., 96, 162, 166, 168, 191, 224, 295, 440, 498, 525, 531 Mörth, Ingo 44, 160, 233, 283 Müller, Hans-Peter 39, 83 f., 163, 169, 288 Münch, Richard 375, 412 Neckel, Sighard 138, 514 Neumann-Braun, Klaus 79, 427
Personenregister
Nietzsche, Friedrich 25, 57, 451, 452, 475 Oevermann, Ulrich 42, 54, 69, 114, 125, 192, 194, 197, 307, 340 Parsons, Talcott 18, 31 f., 48, 70, 84, 97, 224, 443 Pfeiffer, Karl Ludwig 208, 281, 333 Plessner, Helmuth 110, 164, 322 Popitz, Heinrich 474, 497 Quilley, Stephen 44, 533 Reckwitz, Andreas 66, 160, 161, 173, 225, 536 Rehberg, Karl-Siegbert 27, 44, 93, 101, 160 ff., 530 ff., 537 f. Riesman, David 42, 86, 107, 109 f., 121, 128, 137, 150, 169, 298, 526 Ritzer, George 85, 88, 92 Scheler, Max 110, 164 Schimank, Uwe 18 f., 83 ff., 92, 138 Schneider, Irmela 82, 88 Schroer, Markus 76, 213 Schröter, Michael 42, 51, 53, 57, 65, 69, 225 Schütz, Alfred 42, 191 f., 199, 224, 525 Schwanitz, Dietrich 400, 440 Scotson, John L. 44, 71, 79, 95, 97, 112, 124, 167, 170, 211, 234, 239, 295, 461 Sennett, Richard 42, 80, 87, 111, 128, 136 f., 169, 206, 222, 258, 307, 400, 422, 436, 488, 495, 497, 500 Simmel, Georg 38, 42 ff., 48, 50, 57, 60 ff., 75, 78, 81, 84, 93, 96, 104, 107, 126, 128, 140, 145 f., 164, 172 f., 191,
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199, 202, 209, 212, 215, 224 ff., 231, 235, 245, 288, 295, 306, 322, 404, 440 ff., 472 ff., 485, 525, 531 Soeffner, Hans-Georg 29, 33, 170, 245, 247, 264 f., 305, 307, 320 f., 341 ff., 372 Strauss, Anselm 49, 61 Sutter, Tilmann 83, 347, 351 f. Tenbruck, Friedrich H. 166 ff., 173, 179, 297, 348 Treibel, Annette 44, 47, 70 f., 87, 101, 134, 146, 172, 218 Twenhöfel, Ralf 61 f. Weber, Max 19, 26, 29 f., 38, 42 ff., 59, 69, 77, 84, 92 f., 96, 107 f., 110, 126, 131, 164 ff., 173, 179, 191, 224, 227, 288, 293, 295, 403, 440, 526, 531 Weiß, Johannes 138, 241, 258, 382, 384, 396, 424, 433 Willems, Herbert 20, 68, 76, 78, 81, 86, 89, 101, 106 f., 109, 125, 132 f., 142 f., 158, 176, 193, 198, 212, 241, 245, 263, 270, 274, 302, 308, 311, 318, 322, 339, 364, 370, 372, 375, 381 f., 389, 394, 399, 427, 435, 446, 503 ff. Winter, Rainer 79, 166, 169, 174 f., 198, 202, 315, 317, 356 Wouters, Cas 137, 258 f., 291
Sachregister
Abgrenzung 148, 232, 305, 307 Abweichung 128, 240, 274, 383, 473 Achtung; siehe auch Ehre, Moral 107, 128, 245, 253, 272, 294, 311, 381, 396, 495 Affekt; siehe auch Emotion 72, 136, 195, 201, 215, 228 ff., 237, 251, 300, 418, 460, 482, 484, 495, 535, 539 Akteur; siehe auch Subjekt 21 ff., 50, 71 ff., 107 f., 118 ff., 141 ff., 168 f., 174 ff., 193 ff., 200 ff., 221, 228 ff., 233, 237 ff., 248 ff., 254, 260, 268 ff., 286, 293 f., 296, 303, 306, 308 f., 309, 314 ff., 319, 321, 323 f., 326, 331 ff., 340, 342 ff., 373 f., 377, 384, 387 ff., 406 ff., 412 ff., 427, 429, 431 f., 441, 444 ff., 455 ff., 465, 470 ff., 476, 481 ff., 499 ff., 514 ff. – Akteur-Netzwerk-Theorie 528 Alltag 49, 79, 96, 128, 169, 199, 218, 245, 250 ff., 262, 286, 294, 302, 330, 340, 342, 349, 394, 408, 428 f., 451 – Alltagstheorie 114, 167, 192, 199, 326, 328 – Alltagswissen 81, 171, 178, 195 f., 217, 224, 339, 451 Alter 289 f., 297 f. 310, 328, 331, 335 f., 371, 461, 508 Anerkennung 237, 315, 378, 392, 422 f. Angst 113, 135, 274, 418, 456 f., 468, 500, 539, 274, 539 Anlass, sozialer 79, 310, 354, 373
Anpassung 80, 118, 125, 186, 221, 303, 358, 410, 418 Anstand; siehe auch Benehmen 128, 228, 253, 499 Anthropologie 63, 65, 97, 110, 164, 167, 215, 226, 444, 466, 468, 519, 521 Architektur 34, 52, 167, 181, 189, 209, 213, 226, 251, 284, 289, 326, 333, 372 Ästhetik; siehe auch Geschmack 68, 171, 284, 289, 298, 319, 407, 418, 432, 510 Aufführung; siehe auch Performance 324, 329 ff., 344, 347, 355, 366, 370, 373, 379, 475 Aufmerksamkeit 243, 270, 298, 303, 309, 343, 353, 363, 378, 393 ff., 398, 400, 431, 439, 511 Aufstieg 148, 368, 401, 491 Ausdruck; siehe auch Expressivität 214, 226, 230, 251, 254, 286, 288, 293, 321, 327 ff., 331, 335, 338, 358, 362, 395, 411, 416, 425 f., 453, 460, 471, 479, 482, 533 Außenlenkung 137, 150, 298 Außenseiter; siehe auch Stigmatisierung, Etablierte 31, 66, 71, 79, 81, 95, 112, 124, 148, 170, 226, 234 f., 239, 290, 461, 530 Authentizität 143, 341, 381, 426, 474 Autonomie 129, 141 f., 147, 186 f., 205, 309, 356, 359, 365, 420, 459, 475
H. Willems, Synthetische Soziologie, DOI 10.1007/978-3-531-93170-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Autorität 128, 187, 274, 326, 392, 396, 413, 503, 511 Balance 58, 138, 146, 148 f., 185, 421 – Wir-Ich-Balance 58, 145 f., 151, 290, 424, 496 Befriedigung 135, 137, 149, 384, 495, 515 Begehren 269, 418, 456, 495, 521 Behavior Setting; siehe auch Setting, Raum, Skript 212, 324 Beichte; siehe auch Institutionen der Selbstthematisierung 77, 125, 465 Benehmen; siehe auch Anstand, Manieren, Sitte 128, 227, 243, 252 f., 255, 262, 385 Beobachter 286, 323, 353 ff., 362, 416, 437, 453 f., 460, 463, 470 f., 478, 483 f., 501 Beobachtung; siehe auch Wahrnehmung 239, 254, 285 f., 301, 350, 352 ff., 362, 415 f., 457, 463, 471, 483, 495, 510, 512, 518 Beratung 133, 205, 258, 374, 376, 390, 414, 439, 463, 491, 504, 511, 515 – Ratgeber 313, 463, 466, 491, 515 Berichte; siehe auch Nachrichten, Journalismus 266, 270 ff., 310 f., 341, 350, 432 f., 439 Beruf, 198, 222, 249, 259, 262, 290, 310, 389 f., 401, 421, 468, 480, 491 Bewegung; siehe auch Raum, Körper 157, 208 ff., 213, 215 ff., 219, 221 ff., 226, 289, 336, 370, 533 Bewusstsein 47, 66, 76, 109, 120, 153, 165, 167, 194, 209, 215 ff., 272, 284 f., 301, 304, 336, 363, 388, 428, 473, 482, 512, 516 f., 533
Sachregister
– Selbstbewusstsein 28 f., 136, 282, 296, 332, 337, 355, 422, 425, 520 Bild, Bildlichkeit; siehe auch Visualität 52, 54, 196 ff., 234, 238, 272 ff., 341, 344, 349, 396, 427, 430, 439, 494, 502 ff., 509, 533 Bindung 72, 181, 186, 194, 229, 312, 363, 390, 392, 394, 423, 494, 516 – Gefühlsbindung 33, 229 Biographie 76, 119, 125, 137, 173, 222, 298, 424, 428, 438, 533 – Biographiegenerator 76, 125, 173, 428 Bühne; siehe auch Region 106, 128, 169, 202 f., 205, 239, 251, 253, 267, 299, 306, 308, 313, 318 f., 323 ff., 331 ff., 343 ff., 350 f., 362, 364, 366, 368 f., 371, 376, 378 f., 384, 389, 396, 406, 411, 416, 421 ff., 427, 430 ff., 440, 452, 475, 485, 502 f. – Bühnensicherheit 253, 421 – Hinterbühne 128, 253, 332, 389, 411, 420, 472, 479, 485 – Medienbühne 251, 431 – Stil-Bühne 308, 312 – Vorderbühne 332, 411 Charakter; siehe auch Haltung 87, 109, 284, 337, 362, 368, 380 f., 460, 462, 481, 483, 500 – Charakterstärke 240, 460 Charisma 238, 245 f., 252, 294, 326, 364, 396, 431, 503 – Gruppencharisma 57, 112, 234, 245 Clique; siehe auch Netzwerk 237, 413, 494
Sachregister
Corporate Identity 376, 390, 414, 445, 506, 510, 520 Cultural Performance 364, 373 Cultural Studies 72, 82, 97, 160, 166, 169, 173 ff., 182, 201, 314 ff., 356 Darstellung; siehe auch Theatralität 198, 226, 236, 251 f., 265, 269 f., 294, 301, 306 f., 321 ff., 334 ff., 339, 342, 344, 357, 362 f., 372, 392, 410 f., 416, 421, 425, 429, 445, 450, 452, 488, 500, 506 Demütigung 248, 253, 264, 276 Denken 180, 183, 215, 230, 249, 290, 295, 391, 406, 436, 441, 492, 498 f., 503, 507, 516 ff. – Denkmuster 113, 192, 528 Design 285, 298, 305, 307, 349, 370, 372, 388, 509 „Deutschland sucht den Superstar“ 383, 434, 436 Deutungsmuster; siehe auch Habitus 31 f., 54, 77, 114, 143, 147, 161, 163, 166, 178 f., 187, 192, 197, 199, 203, 236, 246, 253 f., 282 f., 290, 297, 300, 309, 312, 318, 326, 346, 358, 374, 377, 388, 462, 469, 512, 514 f., 518 f., 539 Differenzierung, soziale 65, 70, 111, 141 f., 147, 212, 219 f., 231, 289, 388, 500 – Entdifferenzierung 82, 390 – funktionale Differenzierung 65, 70 f., 97, 148, 170, 184, 186, 256, 260, 295, 304, 387, 397, 438, 487, 504 Ding 170, 188, 208 f., 222, 226, 404, 533 Diskretion 473, 476, 496
583
Diskurs; siehe auch Semantik, Wissen 19, 27, 31 ff., 51 ff., 60, 73 ff., 90, 93 ff., 103, 106 ff., 117, 133, 138, 140 ff., 147, 149 f., 153, 158, 161 ff., 173, 193, 196, 200 ff., 222, 253, 255 f., 263, 267, 281 ff., 299 ff., 313, 323, 327, 338 f., 371, 374 ff., 379, 382, 386, 418 f., 439, 442 f., 452, 502, 511, 514, 527, 538 – Diskursanalyse 54, 201, 203 f. – Diskurstheorie 75 ff., 96, 182, 187, 200 ff., 443 Disposition 212, 249, 266, 275, 283, 286, 292 ff., 302 f., 308, 337, 339, 363, 381, 391 f., 428, 439, 446, 456, 462, 483, 501, 505 f., 511, 514, 519 Dispositiv 75, 193, 203 Distanz; siehe auch Engagement 137, 142, 144, 342, 479, 483 f., 489, 496 f. – Distanzierung 30, 58, 61, 97, 135, 144, 214, 290, 306, 423 Distinktion 31, 35, 66, 68, 71, 79 f., 97, 115, 124, 130 f., 147 ff., 169 f., 195, 213, 230 ff., 240 f., 248, 281 f., 290, 296, 298, 305 ff., 326, 366 ff., 404 f., 422, 527 – Distinktionsbedürfnis 130, 147 f., 306, 367 f. – symbolische Distinktion 170, 240, 367 Disziplin 65, 74 f., 80, 125, 127, 137, 139, 177, 179, 184, 202, 217, 220, 258, 415, 458, 470 f., 511 – Selbstdisziplin 76, 127, 298, 470 Doktrin; siehe auch Diskurs 114, 254 Doppelgleisigkeit, theoretisch-empirische 49 ff., 58, 88, 98, 536 Dramaturgie 239, 332, 370
584
Ehre; siehe auch Achtung 66, 128, 147, 236, 243, 253, 258, 267, 294, 380 f. Ehrlichkeit 337, 381, 446 ff., 486 ff. Eindruck 56, 128, 272, 294, 313, 322, 324, 331, 354, 358, 394, 411 ff., 440, 445, 448, 466 f., 484, 489 Ekel 128, 179, 276, 418, 498 Emotion; siehe auch Affekt 66, 72, 110, 113, 120, 129, 136, 181, 195, 200 f., 215, 229, 251, 281, 288, 428, 432, 460, 512, 515, 533, 539 – Emotionsmanagement 136, 136, 428, 460 Empathie 460, 463, 483, 500 Engagement; siehe auch Distanz 30, 32, 58, 133, 218, 290 Ensemble 233, 367, 373, 399, 401, 409, 411, 413, 445, 460 f., 477 Entfremdung 144, 197, 262, 473 Entscheidung 108, 141, 146, 260, 296, 306, 355, 379, 391, 410 ff., 419, 442 ff., 452, 458, 461, 483, 489, 499, 501 Epoche 226, 277, 281, 289 f., 307, 336, 434 Erfolg 30, 35 ff., 118, 122, 138, 149, 268, 272, 287, 309, 313, 348 f., 351, 375, 391 ff., 399, 403, 406, 413, 435 f., 441, 443 f., 469, 481 f., 487, 490, 499, 500, 503 f., 514 ff. Erlebnis; siehe auch Event 85 ff., 105, 135 ff., 148, 170 ff., 219, 241, 275, 300, 350, 371 f., 375 f., 407 ff., 425, 427 ff., 434, 515, 520 Erotik; siehe auch Sexualität 73, 136, 209, 216, 399, 400, 480 Etablierte; siehe auch Macht, Außenseiter 31, 66, 71, 79, 95 f., 112, 124,
Sachregister
148, 170, 226, 234, 239, 290, 461, 530 Ethnomethodologie 69, 199 Etikette; siehe auch Ritual, Manieren 226, 244, 247, 260 f., 326, 367 f. Event; siehe auch Erlebnis 88, 135, 213, 326, 343, 364, 369, 371, 375 ff., 390, 392, 407 ff., 413 f., 439 Existenz 116, 118, 122, 146, 183, 186, 237, 294, 301, 371, 424, 437, 438, 442, 451 f., 481, 490, 495, 501 Exklusion; siehe auch Inklusion, Grenze 32, 55, 74, 79, 115, 232, 286, 301, 505, 538 Expressivität; siehe auch Ausdruck 337, 339, 423, 425, 482 Feld; siehe auch Figuration 65 ff., 73, 76 ff., 89, 94, 97 f., 101 ff., 114 ff., 131, 139 f., 161 f., 169, 173 ff., 183 ff., 217 f., 229 ff., 245 ff., 255, 262 ff., 290 ff., 300 ff., 308, 314 f. – Feld-Figuration 231, 247 ff., 265, 367, 481 – Feld-Markt 499 – Feldtheatralität 362 – Kraftfeld 37, 431 Feld/Habitus-Ansatz 103 f., 204, 364, 369 Fernsehen 188, 267 f., 271, 343 ff., 370, 375, 383 f., 430, 432 ff., 438, 502 – Unterschichtenfernsehen 310 Figuration; siehe auch Verflechtung, Feld 30 ff. – Figurationsanalyse 71, 118, 238, 248, 255, 367 f., 459 – Figurationsbegriff 82, 94, 101, 103, 106, 112, 445
Sachregister
– Figurationsprozess 53, 95 f., 106, 117, 162, 166, 197, 217, 228, 231, 249, 255, 261 f., 265, 278, 292, 295, 319, 326 f., 367, 369, 470, 481, 483, 486, 501, 505, 511, 517 – Figurationsritual 277, 280 – Figurationssoziologie 17 ff., 30, 38 ff., 103 ff., 131, 139 ff., 154, 157, 160 ff., 172 ff., 190 ff., 216, 222 ff., 231 ff., 277 ff., 314 ff., 324 ff., 336 ff., 352 ff., 385 f., 410, 440 ff., 454, 469, 473, 478 f., 485 f., 501, 511, 521, 526 ff. – Figurationstheatralität 362, 368, 370 – Figurationstheorie 44 ff., 79 ff., 98 ff. – Gesellschaftsfiguration 295, 302, 486, 488, 513 – Medienfiguration 98, 105, 207, 308 – Weltfiguration 87 Fluidität 82 f. Formalisierung 296, 414, 487, 491 f. – Informalisierung 88, 137, 139, 149, 185, 197, 218, 256 f., 270, 291 ff., 312, 380, 385, 414, 496, 500, 539 Freiheit 147, 182 ff., 260 f., 296, 300, 306, 308, 316, 359 f., 391 f., 423, 441, 470, 489, 496, 500 f. Freundschaft 400, 475 f., 497 f. Fußball 249, 264, 332, 431 Gedächtnis 146, 230, 279, 310, 393, 398 f., 415 f., 471, 533 Gefallen 395, 413
585
Gegenwartsdiagnose; siehe auch Zeitdiagnose 18, 30, 83 f., 92, 113 f., 137 f., 158, 442, 529, 533 Geheimnis; siehe auch Verbergen, Täuschung 199, 253, 411, 442 ff., 454, 472 ff., 497, 513 – Geheimhaltung 324, 411, 467, 472 ff., 485 – reflexives Geheimnis 478 – Verheimlichung 467, 472 f. Geld 133, 237, 259, 280, 295, 397, 403 ff., 437, 488, 492, 495, 503 Gelassenheit 240, 460 Geltung 130, 147, 236, 253, 294, 307 ff., 378, 391, 396 f., 422 f., 451, 494 f. Gemeinschaft 31, 145 f., 230 f., 248, 264, 343, 516 f. – posttraditionale Gemeinschaft 392 Generation 116, 141, 259, 290, 301 Genuss 135 f., 425 Geruch 334 Gesamtvision, soziologische 21, 34, 42 f., 81, 97, 144, 157, 194, 212, 242, 277, 339, 385, 442, 455, 530 ff. Geschichte 19, 46, 117 ff., 139, 178, 181, 189, 202 f., 231, 292, 481, 534 f. – Gattungsgeschichte 69, 111 – Gesellschaftsgeschichte 39, 46, 111, 158, 251, 258, 262, 282, 288, 301 f., 378, 386, 415, 480, 486, 500, 505 Geschmack 66 ff., 161, 171, 179, 181, 201, 268, 275 f., 281, 291, 310 f., 384, 464, 467 Gesellschaft 26 ff., 39 ff., 46 ff. – erregte Gesellschaft 92
586
– Erlebnisgesellschaft 85 ff., 136 f., 148, 170 ff., 219, 241, 275, 300, 407 ff., 434 – geheime Gesellschaft 447, 473 – gute Gesellschaft 237, 261, 300, 305 – Kommunikationsgesellschaft 86, 206 – Konsumgesellschaft 86, 403 ff. – Lügengesellschaft 442, 452, 499 – Multioptionsgesellschaft 86, 428 – Multizwangsgesellschaft 428 – Risikogesellschaft 85 f., 134 – Welt-Risikogesellschaft 134 – Zivilgesellschaft 538 Gespür 194, 201, 249, 350, 511 Gestalt 145 f., 152, 228, 289, 292, 305, 313, 337 – Gestalttheorie 152, 289 Gesundheit 133, 135, 220, 269, 417, 495, 520 Gewalt 72 ff., 134, 137 f., 184, 237, 276, 437, 456 f., 505, 520 f., 538 f. – Gewaltbereitschaft 456, 521 – physische Gewalt 138 – symbolische Gewalt 79, 138, 239, 252, 539 Gewissen 137, 141, 296 Gewohnheit; siehe auch Habitus, Mentalität 47, 66 ff., 72, 101 f., 107 ff., 165, 171 ff., 191, 201 ff., 216, 222, 240 ff., 249 f., 279, 290 ff., 303 f., 329, 336, 363, 446, 461, 501 f., 511, 521 Gier 138, 495 Globalisierung; siehe auch Weltgesellschaft 63, 65, 131, 134, 530, 538 Goffmensch 75, 81, 240, 324, 454, 479, 484 f.
Sachregister
Grenze; siehe auch Exklusion, Inklusion 20 ff., 74, 79 ff., 115 ff., 128 ff., 149, 179 ff., 202 f., 221, 227 ff., 238 ff., 260, 267 ff., 276, 283, 298, 317, 320, 327, 328, 331 f., 336, 341, 344 f., 356 f., 383 ff., 411 ff., 442, 449, 454, 457 ff., 476, 482, 496 f., 526, 539 – Ausgrenzung 79, 232 – Peinlichkeitsgrenze 129, 539 – ritueller Grenzbereich 267, 270 – Schamgrenze 372 – symbolische Grenze 128, 227, 269 f., 383, 497 Gruppe 69, 116, 121, 147, 151, 161, 185, 211, 220, 228 ff., 244 f., 260, 264, 269 ff., 289, 292, 305 f., 312 ff., 352, 355, 357, 372 ff., 445 ff., 450, 453, 477 f., 510, 516, 519, 529 – Gruppengeheimnis 477 – Gruppenschande 234 – Randgruppe 309, 394 Habitus; siehe auch Stil, Mentalität, Deutungsmuster, Gewohnheit, Kompetenz 31 ff., 47 ff., 65 ff., 91, 94, 101 f., 162 ff., 268 ff., 290 ff., 348, 352, 358 ff., 395 ff., 418, 438, 441, 446, 458 ff., 470 ff., 500 ff., 511 ff., 521 ff. – äußerer Habitus 292, 305, 337 – Habitualisierung 122, 150 ff., 296, 486 – Habitus-Individualisierung 150, 152 – Habitus-Wissen 181, 184, 196, 201, 217 – Habitusbegriff 73, 94, 101 f., 107 ff., 127, 151 f., 169, 172, 281, 291 f., 336, 361 f., 441, 446, 474
Sachregister
– Habitusentwicklung, Habitusgenese 65, 73, 112, 115, 118, 124 f., 128, 203, 482 – Habitusform 37, 81, 111, 118, 127, 152, 183, 201, 217, 238, 276 f., 302, 362 f., 368, 395, 405, 459, 480, 484 f., 490, 500, 512, 525 – Habitusformation 105, 118, 123, 152, 195, 307 – Habitustheorie 32, 68, 81 f., 101, 108 ff., 115 ff., 131, 150 f., 165, 175 ff., 187, 199, 230, 249 f., 279, 293, 361, 460 f., 521 f. – Körper-Habitus 215, 230, 246 – Zeit-Habitus 216 Haltung; siehe auch Charakter, Habitus 62, 284 ff., 335, 362, 492, 495, 513 Handlung 30 ff., 58, 65, 78 ff., 97, 104 ff., 136, 141, 170 ff., 199 ff., 217 f., 268 ff., 281 ff., 328 ff., 341 ff. – Handlungsfeld 240, 249, 303, 351, 397, 401, 449, 457, 460, 490 – Handlungsführung 374, 452, 466 ff., 489, 512 ff. – Handlungskunst 58, 218, 396, 459, 484 – Handlungslogik 108, 268, 487, 507 – Handlungsmächtigkeit 175, 458 – Handlungsrationalität 239, 463 ff., 482, 512 f., 518 – Handlungsspielräume 199, 219 f., 233 ff., 390, 412, 457, 470, 489, 496 – Handlungsstil 37, 281, 287, 296, 480, 488, 500, 515 – Handlungstheorie 41, 240, 441, 455, 459, 472, 479, 518 Handy 221 Hedonismus 87, 136
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historische Gesellschaftspsychologie; siehe auch Figurationssoziologie, Prozesssoziologie 46 f., 62, 72, 162, 191, 194, 379, 386 Hof, höfische Gesellschaft 31, 59, 61, 77, 95, 101, 108, 118, 130, 147 f., 170, 199, 210 f., 231 ff., 238, 247 f., 255 ff., 300, 313, 326, 367 f., 413 ff., 463, 470 f., 481 ff., 512, 517, 530 – Höfling 75, 112, 118, 147, 368, 446, 462 ff., 484 f., 500, 506, 512 f. Höflichkeit 128, 137, 262 Homecam 427 Homepage 390, 402, 427 Homo oeconomicus Hybridität, Hybridisierung 82, 88, 139 Ich 137, 141 ff., 250, 261, 290, 420 f., 459, 494 ff., 516, 533 – Ich-Identität 141 f., 421 Idealisierung; siehe auch Mystifikation 235 ff., 309, 313, 410 f., 437, 451, 466, 485, 510 Ideen 133, 147, 162 f., 183 f., 195, 210, 217, 260, 269, 284, 346 ff., 391, 438, 506, 514 f., 539 – Ideenpluralismus 348 Identität 66, 73 ff., 110 ff., 140 ff., 175, 185 f., 202, 210 ff., 232, 240, 248, 252, 264, 269, 280, 298, 306, 311 ff., 329, 344, 380, 386, 399 ff., 420 ff., 435 ff., 498, 502 ff., 525 ff. – Corporate Identity 376, 390, 414, 445, 506, 510 f., 520 – kollektive Identität 142, 147, 280, 539 – partizipative Identität 142
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– personale Identität, persönliche Identität 142, 240, 248, 298, 313, 421 – soziale Identität 142, 149, 232, 329, 410, 421 – Wir-Identität 142, 145 Ideologie 32 f., 166 f., 177, 191, 232, 312, 349, 391, 514, 525, 531, 536 Image; siehe auch Verlegenheit 73, 79, 86, 106, 128, 169, 203 ff., 217, 236 f., 252 f., 268 ff., 282, 294, 297 ff., 310 ff., 346 ff., 364 ff., 371 ff., 431 f., 477 ff., 520 – Image-Arbeit 237 f., 241, 272, 301, 324, 350 f., 373 ff., 382, 387 ff., 396 ff., 412 f., 436, 440, 452, 481, 484, 489, 509 ff., 520 – Image-Verletzung 276, 437 impression management 36, 169, 412, 451 Improvisation 180, 182, 186 Individualisierung 65 ff., 87 f., 92 ff., 101 ff., 117 f., 170 ff., 185 ff., 213, 219, 221, 235 ff., 256 ff., 282 f., 290 f., 296 ff., 377, 381 ff., 406, 418 ff., 458 f., 470, 475, 482 ff. – Individualisierungstheorie 87, 92 f., 140 ff., 148, 150, 172, 240, 420, 517, 530 – kulturelle Individualisierung 145, 148 – Massenindividualisierung 112, 144, 423 – strukturelle Individualisierung 145 f. Individualismus 35, 76, 107, 143 ff., 260, 378, 458, 515
Sachregister
– expressiver Individualismus 313, 422 – methodologischer Individualismus 53, 527 Individualität 66, 74, 95, 123, 141 ff., 183 f., 235, 240, 298, 307, 400, 421 ff., 475 Individuum 47 f., 51 f., 66 ff., 97, 107, 111, 117 ff., 173 f., 184 f., 195, 240, 253, 258 ff., 292, 306, 313, 420 ff., 450 f., 495 ff., 519, 534 Information 75, 104 f., 195 ff., 220, 239, 299, 311, 328, 338, 354, 373, 387 ff., 396 ff., 411 ff., 445 ff., 460, 467 ff., 498 ff., 527 – destruktive Information 411, 467, 485 – Informationspolitik 75, 239, 373, 411 f., 446 ff., 476 f., 485 – Informationszeitalter 104 f., 206 Inklusion; siehe auch Exklusion, Grenze 64, 74, 79, 97, 115, 260, 286, 301, 534, 538 Institution 82, 108, 133, 144, 147, 186 f., 248, 471, 477 – Institutionen der Selbstthematisierung; siehe auch Beichte, Psychoanalyse, Psychotherapie 77, 125 – totale Institution; siehe auch Stigmatisierung 77, 81, 120, 125, 174, 212, 264, 471 Inszenierung; siehe auch Theatralität 73, 113, 187 f., 205, 241, 251, 266 ff., 319 ff., 352, 354, 362 ff., 427 ff., 495, 509 f. – Inszenierungsgesellschaft 86, 205, 330 f., 363, 372, 381, 409, 442
Sachregister
Interaktion 57, 62, 69, 79 ff., 95, 105, 114 f., 123 ff., 184, 214 ff., 228 ff., 272 ff., 319 ff., 410 ff., 427 ff., 481 ff., 525, 534 ff. – Interaktionsordnung 75 ff., 114 f., 128, 137, 227, 236, 241, 252 ff., 275, 320, 335 ff., 367, 384, 389, 430 – Interaktionsritual 169, 243, 249, 252 ff., 324, 340, 362 – rituelle Interaktionsordnung 128, 252 f., 262, 389 – strategische Interaktion 340, 364, 442 ff., 477 f., 483, 519 Interdependenz 104, 122, 132 ff., 146, 196, 204, 209, 229, 260, 265, 273 ff., 309, 352 f., 376, 427, 430, 493, 528 f. Interdisziplinarität 46, 177 Internet 64, 83, 95 f., 105 f., 115, 153, 158, 198, 205, 213, 238, 251, 279 f., 301 ff., 323, 338, 344, 351 ff., 361, 384, 387 ff., 396 ff., 415, 422, 426 ff., 455, 471 f., 481, 488, 498, 503 – Internetisierung 106, 198, 213, 396 Intimisierung 65, 144, 496 f., 539 Intimität 199, 245, 343, 369, 382, 397, 436, 475, 480, 497 ff., 511, 520, 539 – Tyrannei der Intimität 137, 258, 436 Intrige 413, 485 Journalismus; siehe auch Nachrichten, Berichte 68, 189, 266 ff., 323, 375, 389, 394, 398, 480 Jugend 284, 287, 297 ff., 310 f., 380, 428 – Jugendlichkeit 269, 297 ff. – Jugendlichkeitskomplex 298, 299 – Verjugendlichung 297 ff.
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Kampf 80, 168 f., 202, 230, 232 ff., 279, 365 f., 373 ff., 397, 402, 436, 440 ff. – Statuskampf 169 Kapital 65 ff., 79 f., 87, 103, 106 f., 115, 138, 169 f., 195, 203 ff., 222 ff., 268 ff., 296, 298, 308, 318, 326, 351, 366, 404 f., 413, 458 f., 485 ff., 512, 530 – Kapitalgenerator 459 – Kapitalladung 459 – kulturelles Kapital 169, 195, 282, 287, 296, 308, 404, 459, 502 – symbolisches Kapital 31, 68, 79, 106, 169 f., 195, 224 ff., 245, 268, 279, 326, 459, 512 Kapitalismus 138, 222 – flexibler Kapitalismus 87, 206, 488 – Sozialkapitalismus 493 Kind, Kindheit 124, 149, 167, 252, 263, 294, 297, 310, 329, 376, 392, 396, 439, 498, 520 Kirche 264, 331, 350, 376, 391, 412 Klasse 26, 71, 108, 111, 121, 147 f., 151, 169 f., 220, 279, 281, 290 f., 305, 325, 381, 406, 453, 461 Klassiker 40 ff., 59, 74, 78, 84, 92, 107, 110, 118, 191, 199, 215, 226, 245, 288, 447, 451, 473, 527, 530 Kleidung 52 ff., 133, 181, 189, 209 f., 216, 226, 240, 245, 248, 259, 284, 298, 307, 311, 313, 333 f., 377, 380, 406 Klugheit; siehe auch Strategie, strategisches Handeln 201, 437, 446, 462 ff., 477, 480, 486, 490, 490 ff., 506 ff. – Klugheitslehre 313, 463 f., 467 f., 511 Knappheit 35, 56, 138, 174, 219, 270, 309, 343, 392 ff.
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Kommerzialisierung; siehe auch Konsum 213, 369, 376 Kommunikation 20 ff., 73, 75, 107 ff., 130, 137, 152, 184, 198 ff., 208, 214, 220, 226, 241, 260, 266, 272, 304, 309, 313 ff., 333 ff., 379, 393 f., 401, 411, 427, 432, 446, 453, 471, 475, 502 ff. – kommunikative Gattung 54, 106, 114, 192, 199, 203, 272, 282, 310, 314, 318, 339, 351, 369, 418, 422 – visuelles Kommunizieren 198 Kompetenz; siehe auch Urteilskraft, Habitus 65, 81, 111 ff., 133, 175, 194 ff., 201, 212, 217 ff., 230, 240, 244, 249, 253, 279, 292, 296 ff., 316, 337 ff., 350, 362, 397, 404, 421 ff., 446, 451, 459 f., 482 ff., 488, 504 – Handlungskompetenz 182, 395, 424, 460, 494 f. – Inkompetenz 111, 115, 249, 387, 404 Komplexität 30 ff., 82 f., 93, 106, 113, 117, 126, 132, 152, 163, 190, 274 f., 291, 312, 325, 357, 360, 387, 397, 427, 439, 449, 488 f., 528 f. König 112, 231, 237, 251, 255, 321, 368, 487 Konkurrenz 35 f., 47, 71, 80, 115, 168 ff., 204, 228, 230 ff., 279, 309, 343, 349, 365 ff., 376 ff., 392 ff., 412, 436 ff. Konsens 360 – Konsensfiktion 34, 497 Konsum 39, 86, 135 f., 167, 209, 284, 304 ff., 378 ff., 402 ff., 439, 487 f., 495 – Konsumisierung 403, 405, 407, 487
Sachregister
– Konsumismus 378, 403, 487 – Konsumkapitalismus 307, 311, 405 f. – Konsumkultur 130, 133, 307, 406 Kontingenz; siehe auch Unbestimmtheit 110, 153 ff., 168, 182, 274 ff., 296 ff., 312, 351, 360 ff., 390 ff., 423 ff., 460, 488 f., 500 f., 506 – Kontingenzbewusstsein 197, 274, 306, 312 Kontrolle; siehe auch Macht 126, 132, 177 ff., 328, 331, 336, 349, 409 ff., 458, 469 ff. – Affektkontrolle 136, 460, 482 – Fremdkontrolle 124, 179, 298, 328, 415, 458, 465 – Informationskontrolle 199, 411, 416, 447, 467, 473, 476, 485 – Innenkontrolle 76 – Selbstkontrolle 74, 90, 124, 133 f., 165, 172, 179, 217 ff., 228, 298 f., 336, 415, 421, 428, 446, 460 ff., 472, 482 ff., 494 – soziale Kontrolle 65, 76, 124 ff., 135, 179, 336, 414 ff., 456, 469 ff., 489 – sozialisatorische Kontrolle 126 Kooperation 134, 260, 273, 365 Körper; siehe auch Bewegung 52, 66, 72 ff., 80, 128 ff., 151 ff., 181, 195, 200 ff., 240 ff., 251, 272, 284 ff., 319 ff., 365, 377, 382, 423 ff., 520, 533 – Körper-Symbolik 215, 335, 338 – Körperbild 216, 344 – Körperdarstellung 425 – Körperhygiene 133 – Körperpflege 133, 216, 377
Sachregister
– Körpersinn 426 – Oberflächen-Körper 425 – Tiefen-Körper 425 Korporalität 115, 208 ff., 216, 246, 251, 272, 299, 306, 319 ff., 353, 363 ff., 391 ff., 418, 424 f., 430, 446, 532 Krankheit 110, 257, 336, 371, 402, 473 Kreativität 57, 115, 175, 182, 189, 195, 268, 309, 317, 349, 423 Krieg 112, 134, 143, 257, 435, 480, 491 f., 538 Krise 25 f., 29, 37, 130, 134, 138, 256 f., 273, 284, 388, 393, 415, 494, 525 – Kriseninterventionsressource 388, 393 Kulisse, hinter Kulissen 128, 144, 333, 335, 411, 436, 475, 479 Kult 35, 135, 241, 245 f., 373, 378 Kultur; siehe auch Wissen 35 ff., 65, 105 f., 153, 159 ff., 201, 210, 220, 226, 244 ff., 265 ff., 284 ff., 297, 300 ff., 315 f., 336, 346 ff., 370, 375 ff., 395, 427 ff., 475, 507 ff., 518 ff., 528 ff., 539 – Gegenwartskultur 40, 248, 320, 404 – Körperkulturforschung 215 – Kulturalität 153, 164, 168, 177, 190, 226, 529 – Kulturbegriff 160 ff., 166, 175, 177 f., 182, 190, 316, 475 – Kulturindustrie 119, 266, 406, 508 – Kulturintelligenz 348 – Kulturproduzent 348 – Kultursoziologie 25, 73, 160, 163 ff., 193, 277, 284, 528 – Kulturtheorie 65, 160 ff.
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– Kulturwissenschaft 25, 159 ff., 284 ff., 302, 323, 356, 375, 453, 533 – Massenkultur 206 – Publikumskultur 133, 269 ff., 299, 348 ff. – Spezialkultur 96, 282, 301, 305, 377, 395, 429, 439 – Subkultur 174 ff., 264, 270, 289, 305, 325, 382, 395 Kunst 54, 103, 136, 177, 183 ff., 196, 245, 250 f., 264, 284, 289, 304 ff., 315, 323, 331, 346, 363, 369, 375, 381 f., 394 ff., 408, 414, 430, 464 ff., 480, 506 Lachen 179, 482 Langsicht 136 f., 217, 222, 237, 482, 488, 500 Leben 79, 95, 101, 111 ff., 135 f., 165, 167 ff., 175, 185, 189, 192 ff., 215 ff., 245, 248 ff., 329 ff., 344 ff., 437, 448, 496, 500 f., 514 ff., 521, 532 ff. – Lebenswelt 97, 115, 133, 167, 192, 196, 199, 217, 263, 284, 295, 305, 307, 330, 346, 371 f., 377, 406, 420, 428 f., 436, 451 Leid, Leiden 219, 257, 258 Lernen; siehe auch Sozialisation, Zivilisation, Kompetenz 86, 110 f., 119, 121 f., 133, 141, 195, 226, 303, 336, 419, 535 – Lernprozess 21, 72 ff., 117, 119 ff., 133, 149, 200, 217, 294, 534 Lesart; siehe auch Wahrnehmung 75, 83, 114, 315, 355 ff., 463 lever; siehe auch Zeremonie 231, 248, 255, 368, 500
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Lüge 324, 401, 411, 442, 447 ff., 460, 462, 473, 485, 489 f., 516 Lust 135 ff., 276, 409, 418, 456, 515, 518 – Kampfeslust 484 – Lustprinzip 409, 515, 518 Macht; siehe auch Kontrolle, Etablierte 31, 35, 58, 65 f., 71, 74 ff., 105, 115, 125 f., 162, 168, 174 ff., 202 ff., 212, 215, 221, 228 ff., 246 ff., 260, 293, 310, 315, 336, 366 ff., 382, 391, 413, 437, 440 ff. – Eigenmacht 458 – Gegenmacht 315, 420, 458 f., 472 – Macht-Strategie 249, 469 – Machtlosigkeit 458 – Machtpolitik 503 – Machtspiel 71, 367 – strategische Macht 231 Manieren; siehe auch Benehmen, Etikette, Ritual 87, 137, 248, 252 f., 258 f. Marke 326, 508 Markt 35, 106, 113, 136, 189, 237, 267, 343 ff., 376, 384, 390 ff., 397 ff., 414, 438 ff., 499 ff., 504, 508 – Marktgesellschaft 86, 400, 442 – Vermarktlichung 213, 376, 386, 399 ff., 412, 487, 498 ff., 505 f. Marxismus 25, 33, 41 Materialität 66, 73, 80, 157 ff., 208 ff., 319, 333 ff., 405, 455, 532 ff. McDonaldisierung 36, 88, 92, 439, 520 Medialität 113, 309, 347 ff., 430, 533 Mediatisierung 83, 91 ff., 166, 194 f., 238, 251, 265, 278 ff., 351, 360, 376,
Sachregister
382, 396, 412, 426 ff., 487 f., 498, 502 ff., 525 Medien; siehe auch Internet 37 ff., 64 ff., 94 ff., 130 ff., 174 ff., 189 ff., 241 ff., 338 ff., 456 f., 480 ff., 498 ff., 528 ff. – Massenmedien 64, 103 ff., 150 ff., 197, 238 ff., 251, 265 ff., 338 ff., 361 ff., 426 ff., 451, 481, 503 ff. – Medien-Figuration 77, 98, 105, 174, 207, 276, 308, 316 – Mediengesellschaft 86, 95, 206, 426, 442 – Medienkultur 95, 113, 266, 307, 319 f., 351, 432, 529 Meinung 137, 237 f., 343, 346, 349, 503 Mensch 17, 29 f., 41 ff., 71 f., 78 ff., 107 ff., 119 ff., 164 ff., 210 ff., 257 ff., 289 ff., 321 ff., 368, 380 ff., 400, 408 ff., 420, 436, 451 ff., 465 ff., 496, 500, 506, 512, 518 ff., 538 – flexibler Mensch 136, 500 – Genussmensch 135 – Menschenwissenschaft, 17, 20 f., 29 ff., 43 ff., 50, 52, 63, 71, 110, 140, 210, 451, 540 – Menschheit 141, 226 f., 230, 475 Mentalität; siehe auch Habitus, Gewohnheit 31, 40, 52, 62 ff., 90, 101 ff., 127, 137 ff., 161 ff., 191 ff., 217 ff., 240 ff., 258 ff., 277, 282, 290, 297 ff., 310 ff., 326 f., 358, 373 ff., 397 ff., 434, 443 ff., 458, 461, 481 ff., 492 ff. – Forschungsmentalität 30, 44 – Mentalitätswandel 264, 376, 383, 434
Sachregister
– Rational-Choice-Mentalität 138, 405 Methode, Methodologie 18, 26, 42, 47, 52 ff., 64, 177, 340, 527, 538 Milieu 81, 113, 147, 171, 192 ff., 262, 282, 290 f., 296 ff., 310, 325 ff., 378 ff., 395, 406 Mobilität, Mobilisierung 47, 57, 66, 178 ff., 209, 213, 260, 262, 387, 500 ff., 489 Mode 30, 73, 189, 209, 216, 262, 284, 298 f., 311, 336, 382, 385, 438 Modell 42 ff., 59 ff., 78 ff., 95, 112 ff., 128, 143, 178 ff., 236 ff., 247 ff., 278, 285, 297 ff., 314, 318 ff., 340 ff., 365, 378 ff., 405, 411, 418 f., 438, 446 f., 453 ff., 499 ff., 521 ff. – Ritualmodell 62, 340 – Sender/Empfänger-Modell 353 – Theatermodell 21, 78 f., 320 ff., 340, 347, 354, 358, 365, 371 ff., 388, 410 f., 447, 466, 476, 479, 525 Modulation; siehe auch Rahmen 226, 254, 263, 266, 287 f., 304, 344, 435 – Heruntermodulation 276, 437 – Hinaufmodulation 437 Moral; siehe auch Achtung, ÜberIch 66, 80, 125 ff., 135 ff., 147, 161, 177 ff., 201, 232 ff., 268, 275, 297, 350, 380 f., 399, 419, 447 f., 489, 494, 500, 519 – Leistungsmoral 138 – Moral der Pflicht 135 – Spielmoral 138 – Würdemoral 147, 260, 380 Musik 54, 226, 259, 298, 371, 376 f., 428, 438 f. – Musikalisierung 428
593
Mystifikation; siehe auch Idealisierung 56, 239, 411, 451, 485, 525, 536 f. Mythen 51 f., 96 f., 525 – Mythenjäger 51, 97, 143, 167 Nachrichten; siehe auch Berichte, Journalismus 266, 268, 270 ff., 310, 341, 350, 360, 431 f., 438 f., 504 Natur 65, 165, 215, 260, 316, 426, 460, 521, 534, 539 – Naturalisierung 249 Natürlichkeit 249, 293 f., 341, 381, 426, 484 Neigung; siehe auch Habitus 249, 253, 289, 293, 337, 459, 465 f. Netzwerk 26, 31 ff., 43, 67 ff., 91, 101 ff., 112, 139, 145, 203, 222, 250 ff., 282, 286, 290, 305, 326, 337, 352, 387, 412 ff., 421, 455 f., 492 ff., 525 ff. – Netzwerkansätze 101, 103 ff., 352, 528 – Netzwerkgesellschaft 35 f., 86, 103 ff., 106, 206, 492 f., 520 – Vernetzwerkung 105 f., 492, 498, 525 – Weltnetzwerkgesellschaft 106 New Historicism 176 f., 181, 193 Norm 72 ff., 133, 147, 167, 217, 221, 259, 269, 274, 284, 297, 336, 380 ff., 415, 418 f., 438, 444, 448, 460 – Normalisierung 73 ff., 88, 125, 140, 145, 148 ff., 239 ff., 299, 383, 480, 486 – Normalisierungsgesellschaft 76, 125, 150, 239 – Normalismus 36, 76, 88, 92, 149 f., 153, 173, 202, 241, 307, 326, 520
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– Normalität 35, 73 ff., 120, 135, 145 ff., 217, 221, 239 f., 254, 268 f., 273 f., 305 ff., 326, 330, 350, 383, 415, 418 f., 438 Nutzen; siehe auch Rational Choice 405, 444 f., 450, 452, 508 Ökonomismus 33, 70 Ordnung 38, 69, 71 ff., 102 ff., 112 ff., 145, 152, 164, 167 ff., 195, 202 ff., 312, 318 ff., 332, 338 f., 340, 350, 361 ff., 372, 379 ff., 403 ff., 413, 429, 437 ff., 459, 474 ff., 501, 519, 530, 534 – Diskursordnung 75, 90 – moralische Ordnung 81, 380 – Prozessordnung 69 – Rahmenordnung 75, 358 ff. – symbolische Ordnung 65, 71 ff., 115, 125, 128, 168, 171, 195, 211, 224 ff., 319, 339, 365 f., 380, 403 ff., 530 – Wissensordnung 206 Organisation 31, 64, 81, 84, 95, 105, 114 f., 209 ff., 219 ff., 249, 264, 295 f., 306, 325, 331, 350 ff., 362, 389 f., 400 ff., 445, 449 ff., 468, 481, 487, 490 f., 502 ff., 519 – Organisationsgesellschaft 86, 95, 409, 414, 442, 481, 487 Panoptismus 76, 124 f., 415 f., 458, 470 f., 516 Pazifizierung 65, 138, 372, 539 Peinlichkeit; siehe auch Scham 66, 128 ff., 134, 141 f., 179 ff., 228, 245, 253, 269, 282, 290, 296, 411, 539
Sachregister
Performance 75, 81, 115, 169, 246, 250 ff., 261 ff., 285, 294, 306, 319, 323 ff., 339, 343 ff., 351 ff., 362 ff., 389 ff., 420 ff., 446, 460 – Cultural Performance 364, 373 Performativität 159, 162, 187, 371 Persönlichkeit 47, 72, 109 f., 114, 117, 164, 261, 388, 410, 421, 476, 519 Phantasie 72, 189, 196, 227 f., 234, 311, 316, 360 f., 434 Philosophie 183, 230, 295, 323, 404, 443, 451, 478, 509 f., 532 – Lebensphilosophie 113, 192, 254, 327, 381, 514 Philosophische Anthropologie 97, 110, 164, 215, 226 Planung 222, 260, 330, 332, 363, 445, 460, 483, 488 f., 495, 501 – Pläne 177 f., 467, 480, 494, 501 Politik 37, 103, 186, 245, 251, 264, 272, 284, 300, 323, 331, 346, 350, 369 ff., 391 ff., 430 ff., 459 ff., 479 ff., 503, 514 – Showpolitiker 382 Prestige 128 ff., 224, 236, 253, 259, 282, 296, 396 Primitivisierung 138, 258, 276 – Reprimitivisierung 241 Privatisierung 144, 496 Professionalisierung 133, 374, 389 f., 504 „Promi-Dinner“ 311 Prominenz 238, 264, 309, 415, 503 Propaganda; siehe auch Werbung 397, 504, 520 Prozess 19 ff., 30, 46, 51, 69 ff., 82 ff., 94 ff., 101 ff., 111 ff., 119 ff., 139 ff., 197, 202, 206, 213 ff., 222, 226 f.,
Sachregister
231 ff., 242 ff., 251, 256 ff., 277 ff., 286 ff., 296 ff., 323, 333 ff., 348 ff., 365, 370 ff., 399 ff., 444 ff., 456 ff., 479 ff., 513 ff., 525, 534 ff. – Prozesssoziologie 38, 69 f., 84, 139, 162, 216, 227, 231, 234, 316, 479, 537 f. Psychoanalyse 47, 72 f., 77, 125, 133 ff., 164, 245, 518, 537 Psychogenese 65, 70, 89, 105, 111, 114 f., 121 ff., 131 ff., 162, 175, 195, 200, 222, 227, 248, 256, 301, 361, 377, 386, 455 f., 482, 506, 517 ff., 535 Psychologie 28, 47, 63, 71, 107, 110 f., 119, 276, 323, 435, 458, 482 ff., 518, 535, 537 – Psychologisierung 65, 144, 276, 290, 372, 419, 432, 438, 482 ff., 494 Psychotherapie 205, 245, 250, 278, 375 Publikum 56, 133, 243, 264 ff., 299, 307 ff., 319, 324, 327 f., 341 ff., 362 ff., 370, 373 ff., 383 f., 388 ff., 401 f., 411, 416, 418, 422 f., 427, 436 ff., 444 ff., 466, 477, 507 ff., 514 Punk 245, 305, 309, 382 Pünktlichkeit 217 Qualifikation, Qualifizierung; siehe auch Kompetenz 294, 361, 421, 457, 500 f., 504 Rahmen; siehe auch Modulation 54, 69, 75, 106, 114, 152, 163, 167, 179, 192, 194, 202 f., 212, 239, 246, 254 f., 269 f., 278, 282, 287, 318, 324, 328, 338, 355, 357 ff., 379 ff., 450, 411 ff., 429 ff. – Gesichtsrahmen 152
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– Rahmen-Analyse 54, 79, 192 f., 199, 236, 254 ff., 277 f., 287, 289, 318, 333, 356 ff., 361, 447 ff., 477 – Rahmentheorie 81, 96, 224, 365, 479 Rational Choice; siehe auch Nutzen 20, 160, 169, 192, 319, 441, 454 – rationale Wahl 442, 452, 461, 488, 500, 518 Rationalisierung, Rationalität 47, 65, 90, 135 f., 144, 165, 197, 218, 227 f., 239, 248, 260, 290, 360, 402, 442, 454 ff., 464, 468, 470, 481 ff., 490 ff., 506 ff., 521, 535 – strategische Handlungsrationalität 463 f., 466 ff., 482, 512 f., 518 Raum; siehe auch Behavior Setting, Bewegung 66, 73 f., 80, 157 ff., 208 ff., 251, 319, 326, 334, 339, 344, 364, 391, 413, 446, 454, 533 – Enträumlichung, Verräumlichung 209, 214 – Raumsoziologie 209, 211 ff., 364 Realität 83 ff., 193 ff., 271, 312, 318 ff., 330 f., 342 ff., 429 ff., 466, 510 ff., 537 ff. – Realitätsverlust 197, 388, 397, 489 Recht 103, 245, 251, 280, 346, 369, 371, 375, 401, 430 f., 480, 488, 491 – Verrechtlichung 491 f. Reflexion 205, 244 ff., 285, 293, 301, 328, 330, 418, 442, 445, 462, 484, 495 f., 510 – Reflexivierung, Reflexivität 129, 153, 188, 197, 205, 251, 285, 297, 346, 353, 363, 391, 396, 409, 484 Region; siehe auch Bühne 128, 364, 411, 446
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Reisen 19, 501 Religion 77, 103, 183, 186, 227, 247, 251, 257 f., 261 ff., 346, 369, 375 f., 382, 397, 399 f., 408, 430, 439, 465, 491 Restriktion 178, 180 ff., 185, 189, 445, 458, 469 Rezeption; siehe auch Wahrnehmung 106, 119, 314 f., 319, 355 f., 363, 451 – Rezipient 198, 266, 299, 314, 319, 323, 353, 356, 363, 402, 508, 515 Ritual; siehe auch Etikette, Manieren 54, 62, 66 ff., 80, 87, 111, 115, 147, 159 ff., 176, 191, 195, 199 ff., 208, 226, 230, 241 ff., 297, 308 f., 318 f., 324, 329, 340, 364, 373, 377, 381, 384, 434, 436 f., 455, 486, 532 – Antiritualismus 263, 265 – Diskursritual 75 – Entritualisierung 137, 260, 262 f., 302, 486 – Hyper-Ritualisierung 269, 311 – Medienrituale 273 – Reritualisierung 256, 265 – Ritualbegriff 243 ff., 248, 250, 253, 259, 272, 288, 290 – Ritualfiguration 277, 280 – Ritualforschung 243, 245 ff., 251 f., 526 – Ritualisierung 111, 226, 243, 245 ff., 311, 329, 357, 437, 486 – Ritualismus 247, 261, 265, 278 – Ritualität 210, 247, 250 f., 265 f., 279, 326, 532 – Ritualresiduum 262 – Ritualtheorie 66, 128, 199, 242 ff., 256, 272, 277, 364 – Ritualtransformation 256, 265
Sachregister
– Ritualwissenssoziologie 278 – undurchschauter Ritualismus 265, 278 Rolle 57, 114 f., 221, 252 ff., 268, 284, 289 f., 318, 320 ff., 380, 387 ff., 485, 491, 506 f., 526 – Rollendistanz 128, 252 ff., 326, 421 – Rollenhaushalt 387, 397, 421 Routine 110, 201, 410 Sanktion 132, 381, 499 Scham; siehe auch Peinlichkeit 66, 126, 128 ff., 134 ff., 179, 181, 228, 245, 253, 269, 281 f., 290, 296, 372, 384, 418, 460, 495 Schichtung; siehe auch Sickermodell 47, 65 f., 112, 131, 148, 152, 170 ff., 295, 449 Seifenoper 307, 433 Seilschaft; siehe auch Clique 32, 34, 494 Selbst 51, 115, 125, 128, 137, 143 f., 153 f., 214, 241, 253, 264, 299, 383, 384, 420, 424 f., 450 – Selbstachtung 130, 253 – Selbstbeherrschung 179, 284, 300, 337, 460, 479 ff., 500 – Selbstbestimmung 26, 358, 416, 419 – Selbstbild 123 f., 254, 498, 506 – Selbstdarstellung 251, 261, 307, 320 f., 326, 351, 367, 396, 410 ff., 422 ff., 437, 440, 473, 479, 484, 510 – Selbstdisziplinierung 127, 470 – Selbsterfahrung 133, 144, 425 – Selbsterkenntnis 464 f. – Selbstinszenierung 294, 510 – Selbstregulierung 136, 141 f., 149
Sachregister
– Selbstsicherheit 124 – Selbstsorge 136, 299, 459, 495, 516, 519 – Selbsttechnik 165 – Selbstthematisierung 74, 77, 125, 144, 153, 173, 205, 269, 326, 422, 510 – Selbstverhüllung 467, 473, 479 – Selbstverwirklichung 135, 143, 147, 213, 260, 269, 426, 475, 495 f., 515 – Selbstwert 135, 367, 422 Semantik; siehe auch Wissen, Diskurs 97, 114, 144, 147, 163, 167, 170, 178, 181, 183, 187, 193, 196, 200 ff., 217, 222, 263, 282 ff., 300, 314, 327, 358, 379, 381, 425, 453, 475, 495, 514 – Zeit-Semantik 217 Setting; siehe auch Behavior Setting 203, 212, 324, 334, 388 Sexualität; siehe auch Trieb, Erotik 72 f., 76, 131, 183, 209, 456, 520, 526 Shopping 213, 408 Show 255, 275, 310 f., 324, 354, 373 f., 382 f., 408, 432 f., 436, 466 Sickermodell; siehe auch Schichtung 112, 148, 172, 277, 295, 305, 422 Sinn 80, 114, 133, 152, 167 f., 174, 178 ff., 183, 188 ff., 202 f., 210 ff., 236, 243 f., 246 ff., 267, 270 ff., 277 ff., 283, 287 ff., 310, 324, 330, 335 ff., 508 ff. – Erlebnissinn 135 – Lebenssinn 135 f. – Sinndegenerator 274 – Sinngebung 246, 257, 270, 274, 516 – Sinngebungsverlust 257, 270
597
– Sinngenerator 189, 244, 273, 343, 388 – Sinnprobleme 273 – Sinnstruktur 179 f., 236, 254, 278, 328, 357 f., 361 – Sinntransformation 254 f., 287, 357, 361 – Sinntypen 167, 202, 244, 254, 278 f. – Sinnverbraucher 267 – Sinnvermarktung 392, 401 – Sinnvermittler 348 f. – Sinnwelten 167, 388, 439 Sitte; siehe auch Benehmen 138, 161, 177 f., 186, 191, 248, 252, 260, 297 – Verfeinerung der Sitten 138 Skandal 274, 398 Skript; siehe auch Behavior Setting 54, 113 f., 179, 192, 199, 201, 203, 212, 243, 246, 249, 251, 269, 282, 290, 309, 318 f., 324, 330, 340, 358, 371, 408, 418, 427, 451 soziale Welt, Sozialwelt 26 f., 61, 95, 167, 169, 263, 388 Sozialforschung 35, 52 ff., 82, 309, 321, 340, 507, 534 – qualitative Sozialforschung 54, 61, 169, 340, 534 – quantitative Sozialforschung 53 f. Sozialisation 35, 65 f., 101 f., 117 f., 195, 217 f., 284, 287, 290, 294, 312, 359, 435, 446, 525, 529 – figurationssoziologische Sozialisationstheorie 122, 124, 125 – Sozialisationsforschung 101, 117, 120, 130, 525 – Sozialisationstheorie 101, 117 ff., 130
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– Sozialisationsprozess; siehe auch Zivilisationsprozess 35, 117 f., 120 ff., 126, 128, 130, 147, 218, 287 Soziogenese 65, 105, 111, 114 f., 121, 168, 195, 200, 216 f., 232, 414, 479, 482, 517 f. Soziologie 18 ff. – allgemeine Soziologie 18, 63, 75, 91, 158, 176, 190, 246, 288, 532 f., 537 – Alltagssoziologie 32, 69 – angewandte Soziologie 529 – Geschlechtersoziologie 209, 249 – Interaktionssoziologie 215, 525 – Körpersoziologie 72, 203, 209, 215, 244, 335 – Metasoziologie 532, 537 – Mikrosoziologie 21, 62, 69, 78, 80, 114, 192, 320, 322, 324 – Mikrowissenssoziologie 194 – synthetische Soziologie 18 f., 25, 30 f., 38 f., 43, 46, 50, 64, 66 ff., 89, 98, 114, 152, 155, 157 ff., 210 ff. – Theatersoziologie 321 – visuelle Soziologie 54 Spezialisierung 96, 113, 120, 229, 389 f., 397, 438 f., 487, 490, 504 Sphäre 103, 133, 135, 167, 187, 197, 232, 241, 262, 266 f., 271, 275, 308, 341, 345, 351, 435, 438, 480, 509, 520 Spiel 53, 238 ff., 322, 326, 344, 357, 365 ff., 373, 383, 413, 427, 429, 433 ff., 453 ff., 478 ff., 513, 525 – Spieler 169, 239, 268, 289, 300 f., 323, 365 ff., 379, 400, 416, 441, 454, 457, 464, 471, 502, 513
Sachregister
– Spielerkompetenz, Spielfähigkeit 189, 458, 460 – Spielstil 460 – Spieltheorie 138, 365, 453, 456, 468, 478 f., 483, 525 – Verspieltheit 300, 434 f. – Verspielung 300, 433 ff. Spontaneität 76, 249, 294, 336, 353, 381, 481 Sport 216, 245, 249, 264, 299, 342, 350, 369 f., 375 f., 408, 430, 432, 438 f., 480, 491, 504 Staat 95, 148, 258, 376, 449 – Staatstheorie 131, 530 Star 34 f., 309, 326, 383, 434, 437 Stigma 79, 120, 128, 167, 202, 224, 235 f., 245 f., 324, 326, 382, 447, 452, 477 – Gegenstigmatisierung 234, 239 – Stigmatisierung; siehe auch Außenseiter, totale Institution 74, 79, 128, 167, 169, 217, 232, 235, 238 f., 241, 245, 255, 286, 437 Stil; siehe auch Habitus 31, 59 f., 66 ff., 110 ff., 151 ff., 159, 163, 169, 171 ff., 194 ff., 203, 208, 222, 232 f., 241 f., 261, 275, 281 ff., 324 ff., 329, 341, 362, 377 f., 404, 436 ff., 446, 515, 520, 532 – Denkstil; siehe auch Wahrnehmung, Mentalität 27, 62, 97, 284, 288, 290, 310, 453, 528 – expliziter Stil 283, 287 – impliziter Stil 287 – kognitiver Stil 112, 114, 194, 281, 314 f., 358 – Lebensstil 66, 68, 81, 108, 110, 113 f., 116, 195, 203 f., 217, 220,
Sachregister
222, 233, 248, 276 f., 281 ff., 326 f., 339, 352, 372, 391, 400, 405, 413, 424, 446, 461, 491, 532 – Lebensstil-Image 297, 299 – Lebensstilgruppe 282 f. – Lebensstilsemantik 282 – Lebensstilzitat 309 – persönlicher Stil 153, 261, 306 – Stil-Image 313 – Stil-Informant 304, 311 – Stil-Labor 312 – Stil-Semantik 285, 305, 314 – Stilbegriff 169, 281 ff., 288 ff., 307, 310, 314 f., 446 – Stilbewusstsein 284, 287, 306 – Stilbildung 283, 286 f., 292, 296, 302 ff., 308 – Stilbruch 297 – Stildegenerator 291 – Stilgenerator 291, 294, 304 – Stilmodell 305 – Stilperformanz 304 – Stilsozialisation 282 – Stilwissen 284 ff., 306, 309 f. – Verhaltensstil 81, 110, 185, 195, 232, 239, 281 f., 287 f., 293 f., 296, 299, 310, 373, 461 Stilisierung 111, 220, 243, 281 ff., 289 ff., 324, 344, 372, 378, 390, 401, 405, 411, 418, 423, 437, 446, 474, 486, 497 f. – Entstilisierung 285, 291, 486 – Lebensstil-Stilisierung 309 – Lebensstilisierung 87, 276, 296, 300 f., 424, 437 – Selbststilisierung 87, 133, 291, 305 f., 313, 400, 446, 473, 480, 484 f., 497
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Strategie; siehe auch Klugheit 56 ff., 62, 66, 68, 74, 79 f., 115, 128, 169, 195, 203, 210, 219, 230 ff., 238, 270, 308, 311, 319, 321 f., 324 ff., 353, 366 ff., 373, 382, 392 ff., 412, 432, 442, 451 ff., 469 f., 480, 490, 500 f., 507 – Distinktionsstrategie 148 – strategisches Handeln; siehe auch Verwettbewerblichung, Klugheit, Täuschung, Informationskontrolle 73, 159, 168, 206, 230, 239 ff., 318 f., 326, 364, 405, 413, 431, 440 ff. – Verkörperung von Strategie 461 Struktur 36 f., 69 ff., 78, 82 f., 89, 94 ff., 107, 111 ff., 127 f., 145, 149, 162 ff., 168, 176 ff., 200, 204, 211 f., 218 ff., 233, 235, 250, 256, 260, 267, 275, 280 ff., 290 f., 302, 323, 330 ff., 362 ff., 386 ff., 412 ff., 445 f., 475, 489 ff., 510 ff., 517 ff., 526, 534 – Figurationsstruktur 105 – Gesellschaftsstruktur 183, 193, 200, 387 – Persönlichkeitsstruktur 109 – Prozessstruktur 111 Subjekt; siehe auch Individuum, Akteur 72, 75 ff., 87, 117 f., 122, 139 ff., 172 ff., 186, 261, 279, 293 f., 324, 343, 406, 421 f., 428, 444, 471 f., 475, 481, 508 – Subjektivierung 66, 76, 118, 134, 139, 141, 144, 152, 172 f., 218, 296 f., 351, 406, 417, 458, 502 – Subjektivität 78, 117, 144, 164, 168, 294, 312, 336, 404, 417, 471 Symbol 65 f., 106, 111, 147, 161, 167 f., 174, 181 f., 191, 210 f., 215, 224 ff.,
600
258 ff., 277, 281, 285 f., 305, 309, 313, 316, 329, 334, 338, 346 ff., 367, 378 ff., 401 ff., 437, 533 f. – Prestigesymbol 236 – Stigmasymbol 224, 236 – Symbolemanzipation 226, 234 – Symbolverkäufer 106, 239, 268, 346 ff., 356, 399, 439, 440 – symbolische Form 226, 229 ff., 235 f., 241, 266, 271, 275, 329, 351, 382 – symbolische Ordnung 65, 71 ff., 79 f., 115, 125, 128, 168, 171, 195, 211, 224 ff., 259, 266, 269 ff., 276, 319, 339, 365 f., 380, 403, 405, 413, 530 – symbolische Praxis 170, 182, 224 f., 229, 231 ff., 294, 325, 351 – symbolisches Kapital 31, 68, 79, 106, 169, 171, 224 f., 245, 268, 279, 326, 459, 512 – Symboltheorie 65 f., 131, 141, 161, 224 f., 233 f., 236, 241 f., 246, 316, 530 Symbolischer Interaktionismus 141, 182, 224, 236, 316, 356 Sympathie 111, 128, 253, 396, 425, 437, 503, 511 Symptomatologie 462 Synthese 18 f., 38 ff., 45 ff., 56 ff., 72 ff., 103 ff., 148 ff., 168, 171, 193 f., 203 ff., 228, 239, 249 ff., 278, 293, 301, 316 ff., 327, 348 ff., 385, 402 ff., 441, 454 ff., 473 ff., 485, 526 ff. – Syntheseleistung 45, 54 – Syntheseniveau 18 f., 39 f., 125, 246, 318, 529, 536
Sachregister
– synthetische Soziologie 18 f., 25, 30 f., 38 f., 43, 46, 50, 64, 66 ff., 89, 98, 114, 152 ff. – Synthetizität 19, 45, 63, 163, 209, 225, 486 System 48 ff., 70 f., 82, 127, 201, 220, 332 ff., 359, 392, 399, 409 ff., 474, 499, 528, 534 ff. – soziales System 48, 107, 410, 411, 453 – Subsystem 65, 97, 103, 205, 251, 305, 337, 338, 400, 499, 506 f. – Systemtheorie 19 f., 25, 27, 32, 41 f., 47 ff., 63 ff., 70 f., 78, 91, 97, 107, 160, 192, 453, 528, 535 – Systemtransformation 115 Szene; siehe auch Verszenung 147, 282, 289, 296, 305, 337, 377, 406, 429, 443 Talkshowisierung 373, 433 Tanz 226, 259, 377, 439 Täuschung; siehe auch strategisches Handeln, Geheimnis 287, 324, 357, 374, 401 f., 411, 413, 446 ff., 454, 460 ff., 480, 485, 488, 497 f. Technik 97, 165, 227, 280, 336, 417, 428 – Techniksoziologie 526 – Technisierung 213, 490 – technisches Zeitalter 165, 520 Terrorismus 134, 372 Theater; siehe auch Theatralität 187, 251, 268, 330 f., 340 ff., 350 ff., 371 ff., 379 ff., 388 f., 408 ff., 427 ff., 451, 476 ff.
Sachregister
Theatralisierung 31, 36 f., 73, 88, 114, 166, 187, 216, 250, 265, 275, 308, 313, 318 ff., 446, 471, 486, 498, 525 – Enttheatralisierung 275, 345, 364, 370 ff., 378 ff., 389, 403, 409, 415, 420, 438, 486 – Medientheatralisierung 373 ff., 384, 418, 426 ff., 503 Theatralität; siehe auch Darstellung, Inszenierung, Theater 20, 31, 37, 73, 89, 114, 162, 166, 169, 187, 199, 203, 208, 210, 216, 242 ff., 267 ff., 282, 298 f., 305 ff., 313, 316 ff., 446, 454 f., 484 f., 498, 502, 532 – Interaktionstheatralität 334, 341 ff., 345, 347, 354, 367, 377 – Medientheatralität 106, 323, 341 ff., 353, 362, 370, 377, 384, 418, 431 – Organisationstheatralität 362 – Statustheatralität 380 – strategische Theatralität 326, 382, 391, 446, 484 f., 498 – Theatralitätsbegriff 306, 319, 323, 325, 327, 352 f., 362 ff., 370, 446 Theatrokratie; siehe auch Politik 372 Theorie 18 ff., 25 ff., 33 ff., 139 ff., 150 ff., 277, 281 ff., 288 ff., 295 f., 313 ff., 337, 379, 404, 441 ff., 452 ff., 461 ff., 473, 479, 482, 485 f., 491, 498, 512 ff., 517 ff., 525 ff. – Differenzierungstheorie 131, 187, 202, 530 – Distinktionstheorie 131, 235, 240 – Gesellschaftstheorie 27, 84, 187, 202, 204, 453 – Gestalttheorie 152, 289 – Gewohnheitstheorie 112, 177, 240
601
– Globalisierungstheorie 63, 131, 134, 530 – integrative Sozialtheorie 18 f. – Konditionierungstheorie 111 – Makrotheorie 65 – Metatheorie 206 – Mikrotheorie 65 – Modernisierungstheorie 81, 84, 95 – Normalisierungstheorie 125, 150 – Prozesstheorie 117, 226, 340, 537 – Rationalisierungstheorie 47, 165, 227, 521 – Schichtungstheorie 131 – Stiltheorie 281, 291 – Subjekttheorie, Subjektivierungstheorie 172 – Subkulturtheorie 174 – Theoriebildung 20, 27 ff., 38 f., 42, 47 f., 51 f., 62, 74, 83 ff., 114, 118, 123, 139, 140, 158 f., 163, 171, 213, 222, 241 f., 288, 290, 302, 385, 453 f., 530 ff. – Theoriekrise 27 – Verlerntheorie 125 – Zentraltheorie 28, 31, 40, 529 Tod 15, 257, 336, 371, 377 f., 539 Toleranz 259, 261, 297, 419 Tradition 177, 184, 205, 262 f., 279, 281 f., 304, 363, 382 – Enttraditionalisierung 110, 256, 312, 386 Transitorität, transitorisch 19, 246, 333, 344 f. Trend 82, 84, 86, 88, 138, 318, 378, 383, 385, 407, 435, 490 Trieb; siehe auch Sexualität 47, 72 f., 129, 135, 140, 164 f., 195, 215, 228, 451 f., 456, 482, 521
602
Sachregister
– Dämpfung der Triebe 129, 135, 521 „TV-Duell der Kanzlerkandidaten“ 434
– Verflechtungssphäre 97, 295, 369 – Verflechtungsprozess 133, 145, 212, 217, 387, 415, 421, 493, 500 – Verflechtungszusammenhang 57, Über-Ich; siehe auch Moral, Gewissen 104 f., 493 127, 129, 137, 422, 494 Vergewöhnlichung 138, 241, 258, 382, Überwachung 415 ff., 436, 469, 471 f. 424, 436 – Kameraüberwachung 415 Vergnügen 135, 181, 276, 297, 384, 409, – Überwachungsgesellschaft 417 ff. 464 Umgangsformen; siehe auch Ritual, Verhaltenscode 178, 185 f. Etikette 121, 128, 137, 167, 248, 253, Verhaltensstandard 128, 181, 259 276, 383 Verjugendlichung 297 ff. Unbestimmtheit; siehe auch KontinVerlegenheit; siehe auch Image 128, genz 146, 182, 303, 390, 393, 470, 130, 245, 253, 362, 460 496, 500 Vernunft 260, 482 Ungleichheit 111, 212, 220, 405 Verspottung 276, 383 – soziale Ungleichheit 39, 71, 79, Verstehen 56, 193 ff., 198, 236, 243, 168, 231 ff., 235, 237, 325, 366, 413, 254, 269, 286, 355, 357 f., 394 ff., 476, 538 483 f., 497 – soziale Zeit-Ungleichheit 219 – Verständlichkeit 269, 347, 395 f. – symbolische Ungleichheit 79, 231, Verszenung; siehe auch Szene 96, 198, 238 213 Universität 133, 409 f., 412, 490 Vertrauen 397, 448, 453, 487, 499, 503 Unterhaltung 133, 138, 242, 266 ff., Verwettbewerblichung; siehe auch stra309 ff., 314, 333, 341, 350, 363, 375, tegisches Handeln 399, 498 f., 505 f. 383, 389, 432 f., 436 f., 439 Virtuosität 201, 218, 317, 331, 390, 459, Urteilskraft; siehe auch Kompetenz 488, 490 195, 201, 249, 279, 305, 362, 462 Visualität; siehe auch Bild 299, 316, 319 Utilitarismus, Utilitarist 508 – visuelle Kommunikation 214, 316
Valenz 31, 50, 66, 72, 91, 181, 194, 215, 229, 290, 367 Verbergen; siehe auch Geheimnis 411, 472 ff., 478 Verflechtung; siehe auch Figuration 102, 104, 133 f., 142, 144 ff., 237, 283, 295, 352, 387, 390, 459, 493, 517, 529
Wahrnehmung 110, 113, 177 ff., 243, 251, 254, 279, 286, 294, 313, 323, 327 f., 336 ff., 342 f., 345, 348 ff., 384, 389, 394 f., 398, 400 ff., 417 f., 427, 446, 457 f., 461 Wandel, Wandlung 38, 66 ff., 80, 82 f., 87, 91 ff., 111 ff., 130, 134 f., 150 f., 158, 163 ff., 182 ff., 206, 209, 213,
Sachregister
216, 221, 241, 247, 251, 261 f., 276 ff., 302 f., 312, 339, 348, 371 f., 378, 387 ff., 403 ff., 425, 428 ff., 480, 487, 506, 511, 520 ff. Warten 218 ff. Weltanschauung 32 f., 161, 167, 254, 310, 328, 346, 391, 518 Weltgesellschaft; siehe auch Globalisierung 65, 92, 113 Werbung 20, 133, 150, 189, 255, 263, 266 ff., 299, 307 ff., 331, 334, 341, 350, 355, 360, 362 f., 375 ff., 382, 388 ff., 397 ff., 418, 432, 435 f., 439 f., 444, 452, 491, 504 ff. – Verwerblichung; siehe auch Mediatisierung 386, 399 f., 435, 446, 491, 505, 520 – Werber 271, 348 ff., 374, 401, 436, 462, 505 f., 509 Werte 133, 147, 168, 191, 217, 238, 240, 298, 336 f., 348, 377 f., 402, 410, 424, 437, 458, 497, 500, 508, 515, 539 Wirklichkeit 45, 59, 75, 82 ff., 110, 118, 134 ff., 167, 171, 192 ff., 214, 224 f., 228, 233 f., 244, 249, 255, 270 ff., 277 ff., 294, 306, 309 ff., 321, 332, 337 ff., 347, 351, 357 ff., 372, 386 ff., 410, 427 ff., 449 ff., 474 f., 498, 502, 515, 529, 536 ff. – Netzwirklichkeit 351 – soziale Wirklichkeit 38, 48 ff., 75, 83, 103, 152, 174, 228, 294, 321, 341, 386, 451, 529, 536 – Wirklichkeitsmacht 429 f. – Wirklichkeitswissenschaft 19, 59, 536, 538 Wissen; siehe auch Kultur, Diskurs, Semantik 19, 32 ff., 47 ff., 86 ff.,
603
95 ff., 108 ff., 125, 143 ff., 159 ff., 176 ff., 217, 225 ff., 279 ff., 287 ff., 309 ff., 318 ff., 397 ff., 427, 437, 452 ff., 504 ff., 526 ff. – Klugheitswissen 462 f., 465, 467 ff., 477, 480, 490, 514 – Nichtwissen 387, 450, 472 ff., 479, 497 f. – Phantasiewissen 189, 227 f., 234, 361 – Rezeptwissen 510 – Wissensform 51, 178, 183, 187, 190, 196 ff., 201, 241, 279, 285, 462, 474, 511 ff., 520 – Wissensgesellschaft 86, 206 – Wissensspeicher 182, 194, 279, 336 Wissenschaft 19 ff., 32 ff., 42 ff., 50 f., 55 ff., 77, 98, 183, 189, 196 f., 227, 245, 251, 258, 262, 273, 280, 284, 346, 375, 394 f., 408, 412, 430, 448, 490 ff., 528 f., 535, 538 – Geschichtswissenschaft 46, 323, 535 – Naturwissenschaften 28 – Sozialwissenschaften 25 ff., 30, 32 f., 36 f., 57, 63, 95, 110, 160, 196, 198, 263, 320, 375, 435, 525 ff., 535 – Verwissenschaftlichung 77, 196 f., 490 – Wissenschaftsentwicklung 42, 63 Wissenssoziologie 54, 65 ff., 75, 95 f., 110 ff., 131, 141, 160 ff., 179, 190 ff., 217, 236, 242, 266, 279, 284, 293, 316, 321, 441, 462, 472, 484, 521, 526 – Figurationswissenssoziologie 95 f., 198, 200, 462
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„Wort zum Sonntag“ 392 Würde 236, 253, 380 f., 384, 420, 475 – Würdemoral 147, 260, 380 Zeichen; siehe auch Symbol 111, 171, 181, 186, 212, 224, 286, 329, 333 ff., 343, 349, 351, 373, 378, 405 ff., 425, 430, 453 Zeit 66, 73, 157 f., 203, 206, 208 ff., 319, 339, 344 f., 530, 533 – Langzeit-Perspektive 83, 86 – Verzeitlichung 217 – Zeit-Virtuosität 218 – Zeit-Wissen 217 – Zeit-Zivilisation 217 – Zeitbewusstsein 218 – Zeitdruck 219 f., 293 – Zeitgeist 30, 262, 385 – Zeithaushalt 219 – Zeitlernen; siehe auch Pünktlichkeit 217 – Zeitregime 220 – Zeittheorie 158, 208 Zeitdiagnose; siehe auch Gegenwartsdiagnose 18, 30, 35, 40, 81, 84 f., 158, 163, 222, 241, 306 f., 382, 529, 533 Zeremonie; siehe auch Ritual, Etikette 231, 244 ff., 255, 258, 260, 264, 267, 269, 272, 322, 326, 357, 368, 373, 377, 392, 413 – Zeremonialisierungstendenz 267 Zielgruppe 270, 438, 504, 507 f. Zivilisation; siehe auch Kultur 38, 45 ff., 65 f., 72 ff., 91 ff., 101 ff., 111 ff., 161 f., 165, 170 ff., 179 ff., 187, 191 ff., 199 f., 203 ff., 215 ff., 227 f., 231 ff., 240 ff., 275 ff., 280 ff., 290, 296 f., 301,
Sachregister
316, 326, 336 ff., 360, 371 f., 380 ff., 405, 418, 441 ff., 454 ff., 479 ff., 516 ff., 526 ff. – Dezivilisierung, Entzivilisierung 126, 134, 138 f., 261 – Diskurs-Zivilisation 77 – individuelle Zivilisation 101, 121 – Medien-Zivilisation 77 – westliche Zivilisation 92, 256, 516 – Zivilisations-Zeit 217 – Zivilisationsanalyse 88, 128 – Zivilisationsbegriff 76, 126, 129, 139, 161, 296, 372 – Zivilisationsdiagnose; siehe auch Zeitdiagnose 126, 134, 171, 253 – Zivilisationsforschung 45, 51, 101, 117, 131 f., 216, 253 – Zivilisationsprozess; siehe auch Sozialisationsprozess 59, 91, 118, 126 ff., 141, 196, 210, 227, 231, 251, 296 f., 424, 443, 446, 479, 482, 535, 537 Zukunft; siehe auch Zeit 137, 300, 303, 399 Zusammenhang 42, 46, 64, 66, 69, 78, 85, 101, 111 ff., 121, 126, 157, 162 f., 173, 175 f., 183, 185, 189, 216 f., 222, 225, 227, 248, 290, 301, 310, 355, 361 ff., 388, 455, 513, 517 Zuschauer 174, 323, 333, 342, 345, 353 ff., 370, 374, 410 f., 437, 445, 450 Zwang 135, 137, 146 ff., 182, 300, 321, 387, 391, 396, 412, 423, 460, 470, 505, 520 – Fremdzwang 290, 458 – Selbstzwang 57, 127, 129, 142 f., 146, 282, 290, 296