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UNDIGUNG UND ORSCHUNG 55. Jahrgang
eues Testament
I novative Bewegungen in der eutestamentlichen Exegese Kulturwissenschaften und Neues Testament Literaturwissenschaftliche Zugänge Neue Perspektiven auf Lukas "New Perspective on Paul" Politische Theologie bei Paulus? Sozialgeschichtliche Exegese: Gemeinden als Vereine?
1-2010
Verkündigung und Forschung 55. Jahrgang 2010
Herausgegeben von Heinrich Assel in Gemeinschaft mit Heinrich Bedford-Strohm, Christoph Bochinger, Christfried Böttrich, Irene Dingel, Bernhard Dressler, Beate Ego, Friedhelm Hartenstein, Andreas Nehring, Klaus Raschzok, Samuel Vollenweider, Martin Wallraff und Michael Welker Mitbegründet von Ernst Wolf. Weitergeführt von Gerhard Sauter Redaktion: Henning Theißen, Am Rubenowplatz 2-3, 17487 Greifswald Heft 1-2010: Innovative Bewegungen in der neutestamentlichen Exegese Herausgegeben von Samuel Vollenweider
Die Mitglieder der "Gesellschaft für Evangelische Theologie" (Pfarrer Dr. Werner Schwartz, Hilgardstraße 26, 67346 Speyer, Tel. 06232/221202, Fax. 06232/221866, e-mail:
[email protected], Konto Nr. 69201, Evang. Darlehnsgenossenschaft Münster, BLZ 40060104, betr. Ges. f. Ev. Th.) erhalten "Verkündigung und Forschung" als kostenlose Jahresgabe. Jährlich erscheinen 2 Hefte. Bezugspreise: Inland jährlich € 42,- [D]; Ausland € 42,- [D]/€ 43,20 [A]/CHF 69,90. Einzelheft: € 25,95 [D]/€ 26,70 [A]/CHF 45,90. Abonnenten der Zeitschrift "Evangelische Theologie" können "Verkündigung und Forschung" während der Dauer ihres Abonnements zum Vorzugspreis im Inland von € 38,- [D] und im Ausland von € 38,- [D]/€ 39,10 [A]/CHF 64,90 pro Jahrgang beziehen. Alle Preise incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrgangs möglich und müssen bis spätestens 30. September eingehen. Das Abonnement verpflichtet zur Abnahme von mindestens zwei aufeinander folgenden Jahrgängen. Die Zeitschrift und alle in ihr veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, bleiben vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Verlag und Eigentümer: Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, Postfach 450, 33311 Gütersloh. www.gtvh.de
ISSN 0342-2410 Satz: SatzWeise, 54343 Föhren Druck und Bindung: Druckerei Sommer GmbH, 91555 Feuchtwangen
Printed in Germany
Inhalt
Samuel Vollenweider, Zu diesem Heft
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Christian Strecker, Kulturwissenschaften und Neues Testament
4
Moises Mayordomo, Exegese zwischen Geschichte, Text und Rezeption. Literaturwissenschaftliche Zugänge zum N euen Testament
19
Reinhard Feldmeier, Neue Perspektiven auf Lukas
37
.....
Christine Gerber, Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Harald Seubert, Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
Eva Ebel, Mit vereinten Kräften Profil gewinnen. Antike Vereine und frühe christliche Gemeinden - ein lohnender Vergleich
71
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Heftes: Dr. Eva Ebel Universität Zürich Kirchgasse 9 CH-8001 Zürich
PD Dr. Moises Mayordomo Universität Bern Länggassstrasse 51 CH-3000 Bern 9
Prof. Dr. Reinhard Feldmeier Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen
PD Dr. phi!. Harald Seubert Universität Halle-Wittenberg 06099 Halle .
Prof. Dr. Christi ne Gerber Universität Hamburg Sedanstraße 19 20146 Hamburg
PD Dr. Christian Strecker Universität Heidelberg Kisselgasse 1 69117 Heidelberg
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Zu diesem Heft
Samuel Vollenweider
Wie kaum ein anderes Buch der Weltliteratur zeichnet sich das Neue Testament dadurch aus, dass es wieder und wieder neue Perspektiven auf Menschen und Gott, auf Geschichte und Schöpfung eröffnet. Wer sich mit Kopf und Herz auf seine vielstimmigen Texte einlässt, wird in eine Bewegung hineingenommen, in der dann und wann Wahrheit aufblitzt und die Welt für einen Augenblick aus den Fugen gerät. Wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuen Testament lebt davon, einerseits derartigen elementaren Begegnungen mit dem Evangelium den Weg zu bereiten und sie andrerseits nachträglich hermeneutisch (und damit auch kritisch) aufzuarbeiten. Ihre unverzichtbaren Werkzeuge sind literarische Analyse, historische Kontextualisierung und methodische Reflexion. Die unumschränkte Deutungshoheit der "historisch-kritischen Methode" über die wissenschaftliche Auslegung der biblischen Texte ist freilich Geschichte geworden; ihr steht seit Längerem eine Vielzahl alternativer bzw. komplementärer Paradigmen zur Seite. Im heutigen pluralistischen Horizont macht sich neutestamentliche Exegese die verschiedenen Instrumente methodisch kontrolliert für das Verständnis der Texte zunutze. Sie orientiert sich dabei an den nicht hintergehbaren Diskursregeln wissenschaftlicher Communities - Plausibilität, Konsistenz und Überprüfbarkeit der Argumente, Problematisierung von Alternativen, reflektierte Selbstreferenz u. a. Im Miteinander und Widereinander der Methoden und Zugänge geht es Exegetinnen und Exegeten wie einst jenem Hausherrn, der Neues und Altes aus seiner·Schatzkammer hervorholt (Mt 13,52). Die "neuen" Perspektiven sind freilich, um mit einem Bonmot von eh. Gerber in diesem Heft zu sprechen, auch bereits etwas in die Jahre gekommen. Man kann heute ihre Leistungsfähigkeit wie ihre Grenzen schärfer wahrnehmen. Grund genug für "Verkündigung und Forschung", auf einige der innovativen Bewegungen, die die neutestamentliche Exegese in den letzten Jahren in Schwung gehalten haben, zurückzublicken und ihre mutmaßliche künftige Durchschlagskraft einzuschätzen. Der Auftakt gilt dem "cultural turn", der sich anschickte, im kontinentalen Europa das breite Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften umzupflügen. Das vorliegende Heft schließt damit die bedeutungsvolle Lücke, die das ganz dem Verhältnis von Theologie und Kulturwissenschaften gewidmete Themenheft "Verkündigung und Forschung" (vgl. VF 54 [2009J, Heft 2) offen gelassen hatte. Christian Strecker stellt einige so attraktive wie provokative Impulse vor, die die neutestamentliche Exegese in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen zu artikulieren versucht. In ihnen zeichnet sich das Paradigma einer "kulturwissenschaftlichen Exegese" umrisshaft ab, die von Respekt vor dem Anderen und Fremden getragen ist - eine Tugend, die gerade einer globalisierten und von Kulturkonflikten erschütterten Welt gut ansteht. Ohne Zweifel hat der "linguistic turn" die Bibelwissenschaften der letzten 2
Jahrzehnte am nachhaltigsten beeinflusst, auch im deutschsprachigen Raum, wo der Rekonstruktionswille der historischen Kritik und die Fokussierung auf den Autor einer leserorientierten Wahrnehmung des vorfindlichen Texts häufig zuwiderliefen. In seiner Vorstellung von literaturwissenschaJtlichen Zugängen arbeitet Moises Mayordomo heraus, wie sich jüngere sprach- und literaturwissenschaftliche Zugänge an sämtlichen Aspekten textueller Kommunikation orientieren, zumal an der "Produktion" des Textes im Akt des Lesens. Die enormen methodischen Innovationen, die mit Erzählforschung und Rezeptionsgeschichte einhergehen, stellen freilich auch vor hermeneutische Herausforderungen. Die überkommene Wahrheitsfrage bricht im Kontext der modernen pluralistischen Gesellschaft noch einmal anders auf. Auch das umfangreichste CEuvre innerhalb des Neuen Testaments, das lukanische Doppelwerk, ruft nach "neuen Perspektiven". Reinhard Feldmeier präsentiert uns Lukas als einen Theologen, der sich der Inkulturation der christlichen Religion in die hellenistisch-römische Welt verschrieben hat, ohne dabei das Evangelium zu verraten. Sein Abstand von Paulus, dem Apostel der Heiden, erscheint dann längst nicht mehr so schroff wie zu den Zeiten, als die deutschsprachige Exegese Gefallen fand am "Haut den Lukas". Mit den mittlerweile weithin akzeptierten Einsichten der" N ew Perspective on Paul" beschäftigt sich Christine Gerber. War jene einst ausgezogen, die Herrschaft protestantisch-lutherischer Auslegungstradition zu brechen und Paulus in die jüdisch-paganen Bruchzonen seiner Zeit zurückzuführen, so zeigt die jüngere Diskussion, dass sich falsche Alternativen überwinden lassen, etwa die Polarisierung zwischen "alter" anthropologischer und "neuer" soziologischer Interpretation. Der Reifungsprozess hat der "New Perspective" ganz offenkundig gut getan. Der Apostel polarisiert die Geister freilich auch an einer ganz anderen Front, wie der Beitrag des Philosophen Harald Seubert zur politischen Theologie dokumentiert. Hat die amerikanische Exegese vor einiger Zeit den subversiven Paulus proklamiert, der im Schatten des übermächtigen Imperiums die messianische Vision einer neuen Welt entwirft, so entdecken europäische Philosophen in der paulinischen Theologie eine Gestalt von Rationalität, die die griechische Ontologie in ihren Grundfesten demontiert und sogar über die postmoderne historisierende Relativität hinausführt. Auch hier sind es kulturwissenschaftliche Perspektiven, die den Blick über die herkömmlichen Disziplinen hinaus provozieren. Eva Ebel rundet das Heft schließlich mit einem Blick auf die sozialgeschichtlich orientierte Exegese ab. Diese arbeitet heute Fragestellungen differenziert auf, die zu Zeiten der Dialektischen Theologie noch Panikreaktionen ausgelöst hätten: Inwieweit lassen sich urbane christliche Gemeinden als Vereine ansprechen, und was machte sie auf dem religiösen Markt der Alten Welt besonders attraktiv? Im Unterschied zur literarischen Überlieferung dokumentieren Inschriften und Papyri auch den sozialen Alltag und die Gedankenwelt von Unterschichtsangehörigen. 3
Kulturwissenschaften und Neues Testament Christian Strecker Pieter F. Craffert, The Life of a Galilean Shaman. Jesus of Nazareth in Anthropological-Historical Perspective (Matrix 3), Cascade Books Eugene (Oregon) 2008, XVII + 451 S. - Richard E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, Routledge London 2008, X + 143 S. Anton Grabner-Haider (Hg.), Kulturgeschichte der Bibel, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007,487 S. -Anton Grabner-HaideriJohann Maier, Kulturgeschichte des frühen Christentums. Von 100 bis 500 n. Chr., Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2008, 232 S. - H enning Hupe, Lukas' Schweigen. Dekonstruktive Relektüren der "Wir-Stücke" in Acta (Passagen Philosophische Theologie), Passagen Wien 2008, 280 S. - Gerald A. Klingbeil, Bridging the Gap. Ritual and Ritual Texts in the Bible, Eisenbrauns Winona Lake (Indiana) 2007, XIV + 304 S.Stephen D. Moore, Empire and Apocalypse. Postcolonialism and the New Testament, Sheffield Phoenix Press Sheffield 2006, X + 160 S. - Fernando F. SegovialRasiah S. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings (The Bible and Postcolonialism 13), T&T Clark London 2007, X + 466 S. Weitere Literatur: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rororo 55675), Rowohlt Reinbek 2006, 409 S. - Brian K Blount, Cultural Interpretation. Reorienting New Testament Criticism, Fortress Press Minneapolis (Minnesota) 1995, X + 222 S.Lukas Bormann, Kulturwissenschaft und Exegese. Gegenwärtige Geschichtsdiskurse und die biblische Geschichtskonzeption: EvTh 69 (2009) 168-185. - Jo Cheryl ExumlStephen D. Moore (Hg.), Biblical Studies, Cultural Studies. The Third Sheffield Colloquium aSOT.SS 266 = Gender, Culture, Theory 7), Academic Press Sheffield 1998, 506 S. - Ute Daniel, Kompendium der Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (stw 1523), Suhrkamp Frankfurt 2001, 476 S. - Terry Eagleton, Was ist Kultur? [2000], übers. v. Holger Fliessbach (Beck'sche Reihe 1634), Beck München 2009, 190 S. - Egon Friedell, Abschaffung des Genies. Essays bis 1918, hg. v. Heribert Illig, Löcker Wien 21984, 301 S. - Wolfgang FrühwaldlHans RobertJaußIReinhart KosellecklJürgen M ittelstraßIBurkhart Steinwachs, Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift (stw 973), Suhrkamp Frankfurt 21996,209 S. - Friedrich Wilhelm Graf, Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums: Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 I: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Steiner Stuttgart 1989,103-131. - Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Exegese (New Testament Studies in Contextual Exegesis 2), Lang Frankfurt 2007, 532 S. - Ralf Konersmann, Kultur als Metapher: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturphilosophie (Reclam-Bibliothek 1534), Reclam Leipzig 1996, 327354. - Wolfgang Stegemann, Kulturanthropologie des Neuen Testaments: VF 44 (1999/1) 2854. - Christian Strecker, "Turn, Turn, Turn. To Everything There is a Season". Die Herausforderung des cultural turn für die neutestamentliche Exegese: Wolfgang Stegemann (Hg.), Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Beziehung (Theologische Akzente 4), Kohlhammer Stuttgart 2003,9-42. - Samuel Vollenweider, Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften: Peter Lampe/Moises Mayordomo/Migaku Satu (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog, FS Ulrich Luz, Neukirchener Neukirchen-Vluyn 2008,111-120.
1. Übersicht: das Feld kulturwissenschaftlicher Forschung "Kultur ist Reichtum an Problemen." Dieses Diktum von E. Friedell (Friedell, 237) lässt sich auf die seit den 1990er Jahren boomenden Kulturwissenschaften 4
Verkündigung und Forschung 55. Jg., Heft 1, S. 4-19 ISSN 0342-2410 © ehr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2010
übertragen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. 1. Problembehaftet ist bereits der Versuch, den Status und das Profil kulturwissenschaftlicher Forschung genauer zu bestimmen. So ist strittig, ob die besagte Forschung unter dem Label "Kulturwissenschaft" (im Singular) als eigenständiges Fach institutionell einhegt oder unter dem Titel "Kulturwissenschaften" (im Plural) als disziplinübergreifendes, multiperspektivisches Projekt der Wissensproduktion konzipiert und praktiziert werden sollte. Der Trend geht in die letztgenannte Richtung. In vielen "geisteswissenschaftlichen" Fächern werden inzwischen kulturwissenschaftliche Fragestellungen, Theorien und Methoden diskutiert und auf unterschiedliche Phänomene appliziert. Das allenthalben begegnende Schlagwort des "cultural turn" bzw. der "cultural turns" stellt diesen Wandel pointiert heraus (vgl. BachmannMedick). Gleichwohl behauptet sich die "Kulturwissenschaft" nach wie vor als eigenständiger Studiengang. 2. Weitere Probleme ergeben sich aus der Unschärfe des Kulturbegriffs. Es liegen viele äußerst disparate wissenschaftliche Begriffsbestimmungen vor (vgl. Eagleton, 48-73), die mannigfaltige Profilierungen kulturwissenschaftlicher Forschung zur Folge haben. Kritiker des "cultural turn" wittern darin Beliebigkeit und einen in Dilettantismus mündenden Generalismus. Gerade als "Problembegriff" erlaubt der Kulturbegriff jedoch eine komplexitätssteigernde, über den "Horizont des Positivierbaren" hinausreichende Perspektivöffnung auf die "Welt im Zustand der Kontingenz" (Konersmann, 350). 3. Kulturwissenschaftliche Forschung zeichnet sich schließlich durch eine Problematisierung des im wissenschaftlichen mainstream Hergebrachten und Selbstverständlichen sowie umgekehrt durch die Erforschung des im akademischen Raum für gewöhnlich Marginalisierten, Verdrängten, abseits der disziplinären Forschungsinteressen Liegenden aus. Nicht von ungefähr nimmt die Kategorie des Fremden in der kulturwissenschaftlichen Arbeit eine Schlüsselstellung ein. Kulturwissenschaftliches Forschen geht mit einer Verfremdung des Vertrauten und Gewissen, mit wissenschaftlicher Selbstreflexivität, Selbstdistanz und Selbstkritik einher, ebenso mit einer Öffnung für das der modernen okzidentalen Wissenschaftskultur Unvertraute. Nicht von ungefähr war und ist die Ethnologie als Wissenschaft vom Fremden zentraler methodischer und inhaltlicher Impulsgeber der kulturwissenschaftlichen Wende. ' Der Aufschwung der Kulturwissenschaften wurde hierzulande durch die von W. Frühwald, H. R. Jauß, R. Koselleck, J. Mittelstraß und B. Steinwachs verfasste Denkschrift "Geisteswissenschaften heute" forciert. Die 1991 in erster und 1996 in zweiter Auflage erschienene Studie plädierte für eine grundlegende "Neubestimmung der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften". Die damit einhergehende "Anthropologisierung des Wissens" sollte einer Modernisierung und Internationalisierung der etablierten deutschen geisteswissenschaftlichen Disziplinen Vorschub leisten. Auf internationaler Ebene war es inzwischen im Zuge des Aufstiegs der Kulturanthropologie zu einer bedeutenden Leitdisziplin und der Debatte über das Paradigma der "Kultur als Texe' zu einer merklichen Ausweitung der Forschungsinteressen vom Bereich der "Gesellschaft" auf 5
den der "Kultur" gekommen. Diese Entwicklung knüpfte an die mit den Namen von G. Simmel, M. Weber und E. Cassirer verbundene erste kulturwissenschaftliehe Wende um 1900 und an die französische Mentalitätsgeschichte (Schule der "Annales") an. Unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen und auf neuen theoretischen Grundlagen führte man die damaligen kulturwissenschaftlichen Aufbrüche nun in neuer Weise fort. Unabhängig von dieser Entwicklung entstanden im angloamerikanischen Raum seit den 1960er Jahren die stark politisch motivierten "Cultural Studies", die sich in gezielt anti elitärer Haltung der Erforschung populärer Erscheinungen der Gegenwartskultur widmeten, zunächst vorwiegend unter Rekurs auf marxistische Vorstellungen (R. Hoggart, R. Williams, E. P. Thompson), dann aber auch unter Heranziehung poststrukturalistischer und semiotischer Theoreme (S. Hall, L. Grossberg). Diese Entwicklungen und einige weitere wissenschaftliche Umbrüche - hier ist v. a. die Durchsetzung des sog. linguistic turn zu nennen - wie auch gesellschaftliche Umwälzungen bereiteten schließlich den Boden für ein breites Spektrum innovativer Forschungsorientierungen kulturwissenschaftlicher Prägung bzw. Relevanz (vgl. Bachmann-Medick, bes. 7-48). Zu den wichtigsten Forschungsaufbrüchen in dieser Hinsicht zählen die postcolonial studies, die gen der studies, die performance und ritualstudies, die Gedächtnisforschung (kulturelles Gedächtnis), die Medienforschung, die visual studies, die literarische Anthropologie und diverse geschichtswissenschaftliche Neuansätze wie die historische Anthropologie, die neuere Kulturgeschichte und der new historicism. Maßgeblich mitgeprägt sind die genannten Forschungsaufbrüche durch neue methodische Zugriffe und philosophische Theorien wie die dichte Beschreibung (C. Geertz), die DiskursanaDerrida) und die Praxeologie lyse (M. Foucault), die Dekonstruktion (P. Bourdieu, M. de Certeau). Vor diesem Hintergrund rücken zahlreiche neue Schlagworte und Konzeptbegriffe wie Differenz, Verschiebung, embodiment, Habitus, Inszenierung, Theatralität, kulturelle Performanz, Hybridität, Mimikry, Liminalität, Heterotopie, Hegemonie, Biomacht, Aneignung, soziale Energie, situiertes Wissen, ethnologischer Blick, writing culture u. a. m. in den Fokus der wissenschaftlichen Debatten. Die klassische Einengung von Kultur auf symbolische Formen und die Merkmale homogener Identität, lebensweltlicher Stabilität und elitärer Intellektualität weicht einer gesteigerten Wahrnehmung der Bedeutung körperlicher Praktiken und der dem Kulturellen eingeschriebenen Merkmale der Alterität, Diskontinuität, Heterogenität und Subversion. Die kulturwissenschaftliche Forschung eröffnet so neue Fragehorizonte, ermöglicht inhaltliche Neufokussierungen und stößt Veränderungen der Einstellungen der Forschenden an, die die traditionellen Fächer allesamt bereichern. Vor diesem Hintergrund wird in jüngerer Zeit verstärkt darüber debattiert, ob und inwieweit nicht auch die Theologie als Kulturwissenschaft neu auszurichten sei (vgl. VF 54 [2009], Heft 2). Damit steht ein Thema auf der Tagesordnung, das unter anderen Bedingungen und in anderer Form bereits im 19. Jh. bzw. der Zeit um 1900 Diskussionsgegenstand war. Damals stritt man zwar intensiv über die
a.
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genauere Bedeutung und Verhältnisbestimmung von Kultur und Christentum, war sich aber weithin darin einig, Theologie als normative Kulturwissenschaft zu fassen (vgl. Graf, 117-120). In der damaligen biblischen Exegese setzte sich die kulturwissenschaftliche Perspektive eindrücklich in den Arbeiten der Religionsgeschichtlichen Schule durch. Die jüngeren kulturwissenschaftlichen Anregungen werden in der gegenwärtigen deutschen Exegese indes nur selten diskutiert. Ungeachtet einiger weniger programmatischer Überlegungen (vgl. Strecker; Bormann; Vollenweider) steht eine breitere Reflexion und zumal Rezeption der zahlreichen kulturwissenschaftlichen Innovationen noch aus. Auf internationaler Ebene werden diese deutlich intensiver wahrgenommen und verarbeitet. Eine systematische Aufarbeitung der kulturwissenschaftlichen Impulse in ihrer ganzen Breite liegt aber auch dort nicht vor. Im Folgenden werden einige neutestamentliche Arbeiten erörtert, die sich auf unterschiedliche Weise dem gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs einfügen. Angesichts der beträchtlichen Vielfalt kulturwissenschaftlicher Themen, Theorien und Methoden sowie diverser exegetischer Anschlussmöglichkeiten kann es sich nur um eine kleine Auswahl handeln. Der Beitrag schließt mit einigen generellen Erwägungen zur Bedeutung und Profilierung einer kulturwissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments. 2. Zur Diskussion: I
sehen und darzustellen" (II,7). Das Buch widmet sich im ersten Teil der Zeit vor Konstantin. Erörtert werden die "Religionspolitik der Kaiserzeit" , die "Kultur und Gesellschaft des Imperiums", "Denklinien der Philosophen", die "Entfaltung des christlichen Glaubens" sowie "Glaubenslehren und Lebensformen". Der zweite Teil behandelt die Zeit nach Konstantin. Das Buch schließt mit einem Abschnitt über die jüdische Kultur der ersten christlichen Jahrhunderte insgesamt. Gemessen an dem voranstehend dargelegten kulturwissenschaftlichen Diskussionsstand stellen die beiden Bände eine Enttäuschung dar. Zwar geben die Einleitungen und Schlussüberlegungen (1,17-22.291-294.469-475; II,7-9.203206) wie auch die Kapitelüberschriften eine durchaus vielversprechende kulturwissenschaftliche Konzeption zu erkennen, die Ausführungen über die neutestamentlichen Schriften (1,368-441) und die Entwicklung des frühen Christentums (1,303-308.334f.351-368; II,59-80) beschränken sich jedoch über weite Strecken auf klassische ideen-, person-, ereignis-, religions- und sozialgeschichtliche Darlegungen. Spezifisch kulturwissenschaftliche Methoden und Theorien finden in dem zweibändigen Werk keine nennenswerte Berücksichtigung. Auch wenn die Kulturan.thropologie grundsätzlich als wichtiger Bezugsrahmen der Untersuchung namhaft gemacht wird - wobei allerdings mit den alleinigen Verweisen auf F. Vivelo und W. H. Goodenough (1,19; II,7) ein sehr enger und einseitiger Standpunkt formuliert wird -, bleiben Studien und Ergebnisse der inzwischen etablierten kulturanthropologischen Exegese des N euen Testaments (vgl. Stegemann) außen vor. Grundsätzlich gilt, dass in den beiden Bänden immer wieder Themen und Fragestellungen zur Sprache kommen, die in den Kulturwissenschaften intensiv debattiert werden, hier aber eine letztlich traditionelle, "normalwissenschaftliche" Entfaltung erfahren. Dies sei an wenigen Beispielen verdeutlicht, die sich leicht vermehren ließen: Wiederholt werden in den beiden Bänden Rituale thematisiert, eine Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher Ritualtheorien (M. Douglas, C. Geertz, V. Turner, C. Bell u. a.) bzw. einschlägiger ritualwissenschaftlich orientierter exegetischer Studien unterbleibt jedoch. Dies trifft u. a. auch auf den langen Abschnitt über die Fußwaschung zu (1,428-432). Im Zusammenhang der Überlegungen zur Bedeutung der Abschiedsreden begegnet das Stichwort "Erinnerungsarbeit" (1,432). Die einschlägigen kulturwissenschaftlichen Forschungen, Thesen und Modelle zu den Themen Erinnerung und Gedächtnis (M. Halbwachs, J. und A. Assmann) finden keinerlei Erwähnung. In dem Abschnitt über die römische "Kultur des Alltags" (1,348-351) begegnen nur wenige allgemeine Beschreibungen u. a. der Vorgänge in Theatern, Amphitheatern, Thermen und bei Gastmählern. Die kulturwissenschaftlichen Forschungen zur Bedeutung der cultural performances kommen nicht zur Anwendung. So bleibt die in die öffentlichen und halb öffentlichen Praktiken auf der Bühne, in der Arena, im Bad und im Haus eingelassene performative Dynamik der Präsentation und Reproduktion zentraler Wert- und Normvorstellungen bzw. die Dynamik der 8
Verkörperung tragender kultureller Muster in den besagten Performanzen unerörtert. Nicht unerwähnt kann bleiben, dass immer wieder Fehler sprachlicher (z. B. Hellenistoi [1,367; II,61] statt richtig Hellenistai) und inhaltlicher Art (z.B. Herodes als "Ituräer" statt richtig als Idumäer [1,295]) sowie problematische Bekundungen auffallen. Nur soviel: Dass Paulus vor Damaskus vom Pferd stürzte (1,310), ist zwar ein verbreitetes Kunstmotiv, aber weder in den Protopaulinen noch der Apg bezeugt. Die an Bruno Bauer erinnernde Behauptung, dass die "griechischen Christen [ ... ] mehrheitlich" Phiion gefolgt seien und "mit seinem Denkmodell" das Christentum als "neue Weltreligion geschaffen" hätten (II,53), ist mehr als gewagt. Grundsätzlich stört der über weite Strecken plakative . Schreib stil, der kaum Raum für Zwischentöne, Differenzierungen, abwägende Reflexionen und Selbstkritik lässt und darin im Widerspruch zur expliziten Berufung auf die "postmodernen" Philosophien J. Derridas und J.-F. Lyotards (1,19.21 f,470,472; II,7) steht. Die vorliegende Kulturgeschichte offeriert gerade keine "dekonstruktive" Lektüre der Bibel und der Geschichte des frühen Christentums. Vielmehr gerät die Darstellung in Anbetracht ihrer in vielen Teilen stark thetischen Ausrichtung bisweilen in das Fahrwasser einer "Meistererzählung". Problematisch ist zudem das beiden Bänden über weite Strecken immanente Verständnis von Kultur als einer streng abgrenzbaren Totalität, das sich etwa in der These offenbart, das frühe Christentum habe "die jüdische Abgrenzung zur griechischen Kultur gesprengt" (1,472). Dass es bereits vorchristlich vielfältige kulturelle Vermischungen und Überschneidungen gab, kommt hier zu wenig zum Tragen. Überhaupt ist die strikte Trennung zwischen jüdischer und griechisch-römischer Kultur fraglich. J. Maier problematisiert sie in seinem Beitrag zur jüdischen Kultur der ersten christlichen Jahrhunderte mit Recht (II, 181-200). Die voranstehenden Anfragen wollen nicht den Blick dafür verstellen, dass die Bücher eine Fülle grundlegender Informationen bieten. Die Ausführungen des eben genannten J. Maier stechen dabei ob ihrer hohen Qualität besonders heraus. Insgesamt entsprechen die Bände aber nicht jener innovativen, selbstreflexiven Kulturgeschichtsschreibung, die im Zug des gegenwärtigen Aufstiegs der Kulturwissenschaften diskutiert und praktiziert wird (vgl. Daniel). Zu den wichtigsten Impulsen der kulturwissenschaftlichen Wende zählen die postcolonial studies (vgl. Bachmann-Medick, 184-237). Seit einigen Jahren werden sie in der biblischen Exegese rezipiert. Zwei jüngere Publikationen dokumentieren den Forschungsstand auf diesem Gebiet, zum einen der von F. F. Segovia und R. S. Sugirtharajah herausgegebene Sammelband "A Postcolonial Commentary on the N ew Testament Writings", zum anderen die von S. D. Moore verfasste Studie "Empire and Apocalypse". Die erstgenannte Publikation bietet eine Besprechung aller Schriften des N euen Testaments aus postkolonialer Perspektive. W. Carter widmet sich darin dem Matthäusevangelium, T.-s.B. Liew dem Markusevangelium, V Burrus dem lukanischen Doppelwerk, F. F. Segovia dem Johannesevangelium, N. Elliott dem Römerbrief, R. A. Horsley der Korintherkorrespondenz, S.-k. Wan dem Galaterbrief,
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J. G. Bird dem Epheserbrief, E. Agosto dem Philipperbrief, G. Zerbe und M. Orevillo-Montenegro dem Kolosserbrief, A. Smith der Thessalonicherkorrespondenz, R. Broadbent den Pastoralbriefen, A. D. Callahan dem Philemonbrief, J. Punt dem Hebräerbrief, S. H. Ringe dem Jakobusbrief, E. Schüssler Fiorenza dem 1. Petrusbrief, C. Briggs Kittredge dem 2. Petrusbrief, R. S. Sugirtharajah den Johannesbriefen, R. Park dem Judasbrief und S. D. Moore der Offenbarung. F. F. Segovia eröffnet den Band mit einer ausführlichen Einleitung, R. S. Sugirtharajah beschließt ihn mit einem Ausblick.
Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren ist an wissenschaftlichen Einrichtungen in Nordamerika oder England tätig, nicht wenige unter ihnen als intellektuelle Migrantinnen und Migranten mit sog. "Bindestrich-Identitäten". Der Band gibt folglich nicht "voices from the margin" mit nichtwestlichen Lektüren des Neuen Testaments wieder. Die neutestamentlichen Schriften werden vielmehr gezielt auf der Basis und in Auseinandersetzung mit der etablierten historischkritischen Exegese (meist angloamerikanischer Prägung) unter explizitem Rekurs auf im postkolonialen Diskurs entwickelte Konzepte sowie!oder unter ausdrücklicher Berücksichtigung der damaligen imperialen Herrschaftsverhältnisse und Hegemonialstrukturen neu erschlossen. Insgesamt bietet der Band wichtige Impulse für den weiteren Ausbau einer spezifisch postkolonialen Bibelkritik ("postcolonial biblical criticism"). Der Begriff "postkolonial" ist schillernd. Zwei Hauptbedeutungen sind zu unterscheiden: 1. Im engeren, chronologischen Sinn markiert er die nach der Epoche der Kolonialherrschaft angebrochene Zeit. 2. Daneben steht er für die überwiegend diskursanalytisch und dekonstruktivistisch geprägte theoretische Auseinandersetzung mit fortwährenden kolonialen Herrschafts strukturen, mit der westlichen ökonomischen, epistemologischen wie auch kulturellen Hegemonie, mit ethno- bzw. eurozentristischen Konstruktionen des/der "Anderen" und mit essentialistischen Konzeptionen kultureller Identitäten und Differenzen. Daraus ergeben sich zwei Ausrichtungen der postkolonialen Debatte, zum einen die ältere, Impulse der antikolonialen Widerstandsbewegungen fortführende, befreiungspolitisch engagierte und weithin marxistisch orientierte radikale Kolonialismuskritik, zum anderen die jüngere, poststrukturalistisch geprägte, auf die westlichen Wissens- und Repräsentationssysteme und ihre kolonialen Schlepp lasten reflektierende postkoloniale Theorie.
Diese verschiedenen Grundmodelle spiegeln sich in mannigfachen Nuancierungen auch in den Beiträgen des angezeigten Bandes wider. In seiner instruktiven Einführung (1-68) geht F F Segovia all diesen Nuancierungen detailliert nach. Grundsätzlich fallen folgende Unterschiede in den Kommentierungen der neutestamentlichen Schriften auf: Während einige Beiträge gezielt Konzepte der poststrukturalistisch orientiertenpostcolonial studies (Hybridität, Mimikry, Ambivalenz, Katachrese) aufgreifen und sie erhellend in die Welt der neutestamentlichen Texte übertragen (so u. a. Burrus; Moore), beschränken sich andere darauf, die imperiale römische Ordnung mit den Mitteln der klassischen historischen Kritik als wichtigen, im exegetischen mainstream oft zu Unrecht marginalisierten Kontext der neutestamentlichen Schriften herauszustellen (so etwa Elliott; Horsley). Während einige Beiträge in der jeweils besprochenen neutestamentlichen Schrift eine eindeutig antiimperiale Orientierung oder widerständige politische Subversion ausmachen und das Befreiungspotential der Texte akzentuieren 10
(so Elliott; Horsley), heben andere darauf ab, dass die neutestamentliche Kritik am Imperium Romanum mittels Herausstellung eines göttlichen Gegenimperiums letztlich einer Reinskription imperialer Ordnungsstrukturen gleichkommt (so etwa Liew; Burrus; Bird). Weitere Differenzen ergeben sich aus besonderen Perspektivierungen und Akzentsetzungen, die einzelne Autoren und Autorinnen vornehmen. Dazu zählen die explizite Koppelung von postkolonialer und feministischer Kritik (so Schüssler Fiorenza; Bird; Ringe; Briggs Kittredge), die Reflexion auf die politische und befreiungstheologische Relevanz bestimmter neutestamentlicher Texte für heutige Menschen der sog. "Peripherie" und die gegenwärtige postkoloniale Situation im Allgemeinen (so Agosto; Zerbe/Orevillo-Montenegro; Punt; Park) sowie Hinweise auf unterdrückte historische Einflüsse anderer Kulturen (so Sugirtharajah, der über buddhistische Einflüsse in den Johannesbriefen nachdenkt). Immer wieder kommt in den Beiträgen auch die Vereinnahmung der Bibel durch den westlichen Imperialismus zur Sprache. Alles in allem wird deutlich, dass die postkoloniale Kritik des Neuen Testaments, wie sie hier präsentiert wird, keine eng definierte neue Methodik mit einem klar umrissenen normativen Fragekanon und eindeutigem inhaltlichen Profil darstellt, vielmehr drückt sich in diesem neuen Forschungsansatz eine besondere Sensibilität für die komplexe politische Dimension der neutestamentlichen Texte aus, im Besonderen für die in den neutestamentlichen Schriften auf vielfältige (oft indirekte) Weise reflektierte und verhandelte römische imperiale Ordnung wie auch für generelle hegemoniale Strukturen, die in die Texte eingeschrieben sind. Die Beiträge bieten eine Fülle neuer, inspirierender Einsichten. Mit Recht schreibt F. F. Segovia, es handle sich um "a collection of incredible breadth and immense richness" (68). Auch wenn man nicht allen Thesen folgen mag, wird man für die Lektüre des eindrücklichen Kommentars in jedem Fall mit zahlreichen Denkanstößen reichlich belohnt. Die Beiträge verdienen es, von der klassischen historisch-kritischen Exegese rezipiert zu werden. Sie erweisen sich diesbezüglich als rundweg anschlussfähig. Dies gilt auch für die Studie von S. D. Moare. Sie ist in fünf Kapitel untergliedert. Das erste (3-23) steckt die Konturen des postcolonial biblical criticism ab. Darin werden Begriff und Entwicklung der pastcolonial studies erläutert, deren Relevanz und das Anwendungsspektrum für die biblische Exegese ausgelotet sowie exemplarisch zwei gegensätzlich ausgerichtete exegetisch-postkoloniale Studien zum Markusevangelium vorgestellt, nämlich R. A. Horsleys Deutung des Evangeliums als antiimperiale Widerstandsliteratur und T.-s.B. Liews Interpretation desselben Textes als "covertly complicit imperialist and colonialist literature", wobei Moore betont, einen Mittelweg gehen zu wollen. Das Kapitel schließt mit einer Kartierung der bisherigen postkolonialen Bibelkritik, untergliedert nach den drei maßgeblichen Impulsgebern: 1. Befreiungshermeneutik, 2. historisch-kritische Studien zur Bedeutung der antiken Imperien und 3. außerbiblische postcolonial studies. Im zweiten Kapitel (24-44) widmet sich Moore dem Markusevangelium. Er arbeitet das antiimperiale Kolorit der Exorzismen 11
(symbolische Vertreibung der Römer) und der Tempelaktion Jesu (symbolische Vertreibung der lokalen jüdischen Elite) heraus. Die infolge der Tempelaktion von der jüdischen Elite eingefädelte Tötung J esu führe bei Mk - so Moore - zur Zerstörung des Tempels, die just die Römer als göttliches Instrument umsetzten. Die Haltung zu Rom stelle sich so im Evangelium als äußerst "ambivalent" (H. Bhabha) dar. Diese Ambivalenz zeige sich dann auch darin, dass Markus einerseits die Wiederkunft Christi mit imperialem Kolorit versehe (Mk 13,26), andererseits aber eine radikal gegenimperiale und gegenkulturelle antiautoritäre Sozialethik mit liminalen Rollenmustern (Kinder, Knechte, Sklaven) propagiere und diese im Sinne einer "Katachrese" (G. Ch. Spivak) gleichsam parodistisch in den Begriff "Imperium Gottes" einschreibe. Der Spannungsreichtum dieser Ambivalenz werde zumal in der auffälligen Rahmung der apokalyptischen Rede (Mk 13) - einer Apotheose der römischen imperialen Ordnung - mit Erzählungen über zwei Frauen greifbar, die jeweils eine im Derridaschen Sinn absolute Gabe jenseits jeglicher Reziprozität darböten (Mk 12,41-44; 14,3 f.). Diese Gabe durchkreuze gerade jene ökonomische Logik, die es Imperien - auch eschatologischen - ermögliche zu funktionieren. Das dritte Kapitel (45-74) behandelt das Johannesevangelium. Moore vergleicht dessen Plot mit dem des Romans "Feathered Serpent. A Novel of the Mexican Conquest" von C. Falconer, um daraufhin im J ohannesevangelium eine manifeste Ambivalenz im Verhältnis zur römischen imperialen Ordnung herauszuarbeiten. Diese macht Moore zunächst am Portrait des Pontius Pilatus fest, der hier einerseits Jesu Unschuld konstatiert, andererseits als Folterer auftrete. Letztlich entfalte sich der Widerstand gegen Rom bei J ohannes in einem alternativen Programm der Kolonisierung, nämlich in Jesu Annexion der Welt (inklusive Roms) ohne militärische Mittel, ein Programm, das im 4. Jh. gewissermaßen politische Wirklichkeit wurde, weshalb sich das Evangelium als "charta document" des konstantinischen Christentums erweise. Im Evangelium, das kein Ende der Kaiserherrschaft prophezeie, sei bereits angelegt, "that Rome will eventually become Christianity and Christianity will eventually become Rome" (74). Im vierten Kapitel (75-96) geht Moore nochmals allgemein auf die postkoloniale Theorie poststrukturalistischer Prägung sowie auf Kritik an dieser ein, um dann speziell H. Bhabhas Konzepte der Ambivalenz, Mimikry und Hybridität darzulegen, aus denen sich letztlich der Auftrag zu einer dekonstruktiven Deutung der biblischen Schriften ergebe. Im fünften Kapitel (97-121) deutet Moore die Johannesoffenbarung aus postkolonialer Sicht. Er beschreibt die römische Kontrolle über die Provinz Asien, dem Entstehungsort der Schrift, mit dem Konzept der Hegemonie nach A. Gramsci und legt die parodistische Aneignung der imperialen Macht in der Schrift dar, die letztlich eine Reinskription dieser Macht impliziere. Das in der Offenbarung entfaltete göttliche Imperium erweise sich mithin als parasitär gegenüber dem römischen Imperium, damit aber auch als absorbierbar, sodass gelte: "Revelation epitomizes the imperial theology that enabled the Roman state effortlessly to absorb Christianity into itself, to turn Christianity into aversion 12
of itself, and to turn itself into aversion of Christianity - notwithstanding the paradox that Revelation is also ostensibly more hostile to Rome than any other early Christian text" (119). Insgesamt führt Moore in seiner äußerst subtil argumentierenden Studie das vor, was er als "defining feature" einer postkolonialen Bibelexegese bezeichnet, nämlich "to press a biblical text at precisely those points at which its ideology falls prey to ambivalence, incoherence, and self-subversion - and not least where its message of emancipation subtly mutates into oppression" (31). Generell umfasst postcolonial biblical criticism freilich ein größeres Spektrum an Fragestellungen, was Moore unter Verweis auf Deutungen biblischer Texte von Forschenden aus ehedem kolonialisierten Kulturen ("the colonized ,read back"') und Untersuchungen zur Entstehung der historisch-kritischen Bibelforschung im Zeitalter der Kolonialisation deutlich macht (10f.). Wie eingangs notiert, erklärt sich das Innovationspotential der Kulturwissenschaften nicht zuletzt aus der Applikation neuer Theorien, Analysekategorien und Methoden. Eine herausragende Bedeutung nimmt die Dekonstruktion J. Derridas ein. Aus diesem Grund sei auf eine jüngere Arbeit verwiesen, die die Dekonstruktion als heuristisches Leseverfahren auf hohem Niveau exemplarisch für die neutestamentliche Exegese erschließt. Gemeint ist H. Hupes Heidelberger Dissertation "Lukas' Schweigen". Sie ist dem Problem der rätselhaften "WirStücke" der Apostelgeschichte gewidmet. Hupe geht es nicht darum, neue Lösungen für das Problem zu bieten, er will mit Hilfe der Dekonstruktion die klassischen Fragestellungen so verschieben, "dass das Problem seinen Status als Problem .verliert und die ,Wir-Stücke' neu perspektiviert werden" (13). Hupe versteht das dekonstruktive Lektüreverfahren nicht als Gegenprogramm zur historisch-kritischen Methodik, setzte es diese doch voraus. Das Buch ist (ohne Zählung) in sieben Hauptteile untergliedert. Im ersten Teil (17-24) sichtet Hupe die exegetische Diskussion der "Wir-Stücke" und stellt heraus, wie sich diese im Kreis dreht. Der zweite Teil (25-32) geht der Autopsiebehauptung der "Wir-Stücke" nach. Hupe lässt deren Wahrheitsgehalt bewusst offen und wendet sich gegen monokausale Erklärungen und Beurteilungen. Stattdessen stellt er mehrere Funktionen des "Wir" auf unterschiedlichsten Ebenen heraus, nämlich Evidenzsicherung (Autopsieebene), Erzeugung narrativer Spannung und Bewegung durch die erzählerische Perspektivverschiebung (Stilebene) sowie Sensibilisierung der Rezeptionsmechanismen im Hinblick auf die im Text genannten Personen und ihre Beziehungen (Relationsebene). Bevor Hupe all diese Aspekte weiter ausleuchtet, bietet er im dritten Hauptteil (33-96) eine gehaltvolle Auslotung des Programms der Dekonstruktion in Abgrenzung zur Hermeneutik H.-G. Gadamers und der Systemtheorie N. Luhmanns bzw. des "Leidener Modells" (M. Prangel, H. de Berg). Im vierten Hauptteil (97-111) setzt sich Hupe kritisch mit dem unterkomplexen "Dezisionismus" in der exegetischen Debatte über die Frage der Gattung der Apostelgeschichte auseinander. Er bestimmt das Werk als "gattungsvieldimensionalen Text" mit einer bio13
graphischen, autobiographischen, historiographischen und thanatographischen Dimension. Im fünften Teil (113-171) folgt das Hauptstück der dekonstruktiven Lektüre. Es ist in einen rekonstruktiven und einen im engeren Sinne dekonstruktiven Abschnitt untergliedert. Beide Abschnitte enthalten eine Fülle wichtiger Textbeobachtungen, eingewoben in eine äußerst komplexe Argumentation. Im rekonstruktiven Abschnitt (113-136) widmet sich Hupe unter Heranziehung ausgewählter Theorien des sozialen Konstruktivismus der den "Wir-Stücken" immanenten lukanischen Wirklichkeits konstruktion. Im Ergebnis schreibt er ihnen eine Scharnierfunktion für die Rezipienten zu: Die dargestellten Begegnungen zwischen Paulus und der "Wir-Gruppe" eröffneten den Rezipienten nicht zuletzt vermittels der Möglichkeit einer Identifizierung mit den "Wir-Begleitern" - eine zumal auch emotionale Nähe zu Paulus. Gleichzeitig bleibe Distanz gewahrt, insofern die Beziehung zwischen Paulus und der Wir-Gruppe als asymmetrische geschildert werde und Paulus ein für die Rezipienten vergangenes heroisches Zeitalter repräsentiere, wodurch die Wir-Stücke relational zu Paulus alternative Realisationsmöglichkeiten des Christseins in der Zeit danach verdeutlichen könnten. Im dekonstruktiven Abschnitt (136-171) werden die "Wir-Stücke" sodann als "Supplement" bestimmt. Hupe macht deutlich, dass die Leerstellen in den Texten die creative activity der Lesenden weckten und zu subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeit innerhalb des Konstruktionsrahmens der Apostelgeschichte führten. Er kritisiert jedoch vorschnelle Füllungen der Leerstellen. Dazu legt er unter Rekurs auf J. Derridas Rede vom Ereignis und der Gabe eine vielschichtige dekonstruktive Lektüre der Beibootsequenz in Apg 27 vor. Angeregt durch Derridas Abschiedsrede für J.-E Lyotard deutet er schließlich die auffälligen Leerstellen der "Wir-Stücke" als bedeutsames Schweigen des Lukas und macht darin wie zumal auch in dem wörtlich genannten Schweigen der Wir-Gruppe in Apg 21,14 eine genuin lukanische Position der Zurückhaltung, der Nichtvereinnahmung und des freundschaftlichen Respekts gegenüber Paulus aus, um unter Berufung auf die Dekonstruktion zu betonen, "dass ein konstruiertes Sinnganzes im Namen des Verstehens mitunter ein Moment der Gewalt in sich hat, welches weder den untersuchten Texten noch ihren Rezipienten gerecht werden kann" (171). Im sechsten Teil (173-187) arbeitet Hupe zahlreiche Parallelen zwischen dem Paulusportrait des Lukas und der Darstellung des Prozesses und Todes des Sokrates in der Apologie Platons heraus. Diese indizierten, dass das lukanische Portrait den Tod des Apostels unverkennbar nahelege (thanatographische Dimension), ohne ihn jedoch direkt zu schildern. Der abschließende siebte Teil (189-201) gibt zwei "vorstellbare" Erklärungen für dieses lukanische Schweigen über den Tod des Apostels, der größten "Leerstelle" in der Apostelgeschichte. Hupe nennt zum einen die Rettung der von Paulus bezeugten Botschaft der Hoffnung und Auferstehung, die bei einer Schilderung des heldenhaften Todes Pauli möglicherweise untergehen würde, zum anderen "Freundschaft", die einzig im nichtvereinnahmenden Schweigen sich vollends zu realisieren vermöge. Abschließend stellt er die Leerstellen 14
nochmals als Ermöglichungsgrund für den Eintritt der Rezipienten als Akteure in das dezentrierte Spiel der Apostelgeschichte heraus, worin er eine ethische Verantwortung ausmacht. Der Text bilde die Grundlage einer verantwortlichen Begegnung mit dem Anderen, die Hupe unter Rückgriff auf Gedanken von Derrida und Levinas u. a. mit den Stichworten der Nicht-Indifferenz und NichtVereinnahmung genauer entfaltet. Hupes komplexe Arbeit ist nicht leichthin konsumierbar. Sie liefert gerade so wichtige Anstöße für eine Ethik der Interpretation, die im kulturwissenschaftlichen Diskurs eine große Rolle spielt. Der sog. cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften wurde maßgeblich durch die kulturanthropologische Forschung gefördert. In der angloamerikanischen Exegese des Neuen Testaments findet diese seit geraumer Zeit größere Beachtung. Die kürzlich erschienene Studie "The Life of a Galilean Shaman" von P. F Craffert stellt ein eindrückliches Beispiel dar. Mit Nachdruck plädiert Craffert für einen Paradigmenwechsel in der J esusforschung, und zwar hin zu einer "anthropological historiography". Sein Plädoyer praktisch umsetzend, legt er dar, dass Jesus von Nazareth als galiläische schamanische Figur zu betrachten sei. Die Untersuchung ist in drei Hauptteile untergliedert. Detailliert entwickelt Craffert im ersten Hauptteil (3-131) das besagte neue Forschungsparadigma. Er stellt heraus, dass sowohl die traditionelle, positivistisch geprägte wie auch die postmoderne Historiographie eine~ problematischen ontologischen Monismus aufruhe, der an antike und moderne Welten denselben modernen Maßstab anlege, mit der Folge, dass man abweichenden Weltauffassungen jeglichen Realitätsstatus abspreche. Dies gelte auch für die historisch-kritische Jesusforschung, die in ihren beiden Hauptrichtungen - Craffert bezeichnet sie N. T. Wright folgend als "Wredebahn" und als "Schweitzerstrasse" - dem klassischen Authentizitätsparadigma folge. Dies bedeute, dass die Quellen als historische Zeugnisse in ethnozentrischer und ideengeschichtlicher Manier allein daraufhin ausgewertet würden, was J esus tatsächlich gesagt und getan habe. Craffert stellt diesem klassischen Modell der J esusforschung sein anthropologisches Forschungsparadigma gegenüber, dessen Umsetzung er der Wegmetaphorik der Labels "Wredebahn" und "Schweitzerstrasse" entsprechend - als "cultural bundubashing" bezeichnet ("bundubashing" steht für offroad-Fahrten). Dieses neue Paradigma zeichnet sich u. a. durch folgende Konturen und Merkmale aus: Anerkennung ontologischer Pluralität und multipler kultureller Realitäten; ein Verständnis von Historiographie als dialogischer, kulturvergleichender Arbeit mittels gezielter und selbstkritischer Anwendung homomorpher kulturanthropologischer Modelle, die einen Zugang zu fremden und vergangenen kulturellen Welten jenseits ethnozentrischer und anachronistischer Vereinnahmungen eröffnen; Darstellung J esu nicht primär als historisches Individuum, sondern als kulturell geprägter sozialer Typus; Zugriff auf die Quellentexte nicht als historische Belege, sondern als kulturelle Artefakte, die Evidenz für kulturell konstruierte Realitäten bieten, woraus sich das Postulat einer Verwertung aller relevanten (auch nichtkanonischen) Texte jenseits histori-
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scher Stratifikationsmodelle ergibt; Abduktion als interpretativer Prozess, der geprägt ist durch ein beständiges gegenseitiges Abgleichen zwischen Hypothese und einschlägigen Texten; Postulat einer Kontinuität zwischen der kulturellen Konstitution einer bestimmten sozialen Persönlichkeit und der Einschreibung dieser Persönlichkeit in Texte, die demselben kulturellen System zugehören. Damit sind nur wenige wichtige Aspekte des äußerst facettenreichen Forschungsparadigmas genannt. Wichtig ist: Craffert postuliert, dass das in den Quellen beschriebene Auftreten J esu dem Modell des Schamanen entspreche. Im zweiten Hauptteil (135-209) stellt Craffert daher das kulturübergreifende "social-type model" des Schamanen genauer dar, beschreibt Grundstrukturen der schamanisch geprägten antiken Weltsicht und benennt vergleichbare antike schamanisehe Figuren. Entscheidende Grundlage des "shamanic complex" sei die Erfahrung veränderter Bewusstseinszustände. Anders als in der Moderne, in der allein die im Wachbewusstsein gemachten Erfahrungen als Erfahrungen der realen Welt gelten ("monophasic consciousness"), seien veränderte Bewusstseinszustände in der Antike als realweltliche und für den Alltag bedeutsame Erfahrungen betrachtet worden ("polyphasic consciousness"). Von Gewicht ist in diesem Zusammenhang der "cyde of meaning", wonach sich Weltauffassungen und Erfahrungen wechselseitig beeinflussen und dergestalt Wirklichkeiten produzieren. Vor diesem Hintergrund leuchtet Craffert im letzten Hauptteil (213419) mit Hilfe des Schamanismus modells J esu Taufe und Geisterfahrungen, seine Heilungen, Exorzismen und Beherrschung der Geister, sein Lehren und prophetisches Wirken, die Kindheitsgeschichten und die Osterberichte neu aus. Der Reichtum an Argumenten, den Craffert für die auf den ersten Blick ungewöhnliche und manchen Forschenden sicher überspannt anmutende schamanisehe Qualifizierung Jesu aufbietet, ist beeindruckend. Viele Texte wie etwa die Menschensohnworte, J esu Basileiabotschaft und die Osterberichte werden auf neue Weise begreiflich. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Crafferts Argumentation mit einer Fülle instruktiver Ausführungen, z. B. über die biopsychosoziale Dynamik in Heilungsprozessen (260-298), über antike Verstehensmodelle der Empfängnis (368-377) und andere wichtige Themen angereichert ist, die je für sich lesenswert sind. Selbstredend lassen sich diverse Anfragen an den Entwurf Crafferts richten, z. B. mit Blick auf die unterkomplexe Beschreibung postmoderner Historiographie, die Einebnung unterschiedlicher Wertigkeiten der Quellen, die unnötig rigide Abgrenzung gegenüber der historisch-kritischen Forschung, die ebenso unnötige Marginalisierung der politischen Implikationen des Auftretens J esu und fehlende Ausführungen über schamanisehe Figuren während der Zeit Jesu. Ungeachtet dessen verdient die innovative Studie großen Respekt und eine breite Rezeption und Diskussion, sowohl was die methodischen Ausführungen als auch was die schamanisehe Deutung J esu anbelangt. Abschließend sei in aller Kürze auf die verstärkte Rezeption der kulturwissenschaftlichen ritual studies in der biblischen Exegese hingewiesen. Die Einsicht, dass Rituale jenseits aller dogmatischen Auseinandersetzungen wichtige Ein16
blicke in die Konstitution und Konstruktion von Gesellschaft, Kultur, Religion und Persönlichkeit bieten und daher in der Exegese nicht länger marginalisiert werden dürfen, setzt sich vermehrt durch. Zwei unlängst erschienene Bücher bekunden diese Trendwende deutlich, zum einen G. A. Klingbeils "Bridging the Gap. Ritual and Ritual Texts in the Bible", zum anderen R. E. DeMaris' Studie "The New Testament in Its Ritual World". Obwohl die erstgenannte Publikation im Untertitel angibt, sich der rituellen Welt der gesamten Bibel zu widmen, konzentriert sie sich de facto weitgehend auf das Alte Testament. Die ersten fünf Kapitel bieten aber eine generelle Einführung in die ritual studies. Präsentiert und besprochen werden wichtige wissenschaftliche Ritualdefinitionen, die Geschichte der Ritualforschung, das Aufkommen der biblischen/alttestamentlichen Ritualforschung und diverse Ritualdeutungen, angefangen von den alttestamentlichen Propheten bis in die Gegenwart. In den Kapiteln 6-9 entfaltet Klingbeil sein eigenes, an den Grundlagen der linguistischen Theorie orientiertes Ritualkonzept, das systematisch zwischen ritueller Morphologie (konstitutive rituelle Elemente wie Zeit, Raum, Struktur u. a. m.), ritueller Syntax (das Zusammenspiel der morphologischen Elemente), ritueller Semantik (der Ertrag aus Morphologie und Syntax mit Blick auf die Bedeutung) sowie ritueller Pragmatik (die Funktionen von Ritualen im kulturellen, historischen und religiösen Gesamtsystem) unterscheidet und an diversen alttestamentlichen Texten verifiziert wird. Das letztlich textorientierte Ritualmodell wird freilich kaum dem performative turn in der jüngsten Ritualforschung gerecht und vernachlässigt wichtige rituelle Dimensionen (embodiment, agency u. a. m.). Die zweitgenannte Studie ist ganz dem Neuen Testament gewidmet. Nach einer profund über den gegenwärtigen Forschungsstand informierenden Einleitung geht R. E. DeMaris exemplarisch der Bedeutung diverser "boundary-crossing rites" (Rituale des Gruppenein- und -ausschlusses) nach, nämlich der Taufe, dem Ausschlussritual in 1 Kor 5,1-5 und der rituellen Prägung der mk Passionsgeschichte. DeMaris tut dies jeweils unter Rekurs auf kulturanthropologische Ritualtheorien wie auch auf Erkenntnisse über das griechisch-römische rituelle Leben, auch solche archäologischer Natur. Die lehrreiche und innovative Untersuchung gibt in ihrer interdisziplinären Ausrichtung wichtige Anstöße zur Entwicklung einer neutestamentlichen Ritologie.
3. Ausblick: Kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments In den am 27.01. 2006 verabschiedeten "Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland" des Wissenschaftsrates heißt es: "Gegenwärtig mehren sich die Zeichen, dass der Rekurs auf ,Kultur' und die Kulturwissenschaften eine zwar wichtige, jedoch zeitlich begrenzte Stufe in der Begründung der Geisteswissenschaften darstellt" (www.wissenschaftsrat.de/texte/7068-06.pdf [06. 11. 2009J, 11). Die Aussage bringt die verbreitete Skepsis an einer Überbewertung des Status kulturwissenschaftlicher Forschung 17
zum Ausdruck. Der bisweilen geäußerte Anspruch einer Allzuständigkeit kulturwissenschaftlicher Arbeit und die Forderung eines Aufgehens der Geisteswissenschaften in den Kulturwissenschaften sind in der Tat unangemessen. Allerdings wäre es umgekehrt ebenso unangemessen, den Aufschwung der Kulturwissenschaften als vorübergehende Modeerscheinung abzuqualifizieren. Schließlich heißt es in den genannten Empfehlungen des Wissenschaftsrates wenig später weiter: "Die Leistungen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes müssen für die Fortentwicklung der Geisteswissenschaften aufgegriffen werden: die Erweiterung der Forschungsgegenstände, der Zugewinn an internationaler Kooperation, die gesteigerte Reflexion auf kulturelle Praktiken und Theorienbestände sowie die mit der Bearbeitung übergreifender Themen einhergehende engere Verknüpfung wissenschaftlicher Disziplinen" (12). Ein solches Aufgreifen und Fortschreiben des kulturwissenschaftlichen Ansatzes ist auch in der neutestamentlichen Exegese angezeigt, will sie sich nicht abschotten. Die Integration kulturwissenschaftlicher Perspektiven vermag dabei im Näheren - wie der Verfasser dieses Beitrags an anderer Stelle ausführlicher dargelegt hat - ,,1. zu einer verstärkten Selbstreflexivität der wissenschaftlichen Autoren und Autorinnen führen, 2. ein gesteigertes Problembewusstsein hinsichtlich der eigenen wissenschaftlichen Methodik und entsprechende Verschiebungen im Methodenkanon hervorrufen sowie 3. eine Erweiterung des exegetischen Fragenund Themenkanons in die Wege leiten" (Strecker, 32; vgl. 32-40). Die explizite Rede von einer "kulturwissenschaftlichen Exegese" hat sich bislang jedoch nicht etablieren können. Sie begegnet in nur sehr wenigen Beiträgen (vgl. Strecker, 9.27-40; Bormann, 173). Angesichts des bemerkenswerten Aufschwungs der Kulturwissenschaften und der Selbstverständlichkeit, mit der z. B. von einer "sozialgeschichtlichen", "feministischen" oder "psychologischen Exegese" gesprochen wird, ist dies erstaunlich. In dieser Zurückhaltung spiegelt sich wohl nicht nur die eher zögerliche Rezeption kulturwissenschaftlicher Perspektiven in der exegetischen Forschung, sondern wohl auch die Schwierigkeit, das Feld kulturwissenschaftlich-exegetischer Arbeit genauer abzugrenzen. Die voranstehenden Besprechungen bündelnd und zugleich ausweitend, lassen sich im Groben aber durchaus drei Basisausrichtungen kulturwissenschaftlicher Exegese ausmachen: Die erste Ausrichtung beschäftigt sich mit der Einbettung der neutestamentlichen Schriften in die antiken kulturellen Welten. Es ist die kulturanthropologische Exegese, die sich dieser Analyse gezielt annimmt, indem sie den damaligen Einstellungen, Mentalitäten, Verhaltensweisen und rituellen Praktiken nachgeht, wobei sie - bemüht darum, anachronistische und ethnozentristische Auslegungen zu meiden - ausdrücklich deren kulturelle Fremdheit hervorhebt und sich dieser Fremdheit mittels des gezielten Gebrauchs ethnologischer Modelle annähert. Zu nennen ist hier aber auch jene oben erläuterte postkoloniale Exegese, die Einsichten und Konzepte der postkolonialen Debatte heranzieht, um die in die neutestamentlichen Texte eingelassene politische Kultur zu deuten. Die zweite Ausrichtung zielt auf die Wahrnehmung der kulturellen Prägung und Standort18
gebundenheit der wissenschaftlichen Exegese. Unter Verweis auf die Entstehung und Fortentwicklung der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments in einer bestimmten geschichtlichen und kulturellen Konstellation der westlichen Hemisphäre wird ihr Anspruch auf Neutralität, Objektivität und universale Gültigkeit hinterfragt bzw. relativiert. Vor diesem Hintergrund gewinnen Exegesen von Forschenden aus nichtwestlichen, ehedem kolonialisierten Kulturen verstärkt Gewicht. Insofern deren Lebensumstände und Wirklichkeitsauffassungen z. T. bemerkenswerte Affinitäten zu den neutestamentlichen Lebenswelten aufweisen, wird darüber diskutiert, inwiefern ihnen gar ein epistemologischer Vorsprung zukommt (v gl. insgesamt Blount; Kahl). Eine dritte Ausrichtung reflektiert die Prägung der westlichen Kultur durch die Bibel/das Neue Testament sowie den kulturellen Export der Bibel im Zuge des Kolonialismus. Im Stil der cultural studies (s.o.) werden hier zumal auch Verwertungen biblischer/neutestamentlicher Motive in kulturellen Performanzen der Gegenwartskultur analysiert, etwa im Kino, der Werbung oder auch im Rahmen der Disneyfizierung der Bibel in biblischen Themenparks (vgl. z. T. Exum/Moore). In allen drei Ausrichtungen kommen Verschiebungen hin zu diskursanalytischen, dekonstruktiven, praxeologischen Verfahren und Perspektiven zum Tragen, die sich vom klassischen Zuschauermodell des Wissens verabschieden und den Fokus auf das Moment der Produktion und performativen Herstellung vermeintlich vorgegebener, unveränderlicher Größen richten. In allen drei Ausrichtungen dominiert eine Haltung des Respekts vor dem Anderen und Fremden, der Nichtvereinnahmung, des Dialogs und der Gerechtigkeit, die zumal auch theologisch anschlussfähig ist. "Kultur ist Reichtum an Problemen." Die kulturwissenschaftliche Exegese nimmt sich dieses Reichtums in komplexer Weise an. Sie ist kein einfaches und kein konsensorientiertes Geschäft. Gerade darin liegt aber ihr Charme und ihr Innovationspotential, schließlich vollzieht sich die Zunahme von Erkenntnissen über die Auseinandersetzung mit Problemen.
Exegese zwischen Geschichte, Text und Rezeption. Literaturwissenschaftliche Zugänge zum N euen Moises Mayordomo Testament Hans-Georg Gradl, Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leserorientierter und textpragmatischer Perspektive (fzb 107), Echter Würzburg 2005,500 S. - Judith Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter J esu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen (NTOA/StUNT 64), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und Academic Press Fribourg 2007,347 S. - Michael Verkündigung und Forschung 55. Jg., Heft 1, S. 19-37 ISSN 0342-2410 © ehr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2010
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1. Vielfalt und Konflikt in der Methodendiskussion Nachdem die historisch-kritische Methode als ein einigermaßen organisch gewachsenes Methodenpaket auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Interpretation über ein Jahrhundert lang eine beinahe globale Monopolstellung behaupten konnte, haben sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Methoden etabliert, die als Alternative oder als Ergänzung zum geltenden Paradigma in die laufende Diskussion eingeführt worden sind. Methodische Revitalisierungsimpulse sind aus verschiedenen Disziplinen der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Politikwissenschaft, Soziologie, Kulturanthropologie und Psychologie, aber auch aus fachübergreifenden Strömungen wie Strukturalismus, Gender Studies (oder Geschlechterforschung), Hermeneutik, Postkolonialismus, Dekonstruktion, postmoderne Diskurskritik usw. aufgenommen und exegetisch verarbeitet worden. Der internationale Diskussionsstand hat selbst im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission über "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" (1995) seine deutlichen Spuren hinterlassen: Hier werden neben historisch-kritischen Fragestellungen knapp rhetorische, narrative, semiotische, kanonische, jüdische, wirkungsgeschichtliche, soziologische, kulturanthropologische, psychologische, befreiungstheologische und feministische Auslegungsmodelle referiert. Durch diese Pluralisierung der Methodik - die gerne mit dem Habermas'schen Diktum der "neuen Unübersichtlichkeit" apostrophiert und damit zugleich als Bedrohung der Moderne stilisiert wird - ist die exegetische Landschaft deutlich heterogener geworden. Gegenüber dem stark autorzentrierten Interesse historischer Kritik hat sich der Betrachtungshorizont auf sämtliche Aspekte textueller Kommunikation ausgeweitet (vgl. Mayordomo, 18-23): Ansicht: Als was betrachte ich einen Text?
Erkenntnisklasse: Welche Erkenntnisse gewinne ich daraus?
Sachbezogen: Was sagt der Text zu einem bestimmten Thema? als Symptom: Historische Lektüre Autorbezogen: Was sagt der Text über den Autor und seine Zeit? als Gegenstand: Formalistische Lektüre Textbezogen: Wie ist der Text in sich selbst beschaffen und wie legt er die Koordinaten seiner Auslegung fest? als Prozess: Rezeptionsorientierte Leserbezogen: Wie gestaltet sich die Interaktion Lektüre zwischen Text und Rezipient? als Nachricht: Thematische Lektüre
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Die wichtigsten Impulse sind ganz allgemein sprach- und literaturwissenschaftlicher Art und orientieren sich am Text in seiner Endgestalt und an der Wahrnehmung des Textes im Akt des Lesens. Damit holt die Exegese (mit reichlich Verspätung!) Prozesse nach, die im 20. Jh. nacheinander den russischen Formalismus, den angloamerikanischen "New Criticism", die linguistische Pragmatik, die deutschsprachige Werkimmanenz, die Sprechakttheorie analytischer Philosophen, den französischen Strukturalismus, die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule oder den angloamerikanischen "reader-response criticism" bewegt haben (vgl. zur Orientierung Eagleton, 59-109). In stark textzentrierten Modellen erhält der Text den Status eines in sich geschlossenen autonomen Gebildes, dessen Bedeutung nicht als Funktion autorialer Intentionalität verstanden, sondern "aus sich selbst" heraus erhoben wird. Die daraus erwachsene Praxis der genauen sequentiellen rein synchronen Textlektüre ("dose reading") macht Fragen nach Wirkungen, Wahrnehmungen oder sozialen Funktionen von Texten unmöglich und zielt meistens darauf, die vollkommene Kohärenz des Textes zu erweisen. Durch die hermeneutische Perspektive, dass Sinn durch Wahrnehmung konstituiert wird, ist das "Dogma" der Geschlossenheit eines Textes in Frage gestellt worden. Je nach hermeneutischem Standpunkt erhält der Beitrag des Lesers oder der Leserin ein mehr oder weniger starkes Eigengewicht. Sinnfindung erwächst entweder aus der Interaktion zwischen Text und Lektüre oder geht gänzlich im Pol der Rezeption auf. Die Bibelwissenschaft im englischsprachigen Raum hat sich in den letzten Jahrzehnten v. a. in literaturwissenschaftlicher Perspektive profiliert. Nach den Pionierarbeiten zu den einzelnen Evangelien von D. Rhoads/D. Michie (1982; 21999) zum MkEv, R. A. Culpepper (1983) zum JohEv, J. D. Kingsbury (1986; 21988) zum MtEv und R. C. Tannehill (1986/1990) zum lukanischen Doppelwerk ist die exegetische Produktion auf dem Gebiet des "literary criticism", "narrative criticism" oder "reader-response criticism" unüberschaubar angewachsen (vgl. Schunack 1996 und die weiterhin sehr lesenswerte kritische Bestandsaufnahme von Moore 1989). Der deutschsprachige Raum hat sich im Vergleich dazu als relativ innovationsresistent erwiesen. Es hat zwar auch hier nicht an Kritik an den hermeneutischen Implikationen wie den praktisch-theologischen Mängeln der Standardmethodik gefehlt, doch ist das historische Paradigma (in einer implizit historistischen Prägung) weiterhin der Maßstab, mit dem das Urteil über jede methodische Neuerung gefällt wird. Die im Folgenden anzuzeigenden neutestamentlichen Beiträge sind v. a. nach drei Kriterien ausgewählt worden: Sie sind nach 2000 erschienen, sie gehen mit text- und rezeptionswissenschaftlichen Methoden vor und sie sind (bis auf zwei Ausnahmen) auf Deutsch erschienen. Eine Bestandsaufnahme der englischsprachigen Forschung auf diesem Gebiet würde um ein Vielfaches ausführlicher ausfallen müssen.
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2. Der Text als Erzählung Die Arbeit von M. Hartmann (2001) - als Dissertation unter der Leitung von M. Theobald verfasst, im Wintersemester 199912000 an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen eingereicht und für die Drucklegung überarbeitet - nimmt sich einer Problematik an, welche im Bereich historischer J esusforschung angesiedelt ist: die Figur J ohannes' des Täufers. Der Titel suggeriert zudem eine Beschränkung auf die historische Frage nach den Umständen und Gründen seines Todes. Erst bei näherem Hinsehen erschließt sich der vorrangige Arbeitsschwerpunkt in der genauen Textanalyse von Mk 6,14-29 und J osephus, AJ 18,116-119. Der Autor möchte sich den Texten "sowohl in sachlich als auch methodisch neuer Weise" annähern, um die Texte und die Figur des Täufers "in einem neuen Licht wahrzunehmen" (18). Dadurch sollen neue Probleme wahrgenommen und alte befriedigend gelöst werden (19). Obwohl der Schwerpunkt auf der synchronen Textebene liegt (18), ist ein Bruch mit der historisch-kritischen Methodik keineswegs intendiert: "Ausgehend von den Basisoperationen der historisch-kritischen Exegese fügt" die vorliegende Untersuchung "weitere Methodenschritte hinzu", um dadurch "die Diskussion zur Weiterentwicklung des Methodensets innerhalb der Exegese" anzuregen (18). Bereits an dieser Stelle werden zwei teilweise widersprüchliche Ansprüche literaturwissenschaftlich informierter Textzugänge deutlich, die ich als typisch für den deutschsprachigen Bereich bezeichnen und daher auch genauer beleuchten möchte: 1. Die vorliegende Untersuchung - wie viele andere - tritt mit dem Anspruch der "Neuerung" (18) auf. Bevor dies anhand konkreter Forschungsergebnisse überprüft werden kann, ist es zunächst v. a. im Sinne einer rhetorischen Selbstverortung im wissenschaftlichen Diskurs zu bewerten. Die Gegenüberstellung von Neu und Alt entspricht einem rhetorischen Allgemeinplatz, der zugleich auch die schweren Anforderungen an eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit bedient: Dort wo mit historisch-kritischem Instrumentarium jeder Stein in der Forschungsgeschichte gleich hundertfach umgedreht worden ist, lässt sich - so die Hoffnung - mit "neuern" Instrumentarium "Neues" entdecken. Aus historisch-kritischer Warte ließe sich einwenden, dass manche Ergebnisse auch mit "herkömmlichen" Mitteln eruierbar gewesen wären (das "Neue" ist also in Wirklichkeit "alt") oder dass manche Ergebnisse schlicht irrelevant oder uninteressant sind (das "Neue" ist also in Wirklichkeit langweilig). Damit stehen literaturwissenschaftliche Zugänge - zumindest in ihrer hier angezeigten Anwendung auf neutestamentliche Texte - von vornherein in einer inhärenten Spannung zur historisch-kritischen Methodik. 2. Gleichzeitig jedoch deklarieren Anwender und Anwenderinnen literaturtheoretischer Auslegungsmodelle - in beinahe "apotropäischer" Absicht - ihre Verbundenheit mit den klassischen Methodenschritten historisch-kritischer Exegese. Dies mag, oberflächlich betrachtet, damit zusammenhängen, dass Qua23
lifikationsarbeiten selten aus dem Spannungsfeld von moderater Neuerung und respektvollem Umgang mit der Tradition ausbrechen können. Hinter solchen Loyalitätsbekundungen stehen aber auch die impliziten Ausgrenzungsmechanismen akademischer Diskurse. Hartmann kombiniert drei Ansätze (22-48): Narrative Analyse, Kulturanthropologie und Intertextualität. Der Status der drei "Methoden" und die Intensität der theoretischen Auseinandersetzung sind sehr unterschiedlich ausgefallen: Erstens, die narrative Analyse orientiert sich an der Pionierarbeit von Culpepper (1983) zum J ohannes-Evangelium (27), der selbst besonders auf die Arbeiten von Chatman (1978) und Genette (1983; dt. Übers.: 1994) zurückgreift. Leitend dabei ist die Unterscheidung zwischen dem Was (der "Story" im Sinne von F. de Saussures "signifie") und dem Wie (dem "Diskurs" im Sinne von Saussures "signifiant") einer Erzählung. Das Interesse ist vorwiegend formaler Art. Es geht um die genaue Analyse von Strukturelementen und deren Bezug zueinander (Story: Handlung bzw. plot, Ereignisse, Figuren, settings, kulturelle Codes; Diskurs: Zeit, Selektion, Perspektive bzw. Fokalisation, Erzählstimme und Erzähladressat usw.). Hartmann bietet eine knappe, zuverlässige und an der unmittelbaren Praxis orientierte Zusammenfassung Culpeppers (26-34). Da es sich bei der Arbeit von Culpepper um einen der anspruchsvollsten Beiträge aus den Anfängen des angloamerikanischen "narrative criticism" handelt, hat Hartmann sicherlich eine kluge Wahl getroffen. Doch zeigen sich darin auch zwei wichtige Beschränkungen: Der Autor sucht keine Anknüpfung an den laufenden erzähltheoretischen Diskurs im deutschsprachigen Raum (an wichtigen Vertr~tern wären u. a. F. K. Stanzel, J. H. Petersen, M. Jahn und A. Nünning zu nennen), sondern schließt direkt an die Praxis US-amerikanischer Exegeten und Exegetinnen an. Durch den Rückgriff auf eine direkt exegetische Anwendung zeigt Hartmann zudem ein deutlich pragmatisches Interesse an der "Umsetzbarkeit" methodischer Fragen. Erzähltheoretische Grundsatzfragen und weiter führende Aporien (etwa: Ist der semiotische Universalanspruch mancher Erzähltheorien haltbar? Geht es um die Regeln eines allgemeinen Erzählsystems oder um die praktische Auslegung eines Werkes? In welchem Verhältnis stehen Erzählung, Fiktionalität, Historizität und Wahrheit zueinander?) werden dabei nicht kritisch beleuchtet. Zweitens, kulturanthropologische Fragen werden nur knapp und in direkter Anknüpfung an die Arbeit von B. Malina verhandelt (34f.). Da Erzählungen immer an den kulturellen Codes ihrer Zeit teilnehmen (entweder zustimmend oder ablehnend), lassen sich Aspekte von Ehre und Schande oder von der Wahrnehmung einer Person problemlos in der narrativen Analyse integrieren. (Die theoretischen Rückfragen zur Modellbildung einer mediterranen Einheitskultur oder zur massiven Komplexitätsreduktion eines solchen Konstrukts wie "antikes Wirklichkeitsverständnis" seien hier zurückgestellt.) Drittens, mit dem Konzept der Intertextualität (35-47) nimmt Hartmann schließlich eine Perspektive auf, die apriori keine eigene Methodik bereithält. Es geht in erster Linie um eine grundlegende Eigenschaft von Textualität, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Sprache immer auf Sprache und Texte immer auf andere Texte Bezug nehmen. Dadurch wird auch die Prämisse einer reinen Textimmanenz aus den Angeln gehoben. Die Art und Weise, wie die Perspektive des Verwobenseins von Texten methodisch erhoben wird, kann stärker in den Bereich der Literaturwissenschaft, der Wahrnehmungspychologie oder der historischen autorzentrierten Forschung führen. Hartmann wählt in direkter Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Modellen ein anspruchsvolles Theorieparadigma, in welchem Fragen der Markierung und der Emphase von Textrelationen nach einer Reihe klarer Kriterien (Position, Quantität, Repetition, Proportion, usw.) in den Blickpunkt geraten. Dadurch werden nicht nur Fragen möglicher Textbezüge behandelt (vgL 202-214 z. B. zur Funktion des Esterbuches in Mk 6,17-29), sondern auch (m.E. vorbildhaft) klassische quellen-, traditions-, form- und
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motivgeschichtliche Fragestellungen genauer ausgeleuchtet. Der reichhaltige Gebrauch von Textmaterial aus dem sehr weit gefassten "Umfeld" des Markusevangeliums (u. a. Iamblichus, Philostratus) ist zwar unbestimmt in Bezug auf die Frage nach möglichem Kenntnisstand des Autors oder der Rezipienten, aber grundsätzlich (und fern aller text genetischen Fragen) werden dadurch häufig Aspekte des Textes und seiner potentiellen Einbindungen in bestehende kulturelle Codes erhellt.
Dem Autor ist es hoch anzurechnen, dass er den Josephustext den gleichen methodischen Rückfragen unterzieht wie den Evangelientext (254-355). Die häufig zu beobachtende methodische Dichotomie im Umgang mit den exegetischen Primärtexten und ihren vermeintlichen Bezugstexten wird dadurch überwunden. Der Anspruch, durch die Kombination der drei Bereiche Erkenntnisse "über die produktionsästhetische wie auch rezeptionsästhetische Seite des Textes" zu gewinnen (47), wird am Ende jedoch kaum eingelöst. Hartmann behandelt Standardfragen historischer Kritik mit historisch-kritischen Mitteln (z.B. 75-78: Tradition und Redaktion in Mk 6,14-16; 238-244: Mk 6,17-29 aus historischer Sicht), die aus text- oder rezeptionskritischer Perspektive nicht in gleicher Weise Gegenstand der Reflexion wären. Die kulturanthropologische Annäherung ist in ihrem Anspruch so umfassend, dass sie auf alle textkommunikativen Pole (Text, Autor, Leser und Leserin) anwendbar ist. Zuweilen ist die genaue Abgrenzung zwischen kulturanthropologischen und narrativen Analyseverfahren unklar (z. B. enthalten die narrativen Ausführungen viele kulturelle Informationen zum antiken Gastmahl, 150-159, oder zu den Konnotationen des Tanzes des Mädchens, 162-168). Die narrative Analyse so knapper Textsegmente hängt manchmal etwas in der Luft, weil z. B. die Position der Erzählstimme erst durch eine Analyse des gesamten Erzähltextes erhoben werden kann. Dennoch ergeben sich aus der Einzelbetrachtung häufig wichtige Bausteine für eine narrative Analyse des gesamten Evangeliums. Die Tatsache, dass am Ende ein ästhetisches Urteil ausgesprochen wird (365: "Der markinische Kerntext [ ... ] erweist sich als ein erzählerisches Meisterstück. ce), belastet die Analyse mit einer Perspektive, die sich methodisch m. E. nicht herleiten lässt. Es bleibt schließlich auch unklar, wie die Bedingungen von Rezeption genau in der Exegese erhoben werden. Die Exegese zu Mk 6,14-16 (49-100) nimmt z.B. keinen Bezug auf die vorgängige Erfahrung der Lektüre. Die knappen rezeptionsgeschichtlichen Stichproben (356-364) unter der irreführenden Überschrift "Ausblick" machen am Ende einen hermeneutisch eher erratischen Eindruck. Dennoch hat dieser Beitrag etwas gemeinsam mit vielen Arbeiten auf diesem methodischen Gebiet: Sie verstehen sich als Versuche, als Explorationen, in diesem Fall "eines noch zu erstellenden integrativen heuristischen Modells" (48). Durch die Berücksichtigung kulturanthropologischer und intertextueller Perspektiven vermeidet der Autor eine rein textimmanente Betrachtung und eröffnet Perspektiven, die im Rahmen einer Dissertation kaum eingelöst werden können. Die Anstrengungen des Autors als eine Modeerscheinung abzutun, wäre unangebracht. Hier zeigt sich jemand in Theorie und Durchführung ernsthaft 25
darum bemüht, den methodisch kontrollierten Umgang mit neutestamentlichen Texten kreativ zu bereichern. eh. Rose (2007) sucht in seiner Dissertation einen Zugang zur Frage nach dem Verhältnis von Christologie und Theologie im Markusevangelium über eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung von Mk 1,1-15. (Die Verbindung dieser beiden Methoden liegt nahe und wurde bereits von T. Nicklas vorgenommen.) Dass der Anfang eines Erzählwerkes aus dieser Perspektive einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, muss nicht ausführlich begründet werden (59). Im Hinblick auf die theologische Fragestellung behandelt der Autor noch 1,21-28; 2,1-12 (Heilungen und Vollmacht Jesu); 9,2-13 ("Verklärung" Jesu) und 15,33-41 (Tod Jesu und Bekenntnis des Hauptmanns). Thematisch situiert sich die Arbeit in einem dogmatischen Fragehorizont. Das wirft von vornherein die Frage auf, ob die Verhältnisbestimmung von Christologie und eigentlicher Theologie überhaupt ein Problem darstellt, welches aus narratologischer oder rezeptions ästhetischer Perspektive in dieser Form wahrgenommen werden kann. Die Zielsetzung der Arbeit lautet demnach auch ganz klassisch theologisch: "Weil Gott nur in der Weise bekannt ist, wie Jesus Christus ihn offenbart, muß eine Suche nach der Theologie von Christus ausgehen. [ ... ] Anders gefragt: Wie stellt sich die Theologie des MkEv dar, wenn man die Christologie als ihren Schlüssel betrachtet?" (21) Diese dogmatische Argumentationslinie wird in der Zusammenfassung wiederholt (253). Die methodischen Überlegungen sind etwas eklektisch ausgefallen. Die Tatsache, dass von den hier angezeigten Arbeiten die von Rose als einzige explizit den Anschluss an Fragen einer "narrativen Theologie" sucht, stellt eine wichtige theologische Ausweitung narratologischer Fragestellungen dar. Hier wäre es aber wünschenswert, über die knappe Diskussion von zwei deutschsprachigen Beiträgen hinaus (22-25: H. Weinrich und J. B. Metz) den Dialog mit der angelsächsischen postliberalen Theologie (G. A. Lindbeck, H. W Frei, S. Hauerwas u. a.) zu führen. Die Beschäftigung mit literaturwissenschaftlichen Theoriemodellen ist (gerade auch gegenüber anderen Beiträgen) reichlich knapp: Zur Narratologie werden ein Artikel von G. Lohfink (25-31) und das narratologische Standardwerk von G. Genette (1994) referiert (25-34), zur Rezeptionsästhetik bespricht er zwei exegetische Anwendungen (45-55) und umgeht die direkte Beschäftigung mit den Werken von W. Iser oder U. Eco. Ein Grund für diese Theoriescheu wird nicht erkennbar. Dass Rose die Wahrnehmung des Textes im Hörakt gegenüber der Lektüre hervorhebt (50f.; vgl. dazu Mayordomo, 166-170 und neuerdings B. G. Upton), zeigt eine deutliche Orientierung an den historischen Bedingungen der Erstrezeption. Das ist eine legitime, aber m. E. keineswegs eine zwingend einzunehmende rezeptionsästhetische Perspektive.
Im Laufe der ausführlichen Einzelexegese, die dem Dreischritt Übersetzung, Analyse und rezeptionsästhetische Beobachtungen folgt, führt der Autor noch wichtige narratologische Konzepte ein und erläutert sie anhand der markinischen Jesusgeschichte (z. B. 66-68 zum Erzähler). Die rezeptions ästhetische Perspektive hätte etwas konsequenter in laufende Forschungsdiskussionen eingebracht werden können (z. B. zur Frage nach der Gattung der Evangelien, 7077). Es wäre auch zu fragen, welches Gewicht Fragen der Zugehörigkeit von Textsegmenten (z.B. 83-89, ob 1,2f. zu 1,1 oder zu 1,5-8 zu ziehen ist) ange26
sichts der sequentiellen Lektüre haben. Ferner bildet sich der Mangel an rezeptionsästhetischer Theoriebildung darin ab, dass die Abschnitte zu dieser Beobachtungsperspektive häufig aus der Perspektive des Erzählers formuliert sind (110: "Der Erzähler zeigt dem Rezipienten [ ... ]"; 130: "Der Erzähler zieht sich [ ... ] zurück [ ... ]"; 251: "Der Erzähler legt hier das Fundament [ ... ]" usw.). Von der aktiven Mitarbeit der Hörer und Hörerinnen bei der Sinnkonstitution, von Leerstellen und Ambivalenzen, von Identifikationsangeboten und unterschiedlichen Möglichkeiten der Kohärenzbildung ist nicht die Rede. Die Vorgehensweise entspricht am ehesten dem Modell-Leser von Eco (1987), welcher derart mit dem Code des Werkes übereinstimmt, dass er im Textpol unterzugehen droht. Am Ende kommt der Autor wieder zu den grundlegenden theologischen Fragen seiner Arbeit zurück (261-266), wobei hier nur narratologische, kaum aber rezeptionsästhetische Aspekte zum Tragen kommen. Ähnlich wie Hartmann stehen am Ende Bewertungen der Leistung des Autors: "Markus als versierter Erzähler und Schriftsteller [... ] hat Großes geleistet." (266) Wie eine Christologie aussehen könnte, die sich noch klarer an Konzepten der Rezeptionsästhetik orientiert (z. B. Christologie als Wirkungspotential einer Erzählung), bleibt leider weiterhin offen. Die Arbeit von]. L. Resseguie (2005) soll hier aus zwei Gründen kurz Erwähnung finden: Sie erlaubt einen Einblick in den angloamerikanischen Bereich; und es handelt sich nicht um eine Qualifikationsarbeit, sondern um ein Lehrbuch zur neutestamentlichen Erzählforschung aus der Feder eines wichtigen Vertreters dieser Methode (vgl. bereits M. A. Powell 1990). Es handelt sich zudem um einen "Exklusivanwender" aus Überzeugung: "Once I learned how to do dose readings", bekennt er im Vorwort, "I never turned back. Other methods of biblical interpretation could not offer the freshness and excitement of reading a New Testament narrative on its own terms." (11) In der Einleitung (17-40) führt der Autor die wichtigsten Begriffe ein (er orientiert sich an Chatman und Genette) und bringt "narrative criticism" in einen Zusammenhang mit der Praxis des "dose reading" im "New Criticism" und der Öffnung auf die Leseperspektive durch "reader-response criticism". In einer kleinen Apologie für die Methode führt er die folgenden Vorteile an (38-40): "Narrative criticism" betrachtet den Text als Ganzes, nähert sich den Komplexitäten und Details des Textes durch die Praxis des "dose reading" und betont die Wirkungen auf die Leser und Leserinnen. In weiteren Kapiteln beschäftigt sich Resseguie mit Erzählrhetorik, setting, Charakter, Fokalisation (oder "point of view") und plot und reichert seine Ausführungen durch exemplarische Exegesen an. Am Ende hält er fest: "Narrative criticism breathes new life into familiar passages [ ... ]. Its holistic approach to biblicalliterature [ ... ] makes narratives that seem staid and commonplace appear fresh and new." (254) Der Beitrag von Resseguie zeugt von einem stabilen Selbstbewusstsein. Der Anspruch einer holistischen synchronen Lektüre muss sich nicht besonders gegen ein dominantes historisches Paradigma verteidigen. Die reichhaltige Biblio27
graphie macht zudem deutlich, dass sich im englischsprachigen Bereich ein narratologisches Paradigma in der neutestamentlichen Exegese etabliert hat, das einen eigenen und gewichtigen Beitrag zur Methodendiskussion darstellt. Der Enthusiasmus des Anwenders hat zwar etwas wohltuend Ansteckendes, aber er sollte nicht über mögliche Aporien hinwegtäuschen. So setzen z. B. die Praxis einer holistischen Lektüre, die von der Kohärenz des autonomen Kunstwerkes ausgeht, und die Orientierung an der Mitarbeit von Lesern und Leserinnen zwei unterschiedliche Textmodelle voraus. (Im Übrigen kann narrative Kohärenz höchstens ein Postulat und nicht ein Ergebnis narrativer Exegese sein.) Dass Resseguie insgesamt wenig Interesse am Phänomen der Intertextualität zeigt (s. o. zu Hartmann) oder an soziologischen Fragestellungen (vgl. etwa 119 f.), hängt auch mit der starken Gewichtung der reinen Textimmanenz zusammen. Er folgt vielen exegetischen Anwendungen darin, dass er Konzepte der modernen Literaturwissenschaft direkt auf die neutestamentlichen Texte überträgt. In einem entsprechenden Theorierahmen ist dieses Vorgehen durchaus plausibel (z. B. wenn man von einer universalen Erzählgrammatik ausgeht), dennoch könnte ein Blick in die antike Literaturtheorie erhellend sein. 3. Ein narratologisches Einzelproblem: Charakterisierung im Johannesevangelium
In seiner Regensburger Dissertation wendet sich T. Nicklas (2001) nicht nur einem der sensibelsten Bereiche der gegenwärtigen Johannes-Forschung zu (dem Problem des "Antijudaismus"), er versucht zugleich einen neuen methodischen Ansatz in der Praxis zu erproben. Im Vergleich zur Arbeit von Hartmann bleibt Nicklas methodisch in einem klarer umrissenen Feld von Erzählund Rezeptionsforschung. Der Ansatz ist von vornherein sachlich nahe liegend und viel versprechend: Erzählwissenschaft hat sich immer in besonderer Weise mit Fragen der Charakterisierung oder Figurengestaltung beschäftigt. Aus dieser Perspektive lassen sich nicht nur klassische Aspekte der Christologie neu beleuchten, sondern auch "Kollektive" analysieren, die in Erzählungen relativ einheitliche Rollen spielen. Da Narratologie von einem Kommunikationsmodell ausgeht, bei dem sich textintern Erzähler und Erzähladressat bzw. impliziter Autor und impliziter Leser gegenüberstehen (77-84), liegt die Aufnahme rezeptionsästhetischer Vorgehensweisen auf der Hand. Figuren der Textwelt sind zudem besonders dazu geeignet, Reaktionen zu provozieren. Nach einem informativen problemorientierten Forschungsbericht (16-72) stellt Nicklas seine methodische Vorgehensweise vor (72-92). Er orientiert sich dabei - wie bereits Hartmann - u. a. an Culpepper (1983) und Chatman (1978). Der literaturwissenschaftliche Ansatz verwehrt es, das Problem durch traditionsgeschichtliche Phasenmodelle - ganz gleich, wie plausibel oder spekulativ diese auch sein mögen - anzugehen. Der Vorrang der synchronen Betrachtung stellt angesichts des vielhltigen Gebrauchs von Ioudaioi im J ohEv die Analyse 28
vor besonders schwere Aufgaben. Nach einer klaren Schrittfolge (Textkritik, Struktur, Charakterisierung, "Weg des impliziten Lesers") analysiert Nicklas eine exemplarische Textauswahl: Joh 1,19-34 (Täuferzeugnis); 1,35-51 Qüngerberufung); 3,1-21 (Gespräch mit Nikodemus); 5,1-18 (Heilung des Gelähmten am Sabbat) und 9,1-41 (Heilung des Blindgeborenen). Die genaue Funktion der recht ausführlichen textkritischen Analysen im Verbund seines literaturwissenschaftlichen Vorgehens ist mir nicht klar geworden (was teilweise auch im Text durchscheint; vgl. 257, 262). Inwiefern diese Textauswahl, die arbeitsökonomisch begründet wird (91), das Ergebnis präjudiziert, möchte ich offen lassen Qoh 8 wäre sicherlich von großem Interesse gewesen!). Eine wirkliche Durchdringung der Thematik erforderte die narrative Behandlung aller I oudaioi-Vorkommnisse. In den Einzelexegesen (93-390) gelingen Nicklas selbst zu viel behandelten Themen johanneischer Theologie und Sprache (z. B. zum joh Missverständnis) erhellende Beobachtungen. Ein schönes Beispiel ist die "nachgeschobene" Sabbatnotiz in 5,9, die unter literarkritischem Vorzeichen sofort den Verdacht einer ungeschickten Nahtstelle auf sich zieht. Aus der Perspektive der Lektüre eröffnet diese Stelle einen Reflexionsprozess, durch den der Leser (und die Leserin) die bisherige Wahrnehmung von 5,1-9 neu bedenken muss (300). Der narrative Fokus auf den Aspekt der Charakterisierung macht die Interaktion zwischen den "Juden" und einzelnen Personen (Nikodemus, Geheilte, Jünger, J esus) deutlich erkennbar. Die Figurenzeichnung erhält dadurch eine Dynamik, die mit dem klassischen Methodeninventar nicht aufgezeigt werden kann. Dabei geht der Autor sehr vorsichtig den Texten nach und versucht der Figur der Ioudaioi von vornherein nicht zuviel "Gepäck" aufzuladen. Bei der Heilung des "Gelähmten" am Sabbat werden sie "alleine durch ihr Handeln charakterisiert" (282) und haben im Lauf der Erzähleinheit "kein konkretes, fassbares ,Gesicht'" (285); in der Episode der Heilung des Blindgeborenen erhalten sie ihre Konturen einzig und alleine durch die Konfrontation mit dem Blindgeborenen (364). Diese Vorgehensweise ist angesichts der vielen unterschiedlichen Hypothesen über die semantische Referenz von I oudaioi und ihren außertextuellen Entsprechungen geradezu wohltuend. Es wäre höchstens zu fragen, ob die Lektüre der johanneischen Erzählung im Hinblick auf die Ioudaioi an einem Nullpunkt beginnt oder ob es im Repertoire der (realen) Leser und Leserinnen nicht bereits einen "enzyklopädischen Eintrag" dazu gibt. Aus der Perspektive der Lektüre und der Lenkung durch den Text erweisen sich die gängigen Modelle ("die Juden" als Symbol für die ungläubige Welt, als Judäer, als Konglomerat unterschiedlicher Gruppen, als Jerusalemer Oberschicht, als Opponenten der johanneischen Gemeinde usw.) als unbefriedigend. Die Rollenzuschreibungen sind in erster Linie Aspekte der narrativen Dynamik der Erzählung und nicht gleich Symptome für Trennungsprozesse zwischen Judentum und Christentum. Da die Wahrnehmung des Textes nicht einfach isolierte Stellen, sondern den Text in seinem gesamten narrativen Verlauf wahr29
nimmt, verwirft Nicklas die gängige Einteilung der Belegstellen in negativ, positiv und neutral konnotierte Verwendungsweisen (392f.). Vielmehr verstärken die Ioudaioi als negative Kontrastfiguren und die Jünger als offene und ambivalente Identifikationsgestalten die "Bindung" der Leser (und Leserinnen) "an den Erzähler" (209), um diese dadurch im johanneischen Sinne zum Glauben bzw. zum Sehen zu führen (196 f., 208, 389). In dieser Perspektive kommt es innerhalb der Erzählung zum "Zerbrechen von Dialogfähigkeit" (305). Der Erzähler wendet zwei verschiedene Formen der Charakterisierung an: Individualisierung (im Falle der Jünger) und Typisierung (im Falle der Ioudaioi). Ein kritischer Abstand zu diesem Vorgehen des Erzählers ist bei Nicklas deutlich spürbar: Der Erzähler entfaltet seine Ironie dadurch, dass er dem Erzählpublikum (seit dem Prolog) ein Wissen vermittelt und damit "eine Perspektive der Dinge überstülpt", zu der die Ioudaioi schlicht keinen Zugang haben (386; s. a. 389,406). Diese maximale Kontrolle über den Akt des Lesens, welche durch die kanonische Stellung des Textes noch verstärkt wird, und die "Darstellung der ,Juden' als ,Typen' ohne Gesichter und Namen" erlauben "fatalerweise die Übertragung ihrer Zeichnung als Charaktere der erzählten Welt auf jüdische Personen und Gruppen des realen Lebens" (409). Sicherlich ergeben sich hier wichtige Anschlussfragen nach der religionssoziologischen Rolle der johanneischen Erzählung im frühen Christentum. Solange jedoch klare Kriterien fehlen, um zu erschließen, -wie textuelle Figuren mit außertextuellen Gruppierungen "korrelieren", erscheint mir die Vorsicht von Nicklas heilsam. Ein bleibendes hermeneutisches Problem verbirgt sich in der Anm. 1571: "UJede Bestimmung der Rolle des ,impliziten Lesers', so sehr sie sich objektiv erscheinenden Methoden verpflichtet fühlt, [ist] durch die Subjektivität des Exegeten, der ja nie ganz seiner Rolle als ,realer Leser' des von ihm untersuchten Textes entschlüpfen kann, bestimmt." Eine Notiz sei am Rande noch angebracht: Nicklas (wie viele andere auch) folgt dem literaturwissenschaftlichen Usus, die textinternen wie textexternen Pole der literarischen Kommunikation mit männlichem Geschlecht zu versehen (Autor, Leser, Erzähler). Hier wären kreativere Lösungen (vielleicht ein abwechselnder Sprachgebrauch) angebracht.
Die Habilitationsschrift von]. Hartenstein (2007) stellt gegenüber anderen Arbeiten einen Fortschritt auf einem begrenzten Feld dar. Die Autorin zeigt nicht nur sprachliche Gender-Sensibilitäten, die anderen Beiträgen fehlen. Sie konzentriert sich auf die Frage der narrativen Charakterisierung von Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im JohEv und breitet dafür auf eigenständige Art und Weise eine theoretische Basis aus, die auch den Besonderheiten der Evangelienerzählung zu entsprechen sucht (29-37). Hartenstein führt in aller Knappheit in narrative Grundstrukturen des Evangeliums ein (38-44) und versucht das "mögliche Vorwissen der LeserInnen" in Bezug auf diese Figuren anhand einer Reihe von möglichen Bezugstexten zu rekonstruieren (44-50: EvThom, Dialog des Erlösers, EpAp, EvMaria, EvPhil). Ein solcher Bezugsrahmen ist natürlich schwer exakt historisch zu begründen, aber es stellt m. E. zumindest als Arbeitshypothese dennoch einen wichtigen Schritt dar, weil Texte 30
immer außertextuelle Kompetenz voraussetzen (vgl. zum JohEv Culpepper 1983,211-227 und allgemein Mayordomo, 151-163). Leider berührt die Autorin das Konzept der Intertextualität nicht (vgl. dazu in einem ähnlichen Arbeitsgebiet S. Petersen, 62-84). Bevor Hartenstein die Charakterisierung einzelner Figuren analysiert, bietet sie einen Überblick über alle Einzelpersonen im JohEv und die unterschiedlichen Formen der Charakterisierung (54-116). Auf breiter Basis gelingt es ihr, Aspekte der Arbeit von Nicklas zu bestätigten: Die Charakterisierung ist weitgehend offen gestaltet, so dass die meisten Figuren komplex und ambivalent sind (114-116). Allerdings stattet sie - anders bzw. klarer als Nicklas - die Rezipiendnnen mit einem (hypothetisch postulierten) Vorwissen aus. Durch den Vergleich mit anderen Texten gelingt es der Autorin im Falle ihrer vier genauer behandelten Figuren, Besonderheiten (z. B. im Bereich von literarischen GenderStereotypen) der johanneischen Erzählkunst zu profilieren. Hier zeigt sich - bei allen berechtigten Rückfragen - eine besondere Stärke der narratologischen Vorgehensweise von Hartenstein. Leider wird die Charakterisierung der zentralen Erzählfigur nur ganz am Rande gestreift. Es wäre ein durchaus reizvolles Unterfangen, Fragen johanneischer Christologie methodisch mit dem Analyseinstrumentarium narrativer Charakterisierung anzugehen. Da der Gebrauch literaturwissenschaftlicher Methoden durch Hartenstein sich nicht auf die Ebene der Textimmanenz beschränkt, kann ihr Modell sicherlich auch im Sinne einer Erweiterung der historisch-kritischen Methode attraktiv sein. Angesichts der historischen Profilierung ihres Leserlnnen-Modells wäre allenfalls zu erwägen, ob nicht die Rezeption im Hörvorgang präziser analysiert werden sollte (s. o. zu Rose). 4. Fragen der Lektüre und Rezeption Die Kopenhagener Dissertation von G. Y. Iversen (1999 eingereicht, 2003 als überarb. Fassung erschienen) stellt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme dar: Sie widmet sich nicht einem neutestamentlichen Erzähltext, sondern einem paulinischen Brief (Röm), sie arbeitet ausschließlich aus rezeptions ästhetischer Perspektive und sie behandelt den gesamten Text. (Dass die Autorin die deutsche Sprache als akademische Fremdsprache gebraucht und die Arbeit eine gründliche sprachliche Überarbeitung nötig gehabt hätte, schränkt zuweilen die Verständlichkeit deutlich ein.) Iversen sucht - wie Hartmann - "neue Wege in der Exegese" zu beschreiten (IX). Während Nicklas sich nur relativ knapp (Nicklas, 80f.) mit Isers Modell des "impliziten Lesers" (Iser 1972; 1976) beschäftigt, orientiert sich Iversen vollumfänglich an dieser einflussreichen Phänomenologie des Lesens (Iversen, 17-56; vgl. Mayordomo, 65-79). In ihrer treffenden Zusammenfassung hebt sie in besonderer Weise die hermeneutische Bedeutung von "Unbestimmtheit und Bestimmtheit" und Negativität hervor. Dadurch wird die Interpretation vom Zwang zu referentieller Vereindeutigung befreit und der 31
Raum ist offen für vielfältige Deutungen (Iversen, 25; vgl. 45: "Mangel als Antrieb und Triebkraft"). Der Problematik, dass Iser sein Modell grundsätzlich an der Praxis der Deutung von Romanen entwickelt hat, ist sich Iversen zwar bewusst (54f.), sie bedenkt aber weder im theoretischen Abschnitt noch in den exegetischen Teilen, welche Verschiebungen durch die Übertragung auf einen argumentativen Brief entstehen. In Anlehnung an die Textanalysen in Isers Werk von 1972 geht sie mit einer gewissen Unbefangenheit zu Werke: "Erst sehen, wie es der Meister macht, danach selber versuchen!" (55) In ihrer Beschäftigung mit dem Röm sucht sie immer wieder den Anschluss an die rhetorische Paulusforschung, allerdings ohne die rezeptionsästhetischen Implikationen zu bedenken, die bereits in der aristotelischen Rhetorik und v. a. in der Poetik erkennbar sind (vgl. Mayordomo, 120-131). Stattdessen verlässt sie sich m.E. zu stark auf Sekundärliteratur. Wenig glücklich erscheint mir die folgenreiche Bestimmung (im Anschluss an eine These von W. Wuellner) des Genres als epideiktischer Freundschaftsbrief. Folgt man z. B. den Ausführungen in Aristoteies, Rhet. 1,3 (1358b8-25), liegt dem epideiktischen Genus der Musterfall zugrunde, dass vor einer Festversammlung eine Person, eine Gemeinschaft, eine Tätigkeit oder eine Sache gelobt oder getadelt wird. Die vom Redner intendierte Qualifizierung läuft auf die Alternative "gut" (kalon) oder "schlecht" (aischron) hinaus. Aus dieser Genusbestimmung ließen sich in der Tat folgenreiche Rollenzuweisungen für intendierte Wirkabsichten herleiten; nur sind diese in ihrer Anwendung auf den Röm reduktionistisch und kaum sinnerschließend. Auch die alte Deißmann'sche Unterscheidung zwischen Brief und Epistel (Iversen, 60f.) ist auf den ersten Blick nicht in ihrer rezeptions ästhetischen Relevanz erkennbar. Ferner ist der nicht weiter erläuterte Gebrauch eines theologisch so aufgeladenen Begriffs wie "Heilsgeschichte" wenig hilfreich. In ihrer Auslegung beschäftigt sich Iversen mit der Frage, "wie der Text eine Leserrolle konfiguriert, die den Leser bzw. die Leserin in den Text hineinnimmt" (87). Dabei fusioniert die Autorin so stark mit einer ganz an Paulus orientierten Ideal-Leserin (78: "Um diesen Brief lesen zu können, muß man Paulus-Leser sein!"), dass sie sehr häufig die Perspektive des Autors einnimmt (vgL etwa 189). Der Widerspruch zwischen Röm 2,13 und 3,20, der zu den schwierigsten Aspekten der Auslegung von Röm 1-4 zählt, könnte rezeptionsästhetisch im Sinne einer paradoxen Denkaufgabe betrachtet werden. Iversen situiert sich allerdings auf der Seite des Autors und sieht in dem Widerspruch das "Ergebnis der Reflexion des Paulus über die Rolle des Gesetzes" (110), so dass beim Lesen 3,20 als Korrektur gegenüber 2,13 funktioniert (111). Immer wieder blitzen interessante Ideen auf (210-212 zu 10,12; 212-216 zum Schriftgebrauch; 222-224 zur Leseerfahrung als Korrektur). Da die Autorin jedoch in einem sehr weiten Bogen den gesamten Brief behandelt, leitet sie viele exegetische Entscheidungen von Referaten zur Sekundärliteratur ab (W. Wuellner, S. K. Stowers, D. Hellholm, N. Elliott, T. Engberg-Pedersen u. a.), ohne diese im Einzelnen zu begründen oder in rezeptionsästhetischer Perspektive genauer zu bedenken. Dabei folgt die Anknüpfung an die rhetorische Paulus-Analyse einer produktiven Intuition, die sowohl eine Möglichkeit für eine rezeptionsästhetische Briefinterpretation darstellen als auch den latenten Formalismus rhetorischer Bestimmungen zu beheben helfen könnte. Leider gelangt Iversen nicht zu einer ausgereiften Analyse, welche Chancen und Grenzen ihres interessanten Vorhabens besser hätte unter Beweis stellen können. Schade!
In seiner Dissertation - verfasst unter der Betreuung von J. Beutler - beschäftigt sich H.-G. Gradl (2005) mit einem der am meisten behandelten Themen der Lukasforschung, der Frage nach dem Umgang mit materiellen Gütern. Metho32
disch wählt der Autor einen ähnlichen Rahmen wie Iversen, legt aber eine breitere theoretische Grundlage vor: Nach einigen "Vorstationen " in der antiken Rhetorik, der Werkimmanenz, der linguistischen Pragmatik, der Sprachphilosophie und Hermeneutik (27-47) beschäftigt sich Gradl ausführlich mit der Sprechakttheorie (47-63) und der Rezeptionsästhetik (63-98 nach Iser 1976 und Eco 1987). Die Verbindung der beiden letzten Modelle nennt er "Textpragmatik" (95; vgl. bereits V. A. Lehnert 1999, 49-69, der nicht in der Bibliographie Gradls aufgeführt wird). Damit knüpft Gradl an eine Tendenz an, die in der deutschsprachigen römisch-katholischen Exegese stärker vertreten ist als in der evangelischen (F. Lentzen-Deis, D. Zeller, E. Arens, W. Egger, D. Dormeyer, H. Frankemölle, R. Dillmann, M. Grilli). Wiederum ähnlich wie Iversen möchte er "den Text als bleibendes Medium der Kommunikation [ ... ] begreifen, die den Eintritt des Lesers - und zwar jeden Lesers - ermöglich[t]" (22). Gradl hofft dadurch, die Perspektive der historischen Erstrezeption hinter sich lassen und die Frage nach der lukanischen Besitzethik für die Gegenwart aktuell machen zu können (23). Dabei bettet der Autor seine Vorgehensweise - ähnlich wie Hartmann - in die historisch-kritische Methode ein (99-106 unter Hinweis auf den Text der Päpstlichen Bibelkommission). Bei der Textauswahl behandelt der Autor im Sinne der gewählten Methodik den Anfangstext Lk 1,1-4 als "Anleitung zum Lesen" (125-171). Dabei spielt die Widmung an Theophilus eine wichtige Rolle sowohl für die dynamische Spannung zwischen Oberschichtperspektive und Solidarität mit den Armen als auch für die Rollenzuweisung an den Modell-Leser. Angesichts der Ausführlichkeit der Einzelexegesen beschränkt sich der Autor im Folgenden auf einige wenige Texte: Lk 6,20-38 (Seligpreisungen und Feindesliebe); 16,19-31 (der reiche Mann und Lazarus); Apg 2,42-47; 4,32-35 (die Summarien); 4,36-5,11 (Barnabas/Hananias und Saphira als Kontrastbeispiele). Ein gemeinsames Element der Wirkung ist der Impuls zur Entscheidung durch die offene Gegenüberstellung von Kontrastbildern. So stellt z. B. die Gegenüberstellung von Barnabas auf der einen Seite und Hananias und Saphira auf der anderen Seite die Leserschaft vor die Alternative: Gott oder Mammon! (389) Die Pragmatik läuft nicht einfach auf die Identifikation mit den Armen hinaus, sondern auf das sozial verantwortliche Handeln an den Armen. Dieses Handeln wird jedoch nicht normativ eingeengt, sondern in je individueller Verwirklichung (265) dem Prozess des Glaubens und der Nachfolge zugeordnet (396). Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ist das offene Ende der Apg ein Appell, der Geschichte Jesu "in der eigenen Existenz Leben und Dauer zu schenken" (414).
Die Arbeit von Gradl bietet - neben einer hier nicht weiter zu behandelnden Fülle an exegetischen Einzelbeobachtungen - ein interessantes Beispiel für die Verwertbarkeit leserorientierter Fragestellungen für das Projekt einer narrativen Ethik. Bereits für die Wahl des pragmatischen Zugangs führt Gradl die Erfordernisse des Themas selbst zu Felde: Ein derart auf die Lebenswirklichkeit ausgerichtetes Thema verlangt nach einer pragmatischen Auslegung (24). Am Ende zieht er aus der pragmatischen Analyse aktuelle Handlungsimpulse (437-450). Für mich bleibt jedoch die Frage bestehen, ob das Theoriemodell ethisch so einfach verwertbar ist. Textpragmatik erfordert, dass intentionale Kommunikationsakte in Verwendungssituationen eingebettet werden. Dazu gehören Textsortenanalyse und eine klarere soziologische Durchleuchtung eines intra- oder 33
extratextuellen Kommunikationszusammenhangs. Die Tatsache, dass Gradl von Beginn an auf die Aktualität der Thematik ausgerichtet ist, hindert vielleicht methodische Selbstkritik und das Auffinden von Aporien. Die letzte anzuzeigende Arbeit - die Cambridger Dissertation von R. Nicholls (2008) - stellt nicht nur sprachlich eine Ausnahme dar: Die Autorin arbeitet sowohl theoretisch als auch praktisch im Bereich der Wirkungsgeschichte (konkret zu Mt 14,22-33: Seewandel Jesu). Ob es sich hierbei um eine Fragestellung handelt, die dem Gebiet der Literaturwissenschaft zuzurechnen ist, mag umstritten sein. Wird Wirkungsgeschichte jedoch - wie im Falle von Nicholls - unter hermeneutischem Vorzeichen betrieben, dann nimmt sie eine Perspektive ein, welche die Sinnkonstitution durch die Rezeption des Textes in den Mittelpunkt rückt. Sie kann daher als eine Form pragmatischer oder rezeptionsästhetischer Exegese angesehen werden. Nicholls sucht in ihrer methodischen Grundlegung (1-28) nicht nur den Anschluss an die neutestamentlichen Pionierarbeiten von U. Luz (besonders in seinem Matthäuskommentar in der EKK-Reihe) und anderen (M. Bockmuehl, Ch. Rowland usw.), sondern auch die direkte kritische Auseinandersetzung mit H.-G. Gadamer (1960; Neuausgabe 1990). Leider berücksichtigt sie nicht die laufende philosophische Gadamer-Diskussion. Grundsätzlich besteht eines der Hauptprobleme wirkungsgeschichtlicher Exegese darin, zentrale Anliegen Gadamers nicht aus dem Blickfeld zu verlieren: Wirkungs geschichte hat im Rahmen seiner philosophischen Hermeneutik keine methodisch normative Funktion, sondern entspricht eher einer Phänomenologie des Verstehens als eines Bewusstseinsakts des historisch bedingten Subjekts. Das Konzept bildet daher einen wichtigen Baustein für die Kritik an falschen Objektivitätsansprüchen von Methoden und an der hermeneutischen Naivität des Historismus. Wenn jeder Verstehensakt in eine hermeneutische Situation eingebettet ist, die dadurch charakterisiert ist, dass "man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann" (Gadamer 1960, 285 = Neuausgabe 1990, 307), dann kann man sich nicht nur den Bibeltexten gegenüber nicht "objektiv" verhalten, sondern auch den Texten, die im Rahmen wirkungs geschichtlicher Betrachtungsweisen beigezogen werden. Wirkungsgeschichtliche Exegese - insofern sie ihren Bezug zu Gadamer nicht auf die simple Nennung seines Namens reduzieren möchte - kann daher den Umgang mit Texten und anderen kulturellen Artefakten nicht im Sinne einer historistisch "objektiven" - und damit hermeneutisch "positionslosen" - Datenerhebung betreiben. Dennoch ist es ein verständliches Anliegen, wenn Exegeten und Exegetinnen dem Gadamer'schen "Bewusstsein" durch die konkrete Betrachtung von wirkungs geschichtlichen Zeugnissen eine konkretere Gestalt zu verleihen suchen. Nicholls ist sich dieser Probleme bewusst. Sie rückt den Begriff der Horizontverschmelzung und der Tradition ins Zentrum ihrer Gadamer-Lektüre (6-14) und konzipiert ihr eigenes Vorhaben als "hermeneutics of participation" (27). Sie stellt ihren wirkungs geschichtlichen Erhebungen eine historisch-kritische (29-72) und eine knappere literaturwissenschaftliche Aus-
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legung ihres Basistextes voran (73-97). Abgesehen von der Tatsache, dass sie dem grundlegenden Charakter historischer Kritik dadurch Rechnung trägt (29), ist der genaue hermeneutische Status dieser Vorgehensweise mir nicht klar geworden. Interessant ist dann ihr Versuch, Wirkungen des Textes in theologischen Debatten des 19. Jh. und in bildlichen Darstellungen zu erheben (99-186). Die Rolle des Textes im Rahmen der britischen und deutschen Aufklärungsexegese (99-126) bettet den Text in die Wunderdebatte ein, wobei natürlich nicht immer plausibel gemacht werden kann, ob Bezug auf den konkreten Matthäus-Text, auf eine andere Version oder auf ein textexternes Ereignis vorliegt. Von großem Interesse erweist sich ihre Auseinandersetzung mit "visual effects" des Textes. Im Anschluss an Lessing sucht sie nach Wegen, Erzählung und Kunstwerke zueinander in Bezug zu setzen (128-135), und behandelt verschiedene bildliche Darstellungen aus unterschiedlichen Epochen.
Wenn Nicholls am Ende der historischen Exegese v. a. Forschungspositionen idealtypisch zusammenfasst (69-71), dann entsteht der Eindruck, dass historische Kritik bereits als Ausdruck von Verstehen durch Wirkungsgeschichte gedeutet wird (in diesem Falle die Wirkung historischer Auslegungsoperation auf das gegenwärtige Verstehen). Dieser an sich faszinierende Gedanke findet sich nur andeutungsweise am Ende der Arbeit: "Ironically, by treating Wirkungsgeschichte as aseparate method in its own right, its philosophical claims to provide an insight into the general process of reading are curtailed. If Gadamer is right that the Wirk ungsgesch ich te affects or even conditions interpretation, regardless of whether the interpreter is aware of this influence, then the study of the Wirk ungsgesch ich te of a text has an important precautionary and remedial value for any interpreter working in any method." (191 f.)
5. Ausblick: Zwischen Methodik und Hermeneutik Die meisten Beiträge, die im deutschsprachigen Bereich ihren primären methodischen Referenzrahmen aus literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren beziehen, sind Qualifikationsarbeiten. Dies hat sicherlich mit den arbeitspragmatischen Erfordernissen einer solchen Arbeit zu tun, durch die sich ein Kandidat oder eine Kandidatin in einem sehr beackerten Feld positionieren muss. Die folgenden Aspekte möchte ich hervorheben: 1. Eine methodische Interaktion mit deutschsprachigen Beiträgen findet kaum statt. Arbeiten zu einem Evangelium nehmen methodisch ähnlich gelagerte Beiträge zu anderen Evangelien häufig kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis. Die Orientierung an der angelsächsischen Exegese ist so offensichtlich, dass man sich immer noch scheuen möchte, von einem literaturwissenschaftlich-exegetischen Paradigma im deutschsprachigen Bereich zu sprechen. 2. Als Qualifikationsarbeiten leiden viele Beiträge an den Zwängen und Vorgaben des Genus. Dazu gehört nicht nur, dass die Methode immer von neuem vorgestellt werden muss, sondern auch, dass Kompetenzen auf dem Gebiet historischer Kritik und die Anschlussfähigkeit an die klassischen Fragestellungen unter Beweis gestellt werden müssen. Beides macht zur Genüge deutlich, in welchem Ausmaß das historische Paradigma weiterhin vorherrschend ist. 35
3. Der interdisziplinäre Dialog wird sehr unterschiedlich geführt. Zuweilen knüpfen die Arbeiten direkt an fachexegetische Modelle an, manchmal rekurrieren sie auf englischsprachige Standardwerke, selten jedoch nehmen sie Bezug auf laufende internationale Forschungsdiskurse. (Eine Ausnahme bildet der narratologische Entwurf von U. E. Eisen, 44-139, der als völlig eigenständiger Beitrag stehen kann.) 4. Zu den bisher wenig genutzten Möglichkeiten literaturwissenschaftlicher Exegese gehören die rezeptionsästhetische Analyse von Briefliteratur und der systematisch-theologische Dialog auf dem Gebiet der narrativen Theologie. Die Arbeiten von Iversen und Rose haben einige Wege in diese Richtung aufgezeigt, sind aber noch wenig ausgereift. 5. Methodische Innovation wird selten von hermeneutischer Metakritik begleitet. Anstatt das Verhältnis zwischen literaturwissenschaftlichen und historischen Vorgehensweisen nur über die Alternative der Komplementarität oder Unvereinbarkeit zu beurteilen, könnten aus beiden Perspektiven kritisch-hermeneutische Fragen generiert werden: Welchen Status erhält ein Text, wenn er für autonom und kohärent erklärt wird? Welche Aspekte eines Textes und seiner Rezeption transzendieren die reine Textimmanenz (z. B. durch Intertextualität)? Welche hermeneutische Rolle spielen der Autor/die Autorin und seine/ihre Intention? (Dass diese Frage in den angezeigten Arbeiten nirgends eingehend behandelt worden ist, hat mich sehr verwundert; vgl. Mayordomo, 170-187.) Welche Vorstellungen von Geschichte unterliegen der historisch-kritischen Methode? Wie verhalten sich Erzählung, Fiktion, Geschichte und Wahrheit zueinander? Welche Rolle spielen Erzählungen in der Bildung einer neutestamentlichen Theologie? Welchen Ausschnitt der Wirklichkeit lassen unterschiedliche Methoden erkennen? Ist auf einer höheren Ebene eine Integration möglich? Usw. 6. Dass der Weg der hier angezeigten Arbeiten von einer stark eklektisch und an der exegetischen Praxis orientierten Arbeit (Hartmann) zu einem hermeneutisch informierten wirkungsgeschichtlichen Beitrag (Nicholls) geführt hat, soll als Erinnerung an die Spannung zwischen Hermeneutik und Methodik dienen. Hermeneutik beschäftigt sich mit Fragen wie der Zirkularität des Verstehens (F. Schleiermacher), der Unmöglichkeit voraussetzungsloser Exegese (R. Bultmann) oder den Grenzen objektiver Auslegung (H.-G. Gadamer). Da Verstehen auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann, ist Hermeneutik von Hause aus "undogmatisch" (vgl. Jauß, Wege, 7f.). Methodische Vorgaben neigen hingegen stärker dazu, mit dem Anspruch auf Totalität aufzutreten; vor allem dann, wenn sie sich - wie im Falle historischer Kritik - als Standardparadigma gegen eine kirchlich-dogmatisch dominierte Auslegungspraxis etablieren. Nach einer treffenden Formulierung von G. Theißen sind Methoden (Theißen, 130) jedoch nichts anderes als "bewährte Dialogregeln über Texte, die Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft ermöglichen sollen". Im besten Fall standardisieren exegetische Methoden wichtige Operationen des Verstehens zu pädagogisch verwertbaren Frage- und Instruktionskatalogen. Sie dienen damit 36
dem zielgerichteten Umgang mit Texten und stehen - wie das Verstehen selbstimmer in Wechselbeziehung zu gesellschaftlich bestimmten Handlungsgemeinschaften. In einer pluralistischen Gesellschaft ist ein Methodenset einem Werkzeugkasten ähnlich, dessen vielfältige Zusammenstellung garantiert, dass unterschiedliche "Arbeiten" mit unterschiedlichen Ansprüchen geleistet werden können. Wenn sich Methoden der Bibelexegese in der Praxis nicht bewährenweil sie z. B. Fragen stellen, deren Relevanz (außerhalb der Universität) nicht mehr einsichtig gemacht werden kann -, dann steht zu befürchten, dass mit der eingeschränkten Brauchbarkeit der Methode zugleich auch die Interpretation der Bibel selbst in den Hintergrund gedrängt wird. Die Ausweitung des exegetischen Methodenkanons ist letztendlich ein notwendiger Ausdruck der gesellschaftlichen Diskursfähigkeit von Theologie.
Neue Perspektiven auf Lukas
Reinhard Feldmeier
Wilfried Eckey, Das Lukas-Evangelium. Unter Berücksichtigung seiner Parallelen I: 1,1-10,42; 11: 11,1-24,53, Neukirchener Neukirchen-Vluyn 2004, zus. XXII + 1080 S. - Hans Klein, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt (KEK 1/3 1°), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006, 743 S. - Walter Radi, Das Evangelium nach Lukas. Kommentar, Erster Teil: 1,1-9,50, Herder Freiburg 2003,656 S. - Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Mohr Siebeck Tübingen 2008, XI + 798 S.
In den letzten Jahren sind mehrere ausführliche Lukaskommentare erschienen, deren Verfasser damit ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Evangelium krönen. Die Kommentare dokumentieren die neue Wertschätzung, die dieses Evangelium seit etwa drei Jahrzehnten auch in Deutschland wieder erfährt. 2003 hat W. Radi den (bereits über 650 Seiten umfassenden) ersten Teil seines Kommentars zu Lk 1,1-9,50 bei Herder vorgelegt. Am Beginn steht eine Analyse von Sprache und Stil des Evangelisten, dem RadI aufgrund seines gleichermaßen rhetorisch wirksamen wie dichterisch schönen Griechisch sprachliche Meisterschaft attestiert. Dazu gehört auch, dass der Evangelist sich sowohl einer "klassischen" wie einer "biblischen Sprache" korrekt zu bedienen und zwischen beiden nach Bedarf zu wechseln vermag (3 f.). In den klassischen Einleitungsfragen vertritt RadI eher konventionelle Positionen: So zeigten die Unterschiede zur paulinischen Theologie, besonders in der Soteriologie sowie historische Widersprüche zu Angaben in den Paulusbriefen, dass es sich beim Verfasser nicht um einen Paulusbegleiter handeln könne. Ob er Heiden- oder Judenchrist gewesen ist, wird offen gelassen; in jedem Fall habe der Evangelist "in einmaliger Weise griechische Bildung und jüdische Frömmigkeit, die hellenistische Kultur und die biblische Tradition in seiner Person vereinigt" (6). Man hätte es sich Verkündigung und Forschung 55. Jg., Heft 1, S. 37-44 ISSN 0342-2410 © ehr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2010
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allerdings gewünscht, dass dieser schönen Einsicht auch in der Einzelauslegung noch intensiver nachgegangen wird. Was bedeutet es etwa für das typisch jüdische Thema der Sündenvergebung, wenn der Evangelist dieses in Lk 7,36-50 in die Form eines Symposions einkleidet, eine Form, die Lukas laut RadI "natürlich aus der griechischen Literatur" kennt (491)? Abfassungszeit des Evangeliums sei um 80 oder etwas später, Abfassungsort am ehesten Philippi oder Antiochia. Adressaten seien "Christen, ehemalige Heiden und Diasporajuden, in hellenistisch geprägten Großstadtgemeinden", wobei Lukas auch um Außenstehende werbe und "vor allem die Schicht der Gebildeten, der Hohen und Mächtigen im Auge hat" (8). Ausführlich wird die Quellenfrage diskutiert, wobei ausgefallenere Theorien (Protolukas aus dem Sondergut als Urschrift, Abhängigkeit von Matthäus, Abhängigkeit von einem vorjohanneischen Passionsbericht) abgelehnt werden. Die Gattung wird als Evangelium bestimmt, das von Lukas durch die Geburts- und Kindheitserzählungen (einschließlich Andeutungen einer Entwicklung Jesu Lk 2,40.52), die Verbindung zur Profangeschichte, die Einbeziehung des Redestoffs und die Fortsetzung in der Apostelgeschichte konsequent historisiert wurde und sich dem Typ der hellenistischen Philosophenbiographien annähert (17-19). Die Historisierung hat nach RadI mit der bereits im Prolog zur Sprache kommenden Intention des Evangeliums zu tun: das Evangelium soll das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Überlieferung stärken. Solche Zuverlässigkeit meint dabei mehr als bloß chronologische Richtigkeit, denn der Evangelist kann ja auch gegen seine Quellen Ereignisse im theologischen Interesse umgruppieren (vgl. Lk 4,16-30). Es geht dem Evangelisten also "um eine im Zusammenhang des Ganzen überzeugende Darstellung" (35), die das Gesamtwerk durch den Aufweis einer "Kontinuität der Heilsgeschichte" einlösen soll (33). In diesem Zusammenhang wird Jesus als der verstanden, der die Verheißungen Gottes erfüllt, mehr noch, der "als der große Prophet die göttliche Heimsuchung in Person" ist (458). Dass die Themen Erfüllung und Zuverlässigkeit der Überlieferung so wichtig werden, hänge mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu J esus und den Aposteln zusammen, der zu einer inneren Bedrohung der Kirche geführt habe, wobei es nach RadI nicht möglich ist, diese Gefährdungen und die sie verursachenden" Gegner" genauer zu charakterisieren. Lukas habe, so RadI, für sein Evangelium einen dreifachen Eingang geschaffen: Auf das Vorwort 1,1-4, das sich bewusst an die Fachliteratur der griechischrömischen Zeit anlehnt und den religiösen Charakter des Werkes nicht sofort zu erkennen gibt, folgt zunächst die von Engelsbotschaften und Prophetien bestimmte Vorgeschichte 1,5-2,52, die am Tempel beginnt und dort endet und durch einen Wechsel von Hebraismen und Gräzismen, von Prosa und lyrischen Abschnitten charakterisiert ist (37-40). Diese Vorgeschichte hat auffällige Parallelen zu entsprechenden Abschnitten in enkomiastischen und biographischen Werken der Antike; was sie jedoch "vor anderen auszeichnet, ist ihre eindeutige Funktion als Prolog. Dieser stellt einen relativ geschlossenen Abschnitt dar und nimmt in der Art einer Ouvertüre bereits die theologischen, christologischen, 38
soteriologischen, ekklesiologischen und eschatologischen Grundlinien des Evangeliums vorweg" (41). Dies wird sodann im Einzelnen aufgezeigt - etwa dass in 1,26-38 "keine Marien-, sondern eine Jesuserzählung" vorliegt (56) oder dass in der Weihnachtsgeschichte einem "historisch orientierten" Textteil ein "theologisch deutender" zur Seite gestellt wird (106). Der eigentliche Hauptteil beginne mit Lk 3,1, wobei der Sequenz Lk 3,1-4,13 die Funktion eines Eröffnungsteiles zukommt. Nach der Wegbereitung durch Johannes sowie Jesu eigener Einführung und Erprobung beginnt dann die Zeit der vom Teufel nicht behinderten Verkündigung der Gottesherrschaft, die auch die Zeit der bedürfnislosen und sorglosen Lebensgemeinschaft mit den Jüngern ist, "eine Sonderepoche inmitten der Heilsgeschichte [ ... ], so etwas wie das Jubeljahr mit seinem Ausnahmecharakter" (241, vgl. 466), die in Lk 22,3 zu Ende ist, als der Satan von einem der Jünger Besitz ergreift. Das "heute" des Gnadenjahres ist auf diese einjährige Periode des Wirkens Jesu begrenzt, um dann nach Jesu endgültiger Ablehnung vorbei zu sein. Alsdann kommt über Jerusalem der Tag der Vergeltung, zugleich aber tritt an die Stelle des "heilsträchtigen heute" nach Ostern das "jetzt" in der Zeit der Kirche, wo allen Umkehrenden von Neuem die Möglichkeit der Vergebung angeboten wird (267). Auch wenn so Jesu Weg auf seine Ablehnung hinausläuft, so pauschalisiert der Evangelist bei den Gegnern nicht einfach. Gerade bei den Pharisäern, den Hauptgegnern J esu, zeigt RadI immer wieder, dass sie bei Lukas (im Gegensatz zum Matthäusevangelium) nicht einfach die unversöhnlichen Gegner sind, sondern dass sie im Evangelium wie in der Apostelgeschichte auch positiv gezeichnet werden können (vgl. 322.335 f. 351.503 f.). Eine Stärke des Kommentars ist die genaue Wahrnehmung von Spannungen und Brüchen im Text. Zusammen mit der Quellenkritik dient sie der sorgfältigen literarkritischen Rekonstruktion von Tradition und Redaktion. So wird etwa der Großteil des ersten Kapitels (mit Einschluss des der Elisabeth zugeschriebenen Magnifikat) auf eine von Lukas bearbeitete Überlieferung aus dem Kreis der Johannesjünger zurückgeführt (45.76f.90f., vgl. auch 161 zu Lk 3,7-9). Ausgiebig werden zudem die Parallelen aus jüdischer und paganer Tradition angeführt. Allerdings bleibt es bei RadI oft bei einer (nicht selten aus der Sekundärliteratur übernommenen) Auflistung. Die Chance, im religions geschichtlichen Vergleich die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede sorgfältig herauszuarbeiten und für die Erschließung der Texte zu nutzen, wird nur eingeschränkt genutzt. Der emeritierte Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal W. Eckey hat im Jahr 2004 seinen zweibändigen Kommentar zum Lukasevangelium vorgelegt. Der Kommentar beginnt mit einer 13-seitigen gegliederten und deutenden Paraphrase des Evangeliums. Das zeigt schon, worauf es dem Verfasser ankommt: "Das Hauptgewicht [sc. des Kommentars] liegt auf der paraphrasierenden Erläuterung und theologischen Entfaltung der Aussageinhalte der einzelnen Abschnitte im Kontext der Ganz39
schrift." (IX) Das umschreibt schon Stärke und Schwäche dieses Kommentars: Seine Stärke liegt darin, das theologische Anliegen des Lukas zur Geltung zu bringen. Das gelingt an einzelnen Punkten durchaus. So deutet Eckey die Rede von der Erfüllung von 1,1b als passivum divinum, das zeige, dass "der Autor Gott als heimlichen Urheber der erzählten Begebenheiten versteht" (59). Eckey begründet das durch die lukanischen Verweise auf die Erfüllung der Schrift oder das göttliche "muss" zur Begründung von Ereignissen. Man hätte sich hier allerdings gewünscht, dass Eckey seine These zum einen philologisch in Auseinandersetzung mit den im griechischen Wörterbuch zum Neuen Testament von W BaueriK. Aland (61988), Sp. 1350 genannten paganen Belegen begründet, zum anderen, dass er diese Deutung im Blick auf das Evangelium noch konsequenter durchführt, etwa durch die Einbeziehung der in den Evangelien nur bei Lukas sich findenden Äquivalente zum Providenzgedanken oder die explizite Bezugnahme auf den Willen Gottes vor allem im Zusammenhang der Passion. Andererseits wäre gelegentlich etwas weniger Paraphrase und etwas mehr begründende Analyse hilfreich gewesen. So wird bereits im eben erwähnten Überblick nicht klar, nach welchen Parametern bzw. textimmanenten Signalen die sehr ungleiche Gliederung des 'Evangeliums erfolgt ist und warum dabei etwa ein weitgehend anerkanntes Phänomen wie der große Reisebericht ohne Begründung nicht berücksichtigt wird. Ähnlich ist es bei der Verfasserfrage. Dort wird zunächst ausführlich das Zeugnis des Paulus und der Paulusschule über Lukas und das der Alten Kirche über den Verfasser des dritten Evangeliums referiert, um dann dafür zu plädieren, dass der Verfasser des Doppelwerkes mit dem von Paulus Phlm 24 genannten Lukas und dem in Ko14,14 als "Lukas der Arzt" näher bestimmten Paulusschüler identisch sei (44-49). Das alles wäre wiederum sehr viel überzeugender, wenn Eckey seine Thesen in Auseinandersetzung mit den bekannten Gegenargumenten (theologische Differenzen zu Paulus, historische Ungenauigkeiten) begründen würde. Informativ sind dagegen die minutiösen Statistiken zu den lukanischen Vorlagen und Parallelen einschließlich derer zum Johannes- und Thomasevangelium (13-32) sowie zum lukanischen Wortschatz unter besonderer Berücksichtigung der medizinischen und juristischen Terminologie (34-42). Als Abfassungszeit des Evangeliums nimmt er die Regierungszeit Vespasians, also die 70er Jahre an, als Ort der Abfassung gilt ihm Rom als der wahrscheinlichste. 2006 hat H. Klein, Neutestamentler in Hermannstadt (Sibiu), seinen Kommentar in "Meyers kritisch-exegetischem Kommentar" vorgelegt, mehr als hundert Jahre nach der letzten Auflage dieses Kommentars durch B. Weiß. In seinem Vorwort sagt Klein, dass sein eigener Ansatz dadurch gekennzeichnet sei, dass er ,,50 Jahre lang von einer dem Leben fremden Ideologie mitgeprägt wurde", so dass für andere seine "Argumentation zuweilen fremd" wirke, wobei er dennoch hoffe, "neue Erkenntnisse anzustoßen". Diese Eigenständigkeit ist dem Kom40
mentar auf Schritt und Tritt abzuspüren. Bereits bei der Frage der Quellen und ihres Einflusses auf Lukas vertritt Klein ungewöhnliche Positionen, wenn er der Logienquelle den entscheidenden Einfluss auf das Evangelium zuschreibt (44), während Lukas vom Markusevangelium, das ihm Klein zufolge in einer leicht überarbeiteten Fassung durch den Evangelisten oder seine Schüler als Deuteromarkus vorgelegen hat, vor allem den historischen Rahmen übernommen habe. Hinzu kommt das Sondergut, das in den größeren Texteinheiten, die den lehrenden und wirkenden J esus zum Inhalt haben, nach Klein bereits eine Einheit gebildet hat. Diese habe Lukas "durch Sätze aus Q oder Mk kommentiert und damit der theologischen Ausrichtung dieser Überlieferungen eine neue Wende gegeben" (45), wie man vor allem im zweiten Teil des Reiseberichts Lk 15,119,10 sehen könne (518). Als vierten wichtigen Quellenkomplex nimmt Klein noch eine dem Johannesevangelium nahe stehende Passions- und Ostererzählung an (655 f.), die von denselben Tradentenkreisen, welche das übrige Sondergut (mit Ausnahme der Kindheitsgeschichte) tradiert haben, weitergegeben worden sei. Bei der Verfasserfrage stellt Klein zunächst fest, dass (trotz der von ihm selbst wiederholt festgestellten Berührung des Lukasevangeliums mit der paulinischen Theologie vgl. 64.193.384.645.732) der Verfasser des Doppelwerks nicht ein Paulusbegleiter war, da ihm "die spezifischen Inhalte der paulinischen Theologie [ ... ] fremd" seien. Ist diese Annahme weit verbreitet, so überrascht ihre Begründung, dass der Evangelist keinen Mittelstand kenne, was nach Klein "eine tragende Voraussetzung paulinischen Denkens" sei (64). Der Leser erfährt auch sonst noch einiges über den Autor. Seine Besitznahme für die Armen spricht nach Klein dafür, dass der Autor aus ärmlichen Verhältnissen stammt. "Da er die Alltagssorgen offenbar nicht kennt, [ ... ] könnte er als Sklave eines Herrn wie Philemon, weniger wahrscheinlich als Kind armer Eltern (etwa Tagelöhner), geboren worden sein" (65). Die Bildung des Evangelisten wird damit erklärt, dass dieser wegen seiner Intelligenz "vermutlich in den Kindesjahren" aufgefallen und "von seinem Herrn oder einem Begüterten zur Schule geschickt" wurde (65). Des Weiteren stellt Klein fest, dass Lukas wohl unverheiratet gewesen sei, dass er (wegen der Vermeidung von Latinismen) "kaum lateinisch gesprochen" habe (64) und dass er sich erst "langsam in die Kunst der Darstellung hineingeschrieben" habe (66), da das Doppelwerk innerhalb des Evangeliums und erst recht dann im Blick auf die Apostelgeschichte eine schriftstellerische Entwicklung hin zu einem immer souveräneren Umgang des Autors mit den Quellen aufweise. Mögen die Hypothesen zur Person des Evangelisten und dessen Quellen gelegentlich etwas kühn anmuten und auch manche andere Schlussfolgerungen nicht jeden in gleicher Weise überzeugen, so macht Klein auf der anderen Seite Beobachtungen, die für das Verständnis des Evangeliums durchaus hilfreich sind. Dazu gehört die Verortung der geistig-religiösen Heimat des Lukas im Umkreis der jüdisch-hellenistischen Synagoge; "er kommt aus der Reihe der ,Gottesfürchtigen'" (67). Vor allem verdient Kleins Beobachtung Aufmerksam41
keit, dass Lukas Lehrer gewesen sei und dies sein Evangelium präge. "Lk setzt christlichen Unterricht voraus und schreibt so etwas wie ein Repetitorium für Katechisierte." (43) Seine Hauptabsicht sei es dementsprechend, Wissen weiterzugeben, das "sowohl narrativ als auch normativ zu lesen ist" (43). Zwar ist Klein auch hier im Blick auf die Möglichkeit einer Rekonstruktion der lukanischen Biographie überraschend zuversichtlich (Lukas sei syrischer Herkunft, als Katechet in verschiedenen Gemeinden an der Mittelmeerküste tätig gewesen und um 70 nach Philippi gekommen, wo er dann um 90 sein Evangelium verfasste), aber unabhängig davon verdient Beachtung, wie Klein in seinem Kommentar immer wieder auf Eigenheiten des Evangeliums aufmerksam macht, die mit der Annahme einer katechetischen Tätigkeit seines Verfassers gut harmonieren. So wird die Feldrede als "eine Zusammenfassung christlicher Verhaltenslehre für Gemeindeglieder" gedeutet (242), und bei dem markantesten Zug im Aufbau des Evangeliums, dem so genannten großen Reisebericht, sieht Klein "den Gesichtspunkt der Lehre (( als den für dessen Konzeption bestimmenden Leitgedanken an (357). Entsprechend überschreibt er diesen Abschnitt auch mit "Jesu Lehre auf dem Weg". Dabei erfasst das in Apg 16,17 verwendete Syntagma "Weg des Heils" nach Klein "die meisten Elemente lukanisch-theologischen Denkens" (53), das sich in besonderer Weise im Reisebericht spiegele: "In Jesu Weg nach Jerusalem ist das Leben der Christen und der Kirche vorgezeichnet. Darum hat er [sc. Lukas] den lehrenden Jesus als Wandernden dargestellt und hat den Wandernden als Lehrenden gezeichnet" (360). Man hätte sich freilich gewünscht, dass dieser Aspekt der Deutung, dessen Wichtigkeit für das Evangelium von Klein immer wieder überzeugend hervorgehoben wird, auch in der Einzelauslegung noch konsequenter zur Geltung gebracht worden wäre, etwa im Blick auf die redaktionelle Neugestaltung von Texten wie Lk 4,16ff. oder Lk 20,27-38, im Blick auf die lukanischen Gleichnisse, vor allem die typisch lukanischen Beispielerzählungen, im Blick auf Besonderheiten des Christusbildes vom 12-jährigen Disputanten im Tempel Lk 2,41-52 bis zu der immer wieder redaktionell hervorgehobenen Lehrtätigkeit Jesu (Lk 4,15; 20,1; 21,37f.; Apg 1,1), im Blick auf die lukanische Abschiedsrede Lk 22,24-38 usw. Im Handbuch zum Neuen Testament hat der Bonner Neutestamentler M. Wolter 2008 seinen 800-seitigen Kommentar vorgelegt. Gegenüber der lange üblichen Skepsis, hinter den Wir-Stücken einen Paulusbegleiter zu sehen, argumentiert Wolter: "Die nächstliegende Erklärung ist darum auch hier die beste: Das ,Wir( stammt vom Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte, der in Lk 1,3 und in Apg 1,1 mit seinem eigenen ,Ich( vor die Leser hingetreten ist und mit Hilfe der sog. ,Wir( -Stücke ,seinen eigenen Anteil an den Reisen des Paulus( gekennzeichnet hat" (8). Die immer wieder gegen diese traditionelle These angeführten Differenzen zur paulinischen Darstellung bestimmter Ereignisse und zu den Briefen des Apostels erklären sich nach Wolter damit, dass der Verfasser - ob er Lukas hieß, lässt er offen - zwischen Apg 16,17 und 20,5 nicht 42
bei Paulus war, und dies sei der Zeitpunkt, in dem die Briefe entstanden sind. Diese originelle und durchaus nicht unplausible Deutung führt dann auch dazu, dass Wolter die lukanische Theologie enger an die des Apostels heranrückt, als dies lange Zeit üblich war. So stellt er etwa im Blick auf die Reihe von Streitgesprächen Lk 5,17-6,11 fest, dass es auch bei der Interpretation der Tora nicht primär um Ethosfragen und halachische Normenkonflikte geht, sondern um die Identität und Vollmacht Jesu. "Wenn wir dieses Profil versuchsweise in die Begrifflichkeit der paulinischen Theologie einstellen, wird deutlich, dass Lukas hier in narrativer Gestalt nichts anderes entfaltet als das, was Paulus mit Hilfe des begrifflichen Gegenüber von EQya v6~0'U und 1tLO'tL~ XQLO'tOV zu umschreiben versucht hat" (239). Mit mustergültiger Prägnanz wird von Wolter auch die Frage der Quellen des Lukas und die Problematik von Rekonstruktionen der Logienquelle oder gar des lukanischen Sondergutes als einer eigenständigen Quelle diskutiert (10-16), um auch so den methodischen Primat der Synchronie vor der Diachronie bei seiner Auslegung zu begründen. Dies führt er in seinem Kommentar dann konsequent durch und vermag so auch schwierige Texte plausibel zu erklären. Ein Beispiel dafür ist auf den Seiten 542-551 die konsequent synchrone Auslegung von Lk 16,1-13, ein Text, der zumeist als Musterbeispiel für die Notwendigkeit literarkritischer Dekomposition angesehen wird. Das Zentrum von Wolters Neuinterpretation des Lukasevangeliums bildet aber der Punkt 6 seiner Einführung, der überschrieben ist mit "Der theologische Ort der Jesusgeschichte im lukanischen Doppelwerk". Hier knüpft Wolter an seine früheren Vorarbeiten an und entfaltet seine These, dass das lukanische Doppelwerk nicht angemessen verstanden wird, wenn man in ihm nur die Entstehungsgeschichte des Christentums erzählt sieht. Lukas wolle vielmehr die Jesusgeschichte als "eine Epoche aus der Geschichte Israels", genauer: "einen weiteren Ausschnitt aus der Geschichte Israels erzählen" (26 f.). Die dem Gottesvolk geltenden Heilsverheißungen sind "in der Sendung und in der AuferstehungJesu von den Toten erfüllt", so dass sich nach lukanischem Verständnis "die Geschichte Israels in der Geschichte der Kirche" fortsetzt, während denjenigen, die sich der Christusverkündigung versagen, "durch den lk Petrus in Apg 3,23 mit den Worten von Dtn 18,19 und Lev 23,29 der eschatische Ausschluss aus dem Gottesvolk angedroht" wird (29). Dabei bedingen sich die Ablehnung des Christuszeugnisses und dessen Ausbreitung gegenseitig: "Die Christusverkündigung veranlasst regelmäßig die Trennung, und ebenso regelmäßig ermöglicht die Trennung den Aufbruch zu neuer Verkündigung" (29). So spannt sich der Bogen über das gesamte Doppelwerk von der Vorgeschichte in Lk 1 mit der Schilderung der Heilsinitiative, die Gott zur Erfüllung seiner Verheißungen mit der Sendung Gabriels zu Zacharias und Maria ergreift, bis zu der Begegnung des gefangenen Paulus mit Agrippa H. (Apg 26,1-29), die den jüdischen König beinahe zum Christen gemacht hätte, aber eben nur beinahe. Die letztendliche Ablehnung der Christusbotschaft wird mit Hilfe von Jes 6,9f. als Verstockung erklärt - und gerade so "in die Geschichte Israels hineingeholt" (30). "Die jüdische 43
Ablehnung der Christus botschaft ist nach lukanischer Auffassung überhaupt nur als Teil der Geschichte Israels verständlich" (30). Jesu Sendungsauftrag wird verstanden "als die eschatische Verwandlung von Unheil in Heil, die Gott seinem Volk verheißen hat" (192). Das Evangelium ist so zum einen Vorgeschichte, es ist ein Geschehen, so deutet Wolter den Prolog 1,3, das in der Gegenwart vollendet und abgeschlossen ist (62). Dies will Wolter nun aber nicht im Sinne E. Käsemanns verstanden wissen, als komme das im Evangelium Berichtete nur als etwas lediglich Zurückliegendes, wirklich Vergangenes in den Blick. Die Verweise auf die J esusgeschichte in den Missionsreden machen vielmehr deutlich, dass die J esusgeschichte integraler Bestandteil des Kerygmas bleibt. Wie die Mehrzahl der Exegeten hält auch Wolter den "Reisebericht", den er bereits in 18,34 enden lässt, für einen von Lukas geschaffenen Teil der Jesusgeschichte. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Exegeten vermag er aber weder eine klare Struktur dieses Berichtes zu erkennen, noch scheint es ihm möglich, angesichts der unterschiedlichen theologischen Deutungsversuche ein klares theologisches Profil desselben zu erheben (364-368). Die Intention dieses Hauptteiles ist daher für Wolter nur erzählpragmatisch zu bestimmen: Es gehe dem Evangelisten darum, "den fiktionalen zeitlichen und topographischen Raum zu füllen, den er braucht, um Jesus von Galiläa nach Jerusalem zu bringen" (368). Bei der umstrittenen Frage der Deutung des Todes Jesu sieht Wolter eine besondere Nähe zur hellenistischen Vorstellung eines Noble Death: "Mit seiner Deutung des Todes Jesu steht Lukas der griechischen Tradition vom Heldentod [ ... ] näher als der paulinischen Kreuzestheologie" (688). Das Spezifikum der lukanischen Darstellung besteht darin, dass er die Passionsgeschichte nicht isoliert betrachtet, sondern sie mit der Auferstehungsgeschichte "als zwei Teile einer einzigen ,Erfüllungsgeschichte' gelesen wissen wollte" (687). Der Ausgang des Evangeliums zeigt für Wolter ein Doppeltes: Zum einen erreicht mit der Anbetung Jesu in 24,52, die nach Lk 4,8 allein Gott gebührt, "ein christologisches Thema, das Lukas im Laufe seiner Jesusgeschichte immer wieder angestimmt hatte, seinen Höhepunkt und Abschluss: dass Gott durch J esus authentisch repräsentiert wird" (796). Zum andern zeigt das abschließende Gotteslob der Jünger im Tempel, dass auch beim Übergang von der Jesusgeschichte zur Zeugengeschichte sich die Erzählung noch immer im Zentrum der jüdischen Gottesverehrung befindet; "die Geschichte Israels ist noch mit der Geschichte des Judentums identisch" (798). Das wird sich am Ende des zweiten Teils "dramatisch geändert haben" (798). Als Fazit aus den vier Kommentaren ergibt sich: Lukas wird deutlich als ein eigenständiger Theologe ernst genommen, der sich erfolgreich um eine Inkulturation der christlichen Botschaft in den Kontext der gebildeten hellenistischrömischen Welt bemüht hat. Auch die Annahme der angeblich grundlegenden Differenzen zu Paulus wird nicht mehr einfach als selbstverständlich akzeptiert.
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Der "New Perspective on Paul" ergeht es nicht besser als uns allen: Wir werden nicht jünger, und auch die neue Paulus-Perspektive ist nicht mehr wirklich neu. Sie ist sogar so alt, dass man es schon unternommen hat, ihre Biographie zu schreiben (v gl. Ch. Strecker, M. Wolter, J. Frey, S. Vollenweider sowie K. Haacker; Bachmann, 1-15), und dass sie Konturen ihres jugendlichen Profils eingebüßt hat. Nicht nur die Fülle der Beiträge, insbesondere im englischsprachigen Raum, macht einen Überblick unmöglich. Wo ehedem klare "antilutherische" Pauluslektüren die lutherische Rechtfertigungslehre in Frage stellten, gibt es heute viele Formen der Paulusinterpretation, die sich nicht mehr so eindeutig positionieren. Auch sind die Thesen soweit "eingesickert", dass "boundary markers" zu "traditionellen Paulusauslegungen" nicht mehr leicht zu erkennen sind, sondern einzelne Einsichten aufgenommen werden können, ohne damit sogleich die Emphase der neuen Perspektive zu teilen. Anliegen dieser Sammelrezension kann es daher nicht sein, einen umfassenden "Lage bericht" zu liefern, sondern zunächst die Grundanliegen und aktuellen Fragen anhand einer Übersichtsdarstellung zu entfalten (Teil 1). Anhand jüngerer Sammelwerke und Qualifikationsarbeiten wird diskutiert, welche Impulse der ehedem neuen Paulus-Perspektive weiterwirken (Teil 2). In einem Resümee (Teil 3) benenne ich neben offenen Fragen die bleibende Bedeutung der Diskussion. Es möge sich zeigen, dass der Diskurs, der etwa in der ökumenischen Erarbeitung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" ignoriert wurde (vgl. Karrer), mehr Beachtung in der theologischen Öffentlichkeit des deutschsprachigen Raumes verdient, etwa so wie in Nordamerika, wo lebhaft, allerdings auch sehr polarisierend gestritten wird (vgl. www.thepaulpage.com).
1. Zur Fragestellung und ersten Emphase der "New Perspective". Ein Überblick Die inzwischen zur Etikette gewordene, gar auf Wikipedia "eingetragene" Formulierung von der "New Perspective on Paul" (= NPP) stammt von dem britischen Neutestamentler J. D. G. Dunn, der in der Manson Memorial Lecture von 1982 (wiederabgedruckt in Dunn, Perspective, 89-110) die Wendung für eine neue Sicht auf Paulus prägte; er folgte nach eigenem Bekunden mit der Formulierung N. T. Wright und K. Stendahl (6 f. Anm. 24). Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob es wirklich das Anliegen des Apostels Paulus war, einen jüdischen Legalismus zu kritisieren und die Rettung des Einzelnen durch Glauben anstatt durch eigene Werke zu propagieren, wie es die lutherische Auslegungstradition theologiegeschichtlich wirkmächtig entwarf. Zur Debatte steht also viel: Die Position des Paulus im Judentum und seine Bewertung des Gesetzes nicht nur ante, sondern auch post Christum -, sowie der Stellenwert der Rechtfertigungsaussagen innerhalb des Denkens Paulus'. Stellt sie die unveränderte "Mitte" der uns nur in situationsbestimmten Briefen überlieferten Theologie
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dar, oder gewann der Apostel erst in den Auseinandersetzungen um die Heidenmission seine theologischen Überzeugungen? Ausführlich hat den "Lebenslauf" der NPP der kanadische Neutestamentler S. Westerholm nachgezeichnet und mit "lutherischen Perspektiven" konfrontiert. Die Besprechung seines gleichermaßen informativen wie unterhaltsam zu lesenden Buches sei darum hier zur Einführung in die Fragen und Anliegen der NPP genutzt. Westerholms Buch - eine erweiterte und aktualisierte Überarbeitung einer 1988 publizierten Darstellung des paulinischen Gesetzesverständnisses (Israel's Law and the Church's Faith, Grand Rapids 1988) - besteht aus drei ungleichartigen Teilen und verfolgt das doppelte Anliegen, sowohl die Diskussion zu präsentieren wie Westerholms Paulusverständnis zu erläutern. Teil 1 handelt von "Lutheran Portraits" des Paulus in vergangenen Jahrhunderten - der Paulus-Auslegung Luthers werden die Augustins, J. Calvins und J. Wesleys voranbzw. zur Seite gestellt -, Teil 2 von der Diskussion über den "Lutheran Paul" im 20. Jh. Die im dritten Teil entwickelte Paulusdeutung Westerholms (261-440) weiß sich der lutherischen Auslegung verpflichtet, nimmt aber die Anfragen der New Perspective auf. Das Buch ist bemüht, die Paulusbilder differenziert und zugleich prägnant darzustellen: In einzelnen Kapiteln kommen viele Autoren, in einer Mischung aus chronologischer und sachlicher Ordnung zusammengestellt, zu Wort, doch dann werden die Positionen in Zusammenfassungen ("A Portrait of the ,Lutheran' Paul", 88-97, und "The Quotable Anti-,Lutheran' Paul" , 249-258) pointiert. Bei allen Unterschieden, gerade in Bezug auf die Rolle des Gesetzes für die Christen, lässt sich die Theologie des "Lutheran Paul" so umreißen: Der Mensch ist so korrupt, dass er nicht vollbringen kann, was Gott gefällt. Daher bedarf er der Rechtfertigung von Gott allein aus Gnade, nicht durch eigene Werke, worauf er mit ihm geschenktem Glauben an das Sünden vergebende Sterben Christi antwortet. Das Gesetz dient der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und - in seiner ethischen Qualifizierung - der christlichen Lebensführung. R. Bultmann (hier in Teil 2, 150f.) hat diese These insofern zugespitzt, als er betont, dass nicht erst die faktische Unerfüllbarkeit des Gesetzes in die Sünde führe, sondern bereits der Wille zur Erfüllung des Gesetzes, der die Hybris eigener Gerechtigkeit zeigt. Spricht die Rechtfertigungslehre in dieser Deutung in die Existenz, jedenfalls in die des Exegeten im 20. Jh., so doch auf Kosten des Judentums, das hier nur als Chiffre für menschliche Schwäche figuriert. Die Kritik der lutherischen Paulusdeutung im letzten Jahrhundert (vgl. Teil 2) beginnt mit W. Wrede und A. Schweitzer, die beide die eschatologische Weltsicht des Paulus in den Vordergrund stellten und anzweifelten, dass die Rechtfertigungslehre im paulinischen Denken zentral ist, sie sei - um die "deathless words" (116), die in diesem Zusammenhang stets fallen, nicht zu unterschlagen"Nebenkrater" einer mystischen Christologie (Schweitzer, 220) oder "Kampfeslehre" gegen Judaisten (Wrede, 72). Grundlegend wurde die traditionelle Aus47
legung dann im Blick auf das von ihr vorausgesetzte Bild vom Judentum in Frage gestellt. Nach wenig rezipierten jüdischen Beiträgen (C. G. Montefiore, H. J. Schoeps; vgl. zu jüdischen Paulusdeutungen: Segal) fand E. P. Sanders' 1977 veröffentlichte Arbeit ein Echo, die zu zeigen suchte, dass auch das "palästinische Judentum", nicht erst Paulus, eine Gnadenreligion vertrat und den Bund Gottes mit dem Volk voraussetzte. Die Gesetzerfüllung hat in diesem "covenantal nomism" (im Deutschen "Bundesnomismus") nicht die Funktion, Zugang zum Bund zu verleihen (getting in), sondern, als gehorsame Antwort auf die Gnade Gottes, in ihm zu verbleiben (staying in). Diese Sicht auf das Frühjudentum hat sich nicht in dieser Einseitigkeit durchsetzen können (vgl. Avemarie), aber die Beobachtung, dass im AT und im Judentum das Wissen um die unverdiente Gnade Gottes wie die Vergebungsbedürftigkeit des Menschen selbstverständlich ist, dürfte Bestand haben. Unterstellt man diese Sicht auch Paulus, stellt sich die Frage, was er gegen die Gesetzeseinhaltung hat, ja was der Gewinn des Glaubens an Christus ist. In der Beantwortung dieser Frage differieren die Vertreter der NPP. Nach Sanders hat Paulus das Gesetz nicht aufgrund seines Scheiterns an ihm kritisiert, sondern aufgrund seiner Christuserfahrung, die ihm - "from solution to plight" - die Einsicht schenkte, dass das Gesetz nicht rechtfertigen kann, weil Christus, genauer die Partizipation an Christus, erlöst. Damit führt Sanders eine Kritik K. Stendahls an der lutherischen Auslegung weiter, der schon 1963 eingeworfen hatte, dass Luthers Frage nach dem individuellen Heil und die Gewissensintrospektion des "Westens" (Luthers wie Augustins) am Problem des mit einem "robusten Gewissen" ausgestatteten Völkerapostels vorbeigingen, dem es um die Öffnung des Gottesvolkes für die Heiden ging. Westerholm stellt Stendahl W. G. Kümmel voran, der nachwies, dass Paulus in Röm 7 nicht vom angefochtenen christlichen Gewissen spricht, sondern vom Menschen ante Christum. J. D. G. Dunn, der seit bald dreißig Jahren die Diskussion bestimmt, nimmt Sanders' Präsentation des Frühjudentums als "covenantal nomism" auf, deutet aber die Kritik des Paulus am Gesetz anders. Nicht ein angeblicher Legalismus des Frühjudentums, aber auch nicht einfach der Christusglaube seien das Problem des Paulus, sondern die Funktion des Gesetzes, die jüdische Identität gegenüber der heidnischen Umwelt zu sichern. Voraussetzung war ein neues Verständnis des Ausdrucks EQya VO!lo'U ("Werke des Gesetzes"), der seitdem viel diskutiert wird. Nach Dunn kritisiert Paulus mit der Aussage, dass aus Werken des Gesetzes kein Mensch gerecht wird (GaI2,16; Röm 3,28) nicht Werkgerechtigkeit, sondern die Heiden ausschließende Wirkung von Gesetzen wie der Beschneidung und den Speisegeboten. Denn dies stand offenbar im Mittelpunkt des antiochenischen (Gal 2,11-21) wie galatischen Konflikts. Paulus hält dagegen, dass der Glaube grundlegender "identity marker" sein solle. Hat das Gesetz für die Gerechtigkeit vor Gott keine Bedeutung, sondern nur der Glaube an Christus, so bleibt es doch Ausdruck des Willens Gottes. Westerholm stellt dem auch "Lutheran Responses" auf die NPP (von C. E. B. Cranfield, M. A. Seifrid u. a.) und andere Perspektiven (rhetorische Ansätze, 48
Deutungen im apokalyptischen Weltbild u. a.) an die Seite. Der entscheidende Unterschied sei folgender: "Whether ,justification by faith, not by works of the law' means ,Sinners find God's approval by grace, through faith, not by anything they do', or whether its thrust is that ,Gentiles are included in the people of God by faith without the bother of becoming Jews'" (so 257 und 445). Auch Westerho1ms eigene Deutung weiß sich der lutherischen Tradition verpflichtet. Sie lässt in ihrem Duktus das inhärente Problem der Auslegung erkennen: Beginnt man bei dem von Paulus vorausgesetzten Judentum, von dem er sich abwendet, oder bei der Auseinandersetzung mit gesetzestreuen Judenchristen? Nimmt man die Definition der zentralen Begriffe im paulinischen Corpus (C)tXULOG'lJV'Y}, JtLO'W;, v6~o~) zum Ausgangspunkt, und wenn, versteht man diese in der jüdischen Tradition oder originär? Oder steht die Analyse der brieflichen Aussagen im jeweiligen historischen und rhetorischen Zusammenhang am Anfang -womit zu klären ist, ob Gal und Röm auf "eine Linie" zu bringen sind und wie die früheren Briefe einzuschätzen sind, in denen das Thema der Gerechtigkeit Gottes und des Gesetzes nur beiläufig fällt? Westerholm beginnt mit der Klärung der Begriffe, insbesondere der Vorstellung von Gerechtigkeit. Paulus habe das jüdische Verständnis von Gerechtigkeit vorausgesetzt, dass gerecht sei, wer das Gesetz halte, und habe das Judentum nicht als werkgerecht verstanden; hier folgt Westerholm der NPP. Der Nachweis, dass das Judentum um die Gnade Gottes weiß, sei das bleibende Verdienst Sanders' (341-351). Doch damit sei die Frage, ob der Mensch etwas zu seiner eigenen Rettung tun könne, nicht obsolet, und hier setze Paulus an. Er habe nach seiner Christus begegnung die Übermacht der Sünde erkannt und einen neuen, originären Begriff von ÖL'XaLOauvT] entwickelt als Gottes Annahme derer, die nicht das Gesetz einhalten, aufgrund des Glaubens. Zwar stimme es, dass Paulus "from solution to plight" gedacht habe, allerdings anders als Sanders meinte: Paulus habe erst aufgrund des Sühnetodes Jesu das Problem der Übermacht der Sünde erkannt. Das Herzstück der paulinischen Theologie sei, von der "old perspective" richtig benannt, die rückblickend aufgeworfene Frage nach der individuellen Gerechtigkeit, nicht die nach dem "Transfer" von Heiden in das Gottesvolk. Der Grund dafür, dass die Heiden das Gesetz nicht übernehmen müssen, liege nämlich darin, "that sinners are justified, apart from the law, by faith in J esus Christ" (401).
Die These Westerho1ms zeigt, dass es jenseits der Polemik möglich wird, Zwischenwege zwischen "alt und neu" zu beschreiten und auch unter Absetzung von einem verzerrenden Blick auf das Judentum bei Paulus eine individuelle Soteriologie zu finden. Was die Inhalte angeht, zeigt sie aber vor allem, dass es vom Arrangement der Parameter, der Gewichtung der Aussagen und den unterstellten Alternativen abhängt, ob Paulus "lutherisch" aussieht oder eher nicht. Obwohl Westerholm nach dieser Gegenüberstellung kategorisiert, vermittelt sein Buch doch selbst durch die Forschungsgeschichte, dass die Alternative zu grob und mittlerweile heuristisch ungeeignet ist. So ist das Buch eine lohnende Lektüre. Die Rezeption von erfreulich viel deutschsprachiger Literatur und der humorvolle englische Wissenschaftsstil wiegen die Befremdung auf, die die deutsche Leserin überfällt, wenn ihr Luther oder Bultmann im englischen Idiom begegnen. Bedauerlich, wenn auch verständlich ist, dass die jeweiligen Deutun49
gen nicht ideen- und theologiehistorisch verortet werden, wiewohl die Relevanz der jeweils zeitgenössischen Themen und Situationen für die Paulus-Deutung wie für Paulus selbst nicht erst seit Stendahls Kritik evident ist. 2. Ergebnisse und Streitfragen. Zur Diskussion in jüngeren Monographien
Um exemplarisch die Weiterentwicklung der Diskussion in den letzten Jahren darzustellen, werden fünf Qualifikationsarbeiten zu einzelnen Aspekten, zuvor aber zwei Sammelbände zum Thema aus dem Jahr 2005 vorgestellt, an denen sich die Ausdifferenzierung der Diskussion nachvollziehen lässt. Von]. D. G. Dunn, dem seit 2003 emeritierten Professor in Durharn, liegt eine Sammlung von 22 Aufsätzen aus der Zeit seit 1983 vor, die seine zentralen Beiträge zur New Perspective leicht zugänglich macht und durch eine Bibliographie und ein ausführliches Stellen-, Namens- und Sachregister erschließt. Die Reihe der wieder abgedruckten Aufsätze beginnt mit dem inzwischen klassischen "The New Perspective on Paul" von 1983; es folgen Dunns Beiträge zu den zentralen Fragen der Diskussion, zum Thema des Anliegens des Galaterbriefes, des Gesetzes, vor allem der Deutung des Ausdrucks EQya v6~o'lJ. Am Schluss steht ein bislang unveröffentlichter Aufsatz über Phil3. Den Stand der Debatte resümiert der fast ein Fünftel des Bandes umfassende, für diese Veröffentlichung geschriebene Eingangsaufsatz, der hier genauer vorgestellt sei. Unter dem Titel "The New Perspective: whence, what and whither?" (Dunn, Perspective, 1-88) entfaltet Dunn zunächst biographisch, wie er zu seinem Ansatz der Pauluslektüre gelangte, womit gewissermaßen in der Person eines reformierten Theologen noch einmal der Grund für die Entwicklung eines neuen Paulusbildes erkennbar wird. Wenn die Rede von Gottes Gerechtigkeit bereits für das AT dessen gnädige Zuwendung bezeichnete, wogegen richtete sich Paulus in seiner Kritik an Petrus und den Leuten des Jakobus (Gal 2,1121)? Diese Frage führte Dunn zu der bereits oben skizzierten Deutung der paulinischen Gesetzeskritik und des Ausdrucks EQya v6~o'lJ. Hier nutzt der Autor die Gelegenheit, sein Verständnis noch einmal gegen Kritik zu klären. Er habe keine Verkürzung der Extension des Ausdrucks auf die "boundary markers", d. h. Beschneidung, Speise- und Sabbatgebote, insinuiert. Doch seien es gerade diese Gesetze, die bei der Integration christusgläubiger Heiden zum Problem wurden, und genau im Zusammenhang der Beschneidungs- und Speisenfrage habe Paulus seine Formulierung von der Rechtfertigung aus Glauben geprägt (GaI2,16). Dunn verwahrt sich weiter gegen die Unterstellung, er habe der reformatorischen Theologie entsagt (17-22). Kritisiert habe er nicht den Glauben an die Annahme des Menschen durch Gott sola gratia und sola fide, sondern die Verkürzung der paulinischen Aussage auf die Auseinandersetzung mit einem angeblichen Legalismus (19f.). Betont er, dass für ihn die Glaubensgerechtigkeit zen50
traler Gegenstand des Evangeliums sei, so weist er doch mehr noch auf die politische Relevanz der Frage nach der Inklusion von Heiden hin: Die NPP "protests that failure to recognize this major dimension of Paul's doctrine of justification by faith may have ignored or excluded a vital factor in combating the nationalism and racialism which has so distorted and diminished Christianity past and present (15, vgl. auch 32.54.87). Dunn nennt schließlich die Aufgaben, die sich für die Paulusauslegung s. E. jetzt stellen. So dokumentiert der Eingangs aufs atz und die Aufsatzsammlung insgesamt, wie die Diskussion zwischen Dunn und anderen ExegetInnen zu Präzisierungen geführt hat und klare Fronten sich auflösen. Dies zeigt auch auf andere Weise der im selben Format und Jahr von M. Bachmann herausgegebene Sammelband mit 14 deutschen und englischen Beiträgen. Exegeten mit unterschiedlich großer Nähe zur NPP kommen zu Wort. Thematisch stehen Beiträge zur Frage nach der Wertung des Gesetzes durch Paulus im Zentrum, sodann Beiträge, die die Thesen der NPP anhand der Einzelaspekte der Rechtfertigung und des Glaubensbegriffs sowie der paulinischen Wirkungsgeschichte in frühester wie in der Reformationszeit beschreiben. Da sich in den unabhängig voneinander entstandenen Einzelbeiträgen manches wiederholt, wenn nicht widerspricht und der Band auch kein Schlagwort-, sondern nur ein Stellen- und Namensregister enthält, ist er weniger der fortlaufenden Lektüre als der Wahrnehmung zu Einzelthemen zu empfehlen. Zusammengebunden werden die Aufsätze nur durch den letzten, in dem]. D. G. Dunn unter der Überschrift "The Dialogue Progresses" alle anderen Beiträge kommentiert und bewertet (Bachmann, 389-430). Nach seinem Eindruck belegt der Band, dass die wichtigsten Grundeinsichten der NPP als akzeptiert gelten können, nämlich die Abkehr vom alten Bild des Judentums als werkgerechter Religion und die Wahrnehmung der Bedeutung, welche die Heidenrnission für die paulinische Formulierung von der Rechtfertigung aus Glauben hatte (429). In diesem "irenic context" sei nun Platz, wichtige Fragen wie die der Christologie auch über die hier gesammelten Aufsätze hinaus zu diskutieren (430). CC
Exemplarisch mögen zwei Beiträge zeigen, worüber disputiert wird. Unter dem Titel "Keil oder Mikroskop" steht als "Nucleus" des Bandes (so XI) der ausführliche Aufsatz des Herausgebers M. Bachmann zum Ausdruck "Werke des Gesetzes", in dem dieser seine bisherigen Einlassungen zur Frage summiert und noch einmal präzisiert (Bach mann, 69-134). Er fordert, die Bedeutung des in griechischer Literatur sonst nicht belegten Ausdrucks EQya VOfA.ou noch einmal "unter dem Mikroskop" genau mit linguistischen Methoden zu erheben. Denn auch unter denen, die sich einig sind in der Ablehnung eines "lutherischen" Verständnisses, dass Paulus die Erwartung der Rechtfertigung aufgrund "guter Werke" kritisiere, und auch wenn man den Ausdruck nicht allein auf "boundary marker" beziehe (s.o.), bleibt Diskussionsstoff. Während Bachmann entfaltet, dass das Syntagma genauer nicht "Handlungen gemäß dem Gesetz", sondern nur "Forderungen, Vorschriften des Gesetzes", d. h. Gebote und Verbote der Tora bezeichne, bleibt Dunn auch in seiner Replik (397-401) dabei, dass diese Unterscheidung zu spitzfindig sei und Paulus vor allem die soziale Funktion von Gesetzen problematisiere, seien sie vorgeschrieben oder vollbracht. Wiewohl Bachmann viele Begründungen anführt, sogar in der Bucheinleitung, in der er wiederum auf diese Antwort Dunns antwortet
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(XI-XII), bleibt der Eindruck, dass die mikroskopischen Differenzierungen Bachmanns methodologisch noch nicht ausgehandelt sind und inhaltlich unterhalb der Wahrnehmungs grenze des größeren ExegetInnenkreises bleiben werden. eh. Strecker lotet die politischen und theologischen Implikationen der paulinischen Rede von JtL01;L~ aus unter dem Titel "Fides - Pistis - Glaube. Kontexte und Konturen einer Theologie der ,Annahme' bei Paulus" (Bachmann, 223-250). Zwar hatte Dunn den "Glauben" als neuen "identity marker" bei Paulus beschrieben, doch wurde bislang vor allem diskutiert, ob der im NT auffallend häufig verwendete Begriff eher jüdischer oder hellenistischer Tradition entstammt. Auf den Spuren der imperialen Paulusauslegung stellt Strecker die politische Konnotation der fides im Imperium Romanum heraus. Auch für das Selbstverständnis der römischen Politik und Gemeinschaft sei die religiös aufgeladene fides "identity marker". Dies aufnehmend beschreibt Strecker die paulische Rede von JtL01;L~ als Ausdruck seines Universalismus und einer "Theologie der Annahme". Diese Formulierung arbeitet allerdings mit einer Wortspielerei, die eher der hermeneutischen Theologie anstünde, wird doch mittels der polysemen deutschen Form "Annahme" sowohl passiv erfahrene Anerkennung der Nicht juden wie Annehmen der Glaubensbotschaft als auch kognitives Annehmen im Sinne der Hoffnung subsumiert.
Die im Folgenden angesprochenen Qualifikationsarbeiten bezeugen, wie die Diskussion in der Detailforschung aufgenommen wird. Die erstgenannten Arbeiten vertiefen die Frage, wie Paulus als Theologe innerhalb des Frühjudentums zu verstehen ist. Der Wiener katholische Neutestamentler M. Tiwald macht sich in seiner Habilitationsschrift zur Aufgabe, die Zugehörigkeit des Paulus zum Judentum aufzuweisen und somit ein Anliegen der NPP weiterzuführen (19). Tiwald bezieht sich allerdings vor allem auf die deutschsprachige Paulusforschung. Der Ausgangspunkt der Darstellung sind nach einem Forschungsüberblick (Teil I) "Neue Erkenntnisse in Judaistik und Bibelwissenschaft und deren Konsequenzen für die Paulusforschung" (Überschrift Teil II), nach denen sich die Aufgabe präzisieren lässt: Erstens übernimmt Tiwald aus der judaistischen Forschung die Einsicht, dass das Judentum zu Paulus' Zeiten so vielgestaltig war, dass keine normative Gestalt, kein "typisches Judentum" bestimmt werden kann, mit dem man Paulus vergleichen könnte. Zweitens weise aber die Selbstdarstellung des Paulus als "Hebräer von Hebräern" darauf, dass er sich stets als Jude verstanden habe, wie seine Biographie jüdische Prägung zeige, während hellenistische nicht nachzuweisen sei. Auch seine Schriftverwendung zeige Nähe zur sonstigen jüdischen Hermeneutik, ohne dass sich dies im engeren Sinne auf Argumentationsmuster beziehe. Das Problem des Unternehmens, Paulus mit einer Größe "Judentum" zu vergleichen, die gar nicht zu definieren ist, will Tiwald durch einen phänomenologischen Zugang lösen, um zu zeigen, dass "Paulus - selbst in so kontroversiellen Fragen wie der Rechtfertigungslehre - den Boden jüdischer Argumentationsmöglichkeiten in theologischer wie in formaler Hinsicht nicht verlassen hat" (183). Dazu werden im Herzstück der Arbeit (Teil III, 184-415) Aussagen des Paulus zu Gesetz, allgemeiner Sündhaftigkeit der Menschen, Werken des Gesetzes, Rechtfertigung etc. entsprechende Aussagen aus frühjüdischer Literatur (ohne die später zu datierende rabbinische Literatur) beigesellt, die zeigen sollen, 52
dass die paulinischen Aussagen Denkmöglichkeiten innerhalb des Judentums sind. Ähnliches wird in Teil IV für hermeneutische Deutungsmuster vorgeführt, um so die "historische Kontextplausibilität" nachzuweisen (24f.). Die in Teil III und IV gebotenen Anthologien jüdischer einschließlich neutestamentlicher Texte in deutscher Übersetzung, z. T. mit den griechischen Originalzitaten, sind dankenswert, ebenso wie die tabellarischen Übersichten zu Zitaten des Paulus (490-500). Allerdings auch nicht mehr als das. Denn selbst wenn man mit der These sympathisiert, so ist die Untersuchung doch wegen ihrer unzureichenden Argumentation wider Willen nur geeignet, die Probleme der gegenwärtigen Diskussion aufzuzeigen, indem sie den Selbstbetrug ihres Ansatzes offen legt. Nach Tiwald "bietet ein rein phänomenologischer Textvergleich ,objektive' Fakten, da die Texte für sich selber sprechen. Welche Schlüsse man aus diesen Fakten zieht, ist wiederum Gegenstand einer weiterführenden Interpretation [... ]" (24f., Hervorhebung übernommen). Doch dass die paulinischen Texte "für sich selber sprechen" können, wird nur möglich, da Tiwald sich meist auf die Version der Einheitsübersetzung beschränkt, Forschungsdiskurse ausblendet (etwa zum Ausdruck EQya v6~0'lJ, vgl. 273-294) und vor allem sehr grobe Cluster wählt - also interpretierende Konzepte, deren Verwendung eigentlich vom Ansatz her bestritten wird. So wird die paulinische Haltung zum Gesetz anhand der beliebten Differenz von Ritual- und Sittengesetz entworfen, obwohl diese Unterscheidung weder für Paulus noch für das sonstige Judentum "phänomenologisch" nachzuweisen ist. Tiwald widerlegt zwar die These, dass Paulus das Gesetz "abrogiert" habe (passim), übergeht jedoch differenziertere Thesen zum Gesetzesverständnis des Paulus. Nicht nur unterkomplex, sondern ärgerlich ist es, wenn so mit einem vorgeblich aufgeklärten Blick unter der Hand die veraltete Perspektive kolportiert wird, Paulus habe "das Gesetz als gangbaren Heilsweg ad absurdum [geführt]" (238). So möchte man das Buch nicht einmal als Materialsammlung mit guten Absichten empfehlen. Anders und m. E. angemessener geht G. H oltz vor, um die paulinische Theologie innerhalb des Frühjudentums zu deuten. Ihre umfangreiche Tübinger Habilitationsschrift aus dem Jahr 2006 befasst sich mit der Frage des Universalismus bei Paulus im Horizont der frühjüdischen Theologien. Die Arbeit ist forschungsgeschichtlich motiviert von der seit F. Ch. Baur geläufigen These, dass der jüdische Partikularismus bzw. Ethnozentrismus durch den paulinischen Universalismus überwunden wurde. Diese These leidet ebenso wie deren Gegenthese, nach welcher das Frühjudentum selbst bereits universalistisch gewesen sei, unter der Pauschalität der hier herangezogenen Konzepte. Die NPP hat diese Diskussion angefacht mit der These, Paulus kritisiere die partikularisierende Wirkung des jüdischen Gesetzes. Dass die Frage keine nur akademische ist, zeigt der von Holtz gleichfalls diskutierte Einwurf des jüdischen Paulusforschers D. Boyarin, der Baurs These repristiniert, allerdings mit anderer Bewertung: Er wirft dem "radikalen Juden" Paulus vor, alles Partikulare und mithin die Existenz des jü53
disehen Volkes sowie die Verschiedenheit der Menschen einem Universalismus der Gleichheit zu opfern. Holtz achtet, um solche Pauschalurteile zu meiden, auf eine präzise Bestimmung des Konzepts vom Universalismus und eine kontextuelle Rezeption frühjüdischer Literatur (vgL Kap. 1). Für ihr erstes Anliegen übernimmt sie eine religionswissenschaftliche Differenzierung zwischen dem "Universalismus" als dem eschatologischen Ziel von Schöpfung und Menschheit und der innerzeitlichen "Universalisierung" der Gemeinschaft. Das zweite Anliegen findet Berücksichtigung, indem nicht Aussagen des zeitgenössischen Judentums kontextlos gelistet, sondern im jeweiligen literarischen Zusammenhang dargestellt werden. Die damit notwendige quantitative Begrenzung wird aufgewogen durch eine "repräsentative" Auswahl von Textkorpora, nämlich einerseits des Philo von Alexandrien und andererseits der in Qumran gefundenen Texte, die hier als essenisch gelten. Die begriffliche Unterscheidung begründet auch den zweiteiligen Aufbau der Untersuchung. Im ersten kürzeren Teil erhebt Holtz den Universalismus als eschatologisches Ziel bei Paulus (Referenztexte sind bes. Röm 1-5; 8,18-23; 1 Kor 15) und in Qumran- und Philotexten zunächst für sich, um dann "die paulinische Gestalt des eschatologischen Universalismus im weiteren Kontext des Frühjudentums" (169) zu rekonstruieren. Alle drei Textgruppen teilen einen eschatologischen Universalismus, aber bei Paulus und in den Qumrantexten gibt es neben Aussagen über das universale Heil solche von einem doppelten Ende. Die Spannung bei Paulus zwischen allgemeiner Erlösung einerseits und der Notwendigkeit des Glaubens für die Rettung andererseits lässt sich nach Holtz nicht wirklich auflösen (172), wird aber milder, wenn man erkennt, dass die Universalaussagen über Sünde und Rettung zwar die Menschheit schlechthin, d. h. Juden und Heiden meinen, nicht jedoch ihre numerische Vollzahl. So erklärt sich auch, dass Paulus von sich selbst sagen kann, dass er untadelig nach der Gerechtigkeit im Gesetz gewesen sei (PhiI3,6), aber doch gilt: "alle haben gesündigt [ ... ]" (Röm 3,23). Der zweite Teil analysiert dieselben Textcorpora im Blick auf Universalisierung der Gemeinschaft in der Zeit - und die damit einhergehenden Ausgrenzungen. Denn: "Mit derartigen Universalisierungstendenzen verbinden sich regelmäßig zugleich auch Abgrenzungsbestrebungen, die sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet sein können." (189) So gefragt wird es nicht nur deutlich, dass Paulus mit den anderen frühjüdischen Texten das Nebeneinander von Universalisierungsbestrebung und Exklusivismus teilt, sondern es werden auch die Grenzen des paulinischen Inklusivismus erkennbar, der gegenüber Israel wie den Völkern den Glauben an Christus zur Bedingung des Heils erklärt (251-275).
Die Untersuchung kommt zu einer so differenzierten wie griffigen These: "Von der christologischen Akzentuierung der Eschatologie abgesehen, fügen sich die universaleschatologischen Zukunfts erwartungen des Paulus [ ... ] in das Gesamtbild des antiken Judentums" (187). Und während Paulus in der eschatologischen Perspektive den Qumran-Texten näher steht, so im Blick auf die Universalisierung der Gemeinde in der Zeit eher Philos Entwurf einer Öffnung Israels und der Allgemeingültigkeit des jüdischen Gesetzes. Die sehr klar geschriebene, durch Zusammenfassungen sowie drei Register trotz ihrer Länge gut rezipierbare Arbeit kann hier nur im Blick auf ihren Beitrag zum Ansatz der Paulusdeutung gewürdigt werden. Eindrucksvoll und für 54
die Paulusauslegung generell bedeutsam ist der Nachweis, dass die Haltung des Paulus nicht widerspruchsfrei zu rekonstruieren ist, sondern er hier die theologischen Spannungen der jüdischen Theologie teilt. Denn Basis auch für 'die paulinische Überzeugung, dass Gottes Heilshandeln letztendlich alle Menschen und die ganze Schöpfung erfasst, ist nach Holtz die Theologie, der Glauben an den einen Gott und seine umfassende Gnade, während die Christologie dem untergeordnet davon handelt, wie in der Zeit bereits die Gnade über Israel hinaus allen Glaubenden zuteil wird. Schließlich wird die plakative Alternative von "alter" anthropologischer und "neuer" soziologischer Auslegung hinterfragt. Denn ohne dass die hier entfaltete Exegese die anthropologischen Einsichten des Paulus in die Universalität der Sünde und die individual-soteriologische Dimension der Rechtfertigung leugnet, stellt sie heraus, dass Paulus die Menschheit stets geteilt nach Juden und Heiden wahrnahm und die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes zunächst im Blick auf die Integration der Heiden in das Gottesvolk stellte (191-232). Wenn Holtz so an der Frage des Universalismus zeigt, dass und wie die Theologie des Paulus in ihren Antworten und Problemen in der Spannbreite frühjüdischer Schriften zu verorten ist, so zeigt sie doch relevante Differenzierungen innerhalb des Judentums. Die Rede vom "covenantal nomism" sei angesichts der Vielfältigkeit der Konzepte von der Erwählung Israels und der Geltung des Gesetzes zu unscharf (538-544). Auch die nach Dunn durch Paulus kritisierte Funktionalisierung des Gesetzes als "boundary marker" sei mitnichten vom Judentum insgesamt geteilt worden, sondern nur von einigen Gruppen - unter anderem jenen "radikalen Pharisäern", zu denen sich Paulus selbst vor seiner Berufung zählte (280.542 f.553). Von der differenzierten Darstellung der Grenzen des Inklusivismus bei Paulus her stellt sich auch die Frage nach der politischen Relevanz dieser Theologie neu. Die innerzeitliche Universalisierung sei nicht mit heutigen Idealen religiöser Toleranz gleichzusetzen, verbinde sich doch mit der Mission ein exklusiver Wahrheitsanspruch, sie habe aber in dem eschatologischen Universalismus "das theologisch notwendige Korrektiv". Denn für das Eschaton erwarte Paulus "das Bergen der Verschiedenen durch und in die Gnade Gottes [ ... ], der Glaubenden aus Juden und Heiden, der außermenschlichen Schöpfung und der sich dem Evangelium verschließenden Menschheit, insbesondere Israels" (564f., Zitate 565).
K F. Ulrichs widmet sich in seiner von M. Bachmann betreuten Siegener Dissertation einer Einzelfrage, die im Diskussionsfeld der NPP liegt, will aber in deren Beantwortung einfache Alternativen aufheben (so V). Die Frage, was das in den authentischen Paulusbriefen achtmal begegnende und gerade im Kontext rechtfertigungstheologischer Aussagen stehende Syntagma JtLG'W; XQLG'tOV bedeutet, ist erst seit gut 100 Jahren umstritten. Hatte man traditionell den Genetiv objektiv verstanden, als Rede vom Glauben an Christus als dem, der rechtfertigt (Gal 2,16), so gewann vor allem im englischen Sprachraum die Deutung Zulauf, dass 55
es hier um den Glauben J esu, seine faithfulness gehe, die sich in seiner Lebenshingabe zeige. Diese Lesart beansprucht, den gnadenhaften Charakter der Rechtfertigung klarer herauszustellen und gegen die reformatorische Paulusdeutung zu sprechen, sei doch die Rechtfertigung weniger individuell zu verstehen denn als kollektive Ermöglichung der Gemeinschaft von Juden und Heiden, womit eine partizipatorische Soteriologie bei Paulus stark gemacht wird. Allerdings zeigt Ulrichs Analyse, dass die theologischen Differenzen der beiden Seiten nicht zu groß sind, finden doch beide eine gnadenhafte Zueignung der Rechtfertigung wie den Glauben an Christus bei Paulus. Ulrichs geht vom dogmatischen Zusammenhang aus und stellt insofern die exegetische Diskussion erfreulich klar in einen theologischen Horizont: Zur Frage stehe der Schritt von der Christologie zur Soteriologie. Bereits in einem ausführlichen Eingangsteil (1-70) begründet er philologisch und vom paulinischen Kontext her, dass jtLO'tL~ XQLO'tO'Ü ein spezifisch frühchristliches Syntagma sei, das nicht vom sonstigen Genetiv-Gebrauch her zu deuten ist, weshalb die Streitfrage nicht philologisch, sondern exegetisch zu klären sei (33). Die Exegese ergibt, dass die Vorstellung eines vorbildlichen Glaubens Jesu dem paulinischen Denken fern liegt. Ulrichs spricht sich also für das traditionelle Verständnis aus, dass Jesus Christus das Objekt des Glaubens ist. Die anschließenden Detailexegesen der Belege einschließlich 1 Thess 1,3 (71-247) stellen heraus, dass das Syntagma JtLO'tL~ XQLO'tO'Ü nicht nur in rechtfertigungstheologischen Kontexten begegnet (Gal 2,16; Röm 3,21-26; Phil 3,9), sondern auch in soteriologischen Aussagen, die partizipatorisch (Gal 2,20; Phil 3,9) bzw. pneumatologisch (Gal 3,22) argumentieren. Die Sicht der NPP wird bestätigt im Blick auf die heils geschichtliche, nicht anthropologische Argumentation von Ga13 (und Phi13, vgl. 244) und konkret im Verständnis der Rede von den EQya VOIl0'U in Gal 2 (124-129). Das ergibt dann auch für die Bedeutung des Glaubens an Christus eine schöne Pointe: "Das Gegenüber [von JtLO't~ XQL<J'to'Ü] zu EQya vOIl0'U [in Gal 2,16] [ ... ] zeigEt] inhaltlich [ ... ], dass JtLO'tLC; XQLO'tO'Ü nicht Bekehrung (getting in) thematisiert, sondern das christliche Leben (staying in). Auch ÖLxmo'ÜoSm ist demnach nicht ein einmaliger Akt [ ... ], sondern ein dauerndes Geschehen." (129) rrtO'tLC; XQLO'tO'Ü wird somit zu einem identity marker (132).
Auch wenn dies wie die ausführlichen Einlassungen, die Ulrichs zur objektiven Deutung des Genetivs macht, überzeugt, bleiben Fragen. Denn Ulrichs' mäandrierende Exegesen arbeiten sich an der von ihm bereits abgewiesenen subjektiven Deutung des Syntagmas ab, statt positiv zu klären, was mit den soteriologischen Konzepten gemeint ist. Die Formulierung, dass der "Glaube an Jesus Christus" den Glauben an dessen Kreuz und Auferstehung meine (51), ersetzt doch nur eine Chiffre durch eine andere. Inwiefern führen der Tod und die Auferstehung Jesu als Glaubensgegenstand zur Rechtfertigung oder auch Partizipation-woran? Die lebhafte Diskussion über die Deutung(en) des Todes Jesu (vgl. zu den divergierenden Konzepten Schnelle, 502-516) bleibt - nicht untypisch für die neueren Arbeiten zu Paulus - unbeachtet. Ulrichs schreibt z. B. undifferen56
ziert und unter Bezug auf Röm 3,21-26 und GaI2,20, aber dem Sprachgebrauch des Paulus zuwider von einer "Versöhnung durch den Ea'ta'lJQ(o~EvO~" (60). - So ist die Studie ein weiteres Beispiel dafür, dass sich ehedem gepflegte Fronten als durchlässig darstellen, aber auch, dass dabei manches zu fragen bleibt. Für die Paulusauslegung stellt di.e älteste Paulusschule einen "Lackmustest" dar, lässt sie doch erkennen, ob Paulus von den ältesten RezipientInnen eher "lutherisch" oder im Sinne der NPP verstanden wurde. Die klassische Rechtfertigungsthematik spielt in der Paulustradition kaum eine Rolle, nur Eph 2,8-10 wird gemeinhin als deutlicher Nachklang angeführt. T. -L. N. Yee zeigt dagegen in seiner Untersuchung von Eph 2, der Überarbeitung seiner von]. D. G. Dunn betreuten Dissertation von 1999, dass es produktiv ist, diesen Brief mit den von der neuen Perspektive eingebrachten Einsichten zu lesen. Der Autor des Briefes - ob es sich um Paulus oder einen Schüler handelt, will Yee offen lassen - präsentiere eine jüdische Sicht auf die Nicht juden, wenn er von letzteren schreibt, dass sie "ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels, fern den Bünden der Verheißung" gewesen seien (2,12). Dieser typisch jüdische Ethnozentrismus werde dann als durch Christus überwunden dargestellt (2,11-22), ohne dass der Verfasser damit sein Judentum verlasse. 2,15a spreche nicht von der Aufhebung des Gesetzes, sondern davon, dass dieses mit Christi Friedensstiftung nicht mehr als "boundary marker" fungiere (144-152). Die Absicht des Briefes sei nicht, wie oft vertreten, einen heidnischen Triumphalismus über das Judentum zu bekämpfen, sondern die Überwindung der ethnischen Grenzen zwischen Judentum und Heidentum darzustellen. "The antidote to the alienation or ethnic estrangement is that the Messiah Jesus, who is eulogised as the peace-maker, and whose reconciling work is marked by his undisguised inclusivism has come disinterestedly between Jews and Gentiles to overcome the barrier between the two [ ... ]" (32). Yee würdigt in seiner Interpretation die Kontinuität von Israel und Kirche, beachtet allerdings die Begründung des neuen Friedens in Jesu Tod (2,13b.16a) kaum - und damit die Frage, ob nicht der Christus glaube als Bedingung der Zugehörigkeit seinerseits ausschließend wirken kann. So wird man hier Yees Argumentation aufnehmen und weiter fragen. Die Waliser PhD-Thesis der in Lampeter lehrenden Schweizerin K. Ehrensperger kann den Reigen vorzustellender Bücher abschließen, denn sie blickt von der Metaebene auf die hermeneutischen Voraussetzungen und politischen Implikationen der NPP und anderer Diskurse und führt uns dabei zurück auf die Frage von Universalismus und Partikularismus. Ehrensperger will nicht in neutraler Weise analysieren - nach der dargelegten Hermeneutik ohnehin eine Unmöglichkeit -, sondern eine feministisch-nicht-antijüdische Lektüre unter Aufnahme der NPP-Einsichten entwickeln. Dazu bringt sie die NPP mit den Diskursen der "Post-Shoah Theology" und des Feminismus ins Gespräch. Der Röm 1,12 entlehnte Titel "That we may be mutually encouraged" ist doppelt program57
matisch, denn das Buch fordert nicht nur, dass die verschiedenen Forschungsdiskurse sich gegenseitig ermutigen, sondern entwirft auch die paulinische Theologie als eine der Gegenseitigkeit. Voraussetzung ist eine postmoderne Hermeneutik, die sich kritisch zu hegemonialen Diskursen verhält. Die westlicharistotelische Rationalität dürfe nicht verabsolutiert werden und solle nicht wie im "male-stream" zur Voraussetzung der Paulus-Interpretation gemacht werden. Der jüdische Theologe denke selbst nicht in dieser Logik, sondern schreibe, wie der rhetorical criticism gezeigt hat, stets situations bezogen und kontextuell. Ehrensperger nimmt hier eine kritische Weiterführung der NPP auf (vgl. dazu das Referat Wedderburns), um "beyond the New Perspective" (123.179 u. ö.) zu gelangen. Denn die These, Paulus kritisiere den jüdischen Partikularismus und entwerfe einen Universalismus, wonach alle gleich seien, repetiere implizit den Antijudaismus. Eine kurze Analyse von Röm 14-15 (177-194) dient als Textbeleg, dass Paulus vielmehr theo-Iogisch dafür argumentiere, "to tolerate and respect each other as different" (152), dass Einheit in Christus nicht "sameness" von Juden und Heiden heiße und sich die Menschen einander zuwenden sollen. Die paulinische Theologie steht so gelesen für die Ideale des politischen Feminismus, für "diversity", also Akzeptanz des Partikularen, sowie für "mutuality" statt hierarchischer Strukturen. Ehrenspergers Buch, in essayistischem Stil und voraussetzungsarm nicht nur für ein Fachpublikum geschrieben (mithin der hegemonialen Wissenschaftspraxis abhold), sei der interessierten Lektüre empfohlen. Es informiert über die angesprochenen Diskurse und führt eine aktuelle Deutung des Paulus vor. Das ist lesenswert, unbenommen dessen, dass man die paulinische Theologie natürlich anders rekonstruieren kann, nicht nur, weil die Briefe selbst autoritär agieren, sondern auch, weil, wie bereits gesagt, zu fragen bleibt, ob nicht der Glaube als notwendiges Zeichen der Zugehörigkeit die akzeptierte Verschiedenheit beschränkt. In der Durchführung zeigt die Untersuchung dann auch, wie schwierig, ja unmöglich es ist, den Fängen des Objektivitätsanspruchs, des Allgemeingültigkeitsideals zu entgehen. Denn wenn Ehrensperger den jüdischen Kontext des Paulus herausstellt, arbeitet sie mit einer fragwürdig essentialistischen Gegenüberstellung von Judentum und Hellenismus und übergeht die innere "diversity" beider und Schnittmengen, konkret die Septuaginta, die schließlich die "Bibel" des Paulus war.
Damit steht Ehrenspergers Buch freilich beispielhaft für eine Beobachtung an der ganzen Diskussion: dass die provokanten und interessanten Thesen oft zu sehr von einem klaren Feindbild leben. Wohin sich die Thesen entwickeln, wenn die Antithesen verschwinden, bleibt eine spannende Frage.
3. Was bleibt, und was zu tun bleibt. Eine Auswertung Die New Perspective ist also nicht mehr neu - aber das Altern hat ihr gut getan. Der Blick auf ausgewählte Diskussionsbeiträge der letzten Jahre zeigt, dass
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wichtige Einsichten tragfähig für die Paulusinterpretation sind, aber dank der Altersmilde auch falsche Polarisierungen abgelegt werden können. So ist zu hoffen, dass die Impulse der NPP auch hierzulande breiter aufgenommen und diskutiert werden. Das sei kurz ausgeführt. 1. Das Bild eines werkgerechten Judentums ohne Vertrauen auf den gnädigen Gott sollte endgültig aus der Welt sein. Sanders' Arbeit bleibt hier epochal, auch wenn seine Rekonstruktion des Judentums als "covenantal nomism" sich als zu undifferenziert erwiesen hat. Es gilt nicht nur, das durchaus begegnende "Vergeltungsdenken " zu berücksichtigen, sondern grundlegender noch, die Kenntnis von der großen Vielfalt der Einschätzungen von Tora und Erwählung in den frühjüdischen Schriften zu vertiefen. 2. Wird diese Vielfalt im Judentum wahrgenommen, ist auch deutlich, dass Ausgangspunkt der Paulus-Lektüre die Unterstellung sein sollte, dass Paulus nicht aufgrund seiner Berufung mit dem Judentum und seinem Gesetz gebrochen hat, sondern innerhalb der jüdischen Denkmöglichkeiten eine christologisch begründete neue Haltung zum Gesetz gewonnen hat. Die für viele jüdische Theologien grundlegende Unterscheidung von Juden und Heiden hat seine Theologie weiterhin geprägt, da sich gerade an dieser Frage für ihn die Bedeutung des Christus geschehens zeigt. Weiter nachzudenken ist darüber, ob die These, Paulus habe d'ls jüdische Gesetz als ethnozentrisch kritisiert, wieder antijüdische Stereotypen prägt. 3. Die Frage der Universalisierung des Heils und konkret der Heidenmission war also ein zentraler Aspekt in der paulinischen Bewertung des Gesetzes und Movens zur Ausformulierung der Soteriologie in der juridischen Metaphorik der Rechtfertigung. Dass diese "Theologie der Annahme" Paulus über die missionstheologische Relevanz hinaus auch zu anthropologischen Einsichten über alle Menschen, Juden wie Heiden, geführt hat (Röm 1-5), muss dennoch nicht bestritten werden. Darum ist es m. E. sehr angemessen, wenn sich die Diskussion über die Frage, ob die Rechtfertigungslehre Mitte der paulinischen Theologie sei oder nicht, hinausbewegt und nun die heute auf andere Weise existentielle Frage diskutiert, wie Universalität und Partikularität, Erwählung Israels, Glaube an Christus und Gottes allumfassendes Heil im Sinne des Paulus zu begreifen sind. 4. Wird der konkrete Ort der paulinischen Auseinandersetzung über das Gesetz sichtbar, so kann auch die innerhalb der reformatorischen Theologien umstrittene Frage nach der bleibenden Bedeutung der Tora klarer beschrieben werden. Das Gesetz war und ist nie Heilsweg, sondern Ausdruck des Willens Gottes und somit Maßstab des Handelns, und dies bleibt es in christologischer Interpretation auch für Paulus (Gal 6,2), ohne dass damit alle Gesetze in gleicher Weise auch für nicht jüdische Christusglaubende bindend wären. 5. Es ist der Glaube an Christus Jesus, der rettet und im Sinne des Paulus die neue, jüdische wie nichtjüdische Menschen bestimmende Identität ausmacht. Wie das konkret bei Paulus gedacht ist, vor allem, wie Paulus das Sterben J esu interpretiert, bedarf aber weiterer Klärung. Werden hier die Konzepte emer 59
Partizipation an Christus und der Rechtfertigung gegeneinander in Stellung gebracht, so ist doch zunächst zu bedenken, warum Jesu Tod überhaupt Heilsbedeutung haben solL Diese alte Frage stellt sich verschärft, wenn man dem Judentum nicht das Wissen um die Gnade des vergebenden Gottes abspricht, und sie stellt sich für Paulus angesichts seiner theo-logischen Argumentation mit Abraham als Vorbild im Glauben. So ist zu wünschen, dass sich die Diskussion über die NPP und der in der deutschsprachigen Forschung geführte Disput über die Interpretation des Todes Jesu bei Paulus verbinden. Die Frage ist nicht nur, ob Rechtfertigung oder Partizipation Zentrum der paulinischen Soteriologie sei, sondern auch, wie sich das Konzept eines sühnenden Sterbens J esu und andere Interpretamente wie das des stellvertretenden Sterbens, der Versöhnung oder des Loskaufs zueinander verhalten und soteriologisch zu deuten sind. 6. Schließlich fordert die Diskussion über die angemessene "perspective on Paul" hermeneutische Selbstreflexionen. Dezidierte Aussagen werden relativiert durch die Einsicht, dass das Denken des Paulus ebenso wie "das Judentum" nicht zeitlos und objektiv zu rekonstruieren sind. Jedes Bild ist seiner Zeit verpflichtet, ist biographisch und konfessionell geprägt. Das verbietet uns nicht, eine für unsere Zeit, in unserem Kontext relevante Lektüre am Text der paulinisehen Briefe zu plausibilisieren. Aber es fordert eine Ethik der Interpretation, welche die eigenen Parameter und Ziele benennt. Und es verpflichtet dazu, die Zeitbedingtheit der Entwürfe zu reflektieren - auch wenn man, wie hier soeben geschehen, beansprucht, Bleibendes festzuhalten. Auch die neuen Perspektiven sind selbstredend zeitbedingt. Sie sind von der längst überfälligen würdigenden Erforschung des Frühjudentums bestimmt, dem" linguistic turn ce, der Beobachtung der Macht der Rhetorik, aber sie verdanken sich auch neuer Wertschätzung von Pluralismus und" diversity ce wie der Kritik an selbstzentrierten unpolitischen Lektüren. Sie müssen aber gerade als solche auch gewärtigen, dass in gewisser "Ungleichzeitigkeit" vielen die traditionellere, an individueller Sünde und Erlösung des Einzelnen orientierte Lektüre mehr einleuchtet als die sozial fokussierte. Mit der Einsicht in die Notwendigkeit zur Selbstreflexion und zum Gespräch mit anderen Lektüren ist bereits viel gewonnen.
Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs
Harald Seubert
Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. Davide Giuriato (es 2453), Suhrkamp Frankfurt 2000, 234 S. -Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus [1977], übers. v. Heinz Jatho, Diaphanes Zürich 2009, 135 S. - Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis [1988], übers. v. Gernot Kamecke, Diaphanes Berlin 2005,
60
Verkündigung und Forschung 55. Jg., Heft 1, S. 60-70 ISSN 0342-2410 © ehr. Kaiser I Gütersloher Verlagshaus, 2010
557 S. - Erik Peterson, Der Erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien, aus dem Nachlass hg. v. Hans-Ulrich Weidemann (Ausgewählte Schriften 7), Echter Würzburg 2006, XCVI + 468 S. - Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, hg. v. Jan AssmanlAleida Assmann in Verb. m. Horst Folkers, Fink München 1993, 200 S. - Slavoj Ziiek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen [2000], übers. v. Nikolaus G. Schneider, Verlag Volk und Welt Berlin 2000, 221 S. - Slavoj Ziiek, Die gnadenlose Liebe [2001], übers. v. Nikolaus G. Schneider (stw 1545), Suhrkamp Frankfurt 2001, 187 S. Slavoj Ziiek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion [2003], übers. v. Nikolaus G. Schneider (stw 1681), Suhrkamp Frankfurt 2003, 189 S. Slavoj Ziiek, Parallaxe [2006], übers. v. Frank Born, Suhrkamp Frankfurt 2006,444 S.
1. Ausgangslage: Initialzündung Jacob Taubes Seit einem guten Jahrzehnt ist ein reger Paulus-Diskurs in der europäischen Philosophie zu verzeichnen. Er konzentriert sich zunächst auf die Frage der politischen Theologie und nimmt damit eine große Debatte der zwanziger Jahre wieder auf, in die unter anderem Carl Schmitt, Erik Peterson und Walter Benjamin verwickelt waren. Zunehmend werden die Paulus-Studien aber zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Kern und der Bedeutsamkeit christlichen Glaubens überhaupt - gerade dort, wo dieser Glaube sein Proprium und seine Alterität gegenüber einer allgemeinen Religion der Vernunft in der Moderne erkennen lässt. Dass es diese neuere philosophische Debatte um Paulus überhaupt gibt, wäre gar nicht denkbar ohne die jüdische Relektüre des Römerbriefs durch]. Taubes, wenige Wochen vor seinem Tod als eine Art Vermächtnis bei der FEST im März 1987 in Heidelberg vorgetragen. Noch die publizierte, stark redigierte Fassung jenes frei gesprochenen Textes gibt Einblick in die Entstehung der Gedanken im Reden. Interpretation im Close reading verbindet sich mit weitaus greifenden spekulativen Gedankenblitzen, Rezeptionsgeschichte mit Anekdotischem. Apokalypse und Schnoddrigkeit führt Taubes zusammen. Dass die Zeit eine bemessene Frist ist, teilt sich bereits im Gestus von Taubes' letzter Vorlesung mit. Zentrales Interesse von Taubes' Lektüre von Römer 8-13 ist es, die jüdische Dimension des Paulus-Textes herauszupräparieren und vor ihrem Hintergrund die Rezeptionsgeschichte zu destruieren und neu zu gewichten. Mit dem Römerbrief-Buch Karl Barths am Beginn der Entwicklung Dialektischer Theologie hat Taubes' Interpretation gemeinsam, dass sie Dramatik und Alterität des Römerbriefs gegenüber einem bürgerlichen, kulturprotestantischen Christentum besonders akzentuiert. Taubes rekonstruiert die Paulinische Theologie als Gründung eines neuen Gottesvolkes, worin sich ein innerer Konflikt manifestieren musste, der bis in die Sprachstruktur des Römerbriefs eingeht. Paulus gehört, worüber er sich selbst Rechenschaft ablegt, noch dem alten Gottesvolk an, für dessen Rettung er, wie er erklärt, seine eigene Heilsteilhabe preiszugeben bereit wäre. Zugleich aber weiß er sich schon als Teil des neuen Gottesvolkes. Die Dramatik dieser 61
Spannung gewinnt durch den Hintergrund der Liturgie zum Jom Kippur-Fest illustrativ an Deutlichkeit: Taubes zeigt, ausgehend von seiner (mit E. Peterson geteilten) Auffassung, dass Theologie aus Liturgik entwickelt werden solle, wie durch dieses Fest die Erschütterung angesichts der drohenden Zerstörung durch Gott zittert. Mit der Begründung eines neuen Gottesvolkes droht, so rekonstruiert Taubes, das jüdische Gesetz in seinen leitenden Unterscheidungen aufgelöst zu werden; die Befürchtung eines kosmischen Chaos legte sich für zeitgenössische jüdische Leser nahe. Die eigentliche Leistung von Taubes' Interpretation besteht darin, den griechischen Begriffen des Römerbriefes wieder ihren jüdischen Sub- und Kontext zuzuführen und sie damit gleichsam zu verflüssigen. So wird JtLa'tL~ als Transformierung der Bundestreue (hebr. Emunah) gelesen. Damit gewinnt sie die Grundbedeutung des "messianischen" Glaubens. In dem neuen Gottesvolk tritt indes an die Stelle des Bundes Gottes mit seinem Volk der Gedanke eines universalen Verbundes, der auf Feindesliebe begründet ist. Der Entwurf einer Rezeptionsgeschichte von Paulus in der Moderne bildet den zweiten Teil von Taubes' Diskurs. Er verdichtet sich ihm zur Rekonstruktion unterschwelliger Gärungen und Legitimationskrisen der Modernegeschichte selbst. Ist sie doch, folgt man H. Blumenberg, zugleich die Geschichte der im Christentum unbewältigten Gefahr der Gnosis. Taubes verfolgt die gnostische Spur bis zum Kreuzungspunkt von Judentum und frühem Christentum: In apokalyptischer Perspektive werde das römische Imperium zum "Reich dieser Welt" und damit der Nichtigkeit und Hinfälligkeit überführt. Das Heil privatisiert sich damit zu einem individuellen Erkenntnisweg, in dem die versuchte Begründung des Volkes Gottes keinen Ort mehr hat. Spuren eines fortwirkenden Markionismus kann Taubes im Kulturprotestantismus A. v. Harnacks ausmachen, der sein Antidotum in den "Zeloten des Absoluten" findet, womit er auf K. Barth und C. Schmitt verweist. Bei Barth sei die Theologie des Wortes Gottes der unbedingte Maßstab, bei Schmitt die Politische Theologie als grundlegende Legitimationsinstanz. Von besonderem Interesse sind die seinerzeit noch unbekannten, mittlerweile gut erforschten Verweise auf den Frage- und Gesprächszusammenhang in den zwanziger Jahren zwischen Schmitt und W. Benjamin, den eigentlichen messianischen Theologen der Frankfurter Schule; um so mehr, als jene Berührungen zwischen der Rechten und der Linken in der Weimarer Republik Jahrzehnte lang verdeckt waren. Benjamins "Politisch-theologisches Fragment", ein seit einigen Jahren viel diskutierter großer "Leertext" , dem sich unter anderem auch J. Derrida widmete, ist in seiner Hoffnung auf eine Erlösung als Rückschein aus dem Paradies, so Taubes, durch und durch paulinisch inspiriert. Einschlägig ist hier vor allem das achte Kapitel des Römerbriefs mit der Beschwörung des "Seufzens der Kreatur" . Die Utopie einer Erlösung aus der Regression in unentfremdete Natur, wie sie der angesichts der "Dialektik der Aufklärung" desillusionierte Th. W. Adorno vermittels der avantgardistischen Kunst suchte, ist für Benjamin ebenso abge-
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schnitten wie eine Erlösung aus politischem Handeln. Darin sieht Taubes den Schlüssel zu Benjamins "Dialektik im Stillstand", die nur noch den Rückschein aus dem Paradies festhalten kann. Verweisen Benjamin und vor ihm Schmitt angesichts der Krise der Moderne auf die Unabdingbarkeit der Transzendenz, so wird jener Gottes- und Heilsglaube in der Linie von F. Nietzsche und S. Freud als Illusion, als "Sklavenmoral" bzw. wirklichkeitsverweigernde kindliche Regression kritisiert. Nietzsche verschreibt sich aber selbst dem Konzept einer "endgültige[nJ Erlösung von aller Schuld", die er in der "Unschuld des Werdens" sucht. Die originellsten Einsichten zeigt sicher das Freud-Kapitel. Denn Taubes geht davon aus, dass niemals seit Luther oder Augustinus Erbsünde und die Frage nach ihrer möglichen Sühnung so konsequent ins Zentrum gestellt wurde wie bei Freud. Paulus und nicht Moses sei daher die für die Ausprägung der Psychoanalyse eigentlich leitende Gestalt. Religion will Taubes dabei nicht als Tradition, sondern als Gedächtnis verstanden wissen; eignet der Tradition doch die Begrenzung auf das Bewusstsein, wohingegen im Gedächtnis die unbewusste "Wiederkehr von Verdrängtem" eingeschlossen ist; erst dadurch konstituiert es nach Taubes "einen sehr vielschichtigen Begriff historischer Wahrheit" (173). Taubes' Paulus-Vorlesung kreist zentral um das Verhältnis politischer Theologie und Philosophie und damit um eine Debatte, die zwischen C. Schmitt und dem später zum Katholizismus konvertierten Neutestamentler und Patristiker E. Peterson in den zwanziger Jahren ausgetragen wurde. Peterson, zeitweise ein enger Gesprächspartner und Freund von K. Barth, hatte die These aufgestellt, eine politische Theologie post Christum natum sei unmöglich. Mit Schmitt bestreitet Taubes eben dies. Zugleich markiert er sehr prägnant seine Differenz gegenüber Schmitt: Dieser denke christlich vertikal, von den Gewalten her, also vom Katechonten: "dass das Chaos nicht nach oben kommt, dass der Staat bleibt" (139), er selbst hingegen denke apokalyptisch von unten. Deshalb insistiert Taubes gegenüber Schmitt und mit Benjamin auf der Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt. Die Verfehlung dieser Differenz schlage in eine totalitäre Figur um. Nicht um monokratische Herrschaft geht es Taubes, sondern um einen Bund zwischen Gott und seinem Volk. In der Folge einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik hat Taubes darauf bestanden, durch die weiten Strahlungen, die sein Denken wirft, paulinische Texte selbst erhellen zu können. 2. Zur Diskussion Der italienische Philosoph G. Agamben hat diesen Faden aufgenommen und mit dem Buch "Die Zeit, die bleibt" in Anspielung auf mündlich rabbinische Auslegungstraditionen eine Hommage an Taubes vorgelegt: Paulus-Lektionen im close reading, die in verschiedene "Tage" untergliedert sind. Neben dem Römerbrief werden insbesondere Schlüsselstellen aus dem ersten und zweiten Korin63
therbrief herangezogen. Anders als Taubes legt Agamben analytisch genau, bis in Grammatik und Semantik hinein, die Strukturen paulinischer Texte frei. Der Anstoß durch Taubes' Lesart zeigt sich insbesondere darin, dass auch Agamben die messianische Zeit nicht als eine neue Zeit, sondern als eine Abbreviatur der Geschichtszeit sichtbar macht. Im Anschluss an Eph 1,10 hält er fest: "alles wird im Messias rekapituliert" (160). Die messianische Zeit habe dabei weitreichende politisch theologische Implikationen. Damit schließt Agamben an seine berühmt gewordene Homo sacer- Tetralogie an. Der homo sacer bezeichnet als Figur des römischen Rechts den Ausgestoßenen, der straflos getötet, aufgrund seines Verlustes jeder Würde aber nicht geopfert werden darf. Dieser alte Topos schreibt sich nach Agamben bis hinein in die Figur des "Muselmanen" fort, des jeden Rechtes und aller Würde verlustig gegangenen Häftlings in den NS-Konzentrationslagern. Agamben weist von hier her auf die Gewalt hin, die dem römischen Recht zugrunde liege und die es selbst produziere, insofern ihm die Ausschlussfigur des sacer zugrunde liegt. Aus ihm wird bei Agamben der negative Idealtypus von europäischer Rechts- und Biopolitik. Es zeichnet sich die selbst nicht mehr vermittelbare Entgegensetzung zwischen rechts geschützter Machtsouveränität und nacktem Leben ab. Die messianische Zeit und die Aufhebung des Gesetzes in der Liebe (Röm 10,4) bricht diese imperiale Logik und lenkt daher Agambens Aufmerksamkeit auf sich. Auf diese Weise erfährt die alte Peterson-Schmitt-Taubes-Debatte eine politische Zuspitzung. Denn die messianische Berufung, die den Messias im Zeichen des homo sacer in der schändlichsten Todesart des römischen Rechtes zeigt, ist kein Recht und konstituiert auch keine Identität. Rettung kommt mithin aus dem Exterritorialen, das vor der Welt verworfen ist, wie Agamben im Blick auf 1 Kor 4,13 oder 1 Kor 1,27-29 erklärt. Er radikalisiert diese Deutung, so dass der Messias als homo sacer mit dem "Rest Israels" im Römerbrief gleichgesetzt wird. Agamben hat von hierher, namentlich gegen A. Badiou, darauf bestanden, dass die Messianität der paulinischen Theologie nicht auf Universalität ziele und damit auch keinen Identitätsgrund abgeben könne. Sie ist vielmehr die Inversion der Identitätskategorie, indem sie einen "Rest" etabliert. Dieser messianische "Rest" ist, so Agamben, das Leben "im Hauch", das weder außerhalb noch innerhalb des Gesetzes verankert ist: es steht quer zum Gesetz. Damit zeigt sich, dass die Differenzierung in Juden und Christen nicht vollständig ist. Diese Erwägungen fokussieren sich auf den Begriff der messianischen Zeit, den Agamben, in Orientierung an dem Linguisten G. Guillaume, als Akt permanent disloziierter Selbstpräsenz umschreibt. Für die Verfassung messianischer Zeit bedeutet dies, dass sie die geschichtliche Zeit nicht als Kairos durchbricht, sondern von innen her durchdringt und damit gleichsam zusammenschrumpfen lässt. Dies fasst er als Modus des "Als-ob-nicht", einer Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart, wie sie in W. Benjamins Geschichtsphilosophie der "Dialektik im Stillstand" wieder aufscheinen wird. Aus messianischer Perspek64
tive ist die Vergangenheit nicht vergangen, denn gerade sie bedarf der Erlösung. Messianische Zeit ist deshalb, wie Agamben eindrücklich zeigt, Gegenpol zu jedweder Objektivierung von Zeit. Messianische Zeit ist nicht ein Anderes zu der Geschichte, sondern ist eben diese Geschichte, aber im messianischen Licht. Homo sacer und der Muselmane werden von hierher als Vorgriffe und Entsprechungen zu dem von Paulus bezeugten leidenden Christus beschreibbar. Alle innerweltliche Konstitution eines "Seins zum Tode" (M. Heidegger) schlage ihnen gegenüber fehl. Gerade darin scheint aber der Restbestand nicht definibler Menschlichkeit auf. Die (Grenz-)Begriffe von Menschsein müssen sich angesichts dieser typoshaften Gestalt ihrerseits verschieben. Schließlich konzentriert sich Agambens Interpretation von hierher auf den paulinischen Begriff des Gesetzes. Die Gestalt des homo sacer verweist auf den gesetzlosen, machtorientierten Abgrund des Gesetzes, der messianisch aufgebrochen wird, im Sinne einer "kommenden Gemeinschaft", mit der für Agamben das eigentlich humane Leben beginnt, während unter dem Gesetz ein bloß "kreatürliches Leben" möglich sei. Unter Bezug auf die Gesetzesparabolik bei F. Kafka ("Vor dem Gesetz", "Der Prozess") gibt er dem Wort von der seufzenden Kreatur (Röm 8) die Bedeutung, dass in dem als machtlose Kreatur Sterbenden der Messias erkennbar wird. Agamben setzt in seinen Darlegungen sich erkennbar von A. Badiou ab, dessen Paulus-Studie ebenfalls die politisch-theologische Problematik weiterführt. Das jäh einsetzende "Ereignis", das er der Durchbrechung des Natürlichen im Wunder gleichsetzt, ist für Badiou, einen Cartesianer und Linksheideggerianer, wie er nur in Frankreich denkbar ist, das Urbild des politischen Ereignisses, wie es sich etwa mit dem Sturm auf die Bastille in der Französischen Revolution Bahn brach. Damit verbindet Badiou systematische Erwartungen, sowohl im Blick auf das Phänomen der Subjektivität als auch auf die Sozialphilosophie: Ersteres, indem er zwischen Subjekt und Individuum unterscheidet. Ist das Individuum festgelegt und situiert, so versteht Badiou mit R. Musil das Subjekt als "Menschen ohne Eigenschaften". Badiou geht damit von der Kategorie der Natalität ("Gebürtlichkeit") aus, die auch H. Arendt als Anfang des Politischen begriff. Das Berührt- und Erschüttertsein von dem Glauben an den Mensch gewordenen Gott bei Paulus ist ein Ereignis, das nicht auf Kriterien gestützt werden kann, sondern allein im Akt seines Vollzuges beglaubigt werde. Dass damit Irrationalität und Dezisionismus, die Magie des "unerhörten Ereignisses" wie des Sturms auf die Bastille, zur Schlüsselgestalt des Politischen erklärt werden und kaum ein Ort für Deliberation und Institutionen bleibt, ist in politisch philosophischer Hinsicht keineswegs unproblematisch. Unabhängig von Badious (Selbst-)Verortung als linker Intellektueller wird eine von C. Schmitt vorgegebene dezisionistische Struktur sichtbar. Eine davon zu unterscheidende Frage ist, mit welchem Recht diese politisch 65
philosophische bzw. politisch theologische Konzeption von Paulus her entwickelt wird. Badious Deutung, die bereits 1977 und damit unabhängig von Taubes vorgelegt wurde, zielt darauf, in Paulus den Begründer eines neuen Universalismus zu erkennen, der Judentum und Griechentum hinter sich lasse. Darin unterscheidet sich Badiou deutlich von Agamben und vor allem Taubes, die Paulus aus der jüdischen Tradition rekonstruieren wollen. Badiou wendet demgegenüber ein, Polis-Welt und jüdische Bundestradition seien "Diskurse des Vaters", Gesetzesverpflichtungen gegenüber der Stadt oder dem göttlichen Gesetz. Dagegen führe Paulus einen "Diskurs des Sohnes" ein, eine universale Heilslogik, die sich mit keinem Gesetz vermitteln lässt, weder mit einem kosmischen noch mit einem Gesetz exzeptioneller Erwählung. Man müsse vielmehr vom Ereignis als solchem ausgehen, das akosmisch und illegal ist, sich keiner Totalität einfügt und ein Zeichen von nichts sei. Wenn bei Taubes und auch bei Agamben die Erschütterung des Paulus aufgrund seiner reflektierten Zwischenstellung zwischen altem und neuem Bund eindrucksvoll herausgearbeitet wird, so legt Badiou den Akzent offensichtlich - in der Folge S. Kierkegaards - auf die Paradoxie christlichen Glaubens, denjuden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit (1 Kor 1,23). Die paulinisch begründete Universalität begreift er im Sinne subjektiver Singularität, die von geschichtlichen Orientierungen unabhängig ist. Badious Denken operiert dabei mit der an Heidegger orientierten Differenz von Sein und Ereignis. Dabei versteht er die Dignität der paulinischen Messias-Erfahrung mit ihrer Etablierung der Liebe als universaler Macht als ein rein subjektives Ereignis, das alle Seins ordnungen transzendiert. Eine Crux ist dabei die Unabhängigkeit der paulinischen Kreuzes- und Erlösungstheologie vom geschichtlichen J esus, um den Paulus, wie Badiou hervorhebt, sich kaum kümmere. Wiederum einen anderen Akzent beleuchtet S. Ziiek, ein sehr produktiver Denker der Gegenwart, der öffentlichkeitswirksam und sprunghaft assoziativ die Lacansche Psychoanalyse mit F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel und beides wieder mit Sequenzen aus der Alltags- und Filmgeschichte verbindet. Zizek gilt, wie es gar nicht anders sein kann, als umstrittener, dabei aber anregender Denker und als einer der profiliertesten Gegner der globalisierten One World. Das genuine Profil seiner assoziativen Entwürfe besteht im Zusammenhang des psychoanalytischen und des philosophischen Ansatzes. Das in den anderen behandelten Paulusdeutungen dominierende politische Moment tritt bei Zizek zunächst in den Hintergrund. Zizek zielt ins Zentrum und akzentuiert insbesondere die paulinische Deutung des Todes Christi am Kreuz, die Kenosis, die er ebenso sehr als Entäußerung - im Sinne des Hegelschen "spekulativen Karfreitags" - wie auch mystisch oder mit Schelling als "Entleerung" und Selbstopfer verstanden wissen möchte. Der Christus-Hymnus im Philipperbrief (Phil 1,6-8) wird damit zu einem zentralen Ausgangs66
punkt. Zizek geht dem "wunderlichen Wechsel" nach, dass Gott vom Herrn zum Knecht werden muss. Einem vollkommenen monotheistischen Gott fehlt etwas: nämlich die Unvollkommenheit, Fragmentiertheit. Dieses Problem betrifft einen philosophischen Gottesbegriff oder den griechischen Mythos vom Göttlichen freilich ungleich stärker als Judentum und Islam, auf die Zizek es projizieren möchte. Zizek liest die Phänomenerfahrung von Sterblichkeit und Tod als Inbegriff der Unvollkommenheit, die erst die paulinische Christologie in den Bestand des Monotheismus einträgt. Ein Gott, der den Tod nicht kennt, so schließt Zizek weiter, kennt auch die Liebe nicht. Das Liebesverständnis des Christentums ist, wie er in Aufnahme der Differenz von Eros und Agape, etwa in A. Nygrens Monographie gleichen Titels (1947), bemerkt, eine Umkehrung des platonischen Aufstiegs zum Vollkommenen. Es gilt gerade der Selbsterniedrigung, die für Zizek nicht nur vom Heiligen zum Profanen führt, sondern auch von einer Jenseits-Transzendenz zum Hier und Jetzt. Es ist diese sich entäußernde Liebe, die auch nach dem "Tode Gottes" bleibt. Damit kommt Zizek in die Nähe der Rede von einem "armen" christlichen Glauben, die G. Vattimo in einer Reihe von Publikationen beschwor: Ein gereinigter Glaube nach dem Nihilismus und nach Nietzsches "Verfluchung des Christentums". Dass er dies gerade im Rückgriff auf Paulus tut, mit dem nach Nietzsche der Verrat an dem "einzigen Christen", den es je gegeben hätte und der am Kreuz starb, begann, ist allerdings eine im innerphilosophischen Diskurs der Moderne bemerkenswerte Pointe. "Nur ein mangelhaftes, verwundbares Wesen ist zur Liebe fähig. Das eigentliche Mysterium der Liebe besteht daher darin, dass die U nvollkommenheit gewissermaßen einen höheren Stellenwert hat als die Vollkommenheit [... ]. Vielleicht besteht die eigentliche Leistung des Christentums darin, dass es ein liebendes (unvollkommenes) Wesen in den Rang Gottes [ ... ] schlechthin erhebt. Darauf beruht der Kern der christlichen Erfahrung". (Ziiek, Puppe, 117f.) Zizek geht von dem Lacanschen Diktum aus, wonach Religion in der späten Moderne immer das Unbewusste sei. Lacan hat an anderer Stelle bemerkt: wenn Gott nicht existiere, sei alles verboten. Seine Paulus-Interpretationen verfolgen ausgehend von diesem Grundsatz die ambitionierte Absicht, den rationalen Kern des Christentums ans Licht zu bringen, der für ihn zugleich ein Widerstandsmoment gegen religiösen Synkretismus und die apolitische Verfassung der spätmodernen Welt ist. Bemerkenswert ist dabei die scharfe Kritik gegen fernöstliche Religionsanleihen in jenem religiösen Unbewussten, die Begehren und widerständige Subjektivität als Illusion hinter sich lassen möchten, dabei aber das Reale jener Illusion selbst leugneten. Dies ist der Einsatzpunkt, an dem das "Reale des Christentums" für Zizek ins Spiel kommt - nicht zuletzt als anders nicht habbarer Widerstandsanker in der globalen Welt. Anders als Badiou belässt es Zizek nicht bei dem Akt einer ereignishaft vorbehaltslosen Konstitution des Subjektes. Er analysiert vielmehr die Subjekt-Entzweiungen, gerade im genuin ethischen Akt, der aus den Koordinaten jeweiliger symbolischer Formen ausbricht. Dabei nimmt gerade Zizek das Gespräch mit 67
anderen philosophischen Paulus-Deutungen auf: Gegen Agamben wendet er ein, dass der Ausschluss eines "messianischen Rests" einen homogenisierenden, letztlich gewaltsamen Universalismus nicht durchbreche, sondern vielmehr ratifiziere. Erkennbar misstraut Zizek aber auch der "Alteritäts"-Mystik des Judentums in seinen einflussreichen Interpretationen, wie jener von E. Levinas. Gegen Badiou wendet er ein, dass in dessen Deutung der Tod Christi und die Kenose ausgeblendet werden und das Auferstehungszeugnis allein fokussiert werde. Demgegenüber erkennt Zizek Wahrheit und Realität der paulinischen Verkündigung gerade in der Negation der Kenose, von der her er auch Trinität als Durchbrechung der griechischen Ontologie und herkömmlicher politischer Ordnungsform denkt, weshalb im Kierkegaard'schen Sinn das "Narrenturn christlichen Glaubens" sein Interesse findet. Es bedeutet einen Rückgriff auf Hegel, wenn Zizek bemerkt: "Christus stirbt nicht am Kreuz, um sich von seiner sterblichen Hülle zu befreien und wieder eins mit dem Göttlichen zu werden; er stirbt, weil er Gott ist" (Ziiek, Parallaxe, 116). Mit dieser Aussage werde zwar eine Allgemeinheit grundgelegt. Sie verliere aber jede Abstraktion und erweist sich damit als wirklich und konkret. Zu gängigen Diskursen steht Zizeks Denken in einer wohltuenden Weise quer, weshalb es auch gerade der starke Wahrheitsanspruch des Christentums ist, in postmodernen kulturtheoretischen Diskursen zumeist eher verdächtigt, der für ihn das militante Potenzial zu einem Einspruch in das Gehäuse der funktionalisierten Welt hat. Das Christentum erscheint bei Zizek damit als "Anti-Religion". Er begreift, darin in allen Differenzen an diesem Punkt doch in der Nähe von Badiou, den Tod Gottes als Riss in der symbolischen Ordnung, der sich nicht schließen lässt. Dies führt bei Zizek zu einer bemerkenswerten Kritik an Derridas Gedanken der "Differance": Sie schiebe das Andere von Transzendenz hinaus, weshalb Zizek sie mit einem schmachtenden Liebhaber vergleicht, der die Nähe fürchtet. Die Kenose hingegen bedeutet konkretes Eingehen in die Zeit. Ähnlich ist es mit der Politik der Freundschaft von Derrida: auch sie behaupte ein fernes, erhabenes Sujet, dessen Realisierung gefürchtet wird, weil sie untrennbar von einer Profanierung ist. Philosophischer Diskurs ist, wie Zizek in seiner Auseinandersetzung mit Derrida zeigt, auf "Erhabenheit" geeicht. Die paulinische KenoseTheologie hingegen wagt sogar den Schritt zur Lächerlichkeit. Dies bedeutet für Zizek eine Exklusivität des Christentums, das allein - mit dem Psalm 22 - in die Gottesnacht und den mit ihr verbundenen Entzug allen Sinns und Trostes führe. Es wäre allerdings eine unbillige Simplifizierung, wenn man Zizeks Verteidigung der "Christian Legacy" ungebrochen als Apologie verstehen wollte. Sein eigentliches Interesse liegt darin, den "realen Kern" des Christentums in das Instrument für einen erneuerten und geläuterten historischen Materialismus umzuzeichnen, der der Lage am Beginn des 21. Jh. gewachsen sein soll. Man darf
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dabei nicht verkennen, dass Zizeks Radikalität oft selbst wie ein Gedankenspiel erscheint. Nimmt man es aber ernst, so wird die Umzeichnung unabdingbar wechselseitig zu verstehen sein, da, wie Zizek selbst weiß, auf diese Weise auch umgekehrt der historische Materialismus theologisiert wird. Zizek greift mehrfach auf die von ihm hoch geschätzten psychoanalytischen Deutungen E. Santers zurück, die die paulinische Theologie in psychoanalytischem Horizont als "Exzess" des Gesetzes begreift, der auf diese Weise gerade durchbrochen werden kann. Ins Zentrum seiner Deutung tritt die Fähigkeit des Menschen, sich der Offenbarung, also Enigma zu öffnen, einem Exzess von Bedeutung, mit dem die paulinischen Briefe ringen und der die symbolischen Festlegungen in eine Legitimationskrise führt. Jene Normen werden dadurch erkennbar und suspendiert. 3. Zur Beurteilung: Recht und Grenzen des neuen philosophischen Paulus-Diskurses
Bei der Beurteilung der neueren Paulus-Diskussionen wird man zwischen religions-philosophischen und exegetisch-theologischen Gesichtspunkten unterscheiden müssen. Im ersten Feld bedeutet die Paulus-Debatte einen wichtigen Schritt. Sie zeigt eine Tendenz der neueren kontinentalen Philosophie, sich mit Fragen von Religion nicht nur formal, sondern auf zentrale Inhalte bezogen zu befassen und im Fokus von Grundtexten des Neuen Testamentes zugleich die Frage nach der Legitimität der Moderne selbst aufzuwerfen. So wenig die große Geste der Hegel'schen "Flucht in den Begriff" heute noch philosophisch verbindlich sein kann, teilen die neueren philosophischen PaulusLeser doch den Hegel'schen Gedanken, dass die Wahrheit immer konkret ist. Sie erkennen zugleich gerade in der paulinischen Theologie eine noch unausgeschöpfte Rationalitätsform, die sowohl das Alte Testament wie auch die griechische Ontologie sprenge. Eine derartige philosophische Aufmerksamkeit auf das grundlegende Kerygma christlichen Glaubens ist seit der Religionsphilosophie des deutschen Idealismus nicht mehr virulent gewesen. Dabei wird, ob um seiner selbst willen oder nicht, der Versuch unternommen, das Proprium des Christlichen als Maßstab einer vielstimmigen Vernunft zu begreifen, die aber gegen die postmoderne und historisierende Relativität selbst gewandt ist. Es versteht sich, dass es dabei niemals nur um historische Rekonstruktion geht, sondern darum zu tun ist, den paulinischen Text und Fragen, die in der nachmodernen Gegenwart wieder aufscheinen, aufeinander zu beziehen. Damit wendet sich der neuere philosophische Paulus-Diskurs gleichermaßen von der subkutanen Gnosis der Harnack'schen Hellenisierungsthese weg, wie er die heute von Papst Benedikt XVI. vertretene Auffassung einer kritischen Prüfung unterzieht, wonach christliche Verkündigung gleichsam in den zeitlo-
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sen Vernunftraum des Hellenismus eingetreten sei und damit eine noch immer gültige Verbindung von Glaube und Vernunft gestiftet worden sei. Man gewinnt indessen den Eindruck, dass auf die "Dialektik der Aufklärung" und die Pathologien der Moderne mit den Mitteln der Paulus-Exegese geantwortet wird. Darin besteht aber zugleich das Problem. Im Einzelnen sind Nähe oder Ferne der genannten Ansätze zum Paulus-Text sehr unterschiedlich: Taubes hat im Stakkato seiner Heidelberger Vorlesung das Vermächtnis einer Doppelidentität als Rabbiner und moderner Intellektueller zu Protokoll gegeben. Agambens Erwägungen legen ein subtiles philologisches dose reading an den Tag. Bei Badiou und Zizek zeigt sich hingegen eine Tendenz, große Thesen in den paulinischen Text hineinzutragen und ihn diesen Thesen gemäß zu arrangieren. Dies geht nicht ohne "Gewalt brauchende" (Heidegger) Interpretationen ab. Auch das philologische Rüstzeug und die theologische Feinhörigkeit sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Deshalb scheint der Verdacht nicht unbegründet, manche Konzeptionen bedienten sich des Paulus-Textes nur als einer Folie. In jedem Fall spielt die - in sich durchaus strittige - Zuwendung zum paulinischen Corpus sich in einem philosophischen Diskurs ab, der postmoderne und historistische Muster hinter sich zu lassen sucht, indem er auf einem radikalen und originären Wahrheits anspruch insistiert. All den Denkern, für die Paulus erneut eine entscheidende Rolle spielt, ist zuzubilligen, dass sie nicht mehr in formalen Argumentationsmustern, sondern, in einem von J. Habermas angemahnten Sinn, in einer neuen Konkretheit den Schlüssel für die politisch philosophischen und legitimatorischen Probleme am Beginn des 21. Jh. sehen. Vermag die exegetische Überprüfung die allzu großzügigen philosophischen Bogenschläge philologischer Kritik u. U. einer Revision zu unterziehen, so können die philosophischen Zuspitzungen eine Inspiration sowohl im Blick auf Systematische Theologie als auch auf Verkündigung bedeuten. Es zeigt sich, wie weit die Wirkungen paulinischen Denkens, auch im Verborgenen, reichen. In dieser Begegnung wäre ein Modellfall gelingender kulturwissenschaftlicher Öffnung und Transdisziplinarität zu sehen, die dort am ehesten gelingt, wo wissenschaftliche Disziplinen aus ihren eigenen, höchst unterschiedlichen Methoden und Fragestellungen schöpfend einander begegnen.
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Mit vereinten Kräften Profil gewinnen. Antike Vereine und frühe christliche Gemeinden Eva Ehel ein lohnender Vergleich Richard S. Ascough, Paul's Macedonian Associations. The Social Context of Philippians and 1 Thessalonians (WUNT II/161), Mohr Siebeck Tübingen 2003, XIV + 261 S. - Eva Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT II/178), Mohr Siebeck Tübingen 2004, XV + 276 S. - Ulrike Egelhaaf-GaiseriAlfred Schäfer (Hg.), Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung (STAC 13), Mohr Sieb eck Tübingen 2002, VIII + 310 S. - Andreas GutsfeldlDietrich-Alex Koch (Hg.), Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien (STAC 25), Mohr Sieb eck Tübingen 2006, VIII + 202 S. - john S. KloppenborglStephen G. Wilson (Hg.), Voluntary Associations in the GraecoRoman World, Routledge London 1996, XVII + 333 S. - Georg Scheuermann, Gemeinde im Umbruch. Eine sozialgeschichtliche Studie zum Matthäusevangelium (fzb 77), Echter Würzburg 1996, XI + 279 S. - Thomas Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (SBS 162), Katholisches Bibelwerk Stuttgart 1995, 120 S. Weitere Literatur: Beate Bollmann, Römische Vereinshäuser. Untersuchungen zu den Scholae der römischen Berufs-, Kult- und Augustalen-Kollegien in Italien, von Zabern Mainz 1998, 488 S. + 46 S. mit Abbildungen und 16 Tafeln. - Eva Ebel, " ... damit wir ungestört und heiter an den Festtagen speisen können". Die gemeinsamen Mähler in griechisch-römischen Vereinen, in: Judith HartensteiniSilke Petersenl Angela Standhartinger (Hg.), "Eine gewöhnliche und harmlose Speise"? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2008, 34-56. - Philip A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations. Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Fortress Press Minneapolis (Minnesota) 2003, XV + 399 S. - earl Friedrich Georg Heinrici, Die Christengemeinde Korinths und die religiösen Genossenschaften der Griechen: ZWTh 19 (1876) 465-526. - earl Friedrich Georg Heinrici, Zum genossenschaftlichen Charakter der paulinischen Christengemeinden: ThStKr 54 (1881) 505-524. - Vera Hirschmann, Methodische Überlegungen zur Rolle der Frau in den griechisch-römischen Vereinigungen, in: Luuk De Ligt/Emily A. Hemelrijk/Henk W. Singor (Hg.), Roman Rule and Civic Life: Local and Regional Perspectives. Proceedings of the Fourth Workshop of the International Network Impact of Empire (Roman Empire, c. 200 B.C.-A.D. 476) (Impact of Empire 4), Gieben Amsterdam 2004, 401-414. Hans-josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung Zum ersten Korintherbrief (NTA.NF 15), Aschendorff Münster 1982, VIII + 431 S. Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Francke Tübingen 1996, XI + 633 S. - Markus Öhler, Die Didache und antike Vereins ordnungen - ein Vergleich, in: Wilhelm PratscheriMarkus Öhler (Hg.), Theologie in der Spätzeit des Neuen Testaments. Vorträge auf dem Symposion zum 75. Geburtstag von Kurt Niederwimmer (Gutachten und Studien 2), Universität Wien 2005, 35-65. - Dennis E. Smith, From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Fortress Press Minneapolis (Minnesota) 2003, XI + 411 S. - Hans joachim Stein, Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung (WUNT III255), Mohr Siebeck Tübingen 2008, XIII + 418 S. - Moshe Weinfeld, The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect. A Comparison with Guilds and Religious Associations of the Hellenistic-Roman Period (NTOA 2), Editions Universitaires Fribourg und Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1986, 100 S. Verkündigung und Forschung 55. Jg., Heft 1, S. 71-79 ISSN 0342-2410 © ehr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2010
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1. Übersicht Die Zusammenschau antiker paganer Vereine und früher christlicher Gemeinden ist keineswegs ein neues Phänomen innerhalb der sozialgeschichtlich orientierten neutestamentlichen Forschung. Vielmehr ist das in den vergangenen 25 Jahren in Aufsätzen, Monographien und Sammelbänden dokumentierte Interesse an griechisch-römischen Vereinen das Wiederaufblühen eines Forschungszweigs, welcher in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine erste Blütezeit erlebte. Da ein Verein ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen ist, die sich regelmäßig treffen, um gemeinsam kultische Handlungen zu vollziehen, miteinander zu essen und Geselligkeit zu genießen, liegen die Parallelen zwischen dem paganen Vereinsleben und dem Gemeindeleben der ersten Christinnen und Christen auf der Hand. Weil sich in der Antike zudem Vereine in allen sozialen Schichten großer Beliebtheit erfreuen und deshalb in ihren epigraphischen und papyrologischen Zeugnissen auch Menschen zu Wort kommen, deren Aktivitäten und Gedanken in der weitgehend auf die Oberschicht zurückgehenden literarischen Überlieferung kaum dokumentiert werden, sind Vereine aus sozialgeschichtlicher Perspektive für einen Vergleich mit frühen christlichen Gemeinden geradezu prädestiniert. Kaum ein anderes Phänomen ermöglicht so detaillierte Einblicke in alltägliche und weit verbreitete Freizeitaktivitäten antiker Menschen und damit in die Erfahrungen und Erwartungen, mit denen sie dem neuen Angebot der Christinnen und Christen begegnen. Der Fokus der Untersuchungen im Schnittfeld von Alter Geschichte, Epigraphik, Papyrologie, Archäologie und N euem Testament hat sich deutlich verschoben: Während in der ersten Phase, für die exemplarisch auf die Arbeiten von C. F. G. Heinrici verwiesen sei, strukturelle und terminologische Übereinstimmungen Anlass gaben, über eine Abhängigkeit der christlichen Gemeinden von paganen Vereinen zu spekulieren, geht es in der zweiten Phase darum, die christlichen Gemeinden in den Markt der religiös-geselligen Möglichkeiten der Antike einzuzeichnen und so das besondere Profil der Gemeinschaft der Christinnen und Christen herauszuarbeiten. Innerhalb der neueren Forschungen zu antiken paganen Vereinen und frühchristlichen Gemeinden lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden: Zum einen wird ein Phänomen des christlichen Gemeindelebens vor dem Hintergrund solcher Strukturen und Vorgänge, die aus dem Vereinsleben tradiert sind, erhellt. Zum anderen werden einzelne frühchristliche Schriften und damit die Regeln und Aktivitäten einer bestimmten Gemeinde im Spiegel der Zeugnisse des Vereinswesens gelesen. Beide Herangehensweisen sollen im Folgenden zunächst anhand jeweils einer Monographie dargestellt werden, ergänzend wird kurz auf weitere Arbeiten hingewiesen, die ähnlichen Prinzipien folgen. Anschließend werden drei Sammelbände vorgestellt, die einen schlaglichtartigen Einblick in die Vielfalt des antiken Vereinswesens gewähren oder pagane Vereine, jüdische Synagogen und christliche Gemeinden miteinander in Beziehung
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setzen und so das Potential der interdisziplinären Zusammenarbeit in diesem Forschungsfeld aufzeigen.
2. Diskussion
a) Monographien zu Charakteristika des Gemeinschaftslebens in paganen Vereinen und frühen christlichen Gemeinden Th. Schmeller kommt das Verdienst zu, mit seinem Band der "Stuttgarter Bibelstudien" die erste deutschsprachige Monographie zum Thema "Vereine und frühchristliche Gemeinden" vorgelegt zu haben. Er richtet sein Augenmerk auf die paulinischen Gemeinden, insbesondere die Gemeinschaft der Christinnen und Christen in Korinth, und das Ineinander von hierarchischen und egalitären Elementen in Gemeinden und Vereinen. Nach einem forschungs geschichtlichen Überblick (11-18) gelingt es SchmelIer, die immer wieder tradierte Polarisierung zwischen hierarchisch strukturierten Vereinen und auf Gleichrangigkeit bedachten Gemeinden aufzubrechen: In Vereinen (19-54) stehen der schon im Mitgliederverzeichnis abgebildeten Hierarchie, dem cursus honorum der Vereinsämter und deren teilweiser Monopolisierung für bestimmte Personengruppen die umfangreichen Befugnisse der Vereinsversammlung, die Rechenschaftspflicht der Beamten, das bei der Ämtervergabe teilweise angewandte Rotationsprinzip sowie die soziale Durchmischung der Mitglieder und die Familienfiktion gegenüber. Zwar erhalten mit zunehmendem Sozialstatus des Vereins und dem damit verbundenen wachsenden Prestigegewinn bei der Übernahme von Ämtern die hierarchischen Elemente mehr Gewicht, dennoch sei ein Charakteristikum der Vereine, dass die ,,(unterschiedlich gewichtete) Verbindung von Hierarchie und Egalität" "eine Entlastung der Mitglieder vom Druck der sozialen Hierarchie in der Umwelt" bewirke (52). Zur Beurteilung der Statusdifferenzierung in paulinischen Gemeinden (55-93) werden Szenarien aus dem 1. Korintherbrief herangezogen: Ganz ähnlich, den Vereinspatronen existiere in der Gemeinde eine gut situierte Führungsschicht, die der Gemeinschaft Geld, Haus oder Einfluss zur Verfügung stelle und Leitungspositionen innehabe; allerdings fehle für sie eine entsprechende Terminologie, seien sie im Gegensatz zu den Vereinspatronen ordentliche und beständig präsente Mitglieder der Gemeinschaft und gezwungen, um ihre interne Anerkennung zu kämpfen (56-75). Aussagen zu Funktionsträgern der Gemeinde (76-79) seien hingegen kaum möglich, da "in den Paulusgemeinden zwischen Patronen und einfachen Mitgliedern keine klar definierte Schicht von Amtsträgern" existiere, "die den Gegebenheiten in Vereinen auch nur in etwa entsprach" (78). Die Überwindung von Statusunterschieden unter den Mitgliedern, die das in Gal 3,28 beschriebene Ideal anstrebe, sei in den Gemeinden einer permanenten Gefährdung ausgesetzt, wie sich an den Gerichtsverfahren unter Christen 73
(1 Kor 6,1-8) und den Konflikten zwischen "Starken" und "Schwachen" (1 Kor 8-10) zeigen lasse, weshalb der Familienfiktion für die Stärkung der Zusammengehörigkeit eine hohe Bedeutung zukomme (79-93). Als Fazit hält Schmeller fest: "Beide Gruppen unterschieden sich also von ihrer stark hierarchisch geprägten sozialen Umwelt. Bei beiden gehörte eine grundsätzliche Gleichwertigkeit ihrer Mitglieder zur Identität der Gruppe. Allerdings hat sich im Laufe unserer Untersuchung gezeigt, daß in den Gemeinden diese Gleichwertigkeit das Gruppenleben doch erheblich stärker prägte als in den Vereinen." (94) Ebenso richtungweisend wie diese differenzierte Betrachtung beider Formen von Gemeinschaft ist auch die Form der Darbietung, die Schmeller wählt: Um den Leserinnen und Lesern einen unmittelbaren Eindruck von den Zeugnissen des antiken Vereinslebens zu ermöglichen, werden die vier wichtigsten Inschriften im Original und in Übersetzung im Anhang abgedruckt (96-115). Weitere Forschungsbeiträge zeigen, wie ertragreich ein Blick auf das Vereinswesen speziell dann ist, wenn es gilt, das Mahl der ersten Christinnen und Christen in das Spektrum antiker Gemeinschaftsmähler einzuschreiben (Klauck; Klinghardt; Smith; Ebel, Mähler; Stein). Von der Organisation der Vereinsmähler (Bereitstellung und Menge der Speisen und Getränke, Größe der Portionen) und den dabei auftretenden Disziplinverstößen entwerfen die Zeugnisse des Vereinswesens ein lebendiges Bild. Weniger aussagekräftig sind hingegen die Inschriften und Papyri der Vereine, wenn es um eine exakte Beschreibung der religiösen Dimension der Mahlzeiten geht. Unverkennbar ist allerdings die Funktion der Mähler als Zentrum der Gemeinschaft, bei dem die Geselligkeit oberste Priorität besitzt, aber auch Amtsträger geehrt, positive Ereignisse im Leben einzelner Mitglieder gemeinsam gefeiert und der Wohltäter des Vereins gedacht wird.
b) Monographien über einzelne neutestamentliche Schriften im Spiegel der Zeugnisse paganer Vereine Der in der Erforschung der paganen Vereine und ihrem Verhältnis zu frühen christlichen Gemeinden äußerst engagierte R. S. Ascough hat bereits 1997 seine Dissertation in Toronto zu den beiden makedonischen Gemeinden des Paulus in Philippi und Thessaloniki vorgelegt, die 2003 in revidierter Fassung in der 2. Reihe der "Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament" erschienen ist. Das Ziel Ascoughs ist der Nachweis, dass Paulus mit der Terminologie und Praxis der Vereine sehr vertraut ist und in einzelnen Fällen eine bewusste Abgrenzung seiner Gemeinden von solchen Gemeinschaften in ihrem Umfeld anstrebt. Die Nähe zu den Vereinen ergebe sich einerseits durch die Christinnen und Christen selbst, die sich an bekannte Muster in ihrer Umwelt anlehnen,
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andererseits aus der Außenwahrnehmung der Gemeinden: "Although Paul founded each of the communities, the members of each must have had a part in determining salient features of their community interaction. [ ... ] We are not attempting to conclude that the Macedonian Christian communities are now to be understood simply as Christian voluntary associations [ ... ]. Rather, we are concerned to show that many of the features of the two Macedonian Christian communities find ready analogies in voluntary associations, and thus would appear to outsiders as associations and would function internally as such." (114) Die Gemeinde der Christinnen und Christen in Thessaloniki erscheine Außenstehenden als Berufsverein und die von Philippi als religiöser Verein - wobei diese Terminologie leicht irreführend ist, denn Ascough klassifiziert alle Vereine, die kein Berufsverein sind, vereinfacht als "religiöse Vereine", obwohl auch in Berufsvereinen der gemeinsame Kult selbstverständlich ist (24). Nach einer Einleitung und einem kurzen Forschungsüberblick (1-14) sind drei Kapitel den Vereinen gewidmet: Zunächst werden Zweck und Funktion der Vereine dargestellt ("Types And Functions Of Associations"; 15-46), dann die Rechte und Pflichten der Mitglieder betrachtet ("Membership And Its Requirement"; 47-70) und schließlich die durch Wohltäter, Beamte, Satzungen und translocallinks geprägte innere Organisation und äußere Vernetzung der Vereine erörtert ("Community Organization"; 71-109). Die jeweils angeführten Belege stammen zum großen Teil aus Makedonien, dem Zielgebiet dieser Studie, für das auf insgesamt 75 Vereinsinschriften aus hellenistischer und römischer Zeit zurückgegriffen werden kann (18). Da aber diese Inschriften bei weitem nicht alle interessierenden Phänomene des Vereinswesens abdecken, werden auch Zeugnisse aus anderen Gebieten herangezogen. Zahlreich sind so die als Beleg angeführten Inschriften, was einerseits die Argumentation Ascoughs stärkt. Da diese aber aus dem gesamten Mittelmeerraum stammen und nur mit kurzen Textauszügen und knappen einleitenden Bemerkungen zitiert werden, ist andererseits weder spezielles makedonisches Kolorit spürbar noch werden bei den Leserinnen und Lesern, denen Inschriftencorpora nur schwer zugänglich sind, konkrete Vorstellungen von einem individuellen Verein geweckt. Es gibt viele gute Gründe, eine christliche Gemeinde mit paganen Gemeinden in ihrem Umfeld zu vergleichen (Vorerfahrungen, bewusste Anlehnung oder Abgrenzung, Konkurrenz um Mitglieder, Außenwahrnehmung), die von Ascough vorgebrachte Herleitung vermag jedoch kaum zu überzeugen: Die Vielzahl der Marktmetaphern ("marketplace metaphors") im Philipperbrief sei ein Indiz für den zumeist niedrigen sozialen Status der philippischen Christinnen und Christen ("not primarily from the elite ranks", sondern "lower ranks") (128), die folglich vielleicht Handwerker und Händler seien. Eine ähnliche soziale Zusammensetzung sei auch in Vereinen anzutreffen ("similar to the typical makeup of the voluntary associations"), was wiederum eine Lektüre des Briefes im Spiegel der Vereine nahe lege ("we are in a good position to read Philippians in the light of the data from the voluntary associations") (129). In ähnlicher 75
Weise werden die Gemeindeglieder in Thessaloniki als "manuallaborers" eingestuft, die in Berufsvereinen anzutreffen seien. (176: "Such workers were likely already involved in some form of professional association. ce) Ungeachtet dieser schwachen Begründungen für sein Vorgehen stellt Ascough in den Kapiteln über die Gemeinde in Philippi (110-161) und Thessaloniki (162190) interessante Vergleiche an, die einerseits die Übereinstimmungen (Führungsstrukturen, interne Kommunikation), andererseits die Abweichungen (Finanzen, Ethos) zwischen christlichen Gemeinschaftsmodellen und paganen Vereinen aufdecken. Allerdings beruhen diese Vergleiche bisweilen auf einer sehr mutigen Auslegung der paulinischen Briefe, wie sich exemplarisch an hand der vermeintlichen Rollenzuschreibung der Frauen aufzeigen lässt: "The Philippian Christian community is clearly a gender inclusive group in which women exercised some leadership capacity. " (160) Anstelle eines Gesamtergebnisses, das auch die Berechtigung und den Ertrag der Vergleiche von paganen Vereinen und frühchristlichen Gemeinden reflektieren könnte, findet sich zum Abschluss des Buches ein Appendix zu den jüdischen Gemeinden in Makedonien (191-212). Diesen fügt Ascough an, um seine These zu stützen, dass bei der Organisation der beiden makedonischen Gemeinden des Paulus kaum jüdischer Einfluss am Werk gewesen sei. Allerdings erscheint es kaum ratsam, die paganen Einflüsse (Verein) und die jüdischen Einflüsse (Synagoge) auf die Formierung christlicher Gemeinden gegeneinander auszuspielen. Vielmehr ist eher von einem Wechselspiel auszugehen und sorgsam abzuwägen, wo auf bekannte Muster zurückgegriffen oder eine bewusste Abgrenzung vorgenommen wird. Einen instruktiven Blick aus Vereinsperspektive auf das Matthäusevangelium wirft G. Scheuermann in seiner Würzburger Dissertation. Detailliert betrachtet werden das Aufnahmeverfahren, das Vereinsleben, Sanktionen und Strafen sowie Funktionsträger und deren Aufgaben (29-59.252-257). Die einschlägigen Inschriften werden nicht als Ganze in Original und Übersetzung geboten, eine kurze Vorstellung des Vereinslebens lässt jedoch die zwei für diese Untersuchung wichtigsten Vereine, die Athener Iobakchen, eine Gemeinschaft von Dionysosverehrern, und die Verehrer der Diana und Antinous in Lanuvium, Profil gewinnen. Als wichtigste Unterschiede zwischen der matthäischen Gemeinde und den Vereinen benennt Scheuermann die Betonung des Taufrituals bzw. der finanziellen Aspekte im Kontext der Aufnahme in die Gemeinschaft, häufigere Zusammenkünfte der Christinnen und Christen, geringere Institutionalisierung und weniger Sanktionsformen im christlichen Bußverfahren sowie geringere Ausdifferenzierung gemeinschaftsinterner Funktionen in der Gemeinde. Somit sei insgesamt von einem "deutlich geringeren Organisations grad " der Gemeinde des Matthäusevangeliums im Vergleich zu etablierten Vereinen auszugehen (256).
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Der korinthischen Gemeinde wendet sich die Rezensentin, E. Ebel, in ihrer Erlanger Dissertation zu. Ihren Überlegungen zu gemeindeinternen Disziplinarmaßnahmen, zur Organisation der gemeinsamen Mähler und zur Anrede als "Bruder" stellt sie zwei ausführliche Portraits der bekannten in Lanuvium und Athen beheimateten Vereine voran, welche auf einer textkritischen Sichtung der Inschriften, deren Übersetzung und weiteren archäologischen Zeugnissen beider Vereine fußen (12-75.76-142). Im Hintergrund steht das Anliegen, einen jeden Verein ebenso wie eine jede frühchristliche Gemeinde als individuelle Ausprägung des antiken Vereins- bzw. Gemeindelebens wahrzunehmen und die individuellen Züge auf die lokalen Gegebenheiten, die soziale Stellung und die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder zurückzuführen.
c) Sammelbände zu paganen Vereinen, christlichen Gemeinden und Jüdischen Synagogen Eindrucksvoll illustriert der von]. S. Kloppenborg und S. G. Wilson herausgegebene Band "Voluntary Associations in the Graeco-Roman World" das weite Feld, das sich innerhalb der Vereinsforschung und durch den interdisziplinären Dialog öffnet: Neben einer grundlegenden Einführung zu den Vereinen (Wilson und Kloppenborg; 1-30) und ihrer rechtlichen Situation (W. Cotter) finden sich Beiträge, die eine Brücke zum Frühchristentum (W. O. McCready), zu frühen Synagogen (P. Richardson, S. L. Mattila), Philon von Alexandrien (T. Seland) und den Schriften aus Qumran (S. Walker Ramisch, E. Schuller; vgl. dazu die Pionierarbeit von Weinfeld) schlagen. In mehreren Beiträgen wird der Partizipation von Frauen in den jeweiligen Gemeinschaften und damit einem noch immer weitgehend unbearbeiteten Feld der Vereinsforschung spezielle Aufmerksamkeit geschenkt. Der Untertitel des von U. Egelhaaf-Gaiser und A. Schäfer herausgegebenen Sammelbandes "Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung" weist auf dessen besondere Stärke hin: Neben den epigraphischen Zeugnissen werden in einigen Beiträgen auch die archäologischen Überreste von Vereinshäusern (vgl. dazu grundlegend Bollmann) für eine Beschreibung des Selbstverständnisses und der Aktivitäten paganer Vereine fruchtbar gemacht. Die Ausführungen von Egelhaaf-Gaiser zu Vereinshäusern in Ostia (123-172), von Schäfer zum Haus der Athener Iobakchen samt den darin zutage getretenen Funden (173-220) und von H. Schwarzer zu Vereinslokalen in Pergamon (221-260) zeigen, wie aussagekräftig die Lage, Größe und Ausstattung der Vereinshäuser sind, und lassen Neutestamentlerinnen und Neutestamentler, die für eine Untersuchung der neutestamentlichen Gemeinden gerade nicht auf archäologische Quellen rekurrieren können, geradezu neidisch werden.
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Die Vorträge eines Kolloquiums, das 2001 in Münster stattfand, sind 2006 in einem Sammelband erschienen, der den Titel "Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien" trägt und als dessen Herausgeber A. Gutsfeld und D.-A. Koch fungieren. Bedauerlicherweise wurde die zwischen Tagung und Drucklegung erschienene Literatur kaum berücksichtigt (neben den hier besprochenen Monographien aus dem fraglichen Zeitraum auch die nahezu titelgleiche Arbeit von Harland). Zwei der insgesamt neun Beiträge widmen sich der Forschungsgeschichte (Th. Schmeller; 1-19, D.-A. Koch/D. Schinkel; 129-148), einer den Vereinen in der kaiserlichen Gesetzgebung (A. J. Boudewijn Sirks; 2140). Fallstudien steuern V Hirschmann zu den Mysten und Techniten des Dionysios von Smyrna (41-59) und D. Brabant zu den Therapeutai des Asklepios in Pergamon bei (61-75). Der politisch brisante Aspekt der Vereinsunruhen wird zunächst grundsätzlich von S. Sommer beleuchtet (77-93), bevor dann D. Schinkel in diesem Sinne die Demetriosepisode in Apg 19,23-40 in den Blick nimmt (95-112). Der Beitrag von]. M. G. Barclay stellt jüdische Synagogen und christliche Gemeinden nebeneinander und konzentriert sich auf die Finanzen und die Zusammenkünfte (113-127). Grundsätzlicher Art ist der abschließende Beitrag von R. S. Ascough, der den Einfluss des Modells "Verein" gegenüber dem des Modells "Synagoge" bei der Konstituierung christlicher Gemeinden stärker gewichten und überkommenen Klischees, die Vereine und Gemeinde als gegensätzliche Konzepte von Gemeinschaft deuten, eine abwägende und auf genauer Sichtung der Quellen basierende Betrachtungsweise entgegensetzen will (149183). Leider fehlt in diesem Band eine Bilanz der Münsteraner Tagung und der dabei eingeschlagenen Forschungsrichtung, so dass die Einzelbeiträge unverbunden nebeneinander stehen bleiben.
3. Ausblick Die vorgestellten Arbeiten zu frühen christlichen Gemeinden und antiken paganen Vereinen zeigen das immense Potential auf, das diesen vergleichenden Forschungen innewohnt: Die christlichen Gemeinden gewinnen Profil, wenn deutlich wird, was das Neue und das Vertraute in ihrem Gemeinschaftsleben ist, was Menschen mit Vereins erfahrung anziehen oder auch abschrecken kann. Wünschenswert wäre eine Ausweitung der Untersuchungen in zwei Richtungen: Zum einen verdienen weitere Aspekte des Gemeinschaftslebens wie die Rolle der Frauen (vgl. Hirschmann) oder die Finanzen eine genauere Betrachtung. Zum anderen bieten sich neben den bisher vorrangig herangezogenen paulinisehen Briefen weitere Schriften des Neuen Testaments (wohl besonders die Apostelgeschichte und die Pastoralbriefe), aber auch außerkanonische Schriften, welche die Organisation und Aktivitäten christlicher Gemeinden thematisieren, für einen solchen Vergleich an (vgl. Öhler). Methodisch ist weiter auszuloten, inwiefern lokale Gegebenheiten in die vergleichenden Studien einfließen können. Optimal wäre es, einer christlichen Ge78
meinde einen zur selben Zeit in derselben Stadt aktiven Verein gegenüberzustellen - dies allerdings lässt das vorhandene Quellenmaterial nicht zu. Die bisher vorgeschlagenen Lösungswege vom individuellen Portrait eines Vereins bis hin zur Sammlung möglichst vieler Belege aus unterschiedlichen Zeiten und Orten gilt es in sinnvoller Weise miteinander zu verbinden. Auf jeden Fall aber muss den epigraphischen und papyrologischen Zeugnissen dieselbe Sorgfalt zukommen wie den neutestamentlichen Texten, d. h. eine chronologische und geographische Einordnung und zumindest eine Skizzierung der Merkmale eines Vereins sind unerlässlich, um die Tragweite einer einzelnen Klausel einer Satzung verstehen zu können. Um den Nachvollzug der Untersuchungsergebnisse zu ermöglichen und einer breiteren Leserschaft die Lebendigkeit der antiken Zeugnisse des Vereinswesens sowie die bleibende Aktualität der darin verhandelten Probleme des Gemeinschaftslebens vor Augen zu führen, ist es anstrebenswert, möglichst viele der herangezogenen Inschriften und Papyri mit Text und Übersetzung zu präsentieren.
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Register Agamben, G. 60,63-66,68,70 Agosto, E. 1of. Ascough, R. S. 71, 74-76, 78 Bachmann, M. 4-6, 9, 45, 50 f., 55 Badiou, A. 60, 64-68, 70 Bird,]. G. 1of. Briggs Kittredge, C. 1of. Burrus, V. 9-11 Craffert, P. F. 4,15f. DeMaris, R. E. 4, 17 Dunn,]. D. G. 45f., 48, 5of., 55, 57 Ebel, E. 71, 74, 77 Eckey, W. 37, 39f. Egelhaaf-Gaiser, U. 71,77 Ehrensperger, K. 45, 57f. Elliot, N. 9 f., 32 Grabner-Haider, A. 4, 7 GradI, H.-G. 19,32-34 Gutsfeld, A. 71,78 Hartenstein, J. 19,30f. Hartmann, M. 20, 23f., 27f., 31, 33, 36 Holtz, G. 45, 53-55 HorsIey, R. A. 9-11 Hupe, H. 4,13-15 Iversen, G. Y. 17,20,31-33,36 Klein, H. 37, 40-42 Klingbeil, G. A. 4, 17 KIopppenborg, J. S. 71,77 Koch, D.-A. 71, 78 Liew, T.-s. B. 9, 11
80
Maier, J,. 4, 7, 9 Moore, S. D. 4,9-13, 19f., 22 NichoIIs, R. 20, 34-36 Nicklas, T. 20, 26, 28-31 OrevilIo-Montenegro, M. 10f. Park, R. 1of. Peterson, E. 61-64 Punt,]. 10f. RadI, W. 19,32-34, 37-39 Resseguie, ]. L. 20, 27 f. Ringe, S. H. 10f. Rose, Ch. 20,26,31,36 Schäfer, A. 71,77 Scheuermann, G. 71, 76 SchmeIIer, Th. 71, 73 f., 78 SchüssIer Fioreilza, E. 1of. Segovia, F. F. 4, 9-11 Strecker, Ch. 4,7, 18 Sugirtharajah, R. S. 4, 9-11 Taubes,]. 61-64,66,70 TiwaId, M. 45, 52 f. UIrichs, K. F. 45, 55 f. Westerhoim, S. 45-49 WiIson, S. G. 71,77 Woher, M. 37,42-45 Yee, T.-L. N. 45, 56f. Zerbe, G. 10f. Zizek, S. 61,66-69
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